Handbuch der Phraseologie 9783110849394, 9783110080025


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German Pages 447 [448] Year 1982

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Table of contents :
Vorwort
1. Einleitung (Burger)
1.1. Eingrenzung und Charakterisierung des Objektbereichs
1.2. Andere Konzeptionen von Phraseologie
1.3. Phraseologie aus der Sicht verschiedener Wissenschaften
1.4. Ein Beispiel: Phraseologie in der Literatur
2. Klassifikation: Kriterien, Probleme, Terminologie (Burger)
2.1. Syntax
2.2. Semantik
2.3. Struktursemantische Mischklassifikation
2.4. Pragmatik
2.5. Zwei Sonderfälle
3. Grundbegriffe (Sialm, Burger)
3.1. Die phraseologischen Merkmale (auf der Basis der sowjetischen Forschung) (Sialm)
3.2. Festigkeit und Variabilität (Burger)
4. Pragmatische Aspekte (Burger, Häusermann, Buhofer, Eriksson)
4.1. Pragmatische Phraseologismen (Burger, ohne 4.1.1.4 und 4.1.3)
4.2. Verwendung von Phraseologismen unter pragmatischen Aspekten (Stilistik) (Burger/Buhofer)
5. Psycholinguistik (Buhofer)
5.1. Einleitung
5.2. Die Frage der Einheiten
5.3. Produktion von Phraseologismen
5.4. Verstehen von Phraseologismen
5.5. Bewußtsein von Phraseologismen
6. Spracherwerb (Buhofer, Scherer)
6.1. Methodische Überlegungen (Buhofer)
6.2. Ergebnisse der empirischen Untersuchungen zu Vorschulkindern (Buhofer)
6.3. Kindergärtler (Buhofer)
6.4. Schulkinder (Scherer)
7. Kontrastive Phraseologie (Häusermann, Buhofer, Sialm, Schweizer)
7.1. Kontrast Mundart – Standardsprache (Häusermann/Buhofer)
7.2. Kontrast zwischen verschiedenen Sprachen (auf der Basis der sowjetischen Forschung) (Sialm)
7.3. Übersetzungsverfahren (Schweizer)
8. Historische Phraseologie (Sialm, Burger, Linke)
8.1. Ergebnisse und Diskussion der sowjetischen Forschung (Sialm)
8.2. Identifikation von Phraseologismen in älteren Texten (an deutschem Material)
Glossar
Literaturverzeichnis
Register
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Handbuch der Phraseologie
 9783110849394, 9783110080025

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Handbuch der Phraseologie

Handbuch der Phraseologie von Harald Burger, Annelies Buhofer und Ambros Sialm

W G DE

Walter de Gruyter · Berlin · New York 1982

Unter Mitarbeit von Brigit Eriksson, Jürg Häusermann, Angelika Linke, Thomas Scherer und Blanche Schweizer

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen

Bibliothek

Burger, Harald: Handbuch der Phraseologie / von Harald Burger, Annelies Buhofer u. Ambros Sialm. - Berlin ; New York : de Gruyter, 1982. ISBN 3 - 1 1 - 0 0 8 0 0 2 - 8 NE: Buhofer, Annelies:; Sialm, Ambros:

© Copyright 1982 by Walter de Gruyter 8c Co., vormals G. J . Göschen'sche Verlagshandlung - J . Guttentag, Verlagsbuchhandlung - Georg Reimer - Karl J . Trübner - Veit & Comp., Berlin 30. Printed in Germany Alle Rechte des Nachdrucks, der photomechanischen Wiedergabe, der Herstellung von Photokopien auszugsweise - vorbehalten. Satz und Druck: Arthur Collignon GmbH, Berlin Bindearbeiten: Th. Fuhrmann KG, Berlin

auch

Alles frei erfunden! (Walter Kempowski, Tadelloser & Wolff)

Alles für die Katz! (Volksmund)

Inhalt Vorwort

XIII

1. Einleitung (Burger) 1.1. 1.2. 1.3. 1.4. 1.4.1. 1.4.2.

Eingrenzung und Charakterisierung des Objektbereichs Andere Konzeptionen von Phraseologie Phraseologie aus der Sicht verschiedener Wissenschaften Ein Beispiel: Phraseologie in der Literatur Funktionswandel der Phraseologie Phraseologie und angrenzende Erscheinungen

2. Klassifikation: Kriterien, Probleme, Terminologie (Burger) 2.1. 2.2. 2.3. 2.3.1. 2.3.2. 2.3.3. 2.3.4. 2.3.5. 2.3.6. 2.3.7. 2.3.8. 2.3.9. 2.4. 2.5. 2.5.1. 2.5.1.1. 2.5.1.2. 2.5.1.3. 2.5.2.

Syntax Semantik Struktursemantische Mischklassifikation Phraseologische Ganzheiten Phraseologische Verbindungen und bevorzugte Analysen Modellbildungen Phraseologische Vergleiche Streckformen des Verbs Zwillingsformeln Phraseologische Termini Feste Phrasen Sprichwörter und Gemeinplätze Pragmatik Zwei Sonderfälle Geflügelte Worte Charakterisierung Geflügelte Worte in der Gegenwartssprache Zur Rezeption von Geflügelten Worten Kinegramme

3. Grundbegriffe (Sialm, Burger) 3.1. 3.2. 3.2.1. 3.2.2. 3.2.2.1. 3.2.2.2.

Die phraseologischen Merkmale (auf der Basis der sowjetischen Forschung) (Sialm) Festigkeit und Variabilität (Burger) Varianten Modifikationen Lexikalische Substitution Hinzufügung eines Adjektivs

1 1 5 6 10 10 12

20 21 23 30 31 31 35 35 37 37 38 39 39 41 42 43 43 46 47 56

61 61 67 68 68 70 74

VIII

Inhalt

3.2.2.3. 3.2.2.4. 3.2.2.5. 3.2.2.6. 3.2.2.7. 3.2.2.8. 3.2.2.9. 3.2.2.10. 3.2.2.11. 3.2.2.12. 3.2.2.13. 3.2.2.14. 3.2.3. 3.2.3.1. 3.2.3.2. 3.2.4.

Determinativkomposition Hinzufügung eines Genitivattributs Abtrennung Verkürzung Koordinierung Wechsel Affirmation - Negation Verweise im Kontext Verletzung der semantischen Selektionsbedingungen Verletzung der textlinguistischen Bedingungen Häufung, Kontamination, Katachrese Metasprachliche Kommentierung Phraseologie als textstrukturierendes Prinzip Erstes Beispiel: Werbeanzeigen Normale Verwendung Modifizierte Phraseologismen Zweites Beispiel: G. Grass

75 76 76 77 78 79 79 84 85 86 89 90 91 92 93 101

4. Pragmatische Aspekte (Burger, Häusermann, Buhofer, Eriksson)

105

4.1. 4.1.1. 4.1.1.1. 4.1.1.2. 4.1.1.3. 4.1.1.4. 4.1.2. 4.1.2.1. 4.1.2.2. 4.1.3. 4.1.3.1. 4.1.3.2. 4.1.3.3. 4.1.3.4. 4.2. 4.2.1. 4.2.2. 4.2.3. 4.2.4. 4.2.5. 4.2.5.1. 4.2.5.2.

Pragmatische Phraseologismen (Burger, ohne 4.1.1.4 und 4.1.3) Phraseologismen und Sprechakte Einzelne Sprechakte Sprechaktsequenzen Indirekte Sprechakte Rollenbeziehungen (Häusermann) Phraseologismen und Situationen Einzelbeispiele Ein Situationstyp: Spiel Eine pragmatisch bestimmte Gruppe: gesprächsspezifische Phraseologismen (Buhofer/Eriksson) Abhängigkeit vom Idiolekt Abhängigkeit vom Thema Abhängigkeit von der Textsorte Typische Funktionen Verwendung von Phraseologismen unter pragmatischen Aspekten (Stilistik) (Burger/Buhofer) Stilebenen Gruppensprachen Stadt und Land Soziale Schichten Textsorten Texttypische phraseologische Merkmale Rezeption typischer phraseologischer Merkmale

5. Psycholinguistik (Buhofer) 5.1. 5.2. 5.3. 5.3.1.

Einleitung Die Frage der Einheiten Produktion von Phraseologismen Unauffälliger Gebrauch von Phraseologismen

110 110 110 110 112 114 117 117 120 123 125 125 126 127 130 130 131 134 136 144 145 162

168 168 170 188 189

Inhalt

5.3.2. 5.3.2.1. 5.3.2.2. 5.3.2.3. 5.3.2.4. 5.3.2.5. 5.3.2.6. 5.3.2.7. 5.3.2.8. 5.3.2.9. 5.4. 5.4.1. 5.4.2. 5.4.3. 5.5.

Auffälliger Gebrauch von Phraseologismen Varianten und Modifikationen Der Gebrauch von phraseologischen Bruchstücken Fehlerhafter Gebrauch von Phraseologismen Ergänzen von Phraseologismen und Verbessern von Fehlern Momentane und idiolektale Fixierung des Sprechers auf Phraseologismen . . . . Über den Phraseologismus hinausgehende, im Text anwesende Bildebene . . . . Phraseologische Leerstellen Die Festigkeit der Phraseologismen in Abhängigkeit vom Gebrauch Die Häufigkeit der Phraseologismen im Gebrauch Verstehen von Phraseologismen Das Verstehen von abgewandelten (oder verkürzten) Phraseologismen Das Verstehen von Phraseologismen, die bildlich vorstellbare Teile enthalten . . Zu verschiedenen Faktoren im Zusammenhang mit dem Verstehen von Phraseologismen Bewußtsein von Phraseologismen

6. Spracherwerb (Buhofer, Scherer)

IX

192 192 195 201 205 206 208 210 210 211 212 216 218 219 221

224

6.1. 6.1.1. 6.1.2. 6.2. 6.2.1. 6.2.2. 6.2.2.1. 6.2.2.2. 6.3. 6.3.1. 6.3.1.1. 6.3.1.2. 6.3.2. 6.3.2.1. 6.3.2.2. 6.3.2.3. 6.3.2.4.

Methodische Überlegungen (Buhofer) Literatur, Fragestellungen, Material Theoretische Vorüberlegungen Ergebnisse der empirischen Untersuchungen zu Vorschulkindern (Buhofer) . . . Methodenprobleme Kinder bis zum Eintritt in den Kindergarten Exemplarische Fälle Der Erwerb von verschiedenen phraseologischen Typen Kindergärtler (Buhofer) Brauchen Unauffälliger Gebrauch Der Gebrauch abgeänderter Formen Verstehen Nonverbale und paraverbale Indizien für Verstehen Der Bezug auf individuelle Situationen als Hinweis auf Verstehen Die Erklärung durch den sprachlichen Kontext als Hinweis auf Verstehen . . . . Angaben zu einem möglichen sprachlichen Kontext und allgemeine Bedeutungsumschreibungen als Hinweise auf Verstehen

224 224 225 230 230 234 234 236 239 239 239 239 242 243 244 246 247

6.3.2.5. 6.3.2.6. 6.3.2.7. 6.4. 6.4.1. 6.4.2. 6.4.3. 6.4.4. 6.4.4.1. 6.4.4.2. 6.4.4.3. 6.4.5.

Ganzheitliches Verstehen Synkretistisch-wörtliches Verstehen Schlußfolgerungen Schulkinder (Scherer) Fragestellung Das Verständnis von Phraseologismen Der Gebrauch von Phraseologismen in der gesprochenen Sprache Der Gebrauch von Phraseologismen in der geschriebenen Sprache Häufigkeit in Schüleraufsätzen Schwierigkeiten bei der Verwendung Streckformen als Sonderfall Phraseologismen im Bewußtsein der Schüler

247 249 254 255 255 258 260 263 263 265 267 268

χ

Inhalt

6.4.5.1. 6.4.5.2.

Das phraseologische Wissen Die stilistische Einstellung zu Phraseologismen

268 271

7. Kontrastive Phraseologie (Häusermann, Buhofer, Sialm, Schweizer) . . . . 274 7.1. 7.1.1. 7.1.1.1. 7.1.1.2. 7.1.2. 7.1.2.1. 7.1.2.2. 7.2. 7.2.1. 7.2.1.1. 7.2.1.2. 7.2.1.3. 7.2.1.4. 7.2.2. 7.2.2.1. 7.2.2.2. 7.2.2.3. 7.2.3. 7.2.3.1. 7.2.3.2. 7.2.3.3. 7.2.4. 7.3. 7.3.1. 7.3.2.

Kontrast Mundart — Standardsprache (Häusermann/Buhofer) 274 Das Verhältnis von Mundart und Standardsprache in der deutschen Schweiz . . 275 Voraussetzungen des Transfers 275 Transferprozesse 276 Zwei Beispiele: Vom Nutzen der Standardsprache 278 Erstes Beispiel: Gesprächsverhalten bei unterschiedlicher standardsprachlicher Kompetenz 278 Zweites Beispiel: Gesprächsverhalten bei guter standardsprachlicher Kompetenz 282 Kontrast zwischen verschiedenen Sprachen (auf der Basis der sowjetischen Forschung) (Sialm) 289 Bestimmung der kontrastiven Methode 290 Kontrast und Typologie 290 Zum Vergleich phraseologischer Systeme 290 Zum Vergleich phraseologischer Einheiten 294 Wörterbücher 295 Kontrastiv-historischer Aspekt 297 Entlehnungen in der Phraseologie 297 Vergleich und phraseologischer Modellbegriff 299 Der Vergleich von Lexemverbindungen 301 Kontrastiv-synchroner Aspekt 303 Vergleich eines Mikrosystems (komparative Phraseologie): Deutsch — Englisch — Schwedisch 303 Vergleich eines Mikrosystems (komparative Phraseologie): Deutsch — Russisch 304 Zwischensprachliche Idiomatizität 309 Schlußbemerkungen 309 Übersetzungsverfahren (Schweizer) 309 Normale Verwendung 309 Sprachspiel 311

8. Historische Phraseologie (Sialm, Burger, Linke) 8.1. 8.1.1. 8.1.2. 8.1.2.1. 8.1.2.2. 8.1.2.3. 8.1.2.4. 8.1.2.5. 8.1.3. 8.1.3.1. 8.1.3.2. 8.1.3.3. 8.1.4.

Ergebnisse und Diskussion der sowjetischen Forschung (Sialm) Die phraseologischen Merkmale und die Entstehung phraseologischer Wortverbindungen Die Phraseologisierung und ihre Typen Die derivationelle Basis besteht aus einzelnen Wörtern Die derivationelle Basis besteht aus einer freien Wortverbindung Die derivationelle Basis besteht aus einem Sprichwort Die derivationelle Basis besteht aus einem Phraseologismus anderen Typs . . . . Die derivationelle Basis besteht aus fremdsprachlichem Material Geschichte einzelner Phraseologismen kisejnaja barysnja „das Fräulein aus Musseline" svjataja svatych „das Allerheiligste" polet mysli, polet uma „Gedanken-flug" Etymologie und Rekonstruktion von Phraseologismen

315 315 315 323 324 324 326 326 328 330 330 331 334 335

Inhalt

8.1.4.1. 8.1.4.2. 8.1.5. 8.1.6. 8.2. 8.2.1. 8.2.1.1. 8.2.1.2. 8.2.1.3. 8.2.1.4. 8.2.1.5. 8.2.1.6. 8.2.1.7. 8.2.1.8. 8.2.1.9. 8.2.1.10. 8.2.2. 8.2.2.1. 8.2.2.2. 8.2.2.3. 8.2.2.4. 8.2.2.5. 8.2.2.6. 8.2.3. 8.2.3.1. 8.2.3.2. 8.2.3.3. 8.2.3.4. 8.2.4. 8.2.4.1. 8.2.4.2. 8.2.4.3. 8.2.4.4.

XI

bit' baklusi „faulenzen" 335 »na c'rn" (c'rn"j') nog'Y „sehr wenig" 338 Sprachgeschichte und Phraseologie 340 Schlußbemerkungen 345 Identifikation von Phraseologismen in älteren Texten (an deutschem Material) . 346 Indizien, die generell für historische Sprachstufen gelten (Burger) 347 Die eigene Sprachkompetenz 347 Das Wissen über Phraseologie 347 Sprachhistorische Kompetenz 349 Metasprachliche Hinweise im Text 349 Graphische Indizien 350 Formal-stilistische Indizien 350 Lexikalische Indizien: unikale Lexeme 351 Wortbildung aufgrund von Phraseologismen 351 Semantische Indizien 352 Distributionelle Indizien 355 Indizien, die sich aus Übersetzungstexten ergeben (Burger) 356 Entsprechungstyp 1 357 Entsprechungstyp 2 358 Entsprechungstyp 3 358 Entsprechungstyp 4 359 Entsprechungstyp 5 359 Entsprechungstyp 6 359 Indizien, die sich aus Grammatiken und Sprachlehrbüchern ergeben (Linke). . . 360 Zur Terminologie 360 1 6 . - 1 8 . Jh 362 19. Jh 366 Zusammenfassende Überlegungen 368 Indizien, die sich aus Wörterbüchern ergeben 370 Quellen und Typen 370 Das „phraseologische Bewußtsein" der Wörterbuchautoren 373 Italienisch-deutsche Wörterbücher 377 Wörterbücher des 17. Jhs 380

Glossar

383

Literaturverzeichnis

399

Register

409

Die Gesamtredaktion besorgte H. Burger

Vorwort Das vorliegende Handbuch geht auf ein gemeinsames Forschungsprojekt von Germanisten (Universität Zürich) und Slawisten (Universität Freiburg/Schweiz) zurück, das von H. Burger (Zürich) und H. Jaksche (Freiburg, später Graz) geleitet wurde. Wer sich gegenwärtig mit Problemen der Phraseologie befassen will, kommt nicht darum herum, die sowjetische Forschung zu diesem Gebiet zur Kenntnis zu nehmen. Seit Vinogradov hat sich die Phraseologie in der Sowjetunion zu einer eigenständigen linguistischen Teildisziplin entwickelt, und es sind eine Fülle von Publikationen in diesem Bereich erschienen. Zwar liegen inzwischen bereits einige zusammenfassende Darstellungen der sowjetischen Phraseologie auch in deutscher Sprache vor, und wir selbst haben im Rahmen des Forschungsprojektes einen „Reader zur sowjetischen Phraseologie" erstellt, der eine erste Illustration der vielfältigen Fragestellungen und Methoden im Bereich der sowjetischen Phraseologieforschung bietet. Doch decken diese Zusammenfassungen und Ubersetzungen keineswegs das ganze Feld der in der sowjetischen Phraseologie behandelten Probleme ab. Insbesondere ist die reiche sowjetische Literatur zur kontrastiven ebenso wie zur historischen Phraseologie noch in keiner westlichen Publikation zusammenfassend aufgearbeitet worden. Im Gegensatz dazu ist die nicht-slawistische Forschung zur Phraseologie heute durch verschiedene Publikationen nahezu lückenlos überblickbar. Bei der Konzeption des Handbuches haben wir uns infolgedessen von dem Gedanken leiten lassen, dort Forschungsübersichten zu geben, wo der westliche Leser noch über keine Zusammenfassungen verfügt, in den übrigen Bereichen aber auf forschungsgeschichtliche und forschungsreferierende Darstellungen weitgehend zu verzichten und statt dessen die Ergebnisse unserer eigenen Untersuchungen zu formulieren. Mit den in Zürich durchgeführten Arbeiten ging es uns vor allem darum, den Kreis der Fragestellungen, die bisher im Rahmen der Phraseologie hauptsächlich erörtert wurden, aufzubrechen und über die Diskussion von Grundbegriffen und Klassifikationsschemata, wie sie in der westlichen Forschung — mit einigen Ausnahmen — bisher im Zentrum des Interesses lagen, hinauszugelangen. Es sind vor allem die Kapitel 3.2.,4.,5.,6. und (teilweise) 8., in denen wir der Phraseologie neue Perspektiven zu eröffnen versuchen. Mehr den Charakter einer Forschungsübersicht haben die Kapitel 7. und 8., soweit es jeweils den slawistischen Anteil betrifft. Da die Phraseologie noch eine sehr junge Wissenschaft und außerhalb der Sowjetunion nur in Ansätzen ausgebildet ist, kann es hier nicht darum gehen, ausschließlich gesicherte Ergebnisse der Forschung zu präsentieren. Wir verstehen dieses Buch insofern als „Handbuch", als wir die hauptsächlichen Fragestellungen behandeln, die in der bisherigen Literatur als relevant erachtet wurden, und darüberhinaus auch solche, die u. E. für die künftige Forschung wegleitend sein könnten. Weiterhin soll es sich um ein Handbuch der „allgemeinen Phraseologie" handeln, insofern die aufgeworfenen Fragen prinzipiell an jeder

XIV

Vorwort

Sprache untersucht werden können. Daß unser Sprachmaterial vorwiegend dem Deutschen und Russischen entstammt, erklärt sich aus der Entstehung des Buches. Da unsere empirischen Untersuchungen im deutschschweizerischen Raum durchgeführt wurden, ist das Material aus Situationen gesprochener Sprache vorwiegend mundartlich. Um die Texte nicht zu verfälschen, haben wir sie nicht in Standardsprache übersetzt, dafür aber ein ausführliches Glossar beigegeben. Die in den Forschungsübersichten diskutierten Beispiele aus dem Russischen sind — entsprechend unserer Praxis im „Reader zur sowjetischen Phraseologie" — sowohl in ihrer wörtlichen (soweit dies möglich ist) als auch phraseologischen Bedeutung ins Deutsche übersetzt, so daß der deutschsprachige Leser das jeweilige Argument nachvollziehen kann. Wir danken Frau M . Hirsch, Frau B. Meili und Frau L. Meister für das Schreiben des Manuskripts, Frau Meister darüberhinaus für die Anfertigung der Tabellen und Graphiken. Dem Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung danken wir für die großzügige finanzielle Unterstützung des Projekts. Zürich, im Januar 1981

1.

Einleitung

1.1. Eingrenzung und Charakterisierung des Objektbereichs Was Phraseologie ist, welche sprachlichen Erscheinungen als phraseologische zu bezeichnen sind, darüber gehen heute die Meinungen weit auseinander. Nachdem Charles Bally die Grundlagen für eine linguistische Teildisziplin „Phraseologie" geschaffen hat, die sowjetische Linguistik sodann in den 40er Jahren die Ballyschen Anregungen aufgriff und der Phraseologie zu einer etablierten Stellung im Gefüge der linguistischen Forschungsbereiche verhalf, ist die Diskussion über Aufgaben und Grenzen der Disziplin nicht mehr abgerissen. Dies gilt freilich nur für die sowjetische Forschung, die von der westlichen Linguistik der Nachkriegszeit kaum zur Kenntnis genommen wurde. Sofern hier von einem „Verschulden" die Rede sein kann, wird man der westlichen Linguistik kaum die Schuld dafür zuschreiben wollen, angesichts der streckenweise totalen Abschirmung der sowjetischen Wissenschaft gegen außen. Auch heute noch ist es fast unmöglich, an die zahllosen russischen Publikationen zur Phraseologie heranzukommen, es sei denn, man habe Gelegenheit, die Bibliotheken selbst zu besuchen und dort Dissertationen und andere Arbeiten einzusehen. Nur einige wenige Arbeiten (ζ. B. von Vinogradov, Amosova u. a.) sind schon relativ früh der westlichen Forschung bekannt geworden. Trotz der weitgehenden Unkenntnis der breiten sowjetischen Literatur zur Phraseologie erwachte auch in den USA und Europa das Interesse an phraseologischen Problemen, dies vor allem im Zusammenhang mit den theoretischen Diskussionen um eine generative Grammatik (ζ. B.

Weinreich 1969). In jüngster Zeit sind mehrere Publikationen in deutscher Sprache erschienen, die nicht nur das inzwischen breiter gestreute Interesse an Phraseologie dokumentieren, sondern auch die verstreuten Einzeluntersuchungen der westlichen Forschung sichten und zusammenfassen (Burger-Jaksche 1973, Pilz 1978, Thun 1978). Auch die sowjetische Forschung ist nicht mehr die unbekannte Größe, die sie bis vor kurzem noch war. Neben einer einführenden Übersichtsdarstellung (Häusermann 1977) existiert inzwischen auch ein Reader mit deutschen Übersetzungen wichtiger russischer Aufsätze zur dortigen aktuellen Phraseologie-Diskussion (Jaksche/Sialm/Burger 1981). Wenn man alle diese Publikationen überschaut und nach dem fragt, was jeweils unter Phraseologie und phraseologischen Phänomenen verstanden wird, so läßt sich — abgesehen von einigen, durchaus wichtigen abweichenden Konzeptionen (vgl. 1.2.) — als minimaler Konsens etwa festhalten: Phraseologisch ist eine Verbindung von zwei oder mehr Wörtern dann, wenn (1) die Wörter eine durch die syntaktischen und semantischen Regularitäten der Verknüpfung nicht voll erklärbare Einheit bilden, und wenn (2) die Wortverbindung in der Sprachgemeinschaft, ähnlich wie ein Lexem, gebräuchlich ist. Die beiden Kriterien stehen in einem einseitigen Bedingungsverhältnis.· wenn (1) zutrifft, dann auch (2), aber nicht umgekehrt. Gak (1981 [1976]) nennt als die Aspekte des Phraseologismus, über die im wesentlichen Einigkeit bestehe, die „drei bekannten Merkmale der Mehrgliedrigkeit, der übertragenen Bedeutung und der Festigkeit in der Verwendung." Dies ist in der Hinsicht eine engere Formulierung als die unsrige, daß nur semantische, nicht aber

morphosyntaktische

2

Einleitung

Kriterien berücksichtigt werden, und außerdem nur die „übertragene Bedeutung" als semantisches Merkmal zur Abgrenzung gegen die Bedeutung nichtphraseologischer Wortverbindungen aufgeführt ist. Wenn man aber bedenkt, daß es kaum eine morphosyntaktische „Irregularität" geben dürfte, die nicht auch semantische Folgen hat, und wenn man weiter sieht, daß „übertragene Bedeutung" von Gak in einem sehr weiten Sinn ausgelegt wird — semantische Transfers in allen denkbaren Richtungen

-,

dann stellt sich unsere Definition nur als etwas differenziertere Formulierung des auch bei Gak Gemeinten dar.

Aus der allgemeinen Charakteristik ergeben sich die speziellen und nicht für alle Typen in gleicher Weise geltenden lexikalischen, semantischen, morphosyntaktischen und pragmatischen Eigenschaften der phraseologischen Wortverbindungen. Als Basisterminus für die in diesem Buch zu besprechenden sprachlichen Phänomene wählen wir — entsprechend dem Terminus für das linguistische Teilgebiet — den Ausdruck „Phraseologismus", und synonym damit „phraseologische Wortverbindung". Des weiteren sprechen wir von „Phraseologismen im engeren Sinne" dann, wenn beide Kriterien der obigen Definition erfüllt sind, von „Phraseologismen im weiteren Sinne" dann, wenn nur das zweite Kriterium erfüllt ist. Die verworrene Geschichte der vielfältigen Termini, die unter verschiedensten Perspektiven für phraseologische Phänomene — sei es für den Bereich im allgemeinen, sei es für die Unterklassen des Bereichs — vorgeschlagen wurden, ist bei Pilz (1978) und Thun (1978) referiert. Wir halten es für unzweckmäßig, durch Neuprägung von Termini etwas wie eine Pseudo-Ordnung in dem schwer zu ordnenden Gebiet der Phraseologie zu schaffen. Statt dessen wollen wir uns, wo immer möglich, an existierende Termini halten und diese für unsere Zwecke im Rahmen des Möglichen definieren. Vor allem scheint es uns inopportun, Termini zu verwenden, die schon eine genaue Theorie des phraseologischen Bereichs präjudizieren. Beispiel dafür wäre der Terminus „Phraseolexem", den Pilz vorschlägt und der schon einiges suggeriert zum Verhältnis von Phraseologie und Lexikon. Auch die an

sich geläufigen Terminologiebildungen mit dem Adjektiv „fest" („feste Wortverbindung", „festes Syntagma") eignen sich nicht als Basistermini, da der Begriff „fest" zwar alltagssprachlich und intuitiv einleuchtend ist, aber bei einer theoretischen Charakterisierung auf sehr verschiedene Weise gedeutet werden kann (s. u.). An sich naheliegende Terminologiebildungen wie „phraseologische Einheit" oder „Phrasem" kommen als Grundbegriffe nicht in Frage, da sie in sowjetischen Arbeiten jeweils als bestimmte Teilklasse der Phraseologismen definiert sind (so argumentiert auch Thun 1978, S. 27). Zu einer ersten Orientierung wollen wir — wiederum einem minimalen Konsens der Forschung folgend — die Eigenschaften von Phraseologismen zusammenstellen, die als die auffälligsten angesehen werden: In lexikalischer Hinsicht sind Phraseologismen dadurch charakterisiert, daß sie einerseits aus mehreren selbständigen Wörterbucheinheiten bestehen und anderseits selber wieder eine lexematische Einheit bilden. Dies bezeichnet man üblicherweise als „Festigkeit" der Wortverbindung. (Der Gegenbegriff zu „feste" Wortverbindung ist dann „freie" Wortverbindung.) Die Festigkeit kann sehr verschiedene Aspekte haben (ζ. B. strukturelle, statistische, psycholinguistische, vgl. 3.1.; 3.2.; 5). Hier sei zunächst nur von den strukturellen Aspekten die Rede: In der internen Struktur der Wortverbindung zeigt sich die Festigkeit im Extremfall darin, daß ihre lexikalischen Elemente nicht ausgetauscht werden können, ohne daß sich die Bedeutung der Verbindung um mehr ändert als um die Bedeutung des ausgetauschten lexikalischen Elementes: Ein Beispiel für unveränderbare lexikalische Form ist die Wendung ins Gras beißen, bei der man wohl kein Element austauschen kann, ohne daß die Bedeutung sich gänzlich verändert oder die Wortverbindung sinnlos oder zumindest sehr ungewöhnlich wird: in den Pfirsich beißen oder ins Gras fallen haben nichts mit der Bedeutung ,sterben' zu tun, und in die Wiese beißen oder ins Gras schnappen

Objektbereich

sind Wortverbindungen, für die es schwerfällt, sich einen Kontext auszudenken. Bei anderen Phraseologismen hat die Festigkeit nicht so restriktive Konsequenzen für den Lexembestand:

Auf die schiefe Bahn geraten ist nicht in dem Sinne fest, daß man kein Element austauschen dürfte, ohne die Verbindung zu zerstören. Man kann durchaus sagen auf die schiefe Bahn kommen und eventuell auch auf

die abschüssige Bahn geraten. Aber die ausgetauschten Elemente müssen in relativ engen bedeutungsmäßigen Beziehungen stehen.

Schritt um Schritt ist ein Beispiel für eine phraseologische Wortverbindung mit einem festen Gerüst, dessen Leerstellen beispielsweise auch mit Glas ausgefüllt werden können, so daß die Wortverbindung Glas um Glas entsteht. Das Gemeinsame der so entstehenden Wortverbindungen ist, daß sie ein und demselben syntaktisch-semantischen Modell folgen (vgl. 2.3.3.). In syntaktischer Hinsicht verlieren manche Typen von Phraseologismen die üblichen Eigenschaften freier Syntagmen, insofern ζ. B. die Wortstellungsregeln nicht mehr gelten (klipp und klar kann nicht in klar und klipp verändert werden), oder die paradigmatischen Möglichkeiten eingeschränkt sind (wetten daß . . . kommt — als Phraseologismus — nur im Infinitiv vor). (Vgl. zu diesem Problemkreis der „transformationellen und funktionalen Defekt e " von Phraseologismen Burger 1973, S. 75 ff.). Andere hingegen verhalten sich syntaktisch durchaus wie freie Wortverbindungen. Dies gilt vor allem für viele Phraseologismen, die ein Verb enthalten (er rümpft die Nase, er

rümpfte die Nase, ich rümpfe die Nase etc.). In semantischer Hinsicht sind Phraseologismen heterogen, und eine allgemeine Beschreibung ihrer semantischen Eigenschaften ist dementsprechend schwierig. Für die meisten Phraseologismen gilt aber doch folgendes: Ihre Gesamtbedeutung, die Bedeutung, die sie als lexikalisierte Einheit haben, entspricht nicht der Summe der Bedeutungen der einzelnen Wörter, aus denen sie bestehen. Die phraseologische Bedeutung ist verglichen mit der wörtlichen Bedeutung der Wortverbindung ein ent-

3

weder spezielles oder anderes und neues Ganzes. Die phraseologische Bedeutung von jemandem den Kopf waschen beispielsweise entspricht nicht der Summe der Bedeutungen von

jemandem + den + Kopf + waschen. 'Jemandem die Meinung sagen, mit jemandem schimpfen' ist eine andere und neue ganzheitliche Bedeutung.

Das gilt auch für die phraseologische Bedeutung von rot werden. Die Bedeutungen von rot und werden und ihre Summe können hier zwar mitgemeint sein, aber als phraseologische Wendung bedeutet die Wortverbindung doch zusätzlich und wesentlich ,beschämt oder betroffen sein'. Bei vielen Phraseologismen ergibt die Summe der Bedeutungen der Wörter, aus denen sie bestehen, keinen Sinn, oder es wäre zumindest schwierig, einen passenden Kontext zu finden. Das gilt etwa für die Wendungen am Hunger-

tuch nagen und unter dem Fantoffel

stehen.

In diesen Fällen ist die wörtliche Bedeutung ein Konstrukt, das lediglich dazu dienen kann, die semantischen Eigenschaften der fraglichen phraseologischen Wortverbindungen zu bestimmen. (Vgl. 2ukov 198-1 [1975].) Daß die meisten Phraseologismen eine ganzheitliche Bedeutung haben, die mit der wörtlichen Bedeutung nicht übereinstimmt, heißt aber nicht, daß kein Zusammenhang bestünde zwischen der summativen wörtlichen Bedeutung auf der einen Seite und der phraseologischen Gesamtbedeutung auf der anderen Seite. Im Gegenteil: Wenn man die beiden Bedeutungen vergleicht, stellt man sehr oft einen Zusammenhang fest. Die phraseologische Bedeutung der Wendung in Hülle und Fülle zum Beispiel hat mit der Bedeutung von Fülle etwas zu tun; die phraseologische Bedeutung von Dank sagen hat sowohl mit der Bedeutung von Dank als auch mit der Bedeutung von sagen zu tun, und die phraseologische Bedeutung von etwas auf

die lange Bank schieben hat zwar mit den Bedeutungen von lang, Bank und schieben direkt nichts zu tun, aber man kann sich vorstellen und nachvollziehen, wie man von der wörtlichen Bedeutung auf die phraseologische

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Einleitung

Bedeutung der Wendung kommt, zumindest dann, wenn man die phraseologische Bedeutung kennt. Schon die wenigen Beispiele zeigen aber, daß das Verhältnis zwischen der wörtlichen und der phraseologischen Bedeutung eines Phraseologismus nicht immer gleich geartet ist. Es gibt verschiedene Verhältnistypen, und zu ihrer Charakterisierung kann man den Begriff der „Motivierbarkeit" herbeiziehen, mit dessen Hilfe man für jeden Phraseologismus festhalten kann, ob und wie seine phraseologische Bedeutung von der — auch gebräuchlichen oder in gewissen Kontexten akzeptablen oder konstruierten — wörtlichen Bedeutung her verstehbar ist. Wenn die phraseologische Bedeutung einer Wendung von den wörtlichen Bedeutungen der einzelnen Wörter her verstehbar ist, kann man von „direkt motivierbaren" Wendungen sprechen. Ein Beispiel dafür ist das oben erwähnte Dank sagen. Wenn die phraseologische Bedeutung einer festen Wortverbindung von einem oder mehreren, aber nicht allen Elementen her durch deren wörtliche Bedeutung verstehbar ist, und eines oder mehrere Elemente die wörtliche Bedeutung nicht in die phraseologische Bedeutung einbringen, kann man von „teilmotivierbaren Phraseologismen" sprechen. Ein Beispiel dafür ist das erwähnte in Hülle und Fülle, das die wörtliche Bedeutung von Fülle enthält, aber nicht die wörtliche Bedeutung von Hülle. Weitere Beispiele sind klipp und klar, Stein

und Bein schwören, auf Herz und Nieren prüfen, zittern wie Espenlaub und im großen und ganzen. Wenn die phraseologische Bedeutung einer Wendung von den wörtlichen Bedeutungen ihrer Elemente her nur dann verstehbar ist, wenn sie als eine summative Bedeutung im bildlichen oder übertragenen Sinn verstanden wird, dann kann man von „metaphorisch motivierbaren Phraseologismen" sprechen. Ein entsprechendes Beispiel ist die Wortver-

bindung etwas auf die lange Bank schieben-,

weitere wären etwa: das fünfte Rad am

sein, den Kopf verlieren.

Wagen

Wenn die phraseologische Bedeutung einer festen Wortverbindung von der summativen wörtlichen Bedeutung her nicht verstehbar ist, kann man von „unmotivierten Phraseologismen" sprechen. Beispiele dafür sind: an jeman-

dem einen Narren gefressen haben und gang und gäbe. Wenn gelegentlich behauptet wird, der Phraseologismus sei in struktureller Hinsicht dem (einzelnen) Wort äquivalent, so gilt dies nach allem bisher Gesagten nur sehr bedingt: Sowohl in syntaktischer als semantischer Hinsicht gibt es Phraseologismen, die sich eher wie ein Wort, und andere, die sich eher wie ein (freies) Syntagma verhalten. Zwischen den beiden Polen liegt eine Skala mit (potentiell) unendlichen Zwischenstufen. Es ging uns mit diesen einführenden Überlegungen nicht darum, das phraseologische Material bereits zu klassifizieren (für Klassifikationsprobleme vgl. 2.); es sollten nur einige in der Forschung geläufige Begriffe eingeführt werden, mit denen sich das wechselnde Verhältnis von Form und Bedeutung der Phraseologismen benennen läßt. (Die Grundbegriffe der Phraseologie-Forschung sind im einzelnen in 3.1. aufgeführt und erläutert.) In Darstellungen der deutschen Phraseologie werden mit Recht häufig auch phraseologische Aspekte der Wortbildung behandelt. Ζ. B. läßt sich beim Sprachvergleich beobachten, daß dort wo die deutsche Sprache ein Kompositum oder eine Ableitung aufweist, die andere Sprache nicht selten eine phraseologische Wortverbindung hat (vgl. 7.2.1.2.). Und in den Handbüchern der deutschen Wortbildung wird immer wieder darauf verwiesen, daß es sich bei der Erscheinung der „Lexikalisierung" von Komposita oder Ableitungen um eine der Phraseologisierung von Wortverbindungen analoge Erscheinung handelt. Nun sind diese Probleme aber in den vorliegenden Darstellungen der deutschen Wortbildung weitgehend berücksichtigt, und so glaubten wir, auf eine Behandlung der phraseologischen Aspekte der Wortbildung im Rahmen dieses Handbuches verzichten zu können.

Andere Konzeptionen von Phraseologie

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Das Gebiet der Phraseologie, wie wir es mit einigen Beispielen vorläufig abgesteckt haben, ist somit ein linguistisch definierbarer Bereich sprachlicher Phänomene. Neben einer solchen engen Konzeption von Phraseologie gibt es in der Forschung Auffassungen, die der Phraseologie eine weitere Domäne zuweisen.

Eine derart weite Definition von Phraseologie scheint uns wenig praktikabel und theoretisch nicht unproblematisch. Sie paßt zwar in das von der neueren strukturellen Linguistik entwickelte Schema von System-Norm-Rede (vgl. Thun 1978, S. 49 u. 248 ff.). Doch sind es jeweils ganz verschiedenartige „Integrationsregeln", die auf den verschiedenen Ebenen des Sprachsystems wirksam sind, infolgedessen auch sehr verschiedenartige — in der Norm akzeptierte — Abweichungen von den Regeln.

(a) Nach Janko-Trinickaja (1981 [1969]) ist „Phraseologie" die allgemeine Bezeichnung für alle Abweichungen von den „Integrationsregeln" bedeutungstragender Einheiten zu einer komplexeren Einheit (S. 20). Als „Phraseologismus" gilt dann „eine strukturierte Einheit, deren Bau den Integrationsregeln der jeweiligen Ebene [nämlich: bedeutungstragender Einheiten] nicht entspricht" (S. 20). Nach diesem strukturellen Kriterium gibt es Phraseologismen vom Won bis zum Satz hin (eventuell sogar -darüberhinaus, sofern auch auf der Textebene strukturelle Gesetzmäßigkeiten anzunehmen sind, die verletzt werden können; Janko selber kommt darauf nicht zu sprechen). Unregelmäßigkeiten der Wortbildung (ζ. B. das anorganische Fugen-s in manchen deutschen Komposita, wie Weihnachts bäum), semantische Lexikalisierung von Komposita (Großmutter), unikale Morpheme innerhalb von Wörtern (Himbeere) verursachen ebenso Phraseologismen wie semantisch irreguläre Konstruktion von ganzen Sätzen (ζ. B. Das geht auf keine Kuhhaut). Daraus schließt Janko, daß die „Phraseologie keine eigene Ebene in der Hierarchie der Sprachstruktur (darstellt), denn Phraseologismen gibt es auf allen Strukturebenen" (S. 26). Und weiter: „Vom Wort weiter nimmt die Phraseologizität der Einheiten von Ebene zu Ebene ab", was graphisch so dargestellt wird (S. 25):

(b) Janko-Trinickaja verweist darauf, daß ihre Auffassung von Phraseologie noch nicht einmal die weiteste Interpretation darstellt, die bisher in der Forschung vertreten wurde. Wenn das Kriterium der „Reproduziertheit" (vgl. 3.1.) primär den Bereich der Phraseologie determiniert, wie etwa bei Sanskij, dann kommt man zu Abgrenzungen wie dieser: ,Jedes sprachliche Gebilde, welcher Länge, welcher Struktur und Bedeutung es auch sei, ist ein Phraseologismus, wenn es über das Wort hinausgeht und reproduziert wird." (zitiert bei Janko S. 20). In solchen Zusammenhängen wird der Begriff der „Reproduziertheit" offensichtlich sehr unbekümmert verwendet, ζ. B. ohne zu klären, ob damit statistisch feststellbare Eigenschaften von Sprache und individuelle psychische Produktions- und Rezeptionsmechanismen zugleich gemeint sein können. Unseres Erachtens hat der Begriff nur im Rahmen einer psychologischen Interpretation einen guten Sinn. (Vgl. dazu 5.2.; 5.3.1.). Wenn man ihn aber psychologisch deutet, dann hat dies zur Folge, daß damit weit mehr erfaßt ist, als was normalerweise unter den Begriff „Phraseologie" fällt. Reproduziert wird ja ζ. B. auch alles Auswendiggelernte, auch alles Abgelesene. Man denke an den von Toni Buddenbrook „rezitierten" Katechismus (vgl. 5.3.1.), ein Paradebeispiel von „bloß"

1.2. Andere Konzeptionen von Phraseologie

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Einleitung

Reproduziertem, ohne Rücksicht auf Semantik und Intention des originären Textes. (c) In die Nähe einer solchen extensiven Auslegung des Begriffs Phraseologie kommt Daniels (1979) mit seinem Terminus „sprachliche Schematismen", der auch Slogans, Parolen, Schlagworte, stehende Witze, Anspielungsformen umfaßt. Als „sprachliche Schematismen" gelten „alle sprachlichen Formen, die durch relativ feste Strukturen in der langue festgelegt sind (grammatische Bindung) oder aber in ihrem Gebrauch abgestimmte situative Bindungen aufweisen" (S. 291). Hier bestimmt das nicht primär linguistische, mindestens nicht strukturell-linguistische Forschungsziel legitimerweise die Ausweitung des Gegenstandsbereiches: Daniels ist an der didaktischen Relevanz der Phraseologie interessiert, und hier ist es in der Tat das Kriterium der Reproduziertheit, das die meisten Anknüpfungspunkte bietet. (In 6.4.5.2. berichten wir von einem Stil-Test an Schülern, wo wir den Bereich der Phraseologismen aus den gleichen Gründen auf „klischierte" Ausdrücke in einem weiteren Sinne ausgeweitet haben.) Wie die „Schablonen/Schematismen" sind natürlich auch die Phraseologismen im engeren Sinne reproduziert, aber nicht alles Reproduzierte kann auch als phraseologische Wortverbindung gelten (so auch Janko S. 21). (d) Abermals von einem anderen theoretischen Ausgangspunkt gelangt Ch. Hockett zu einer weiten Umgrenzung des „idiomatischen" Bereichs (er verwendet, der angelsächsischen Tradition entsprechend, den Terminus „idiom"): „Let us momentarily use the term ,Y' for any grammatical form the meaning of which ist not deductible from its structure. Any Y, in any occurrence in which it is not a constituent of a larger Y, is an idiom. A vast number of composite forms in any language are idioms. If we are to be consistent in our use of the definition, we are forced also to grant every morpheme idiomatic status, save when it is occurring as a constituent of a larger idiom, since a morpheme has no structure from which its meaning could be deduced. Thus new is an idiom in She wants a new hat,

but not in I'am going to New York, because here it

is part of the larger idiom New York. ( . . . ) The advantage of this feature of our definition, and of the inclusion of morphemes as idioms when they are not parts of larger idioms, is that we can now assert that any utterance consists wholly of an integral number of idioms. Any composite form which is not itself idiomatic consists of smaller forms which are." (Hockett,

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1967, S. 172)

Der Begriff „Struktur" ist hier, wie bei JankoTrinickaja, sehr weit (und vage) gefaßt und erlaubt auf diese Weise eine weite „strukturelle" Definition des „Idioms". Das einfache Wort ist ein Idiom, weil seine Bedeutung nicht aus seiner phonologischen Struktur ableitbar ist (weil es im Saussureschen Sinne „arbiträr" ist); Wortverbindungen können Idiome sein, dann nämlich, wenn ihre Bedeutung nicht von der Bedeutung der einzelnen Wörter her konstruierbar ist (wenn sie nicht „sekundär motiviert" sind im Saussureschen Sinne). Diese Definition scheint uns wenig weiterführend, weil hier Einheiten aus bloß bedeutungsdifferenzierenden (Phoneme) und aus bedeutungstragenden (Morpheme) Bestandteilen gleich behandelt werden.

1.3. Phraseologie aus der Sicht verschiedener Wissenschaften Es war und ist nicht nur die Linguistik, die ein wissenschaftliches Interesse an Phraseologismen hat. Eine ganze Reihe anderer Wissenschaften hat sich mit Teilaspekten und Teilbereichen der Phraseologie befaßt, und auch im Hinblick auf die offenkundige interdisziplinäre Attraktivität des Gegenstandes ist dieses Buch konzipiert worden. Es seien einige Fragestellungen aufgelistet, die von anderen Wissenschaften an die sprachlich-phraseologischen Erscheinungen gerichtet werden: Historisch gesehen in erster Linie zu nennen ist hier die Volkskunde, mit ihrem Spezialzweig der „Parömiologie". Es sind vor allem die phraseologischen Typen, die landläufig als „Redensarten" und „Sprichwörter" bezeich-

Phraseologie aus der Sicht verschiedener Wissenschaften

net werden, die bei Volkskundlern Beachtung fanden. Redensarten sind für den Volkskundler deshalb von Interesse, weil er hier häufig auf fossiliertes Brauchtum stößt, das ihm Anlaß zu sprach- und kulturhistorischer Rekonstruktion liefert. Wie hier Volkskunde und Sprachgeschichte Hand in Hand arbeiten, zeigt in eindrucksvoller Weise das glänzend dokumentierte „Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten" von L. Röhrich (1973). In populäreren Sammlungen von Redensarten schlägt sich dieses Interesse dann meist als „Lob der Sprache" nieder: Redensarten seien Beweis für die schöpferische Kraft der (jeweils eigenen) Sprache, sie seien recht eigentlich „Quellen unseres Geistes", in ihrer Bildkraft machten sie den „Reichtum der deutschen Sprache" aus (Krüger-Lorenzen, 1960, S. 6, u. 1966, S. 5), wobei anzumerken bleibt, daß diese ursprüngliche Bildkraft meist erst dem Etymologen durchschaubar wird. Als Beleg für viele möge hier der Klappentext zu dem verbreiteten Buch von H. Dittrich (1970) „Redensarten auf der Goldwaage" stehen: „Dittrich hat in jahrelanger Forschungsarbeit Tausende von Redensarten gesammelt und ,auf die Goldwaage gelegt'. Er hat ihre Herkunft, Bedeutung und Bedeutungswandlung erforscht und in einem munteren ABC erklärt. So spiegelt sich die ganze Weite und Fülle des Lebens in diesem verdienstvollen Nachschlagewerk wieder." (Zu dieser Einschätzung der Redensarten vgl. Burger 1978, Koller 1977, Pilz 1978.) In neuerer Zeit geht es der Volkskunde nicht mehr nur um die Zurückführung der Redensarten auf ihre Quellen im Brauchtum, sondern auch um ihre Funktion in der Kommunikation (vgl. Hain 1951, Bausinger 1968, Röhrich/Mieder 1977). So liest man bei L. Röhrich: „Obwohl man immer wieder sagt: .Schreibe, wie du sprichst', warnen allerorten doch die Lehrer eines guten, gehobenen und gepflegten Stils vor dem unmäßigen Gebrauch sprichwörtlicher Redensarten, und sicher passen sie nicht in einen Beileidsbrief und auch nicht in eine wissenschaftliche Abhandlung oder in eine akademische Ansprache. Ganz bewußt bedienen sich ihrer

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aber alle, die sich an ein breiteres Publikum wenden ( . . . ) Redensarten verraten einen gewissen Mangel an Individualität, kollektive Existenz, Neigung zum Formelhaften und zu volkstümlichen Denkklischees ( . . . ) Und doch geben sprichwörtliche Redensarten der Sprache eine gewisse Frische und Natürlichkeit ( . . . ) Sprichwörtliche Redensarten sind die Rhetorik des einfachen Mannes. Er liebt die Redensarten, besonders die drastischen, und verwendet sie unbefangen in allen Sprachsituationen. Sie gehören vor allem zum mündlichen Sprechstil." (Röhrich 1973, S. 33) Hier erfolgt eine deutlich wertende Zuweisung der sprichwörtlichen Redensart an nichtgehobenes, vorwiegend mündliches, für die unteren sozialen Schichten typisches Sprechen, bei gleichzeitiger Betonung des NatürlichDrastischen, womit die volkskundliche Betrachtung in sozio- und pragmalinguistische Überlegungen hinüberweist. Wir werden zu zeigen haben, daß die These von der „Rhetorik des einfachen Mannes" nur in sehr beschränktem Maße Gültigkeit hat und im Rahmen einer auf Textsorten bezogenen Phraseologie relativiert werden muß (vgl. 4.2.5.1.). Sprichwörter werden im Rahmen der Volkskunde einerseits unter der gleichen Perspektive behandelt wie Redensarten, sofern zwischen Redensarten und Sprichwörtern gleitende Übergänge stattfinden. Andererseits aber gelten Sprichwörter als „einfache Formen" der mündlich-tradierten Volksliteratur, als MikroTexte mit ihren eigenen ästhetischen Gesetzmäßigkeiten. In diesem Sinne wurden sie zum Beispiel von Permjakov (1970) behandelt. Was von der Volkskunde am Rande mitbehandelt wird — der gesellschaftliche, allenfalls schichtspezifische oder gruppenspezifische Charakter der Phraseologismen —, wird in der Soziologie (und in deren Gefolge auch in der Soziolinguistik) thematisiert. Hier ist es vor allem das Problem des „Stereotyps", das den Bereich der Phraseologie tangiert. „Ein Stereotyp ist der verbale Ausdruck einer auf soziale Gruppen oder einzelne Personen als deren Mitglieder gerichteten Überzeugung. Es hat die logische Form eines Urteils, das in ungerechtfertigt vereinfachender und generalisierender

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Einleitung

Weise, mit emotional wertender Tendenz, einer Klasse von Personen bestimmte Eigenschaften oder Verhaltensweisen zu- oder abspricht. Linguistisch ist es als Satz beschreibbar." (Quasthoff 1973, S. 28). Stereotype gelten als „kollektive Bewußtseinsinhalte" (Quasthoff, S. 28), die sprachlich in bestimmten Formulierungsschemata realisiert werden. So können sprachliche Realisierungstypen festgestellt und klassifiziert werden, wie sie etwa durch die folgenden Beispielsätze angedeutet sind:

(1) Der Deutsche ist fleißig. (2) Der niederdeutsche Mensch gilt als wortkarg. (3) Ich habe den Eindruck, daß die Amerikaner unserer Geistigkeit nicht entfernt gewachsen sind. (4) Er ist Jude, aber er ist sehr nett. (Beispiele nach Quasthoff, S. 239ff.) Die Beispiele zeigen bereits, daß diese Sätze, obwohl sie „kollektive Bewußtseinsinhalte" spiegeln mögen, doch in keiner Weise als sprachlich „fest" gelten können. Keines der oben aufgeführten auffälligsten Charakteristika der Phraseologismen ist an solchen Sätzen auffindbar. Auch die logisch-semantische Analyse der Stereotyp-Klassen, wie sie Quasthoff versucht, weist darauf hin, daß es sich um sehr allgemeine, sprachlich sehr verschieden zu realisierende Formulierungsmodelle handelt. Gleichwohl gibt es eine Ubergangszone zwischen dem sozialwissenschaftlich definierten Stereotyp und dem linguistischen Bereich der Phraseologie: die Sprichwörter und sprichwortähnliche „Gemeinplätze", sofern sie in den Sprachbesitz als vorgefertigte Formulierungen eingegangen sind (vgl. 2.3.9.). Darauf verweist etwa U. Maas (1972, besonders S. 2 7 3 - 2 7 5 ) unter dem Aspekt des schichtspezifischen Argumentierens. Maas spricht von „Topoi" und glaubt damit eine sowohl soziologisch als auch linguistisch definierbare Klasse von sprachlichen Erscheinungen in den Griff zu bekommen. Erscheinungen, die nach Maas „ein verantwortliches Handeln" mit Sprache verunmöglichen (verantwortliches Handeln hier verstanden als ein „Handeln,

das über seine Bedingungen verfügt, weil es diese geschaffen hat"). Obwohl Maas als linguistische Ausprägung der „Topoi" in erster Linie die Sprichwörter nennt, bringt er als Beispiele lauter nicht-phraseologische Sätze. Diese wertet er aber nicht einfach als Stereotype im landläufigen soziologischen Sinne, sondern charakterisiert sie als Ausdruck der kapitalistischen Ideologie, die den Arbeitern eingeredet werde und die sie an rationalem Argumentieren und damit an Emanzipation/ hindere. (Beispiel: „Privatbesitz ist die Voraussetzung eines jeden Staatsbürgers."). Die topische Argumentation ist für Maas dann, in der Hand der Massenmedien, ein „brauchbares Mittel zur Manipulation". „Die Verdummung durch die Massenpresse ist deswegen möglich, weil sie ebenfalls topisch argumentiert (.Reichtum ist schwer zu tragen', ,Soraya bekommt kein Kind', usw.) und so von der Wirklichkeit ablenkt und von ihr her auch nicht widerlegbar ist. ( . . . ) " Hier wird in keiner Weise klar, wie die sozialwissenschaftlichen und die linguistischen Kategorien zur Abgrenzung und Funktionsbeschreibung des „topischen" Argumentierens zusammenspielen sollen. Es liegt da zweifellos ein großes, noch kaum bearbeitetes Feld für interdisziplinäre soziologisch-linguistische Studien. Bereits Bernstein hatte in einem frühen Aufsatz (1972 [1961]) auf Berührungspunkte zwischen sozialer Schichtung und Sprachverhalten im Bereich der Phraseologie hingewiesen, wobei freilich die linguistische Abgrenzung der gemeinten sprachlichen Erscheinungen gleichfalls sehr vage bleibt. Bernstein rückt die „idiomatischen Redewendungen" im allgemeinen, also nicht nur den Bereich des Sprichwörtlichen, in die Nähe des sozialen Stereotyps, wobei er das Reden in Stereotypen dem Sprachverhalten der Unterschicht (hier noch als „öffentliche" Sprache bezeichnet) zuweist. „Eine ,öffentliche' Sprache enthält eine große Anzahl überlieferter idiomatischer Wendungen, aus denen der einzelne auswählt. Anstelle des individuellen Lernens, das einen Sprachgebrauch schafft, innerhalb dessen man auswählen kann, um die eigenen individuellen Gefühle auszudrücken, mißt der der .öffentlichen' Sprache verhaftete seine

Phraseologie aus der Sicht verschiedener Wissenschaften

Gefühle sozialen Stereotypen bei, die die Solidarität sozialer Beziehungen auf Kosten der logischen Kommunikationsstruktur und der Besonderheit des Fühlens vergrößern" (S. 133). Idiomatische Redewendungen gelten also deshalb als Symptome für soziale Stereotype, weil sie individuelle und differenzierte Kommunikation im affektiven wie kognitiven Bereich verhindern. Gemeint sind offenbar vor allem bildhafte, konnotativ stark besetzte und für die Formulierung von Gefühlen geprägte Phraseologismen. Auch diese Gedankengänge blieben Anregung, die in der späteren soziologischen und soziolinguistischen Forschung u. W. nicht weiterverfolgt wurden. Mangels eigener empirischer Untersuchungen auf diesem Gebiet werden wir im vorliegenden Buch auf die soziologische Problematik der Phraseologismen nur am Rande eintreten (vgl. 4.2.2. ff.). Schon früh haben sich Psychologie und Psychiatrie für das Phänomen der Phraseologismen interessiert. Es mag hier der Hinweis auf S. Freud genügen, der seine psychoanalytische Theorie häufig an phraseologischen Auffälligkeiten der Rede des Patienten erläutert, vor allem an doppeldeutigen Redensarten in Traumerzählungen (vgl. Burger 1978, S. 61 ff.). Gegenwärtig sind es vor allem die folgenden Problemkreise, bei denen sich psychologische und linguistische Fragestellungen berühren: — Die Frage der psycholinguistischen Repräsentation sprachlich fester Wortverbindungen: Wie werden feste Wortverbindungen gespeichert und wie werden sie beim Hören verarbeitet und beim Sprechen verwendet? Entsprechen den speziellen sprachlichen Strukturen spezielle psycholinguistische Mechanismen? — Die Frage nach Status und Rolle von automatisierten Redeteilen: Wieweit hängen Automatismen als Ergebnisse von Lernprozessen und bestimmte sprachliche Strukturen (wie feste Wortverbindungen) zusammen? Inwieweit kann automatisches Sprechen als Symptom gewertet werden? Inwieweit können bestimmte Formen automatisierten Sprechens, insbesondere dialogspezifische phraseologische

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Einheiten wie ich meine etc., als Indikatoren für psychisch gestörtes Verhalten gelten? Inwieweit können feste Wortverbindungen in speziellen psycholinguistischen Repräsentationsformen therapeutische Ansatzpunkte innerhalb der Sprachpathologie bilden? (Vgl. dazu 5.). Die Pädagogik ist an Phraseologie vor allem hinsichtlich der Frage interessiert, von welchem Alter an Kinder metaphorische Phraseologismen verstehen können. Die Antwort auf diese Frage hat auch unmittelbare Folgen im sprachdidaktischen Bereich (Einführung von Phraseologismen in Lehrbüchern welcher Stufe? wann ist Sprachreflexion auf Phraseologismen möglich und sinnvoll?). Vgl. dazu Arbeiten wie Wolfrum ( 2 1976), Rosenthal (1976), Daniels (1979). Eine lange Tradition hat das Interesse an Phraseologie im Rahmen der Literaturwissenschaft (vgl. die in Röhrich/Mieder 1977 aufgeführten Forschungsübersichten von Mieder). Meist nur als Sammlungen interessant sind Arbeiten vom Typ „Das Sprichwort (Redensarten) bei . . . " , aus den unten erläuterten Gründen. Aufschlußreicher sind Untersuchungen zur Formelhaftigkeit bestimmter Texte oder Textgattungen, wie etwa des Minnesangs oder des mhd. Epos. In neuerer Zeit verdienen insbesondere die Forschungen zur „oral poetry" Beachtung, die mit dem Begriff der „Formel" einen unmittelbaren Bezug zur Phraseologie herstellen: „Formel" als reproduzierbares Mittel zur Versfüllung, als Hilfe beim Memorieren, als strukturierendes Mittel des Textaufbaus usw. (vgl. die Forschungszusammenfassung in Haymes 1977). Freilich ist hier — wie auch in den Arbeiten zu schriftlich konzipierten Texten — noch genauer zu klären, inwieweit der zunächst statistisch verstandene Begriff „Formel" in einem linguistischen Sinn interpretierbar ist (vgl. etwa Lutz 1 9 7 4 , 1 9 7 5 a und b). Im übrigen verweisen wir auch auf unsere Beobachtungen zur Phraseologie in literarischen Texten (ζ. Β. 1.4.; 3.2.2.; 3.2.4.; 4.1.2.2.; 4.2.; 8.1.5.). Angesichts dieser Vielfalt von Beziehungen der Phraseologie zu verschiedenartigen wissenschaftlichen Disziplinen hat es einen guten

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Sinn, vom „interdisziplinären" Charakter der Phraseologie zu sprechen, auch wenn der Begriff „Phraseologie" je nach Forschungsinteresse der jeweiligen Wissenschaft wieder je anders abgegrenzt wird. Die Arbeit von Pilz (1978) kann kaum als „Versuch einer interdisziplinären Abgrenzung, Begriffsbestimmung und Systematisierung" (wie es im Untertitel heißt) gelten, da es sich um einen immanent linguistischen Zugang handelt und die Beziehungen zu anderen Disziplinen (mit Ausnahme vielleicht der Volkskunde) gerade ausgeklammert bleiben, womit auch völlig unberücksichtigt bleibt, daß „Abgrenzung" und „Begriffsbestimmung" von jeder Disziplin wieder neu vorgenommen werden. Wir gehen in diesem Handbuch von der oben skizzierten engen Bestimmung der Phraseologismen aus, behandeln aber weitergehende Aspekte des „Phraseologischen" an den Stellen, wo es sich von Forschungslage und Thematik her anbietet und wo bereits jetzt faktische interdisziplinäre Fragestellungen und Resultate vorliegen.

1.4. Ein Beispiel: Phraseologie in der Literatur Wie sehr die Bewertung und Einschätzung von Phraseologismen davon abhängt, in welchem Sinnhorizont sie auftreten, im Kontext welcher verwandter Erscheinungen sie eingebettet sind, zeigt sich sehr deutlich in literarischen Texten. Als erste Demonstration der Tatsache, daß eine linguistische Abgrenzung des Gebietes der Phraseologie und außer-linguistische Grenzziehungen nicht kongruent sein müssen, wollen wir an dieser Stelle auf einige Phänomene literarischer Verwendung von Phraseologismen eingehen (Vergleichbares wird sich in 5.2. ergeben). Es soll hier nicht von der „poetischen Sprachfunktion", wie sie R.Jakobson definiert hat, die Rede sein. „Poetische" Verwendung von Phraseologismen in diesem Sinne wird man nicht nur in Texten zu erwarten haben, die gemeinhin als „literarisch" gelten, sondern

auch — ad hoc und zu bestimmten stilistischen Zwecken — in alltäglicher Sprache oder anderen Funktiolekten (ζ. B. in Werbetexten, vgl. 3.2.3.). Hier interessieren vielmehr Phänomene, die im engeren Sinne als literaturgeschichtliche gelten können. Aus literaturwissenschaftlicher Sicht ist es ganz klar, daß man nicht „den" poetischen Gebrauch von irgendwelchen sprachlichen Erscheinungen, also auch nicht von Phraseologismen, untersuchen kann, losgelöst von der jeweiligen Epoche und losgelöst vom Ganzen des jeweiligen Werkes und der literarischen Persönlichkeit des Autors. (Daher verzichten wir darauf, der Literatur ein eigenes Kapitel zu widmen, da dies eine eigene Monographie erfordert.) Das gilt für die Phraseologie in verschiedener Hinsicht:

1.4.1. Funktionswandel der Phraseologie Bestimmte Verfahren der Verwendung von Phraseologismen haben in einer Epoche einen ganz anderen Sinn als in einer anderen. So dient die Anhäufung von Phraseologismen ζ. B. bei Sebastian Brant völlig anderen Zwekken als die äußerlich vergleichbare Anhäufung von Phraseologismen in Texten von P. Handke. In Brants „Narrenschiff" (1494) haben Phraseologismen, insbesondere solche des metaphorischen Typs und Zwillingsformeln (vgl. 2.3.) unter anderem die Funktionen, einerseits die immense Sprachbeherrschung des Autors herauszustreichen, im Sinne eines souveränen Verfügens über humanistisches Bildungsgut ebenso wie über volkstümliche Sprachtradition, und andererseits dem Leser den didaktischen Zweck auf möglichst eindringliche, anschauliche und unmißverständliche Weise nahezubringen. So bewirkt denn die inflatorische Reihung von Phraseologismen für schmeicheln' im Kapitel „Von falben hengst strichen" (schon der Titel bedeutet .schmeicheln') keineswegs eine gegenseitige Relativierung der Wendungen oder gar eine sprachkritische Distanzierung von einer solchen Art zu sprechen, sondern im Gegenteil eine Verstärkung und Verdichtung des immer gleichen didaktischen Grundgedankens:

Phraseologie in der Literatur

[100.] Wer yetz kan strichen wol den hengst Vnd ist zü allem bschisß der gengst Der meynt zü hoff syn aller lengst [Holzschnitt] vö falbe hengst striche Mir kem eyn verdeckt schiff yetz recht Dar jn ich setzt der herren knecht Vnd ander die zü hoff gont schlecken Vnd heymlich by den herren stecken 5 Do mit sie süssen gar alleyn Vnd vngetrengt von der gmeyn Dann sie sich nit wol mögen lyden Der eyn klubt fädern / der stricht kryden Der liebkoßt / der runt jnn die oren 10 Das er vff kum jn kurtzen joren Vnd sich mit deller schlecken ner / Mancher durch lyegen würt eyn herr Dann er den kutzen strichen kan Vnd mit dem falben hengst vmb gan 15 Zü blosen mil / ist er geschwynd Den mantel hencken gen dem wynd Züdüttlen hilfft yetz manchem für Der sunst langzyt blib vor der tür Wer schlagen kan / hör vnder woll 20 Der selb zü hoff gern bliben soll Do ist er worlich lieb / vnd wert Der erberkeyt man do nit bgert Mit torheit dünt sie all vmb gon Went mir die narrenkapp nit Ion 25 Doch strigelt mancher offt so ruch Das jnn der hengst schmytzt jn den buch Oder gytt jm eyn drytt jnn die ryppen Das jm das deller feilt jn die krippen Der selben wer güt müssig gon 30 Wann man sust wißheit wolt verston / Wann yeder wer / als er sich steltt Den man für frumm / vnd redlich helt Oder stelt sich als er dann wer Vil narren kappen stünden lär

(S. 172f.)

Handkes Verfahren hingegen folgt literarischen Intentionen, die großen Bereichen der literarischen Produktion der letzten 10 bis 2 0 Jahre gemeinsam sind. Die Autoren nähern sich der Sprache in geradezu wissenschaftlicher Haltung. Schreiben ist zugleich Sprachkritik, d. h. Bloßlegen der Mechanismen in den sprachlichen Abläufen, Entlarvung der Konventionalität der sprachlichen Zeichen. Es wird im Schreiben demonstriert, daß jede Sprache nur eine Interpretation der Welt ist,

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nur eine unter vielen anderen möglichen Interpretationen. Autoren wie P. Handke, G. Eich (in den „Maulwürfen"), Th. Bernhard, auch P. Weiss (im „Hölderlin") oder F. X . Kroetz treiben in diesem Sinn Sprachkritik, allerdings mit sehr unterschiedlicher Ausprägung im einzelnen. Nun wird der konventionelle Charakter der Sprache besonders augenfällig in der Phraseologie. Und so ist es nicht verwunderlich, daß Phraseologie ins Zentrum derart sprachkritischer Literatur rückt: Phraseologie als Symptom für eine allgemeine Insuffizienz der Sprache. Handkes spezifischer sprachkritischer Ansatz besteht nun darin, daß er in den festgewordenen sprachlichen Abläufen die Schematizität und Borniertheit unseres Bewußtseins entlarven will. Man könnte, in Abwandlung des bekannten Satzes von Ludwig Wittgenstein („Die Philosophie ist ein Kampf gegen die Verhexung unsres Verstandes durch die Mittel unserer Sprache") sagen, es gehe Handke darum, die Verhexung des Bewußtseins durch die Mittel der Sprache zu demonstrieren. Unscheinbarste und scheinbar unverfänglichste alltagssprachliche Abläufe werden ihm suspekt, weit über das hinaus, was vom wissenschaftlichen Standpunkt her noch als phraseologisch gelten kann. Fast lehrhaft deutlich ist diese Art von Sprachkritik vorgeführt in einem frühen Prosastück mit dem Titel „Halbschlafgeschichten" (1965) und dem Untertitel „Entwurf zu einem Bildungsroman". Hier wird nicht ein Bildungsroman im Sinne des 19. Jhs. abgewickelt, sondern eher das Schema eines Bildungsromans; ein Bildungsroman auf die einfachste Formel gebracht. Der „Bildungsweg" des Helden, seine „Entwicklung" wird formuliert in einer fast lückenlosen Kette von Phraseologismen. „Entwicklung des Charakters" ist, nach Aussage dieses Textes, nichts als ein Einschieifen sprachlicher Muster, die das Bewußtsein total determinieren. Die Reihung als solche macht den Klischeecharakter der Ausdrücke und damit des Bildungsweges sichtbar: „Allmählich nahmen seine Gedanken Gestalt an. Von allen Seiten war er gelehrt worden, den Weg des geringsten Widerstandes zu gehen. Später hatte er von sich aus dazugelernt, daß es möglich war, über den

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Einleitung

eigenen Schatten zu springen." [Was er lernt, sind Klischees - in Worten und Taten.] Neben der Reihung tragen auch leichte Abweichungen vom üblichen Gebrauch des Klischees zur Entlarvung bei: „Hatte ihm diese Erfahrung anfangs noch Vergnügen bereitet, so langweilte sie ihn im Laufe der Zeit derart, daß er sich selber aus dem Weg ging." [paradoxe Aussage] „Plötzlich stockte ihm der Atem. Das Lachen blieb ihm in der Kehle stecken. Unbemerkt war er durch eine Schwingtür ins Freie getreten. Er mußte zweimal hinschauen, um dies einmal zu sehen." [Durch den Kontrast zweimal — einmal wird ein Element des Phraseologismus hervorgehoben: genau der Mechanismus, der hinter dem redensartlichen Sinn den wörtlichen zum Vorschein bringt, vgl. 3.2.2.). Dieses Schreiben ist eine zynische Sprachanalyse, die zu permanentem Mißtrauen auffordert. Da ist einer, der fortwährend hinter der Sprache etwas sucht. Aber dahinter ist: nichts. Daß das oberflächlich gleiche Verfahren ganz verschiedene literarische Funktionen haben kann, gilt nicht nur für verschiedene Epochen, es kann ebenso für verschiedene Autoren der gleichen Epoche gelten. Man vergleiche unter diesem Gesichtspunkt das zu Handke Gesagte mit den Beobachtungen zu G. Grass (vgl. 3.2.4.).

1.4.2. Phraseologie und angrenzende Erscheinungen Der Bereich der Phraseologie, wie wir ihn im engeren linguistischen Sinne verstehen, ist unter dem Gesichtspunkt möglicher literarischer Funktionen unter Umständen kein sinnvoll auszugrenzender Bezirk sprachlicher Erscheinungen. In bestimmten Epochen und bei bestimmten Autoren kann man zwar in einem durchaus vernünftigen Sinn danach fragen, welche literarische Funktion etwa metaphorische Phraseologismen und Sprichwörter haben, ζ. B. in Texten von G. Ph. Harsdörffer (etwa dem „Schauspiel Teutscher Sprichwörter" aus den „Frauenzimmer Gesprächspielen" von 1641/49). Andernorts jedoch würde diese

Fragestellung den Blick unverantwortlich verengen. Grundsätzlich wird man vorsichtigerweise davon auszugehen haben, daß der Bereich der Phraseologismen, wie er von der Linguistik abgegrenzt werden kann, niemals als Ganzer und kaum je aus den für die Linguistik maßgebenden Gründen in einem literarischen Text Beachtung findet. Bei Th. Fontane bilden die Phraseologismen keinen eigenen funktionalen Bereich, sondern stehen in einer Linie mit den „Geflügelten Worten" der damaligen Zeit, mit Zitaten und vor allem Halb-Zitaten bzw. zitatähnlichem Sprechen (vgl. 2.5.1.; 4.2.4.). Oder in Theaterstücken, die mit dem Baumuster des Volkstheaters operieren, aber in gesellschafts- oder ideologiekritischer Tendenz verfaßt sind (ζ. B. von Horväth oder Kroetz, vgl. 4.2.4.), sind die Phraseologismen Teil eines Sprachstils, der sich durch Gemeinplätze — mehr oder weniger stark verfestigt —, durch Stereotype im sozialwissenschaftlichen Sinne und ähnliches konstituiert. Hier ist Phraseologie weniger im engen linguistischen Sinne von Belang, als im Sinne einer solchen Definition zu erweitern, wie sie Daniels (1979) mit dem Terminus „sprachliche Schematismen" gegeben hat, und auch diese Art von Phraseologie ist nur ein Glied einer Kette von Phänomenen, die letztlich nicht mehr sprachlich definierbar sind. Man könnte hier von „Klischee" reden, in jenem heute geläufigen Verständnis, das Sprachliches und Außersprachliches („Gedankenklischees" ζ. B.) umfaßt und negative Bewertung impliziert. (Das Beispiel Brant zeigt — und andere Texte des 16. u. 17. Jhs. würden dies bestätigen —, daß es keineswegs selbstverständlich ist, Phraseologismen als Klischees in diesem Sinne aufzufassen.) Die Untersuchung von Klischees kann nicht mehr Sache der Linguistik (mindestens nicht der Linguistik allein) sein. Wohl aber ließe sich mit den Mitteln der Linguistik studieren, welche Ausschnitte aus dem Ganzen der Phraseologismen jeweils als „klischiert" kritisiert und im Zusammenhang mit welchen anderen sprachlichen und außersprachlichen Erscheinungen sie gesehen werden. Als Beispiel für diese Fragestellung kann die klassische Stelle herangezogen werden, wo der Lektürekanon der

Phraseologie in der Literatur

Titelheldin von Flauberts „Madame Bovary" resümiert wird: Ce n'etait qu'amours, amants, amantes, dames persecutees s'evanouissant dans des pavilions solitaires, postilions qu'on tue ä tous les relais, chevaux qu'on creve ä toutes les pages, forets sombres, troubles du coeur, serments, sanglots, larmes et baisers, nacelles au clair de lune, rossignols dans les bosquets, messieurs braves comme des lions, doux comme des agneaux, vertueux comme on ne Test pas, toujours bien mis, et qui pleurent comme des urnes. (S. 5 0 f.)

Sprachlich faßbar sind hier die Vergleiche (allenfalls Metaphern), die in dieser Art von Texten offenbar stereotyp wiederkehren (Her-

ren, die wie Löwen

tapfer und sanft wie

Lämmer waren). Alles übrige ist außersprachlich: es sind Handlungsmotive, typische Figuren, typische psychische Verfassungen, typische Verhaltensweisen. Eine Interpretation dessen, was in Flauberts Auffassung feste Vergleiche solcher Art zu Klischees macht, müßte den inneren Zusammenhang der ganzen Serie der aufgezählten Muster des Handelns, Fühlens, Sichverhaltens aufweisen. Es ist leicht einsehbar, daß „Gedankenklischees" in viel höherem Maße zeit-, gesellschafts- und personabhängig sind als eigentlich sprachliche Phänomene, bei denen Entstehung und Verfall oft nur über größere Zeiträume hinweg beobachtbar sind. Man schaue sich nur die Liste der „idees refues" an, die Flaubert selbst als für seine Zeit, insbesondere die Bourgeoisie, charakteristisch zusammengestellt hat, in dem Fragment „Dictionnaire des idees refues" (ed. Caminiti, 1966). Flaubert schreibt darüber in einem Brief an Louise Colet, vom 17. Dezember 1852: „On y trouvera done, par ordre alphabetique, sur tous les sujets possibles, tout ce qu'il faut dire en societe pour etre un homme convenable et aimable" (Zitiert nach Flaubert, Bouvard et Pecuchet, Paris 1966, Vorwort S. 19). Einige Beispiele aus dem Anfang des Alphabets: Agriculture: Une des mamelles de l'Etat. On devrait I'encourager, sujet tres chic de conversation. Affaires: Passent avant tout. Une femme doit eviter de parier des siennes . . . Allemands: Peuple de reveurs (vieux).

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Anglais: tous riches. Argent: Cause de tout le mal. Artistes: II faut rire de tout ce qu'ils disent. Tous farceurs. Astronomie: Belle science. Utile pour la marine. Toujours dire: „Quelle belle science! eile permet de predire l'avenir et le temps qu'il fera dans un a n " . Et ä ce propos, rire de l'Astrologie. Banquiers: Tous riches. Arabes. Loups-cerviers. Barbe: Signe de force. Coupes diverses. Trop de barbe fait tomber les cheveux. Utile pour proteger les cravates. Cachet: Toujours suivi de „tout particulier". Ex. „Le soleil imprimait ä ce paysage un cachet tout particulier" . . . Campagne: Tout y est permis. II faut toujours se mettre ä son aise. Pas de toilette. On retire ses habits. Gaiete bruyante. Faire des farces. S'asseoir par terre. Fumer la pipe. Les gens de la Campagne meilleurs que ceux de la ville. Envier leur sort. Candeur: Toujours „adorable". On en est rempli, ou on n'en a pas du tout. Chaleur: Toujours „insupportable". „On ne respire pas!" II ne faut pas boire quand il fait chaud. Cheminee: Fume toujours. Sujet de discussions ä propos du chauffage. Chien: Specialement cree pour sauver la vie ä son maitre . . . Chirurgien: Les chirurgiens ont le coeur dur. Les appeler „bouchers". Ruines: Font rever et donnent de la poesie ä un paysage. (S. 211 ff.)

Wie in der zitierten Roman-Passage handelt es sich einerseits um außersprachliche Klischees, andererseits aber auch um Bemerkungen, die unmittelbar linguistisch relevant sind. Daß cachet immer begleitet ist von tout particulier oder candeur von adorable usw., oder daß man die chirurgiens als bouchers zu qualifizieren habe, deutet auf probabilistische syntagmatische Zusammenhänge, die mindestens für den Werkstil des Autors (man vergleiche die Zusammenstellung der Roman-Passagen, in denen Flaubert die „idees chics" selbst zur ironischen Charakterisierung seiner Figuren verwertet, S. 211 ff.), wahrscheinlich auch für Gruppenstile (ζ. B. den der „Bourgeois" seiner Zeit) charakteristisch sein dürften. (Weitere solche Zusammenstellungen fürs Französische sind angeführt bei Gülich 1978. Ein deutscher Autor, aus dessen Werk man mit ähn-

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Einleitung

lichem Gewinn eine derartige Sammlung erstellen könnte, wäre Th. Fontane.) Einige der aufgelisteten opinions chics wären auch heute noch „schick", andere aber eher obsolet, und wieder andere würde man gar nicht mehr als „idee regue" auffassen. Die Zeitabhängigkeit des „Klischees" betrifft nicht nur den Inhalt der gängigen Vorstellungen, sie betrifft auch formale Verfahrensweisen, diese Vorstellungen in Sprache umzusetzen und kommunikativ zur Geltung zu bringen: In der Zeit Fontanes war es ζ. B. schick, zu „zitieren", in der Konversation mit Bildungstrümmern aus der Literatur (zumal der deutschen Klassik) zu glänzen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Zitieren zunehmend verpönt, nachdem sich die maßgebenden deutschsprachigen Schriftsteller gegen ungeprüfte Übernahme eines verdächtig gewordenen Kulturerbes mit Vehemenz zur Wehr setzten. Charakteristisch dafür ist die Art, in der G. Eich dennoch zitiert: verrätselt, nur dem Eingeweihten verständlich, zudem Texte und Autoren, die nicht ohne weiteres zum „Bildungskanon" gehören. Wenn Schiller, dann ζ. B. die Gedichte an Laura, und nicht Wallenstein oder Teil. Zwei Beispiele aus Eichs „Maul würfen": [Anspielungen auf Ideen und Formulierungen von Leibniz:] Versuch mit Leibniz Hinter der zuen Tür wohnt Leibniz, habe ich mir sagen lassen. Bisweilen erhebt er seine Stimme, aber er ist sein eigener Partner. Er verkehrt nur schriftlich mit der Welt, oft höre ich nachts seine Schreibmaschine, und ich klopfe an die Wand, um ihn an der Erfindung der Differentialrechnung zu hindern. Umsonst. Er scheint mich für einen Nomaden zu halten, von denen er behauptet, sie hätten keine Fenster. Aber ich habe Fenster, habe auch eine Wand und eine Tür. Seiner Definition nach kann ich nicht zu den Nomaden gehören, aber ich weiß es besser. Sein Satz reizt mich zum Widerspruch, zugleich denke ich ihn weiter. Meine erste Fortsetzung ist: Aber die Brillen sind die Augen der Seele (...). (S. 32) [Anspielungen auf Hofmannsthal:] Zweit (...)

Manche freilich — aber wir nicht. Wir können aus einem Piaster zwei machen, damit beschäftigen wir uns, kennen Vogelflug und die Länder der Sterne, auch die Abwechslung auf andern Sektoren. ( . . . ) (S. 43)

Ebenso charakteristisch ist, wie U. Plenzdorf mit Goethes „Werther" umgeht: Ich war fast gar nicht sauer! Der Kerl in dem Buch, dieser Werther, wie er hieß, macht am Schluß Selbstmord. Gibt einfach den Löffel ab. Schießt sich ein Loch in seine olle Birne, weil er die Frau nicht kriegen kann, die er haben will, und tut sich ungeheuer leid dabei. Wenn er nicht völlig verblödet war, mußte er doch sehen, daß sie nur darauf wartete, daß er was machte, diese Charlotte. Ich meine, wenn ich mit einer Frau allein im Zimmer bin und wenn ich weiß, vor einer halben Stunde oder so kommt keiner da rein, Leute, dann versuch ich doch alles. Kann sein, ich handle mir ein paar Schellen ein, na und? Immer noch besser als eine verpaßte Gelegenheit. Außerdem gibt es höchstens in zwei von zehn Fällen Schellen. Das ist Tatsache. Und dieser Werther war . . . zigmal mit ihr allein. Schon in diesem Park. Und was macht er? Er sieht ruhig zu, wie sie heiratet. Und dann murkst er sich ab. Dem war nicht zu helfen. (S. 36)

Die Werther-Story im Jugend-Jargon unserer Zeit nacherzählt, keine Parodie, sondern Adaption und Kritik zugleich, Kritik auch an der Sprache: Außerdem dieser Stil. Das wimmelte nur so von Herz und Seele und Glück und Tränen. Ich kann mir nicht vorstellen, daß welche so geredet haben sollen, auch nicht vor drei Jahrhunderten. Der ganze Apparat bestand aus lauter Briefen, von diesem unmöglichen Werther an seinen Kumpel zu Hause. Das sollte wahrscheinlich ungeheuer originell wirken oder unausgedacht. Der das geschrieben hat, soll sich mal meinen Salinger durchlesen. Das ist echt, Leute! (S. 37)

Max Frisch charakterisiert den Verteidiger in „Stiller" dadurch, daß er ihn ein bißchen anachronistisch mit Zitaten und Geflügelten Worten hantieren läßt. Das paßt in das Bild, das er auch sonst bietet: „ . . . ein herzensguter, jedenfalls ein argloser Mensch, Sohn aus gutem Haus, rechtschaffen bis in die Kleidung, etwas verhemmt, doch sogar seine Hemmungen werden zu Manieren, und vor allem ist er gerecht, kein Zweifel, gerecht bis in die Neben-

Phraseologie in der Literatur sächlichkeit, gerecht zum Verzweifeln, gerecht aus einer beinahe schon angeborenen Überzeugung heraus, d a ß es Gerechtigkeit gebe zumindest in einem Rechtsstaat, zumindest in der Schweiz. Dabei ist er nicht d u m m . Er weiß sehr viel, zuverlässig wie ein Lexikon vor allem in schweizerischen Belangen ( . . . ) " (S. 21). Dabei bleibt ironischerweise im unklaren, o b er auch ebenso zuverlässig im Zitieren ist. M i t einer raffinierten narrativen Technik, die zwischen indirekter Rede, direkter Rede, Redebericht, stichwortartiger Wiedergabe des Gesagten pendelt, gibt Frisch das zitatreiche Gerede des Verteidigers wieder und läßt damit offen, o b die Abweichungen, Verkürzungen, Ungenauigkeiten zulasten des Erzählers oder der Erzählfigur gehen: Ich solle doch Vernunft annehmen (.. .) Also Kopf hoch, nirgends so schön wie in der Heimat, ab und zu eine Reise natürlich, damit wir die Heimat aufs neue schätzen lernen, aber Wurzeln braucht der Mensch und gewiß auch der Künstler in mir, Wurzeln, darauf kommt es an, Wurzeln und nochmals Wurzeln, Millionen ohne Heimat, also Dankbarkeit meinerseits am Platze, nicht alles von der bösen Seite sehen, ein bißchen Liebe zu den Menschen, auch Schweizer nur Menschen, niemand kann aus seiner Haut heraus, eine positivere Haltung meinerseits vonnöten, überhaupt Haltung, nicht alles zusammenschlagen wie vorhin, Selbstkritik in Ehren, aber Schweinerei von Staub und Gebrösel, soll man nicht, Temperament in Ehren, aber alles mit Maß, alles nicht so arg, wie ich meine, und Zürich ungefähr die schönste Stadt in der Welt, aber wie gesagt: eine positivere Haltung unerläßlich, heutzutage genug Nihilismus in der Welt, von Mensch zu Mensch die Welt verbessern, das Gute wollen mit ganzer Seele und es wird schon, Frau Julika beispielsweise will, Frau Julika überhaupt als Vorbild, alle Achtung vor Frau Julika, nicht abzubringen von ihrer fraulichen Treue zu mir, eine seltene Frau, aber eine typische Frau, eine wundervolle Frau, Männer oft verbohrt und eigensüchtig, Frauen so anders, mütterlich, schwierig in ihrer Art, gewiß, aber nur, weil ich sie nicht verstehe, nämlich Reichtum des Gemüts, Julika mit einem Innenleben wie kaum eine andere Frau, Gemüt am Platze, ein bißchen mehr Herz einerseits, das Ewig-Weibliche zieht hinan, heutzutage genug Intellektualismus in dieser Welt, nicht immer denken und zweifeln, sondern hoffen, Kopf hoch und hoffen, ohne Hoffnung nämlich keine Ehe, ohne Hoff-

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nung kein Friede zwischen den einzelnen Menschen und den Völkern, man sieht es ja, ohne Hoffnung auch keine wahre Kunst wie im Mittelalter, kurzum, ohne Hoffnung keine Hoffnung, also Hand aufs Herz und keine dummen Geschichten machen, der gute Kern auch in Stiller, mein Verteidiger von diesem Kern überzeugt, alles andere ist Schall und Rauch, der Name zum Beispiel, aber Ordnung muß sein, einen Namen muß jeder tragen, mein Verteidiger gewiß kein Bürokrat (.. .)" (S. 489 ff.) Heutzutage ist allerorts wieder — wenn auch in ganz anderen gesellschaftlichen und politischen Bereichen — eine gegenläufige Tendenz zu dieser radikalen „Bewältigung der Vergangenheit" zu beobachten. Symptomatisch d a f ü r ist etwa der Verkaufserfolg, den der „Büchm a n n " (vgl. 2.5.1.) in jüngster Zeit zu verzeichnen hat. (In der Schweiz wird er ζ. B. durch den populären Buchklub „ E x Libris" in Lizenz und mit großem Erfolg vertrieben), oder — trotz aller bildungspolitischer Sturmläufe gegen das Latein an den Schulen und Hochschulen — die merkwürdige Wiederentdeckung der Faszination des lateinischen Zitates. Es ist sicher kein Zufall, d a ß gegenwärtig Sammlungen wie Alfred Sellners „Latein im Alltag" (1980) in billigen Ausgaben auf den M a r k t geworfen werden, und auch der Klappentext gerade dieses Büchleins spricht f ü r sich: Mitten im Zeitalter der Computer, der Mengenlehre, der Kybernetik, der Raumfahrt usw. wird das Bedürfnis nach einer Sprache, die sowohl treffsicher im Ausdruck als auch menschlich sein muß, immer dringlicher werden. Und genau das ist Latein: ist es doch die Grundsprache aller romanisch sprechenden Völker, die zugleich auch den germanischen Sprachen ihre Vollendung gegeben hat. Aus der Erfahrung, daß im täglichen Leben — in der Presse, in Rundfunk und Fernsehen, in Werbeslogans, in Literatur, in der Medizin u. a. - immer wieder lateinische Ausdrücke vorkommen, deren präzise Bedeutung oftmals nicht oder nur unzureichend geläufig sind (sie!), wurde dieses Nachschlagewerk geschaffen. Es ist eine bekannte Tatsache, daß Journalisten und einstige Lateinschüler bei Aufsätzen und Reden gerne ein schmückendes Federchen in Form eines lateinischen Zitates präsentieren. Allen, die sich berufsmäßig oder aus Liebhaberei lateinischer Wendungen bedienen, wird dieses Kompendium zu größerer Treffsicherheit verhelfen und

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Einleitung

jenen, die keinen Lateinunterricht in der Schule hatten, einen neuen Zugang zu dieser schönen Sprache verschaffen.

Ebenso wie sich jede Zeit ihre Verfahren der kommunikativen Vermittlung von Klischees schafft, ebenso werden auch von Kritikern „des" Klischees je andere Verfahren anvisiert. Goethe konnte, auf die Leipziger Jahre zurückblickend, noch sein ungebrochenes Vertrauen in sein regionales Sprichwortgut formulieren, — ein Bereich „heimatlichen" Sprachbesitzes, den die meißnisch orientierten Grammatiker aus der geregelten Hochsprache verbannen wollten: Jede Provinz liebt ihren Dialekt: denn er ist doch eigentlich das Element, in welchem die Seele ihren Atem schöpft. Mit welchem Eigensinn aber die meißnische Mundart die übrigen zu beherrschen, ja eine Zeitlang auszuschließen gewußt hat, ist jedermann bekannt. Wir haben viele Jahre unter diesem pedantischen Regimente gelitten, und nur durch vielfachen Widerstreit haben sich die sämtlichen Provinzen in ihre alten Rechte wieder eingesetzt. ( . . . ) Mir sollten die Anspielungen auf biblische Kernstellen untersagt sein, sowie die Benutzung treuherziger Chronikausdrücke. Ich sollte vergessen, daß ich den Geiler von Kaisersberg gelesen hatte, und des Gebrauchs der Sprüchwörter entbehren, die doch, statt vieles Hin- und Herfackelns, den Nagel gleich auf den Kopf treffen; dies alles, das ich mir mit jugendlicher Heftigkeit angeeignet, sollte ich missen, ich fühlte mich in meinem Innersten paralysiert und wußte kaum mehr, wie ich mich über die gemeinsten Dinge zu äußern hatte. (Dichtung und Wahrheit, II 6, S. 250 ff.).

Anspielungen auf „biblische Kernstellen" und Sprichwörter — beides ist heutzutage nicht mehr selbstverständlicher Sprachbesitz, weder im Rahmen der Literatur noch in der Alltagssprache. Charakteristisch ist für die Verwendung von Sprichwörtern — wenn sie überhaupt noch vorkommen —, daß man glaubt, sie in ihrer Gültigkeit sofort einschränken, ironisieren oder mindestens als „Gemeinplatz" kenntlich machen zu müssen, ζ. B. so: Die auf dem Balkon waren nicht taub für den Jammer heutiger Welt, und wenn ihr Herz auch zuweilen, müde des Gefühls, in harten Schlaf sank — die Natur fordert ihre Rechte, sagt man in solchem Fall — so war es doch ein Schlaf, der sich mit quali-

fizierten Träumen ausweisen konnte. (Polgar, Im Laufe der Zeit, S. 36)

Raffiniertere Belege in Verbindung mit „Modifikationen" (vgl. 3.2.2.) aus dem Werk von G. Grass finden sich bei Schweizer (1978, S. 60 ff.), von dieser Art: Der Krug ging immer wieder zum Wasser; was blieb ihm übrig, als zu brechen. (Blechtrommel, S. 33)

(Vgl. dazu auch Mieder 1975, 82ff.) Besonders in journalistischen Texten ist es kaum mehr denkbar, daß ein Sprichwort „kommentarlos" in seinen herkömmlichen Funktionen eingesetzt wird. Das Musikjournal des Bayerischen Rundfunks (Montag, 12. 2. 79) begann zum Beispiel so: „Nun zu einem altbekannten Sprichwort: Was du heute kannst besorgen — und so weiter, aber hier einmal in streng wissenschaftlicher Version. Viele Menschen weichen häufig den Aufgaben des Alltags aus, sobald sie unangenehm oder schwierig zu werden beginnen . . . " [ und dann geht es weiter über Verhaltensstörungen, für die dieses Verhalten symptomatisch ist]. Das Sprichwort wird nicht vollständig zitiert, nur angetippt, alles andere wäre pedantisch, außerdem dient es nur als spielerischer Aufhänger für ein ernsthaftes, „streng wissenschaftliches" Thema (das seinerseits freilich wieder ironisiert wird), und zudem wird gesagt, daß es sich um ein Sprichwort handelt — also ein vielfältiges Zurücknehmen der offenbar nicht mehr zumutbaren — unmittelbaren Verwendung der sprachlich und gedanklich fixierten Verbindung. Was heute zum „Alltag" der Verwendung des Sprichworts gehört, war natürlich lange vorher schon die Praxis sprachsensibler Menschen, spätestens seit das Sprichwort in eine Reihe mit dem ganzen verdächtig gewordenen Arsenal des „Zitierbaren" geriet — wofür Fontane und diejenigen seiner Figuren, die die Sprache ihrer Zeitgenossen kritisch beobachten, Zeugnis wären (vgl. 4.2.4.). Da das, was jeweils als Klischee gilt oder von Zeitgenossen als Klischee aufgefaßt und kritisiert wird, zeitgebunden ist — nicht nur hinsichtlich der Inhalte, sondern auch der Darbietungsformen, wie wir gesehen haben —,

Phraseologie in der Literatur scheint der Versuch einer a-historischen oder p a n c h r o n tauglichen Definition des Klischees wenig hoffnungsvoll. Solange m a n noch im R a h m e n des sprachlich Greifbaren und Eingrenzbaren bleibt, bleibt m a n auf einigermaßen gesichertem Boden, wie in C h . Ballys (1909) Versuch, das „cliche" als der Phraseologie verw a n d t e Erscheinung zu definieren: § 99. Les cliches. Un mot, en terminant, sur les „cliches"; ils touchent ä la phraseologie et sont ä signaler aussi comme cas intermediaire entre l'expression usuelle et la creation litteraire ou fait de style. (.. .) Les cliches sont des locutions toutes faites, de petites phrases qui correspondent en partie ä ce que les Allemands appellent des „geflügelte Worte"; les cliches perdent toute saveur ä force d'etre repetes, mais ils peuvent, dans certains cas, passer pour des creations originales; chez ceux qui les emploient de bonne foi, ils denotent une demiculture; quand on se rend compte de leur veritable caractere, on ne les emploie guere que par maniere de plaisanterie; c'est alors un fait d'evocation et de deplacement de milieu (...). La plupart du temps, les cliches sont des expressions litteraires qui ont eu de la vogue et ont passe dans le domaine commun. Les periphrases stereotypies de la poesie classique en sont des exemples frappants; quel poete oserait aujourd'hui parier de l'astre du jour, du flambeau des nuits, et employer les mille autres expressions par lesquelles autrefois on evitait le mot propre? Beaucoup de cliches sont des lambeaux de phrases empruntes ä des auteurs connus; que Ton pense ä l'enorme quantite d'expressions toutes faites que La Fontaine a versees dans le domaine commun! Mais la plupart des cliches ont une origine incertaine, et ceux-lä sont particulierement du gout des sots et des pedants: il est plus facile de les faire passer pour des creations originales. Le cliche est en effet le procede le plus commode pour jeter de la poudre aux yeux et pour cacher l'insuffisance du style ou de l'eloquence. Au lieu de dire „et cetera" ou ,jtittsi de suite", on entend dire: ,J'en passe et des meilleures"; c'est une citation de La Fontaine; celui qui dit cela serieusement est un na'if ou un individu de culture equivoque; le plus souvent, on ne prononcera cette phrase que le sourire aux levres; on n'est pas dupe de sa valeur. Dire d'un joli tableau que c'est „un pur chefd'ceuvre", c'est user d'un cliche; un orateur qui appelle les droits de l'homme „les immortels principes de 89" est un enfle ou un roublard qui specule sur la betise de ses auditeurs. Le style des journeaux

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regorge de cliches; comment en serait-il autrement? On ne peut guere ecrire correctement et rapidement sans en faire. Lisez plutöt les titres des faits-divers des feuilles de chou: a-t-on repeche le cadavre d'un noye, on intitule cela „Macabre decouverte"; un touriste qui a peri dans une ascension est „une victime de l'Alpe", qui, dans ce cas, sera invariablement ,,1'Alpe homicide". Certains auteurs se sont fait une specialite du cliche; George Ohnet sera cite eternellement comme un maitre en ce genre; d'autres auteurs presentent sous ce rapport des differences curieuses avec eux-memes; Feuillet a ecrit le Roman d'un jeune komme pauvre ä coups de cliches, tandis qu'il y en a fort peu dans Julia de Trecceur. On trouvera un joli pastiche de discours politique ä cliches au chapitre VIII de Madame Bovary de Flaubert; dans ce roman, Homais est le cliche incarne; Pailleron a pastiche la conference ä cliches dans Le Monde ou l'on s'ennuie (Acte II, sc. 1). (I, S. 85/6) Bally argumentiert zwar unter anderem auch historisch („transmises . . . " ) , h a t aber offensichtlich eine bestimmte historische Situation im Auge, diejenige des ausgehenden 19. Jhs., w o tatsächlich das Absinken literarischen Gutes in die „langue c o u r a n t e " als hauptverantwortlich f ü r die Klischeebildung gelten konnte. D a ß dies keineswegs so sein m u ß , zeigen schon die kurzen Überlegungen zur heutigen Situation des Sprichwortes, oder werden noch deutlicher die Beobachtungen zum Theater von Kroetz (vgl. 4.2.4.) demonstrieren. Den meisten Definitionsversuchen des Klischees sind denn auch nur zwei Elemente gemeinsam: die negative Bewertung und das Kriterium des häufigen Gebrauchs. Die negative Bewertung ist pointiert formuliert bei Partridge (1940, S. 2), w o als H a u p t m e r k m a l des Klischees genannt ist, „ t h a t careful speakers and scrupulous writers shrink f r o m it because they feel that its use is an insult t o the intelligence of their audience". Beide Kriterien werden meist in kausalen Z u s a m m e n h a n g gebracht: was häufig gebraucht wird, nützt sich ab, wird banal, zur „abgegriffenen M ü n z e " und verunmöglicht Individualität. So ζ. B. formuliert v. Wilpert ( 5 1969, S. 394): „ . . . abgegriffene, durch allzu häufigen Gebrauch verschlissene Bilder, Ausdrucksweisen, Rede- und Denkschemata, die o h n e individuelle Überzeugung einfach unbedacht ü b e r n o m m e n wer-

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Einleitung

den." Und aufgrund dieses - wohl voreilig und kurzschlüssig angenommenen — Kausalzusammenhanges wird dann auch die Phraseologie, insbesondere der Bereich der metaphorischen Phraseologismen und der phraseologischen Vergleiche, unter dem Stichwort „Klischee" subsumiert. Was sich zum Kriterium des „häufigen Gebrauchs" für die Phraseologie sagen läßt, wird in 4.2.5.1. gezeigt. Im Zusammenhang mit dem Klischee ist die Rede vom „häufigen Gebrauch" doppeldeutig: Einmal meint man die Tatsache, daß das Element Α einer Wortverbindung mit dem Element Β der Wortverbindung häufiger vorkommt als mit einem nicht zur Wortverbindung gehörigen Element C; ein andermal behauptet man, daß Phraseologismen als Einheiten häufiger gebraucht würden als vergleichbare Lexeme. Nur in dieser zweiten Deutung hätte es einen Sinn zu sagen, Phraseologismen würden schneller abgenützt als einfache Wörter. Dafür aber ergibt die Beobachtung der Sprachwirklichkeit keinerlei Anhaltspunkte. Häufig gebraucht sind ζ. B. metaphorische Phraseologismen („bildhafte Redensarten", wie sie häufig genannt werden) nur in der Hinsicht, daß sie im Gegensatz zu ephemeren Metaphern konventionalisiert und zu Einheiten der Sprache geworden sind. Als solche aber sind sie im Vergleich zu anderen Einheiten der Sprache nur mit großen Einschränkungen als „häufig" zu betrachten. Ahistorisch formulierte Definitionen „des" Klischees verwickeln sich meist in immanente Widersprüche, die von den Autoren zwar bemerkt, aber kaum aufgelöst werden. Als Beispiel sei ein Buch zitiert, das als prototypisch für auf den Schulgebrauch oder allgemeine Bedürfnisse zugeschnittene Stilistiken gelten kann, H. Villiger, Gutes Deutsch (1970): Von einem „Sprachklischee"

können wir dann

sprechen, wenn jemand vermutlich den guten Willen hat, einen persönlich erfahrenen Sachverhalt kundzutun, aber daran scheitert, daß ihm sein Sprachgedächtnis in die Quere kommt und ihm für das, was er sagen will, eine vorfabrizierte Wendung zur Verfügung stellt. Jeder von uns verfügt nämlich über einen erheblichen

Vorrat

an

festen

Prägungen,

Sprachklischees, die sich immer wieder zwischen

seine Erlebnisse — seien es Sinneserfahrungen, Gefühle oder Gedanken -

und ihre Wiedergabe in

eigenen Worten drängen. Viele dieser Klischees sind durchaus unentbehrlich. Es wäre unbillig zu verlangen, daß wir beim Austausch banalster Alltäglichkeiten um den persönlichen Ausdruck ringen. (S. 2 1 1 f.)

Hier werden — in einer Art psycholinguistischer Argumentation — die Klischees als Filter bei der Verbalisierung angesehen: die „persönliche Erfahrung" muß durch diesen Filter hindurch, wenn sie verbalisiert werden soll, und dabei bleibt das „Persönliche" eben gerade auf der Strecke. Nicht zu bedauern ist dies offenbar nur „beim Austausch banalster Alltäglichkeiten", im übrigen aber ist das „Sprachgedächtnis" ein Hindernis für das individuelle Verbalisieren („der persönliche Ausdruck", um den man zu „ringen" hat). Diese Argumentation würde nicht nur für „vorfabrizierte Wendungen" gelten, sondern insgesamt für das Vokabular einer Sprache, das ja — in ähnlich abgekürzter Weise der Argumentation — als eine „Zwischenwelt" zwischen Welt und subjektivem Erleben der Welt charakterisiert wurde. Es ist offenkundig, daß ein großer Teil des Bereichs der Phraseologismen gar nicht von vornherein, ja nicht einmal in einer bestimmten historischen Situation, unter dem Titel „Klischees" subsumiert werden kann, weil er — nicht nur in der Alltagssprache, sondern auch in den anderen Funktiolekten, ja selbst in der Literatursprache — keine Bewertungen dieser Art impliziert, weil er selbstverständlichen Anteil an der Sprachkompetenz hat. Von „Scheitern" des Verbalisierens kann dann gar nicht die Rede sein, weil gar kein Grund bestünde, das „Erfahrene" anders zu sagen. Wenn man den Verfassern von Stillehrbüchern der zitierten Art zubilligen will, daß sie sich dessen bewußt sind und gerade nicht den ganzen Bereich der „vorfabrizierten Wendungen" anvisieren, dann könnte man den Tatbestand so formulieren: Die linguistischen und psycholinguistischen Kriterien, die es erlauben, einen Bereich „phraseologische Wortverbindungen" abzugrenzen, sind keine Teilmenge derjenigen Kriterien, die zur Definition des sozialwissenschaftlich verstandenen „Ste-

Phraseologie in der Literatur reotyps" oder des kulturkritisch oder stilkritisch verstandenen „Klischees" führen. Vielmehr überschneiden sich die Kriterien und führen nur zu teilweiser Deckung der Objektbereiche. Damit wird klarer verständlich, warum die Interessen der verschiedenen an „Phraseologie" interessierten Wissenschaften je andere Abgrenzungen des Bereichs zur Folge haben, und daß mit „Phraseologie" je nach Forschungsziel sehr Verschiedenes gemeint sein kann. Eine solche Optik läßt es als zweifelhaft erscheinen, ob isolierte Einzelstudien zur Phraseologie bestimmter Autoren — wie sie in der sowjetischen Phraseologie-Forschung sehr beliebt sind — erfolgversprechend sein können. Aber auch der Vergleich verschiedener Autoren unter einem eingeschränkten phraseologischen Blickwinkel kann die literarhistorischen Verhältnisse u. U. eher verdecken als erhellen. Um nur ein Beispiel zu nennen: Die im einzelnen durchaus ergebnisreiche Arbeit von Mieder (1976) „Das Sprichwort in der deutschen Prosaliteratur des neunzehnten Jahrhunderts" bietet dennoch keine entscheidenden Aufschlüsse zum literarischen „Realismus", weil sie die Fragestellung zu einseitig vom isolierten Komplex „Sprichwörter" her

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formuliert. Besprochen werden nur Sprichwörter (allenfalls vereinzelte sprichwortähnliche Redensarten), und nur bei Schriftstellern, die sich als „sprichwortfreudig" erweisen (S. 11). Und was diese Schriftsteller so sprichwortfreudig macht, ist „der mehr oder weniger volkstümliche Aspekt ihrer Werke" (S. 12). Auf die Besprechung eines Autors wie Th. Fontane wird verzichtet, „weil das großstädtische Milieu vieler seiner Romane den Rahmen dieser Studien sprengen würde" (S. 12). Wenn man im Sinn unserer Überlegungen das Sprichwort nicht isoliert betrachten würde, sondern im Kontext derjenigen sprachlichen und außersprachlichen Erscheinungen, die eine verwandte literarische Funktion im jeweiligen Werk ausüben, dann würde man leicht sehen, daß es hier weniger um Unterschiede wie Stadt/Land geht, sondern um gänzlich unterschiedliche Bewertung phraseologischer Erscheinungen, um unterschiedliche Paradigmata von Einstellungen gegenüber Phraseologismen. Es wäre dann erst zu untersuchen, was denn „Volkstümlichkeit" jeweils bedeutet, welcher Umgang mit Sprache und welche Einstellung zu Sprache dadurch jeweils impliziert wird.

2. Klassifikation: Kriterien, Probleme, Terminologie Mehr noch als in anderen Bereichen der Sprache wird man sich in der Phraseologie vor starren Klassifikationsschemata hüten. Da „frei" und „fest" Pole einer Skala mit gleitenden Übergängen bilden und da in einem synchronen Sprachstudium von einer bestimmten Wortverbindung häufig nicht eindeutig gesagt werden kann, wo auf dieser Skala sie einzuordnen sei, können Klassifikationen nur den Sinn von im besten Fall praktikablen Ordnungsschemata haben, von Schemata, die je nach Zweck der Betrachtung unter je anderen Gesichtspunkten erstellt werden können. Sieht man die Literatur zur Phraseologie daraufhin durch, in welche Weise über Klassifikationsprobleme geschrieben wurde, so wird man diese Beobachtungen machen: Je rigider sich ein Klassifikationsschema gibt, desto mehr läuft es Gefahr, den sprachlichen Erscheinungen Gewalt anzutun, oder: die am meisten ins Detail gehende Klassifikation ist auch am eingeschränktesten verwendbar. Ein Beispiel: In der Arbeit von Rothkegel (1973) wird der Versuch gemacht, den Bereich der Phraseologie für eine automatische Analyse aufzubereiten, eine an sich interessante Aufgabenstellung, mit der sich auch Forscher wie S. Allen oder Melcuk befassen. Für eine solche Analyse käme aber nur ein Klassifikationsschema in Frage, das möglichst weitmaschig wäre, das tolerant wäre gegenüber Übergängen. Dem widerspricht es, wenn man ζ. B. Subklassen durch Festlegung bestimmter transformationeller Restriktionen bildet (ζ. B.: „Auf der Basis dieses Grundtyps (,freie Hand lassen') lassen sich vier verschiedene Klassen beschreiben. Sie unterscheiden sich jeweils durch fakultativen Gebrauch des Adjektivs und obligatorischen Gebrauch des Artikels."

S. 148). Wir werden sehen, daß für „die" deutsche Sprache von heute kaum die Möglichkeit besteht, vorherzusagen, welche transformationellen Operationen bei Phraseologismen möglich sind, welche nicht. Mindestens ist dies nicht möglich ohne Berücksichtigung der Textsorte, in der der Phraseologismus erscheint. Ähnliches gilt auch für die Frage der Variantenbildung, die bei Rothkegel (S. 59) nur gestreift und als nahezu bedeutungslos eingestuft wird. (In der Arbeit von Thun, 1978, dem es viel weniger um Klassifikationsfragen geht, wird hingegen dieses Problem als eine zentrale Frage der Phraseologie behandelt und auf verschiedenen strukturellen Ebenen untersucht.) Der Starrheit der Binnenklassifikation entspricht auch die Rigidität der Abgrenzung der Phraseologie nach außen hin: Mit Bezug auf die in der Literatur verwendete, tatsächlich verwirrende Fülle und Uneinheitlichkeit der Termini sagt Rothkegel: „Gewordene Festgefügtheit, verbunden mit der Vorstellung vom Ausnahmecharakter, sollen signalisiert werden. Diese Prinzipien, als subjektiv zu bewerten und so nur schwer fixierbar, sind aber geeignet, zur allgemeinen Verunklärung beizutragen. Insofern erweist sich eine Objektivierung als wünschenswert. Sie wird versucht, indem Ausdrücke dieser Art als feste Syntagmen ( . . . ) in Opposition zu variablen Syntagmen ( . . . ) gesetzt und in dieser Relation behandelt werden." (S. 6) Diese disjunktive Formulierung führt dann dazu, daß man eine Wortverbindung wie kalter Krieg nur dann als „fest" einstufen kann, wenn kalt in dieser Bedeutung an das einzelne Lexem Krieg gebunden ist. Aufschlußreicher für die Sprachwirklichkeit aber wäre eine Konzeption, die kalter Krieg als Phraseologismus zu bestimmen erlaubt und

Syntax

gleichzeitig eine Erklärung dafür anbietet, warum im heutigen Deutsch auch Wortverbindungen wie kalte Progression, kalte Aufwertung tatsächlich vorkommen, die eine analoge semantische Struktur aufweisen (vgl. 2.3.2.). Das dynamische Moment in der Synchronic kann gerade in der Phraseologie nicht ohne Schaden für die Analyse ausgeklammert werden. Eine Analyse, die um der „Objektivität" willen sich - wie bei Rothkegel — ausschließlich an der Phrasenstruktur orientiert und nur grobe semantische Kriterien toleriert, bietet dann, außerhalb der automatischen Erkennungen, kaum linguistische Aufschlüsse. Denn was besagt eine Klassenbildung, die semantisch so verschiedenes Material zusammenordnet wie Dame von Welt und Gang nach Canossa (das erste eine „Modellbildung", (vgl. 2.3.3.), das zweite ein singulärer Phraseologismus, durch ein historisches Ereignis motiviert). Besonders verwirrend wird die Anordnung, wenn die Dame von Welt und der Mann von der Straße nebeneinanderstehen. In der sowjetischen Literatur seit Vinogradov (1946) ist die Diskussion der formalen und semantischen Probleme von Phraseologismen nicht mehr abgerissen und hat zu verschiedenartigsten Systematisierungen geführt (vgl. Häusermann 1977). Prinzipiell am vielseitigsten verwendbar ist wohl eine Klassifikation wie die von 1.1. ternyseva (1975), die sich bewußt als Mischklassifikation versteht und mit Bündeln von Kriterien arbeitet (vgl. 2.3.). Westliche Arbeiten, wie die von Rothkegel oder Pilz (1978), holen mühsam nach, was in der sowjetischen Forschung längst des langen und breiten besprochen und bis an die Grenzen des Sinnvollen ausgebreitet wurde. Die Klassifikationsmöglichkeiten im einzelnen:

2.1.

Syntax

Wenn Pilz in jüngster Zeit eine Klassifikation auf streng „funktionaler" Basis (und das heißt bei ihm nichts anderes als „syntaktisch") durchführt, so ist dies ein Anachronismus, mindestens soweit er damit den Anspruch auf

21 methodische Originalität erhebt. Die Frage, in welcher syntaktischen Rolle Phraseologismen im Satz auftreten können, erbringt bestenfalls Aufschlüsse über die relative Frequenz der verschiedenen syntaktischen Typen von Phraseologismen. So sieht man ζ. B., daß es in der Gruppe der Phraseologismen, die in der Funktion eines Satzgliedes stehen, relativ wenige Beispiele für Objekt/Subjekt/Verb-Funktionen (Vater Staat, sich vollaufen lassen) gibt, jedoch weit mehr für die Adverbial-Funktion (mit Fug und Recht, an und für sich) oder daß die Anzahl der Phraseologismen, die mehr als ein Satzglied umfassen, weit größer ist als diejenige der auf eine Satzgliedrolle beschränkten (mehrere Satzglieder: ins Gras beißen, jd. übers Ohr hauen). Daraus könnte man (was Pilz nicht tut) möglicherweise schließen auf die „Anfälligkeit" bestimmter syntaktischer Strukturen für Phraseologisierungsprozesse. Man kann daraus auch entnehmen, daß Phraseologismen, die nur Teil eines Satzgliedes sind, mehr oder weniger stark zur Univerbierung tendieren (an Hand von, um so, so daß im Laufe, auf Seiten . . .), und es wäre interessant zu untersuchen, welche inneren strukturellen Eigenschaften solche Ausdrücke aufweisen müssen, damit Univerbierung verhindert wird. Eine in semantischer Hinsicht besonders interessante Klasse wären die verbalen Phraseologismen mit Dativobjekt + Akkusativobjekt (der Wahrheit die Ehre geben, seinen Gefühlen freien Lauf lassen) oder Präp. + Nom. + Akkusativobjekt (aus einer Mücke einen Elefanten machen, bei Pilz nur S. 605 Anm. erwähnt). Semantisch interessant ist diese Klasse deshalb, weil hier ein ganzer gegliederter Sachverhalt, eine Aktion mit verschiedenen inhaltlichen Komponenten (Aktanten o. ä.) erfaßt wird, wobei sich u. U. Muster zeigen, die mit unterschiedlicher lexikalischer Besetzung in ganz verschiedenen Sprachen realisiert sind (russ. statt aus einer Mücke einen Elefanten machen „aus einer Fliege einen Elefanten machen": delat' iz muchi slona.) Eine Gruppe von Phraseologismen läßt sich auf einfache Weise mit syntaktischen Kriterien von den übrigen phraseologischen Typen ab-

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Klassifikation: Kriterien, Probleme, Terminologie

grenzen, wobei die syntaktische Abgrenzung unmittelbar auf eine funktionale Abgrenzung verweist: die satzwertigen Phraseologismen. Die Forschung zur syntaktischen und semantischen Beschreibung dieser Gruppe ist bei Häusermann (1977, S. 40ff.) und Pilz (1978, S. 613 ff.) referiert. Wir wollen die Gruppe im folgenden, in Anlehnung an die sowjetische Terminologie, „Feste Phrasen" nennen (Häusermann, S. 40). Bezeichnenderweise gibt sich auch Pilz bei dieser Klasse nicht mehr mit seiner syntaktischen Klassifikation zufrieden. („Diente bei den bisher erwähnten Phraseolexemen eine, zugegeben, etwas äußerliche (syntaktische) Funktion als Klassifizierungsbasis, so können in dieser Beziehung an Satzlexeme andere Maßstäbe gelegt werden. Vollständige Sätze lassen sich ζ. B. nach Aussage, Aufforderung, Befehl, Fluch, Frage, rhetorischer Frage und dgl. klassifizieren und nach den zahlreichen verschiedenartigen Lebenssituationen, in denen phraseologische Sätze eine Rolle spielen. Man kann sie aus der reichhaltigen volkskundlichen Brauchtumsliteratur über Feste im Verlauf des Lebensalters und der Jahreszeiten, über die regionalen und lokalen Bräuche (und Feste) und dgl. entnehmen." S. 615) Aus textlinguistischer Perspektive sind zwei Haupttypen zu unterscheiden: solche Phraseologismen, die ζ. B. durch ein anaphorisches Pronomen an den Kontext angeschlossen sind („Das ist nicht mein Bier", vgl. Burger 1973, S. 53), und solche, die als „Mikrotexte" (ζ. B. Sprichwörter) „über den gegebenen Diskurs hinausweisen" (Burger 1973, S. 53 ff.)- Es scheint uns wenig sinnvoll — wie dies traditionell in der russischen Forschung geschah (vgl. Häusermann S. 41) und wie es auch bei Pilz noch praktiziert wird —, Phraseologismen wie jdm. geht ein Licht auf oder jds. Thron wackelt unter diese Gruppe zu subsumieren, da sie sich semantisch und pragmatisch verhalten wie andere satzgliedwertige Phraseologismen. Die bloße Tatsache, daß der Phraseologismus mit Ausnahme einer Leerstelle einen ganzen Satz ausmacht, ist kein hinreichender Grund, ihn von den übrigen satzgliedwertigen Phraseologismen abzutrennen. Daß hingegen

Wortverbindungen wie Das ist nicht mein Bier eine besondere Gruppe ausmachen, läßt sich durch ihre pragmatischen Funktionen (vgl. 4.1.1.2.) motivieren. Vollends gilt dies für Sprichwörter und Vergleichbares. Wir trennen für die Zwecke dieses Buches die Sprichwörter von den „festen Phrasen" ab, da die ersteren als Klasse relativ gut identifizierbar sind. Allerdings sind unter kommunikativen Aspekten die Grenzen zwischen den satzwertigen und satzgliedwertigen Wortverbindungen fließend. Eine nur syntaktische Klassifizierung bringt immanente Analyseprobleme, sobald man sich etwa mit der Binnengliederung (Subklassifizierung) derjenigen Verbindungen befaßt, die mehrere Satzglieder umfassen. Pilz argumentiert auf den ersten Blick konsequent, daß im Phraseologismus Stein und Bein schwören die paarige Nominalphrase Stein und Bein formal zwar als Akkusativ aufzufassen sei, funktional aber eher als Adverbiale (= nachdrücklich'). Der Grund für diese Diskrepanz liegt aber nicht im syntaktischen Bereich, sondern in der Semantik des Ausdrucks, die die fossilierte syntaktisch-morphologische Struktur überlagert. Warum dann aber an anderer Stelle der Klassifizierung ein Ausdruck wie Trübsal blasen als Akkusativobjekt + Verb analysiert wird (Pilz S. 605), ist unerfindlich. Niemand „bläst" hier etwas, weder wörtlich noch im übertragenen Sinn, sondern nur die Verbindung als ganze hat die Bedeutung .trübsinnig sein'. Ein weiteres syntaktisches Problem stellt sich mit der Analyse von verbalen Phraseologismen, die syntaktische „Leerstellen" enthalten. Während in X hat den Vogel abgeschossen das gesamte Prädikat durch einen Phraseologismus ausgefüllt wird, enthält der Satz X bringt Y an den Bettelstab innerhalb des verbalen Phraseologismus eine ObjektLeerstelle, die zwar an die Wortverbindung gebunden, aber lexikalisch frei ausfüllbar ist. Es hat nun wenig Sinn, die beiden Arten von Phraseologismen syntaktisch gleich zu behandeln und den Vogel ebenso wie Y als „Objekte" zu klassifizieren. Von der Valenz-Theorie her gesehen wäre ja nur Y als echte Valenz aufzufassen, da hier lexikalische Substitution mög-

Semantik

lieh ist, während den Vogel eine Pseudo-Valenz darstellt, vergleichbar dem Reflexivpronomen bei obligatorisch-reflexiven Verben (sich schämen). Da ζ. B. Rothkegel diese Differenzen nicht berücksichtigt, fallen bei ihr in die gleiche syntaktische Klasse (einer Sache) Rechnung tragen und Grillen fangen (S. 143), klug werden (aus einer Sache) und klein beigeben (S. 145), die Rede sein (von etw.) neben der Gipfel sein (S. 146) (ist letzteres überhaupt im Infinitiv möglich?). Analog dazu wird bei Rothkegel auch nicht realisiert, daß viele Zwillingsformeln phraseologisch gebunden sind an bestimmte Verben (Gift und Galle (spucken)), so daß von Zeit zu Zeit in einer Gruppe steht mit vom Hölzchen aufs Stöckchen (kommen). Wir verwenden dort, wo es nötig ist, die folgende syntaktische Klassifikation: (a) Phraseologismen, die kleiner sind als ein Satzglied: (Phraseologismen in der Rolle von Konjunktionen, Präpositionen, Adjektiven — meist in prädikativer Stellung; wir sprechen dann von „konjunktionalen, präpositionalen . . ." Phraseologismen) wenn auch ohne zu an Hand von im Laufe fix und fertig

(b) Phraseologismen in der Rolle eines Satzgliedes („satzgliedwertige Phraseologismen"; sie können die Rollen des Adverbiale, des Subjekts/Objekts, des Prädikats ohne Objekte übernehmen) mit Fug und Recht Hinz und Kunz sich nicht lumpen lassen, nicht leben und nicht sterben

können

(c) Phraseologismen in der Rolle zweier oder mehrerer Satzglieder (Prädikat + Objekte), Prädikat + Adverbiale), aber nicht eines vollständigen Satzes (ebenfalls als „satzgliedwertige Phraseologismen" bezeichnet, gegebenenfalls mit Spezifikation der syntaktischen Struktur; aus den genannten Gründen ist eine syntaktische Binnengliederung allerdings nur mit Vorbehalten durchzuführen).

23

ins Gras beißen jdn. übers Ohr hauen

Phraseologismen dieser Gruppen, die ein Verb enthalten, kann man nach Bedarf als „verbale" Phraseologismen bezeichnen. (d) Phraseologismen in der Rolle eines ganzen Satzes: (1) Phraseologismen, die durch ein verweisendes Element an den Kontext angeschlossen sind, im übrigen aber einen ganzen Satz ausmachen („feste Phrasen"): Das geht auf keine Kuhhaut (2) Phraseologismen, die einen vollständigen Satz ausmachen, ohne durch verwei• sende Elemente mit dem Kontext verknüpft zu sein („Sprichwörter", allenfalls sprichwortähnliche Formen wie „tautologische Formeln" u. ä., vgl. 2.3.9.): Morgenstund hat Gold im Mund

2.2. Semantik Für alle Untersuchungen, die sich mit der Verwendung von Phraseologismen in realen Sprechsituationen befassen, von viel größerem Belang sind Klassifikationen, die mit semantischen Kriterien operieren. Häufig werden semantische Überlegungen jedoch nur toleriert, sofern, sie „objektivierbar" sind, d. h. wieder zu eindeutigen Klassenbildungen führen. Am meisten umstritten ist das semantische Kriterium der „Motiviertheit". Als Beispiel für viele ähnliche Aussagen sei noch einmal Rothkegel angeführt: „Das Kriterium der Motivierung halten wir in einer synchronischen Sprachbetrachtung überhaupt für irrelevant. ( . . . ) ,Kohldampf schieben' hat — abgesehen von stilistischen Unterschieden — die gleichen Charakteristika wie .Hunger haben'. Merkmale von .schieben' und ,Kohldampf haben mit den Merkmalen der synchronisch betrachteten Bedeutung nichts gemein. Genauso ist es bei den „verständlicheren" Metaphern wie ,Fett abschöpfen'. Die Bedeutung ,Vorteile aus einer Sache ziehen' ist als eigenständig zu betrachten. Daß sie sich irgendwie aus der wörtlichen Bedeutung entwickelt hat, ist für die Verwendungsmöglichkeit des Ausdrucks uner-

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Klassifikation: Kriterien, Probleme, Terminologie

heblich." (S. 4 6 f . ) — Sicher hat die historische Herkunft der jeweiligen Wortverbindung keine Relevanz für die Analyse der synchronen Bedeutung. Aber ist es tatsächlich so, daß die Bedeutung von Kohldampf (das ja ζ. B. auch in Kohldampf haben o. ä. vorkommt) nichts mit der Bedeutung von Kohldampf schieben zu tun hätte oder daß für die „Verwendungsmöglichkeit" von Fett abschöpfen der metaphorische Charakter des Ausdrucks belanglos wäre? In Kap. 3.2.2. wollen wir zeigen, daß solche Behauptungen, die auf einer rigiden Konzeption von „Synchronizität" beruhen, der Sprachwirklichkeit nicht gerecht werden können. Sobald man sich auf eine semantische Klassifikation einläßt, wird man in irgendeiner Weise mit dem Problem der Motiviertheit konfrontiert. Zwei neuere Versuche seien hier vorgestellt: Pilz (S. 5 1 6 ff.) unterscheidet drei semantische Klassen von Phraseologismen, wobei er sich in der Terminologie an die strukturalistischen (ursprünglich auf die Syntax bezogenen) Begriffe „endozentrisch" und „exozentrisch" anlehnt: (1) endosememisch: die Gesamtbedeutung ergibt sich als „Summe der Bedeutungselemente" (S. 5 1 7 ) . Als Beispiele werden ange-

geben Dank sagen, in Verbindung stehen, ein

Mensch wie du und ich, ferner mehrgliedrige Partikeln, Pronomina und Interjektionen. „Viele Funktionsverbgefüge" (S. 5 1 8 ) seien ebenfalls hierher zu rechnen. Insgesamt handelt es sich um eine „verhältnismäßig kleine Klasse" (S. 5 1 8 ) . Daß diese Phraseologismen „für Fremdsprachen-Lernende . . . besonders leicht zu lernen sein" müßten (S. 5 1 8 ) , ist — so pauschal formuliert — nicht richtig. Sie sind leicht zu dekodieren auch für den, der sie zum ersten Mal hört — da er sie aus bekanntem lexikalischem Material nach üblichen semantischen Regeln amalgamieren kann —, aber schwer zu enkodieren, da sie — von der jeweiligen Muttersprache her — nicht vorhersehbare Fixierungen bestimmter Lexemkombinationen darstellen (vgl. Burger 1 9 7 3 , S. 2 1 ff.). Mit herkömmlichen Begriffen könnte man diese Gruppe als „direkt motiviert" bezeich-

nen (im Gegensatz zu „metaphorisch motiviert" und „nicht motiviert", vgl. 1.1.). (2) exosememisch: die Gesamtbedeutung läßt sich „nicht als Summe der Elementbedeutungen ermitteln, allenfalls ahnen" (S. 5 1 9 ) .

Beispiele: Blech reden, sich von jdm. eine Scheibe abschneiden (können), der springende Punkt. Hier unterscheidet Pilz vier Untergruppen, deren Beschreibung wir im Wortlaut anführen, da hier die Definitionsprobleme sehr deutlich werden: „1. Exosememische PL [ = Phraseolexeme] mit archaischen Elementen (auch wenn es sich um Elemente handelt, die scheinbar in der Gegenwartssprache verständlich sind): mit Kind und Kegel (,uneheliches Kind'), jmdm. eins auswischen (,ein Auge beim Foltern zerstören'), am Hungertuche nagen (,am Altartuch der Fastenzeit nähen'). 2. Exosememische PL, deren summierte Bedeutungselemente gar keinen Sinn oder nicht im entferntesten einen potentiellen Sinn, also faktischen Unsinn, Unmögliches oder Unlogisches ergeben (vielleicht ließe sich diese Untergruppe entsprechend weiter untergliedern): sich die Beine in den Bauch stehen, jmdn. achtkantig hinauswerfen, Blech reden. (Vielleicht ließen sich besondere Beispiele hervorheben, die durch artistische, künstlerische • oder sonstige Darstellung noch einen endosememischen Sinn ergeben könnten, ζ. B. aus einer Mücke einen Elefanten machen; aber zeichnerisch, filmisch usw. ließe sich dann wohl jedes PL verdeutlichen'.) 3. Exosememische PL, die, endosememisch verstanden, einen Sinn ergeben könnten, deren endosememische Aktualisierung aber nicht üblich ist: jmdm einen Floh ins Ohr setzen jmdn auf die Schippe nehmen, jmdm ist eine Laus über die Leber

gelaufen.

(Diese Subklasse stellt den Grenzbereich zu den endoexosememischen PL dar.) 4. Exosememische PL, deren Gesamtbedeutung trotz archaischer Elemente oder dgl. verhältnismäßig leicht zu erahnen ist, vielleicht wegen

Semantik volksetymologischer Umformung (entsprechende Beispiele gehören zwangsläufig auch einer der anderen Untergruppen an): am Hungertuche nagen, sich bis über beide Ohren verlieben, barfuß bis zum Hals." (S. 519f.) Traditionell gesagt, sind die Phraseologismen dieser Gruppe unmotiviert, jedenfalls so wie Pilz es auffaßt. (3) endo-exosememisch: Beispiele:

Grillen

fangen, mit jdm. Schlitten fahren, blinder Passagier. Sie „bilden . . . die zahlenmäßig stärkste Klasse und sind ebenso zu definieren wie die exosememischen Phraseolexeme. Sie unterscheiden sich von diesen nur dadurch, daß ihnen ein Syntagma zugrunde liegt, dessen summative Gesamtbedeutung auch einen (okkasionellen) Sinn ergibt, im Unterschied zu den endosememischen Phraseolexemen aber nicht mit der (phraseologisch-) lexikalischen Bedeutung identisch ist, wobei der Unterschied allerdings in Einzelfällen gering sein kann: die Hände in den Schoß legen, nichts zu lachen haben, gegen den Strom schwimmen." (S. 520) Diese Klassifikation schafft neue Probleme, anstatt die altbekannten — die vor allem mit dem Begriff der „Motiviertheit" zusammenhängen — zu lösen. Ζ . B.: 1. Bei den Phraseologismen mit Archaismen sind nur wenige voll exosememisch. Ein zutreffendes Beispiel wäre gang und gäbe, wo die beiden Lexeme gang und gäbe außerhalb der Verbindung gar nicht vorkommen (gang nur als Gang mit Wechsel der Wortart), also auch keine Teilbedeutungen in die Verbindung einbringen können. Oder jdn. ins Bockshorn jagen, wo das Lexem Bockshorn synchron nicht mehr geläufig ist (obwohl es wörtlich „verstehbar" wäre), und weil die Wortverbindung auch dann, wenn man Bockshorn als ,Horn des Bocks' verstehen würde, in keiner Weise auf den phraseologischen Sinn hinführen würde. Meist aber handelt es sich um Phraseologismen vom Typ fix und fertig, klipp und klar, die in keiner der drei Klassen zwanglos unterzubringen sind. Es sind Verbindungen, bei denen ein Element durchaus in der

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freien Bedeutung vorkommt, während das oder die andere(n) Element(e) entweder unikale Lexeme [fix, klipp) sind oder in die phraseologische Verbindung nicht die freie Bedeutung einbringen. Diese Phraseologismen sind unter dem einen Aspekt endosememisch, unter dem anderen exosememisch, deswegen aber doch nicht endoexosememisch, da sie ja nicht doppeldeutig sind. Besonders problematisch für die Zuordnung sind Archaismen, die — wie Pilz sagt — „scheinbar in der Gegenwartssprache verständlich" sind (S. 5 1 9 ) : auf dem Holzweg

sein, durch die Lappen gehen, mit Kind und Kegel, am Hungertuche nagen usw. Hier ist zunächst die Frage, wie sich diese Wortverbindungen synchron von den Untergruppen 2 und 3 der exosememischen Phraseologismen unterscheiden lassen, ferner: ob sie tatsächlich völlig unmotiviert sind. Eine „Remotivierung" ist bei diesen Ausdrücken synchron durchaus nicht undenkbar. In einem Fernsehwerbespot hieß

es einmal Pronto, damit Ihnen nichts mehr durch den Lappen geht (zu sehen ist dabei ein Lappen, der mit Pronto getränkt ist, und beim Wischen bleibt aller Schmutz am Lappen hängen). Gewiß handelt es sich hier um eine Abweichung von der Normalform des Phraseologismus (den Lappen), die einen wörtlichen Sinn des Ausdrucks nahelegt. Aber wer den Spot einmal oder mehrmals gehört hat, wird kaum umhinkönnen, künftig mit durch die Lappen gehen ein semantisches Element wie ,der/die Lappen' zu assoziieren. (Historisch gesehen stammt die Wortverbindung aus der Jägersprache: „Um das Wild am Ausbrechen aus dem Jagdrevier zu hindern, wurden auf Treibjagden bunte Zeuglappen zwischen den Bäumen aufgehängt, vor denen die Tiere zurückscheuten. Dennoch brach das Wild gelegentlich aus und ging dann ,durch die Lappen'." (Röhrich 1 9 7 3 , I, S. 572.) Es war also tatsächlich so etwas wie ,Lappen', das in der Redensart ursprünglich gemeint war, doch wird niemand, der nicht über dieses etymologische Wissen verfügt, heute an diese Art Lappen denken, wenn er die Wortverbindung hört oder verwendet.). Selbst wenn man solche potentielle „Remotivierung" in den

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Klassifikation: Kriterien, Probleme, Terminologie

Bereich der Stilistik verweisen und damit aus einer semantischen Analyse ausschalten will, so bleiben doch genügend Fälle, bei denen auch für die sogenannte „ n o r m a l e " oder „alltägliche" Sprachverwendung kaum auszumachen ist, o b der exosememische oder der endosememische Typ vorliegt (vgl. 3.2.2.). Mit Kind und Kegel bedeutete ursprünglich: mit ehelichen und unehelichen Kindern (,Kegel' = uneheliches Kind), eine für Paarformeln typische metonymische Formulierung, die dann meint ,mit dem gesamten Hauswesen, der ganzen Familie und allem was man besitzt'. Synchron ist das Wort Kegel in dieser Bedeutung nicht mehr vorhanden. M a n könnte nun sagen, die Verbindung sei gleich zu beurteilen wie klipp und klar, also ein Zwischending zwischen endosememisch und exosememisch. De facto aber bietet sich eine andere Interpretation als die näherliegende an: wenn man überhaupt die Teilbedeutungen für die Konstruktion der Gesamtbedeutung realisiert, dann wird man bei Kegel an das existierende heutige Wort denken und sich darunter vielleicht den letzten, absurdesten, unwichtigsten Gegenstand vorstellen, den man beim Umzug etwa noch mitnehmen würde. Auf diese Weise k o m m t man zu einer durchaus motivierten Gesamtbedeutung, die der ursprünglichen Motivation des Phraseologismus an Evidenz kaum nachsteht (,mit der Familie und allen Habseligkeiten'). Freilich nur, wenn man die Teilbedeutungen überhaupt realisiert. Und hier liegt die Crux des ganzen Problems. O b man die Verbindung ohne Bewußtsein von den potentiellen Teilbedeutungen in ihrer Gesamtbedeutung versteht und verwendet — weil man sie eben in dieser Bedeutung gelernt hat und usuell benutzt — oder ob man die Teilbedeutungen „mitdenkt", das hängt gänzlich vom individuellen, eventuell situationsbedingten Verstehen und Gebrauchen der Sprache ab. Hier gerät eine strukturell-semantische Analyse an eine Grenze, die sie ohne Schaden für ihre Methodik nicht überschreiten kann. Strukturell gesehen, ist Kegel innerhalb des Phraseologismus ein Fossil, ein unikales Lexem. O b diese Interpretation aber dem mit der Bedeutungskonstitution verbundenen psy-

chischen Prozeß gerecht wird, steht auf einem andern Blatt (vgl. 5 passim). 2. Durch die Pilzsche Klassifizierung werden Typen von Phraseologismen auseinandergerissen, die vor allem unter Aspekten der Verwendung von Phraseologismen zusammenzusehen sind, außerdem sind die Kriterien, nach denen gewisse Typen auseinandergehalten werden, in hohem Maße „künstlich" (das heißt von außen an das Material herangetragen, wieder ohne Rücksicht auf das Funktionieren der Ausdrücke im faktischen Sprechen und Schreiben): (a) Phraseologismen, die offensichtlich auch synchron als Metaphern verständlich sind, erscheinen in verschiedenen Klassen: (1) aus einer Mücke einen Elefanten machen·. exosememisch (2) gegen den Strom schwimmen: endoexosememisch Bei (1) handelt es sich um ein metaphorisches Modell, das auch interkulturell weitgehend verständlich sein dürfte (Mücke: etwas sehr Kleines, Elefant: etwas sehr Großes, vgl. 2.1.). D a ß hier jederzeit nachvollziehbare metaphorische Transfers ablaufen, hat wichtige Konsequenzen für die Sprachverwendung (vgl. 5.4.2.). (b) Es ist nicht einsehbar, w a r u m die wörtliche Lesart von jdm. einen Floh ins Ohr setzen (exosememisch) nicht üblich sein soll, wohl aber diejenige von gegen den Strom schwimmen. Zunächst ist festzustellen, d a ß bei einer solchen Deutung offenbar ein sehr enger Begriff von „potentieller Bedeutung" zugrunde gelegt wird. Gemeint ist wohl, d a ß der gemeinte außersprachliche Vorgang im ersten Fall weniger wahrscheinlich ist als im zweiten Fall. Das aber ist eine Frage der möglichen „Welten", die sprachlich gefaßt werden können. Mit Sprache selbst hat dies nichts zu tun. Das Gleiche gilt für Ausdrücke wie aus einer Mücke einen Elefanten machen, denen Pilz in wörtlicher Lesart „gar keinen Sinn" zuschreiben will. Leichte Verschiebungen in der Auffassung dessen, was in einer „Welt" möglich ist, was nicht, würden aber diese Wortverbin-

Semantik dung sinnvoll machen. Bereits im Märchen wäre ein solcher Vorgang durchaus natürlich. Aber auch ein innersprachliches Argument spricht gegen eine solche Interpretation von „Üblichkeit". Wenn man im Ernst die wörtliche Bedeutung von gegen den Strom schwimmen ausdrücken will, wird man eben nicht diese Formulierung wählen, da die phraseologische Bedeutung eines Phraseologismus nie ganz auszuschalten ist. (Ein zentraler Effekt der Phraseologisierung ist ja eben — wie schon oft bemerkt wurde —, daß man primär die phraseologische Bedeutung dekodiert, auch wenn eine wörtliche Bedeutung möglich wäre.) Man würde jeweils den Eindruck eines Wortspiels haben, was u. U. unerwünscht wäre. Sinnvoller und für das Funktionieren von Phraseologismen interessanter ist die Frage, ob wörtliche und phraseologische Bedeutung zusammenhängen, in dem Sinne, daß die zweite aus der ersten durch sprachübliche semantische Verfahren (Metapher, Metonymie . . .) synchron verständlich ist oder nicht. So liegt der für die Phraseologie interessante Unterschied zwischen jdm. einen Floh ins Ohr setzen und gegen den Strom schwimmen nicht darin, daß die wörtliche Lesart des ersten weniger üblich wäre als die des zweiten, sondern im unterschiedlichen Verhältnis von wörtlicher und phraseologischer Bedeutung. Im ersten Fall besteht keine unmittelbar einsichtige Beziehung zwischen den beiden Bedeutungsebenen, im zweiten Fall liegt eine einsehbare Metapher vor. Es wäre u. E. sinnvoller — wenn man überhaupt mit einer solchen Klassifikation arbeiten kann die metaphorisch motivierten Phraseologismen zu den endosememischen Phraseologismen zu rechnen, da es sich um auch alltagssprachlich selbstverständliche semantische Verfahren handelt. 3. Es gibt eine — zahlenmäßig durchaus nicht zu vernachlässigende — Gruppe von Phraseologismen, die in einer anderen Hinsicht mit der Klassifikation von Pilz nicht zu erfassen sind: Phraseologismen, die gestische oder mimische Verhaltensweisen bezeichnen („Kinegramme" nach Burger 1976, vgl. 2.5.2.):

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Mit rot werden ist in aller Regel sowohl der physiologische Vorgang wie auch die damit konventionell verbundene Bedeutung (,sich schämen' o. ä.) gemeint, und zwar beides zugleich und ungeschieden. Bei anderen Ausdrücken dieser Gruppe ist ein Dominieren der „symbolischen" Bedeutung zu beobachten, ohne daß aber auszuschließen wäre, daß die „reale" Bedeutung auch realisiert würde (ζ. B. bei die Nase rümpfen über etwas). Endoexosememisch sind solche Kinegramme keineswegs, da ja die beiden Bedeutungen zugleich da sind, eine „Monosemierung" durch den Kontext im Normalfall also nicht eintritt. Diese Gruppe wird zwar durch die Klassifikation von Pilz nicht erfaßt, aber man könnte das Pilzsche Schema durchaus um eine zusätzliche Gruppe erweitern. Ein anderer neuerer Versuch zur semantischen Klassifikation von Phraseologismen stammt von Thun (1978). Primäres Kriterium ist hier die vorhandene oder fehlende Einheitlichkeit der Bedeutungskonstitution. Bei einheitlicher Bedeutungskonstitution spricht Thun von „homogenen" Phraseologismen, bei uneinheitlicher Bedeutungskonstitution von „heterogenen". „Homogen" konstituiert sind solche Phraseologismen, deren Komponenten entweder sämtlich „präsent" oder sämtlich „absent" sind, „heterogen" diejenigen, die semantisch „präsente" und „absente" Komponenten enthalten. Als homogen hätte also einerseits die Zähne putzen zu gelten, andererseits jdn. ins Bockshorn jagen, als heterogen ζ. B. dumm wie Bohnenstroh oder Stein und Bein schwören. Die Schwierigkeiten, die sich mit dieser Gliederung ergeben, sind ebenso groß wie bei der vorhergehenden. Zunächst ist es von der Sprachverwendung her wenig einsichtig, wieso gerade die Phraseologismen mit völlig durchsichtiger Bedeutungsstruktur und diejenigen mit am stärksten idiomatisierter (undurchsichtiger) Bedeutung in einer Klasse zusammengefaßt werden. Aber auch unter strukturellsemantischer Perspektive ist die Gruppierung nicht voll befriedigend, da zwischen den beiden Subklassen des homogenen Typs keine Übergänge bestehen, während die Grenzen zwischen homogenen und heterogenen Phra-

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Klassifikation: Kriterien, Probleme, Terminologie

seologismen fließend sind. Es hängt hier alles daran, was unter „semantisch präsent/absent" verstanden werden soll. Sind die Verben innerhalb von Funktionsverbgefügen semantisch präsent oder absent (zur Durchführung bringen)? Heißt „präsent" soviel wie: ,in der gleichen Bedeutung vorkommend wie in freier Verwendung'? Wenn ja, was fängt man mit klipp in klipp und klar an, das ja gar nicht frei vorkommt, also semantisch weder präsent noch absent sein könnte? Wie steht es mit metaphorischen (noch durchsichtigen) Phraseologismen, bei denen die einzelnen Komponenten absent wären, sofern man sie vereinzelt und in ihrer freien ( = wörtlichen) Bedeutung betrachtet, hingegen durchaus präsent in einem indirekten Sinn, sofern sie für die Konstitution der metaphorischen Bedeutung eine fundierende Rolle spielen? Hier wäre also primär nicht die Frage, ob die Komponenten des Phraseologismus präsent sind, sondern ob die Gesamtbedeutung der wörtlich verstandenen Wortverbindung in der phraseologischen Gesamtbedeutung (als derivationelle Basis der Metapher, vgl. unten) noch präsent ist. Je nach Betrachtungsweise würde es sich hier also um den homogenen Typ oder eine andere Art von Bedeutungskonstitution handeln, die auch mit dem Titel „heterogen" kaum angemessen zu charakterisieren wäre. Thun selber (S. 201 ff.) sieht die Problematik, die sich mit den Begriffen „präsent/absent" ergibt, er sieht auch die vielen Grenz- und Übergangsfälle. Gleichwohl ist nicht einleuchtend, was mit der neuen Klassifikation gegenüber früheren Versuchen gewonnen sein soll. Vergleicht man die Klassifizierungsvorschläge von Pilz und Thun, so sieht man, daß sie nicht voll kompatibel sind. Der homogene Typ bei Thun umfaßt den exosememischen und den endosememischen Typ bei Pilz. Der heterogene Typ aber ist dem Pilzschen Schema schwer einzuordnen. Umgekehrt entspricht dem endoexosememischen Typ für Thun keine eigene Kategorie, er ist als homogen zu betrachten, wenn man die potentielle Doppeldeutigkeit der Wortverbindung außer acht läßt. Das Fazit dieser Überlegungen ist für uns erstens, daß detaillierte Klassifikationen auf

semantischer Basis von nur geringem Nutzen sind, und zweitens, daß die verschiedenen Neuvorschläge für Terminologien auch nicht mehr Klarheit erbringen als die traditionelle, mit dem Begriff „Motiviertheit" operierende Begriffsbildung. Wir begnügen uns daher damit, im Bedarfsfall die bereits in der Einleitung charakterisierten Klassen zu unterscheiden (im vollen Bewußtsein der Tatsache, daß diese Klassen nur unscharf voneinander abzugrenzen sind): (1) unmotivierte Phraseologismen (2) teilmotivierte Phraseologismen (3) motivierte Phraseologismen: (a) direkt motiviert (b) metaphorisch motiviert (abgekürzt: „metaphorischer Phraseologismus") Hingegen erscheint es uns im Hinblick auf die in der Sprachverwendung zu beobachtenden semantischen Phänomene unerläßlich, ein Vokabular zu haben für die semantischen Prozesse, die sich mit Phraseologismen in Kontexten abspielen können. Dafür schlagen wir — möglichst in Anlehnung an auch sonst geläufige Begriffe — folgende Terminologie vor: Semantische Autonomie: Elemente eines Phraseologismus, die ein gewisses Maß an faßbarer Eigenbedeutung (sei es direkt oder metaphorisch) haben, besitzen ein gewisses Maß an „semantischer Autonomie". Beispiel: Spiel mit dem Feuer zu Hilfe

kommen

Resemantisierung: Ein Element (oder mehrere Elemente) eines Phraseologismus gewinnt seine „freie" Bedeutung wieder (die Bedeutung, die „absent" war, wird wieder „präsent") — mehr oder weniger total, wobei insgesamt die phraseologische Bedeutung der Wortverbindung gemeint ist. Beispiel: Steigende Werte Bleibende Werte Rosenthal Werte (vgl. 3.2.3.2.) „Resemantisierung" kann bei Phraseologismen beliebiger Art stattfinden. Bei den „direkt motivierten" ist es der einzige semantische Prozeß, der in Frage kommt. Resemantisiert werden können auch solche Elemente eines

Semantik

Phraseologismus, die nicht schon von sich aus semantische Autonomie besitzen. Ambiguierung: Bezieht sich auf Phraseologismen mit einer (oder mehreren) potentiellen wörtlichen Bedeutung(en). Bewußtes Aktualisieren beider (allenfalls mehrerer) Bedeutungsebenen, ohne Rücksicht darauf, welche der Ebenen im Kontext als dominant gemeint ist. (Neutraler) Oberbegriff für Literalisierung, Remotivierung, Wörtlich-Nehmen und Polysemantisierung. Literalisierung: Bezieht sich auf Phraseologismen mit einer (oder mehreren) potentiellen wörtlichen Bedeutungen). Die Wortverbindung ist im Kontext phraseologisch gemeint, aber zugleich wird ihr irgendeine mögliche wörtliche Bedeutung zugeordnet, die mit der derivationellen Basis nichts zu tun hat. Beispiel: Poly Color gibt den Ton an (Werbung, vgl. auch 3.2.2.9.; 3.2.3.) (Poly Color = Haartönungsmittel) Derivationelle Basis: (nach Gvozdarev 1981 [1977]) Bezieht sich auf Phraseologismen mit einer (oder mehreren) potentiellen wörtlichen Bedeutung(en), die (von denen eine) die derivationelle Basis ist. Aus dieser kann die phraseologische Bedeutung durch in der Sprache übliche semantische Verschiebungsprozesse (wie Metapher, Metonymie, Abstraktion . . .) jederzeit synchron abgeleitet werden. Remotivierung: Disjunktiv und komplementär zu Literalisierung. Bezieht sich auf Phraseologismen, die eine derivationelle Basis haben. Bei der Remotivierung ist die Wortverbindung im Kontext phraseologisch gemeint, aber zugleich wird die derivationelle Basis bewußt gemacht. Beispiel: Seien Sie gegenüber Ihrer sensiblen Haut empfindlich . .. damit Sie sich in Ihrer Haut wohlfühlen (Werbung, vgl. 3.2.3.2.) Wörtlich-Nehmen: Reziprok zu Literalisierung oder Remotivierung. Bezieht sich auf Phraseologismen mit

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einer (oder mehreren) potentiellen wörtlichen Bedeutung(en). Die Wortverbindung ist im Kontext nicht phraseologisch, sondern wörtlich gemeint, aber die phraseologische Bedeutung schwingt mit. Beispiel: Brocken Sie sich ruhig mal was Schönes ein. Calgonit macht alles wieder strahlend sauber (Calgonit = Zahnprothesenreinigungsmittel) (Werbung, vgl. 3.2.3.2.) Die betreffende wörtliche Bedeutung kann dabei mit der derivationellen Basis (sofern vorhanden) zusammenfallen oder auch nicht. Wegen der relativ geringen Zahl einschlägiger Fälle treffen wir dafür keine terminologische Unterscheidung. Polysemantisierung: Bezieht sich auf Phraseologismen mit einer (oder mehreren) potentiellen wörtlichen Bedeutung(en). Bewußtes Aktualisieren beider (ev. mehrerer) Bedeutungsebenen, wobei der Kontext die Dekodierung beider Bedeutungen in gleicher Weise nahelegt. Beispiel: Schwester Gertrud ließ mich sitzen (Grass, vgl. 3.2.2.9.) Man kann hier noch unterscheiden zwischen Polysemantisierung mit und ohne Bezug auf die derivationelle Basis (sofern eine solche vorhanden ist). Für alle genannten semantischen Prozesse ist, soweit dafür im Einzelfall die Möglichkeit besteht, zu entscheiden, ob es sich um eine „absichtliche" oder „unabsichtliche" Veränderung handelt. (Mit Sicherheit „absichtlich" sind die Modifikationen in der Werbesprache, während in Schüleraufsätzen nicht selten „unabsichtliche" Modifikationen auftreten. Je nachdem wird die Beurteilung der semantischen Intention anders ausfallen.) Um terminologische Verwirrung zu vermeiden, sei ausdrücklich darauf hingewiesen, daß wir — im Gegensatz zu den in der Literatur meist implizit oder explizit vertretenen Auffassungen — nicht davon ausgehen, es gebe genau eine wörtliche Bedeutung eines Phraseologismus. Wie das empirische Material zeigt, sind die verschiedenartigsten Fälle von Akti-

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Klassifikation: Kriterien, Probleme, Terminologie

vierung einer wörtlichen Bedeutung beim selben Phraseologismus möglich. Dies gilt auch hinsichtlich der Ausdehnung des semantischen Prozesses: die Veränderung kann sich auf beliebig kleine und große Segmente der Wortverbindung beziehen (im Minimalfall auf ein Wort, im Maximalfall auf den ganzen Phraseologismus). Infolgedessen ist der Terminus „wörtliche Bedeutung", wie wir ihn verstehen, nicht identisch mit dem in der Literatur gängigen Verständnis des Begriffs. Das Gleiche gilt entsprechend für den Terminus „Literalisierung" (den auch wir früher anders verwendet haben, vgl. Burger 1973), desgleichen für „Wörtlich Nehmen", das in der Literatur meist nichtterminologisch, eher umgangssprachlich auftaucht.

2.3. Struktursemantische Mischklassifikation In Anlehnung an das Forschungsreferat bei Häusermann (1977, S. 18 ff.) geben wir hier eine (um die „bevorzugten Analysen" erweiterte) Liste derjenigen Klassen und Termini, die in der sowjetischen Literatur als „struktursemantische" Klassifikation zusammengefaßt werden (ζ. B. nach Kunin 1970, Cernyseva 1975). D. h. die Klassen werden nicht nur nach einem Kriterium erstellt, sondern aufgrund gleichzeitiger Verwendung morphosyntaktischer und semantischer Kriterien. Unter methodischen Gesichtspunkten wäre es natürlich die sauberste Lösung, eine Klassifikation nur nach einem Kriterium vorzunehmen, wie es Pilz (1978) tut. Sobald man aber mit konkretem Sprachmaterial arbeitet und konkrete Erscheinungen benennen soll, ergibt sich sehr bald, daß eine beispielsweise nur syntaktische Klassifikation wenig zweckmäßig ist, weil sie Phänomene auseinanderreißt, die im Text offensichtlich zusammengehören, und andere zusammenordnet, die keinen innertextlichen (funktionalen) Zusammenhang aufweisen. Daher scheint uns eine Mischklassifikation am brauchbarsten zu sein.

Nach Bedarf werden wir uns für unsere Darstellung dieser Terminologie und Klassenbildung bedienen. Soweit möglich, geben wir Beispiele, die bereits im Vorangehenden diskutiert wurden. Wir werden nur diejenigen Klassen näher erläutern, die noch nicht zur Sprache gekommen sind. Im übrigen verweisen wir auf die ausführliche Diskussion bei Häusermann (a. a. O.). Es bleibt noch anzumerken, daß in der sowjetischen Forschung gelegentlich einzelne der aufgelisteten Klassen weiter unterteilt, andere hingegen zu einer Klasse zusammengefaßt werden. So wurden die phraseologischen Ganzheiten lange Zeit unterteilt in motivierte und unmotivierte Ganzheiten. Heute verzichtet man meist darauf, da die Ubergangszone zwischen den Teilklassen zu groß ist (vgl. 2.2.). Andererseits werden Vergleiche und Streckformen häufig als Unterklassen der Modellbildungen geführt. Wir vermeiden eine Hierarchiesierung innerhalb der Klassifikation, da sie sonst weniger praktikabel würde. Freilich ergibt sich daraus, daß die Klassen nicht durchwegs disjunktiv sind. Ζ. B. gibt es Zwillingsformeln, die die Kriterien für phraseologische Ganzheiten erfüllen (gang und gäbe u. ä.). Diese Tatsache müßte nur berücksichtigt werden, wenn man das gesamte phraseologische Inventar eines bestimmten Textkorpus quantitativ erfassen wollte. Bei unseren entsprechenden Quantifizierungen (vgl. 4.2.5.) haben wir das Problem so gelöst, daß wir durch syntaktische Zusatzkriterien die potentiellen Überlappungen der Klassen vermieden haben. 1. Phraseologische Ganzheiten

an jdm. einen Narren gefressen haben etwas auf die lange Bank schieben

2. Phraseologische Verbindungen und bevorzugte Analysen

der blinde Passagier der kalte Krieg sich die Zähne putzen

3. Modellbildungen

Schritt um Schritt ein Mann von Format

Struktursemantische Mischklassifikation

4. Phraseologische Vergleiche stumm wie ein Fisch (Menschen) sterben wie die Fliegen 5. Streckformen des Verbs zur Durchführung gelangen zur Kenntnis nehmen 6. Zwillingsformeln in Hülle und Fülle gang und gäbe 7. Phraseologische Termini der indirekte Freistoß das Rote Kreuz 8. Feste Phrasen Da liegt der Hase im Pfeffer 9. Sprichwörter und Gemeinplätze Viele Hunde sind des Hasen Tod Was sein muß, muß sein

2.3.1. Phraseologische Ganzheiten Diese Klasse gilt als die phraseologische Klasse par excellence, und sie ist in der Forschungsgeschichte am intensivsten behandelt worden (vgl. Häusermann 1977, S. 21). Das klassenbildende Kriterium wird verschieden formuliert. Die allgemeinste semantische Bestimmung dürfte sein, daß die Gesamtbedeutung dieser Wortverbindungen nicht aus der Amalgamierung der (freien oder phraseologischen) Bedeutungen der einzelnen Komponenten resultiert. Unter diese Definition fallen sowohl unmotivierte als auch (gesamthaft) metaphorisch motivierte Phraseologismen (vgl. 2.2.). Daß bei solchen nicht-metaphorischen, unmotivierten (oder schwach motivierten) Phraseologismen, die Archaismen oder Agrammatismen enthalten oder deren wörtliche Bedeutung synchron keinen Sinn ergibt, eine ganzheitliche Bedeutung anzusetzen ist, ist leicht einzusehen. Daß aber auch Ausdrücke, die eine (sinnvolle) homonyme wörtliche Bedeutung haben, auf der phraseologischen Ebene eine ganzheitliche Bedeutung aufweisen können, sieht man, wenn man sie semantisch in ihre Bestandteile „zerlegt", wie es in den folgenden Beispieltexten geschieht: Chevrolet Citation. Mit 10,9 Liter fahren Sie auf 100 km! Gut. Und gerne. ( N Z Z 6./7. 12. 80)

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Gut und gerne bedeutet als Phraseologismus eben nicht ,gut' und .gerne', die Gesamtbedeutung kommt nicht durch reguläre Amalgamierung der Einzelbedeutungen zustande. Ähnliches sieht man bei der Zerlegung von einfach so in seine Elemente: Paul hatte mich gefragt, ob er eine Analyse machen solle. Nicht bei dir! hatte er hinzugefügt. Ich mache keine Analysen mehr, sagte ich. Einfach sof fragte er überrascht. Einfach nicht, sagte ich, aber so. (A. Muschg, Baiyun, S. 330 f.)

In 5.4.2. wird zu zeigen sein, daß eine solche Definition sensu stricto nur für eine semantische Beschreibung der Phraseologismen als Lexikoneinheiten gilt, daß in der Sprachverwendung hingegen die Bedeutung der Komponenten auch bei dieser Klasse häufig — und beinahe in der Regel — eine mehr oder weniger starke Rolle spielt.

2.3.2. Phraseologische Verbindungen und bevorzugte Analysen Dieser Typ hat in der sowjetischen Phraseologiediskussion von Anfang an eine nicht unbedeutende Rolle gespielt. Im Russischen sind die Beispiele für diese Klasse zahlreich, während sie im Deutschen kaum eine Rolle spielen. Gemeint sind Wortverbindungen vom Typ blinder Passagier: das Wort A (blind) ist in einer speziellen Bedeutung (.einer, der heimlich mitfährt') an genau ein Wort Β (Passagier) gebunden, wobei Β seine freie Bedeutung beibehält. Im Unterschied zu den phraseologischen Ganzheiten kann also hier die Bedeutung der Wortverbindung als aus den (phraseologischen bzw. freien) Bedeutungen der Komponenten zusammengesetzt betrachtet werden. In der sowjetischen Forschung werden die phraseologischen Verbindungen noch abgegrenzt von den „phraseologisierten Bildungen", bei denen eine — meist metaphorische — Bedeutung eines Wortes nur in Kombination mit einer abgegrenzten Serie von anderen Wörtern vorkommt (der kalte Krieg, die kalte Progression, die kalte Aufwertung·, eventuell noch wenige andere Fälle).

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Klassifikation: Kriterien, Probleme, Terminologie

Dieser zweite Typ ist auch in der deutschen Sprache nicht selten anzutreffen. Mit Häusermann ( 1 9 7 7 , S. 2 2 f f . , wo die Problematik der Abgrenzungen der beiden Typen ausführlich diskutiert ist) fassen wir beide Klassen unter dem Titel „phraseologische Verbindungen" zusammen. Daß die Grenzen zwischen singulärer und serieller Verknüpfung mindestens diachron fließend sind, sofern aus der singulären Verknüpfung jederzeit eine serielle sich entfalten kann, zeigt das Beispiel kalter Krieg: Laut Büchmann ( 3 2 1 9 7 4 , S. 7 8 5 ) geht die Wortverbindung zurück auf die Schrift von Walter Lippmann „The Cold W a r " (1947); davon abgeleitet wurde kalter Krieger. Heute ist die ganze oben aufgeführte Serie von Kombinationen gängig, und jederzeit können neue entstehen. In einem Zeitungsbericht (von 1975) über den Vortrag eines Theologen war zu lesen: Der Redner distanzierte sich zunächst von einer These Martin Heideggers, die man - sinngemäß als philosophische Konvergenztheorie bezeichnen könnte. Danach drohen Ost und West mit ihrer bodenlosen Organisation des Menschen und ihrer entfesselten Technik geistig dasselbe zu werden. Dieser billigen These, die auf die Behauptung hinausläuft, beide Hemisphären befänden sich „in gleicher Verdammnis", ist entgegenzuhalten, daß es einen wesentlichen Unterschied ausmacht, ob die personale Freiheit programmatisch negiert oder ob sie auf kaltem Wege bedroht wird. Im Vergleich zur bolschewistischen heißen ist die kalte Bedrohung der Freiheit noch immer bedrohlich genug. (NZZ 9. 5. 75) Hier ist nicht nur die Verbindbarkeit von kalt mit einem sehr generellen Substantiv ( W e g im Sinne von ,Art und Weise') bezeugt, sondern zusätzlich noch eine paradigmatische Erweiterung des Feldes: kalt kann in Gegensatz treten zu heiß. (Damit gerät kalt wohl seinerseits in das Assoziationsfeld einer mit heiß gebildeten phraseologischen Verbindung bzw. einer Serie solcher Verbindungen wie heißer Winter.). Genau besehen, ist es übrigens fraglich, ob bei den genannten phraseologischen Verbindungen tatsächlich nur ein Element semantisch spezialisiert ist, während das andere — wie behauptet wird — in seiner freien Bedeutung vor-

käme. Dann müßte man sagen, der kalte

Krieg

sei ein Krieg und der blinde Passagier sei ein

Passagier, wobei jeweils besondere Merkmale hinzuträten. V o m faktischen Gebrauch der Ausdrücke her gesehen, ist es wohl richtiger zu sagen, der kalte Krieg ist „etwas Ähnliches wie ein Krieg" und der blinde Passagier ist nicht eigentlich ein „Passagier", sondern bloß einer, der mitfährt (so auch die Definition im Duden-Bedeutungswörterbuch). Die phraseologische Verbindung, wie sie als Klasse von der sowjetischen Forschung definiert wird, dürfte allenfalls als der Ausgangspunkt eines die ganze Wortverbindung erfassenden Phraseologisierungsprozesses (kalter Krieg) angesehen werden, oder aber als Ausgangspunkt einer semantischen Generalisierung der zunächst singulären Bedeutung des einen Elementes (kalte Bedrohung ...) — also als Gegenbewegung zur Phraseologisierung. Ein aktuelles Beispiel für die zweite Tendenz ist das Rückgängigmachen der Phraseologisierung von Schwarzmarkt (,geheimer, gesetzlich verbotener Markt, auf dem mit gestohlenen, geschmuggelten oder öffentlich nicht oder nur schwer erhältlichen Waren gehandelt wird', Duden Bedeutungswörterbuch). Die Elemente des Kompositums werden syntaktisch wieder verselbständigt (der schwarze Markt), und das Adjektiv entfaltet eine paradigmatische Produktivität: Die Schlagzeile eines Zeitungsartikels vom 2 1 . 7. 8 0 (Tages-Anzeiger) lautete

Oer graue Markt verbilligt die

Markenkosme-

tik. Wer nicht weiß, was er sich unter dem grauen Markt vorzustellen hat, wird durch den Folgetext aufgeklärt: Zwischen 150 und 200 Mio. Fr. werden in der Schweiz jährlich in Markenparfüm und Kosmetik umgesetzt. Die Migros erzielte mit ihrer eigenen Kosmetiklinie im letzten Jahr allein 56,7 Mio. Umsatz. Markenparfüm zu besonders günstigen Preisen bieten nicht nur Discounter wie Denner und Pick and Pay an, auch ein Zürcher Drogist deckt sich seit vier Jahren auf dem sogenannten grauen Markt ein. Es handelt sich also um Markt (wie der europäische Markt), auch um eine offizielle Art von Markt (im Gegensatz zum Schwarzmarkt), doch werden die Waren „zu besonders günstigen Preisen", nach Art von „Discountläden"

Struktursemantische Mischklassifikation

verkauft. Das „sogetiannt" deutet daraufhin, daß die Wortverbindung — mindestens bei Insidern der Branche — bereits ein üblicher Terminus ist. Auch im Bereich des Flugverkehrs existiert die Sache wie auch der phraseologische Terminus, doch sind Sache und Wort hier noch stärker mit der Konnotation des ,Halb-Legalen' behaftet: Tokio retour 2250 Franken Im internationalen Flugverkehr geistert der Ausdruck „Grauer Markt" [Anführungszeichen im Text] seit einigen Jahren durch die Branche. Auf Tickets, die vom „Grauen Markt" stammen, figuriert wohl ein Preis, der offiziell publiziert wurde - bezahlt hat man dafür aber einiges weniger. Wie interessant sind die Angebote dieses Marktes? Geht man als Käufer solcher Tickets Risiken ein? Wie verhalten sich offizielle Stellen diesem Markt gegenüber? Fragen, auf welche unser Artikel Antworten gibt. (. ..) Nicht mehr unter dem Tisch Obschon staatliche Stellen bemüht sind, dem Billigpreismarkt den Riegel zu stoßen, wird heute nicht mehr hinter vorgehaltener Hand nach solchen Flugscheinen gefragt. Die Stohl-Air-Voyages beispielsweise veröffentlicht zuhanden der Reisebüros umfangreiche Listen, auf denen die Preise der „Grau-Markt"-Tickets aufgeführt sind. Die Reisebüros erhalten auf diesen Tickets in der Regel 12 Prozent Kommission — 3 Prozent mehr als auf IATA-Flugscheinen! Der Direktverkauf an die Kunden wird abgelehnt. Dennoch: Mit ganz offenen Karten spielt man im „Grauen Markt" nicht gerne. Z u m einen geht es darum, seine intimen Beziehungen zu den Lieferanten, den Fluggesellschaften also, nicht durch zuviel Publicity aufs Spiel zu setzen, zum andern möchte man vermeiden, daß weitere Kreise in diesen Markt einsteigen. Deshalb werden die Geschäftspartner offiziell nicht genannt und auch keine Zahlen über den Geschäftsverlauf bekanntgegeben. Mitbestimmend für diese Geheimniskrämerei dürfte aber auch das Wissen um die Tatsache sein, daß man sich mit diesen Geschäften am Rande der Legalität bewegt (um nicht mehr zu sagen). _ _ 6 (Touring, 20. 11. 80)

Charakteristisch für die fluktuierende Semantik der phraseologischen Verbindungen ist die Unsicherheit, mit der sie von den Lexikographen behandelt werden. Nehmen wir als Beispiel noch einmal den kalten Krieg: Im Duden

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Bedeutungswörterbuch (1970) ist die Verbindung unter kalt (nicht unter Krieg) registriert und mit der Bedeutungsangabe ,feindselige Handlungen ohne militärische Aktionen' versehen. Eine entsprechende Verbindung mit heiß ist weder unter heiß noch unter Krieg verzeichnet. Das Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache (1969) notiert unter kalt: „Neuprägung ein kalter Krieg (Politik, durch die ständig die Gefahr eines heißen Krieges heraufbeschworen wird); ein kalter Krieger (Politiker, der für den kalten Krieg tätig ist)" und entsprechend unter heiß: „Neuprägung ein heißer Krieg (Kampf mit Waffengewalt, Gegensatz kalter Krieg)". Hier sind die Verbindungen mit den Antonymen kalt/heiß gleichwertig nebeneinander behandelt, was vielleicht der Sprachwirklichkeit in der DDR entspricht, kaum aber im sonstigen deutschsprachigen Raum. Das große Wörterbuch der deutschen Sprache (1977) verfährt ganz anders: Es registriert kalter Krieg unter Krieg und kalter Krieger unter Krieger·, die Bedeutungsangaben haben sich gegenüber 1970 verschoben: kalter Krieg wird paraphrasiert als ,ohne Waffengewalt, besonders auf psychologischer Ebene ausgetragener Konflikt zwischen Staaten, die verschiedenen ideologischen Machtblöcken angehören', und ein kalter Krieger ist ein ,Politiker, der die Methoden des kalten Krieges (in einem bestimmten Fall) befürwortet, unterstützt'. Der heiße Krieg ist gar nicht aufgeführt. Dafür ist nun aber die neue singulare Bedeutung von heiß in heißer Sommer verzeichnet. Während das Bedeutungswörterbuch (1970) heißer Sommer nur als Beispiel für die wörtliche Bedeutung von heiß verwendete, findet sich im neuen Duden Wörterbuch unter heiß die Rubrik „(umgangssprachlich) gefährlich; mit Konflikten geladen: die Radikalen kündigten einen heißen Sommer (einen Sommer mit vielen politischen Unruhen) an". Die semantische Überlegung, die hinter diesen neuen Zuordnungen steht, ist wohl diese: kalter Krieg und kalter Krieger werden als Phraseologismen aufgefaßt, die eine (nichtzusammengesetzte) Gesamtbedeutung haben. Angesichts der vielen Beispiele von erweiterter syntagmatischer und paradigmatischer Ver-

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Klassifikation: Kriterien, Probleme, Terminologie

bindbarkeit von kalt dürfte eine solche lexikographische Beurteilung des Falles der Sprachwirklichkeit nur teilweise gerecht werden, denn es geht aus diesem Artikel nicht hervor, daß kalt in den genannten anderen Verbindungen eine vergleichbare Bedeutung hat, und der Benutzer des Lexikons findet keinen Hinweis darauf, wo er diese anderen Verbindungen zu suchen hätte. Im Gegensatz dazu wird die Bedeutung von heiß in heißer Sommer (im Sinne von ,gefährlich') als eine der Iexikalisierten freien Bedeutungen des Adjektivs aufgefaßt. Den phraseologischen Verbindungen vergleichbar, jedoch mit weniger enger lexikalischsemantischer Bindung der Komponenten, sind die in der westlichen Forschung sogenannten „bevorzugten Analysen" (Thun 1978, S. 5 0 ff., in Anlehnung an E. Coseriu). Dieser Typ liegt dann vor, wenn aus einer Anzahl möglicher Wortverbindungen zur Bezeichnung eines Sachverhalts oder Vorgangs durch den Sprachgebrauch eine bestimmte Kombination ausgewählt und als „Norm" verfestigt ist. Im Deutschen stünden für das „Zusammensetzen" der Nummer beim Telefonieren („zusammensetzen" hier als metasprachliche Bezeichnung gemeint) eine ganze Reihe von Verben zur Verfügung:

die Telefonnummer

bilden zusammensetzen zusammenstellen wählen auswählen

Üblich ist aber nur wählen, während man im Frz. immerhin zwei Verben zur Verfügung hat (former/composer le numiro, auch ital. formare/comporre il numero). Die übrigen — semantisch denkbaren — Verben würden einem in Kombination mit Telefonnummer sehr merkwürdig vorkommen. Ein Beispiel aus dem politischen Bereich, an dem abzulesen ist, daß solche „normative" Regelungen nicht den ganzen deutschen Sprachraum umfassen müssen, sondern — gerade im Bereich der politischen Institutionen und Verfahren — regional bzw. einzelstaatlich gelten können:

Nach dem Wahlsieg der sozialliberalen Koalition in der BRD (1980) sprachen die Zeitungen und Radio/Fernsehen der B R D davon, daß Helmut Schmidt und seine Regierung nun über eine starke, solide, bequeme Mehrheit verfügten, ζ. B.: „Hans Dietrich Genscher und Helmut Schmidt können auf eine solide Mehrheit bauen." (Die Zeit 10. 1 0 . 1 9 8 0 ) . In der deutschen Schweiz hingegen ist es üblich, in diesem Fall von einer komfortablen Mehrheit zu sprechen, ζ. B.: „Immerhin verfügt er [Schmidt] nun im Bundestag über eine wesentlich komfortablere Mehrheit." (Tages-Anzeiger 5. 10. 1980) Auch in französischen Zeitungen las man von einer confortable majorite (ζ. B. in Le Monde vom 8. 10. 1980), daneben findet sich auch forte majorite. (Man darf wohl anneh-

men, daß die komfortable

Mehrheit

im

deutschschweizerischen Sprachgebrauch durch das Frz. beeinflußt ist.) In BRD-Zeitungen fanden wir das Adj. komfortabel auch im Zusammenhang mit dem Wahlgeschehen, jedoch nicht in unmittelbarer Verbindung mit Mehrheit, ζ. B. so: „Die solide ausgepolsterte Regierungsmehrheit wird das Regieren allerdings nicht komfortabler machen." (Die Zeit 10. 10. 1980) Die bevorzugten Analysen sind vor allem für den Sprachvergleich und Sprachunterricht von bedeutendem Interesse, da meist erst durch den Sprachvergleich bewußt wird, daß es sich um ein einzelsprachliches singuläres Auswahlverfahren handelt. Der Fremdsprachige muß diese Auswahl jeweils einfach auswendiglernen; eine rationale (semantische) Begründung für die Wahl dafür gibt es nicht. (In Burger 1973, 21 f., wurde bereits ausgeführt, daß manche Phraseologismen für den Fremdsprachigen eher ein Problem des Kodierens, andere eher ein Problem des Dekodierens sind. Die bevorzugten Analysen machen offensichtlich keinerlei Schwierigkeiten beim Verstehen, wohl aber beim Produzieren.) Freilich ist auch dieser Typ nicht so problemlos abgrenzbar, wie es den Anschein hat. Ein Beispiel, das bei Thun gleichfalls diskutiert

wird, ist sich die Zähne putzen, dem ζ. B. gegenübersteht frz. se laver les dents, it. lavarsi

Struktursemantische Mischklassifikation i denti, sp. limpiarse los dientes. Auch hier könnte man sagen, daß eine Reihe anderer Verben zur Verfügung stünden, um den Vorgang zu bezeichnen (reinigen, bürsten, saubermachen), daß aber nur putzen dem Sprachusus entspräche. Bei näherer Betrachtung zeigt sich aber (und darauf verweist Thun indirekt selber, S. 51), daß mit der lexikalischen Verfestigung auch eine semantische Spezialisierung einhergeht: sich die Zähne putzen (und die Äquivalente in den anderen genannten Sprachen) meint primär den alltäglichen Reinigungsvorgang mit der Zahnbürste (neuerdings vielleicht auch die Reinigung mit Geräten, die die Zähne mit Wasser spülen). Die Reinigung beim Zahnarzt oder Zahnhygieniker hingegen würde man kaum als Zähne putzen bezeichnen, sondern als Zahnreinigung, Zahnhygiene o. ä. Man könnte auch argumentieren, daß putzen in Verbindung mit Zähne eine singulare, spezielle Bedeutung habe, die es in sonstiger Verwendung nicht hat (allenfalls ist noch bei die Schuhe putzen die Verwendung einer Bürste mitgemeint, bei die Wohnung putzen hingegen sind die semantischen Bedingungen viel allgemeiner). Dann wäre die Zähne putzen eine Wortverbindung, die zwischen den „phraseologischen Verbindungen" und den „bevorzugten Analysen" stünde. Es scheint uns überhaupt fraglich, ob hier grundsätzlich eine klare Grenze zu ziehen ist. Auch in die Telefonnummer wählen ist wählen in einer Bedeutung realisiert, die als deutlich spezialisiert gegenüber der sonstigen Verwendung des Verbs zu gelten hat. Und ähnlich ist es bei den Beispielen, die sonst für den Typ der bevorzugten Analysen angeführt werden. Es scheint uns gleichwohl sinnvoll, diese Klasse separat aufzuführen, weil sie für den Sprachvergleich eine besondere Rolle spielt. (Die wenigen klaren Beispiele für „phraseologische Verbindungen" fallen ohnehin kaum ins Gewicht.)

2.3.3. Modellbildungen Mit Häusermann (1977, S. 30), der von „modellierten Bildungen" spricht, kann man die Modellbildungen als Typus von Wortverbin-

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dungen auffassen, bei dem ein bestimmtes syntaktisches Schema mit einer „typisierten Semantik" (Cernyseva) ausgestattet ist, wobei die lexikalisierte Besetzung der syntaktischen Positionen (mehr oder weniger) frei ist. Mit Recht weist aber Häusermann daraufhin, daß hier sehr verschiedene Arten und Grade der „Modellhaftigkeit" vorliegen können. Neben dem einfachen Fall X hin, X her, der vermutlich beliebig lexikalisch ausfüllbar ist, gibt es „Modelle" wie von X zu Y, hinter denen sich mehrere semantische Schemata verbergen können (ζ. B. von Tag zu Tag usw. gegenüber von Mann zu Mann usw.).

2.3.4. Phraseologische Vergleiche (In der Slawistik ist der Terminus „komparative Phraseologie" geläufig, vgl. 7.2.3.1.; 7.2.3.2.) Das Phraseologische an dieser Klasse liegt zunächst darin, daß ein bestimmter Vorgang oder eine Eigenschaft (ausgedrückt durch Verb/Adjektiv in freier Bedeutung) durch einen konventionalisierten Vergleich veranschaulicht wird, daß aus der Vielzahl möglicher Vergleiche gerade dieser und kein anderer in der Sprachgemeinschaft üblich ist (saufen wie ein Loch, nicht: wie ein Fisch o. ä.). In dieser Hinsicht verhalten sie sich wie bevorzugte Analysen. Unter semantischer Perspektive bietet sich jedoch ein anderes Bild: Zwar kommt die Bedeutung der Wortverbindung — im Gegensatz zu den phraseologischen Ganzheiten — durch Zusammensetzung der Bedeutungen der Komponenten zustande, doch können die Vergleiche mehr oder weniger idiomatisch sein, insofern das tertium comparationis mehr oder weniger durchschaubar ist. Bei saufen wie ein Loch oder schweigen wie das Grab ist der Vergleich voll einsichtig, während in frieren wie ein Schneekönig oder frieren wie ein Zauberer das tertium comparationis nicht erkennbar ist (bei frieren wie ein Schneekönig schon deshalb nicht, weil Schneekönig außerhalb des Märchens kein übliches Lexem der deutschen Sprache ist, vgl. Burger 1973, S. 48 ff.). Viele phraseologische Vergleiche haben verstärkende Funktion, und insbesondere für

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Klassifikation: Kriterien, Probleme, Terminologie

diese gilt, daß sie in extremem Maße zu Variantenbildung tendieren (zum Begriff „Variante" vgl. 3.2.1.). Beispiele dafür sind in Burger (1973, S. 49) gegeben. Röhrich/Mieder (1977, S. 24) verweisen darauf, daß viele phraseologische Vergleiche der Umgangssprache „von vornherein auf Witz und Groteske aufgebaut" seien. Das betrifft aber nicht die Basisformen, sondern primär die reiche Variantenbildung (Röhrich/Mieder nennen als Beispiel die Varianten des Vergleichs klar wie

Kristall: klar wie Kloßbrühe — dicke Tinte Schuhwichse — Zwetschgenbrühe — Mehlsuppe usw. Die Varianten sind hier jeweils ironische Umkehrungen der Ausgangsform.) Insbesondere in der saloppen Umgangssprache entstehen täglich neue verstärkende Vergleiche, wobei es im einzelnen fraglich ist, ob dahinter jeweils noch eine Basisform anzunehmen ist. Für die kontrastive Linguistik und Ethnologie sind die phraseologischen Vergleiche aufschlußreich, weil sie Übereinstimmungen und Divergenzen in den Symbolfeldern der Kulturen erkennen lassen. (Ζ. B. welche auf den Menschen übertragbaren Eigenschaften werden den Tieren zugeschrieben? vgl. dt. dumm

wie ein Esel, stark wie ein Bär, flink wie ein Wiesel usw.) Oder man sieht ζ. B., daß es dt.

heißt stark wie ein Bär Türe·, oder dt. rauchen ,fumare come un turco', Pferd', sp. ,trabajar como

frz. fort comme un wie ein Schlot, it. dt. ,arbeiten wie ein un burro', dt. saufen

wie ein Loch, engl, drink like α fish. (Weitere Beispiele bei Thun 1979, S. 206ff.; Röhrich/ Mieder 1977, S. 24f.) Von da aus ließe sich im Rahmen der Volkskunde untersuchen, warum es im Deutschen gerade der Bär ist, der einmal als besonders stark .gegolten hat und vielleicht noch gilt, warum im Französischen der Türke mit derselben Eigenschaft ausgestattet wurde usw. Man sieht dann ζ. B. auch, daß es Vergleiche gibt, die einen kulturgeschichtlichen/volkskundlichen Hintergrund haben, und andere, die mindestens in sprachlichsemantischen Verhältnissen begründet sind (schweigen wie das

Grab).

In literarischen Texten wird die Entstehung eines phraseologischen Vergleichs ζ. B. als nar-

ratives Mittel verwendet, um die Quintessenz einer Geschichte „in einer Formel" zu fassen. Entscheidend ist dabei, daß die „Quelle" des Vergleichs ein konkretes Ereignis oder eine konkrete Figur ist. Außer den Sprichwörtern bietet sich keine andere phraseologische Form für ein solches erzähltechnisches Verfahren an. In Plenzdorfs „Legende vom Glücke ohne Ende" organisieren Paul und Paula den Betrieb in einer Kaufhalle so vorbildlich, daß „es nicht lange gedauert (hat), da hieß es in ganz Berlin, wenn irgendwas gut klappte, das klappt wie bei Paulundpaula. Es dauerte auch nicht lange, da sind die ersten Leute gekommen, und haben Paulundpaula abwerben wollen. Es ist so gewesen, daß ihnen wahre Wunder zugetraut worden sind. Aber Paulundpaula sind ihrer Kaufhalle treu geblieben und ihrer alten Gegend." (S. 158) Hier ist der Bezug zur Quelle auch bei weiterer Ausbreitung des Vergleichs offenbar noch erhalten. Anders im folgenden Beispiel von Bobrowski (Litauische Claviere, S. 48), wo die Geschichte erzählt wird, aus der ein phraseologischer Vergleich entstand. Dieser Vergleich löst sich von seiner Quelle und wird verfügbar auch für den, der die Quelle nicht mehr kennt: (. . . ) lustig wie Staschulls Schwein. Die Geschichte ist so, aufs allerkürzeste: Briefträger a. D. Staschull, also der Herr Staschull, hatte Bier gemacht, nicht zu viel und nicht zu wenig, gerade soviel, wie man, bei einem Morgen Wiese zur Heuernte brauchte, also zu wenig auf keinen Fall. Und

die Rückstände,

die schöne

Gerste,

dem

Schwein eingeschüttet. Na ja, und die Sau hatte das, ratsch ratsch, runter, und dann ging es los, hin und her, und gegen die Wände gewackelt und, wer weiß, die Wände hoch, wenn das geht, und gegrunzt und gequiekt, und wie der besoffene Mensch sich rein beschissen vor Vergnügen, und immer rund. Und der Staschull, also der Herr Staschull, rein in die Bucht und sich anfurzen lassen von dem Tier und wieder raus und das Messer geholt. Denn jetzt schmeißt sich die Sau hin und Augen zu und schnarcht. Und der Staschull sitzt da, wie du jetzt — also gar nicht: wie Sie, Herr Lehrer, jetzt ist es schon egal, jetzt mitten im Erzählen. Sitzt da und sitzt auf dem gemauerten Trogrand, das Tier röchelt ganz friedlich, ein bißehen unregelmäßig, sitzt da, das Messer in der Hand. Ehe sie krepiert, wird er sie gleich abstechen. Sitzt bis Uhre fünf morgens, dann hat die

Struktursemantische Mischklassifikation Sau ausgeschlafen, steht auf, mäkelt am Futtertrog herum. Weil nichts drin ist. Jetzt kann der Staschull auch aufstehn, sich recken, in die Schlafstube gehn, fällt aufs Bett, ist weg, das Messer in der Hand, die Schlorren an den Füßen. Und wer also jetzt lustig ist, ist lustig wie Staschulls Schwein, seitdem, gar nichts weiter dabei.

Diese beiden Texte zeigen die Genese von phraseologischen Vergleichen, deren Reichweite — innerhalb der Romanwelt — kleinräumig bleibt. Ob Vergleiche dieses Typs — anknüpfend an eine Geschichte, die irgendwann irgendwo faktisch passiert ist — die Chance haben, überregional wirksam zu werden, müßte an dem Arsenal alltagssprachlicher Vergleiche und ihrer jeweiligen Historie studiert werden.

2 . 3 . 5 . Streckformen des Verbs Innerhalb der verbalen Phraseologismen spielen die sog. Streckformen des Verbs (kurz: Streckformen) oder auch „Funktionsverbgefüge" für das heutige Deutsch eine besondere Rolle, insofern sie zu sprachpflegerischen Attacken und im Gegenzug zu zahlreichen Repliken von Seiten der Linguisten (Daniels, V. Schmidt, W. Schmidt, v. Polenz, Herrlitz) Anlaß gegeben haben. Der syntaktischen Struktur nach lassen sich zwei Gruppen unterscheiden: 1. Verb + (Artikel) Substantiv im Akk. (Lob zollen) ( + ev. weitere Valenzen) 2. Verb + Präpositionalphrase

(zur Durchführung gelangen)

Die heute besonders produktive Unterklasse des gesamten Komplexes der infragekommenden Verben läßt sich genauer durch die folgenden drei Kriterien abgrenzen (vgl. Burger 1973, S. 40): 1. Es gibt ein einfaches Verb, das als (ungefähres) Synonym der Kette gelten kann (in aktiver oder passiver Form). 2. Dieses Verb gehört zur gleichen Wurzel wie das Substantiv der Streckform; diese (etymologische) Beziehung muß synchron bewußt sein.

37

3. Das Substantiv der Verbindung ist ein Verbal-Abstraktum, das auch in freier Verwendung vorkommt. Diesen Kriterien genügen Ausdrücke wie eine

Anzeige (gegen jd.) erstatten oder ein Geständ-

nis ablegen, und wir sprechen in diesen Fällen von „Streckformen im engeren Sinne". Wenn man aber die geschichtliche Entwicklung der Streckformen überblickt, so drängt sich eine weniger enge Definition auf, die nicht nur an den strukturellen Bedingungen der Gegenwartssprache (vor allem im Bereich der Wortbildung) orientiert ist: Streckformen sind dann solche Phraseologismen, die unter die oben genannten syntaktischen Strukturmodelle fallen, deren Substantiv ein Abstraktum ist und deren Verb in seiner Bedeutung von der des frei verwendeten Verbs abweicht. Meist, aber nicht immer, existiert daneben ein synonymes einfaches Lexem. Unter diese Definition der „Streckformen im weiteren Sinne" fallen auch Phraseologismen wie Angst haben, zum Vor-

schein kommen.

In semantischer Hinsicht verhalten sich die Streckformen im engeren Sinne wie die Modellbildungen, die Streckformen im weiteren Sinne können in unterschiedlichem Maße idiomatisiert sein (Angst haben ist völlig motiviert, während in zum Vorschein kommen das Element Vorschein unikal und der ganze Ausdruck infolgedessen hochgradig idiomatisch ist).

2 . 3 . 6 . Zwillingsformeln Zwillingsformeln sind für die deutsche Sprachund Literaturgeschichte von besonderem Interesse (vgl. 8.2. passim), aber auch in der heutigen deutschen Sprache finden sie noch vielfältige Verwendung. (Der Terminus „Zwillingsformel" ist vor allem in der Volkskunde geläufig, während in der Historiographie der Rechtssprache der Terminus „Paarformel" dominiert, vgl. Burger 1973, S. 42; Pilz 1978, S. 743.) Zwillingsformeln sind durch ein ganzes Bündel von strukturellen Merkmalen definiert: Von einer Zwillingsformel spricht man, wenn entweder (1) zwei verschiedene Wörter der gleichen Wortart, die durch eine Konjunk-

38 tion oder 0 folge (mehr wenn es sich irreversible

Klassifikation: Kriterien, Probleme, Terminologie

verbunden sind, in ihrer Reihenoder weniger) festgelegt sind, also um eine (mehr oder weniger) Verbindung handelt (Beispiel:

klipp und klar),

oder wenn (2) zwei identische Wörter, durch Konjunktion oder Präposition verkettet, eine feste Verbindung eingehen (Beispiel: Schulter

an Schulter).

Zwillingsformeln haben im Laufe der deutschen Sprachgeschichte zu verschiedenen Zeiten eine ungewöhnliche Produktivität entwickelt (vgl. 8.2.3.2.). Dies vor allem aus stilistischen Gründen: Bei dieser Gruppe von Phraseologismen ist der „formelhafte" Charakter nicht nur dem Linguisten erkennbar, sondern augenfällig für jeden Sprachteilhaber. Außerdem enthalten viele Zwillingsformeln „poetische" Elemente wie Stabreim (frank und frei, klipp und klar), Assonanzen oder Reim (Jahr und Tag, Lug und Trug). Dadurch sind sie auch in der Gegenwartssprache ein willkommenes Stilmittel ζ. B. für Werbetexte (vgl. 3.2.3.). (Es werden auch neue Ausdrücke mit Stabreim gebildet, die sich wie Zwillingsformeln geben: Zwischen müde und munter wirkt badedas. Diese Formel ist in offensichtlicher Anspielung auf den Slogan Milch macht müde Männer munter gebildet.) Wie bei den Streckformen gibt es auch bei den Zwillingsformeln eine große Gruppe, die sich in semantischer Hinsicht verhält wie Modellbildungen. Andere wiederum sind stärker idiomatisch (ζ. B. klipp und klar, das als teil-motiviert zu charakterisieren ist), und manche lassen sich durchaus den phraseologischen Ganzheiten zuordnen {gang und gäbe,

Krethi und Plethi).

Mieder (1980) weist zurecht daraufhin, daß es in der Gegenwartssprache auch zahlreiche Drillingsformeln gibt (vom Typ heimlich, still und leise). Gleichwohl dürfte kaum zu bezweifeln sein — obwohl wir keine statistischen Erhebungen zu dieser Frage gemacht haben —, daß die Zwillingsformeln die viel frequentere und auch produktivere Gruppe sind. Vierlingsformeln kommen im Deutschen nur in kleiner Zahl vor,

ζ. B. frisch, fromm, fröhlich, frei.

Offensichtlich hängt die Anzahl der Elemente, die sich zu Formeln solcher Art zusammenschließen, von den rhythmischen und strukturellen Gegebenheiten der Einzelsprachen ab. Im Chinesischen beispielsweise sind phraseologische (häufig metaphorische) Vierlingsformeln eine sehr starke Gruppe unter den Phraseologismen (vgl. Sammlungen wie W. Bueler, Chinese Sayings; 1972, Τ. C. Lai, Selected Chinese Sayings, Taipei 1960; Ma, Xi-Ceng/Fu, Shi/Shen, Wu-Dian, Idiomatische Redensarten, Taipai 2 1970).

2 . 3 . 7 . Phraseologische Termini Bei diesem Typ handelt es sich vorwiegend um nominale satzgliedwertige Phraseologismen. Ihre Bedeutung ist meist direkt motiviert, wobei aber eine aus den Komponenten nicht ableitbare Spezialisierung der Gesamtbedeutung eintritt. Die semantische Spezialisierung resultiert aus den referentiellen Funktionen, die solche Ausdrücke haben: sie bezeichnen — wie ein Name — ein Individuum, ζ Β. eine singuläre

Institution (Das Rote Kreuz, Deutsche Demokratische Republik) oder einen Gegenstand/ Sachverhalt, der innerhalb eines außersprachlich abgegrenzten Systems (ζ. B. Wissenschaften, technische Systeme, politische Institutionen, Spiele u. ä.) definiert ist. Wie bei fachsprachlichen Bezeichnungen ist ihre Bedeutung „normiert" und entsprechend klar definierbar. Wie stark normiert in diesem Sinne ζ. B. die Terminologie des Verkehrswesens ist, wird einem erst bewußt, wenn man die Differenzen zwischen den deutschsprachigen Staaten bemerkt. Im Deutschlandfunk haben wir ζ. B. die folgenden Sprachregelungen im Bereich der „Verkehrsstörungen" beobachtet (jeweils eingeleitet durch „Über Verkehrsstörungen liegen uns folgende Polizeimeldungen vor"): Eine übliche Meldung lautet etwa so: Etwa drei Kilometer zähflüssiger Verkehr wegen starken Verkehrsaufkommens vor einer Baustelle.

Die Formulierung zähflüssiger Verkehr ist die häufigste Bezeichnung des Tatbestands. Als Varianten, die offenbar völlig synonym ge-

Struktursemantische Mischklassifikation

braucht und nur der stilistischen Abwechslung wegen verwendet werden, finden sich:

zähfließender Verkehr Zähflüssigkeit Daß die Variante zähflüssiger Verkehr geläufiger ist als zähfließender Verkehr, zeigt sehr schön ein Versprecher, der in unseren Aufnahmen vorkam: Drei Kilometer zähflü/zähfließender Verkehr durch starkes Verkehrsaufkommen vor einer Baustelle.

Auch das starke Verkehrsaufkommen ist eine normierte Formulierung. Varianten sind uns hier nur im Bereich der Präposition {wegen! durch) und der Gradangaben [starkes/sehr starkes) aufgefallen.

2 . 3 . 8 . Feste Phrasen Die festen Phrasen lassen sich mit syntaktischen bzw. textlinguistischen Kriterien abgrenzen (vgl. 2.1.): Es handelt sich um ganze phraseologische Sätze, wobei aber der textlinguistische Anschluß an den Kontext durch Pronomina oder sonstige verweisende Elemente gewährleistet ist:

Da liegt der Hase im Pfeffer Das geht auf keine Kuhhaut Die interessanteste Gruppe der festen Phrasen bilden die Ausdrücke, die durch ihre Position und Funktion in dialogischen Abläufen gekennzeichnet sind, wie:

Nun mach' aber mal 'nen Punkt! Das glaubst du doch selbst nicht! (vgl. 4.1.1.2.)

2 . 3 . 9 . Sprichwörter und Gemeinplätze Die Sprichwörter sind — neben den phraseologischen Ganzheiten — sicherlich die am besten erforschte Klasse von Phraseologismen. Dies vor allem in volkskundlicher Hinsicht, was durch eine Fülle von parömiologischen Publikationen belegt wird. Linguistisch betrachtet, sind sie den satzwertigen Phraseologismen zuzurechnen, unterscheiden sich aber von den festen Phrasen dadurch, daß sie i. a. nicht durch textlinguistisch-verweisende Elemente an die Textumgebung angeschlossen

39

sind. Unter funktionaler Perspektive sind sie allgemeine Aussagen oder Urteile, mit denen eine gegebene Situation, erklärt, eingeordnet, beurteilt wird. Der Sprechende beruft sich dabei auf die „Volksweisheit", d. h. auf die allgemeine Erfahrung, die diese Sätze geprägt hat. Da man in jedem Fall dieselbe Information auch „mit eigenen Worten" geben könnte, das Sprichwort also stets ein markiertes Mittel ist, einen Gedanken zu äußern, haftet seinem Gebrauch immer eine deutliche stilistische Wirkung an. Viele Sprichwörter weisen ausgeprägte „poetische" Elemente auf, wodurch sie zu eigentlichen „künstlerischen Miniaturen" (Permjakov) und damit zu einer Gattung der Volksdichtung werden. Daß die Rolle des Sprichwortes in der Sprache der Gegenwart nicht mehr dieselbe ist wie in früheren Zeiten (oder in anderen Kulturen), wird in 4.2.3. gezeigt. Die linguistischen Merkmale von Sprichwörtern sind in Burger (1973, S. 53 ff.) aufgeführt. Eine neuere Übersicht über die volkskundlichen und auch die linguistischen Aspekte des Sprichworts geben Röhrich/Mieder (1977). Von den Sprichwörtern wird gelegentlich die Klasse der „Gemeinplätze" abgegrenzt, wobei es schwerfällt, klare linguistische Kriterien für diese Gruppe anzugeben. Sicher ist, daß man mit den Gemeinplätzen an die Grenze dessen gelangt, was noch als phraseologisch — wenn auch nur im weiteren Sinne — gelten kann. Gülich (1978) nennt im Bereich der satzwertigen Phraseologismen (ohne die festen Phrasen eigens zu berücksichtigen) alle die in der Sprache üblichen („vorgeformten") Sätze „Gemeinplätze", die keine Sprichwörter sind. Als Unterscheidungskriterium verwendet sie die Metaphorizität: Sprichwörter sind metaphorische, Gemeinplätze nicht-metaphorische phraseologische Sätze. Dabei ist sie sich bewußt, daß sie das traditionelle Gebiet der Sprichwörter beträchtlich reduziert (Aller Anfang ist schwer wäre nach dieser Definition ein Gemeinplatz und nicht mehr ein Sprichwort). Zu den Gemeinplätzen zählen dann ferner Ausdrücke wie Es wird einem nichts geschenkt Wir sind alle nur Menschen So jung kommen wir nicht mehr zusammen

40

Klassifikation: Kriterien, Probleme, Terminologie

Was sein muß, muß sein Man lebt nur einmal. Über die erste Definition hinaus gibt Gülich weitere Bestimmungen der Gemeinplätze, die aber nicht streng obligatorisch sind: Die meisten Gemeinplätze haben die Form von Aussagesätzen. Ihre logische Struktur ist die von Allsätzen („sie enthalten ein Element, das dem Allquantor entspricht: man, jeder, alle ..." (S. 6)) oder sie enthalten indexikalische Ausdrücke, die freilich „nur eine sehr unspezifische Referenzleistung aufweisen" (S. 7) (so jung kommen wir nicht wieder zusammen, wir sind alle nur Menschen). Ferner sind sie nicht an bestimmte kommunikative Situationen gebunden, wohl aber läßt sich als gemeinsamer Nenner der kommunikativen Leistungen der Gemeinplätze die „Reduktion von Komplexität" erkennen (S. 15). Manche Gemeinplätze haben in Dialogen kaum eine andere als „phatische" Funktion, und das gilt auch für manche schriftliche Textsorten, ζ. B. Briefe. In einer Untersuchung französischer Soldatenbriefe (Stempel/Weber 1974, referiert in Gülich 1978) zeigt sich, wie Gemeinplätze „eine Formulierungshilfe gerade auch für solche Sprecher bzw. Schreiber darstellen, die durch die ungewohnte Kommunikationssituation (in diesem Fall: Gefangenschaft, Notwendigkeit der schriftlichen Kommunikation) in ihrer sprachlichen Kreativität eingeschränkt sind" (Gülich S. 18). Die Gemeinplätze werden als Versatzstücke verwendet, ζ. T. im Widerspruch zum Kontext. Letztlich dienen sie „als bloße Lebenszeichen" (ebda). Durchaus vergleichbare Resultate finden sich in einer (medizinischen) Arbeit über Selbstmordversuche von Jugendlichen, in der auch die Abschiedsbriefe und deren Sprache charakterisiert werden (Ch. Burger 1974). „Es fällt in die Augen, wie undifferenziert und klischiert die ausweglose Situation in den meisten Fällen charakterisiert wird: „Suche eine bessere Welt zum Leben und Lieben", „auch starke Menschen werden schwach", „es ist besser so", „Der Herrgott will es so", „Der Krug geht zum Brunnen bis er bricht", „Gegen den Tod ist kein Kraut gewachsen", „Meine Reise ist zu Ende", „Es gibt überall eine Grenze und die ist für mich erreicht". Auch Schlager-

texte und Gedichtzeilen werden herangezogen, um das schwer Sagbare zu fassen. Interessant ist es zu beobachten, in wie hohem Maße der Vorgang des Sterbens euphemistisch benannt wird: „dal? ich von dieser Erde gehen will", „wenn ich morgen in einer anderen Welt bin", „wenn Sie diesen Brief lesen, bin ich auch glücklich in der Ewigkeit", „daß ich diesen Weg gehe" usw." (S. 25 f.)

Ein typisches Beispiel für einen (vollständigen) Abschiedsbrief einer 16jährigen: Meine Lieben! Dies ist das letzte Brieflein, das ich Euch schreibe. Der Herrgott will es so. Meine lieben Eltern, Euch bin ich so viel schuldig, G. bin ich so viel schuldig, ich will nicht mehr leben. Seit ich bei R. war, bin ich so ein schlechter Mensch geworden, ich weiß!! Habe meine Kleider und alles verbrannt, will nicht, daß noch jemand daran denkt, an ein so schlechter Mensch wie ich bin. Nur noch einen Wunsch habe ich. Auf meinem Grabstein soll stehen „Der Krug geht zum Brunnen, bis er bricht". Ich möchte abends 10 Uhr ohne Pfarrer verlocht werden, ich will nicht beerdigt werden. D., Dir bin ich so viel schuldig, weiß gar nicht, wie gutmachen, lege aber bitte Deiner Schwester alle Sonntag ein Sträußlein auf mein Grab. Weißt ich liebe Blumen. Es küßt und grüßt Euch S. (S. 42)

Innerhalb der vermutlich recht großen Klasse der Gemeinplätze sind zwei Untergruppen von besonderem Interesse, da sie — wie die von Gülich diskutierten Textstellen zeigen — in der Kommunikation eine wichtige Rolle spielen (vgl. auch unsere literarischen Belege in 4.2.4.): die „Quasi-Tautologien" (Was sein muß, muß sein; Was zuviel ist, ist zuviel) und die „Truismen" (die oberflächlich gesehen etwas aussagen, was selbstverständlich, sowieso evident ist, wie Man lebt nur einmal, Wir sind alle nur Menschen, Man ist nur einmal jung). Als auffallendes Unterscheidungsmerkmal gegenüber den Sprichwörtern nennt Gülich hin' sichtlich der Sprachverwendung die Tatsache, daß Gemeinplätze im allgemeinen nicht verkürzt zitiert werden bzw. gar nicht verkürzt zitierbar sind (S. 14). Sie sieht aber selbst, daß diese Restriktion am ehesten dann auftritt, wenn es sich um eine „geprägte Form" handelt (ζ. B. die Qual der Wahl). Und das wiederum deutet daraufhin, daß man — aus der Perspektive der Sprachverwendung — nicht das Krite-

Pragmatik

rium der Metaphorizität zum Unterscheidungsmerkmal von Sprichwort und Gemeinplatz machen sollte, sondern das — in der Parömiologie traditionell verwendete — Merkmal der geprägten Form (Reim, Alliteration, Rhythmus . . .). Sprichwörter wären dann die stärker formal geprägten Bildungen, während Gemeinplätze nur schwach formal geprägt wären — und damit eine offene Grenze hätten zu den nicht mehr vorgeformten „Gedankenklischees" oder „Stereotypen", oder wie die Termini für diese nicht mehr linguistischen Phänomene sonst lauten.

2.4. Pragmatik Eine weitere Klassifikationsmöglichkeit bietet sich aufgrund kommunikativ-pragmatischer Kriterien an, freilich nur als sehr grobe Gliederung: Die meisten Phraseologismen sind hinsichtlich ihrer kommunikativen (funktionalen, pragmatischen) Verwendbarkeit nicht festgelegt. Diese Gruppe könnte man „pragmatisch neutrale Phraseologismen" nennen. Demgegenüber gibt es „pragmatisch markierte Phraseologismen", die die (syntaktisch definierbare) Klasse der „festen Phrasen" und ζ. T. auch satzgliedwertige Phraseologismen umfaßt. In der sowjetischen Forschung spricht man, um die besondere kommunikative Leistung dieser Phraseologismen zu kennzeichnen, ζ. B. von „kommunikativen Einheiten" (Telija). (Damit ist ganz allgemein gemeint, daß eine vollständige Sprechhandlung möglich ist, die nur aus einer festen Phrase besteht. In der sowjetischen Forschung wurde immer wieder versucht, sie mit einem Merkmalskatalog zu beschreiben, der aus der Beschäftigung mit den satzgliedwertigen Phraseologismen entstanden ist. Dabei zeigte sich aber, daß die eigentümliche Funktion dieser Gruppe nicht erfaßt werden kann.) Wir stellen hier keine weiteren Überlegungen an zur pragmatischen Charakterisierung und Subklassifikation dieses Typs (vgl. dafür 4.). Hier sei nur angemerkt, daß die Tatsache, daß bestimmte Typen von Phraseologismen in bestimmten pragmatischen Funktionen vor-

41

kommen können oder (mit statistisch nachweisbarer, auffallender Häufigkeit) vorkommen, noch kein Klassifikationskriterium abgibt. Ζ. B. können die „Redensarten", die Koller in bestimmten Textsorten auf ihre pragmatischen Funktionen hin untersucht (vor allem an Pressetexten), in anderen Texten und Situationen durchaus andere als die dort beschriebenen Funktionen haben. Seine Abgrenzung der „Redensarten" betrifft eigentlich nicht die Klasse der untersuchten Phraseologismen, sondern den Spielraum der Funktionen, den Phraseologismen in (vorwiegend politischen) journalistischen Texten haben. Koller grenzt sein Untersuchungskorpus ein aufgrund einer „Hypothese über die Funktion von vorwissenschaftlich-intuitiv als Redensarten bezeichneten Ausdrücken in Texten". Die „Hypothese" lautet dann folgendermaßen: „Redensarten des mich interessierenden Typs haben die Funktion, mehr oder weniger komplexe Situationen zwischenmenschlicher Alltagsinteraktion und des Alltagsverhaltens in einfache Formeln zu fassen und in diesen Formeln zu interpretieren und/oder in der Form von Handlungsanweisungen den Kommunikationsteilnehmern einfache Handlungsmuster zur Verfügung zu stellen, um Alltagssituationen sprachlich und inhaltlich zu bewältigen." Daß die Abgrenzung zirkulär ist, also in Wirklichkeit keine neue Klassifizierung phraseologischen Materials erlaubt, ist schon aus der zitierten Formulierung ersichtlich. (Die „Hypothese" wird bestätigt dadurch, daß den Analysanten nur Phänomene „interessieren", die der „Hypothese" entsprechen (vgl. Burger 1978, S. 59 f.). Im Vorgriff auf 4.1.3. soll hier nur eine Gruppe von Phraseologismen charakterisiert werden, die nicht aufgrund struktureller Kriterien, sondern im Hinblick auf ihre pragmatische Beschaffenheit als einheitliche Klasse erfaßt werden kann. Wegen ihrer für die aktuelle Diskussion um eine Dialoglinguistik interessanten Eigenschaften haben wir diese Klasse, die wir als „gesprächsspezifische Phraseologismen" bezeichnen, eingehender untersucht. Es handelt sich um Wortverbindungen folgender Art: nid waar, ich wetti säge, ich ha s

42

Klassifikation: Kriterien, Probleme, Terminologie

Gfüül, was ich noch sagen wollte, ich meine etc., Ausdrücke, die in Texten gesprochener Sprache besonders häufig verwendet werden. Wir haben diese Gruppe in unsere empirischen Studien einbezogen, obwohl und gerade weil sie einige von den übrigen phraseologischen Typen abweichende Merkmale haben. Unter diese Klasse subsumieren wir alle die Wortverbindungen, die (1) typischerweise in Gesprächen vorkommen (und zwar immer wieder vorkommen und zunächst insofern als phraseologisch im weiteren Sinne zu bezeichnen sind), und die (2) dadurch zu charakterisieren sind, daß ihre eigentliche Bedeutung in den meisten Fällen (aber auch bei derselben Wortverbindung in sehr unterschiedlichem Ausmaß) zugunsten einer Funktion zurücktritt, die in einem sehr umfassenden Sinn als metakommunikativ verstehbar ist (insofern sind sie auch phraseologisch im engeren Sinne). Die gesprächsspezifischen Phraseologismen haben — im Unterschied zu vielen anderen Typen phraseologischer Wortverbindungen — eine hohe Frequenz und sind im einzelnen stark idiolektal gebunden. Der für die gesprächsspezifischen Phraseologismen dominante Aspekt der speziellen Funktion hat Konsequenzen für die Beschreibung und Abgrenzung des formal bestimmten Bereichs der Phraseologismen: Gesprächsspezifische Phraseologismen haben sehr verschiedene Formen: ich würde so sagen oder das ist jedenfalls meine Meinung dazu sind ganze Sätze und stimmen in syntaktischer Hinsicht mit den Wortverbindungen überein, die wir „feste Phrasen" nennen. Auch ich glaube und ich würde meinen können in diesem Sinn einerseits als feste Phrasen gebraucht werden. Anderseits können sie aber auch syntaktisch in die Äußerung eingebaut werden, beispielsweise in ich glaube, daß, und ich würde meinen, daß. Aber auch in diesen äußerlich völlig unauffälligen Fällen, hinter denen man auf den ersten Blick nichts Phraseologisches vermuten würde, kann die phraseologische Desemantisierung und syntaktische Einschränkung auf ganz wenige bestimmte Formen so weit gehen, daß man schon semantisch und syntaktisch nicht von frei verwend-

baren Wörtern bzw. Wortverbindungen sprechen kann. Aufgrund der idiolektalen Häufigkeit, der Abhängigkeit von bestimmten Situationen und Themen sowie aufgrund ihrer funktionalen Leistungen läßt sich der Schluß ziehen, daß es sich dabei um feste und nicht um freie Wortverbindungen handelt, die gerade deshalb auch in Fällen von beispielsweise ich glaube Wortverbindungen darstellen. Wie bei ich glaube kann man aber auch bei vielen anderen Formen, die die Funktionen von gesprächsspezifischen Phraseologismen erfüllen können, aber nicht müssen, aufgrund des Kontextes und der paraverbalen Realisierung feststellen, ob es sich bei einer speziellen Verwendung eines individuellen Sprechers um einen gesprächsspezifischen Phraseologismus handelt oder nicht. Gerade weil gesprächsspezifische Wortverbindungen häufig gebraucht werden, hat der Sprecher die Tendenz, sie zu verkürzen; im Schweizerdeutschen sind Formen wie glaub, denk, mein (aus glaube ich etc.) gang und gäbe. Da wird einerseits die Nähe solcher gesprächsspezifischer Phraseologismen zu Interjektionen sichtbar, anderseits drängt sich besonders bei solchen Beispielen die Vergleichbarkeit der gesprächsspezifischen Phraseologismen mit funktional analogen gesprächsspezifischen Wörtern auf sowie mit para- und nonverbalen Elementen, die dieselben Funktionen erfüllen.

2.5. Zwei Sonderfälle Zwei Typen von Phraseologismen lassen sich in ihrer Eigenart durch die im Vorangehenden besprochenen Kriterien nicht voll erfassen: die „Geflügelten Worte", die sowohl unter historischer als auch vor allem psycholinguistischer Perspektive eine sinnvoll abgrenzbare Klasse darstellen, und die „Kinegramme", die sich einerseits durch besondere semantische Eigenschaften — die schon erwähnt wurden —, andererseits durch ihre spezifische Beziehung zum nicht-verbalen kommunikativen Verhalten des Menschen auszeichnen.

Zwei Sonderfälle

43

2.5.1. Geflügelte Worte

theoretischer Perspektive: Zunächst weist er

2.5.1.1. Charakterisierung

so zu verwenden, daß sie als Anspielung auf

Der Terminus geht auf Georg Büchmann (Geflügelte Worte, Der Zitatenschatz des deutschen Volkes, 1. Aufl. 1 8 6 4 , 3 2 . Aufl. 1974) zurück. Aufschlußreich für die Geschichte des Terminus und das gewandelte Verständnis vom Zitieren sind die verschiedenen Vorworte, die Büchmann und seine Fortsetzer dem Werk vorangestellt haben. Dort liest man ζ. B. (32. Aufl.): „Wie die ganze Thematik so war auch der Titel des Werkes ein glücklicher Einfall, der eigentlich eine kleine journalistische Verbiegung darstellt. Denn was die epea pteroenta des alten Homer angeht, die in der Ilias 46mal, in der Odyssee 58mal vorkommen und die F. L. Stollberg und J o h . Heinr. Voss in ihren Übersetzungen mit „Geflügelte W o r t e " wiedergaben, waren eigentlich von Göttern und Menschen gesprochene Worte, die gleichsam „auf Flügeln" das Ohr des Hörers erreichten. M i t dem Ausdruck pteroenta sollte also ursprünglich nichts über die landläufige Verbreitung dieser Worte ausgesagt werden. Vielleicht liegt sogar ein im Deutschen unnachahmliches Wortspiel vor. Denn pteron heißt nicht nur Feder oder Flügel. Die Griechen bezeichneten damit auch die flügelartig vom Heft auslaufende, überaus scharfe Klinge an ihren Schlachtmessern. ( . . . ) „Geflügelt" aber wurden die „Geflügelten W o r t e " erst durch Georg Büchmann. Er wollte darunter „literarisch belegbare, allgemein geläufige Redensarten" verstanden wissen. Die neueren und neuesten Ausgaben des „Büchmann" haben diese Festlegung insofern erweitert, als das „literarisch" nicht nur auf die Literatur im engeren Sinne bezogen wird, sondern auch auf anderweitig feststellbare Quellen im Bereich des Gedruckten überhaupt. Heute sind dazu die Bereiche der Massenmedien und des Werbewesens getreten." (S. X I I f . ) . In der sowjetischen Forschung spricht man in den Fällen, wo der „Urheber" eines Phraseologismus namentlich bekannt ist, von „Autorphraseologismus". Coseriu (1980) charakterisiert die Geflügelten Worte aus text-

auf die Möglichkeit hin, „Zeichen in Texten eine

bereits

existierende,

fixierte

Zeichen-

sequenz verstanden werden müssen" (S. 80) t

(sein Terminus dafür ist „wiederholte Rede"). Zwischen „wiederholter Rede" und Geflügelten Worten bestehen aber

fließende

Über-

gänge, und dies sowohl sprachhistorisch-kollektiv als auch idiolektal und psycholinguistisch gesehen. Wir zitieren die Ausführungen Coserius ausführlich, weil sie u. E. exemplarisch für einen ungerechtfertigten BildungsOptimismus sind, der nicht nur für eine linguistische

Betrachtungsweise

des

Phänomens

gelten dürfte (vgl. 2.5.1.3.): (. . .) wenn jemand vom „bewußten Kern des bewußten Pudels" spricht, so kann dies sowohl als direkte Anspielung auf die Studierzimmerszene in Goethes Faust als auch im Sinne eines Verweises auf eine bereits sprichwörtliche Redensart interpretiert werden. Im allgemeinen geht es hier jedoch um eindeutig identifizierbare Texte, deren Kenntnis bei sehr vielen Angehörigen der Sprachgemeinschaft vorausgesetzt werden darf. Genauer gesagt: Es geht wiederum nicht um diese Texte selbst, sondern um die Möglichkeit, in neuen Texten mit geeigneten Mitteln an diese bereits existierenden Texte anzuknüpfen. Sage ich ζ. B. Die Rückkehr des Pilgers, so bedeutet dies im Deutschen nicht mehr als das, was dieses Syntagma eben üblicherweise bedeutet, es geht um einen bestimmten Pilger, der zurückkehrt. Sage ich hingegen auf englisch The pilgrim's regress, verwende ich in diesem Syntagma gerade das Wort regress und nicht etwa return, so wird dies von vielen Engländern als Anspielung auf einen in der englischen Sprachgemeinschaft gerade auch bei den weniger Gebildeten sehr gut bekannten Text verstanden werden, als Anspielung auf John Bunyans The Pilgrim's Progress. Sage ich auf deutsch: „An einem Ort in Schwaben, an dessen Namen ich mich nicht erinnern will . . s o bedeutet dieses Satzfragment — zumindest unter Nicht-Hispanisten — nichts weiter, als das, was es hier zum ersten Mal bedeutet; es geht offenbar um eine bestimmte örtlichkeit in einer südwestdeutschen Region, deren Namen sich ins Gedächtnis zu rufen der Sprecher keinerlei Anstrengungen zu unternehmen gedenkt. Bilde ich hingegen das entsprechende spanische Satzbruchstück und äußere es im Kreise von Spanisch Sprechenden, „en un lugar de la Suabia, de cuyo nombre no quiero

44

Klassifikation: Kriterien, Probleme, Terminologie

acordarme . . .", so wird dies von den meisten unter ihnen als Anspielung auf den Anfang des Don Quijote verstanden werden. Es genügt sogar der bloße Relativsatz, X, de cuyo nombre no quiero acordarme, um einen solchen Bezug herzustellen. Um diese Zeit, kurz vor Weihnachten könnte ich Sie darauf hinweisen, daß wir uns jetzt „nel mezzo del cammin di nostro corso" befinden, um damit auszudrücken, daß wir die Hälfte des Vorlesungsstoffes hinter uns gebracht haben. Vor italienischen Studenten würde eine solche Bemerkung zweifellos sofort als Anspielung auf den ersten Vers von Dantes Divina Commedia verstanden werden: Nel mezzo del cammin di nostra vita . . . Und ein Ausspruch wie „questo esame non s'ha da fare, ne domani, ne mai" würde von sehr vielen Italienern sofort mit einer berühmten Stelle aus dem 1. Kapitel von Alessandro Manzonis Roman I Promessi Sposi in Verbindung gebracht werden: questo matrimonio non s'ha da fare, ne domani, ne mai. Und möglicherweise würde die Bemerkung über das Examen auch dementsprechend interpretiert werden, denn die Ehe, der hier so hartnäckig Widerstand geleistet wird, kommt in Manzonis Roman schließlich doch zustande. In all diesen Fällen handelt es sich um sehr bekannte Texte, auf die man sich nicht nur beziehen kann, sondern auf die man sich auch tatsächlich immer wieder bezieht. (S. 81 f.) Die Frage ist eben, ob das Verständnis solcher Anspielungen tatsächlich bei „sehr vielen Angehörigen der Sprachgemeinschaft", „im Kreise von Spanisch Sprechenden", bei „den meisten unter ihnen" und so fort vorausgesetzt werden darf. Mit anderen Worten: Die Geflügelten Worte sind nicht von ihrer Struktur her definiert, sondern durch ihre Herkunft. Damit sind sie für die Phraseologie-Forschung in doppelter Hinsicht interessant: erstens diachron durch ihre Rezeptionsgeschichte (ζ. B. die Frage, wie lange ihre Herkunft allgemein als bekannt angenommen werden kann, ob sich die entsprechenden Kenntnisse von Anfang an auf eine bestimmte soziale Schicht beschränken usw.), zweitens synchron wegen ihres psycholinguistischen Status (vgl. 2.5.1.3.). Bei einer großen Zahl von Geflügelten Worten (das heißt: von Ausdrücken, die in den Sammlungen noch als solche aufgeführt werden) ist die Kenntnis der Herkunft für den NichtLinguisten nicht mehr vorauszusetzen. Diese

t

Gruppe kann von einem synchronen Standpunkt aus nicht mehr sinnvoll den Geflügelten Worten zugerechnet werden, sie ist in die weitaus größere Gruppe von Phraseologismen übergetreten, deren „Autor" nicht bekannt ist. Der Übertritt wird dadurch erleichtert, daß Geflügelte Worte, strukturell gesehen, sich eben nicht von sonstigen Phraseologismen abheben. Wer weiß heute noch, daß Friß Vogel oder stirb der Titel einer Schmähschrift auf Luther ist, die von dem Straßburger Pfarrer Johann Nikolaus Weislinger 1 7 2 2 verfaßt wurde, daß

den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen aus Wielands „Musarion" stammt und als Gedanke schon bei Ovid nachzuweisen ist. Oder wer erinnert sich noch — um ein viel berühmteres Beispiel zu nehmen —, daß die Rede vom roten Faden, der sich durch etwas hindurchzieht, Goethes Wahlverwandtschaften entstammt: Wir hören von einer besonderen Einrichtung bei der englischen Marine: sämtliche Tauwerke der königlichen Flotte, vom stärksten bis zum schwächsten, sind dergestalt gesponnen, daß ein roter Faden durch das Ganze durchgeht, den man nicht herauswinden kann, ohne alles aufzulösen, und woran auch die kleinsten Stücke kenntlich sind, daß sie der Krone gehören. Ebenso zieht sich durch Ottiliens Tagebuch ein Faden der Neigung und Anhänglichkeit, der alles verbindet und das Ganze bezeichnet. (2, 2) Ebenso verblüffend ist es zu sehen, wieviel von dem, was nach Büchmann im 19. J h . als Geflügeltes Wort gebraucht wurde, den anderen Weg gegangen, der Vergessenheit anheimgefallen ist. Wie kurzlebig Geflügelte Worte sein können, zeigt folgendes Beispiel aus jüngster Zeit: Die Überschrift des „NZZ"-Leitartikels vom 10. 3. 1 9 7 4 lautete: Das Europa der Realitäten. Dies ist eine Anspielung auf de Gaulles Europa der Vaterländer. Daß dieser Bezug tatsächlich gemeint ist, wird im ersten Satz des Artikels ausgesprochen: „Europa, pflegte de Gaulle zu sagen, kann nicht eine Institution der supranationalen Technokraten, sondern nur ein „Europa der Vaterländer" sein . . . " Der Verfasser ist sich offenbar nicht sicher, ob seine Leser die Anspielung (noch) verstehen,

45

Zwei Sonderfälle

darum nennt er explizit den „Autor". Der Titel hätte auch ohne die Anspielung einen Sinn. Daß er aber eine Konfrontation der gegenwärtigen Realität Europas mit dem von de Gaulle angestrebten Ideal einleiten soll, würde man ohne Kenntnis des de-Gaulle-Wortes nicht vermuten. Vermutlich ist seit 1974 die Kenntnis dieses Autorenphraseologismus noch weiter zurückgegangen, so daß eine Titel-Formulierung wie die obige einen noch kleineren Kreis von „Kennern" unmittelbar erreichen würde. Für die Phraseologie von Interesse ist nun gerade diese Art von Autorenphraseologismus: man weiß „irgendwo" noch, daß sie einen Urheber, eine bestimmte Quelle haben, aber man kennt die genaue Herkunft meist nicht mehr. Das hat Konsequenzen für Produktion und Verstehen dieser Wortverbindungen (vgl. 2.5.1.2. f.). Als Beispiel dafür, wie die historische „Tiefenstaffelung" eines Geflügelten Wortes der jüngeren Zeit aussehen kann, mag die Wendung . . . reitet für Deutschland stehen. Sie geht zurück auf ein „ 1 9 3 6 in Hannover erschienenes Buch von Clemens Laar (. . . ) , das dem Reiterschicksal des 1934 bei der olympischen Military tödlich verunglückten dreifachen Derbysiegers und Olympiasiegers in Amsterdam Carl Friedrich Freiherr von Langen gewidmet war" (Büchmann 3 2 1 9 7 4 , S. 777). Die Wendung war besonders produktiv in „Spiegel"-Texten der 60er Jahre, wie Carstensen (1971) gezeigt hat. Carstensen selber schreibt „Der Filmtitel . . . ,reitet für Deutschland' wird besonders häufig paraphrasiert" (S. 88), womit er sich bereits nicht mehr auf die ursprüngliche Herkunft des Geflügelten Wortes bezieht, sondern auf eine sekundäre Quelle. Bei Büchmann liest man im Anschluß an das obige Zitat: „Den gleichen Titel trug der nach diesem Buch gedrehte und 1941 uraufgeführte Film." (S. 777) Es geht aus den Ausführungen von Carstensen nicht hervor, ob ihm die originale Herkunft des Ausdrucks nicht bekannt war, oder ob er zu verstehen geben wollte, daß sich die Belege aus den 60er Jahren primär auf den Film, und nicht mehr auf das Buch beziehen. (Es wäre auch interessant zu wissen, ob bereits der Buchtitel zum

Geflügelten Wort wurde, oder ob erst der Film die Popularisierung bewirkte.) Carstensen bezweifelt bereits für seine Belege, ob die Leser die ζ. T. sehr weitgehenden Abwandlungen des Titels noch als Anspielungen verstanden haben werden. Aus seinem Material ergibt sich folgendes Schema der vorkommenden Modifikationen: reitet

für

Deutschland

redet drehten ritt schreitet streiten spielt knabbern

das Publikum

(S. 82)

Es ist in der Tat fraglich, ob die äußerst elaborierten Formulierungen der „SpiegeP'-Redakteure in allen Fällen ihr Publikum erreicht haben, wenn man etwa liest: Im düsteren Gewölbe näht Doktor Frankenstein bald wieder Leichenteile. An weißen Frauenhälsen knabbern Vampir-Zähne. Sie knabbern fürs Publikum der ARD. (Carstensen S. 88)

Heute, 10 Jahre nach der Publikation des Buches von Carstensen, ist es noch unwahrscheinlicher geworden, daß jemand mit diesem Geflügelten Wort derart umgehen würde (wenn man überhaupt noch von einem Geflügelten Wort sprechen kann; dieser Frage sind wir nicht nachgegangen). Wenn man die Geflügelten Worte nicht nur als ein für das 19. Jh. typisches Phänomen (als Bildungszitat etc.) versteht, sondern als eine allgemeinere Kategorie, die analog auch in der Gegenwartssprache eine Rolle spielt, wird man den Begriff des „Autors" weiter fassen müssen. In der heutigen Sprache sind es nicht mehr so häufig literarische Texte, die als Basis für Geflügelte Worte dienen, sondern eher „prosaische" Quellen, wie Filme, Schlager, Werbeslogans etc. (Die neueren Auflagen des „Büchmann" tragen diesem Wandel durchaus Rechnung.) Charakteristisch für diese Verwendung der Geflügelten Worte des neueren Typs ist, daß sie nicht nur ungenau zitiert werden (wie schon die Geflügelten Worte des 19. Jhs., vgl. 4.2.4.), sondern häufig sehr stark abgewan-

46

Klassifikation: Kriterien, Probleme, Terminologie

delt, wobei im Extremfall nur noch ein syn-

Buchtitel. Einige wenige Titel werden aber

taktisches Gerüst die Brücke zum originalen

immer wieder dafür herangezogen, ζ. B.

Wortlaut bildet.

Sonntags nie

Eine Reihe von Arbeiten (Mieder

1975,

Bebermeyer/Bebermeyer 1 9 7 7 , Koller

1977)

haben an einer großen Materialfülle die Arten dieser Abwandlungen demonstriert. Wir geben im folgenden einige Gruppen von Beispielen (nach

den

Sammlungen

von

Bebermeyer/

Bebermeyer). 2 . 5 . 1 . 2 . Geflügelte Worte in der Gegenwartssprache Buchtitel: Der Spion, der aus der Kälte — — — — — —

kam

Der Transporter, der aus der Kälte kam Der Film, der aus der Kälte kam Der Kanzler, der in die Kälte kam Der Spion, der aus dem Kibbuz kam Die Blume, die aus Madagaskar kam Die Wärme, die aus dem Ausgaß kam (S. 5)

(Die Abwandlungen gehen so weit, daß schließlich nur das syntaktische Gerüst erkennbar bleibt: der X, der aus der Y

kam.)

Gruppenbild mit Dame — — — —

Gruppenbild Gruppenbild Gruppenbild Gruppenbild

mit mit mit mit

Kind lauter Damen Mord Rahmen (S. 6)

(Die Abwandlungen sind angewiesen auf den festen lexikalischen Kern Gruppenbild mit..., wobei für X alles aus dem Kontext irgendwie Gerechtfertigte einsetzbar ist.) Diese Art von Geflügelten Worten wechselt ζ. T . sehr schnell mit dem Aktualitätsgrad der entsprechenden Bücher, ζ. T . aber halten sich die Titel noch als sprachliche Schematismen, nachdem das Buch längst nicht mehr brandneu ist. Brechts „Der gute Mensch von Sezuan" erschien 1 9 4 2 , aber in Pressetexten der ersten Hälfte der 70er Jahre erscheint der Titel immer noch in vielfältigen Abwandlungen: — der gute Mensch von Süd-Dakota ( = Mac Govern) — der gute Mensch von Marokko — der gute Mensch von Köln (S. 7) Filmtitel: Nach Bebermeyer/Bebermeyer werden Filmtitel seltener zum Anlaß für Sprachspiel als

— Dienstags nie — Sonntags doch

Scheidung auf Italienisch

— Scheidung auf Vatikanisch — Scheidung auf Französisch — Scheidung auf berlinisch — Rettung auf bayerisch (hier ist nur noch das Muster X auf Y erhalten, mit der Spezifikation, daß X ein -ung-Abstraktum und Y Adjektiv zu einem Ländernamen ist) Titel von Fernsehsendungen: In der ersten Hälfte der 70er Jahre sind es noch wenige Sendungen, deren Titel sich im Bewußtsein verfestigen (wie es heute damit steht, müßte untersucht werden): Das Wort

zum Sonntag wird zu Das Wort zum Alltag (seinerseits

eine

regelmäßige

Rubrik

im

„Stern"), Der Mord zum Sonntag, Das Wort zum Wahlsonntag (S. 11 f.) In der „Abstimmungszeitung der Zürcher Koordinationsgruppe Atomschutz" (den Sozialdemokraten nahestehend) vom 2 5 . August 1 9 8 0 findet sich in einem Artikel über die Problematik des Atommülls ein fett gedruckter

Zwischentitel Und ewig strahlt der

Abfall...,

eine beinahe schon parodistische Anspielung auf den Buchtitel Und ewig singen die Wälder von Trygve Gulbranssen (deutsch München 1935). Hier fragt man sich, wieviele der Leser des Blattes die Parodie noch verstehen werden. Angesichts der Ergebnisse des unten (2.5.1.3.) beschriebenen Tests dürfte es bestenfalls die ältere Generation sein, die mit dieser Anspielung noch etwas anfangen kann. Liedtitel: Es sind einerseits traditionelle Volkslieder, die zu Abwandlungen Anlaß geben, andererseits modische Chanson-/, Schlagertitel. Anspielungen auf Volkslieder sind etwa: Im Märzen der Bayer Alle Jahre bieder In schnulzi jubilo Die Freizeit, die ich meine Das Wandern ist des Wählers Lust Guter Mord, du gehst so stille

47

Zwei Sonderfälle Anspielungen auf zeitgenössische Schlager finden sich in den Sammlungen von Bebermeyer/ Bebermeyer viel weniger, ζ. B.: Pack die Bademode (statt Badehose)

ein. (S. 14 ff.)

Werbeslogans: Es ist eine oft beobachtete Tatsache, daß Werbeslogans „zu sprichwörtlicher Formelhaftigkeit verfestigt" (Bebermeyer/Bebermeyer, S. 19) werden können. M a n nimmt sogar an, daß besonders eingängige Slogans Platz und Funktion des herkömmlichen Sprichwortgutes in der Alltagssprache einnehmen können (vgl. 4.2.3.). Ein Beispiel aus der Nachkriegszeit, das bis heute seine Produktivität nicht eingebüßt hat, ist der Slogan Neckermann macht's möglich. Für Neckermann kann, je nach Situation, nahezu jeder beliebige Name eingesetzt werden: Nixon macht's möglich Filbinger macht's möglich Mao macht's möglich Renault macht's möglich Dabei ist interessant zu sehen, daß der Slogan auch innerhalb der Werbung selbst von anderen Firmen produktiv weiterverwendet wird (ζ. B. Renault) und daß der Slogan gegen den „Autor" selbst verwendet werden kann: Neckermann hat's nötig (ein Artikel in der „Zeit", der von der schlechten Wirtschaftslage des Konzerns handelt.) Solcher Art also sind die gängigen Geflügelten Worte unserer Zeit. Von den Geflügelten Worten des 19. Jahrhunderts ist — laut den vorliegenden Sammlungen zur Gegenwartssprache — nur wenig Übriggeblieben. Gehalten haben sich einige wenige Klassikerzitate, die allerdings in journalistischen Texten recht häufig und in immer neuen Abwandlungen erscheinen: So ist die Gretchenfrage immer noch aktuell (Faust I, V. 3 4 1 5 Nun sag', wie hast du's mit der Religion?), wobei Gretchenfrage selbst schon ein phraseologisiertes Kompositum ist. Gretchenfrage selbst kann als abgewandeltes Kompositum erscheinen: Kama stellt die Brötchenfrage (nach Büchmann, S. 2 0 0 ) .

— die Gretchenfrage wie hältst du's mit der Neutralität — wie hältst du's mit der Mitbestimmung? (S. 23) Daß nicht nur die Original-Formulierung der .Gretchenfrage' verfestigt ist, sondern das Substantiv Gretchenfrage sich verselbständigt hat und zu einem freien Lexem geworden ist, zeigen Texte wie dieser: „Kommunistische" Gretchenfrage an Mitterand [Überschrift] ( . . . ) daß die Sozialistische Partei von links wie von rechts die gleiche Gretchenfrage zu hören bekommt: Wie hast du's mit den Kommunisten? (NZZ 27. 1. 1981) Es gibt offenbar Gretchenfragen als eine ,Art' von Fragen, wie die Adjektive kommunistisch und (die) gleiche belegen, und im gleichen Text wird die ,Gretchenfrage' selbst (abgewandelt) zitiert. 2 . 5 . 1 . 3 . Zur Rezeption von Geflügelten Worten Schon im Vorangehenden stellte sich die Frage, inwieweit im Einzelfall, im konkreten Textzusammenhang ein als Geflügeltes Wort identifizierter Ausdruck für den Rezipienten auch als ein solcher erkennbar ist. Theoretisch sind hier mehrere Möglichkeiten denkbar, ζ. B.: (1) Der Leser erkennt den Text und weiß, woher er stammt. (In diesem Fall handelt es sich auch für diesen individuellen Rezipienten um ein Geflügeltes Wort) (2) Der Leser kennt den Text als feste Struktur und hat eine feste Vorstellung von der lexikalischen Normalbesetzung dieser Struktur, die aber nicht mehr mit der eigentlich originalen Form des Geflügelten Wortes übereinstimmen muß. Der Leser hat möglicherweise eine Vorstellung von der Herkunft des Ausdrucks, die aber nicht mit der historisch richtigen Herkunft übereinstimmt. (Für diesen Leser handelt es sich nur noch subjektiv um ein Geflügeltes Wort. Von diesem Tatbestand gibt es viele individuelle Ausprägungen). (3) Der Leser kennt oder erkennt die Wortverbindung als fest, verbindet damit aber keine Vorstellung von einer konkreten

48

Klassifikation: Kriterien, Probleme, Terminologie

Herkunft (Autor, Titel . . . ) . Für diesen Leser unterscheidet sich die Verbindung nicht von sonstigen Phraseologismen. (4) Der Leser kennt oder erkennt den Ausdruck nicht als fest. Für ihn handelt es sich also um eine beliebige freie Wortverbindung. Um festzustellen, wie diese Möglichkeiten bei tatsächlicher Textrezeption realisiert werden, führten wir einen Test durch anhand von Geflügelten Worten, wie sie in Werbetexten vorkommen. Daß Werbung sich der verschiedensten Mittel spielerischer und verfremdender Verwendung von Sprache bedient, um die Aufmerksamkeit auf das Produkt zu lenken, ist hinlänglich bekannt und wird in 3.2.3. am spezifischen Umgang mit phraseologischem Material gezeigt. Uns interessierte nun insbesondere zu wissen, was der Rezipient im konkreten Fall mit solcher Art Sprache anfängt. Wir machten dabei eine Reihe von Vorannahmen: 1. Der Werbetexter geht sehr bewußt mit Sprache um und bedient sich absichtlich bestimmter Techniken der Verwendung und Veränderung von Geflügelten Worten, von wörtlicher Reproduktion bis hin zu bloßen Anspielungen. (Wenn es sich im Einzelfall um eine nicht beabsichtigte Anspielung handeln sollte, so steht dahinter doch ein Muster, das in der Werbesprache gängig ist und das im allgemeinen intentional eingesetzt wird.) 2. Der Werbetexter nimmt an, daß der Leser mindestens den Eindruck hat, es handle sich um nicht ganz eindimensionale, selbstverständliche Verwendung von Sprache, daß der Leser also potentiell in der Lage ist, ζ. B. eine Anspielung auf ein Geflügeltes Wort zu verstehen. 3. Bei Anspielungen „merkt" der Leser, daß etwas derartiges vorliegt, wobei aber über den Grad der Bewußtheit dieser Reaktion nichts ausgesagt sein soll. Es ist auch nicht vorauszusetzen, daß jeder Leser seine Reaktion zu verbalisieren imstande sein müßte. Für unsere Untersuchung war jedoch nur das von Inter-

esse, was auch verbalisiert werden konnte. Wir sind anhand einer Auswahl von Stellen in Werbetexten, die also mehr oder weniger wörtlich auf einen anderen Text (genannt „Basistext") verweisen, der Frage nachgegangen, wieweit solche — sonst empirisch u. W. noch nicht überprüfte — Annahmen haltbar sind. Wir legten die folgende Liste mit 17 Textitems zwei Gruppen von Vpn vor, mit der Aufforderung zu notieren, ob sie sich (1) durch den Text oder ein oder mehrere Elemente des Textes an irgendeine andere Formulierung oder einen anderen Text erinnert fühlten (die Frage war bewußt so vage ausgedrückt), und (2) ob sie sich gegebenenfalls erinnern könnten, auf welche Quelle diese(s) Element(e) zurückzuführen sei(en). 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13

14 15 16 17

Weil sie Trends setzt, welche die Welt erobern. (Rado, Uhr). Einsenden bis zum 3 1 . 7 . 1980. Und — toi, toi, toi! (Wettbewerb). Der Duft, der aus der Sonne kam. (Jacaranda, Parfüm). Meine Milch, die hat 4 Ecken. (Weiße Schokolade, Nestle). Nur ein schwarzer Kaffee erzählt die ganze Wahrheit. (Idee Kaffee). Manche mögen's weiß. (Quark-Rezepte). Genuß von der Stange. (Spargel). Mutter werden helfen ist hart (Caro Kaffee, Hebamme im Bild). Gewußt von welchem Stück. (Fleisch-Lexikon). Urlaub vom Tag. (Castalia, Schaumbad). Es darf gesüßt werden. (Assugrin). Qualität, die von der Frische kommt. (Gemüse). Wenn es draußen grau und trist ist, treiben drinnen die blauen Blumen der Phantasie um so üppigere Blüten. (Schweppes, blaue Flasche auf Tisch). Die Welt, in der es sich zu leben lohnt. (Goebel, Porzellan). Der kürzeste Weg zwischen Küche und Keller: Der erste Kühl-Gefrier-Bosch mit Kellerfach. Wenn immer Sie im Licht stehen: Juvenance Hautpflege. Die dezente Kühle, die auf den ersten Blick als ein Hauch von Unnahbarkeit erscheinen mag. (Platin Gilde).

Bei der Auswahl der Testbeispiele gingen wir von unserer eigenen subjektiven Leseerfahrung

Zwei Sonderfälle aus: Wir wählten Sätze, bei denen uns der dahinterstehende Basistext und die Quelle sofort einfielen (ζ. B. 3), solche, bei denen wir den Basistext im Kopf hatten, ohne daß wir die Quelle genau hätten angeben können (ζ. B. 14) bis hin zu einem Satz, bei dem wir nur eine ungefähre Ahnung hatten, daß etwas dahinterstecken könnte, ohne aber den präzisen Wortlaut oder die Quelle zu erinnern (17). Nachträglich versuchten wir die Hintergründe so weit wie möglich zu verifizieren. Bei den Vpn handelte es sich (1) um eine Gruppe von 45 Studenten eines germanistischen Proseminars, (2) um eine Gruppe von 40 Deutsch-Lehrern, die für eine Fortbildungsveranstaltung zusammengekommen waren. Die Gruppe der Lehrer war altersmäßig gemischt, doch lag das Durchschnittsalter zwischen 30 und 4 0 Jahren. Die Lehrergruppe ist also nahezu um eine Generation älter als die Studentengruppe. Beide Gruppen sind einem, auf die ganze Bevölkerung bezogen, sehr hohen Bildungslevel zuzuordnen (Abitur, begonnenes bzw. abgeschlossenes Hochschulstudium). Da die Testaufgabe offen formuliert ist, entspricht der Test nicht der realen Rezeptionssituation von Werbetexten. Vielmehr zwingt er zur Suche nach passenden Assoziationen, er lenkt die Aufmerksamkeit in die Richtung, die von den Werbetextern gewünscht wäre. Wenn also für ein Item keinerlei Antwort gegeben wird, darf man annehmen, daß der Vp wirklich „nichts eingefallen" ist. Und wenn eine Antwort gegeben wird, heißt das noch nicht unbedingt, daß die Vp die gleiche Assoziation auch bei der realen Lektüre des Werbetextes gehabt hätte, sondern nur: daß ihr diese Assoziation — in Verbindung vielleicht mit anderen Stimuli (ζ. B. Bild) — möglicherweise gekommen wäre. Angesichts der Testaufgabe ist es zunächst erstaunlich, in wie vielen Fällen die Vpn keine Antwort gegeben haben. Bei 1, 2, 5, 7, 10, 14, 15, 18 sind (für beide Versuchsgruppen) mindestens die Hälfte der Antworten leer (selbst wenn man das marginale Beispiel 17 ausklammert, sind dies wohl unerwartet viele Fälle). Bei 10 gar gaben 27 Lehrer und 33 Studenten keine Antwort, bei 15 waren es

49

26 Lehrer und 34 Studenten, bei 5 in beiden Gruppen rund 3 A. Das deutet daraufhin, daß die Raffiniertheit der Werbebotschaft zu einem großen Teil den Rezipienten nicht erreicht. Diese Konsequenz ist um so näherliegend, als unsere Versuchsgruppen aus der Spitze der Bildungspyramide gewählt waren. Hier müßten weitere Untersuchungen mit einem bildungsmäßig und sozial breiter gestreuten Sample von Vpn ansetzen. Reaktionen, wie sie wohl im Sinne der Werbetexter wären, sind bei 4 und 6 zu beobachten: die Vpn haben durchgehend den Eindruck des dejä vu, sie kennen den Basistext. Das ist für den angestrebten Effekt sicher hinreichend. Wenn sie darüberhinaus bei 6 noch die genaue Quelle erinnern, verstärkt dies den good-will-schaffenden Bekanntheitseffekt. Bei 4 haben alle Lehrer eine Antwort gegeben, von den Studenten gaben 7 keine Antwort. Mit einer Ausnahme (Rad) wurde erkannt, daß Milch für Hut substituiert ist. Und nur wenige Vpn merkten nicht, daß es statt vier ursprünglich drei hieß. Als Quelle wurde durchgehend angegeben etwas wie „Lied", „Volkslied", „Kinderlied", „Chanson". 1 Vp schrieb „neapolitanisches Volkslied", was die präzise „richtige" Lösung sein dürfte. Auch in 6 ist das Resultat sehr homogen: Bei den Lehrern gaben nur 3, bei den Studenten 5 keine Antwort. Fast alle Antworten geben den richtigen Text Manche mögen's heiß, darüberhinaus wird häufig der englische Originaltext notiert (16mal bei den Lehrern, 12mal bei den Studenten). Als Herkunft wird durchgehend „Film" angegeben, ca. die Hälfte der Antworten weist auf M. Monroe hin, einige dazu noch auf B. Wilder und T. Curtis. Item 6 zeigt eine Erscheinung, die durchgehend zu beobachten ist und die zu erwarten war: daß primär der Basistext erinnert wird, sekundär die Quelle. Oft kennt man den Text, ohne zu wissen, woher er stammt. Die einzige Abweichung von dieser Regel bildet Item 15. Unter den relativ wenigen Antworten, die hier gegeben wurden, bilden die „richtigen" Lösungen die einzige homogene Gruppe (7 bei den Lehrern, 6 bei den Studenten). Und hier wird durchgehend auf die Herkunft „Geometrie" verwiesen, wäh-

50

Klassifikation: Kriterien, Probleme, Terminologie

rend der Basistext, wenn überhaupt, sehr unterschiedlich formuliert ist. Das liegt wohl daran, daß es für den Basistext tatsächlich keine einheitliche, verbindliche Formulierung gibt. Daß die Rezeptionsfähigkeit der Leser nicht den Erwartungen des Texters entspricht, demonstriert besonders kraß das Nebeneinander der Items 3 und 12. Beidä sind mit größter Wahrscheinlichkeit von dem Basistext Der Spion, der aus der Kälte kam (Roman von J. Le Carre) abgeleitet. Daß dies auch für 12 anzunehmen ist, wird durch die außerordentliche Produktivität dieses Basistextes in Journalismus und Werbung nahegelegt (vgl. 2.5.1.2.). In 6 wird von beiden Gruppen weit überwiegend der richtige Basistext angegeben, bzw. eine Variante dieses Textes, und auch die Quelle ist vielen Vpn bekannt. Leer sind nur 6 Antworten bei den Lehrern, 11 bei den Studenten. Ganz anders das Bild bei 12: Bei den Lehrern finden sich 27 leere Antworten, bei den Studenten 38. Den Verweis auf Item 3 geben immerhin noch 8 Lehrer, aber nur 3 Studenten. Dazu kommen einige Antworten, die in die Richtung des Basistextes weisen (mehr oder weniger textgetreu, s. u.). Die Quelle wird — mehr oder weniger genau — nur von den Lehrern angegeben, von den Studenten nur einmal. Fazit: in 12 ist der Basistext offenbar nur sehr schwach erkennbar. Und dies trotz der Anordnung des Items 12 im Text: daß die Anspielung schon einmal vorkam (in 3), und daß sie dort meist wörtlich realisiert wurde, genügt offenbar nicht, um auch in 12 diese Assoziation hervorzurufen. Der Grund ist offensichtlich: die Formulierung in 12 ist sprachlich schon zu weit vom Basistext entfernt, als daß sie noch durchgehend als Anspielung verstanden würde: Qualität, die von der Frische kommt Der Spion, der aus der Kälte kam

Das syntaktische Gerüst ist identisch und der Verbstamm komm-, sonst aber sind alle lexikalischen Elemente substituiert, außerdem das Tempus von kommen. Sieht man die Items durch, bei denen die überwiegende Zahl der Antworten leer ist, so

kann man verschiedene mögliche Wege der Reaktion auf eine so beschaffene, offenbar nicht leichte Aufgabe beobachten. Wo Ausdehnung und Struktur des Werbetextes es erlauben, versuchen die Vpn je andere Lösungen, die an je andere Elemente des Werbetextes anknüpfen. So in 1: Hier durchkreuzen sich zwei hauptsächliche Lösungsmuster. (1) der Basistext Die Bretter, die die Welt bedeuten (aus der letzten Strophe von Schillers Gedicht „An die Freunde", vgl. Büchmann S. 266) und ein weniger scharf umrissener Text (2) X, die die Welt erobern. Daraus ergeben sich, getrennt nach den Gruppen, die folgenden Lösungsschemata (s. Grafik auf S. 51). Wer den ersten Basistext richtig zitiert, weiß durchwegs, daß er etwas mit ,Theater' zu tun hat. Die Schlüsse auf die Quelle führen dann aber gerade in die Irre: Shakespeare, Goethe, Vorspiel zu „Faust" u. ä. (Dies Resultat ist wohl charakteristisch für die Geflügelten Worte aus der Epoche der Klassik, die auch heute noch geläufig sind.) Der zweite Basistext wird sehr diffus angegeben, und die meisten verzichten auf eine Quellenangabe (einmal „richtig" Plattenalbum angegeben). Zu diesen beiden Hauptlösungen kommen noch vereinzelte andere Antworten hinzu, die an andere Elemente des Werbetextes anknüpfen: trendsetter die Jeans-Hose Trends setzen Der Duft der großen weiten Welt (knüpft nur an Welt an!)

Bei 15 finden sich außer dem Komplex, der an den Geometrie-Lehrsatz anschließt, folgende weitere Lösungen (mit wechselnden Bezügen zum Werbetext; diese sind (kursiv) hervorgehoben: Der kürzeste Weg zur Hölle Der kürzeste Weg zwischen Himmel und Hölle (2mal) Der kürzeste Weg, einander näherzukommen Der direkteste Weg ist nicht immer der beste Viele Wege führen nach Rom Das Beste aus Küche und Keller Nur Kinder, Küche und Kirche („oder so ähnlich")

Der relativ lange Satz 17 bietet drei mögliche

51

Zwei Sonderfälle LEHRER

STUDENTEN

Komplexe der Anknüpfung, wobei aber der dritte stark dominiert: (1) Die dezente Kühle:

Die dezente Küche (2) auf den ersten Blick Liebe auf den ersten Blick (3mal) (mit Angabe „Redensart" o. ä.) (3) Ein Hauch von Unnahbarkeit: Ein Hauch von Unnahbarkeit (3) (unverändert!) Ein Hauch von Nerz (2) (1 mit Angabe „Film") [Dies ist der „richtige", auf einen Filmtitel (vgl. Carstensen 1 9 7 1 , S. 88) zurückzuführende Basistext.)] Ein Hauch von Luxus (1) Ein Hauch von Zärtlichkeit (1) Ein Hauch von Frische (zusätzliche Angabe „Werbung") (1) Ein Hauch von EVE steht jeder Frau („Zigarettenreklame") a Touch of . . . („engl.")

Dazu kommen noch allgemeiner formulierte Assoziationen, die nicht auf den genauen Wortlaut zielen: „Anlehnung an klassische Literatur, richtet sich an gebildete' Leute, die Geld haben" „Scheint wie eine viktorianische Beschreibung einer Dame"

Ein Teil der unter (1) und (3) aufgeführten Assoziationen zeigt ein Phänomen, das in zahlreichen Items zu beobachten ist: die Vermittlung der Assoziation über andere Werbetexte. Ein Werbespruch erinnert an den nächsten.... Die Werbesprache bildet eine Art kohärentes Textkorpus, innerhalb dessen zahlreiche Querverbindungen verlaufen, das Verweise in sich zuläßt (von der Seite des Produzenten her gesehen: das solche Verweise wohl bewußt schafft, wie die vielen Variationen immer des gleichen Musters, ζ. B. des Spions, der aus der Kälte kam, demonstrieren). Die Assoziation die dezente Küche zeigt, daß der Rezipient mit leichten phonetischen oder morphologischen Varianten rechnet. So auch im (sonst sehr einheitlich „richtig" behandelten) Item 11, wo Es darf gesüßt werden auch zurückgeführt wird auf Es darf gegrüßt

werden (1)

Es darf gesündigt werden (1) Es darf geküßt

werden (3)

(Hier ist die Assoziations-Schiene — neben dem grammatischen Gerüst — offenbar das ü in gesüßt.)

52

Klassifikation: Kriterien, Probleme, Terminologie

In 10 (Urlaub vom Tag) bieten die beiden Substantive (das erste meist in Kombination mit der Präposition) zwei verschiedene Gleise für Assoziationen an: (1) Urlaub Urlaub Urlaub Urlaub Urlaub Urlaub Urlaub Urlaub

vom Ich (6) vom eigenen Ich (1) vom Tage (1) vom Alltag (3) vom Geschäft (1) vom zu Hause (1) bis zum Wecken (1) nach M a ß (2)

(2) Meldung vom Tage Meldung von Tag zu Tag Das Neueste vom Tage

Hinzu kommen Verweise auf weitere Phrasen des Werbebereiches: Mach mal Pause („Coca Cola") Take a break from it all Cut away from it all

In 5 (Nur ein schwarzer Kaffee erzählt die ganze Wahrheit) sind die Assoziationen sehr diffus, sie knüpfen an einzelne Lexeme oder auch die Struktur des ganzen Satzes an: Nur ein ganzer Mann Nur ein toter Neger ist ein guter Neger Nur ein toter Indianer ist ein guter Indianer (2) kalter Kaffee Nur Kinder und Narren erzählen die Wahrheit Narren und Kinder erzählen die Wahrheit Im Wein liegt die Wahrheit (statt: Kaffee) In vino Veritas (2) Dies ist nur die halbe Wahrheit (2) Halbwahrheiten die ganze Wahrheit sagen (2) er erzählt nicht die ganze Wahrheit

5mal wird auf die Schwurformel vor Gericht verwiesen, mit mehr oder weniger genauem Wortlaut, einmal über die Vermittlung des Fernsehens (!), nämlich die Sendung „Fernsehgericht". 6mal wird darauf verwiesen, daß das Wahrsagen aus dem schwarzen Kaffeesatz im Aberglauben eine Rolle spiele (ohne Formulierung eines bestimmten Basistextes). Am anderen Ende der Skala möglicher Reaktionen auf eine schwierige Aufgabe liegen die Lösungen von Item 2. Röhrich (1973, S. 1080) notiert zu toi toi toi:

toi-toi-toi. Die Wndg. Unberufen, toi-toi-toi! ist um 1930 durch einen Schlager verbreitet worden; sie steht jedoch mit einem alten Volksglauben in Zusammenhang: Lobende Äußerungen wurden allg. gefürchtet, weil diese die bösen Geister aufmerksam und neidisch machen konnten. Um kommendes Unheil abzuwehren, mußte man deshalb dem Lob sofort ein unberufen hinzufügen. Diese Schutzhandlung wurde noch durch dreimaliges Klopfen auf Holz und den Ausruf Toi-toi-toi! verstärkt, der lautmalerisch für dreimaliges Ausspucken steht. Der Speichel galt als unheilbannend. Das Ausspucken vor einem Menschen war also ursprünglich ein Abwehrzauber, kein Zeichen der Verachtung wie heute. Auch das zuerst eingenommene Geldstück, das noch mehr Reichtum bringen, der Spielwürfel, der Gewinn garantieren sollte, wurden bespuckt. Die Formel toi-toi-toi wird heute unabhängig von unberufen gebraucht, wenn man jem. zu einer schwierigen Aufgabe, ζ. B. zu einer Prüfung, gutes Gelingen wünschen möchte.

In diesem Item wird ausschließlich das Element toi toi toi herangezogen und unverändert als Basistext identifiziert. Der Grund ist offensichtlich: toi stellt kein selbständiges Morphem der deutschen Sprache dar, die Verbindung toi toi toi ist also unzweifelhaft das Element des Textes, auf das die Aufmerksamkeit gerichtet wird. In diesem Fall verlagert sich das Problem auf die Angabe der Quelle. Der historische Ausgangspunkt wird nur noch spurenweise vermerkt, dominant sind die sekundären Formen, und hier ist es insbesondere ein konkretes „Ereignis", die gleichnamige Fernsehsendung (die zweimal mit Frankenfeld, einmal mit Kuhlenkampff, einmal mit Kurt Felix in Beziehung gebracht wird! — wichtig ist offenbar die Reminiszenz an irgend einen bekannten Quizmaster). Starke Einheitlichkeit der Lösungen, trotz Schwierigkeit der Aufgabe, ergibt sich in 7 (Genuß von der Stange), wegen der Kürze des Textes und weil von der Stange als feste Einheit erkennbar ist. Durchgehend wird verwiesen auf Kleider (mit Varianten: Anzug, Kauf) von der Stange, mit Angabe der Quelle „Textilbranche" o. ä. Daneben sind nur zwei anders verlaufende Assoziationen zu registrieren: Genuß ohne Reue

Zwei Sonderfälle Bier vom Faß (nur aufgrund der Struktur)

Ebenfalls sehr einheitlich, bei mehr als der Hälfte Leerantworten, sind die Reaktionen in Item 14. 15 Lehrer und 17 Studenten geben als Basistext die „richtige" Formulierung: Die Welt, in der wir leben

Nach Büchmann (S. 790) handelt es sich um den „Titel der deutschen Ausgabe (MünchenZürich 1956, dte. Bearbeitung von Watson/ Bolle) einer Artikelserie in der nordamerikanischen Zeitschrift „Life" von L. Barnett und der Redaktion der „Life" über die Naturgeschichte unserer Erde in Buchform: „The world we live in"." Neben dem zutreffenden Text finden sich nur wenige Varianten. Als Quelle wird meist „Buchtitel" angegeben, daneben noch „Knaur-Sachbuchtitel", „populärwissenschaftliches Buch", „Disney", „Fernsehsendung". Warum hier, trotz der vielen Leerantworten, der Basistext so homogen erinnert wird, ist ohne weitere Nachforschungen kaum erklärbar. Was die Angaben zur Q u e l l e betrifft, so ergeben sich aus dem Bisherigen als die interessantesten Beobachtungen: — (Historisch gesehen) ursprüngliche Bezüge werden verdrängt durch sekundäre, insbesondere durch Massenmedien vermittelte; im Extremfall wird, wie bei toi toi toi, ein konkretes Fernsehereignis zur neuen „Quelle". So entsteht aus einem Phraseologismus ohne „Autor" ein Geflügeltes Wort mit einer eigentlichen „Quelle". — Die Werbesprache selbst kann zum Bezugspunkt für „immanente" Assoziationen werden. — Häufig bleibt das Zurückführen auf eine Quelle bei der Stufe „Redensart" o. ä. stehen. Sprachlich Verfestigtes tritt somit als „Quelle" neben Situationen, Texten, Autoren auf. Dafür noch ein besonders eindrückliches Beispiel: Item 9 geht auf einen Witz zurück, der eine Zeitlang sehr beliebt war (der Mechaniker, der bei einer Reparatur 50 Pfennige für Arbeit, und 49,50 Mark für gewußt wie berechnet).

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59 Vpn geben den Wortlaut gewußt wie, 10 gewußt wo. Unter den Angaben zur Quelle finden sich nur zwei Hinweise auf „Witz", einer davon mit genauem Verweis. Sonst dominiert die Kategorie „Redensart" usw. (einer schreibt „deutet an, daß man Bescheid weiß"). Von dem ursprünglichen Witz ist das redensartlich „Verwendbare", das auf viele Situationen Anwendbare geblieben und als solches fossiliert. Aus dem Geflügelten Wort ist damit weitgehend ein Phraseologismus im engeren Sinne geworden. Daneben fehlt auch hier nicht der Hinweis auf einen angeblichen „Werbespruch" gewußt wo! Aufschlußreich ist auch der diacbrone Aspekt des Tests, die Folgen des Altersunterschiedes der Versuchsgruppen: Bei Item 3 sind der älteren Gruppe, den Lehrern, der Basistext und die Quelle noch viel geläufiger und genauer bekannt als der jüngeren Gruppe, den Studenten. Der Unterschied bei den Leerantworten ist kaum erheblich (6 Lehrer, 11 Studenten). D . h . bei beiden Gruppen ist noch ein leicht auffindbarer Bezugspunkt vorhanden. Richtig zitiert wird der Titel aber von 27 Lehrern, gegenüber nur 13 Studenten. Nur 2 Lehrer bieten Varianten des Titels an (Der Mann ...; Das Mädchen, das aus der Fremde kam), während 5 Studenten die Variante Der Mann ... präsentieren, und je einer die Varianten Der Agent . . . und Der Mann, der aus dem Westen kam. Assoziationen auf einem anderen Geleise sind bei den Lehrern nur dreimal anzutreffen (jeweils Der Duft der großen weiten Welt), bei den Studenten hingegen 14mal (davon 12 Der Duft der großen weiten Welt und 2mal der sekundär gebildete Buchtitel von G. Wallraff Der Mann, der bei BILD Hans Esser war, mit Angabe des Autors). [Originaltitel: Der Aufmacher. Der Mann, der bei BILD Hans Esser war. 1977.] Entsprechend sind die Angaben zur Quelle bei den Lehrern einheitlicher (mit oder ohne Angabe des Autors), bei den Studenten diffuser. Durch Vergleich mit dem Item 12 wird die Situation noch deutlicher: Bei abnehmender Genauigkeit der Bezüge zum Basistext ergibt sich eine noch größere Diskrepanz zwischen den Altersgruppen. Leerantworten bei den

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Klassifikation: Kriterien, Probleme, Terminologie

Lehrern 27, bei den Studenten 38! Bezug auf den Basistext bei den Lehrern 12mal (jeweils der richtige Wortlaut), bei den Studenten 5mal (zweimal abweichender Wortlaut). Eine ähnliche „Tiefenstaffelung" zeigt Item 8: 27 Lehrer kennen den genauen Wortlaut des Basistextes (Vater werden ist nicht schwer, oft mit Fortsetzung Vater sein dagegen sehr), gegenüber 20 Studenten. 7 Lehrer kennen die Quelle (W. Busch), 5 Studenten. (Im übrigen werden noch Goethe und Kästner bemüht!) Sonst dominiert in beiden Gruppen die Angabe „Sprichwort" u. ä. Nur 1 Lehrer bietet eine Variante an (Mutter werden ist nicht schwer), gegenüber 8 Varianten bei den Studenten (davon 4mal Mutter werden ist nicht schwer, je einmal Mutter werden ist hart mit der Zusatzbemerkung Das Leben ist hart, Vater werden ist nicht hart, Vater sein ist schwer, Mutter sein ist schwer) und einer zusätzlichen, andersgearteten Assoziation bei den Studenten (La vie est dure). Vergleicht man die Fälle 3 (und 12) und 8, so ergibt sich, daß der Grund für die Diskrepanz zwischen den Altersgruppen nicht der gleiche sein dürfte: J. Le Carres Bestseller war für die Studenten zum Zeitpunkt der Publikation noch nicht aktuell. Sie haben das Buch, wenn überhaupt, erst gelesen, als es kein Bestseller mehr war. Somit dürften sie den Basistext überwiegend aus sekundären Quellen (Presse, Werbung etc.) kennen. Wilhelm Busch hingegen ist für beide Altersgruppen ein Autor der Vergangenheit. Warum hier die Lehrer die besseren Reminiszenzen haben, könnte nur eine rezeptionsgeschichtliche Untersuchung zum Werk W. Busches erklären. Ähnlich erklärungsbedürftig ist der — umgekehrt gelagerte — Unterschied bei Item 13: die blaue Blume kennen die Studenten viel genauer als die Lehrer (8mal nennen die Studenten Novalis, einige sogar „Heinrich von Ofterdingen", von den Lehrern hingegen nur einer; dafür bieten die Lehrer zusätzlich noch Brentano und Rilke an). Der Basistext lautet: Die Eltern lagen schon und schliefen, die Wanduhr schlug ihren einförmigen Takt, vor den klappernden

Fenstern sauste der Wind; abwechselnd wurde die Stube hell von dem Schimmer des Mondes. Der Jüngling lag unruhig auf seinem Lager, und gedachte des Fremden und seiner Erzählungen. Nicht die Schätze sind es, die ein so unaussprechliches Verlangen in mir geweckt haben, sagte er zu sich selbst; fern ab liegt mir alle Habsucht: aber die blaue Blume sehn' ich mich zu erblicken. Sie liegt mir unaufhörlich im Sinn, und ich kann nichts anders dichten und denken. So ist mir noch nie zu Muthe gewesen: es ist, als hätt' ich vorhin geträumt, oder ich wäre in eine andere Welt hinübergeschlummert; denn in der Welt, in der ich sonst lebte, wer hätt da sich um Blumen bekümmert, und gar von einer so seltsamen Leidenschaft für eine Blume hab' ich damals nie gehört (. ..) Endlich gegen Morgen, wie draußen die Dämmerung anbrach, wurde es stiller in seiner Seele, klarer und bleibender wurden die Bilder. Es kam ihm vor, als ginge er in einem dunkeln Walde allein ( . . .) Es dünkte ihn, als umflösse ihn eine Wolke des Abendroths; eine himmlische Empfindung überströmte sein Inneres; mit inniger Wollust strebten unzählbare Gedanken in ihm sich zu vermischen; neue niegesehene Bilder entstanden, die auch in einander flössen und zu sichtbaren Wesen um ihn wurden (. . .) Was ihn aber mit voller Macht anzog, war eine hohe lichtblaue Blume, die zunächst an der Quelle stand und ihn mit ihren breiten, glänzenden Blättern berührte. Rund um sie her standen unzählige Blumen von allen Farben, und der köstlichste Geruch erfüllte die Luft. Er sah nichts als die blaue Blume und betrachtete sie lange mit unnennbarer Zärtlichkeit. Endlich wollte er sich ihr nähern, als sie auf einmal sich zu bewegen und zu verändern anfing; die Blätter wurden glänzender und schmiegten sich an den wachsenden Stengel, die Blume neigte sich nach ihm zu, und die Blüthenblätter zeigten einen blauen ausgebreiteten Kragen, in welchem ein zartes Gesicht schwebte (. . .) (Novalis, Heinrich von Ofterdingen, I, Kap. 1, S. 195 ff.)

In Item 10 (Urlaub vom Tag) fällt in beiden Gruppen die hohe Zahl der Leerantworten auf. In den verbleibenden Fällen antworten die Lehrer aber einheitlicher (7mal Urlaub vom Ich bzw. eigenen Ich und drei weitere Antworten, gegenüber 10 verschiedenen Texten bei den Studenten, von denen nur zwei je zweimal vertreten sind). Bei Item 11 zeigt sich die Diskrepanz nicht in der Formulierung des Basistextes. Dieser wird in beiden Gruppen sehr einheitlich richtig

Zwei Sonderfälle

angegeben (Es darf gelacht werden, 33 Lehrer, 34 Studenten). Augenscheinlich ist die Diskrepanz aber bei den Angaben zur Quelle: Die Lehrer geben meist den Bereich „Fernsehen" an, darüber hinaus „Film-Serie" und in 10 Fällen noch genauer „Stummfilm", einmal „mit Werner Schwier". Auch die Studenten verweisen auf den Bereich „Fernsehen", seltener aber auf „Film-Serie", und nur 4mal auf „Stummfilm" (wiederum einmal „mit W. Schwier"). Im übrigen geben die Lehrer 4mal „Redensart" o. ä. an, während die Studentenantworten ein breiteres Spektrum bilden: „Filmtitel", „Kino", „Quiz", „Cabaret", „Floskel", „Mainzer Fasnacht", „Überschrift für Witzspalten in Illustrierten" (2mal). Die letztere Quellenangabe ist insofern interessant, als hier wieder eine massenmedial vermittelte sekundäre Quelle genannt ist (eine Quelle, die tatsächlich existiert). Ein letzter Gesichtspunkt, der auf die Überlegungen von 3.2.3. hinführt: An Item 16 tritt sehr drastisch die Diskrepanz zwischen den durch die „Schlagzeile" des Werbetextes hervorgerufenen Assoziationen und den faktisch gemeinten Eigenschaften des Produktes, wie sie im kleiner gedruckten weiteren Text angegeben sind, zu Tage. Das Item weist ca. zur Hälfte Leerantworten auf. Von der Hälfte der Vpn wird man also annehmen dürfen, daß sie — da sie keine Assoziationen produzieren — Licht nur im Sinne der faktischen Eigenschaften des Produkts auffassen: Täglich ist Ihre Haut Umwelteinflüssen ausgesetzt, die ihrer zarten Struktur schaden können. Von besonderer Bedeutung ist dabei die Lichtenergie, die auf Ihre Haut einwirkt und den Alterungsprozeß. (. . .) Kein Wunder, daß sich Hautwissenschaftler intensiv mit der vorzeitigen Hautalterung durch Licht befassen ( . . . )

Licht ist also etwas Negatives, Schädliches, schädlicher Umwelteinfluß, bewirkt Alterung und so fort. Das Produkt „Juvenance Hautpflege" bietet dagegen einen Schutz (Lichtschutz), sorgt dafür, daß sich die Haut nicht

mehr vor dem Licht zu fürchten hat.

Die Assoziationen der Titelzeilen weisen aber in ganz andere Richtung. 27 Vpn denken an den Phraseologismus im Rampenlicht stehen

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(mit zusätzlichen vergleichbaren Varianten im

Scheinwerferlicht zweimal, In the Lime light einmal). Meist wird als Quelle „Redensart" u. ä. angegeben, gelegentlich „Theaterwelt", „Filmwelt". (Nach Friedrich heißt der Phraseologismus soviel wie ,auf der Bühne (oder in der Öffentlichkeit) tätig sein', was sicher nicht negativ besetzt ist.) Neben dieser Hauptgruppe von Assoziationen gibt es zwei weitere, kleinere Gruppen: Die eine verweist auf die Bibel (ein vermeintliches Bibel-Zitat im Licht stehen·, zwar hat die Bibel eine reiche Licht-Metaphorik, aber dieser genaue Wortlaut ist nicht biblisch), die andere auf Brecht, mit den Basisformulierungen „Die einen sind im Dunkeln und die andern sind im Licht" „. . . , die im Schatten sieht man nicht" „Wir sehn nur die im Licht stehen, die im Schatten „. . . Und die Schatten sieht man nicht"

Der Text heißt im Original (Brecht, Schlußstrophen des Dreigroschenfilms von 1930, nach Büchmann, S. 392): Ist das nötige Geld vorhanden Ist das Ende meistens gut. Denn die einen sind im Dunkeln Und die andern sind im Licht. Und man siehet die im Lichte Die im Dunkeln sieht man nicht.

Auch hier ist im Licht sein die (freilich kritisch beleuchtete) positive Variante zu im Dunkeln sein. Im Sinne des Werbetextes wäre es sicher, wenn die Titelzeilen solche positive Assoziationen hervorrufen würden, ohne Rücksicht auf den tatsächlichen Charakter des Produkts. Die Beziehung zwischen den intendierten Assoziationen zu im Licht stehen und der Verwendung von Licht im weiteren Text sind dann als rein zufällig anzusehen. Es spielt für den Werbe-Gag gar keine Rolle, daß Licht in beiden Fallen etwas ganz anderes bedeutet. Anders gesagt: der Kontext schafft nicht einen Bezug zur derivationellen Basis des Phraseologismus, sondern einen ganz äußerlichen Verweis auf eine andere potentielle wörtliche Bedeutung der Wortverbindung im Licht stehen bzw. des dahinterstehenden Phraseologismus

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Klassifikation: Kriterien, Probleme, Terminologie

im Rampenlicht stehen oder der genannten Brecht-Stellen. Charakteristisch dürfte auch sein, daß der einzige wirklich existierende Phraseologismus den die Kette im Licht stehen enthält, kein einziges Mal assoziiert wird: das negativ besetzte jdm. im Licht stehen (,jdm. schaden'; vgl. auch jdm. in der Sonne stehen.) Unsere Überlegungen zur Produktion und Rezeption von Geflügelten Worten haben gezeigt, daß diese Klasse von Phraseologismen einen oszillierenden Charakter hat: Sie sind nicht eindeutig abzugrenzen von Zitaten auf der einen Seite, Phraseologismen sonstiger Art auf der anderen. Für eine gewisse Zeit und in gewissen sozialen Milieus können sie als konventionelle Gebilde im vollen funktionalen Sinne des Geflügelten Wortes existieren; außerhalb dieses Milieus sind sie vielleicht gar nicht oder nur vage bekannt, und später werden sie zu gängigen Phraseologismen ohne Reminiszenz der Herkunft oder sie verschwinden ganz aus dem Sprachbesitz der Sprachgemeinschaft oder der Idiolekte. In ihrem psycholinguistischen Status zeigen sich starke individuelle Unterschiede, wie aus den Ergebnissen unseres Tests ersichtlich ist.

2 . 5 . 2 . Kinegramme Die von uns so genannte Klasse der „Kinegramme" (Burger 1976) konstituiert sich durch die Einheitlichkeit des von ihr erfaßten außersprachlichen Denotats. Kinegramme können charakterisiert werden als sprachliche Repräsentation außersprachlichen (kommunikativen) Verhaltens. Und von daher haben sie besondere semantische und pragmatische, im besonderen auch stilistische Eigenschaften, die sie aus der Gesamtheit der Phraseologismen herausheben. Im Kontext pragmatischer Sprachforschung ist der Zusammenhang von verbalen und nicht-verbalen Kanälen bzw. Codes von aktuellem Interesse. Von Seiten der unter den Titeln „Kinesik"/„Proxemik" bekanntgewordenen Ansätze zur Beschreibung des nonverbalen Verhaltens wurde die Frage mindestens exponiert, in welcher Weise die Sprache die Modi nonverbalen Verhaltens reflektiert und

konventionalisiert. Die Psychologen Ekman und Friesen (1969) haben für solche Arten nonverbalen Verhaltens, die durch ein Wort oder eine Wortverbindung substituiert werden können (ζ. B. nicken = ja), den Terminus „Emblem" geprägt. Diese Embleme sind die offensichtlich in allen Kulturen am stärksten konventionalisierten nonverbalen Verhaltensformen. Die hochgradige Konventionalisierung spiegelt sich in der Sprache, die die meisten Embleme lexikalisch oder phraseologisch fixiert (nicken, die Achseln zucken). Man darf somit annehmen, daß die Möglichkeiten, die eine Sprache für die verbale Beschreibung nonverbalen Verhaltens anbietet, ein Index sind für den Grad der Konventionalisierung der nicht-sprachlichen Kommunikationsformen. Durch psycholinguistische Experimente könnte ζ. B. die Frage geklärt werden, wieweit die verbale Fixierung von nonverbalem Verhalten die Erkennbarkeit und die Interpretation dieser Verhaltensformen steuert. Bevor man mit solchen Arbeiten beginnen kann, müssen die in der Sprache vorfindlichen Bestände gesammelt und klassifiziert werden. Ein erster Ansatz dazu wurde in Burger (1976) vorgelegt. Vom mimischen Affektausdruck her untersucht Dünker (1979) das in der deutschsprachigen Schweiz zur Verfügung stehende Affektvokabular dieses Bereichs hinsichtlich Quantität und Leistung. Obwohl sie, entsprechend Fragestellung und Untersuchungsanlage, vorwiegend Einzellexeme (Adjektive und Substantive) berücksichtigt, sind die Resultate auch in unserem Zusammenhang von Interesse, weil sie die psycholinguistische Relevanz auch der linguistischen Untersuchungen zu Kinegrammen im allgemeinen demonstrieren. Als Stimuli wurden 33 Fotografien verwendet, die von Ekman et al. in zahlreichen interkulturellen Studien validiert wurden. Bei der Analyse der Lexeme, die von den Versuchspersonen diesen Affektdarstellungen zugeordnet wurden, ergab sich u. a.: Sprache spielt gegenüber dem nonverbalen Verhalten eine nicht nur sekundäre, abbildende Rolle. Vielmehr werden durch die Sprache mimisch visualisierte Affekte identifiziert, und „erst in

Zwei Sonderfälle

der Sprache gewinnen die Affekte Bedeutung und Identität" (S. 277). Dabei erweist sich, daß die Zahl der Lexeme „mit ausschließlich affektivem Denotat (heiter, traurig, böse) limitiert ist. Im Affektvokabular wird also nicht nur die Qualität eines im mimischen Ausdrucksverhalten identifizierten Affektes evident, vielmehr werden auch seine potentiellen Aktualisierungskontexte — mithin auch die „display-rules" — transparent (müde, heruntergearbeitet, Sorgen, verliebt, etc.). (S. 275). In bestimmten Kommunikationssituationen können also auch solche Lexeme zur Benennung nonverbalen Verhaltens eingesetzt werden, die ursprünglich kein „affektives Denotat" haben. Ferner zeigt sich, daß das Affektvokabular, das für den angloamerikanischen Sprachraum gewonnen wurde, in wichtigen Einzelheiten, vielleicht sogar in seiner Gesamtstrukturierung vom Vokabular des deutschschweizerischen Sprachraums abweicht (S. 275). Ergebnisse dieser Art legen den Schluß nahe, daß semantisch orientierte Studien zur Verbalisierung nonverbalen Verhaltens ein unerläßliches Korrelat zu psycholinguistischen Studien in diesem Gebiet darstellen. Uns interessiert hier nur die Frage, inwieweit Phraseologismen an solchen Versprachlichungsprozessen beteiligt sind und was man bereits jetzt über die semantischen Leistungen der Kinegramme aussagen kann. Wie aus den kinesischen/proxemischen Arbeiten und der Studie von Dünker bereits hervorgeht, stellen sich bei der Verbalisierung nonverbalen Verhaltens einige grundlegende Probleme, die zunächst skizziert seien: Bei mimischen und gestischen Prozessen handelt es sich um äußerst komplexe Bewegungsmuster, die als Gesamtbilder, als Einheiten wahrgenommen und interpretiert werden. Die Sprache kann die realen Abläufe natürlich in keinem Sinne einfach „abbilden", wenn man die Verbalisierung nur einmal unter semiotisch-semantischem Aspekt betrachtet. Mit Formulierungen wie ihre Augen glühten, strahlten, er hatte einen stechenden Blick sind nicht Merkmale des Auges selbst bezeichnet, sondern ganze mimische Komplexe.

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Die Verbalisierung nonverbalen Verhaltens besteht also einerseits in Selektion bzw. Abstraktion (das Auge steht für den ganzen Komplex der umliegenden Gesichtspartien), andererseits ermöglicht sie — über eine bloße Spiegelung des Außersprachlichen hinaus — metaphorische und vergleichbare semantische Verschiebungen. Es ist also zu bedenken, worin das spezifisch Sprachliche dieses Verfahrens besteht. Nun gilt es ja für die Sprache nicht nur, das nonverbale Verhalten zu beschreiben, sondern (unter Umständen) auch dessen kommunikative Bedeutung zu kodieren. Bewegungsablauf und dessen Semantik müssen bei der Verbalisierung erfaßt werden. Man könnte einwenden, es genüge, wenn die Sprache das Verhalten selbst charakterisiere, da ja die Bedeutung des Verhaltens kulturell vereinbart sei. Es wird sich aber zeigen, daß die Verbalisierung fast immer auch etwas von der Semantik des nonverbalen Verhaltens aufbewahrt. Damit ergibt sich eine zweischichtige Bedeutung solcher sprachlicher Formen: in der ersten Schicht wird der Vorgang erfaßt, in der zweiten die Bedeutung des Vorgangs. Das hat gewichtige Konsequenzen für die Verwendung der Ausdrücke in Texten. Zur Terminologie: Verbalisierungen von nonverbalem Verhalten nennen wir „Kinegramme". Der Ausdruck bildet für den verbalen Bereich ein Pendant zu Termini wie „Kin", „Kinem", „Allokin", „Kinegraph" (Notationssymbol), die für die Erforschung von nonverbalem Verhalten geprägt wurden. Ein Problem bei der Untersuchung von Kinegrammen, das sich hier vielleicht schärfer stellt als bei anderen sprachlichen Erscheinungen, ist das Verhältnis von Synchronic und Diachronie. Wie auch sonst in der Sprache ist das Diachrone als dynamischer Impuls immer in der Synchronic anwesend. Hier stellt sich die Frage konkret so: Welche Gebärden, die sprachlich kodifiziert sind, sind realiter noch lebendig? (vgl. Röhrich 1960, 1967) „Lebendig" bedeutet Verschiedenes, je nachdem ob man vom Produzenten oder Rezipienten des nonverbalen kommunikativen Verhaltens ausgeht. Produktiv lebendig ist ein nonverbales Verhalten,

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Klassifikation: Kriterien, Probleme, Terminologie

wenn es in alltäglicher Kommunikation de facto ausgeführt wird. Rezeptiv lebendig ist es, wenn es in seiner Bedeutung/Funktion verstanden wird. „Produktiv lebendig" impliziert „rezeptiv lebendig", aber nicht umgekehrt. Beispiel für nonverbales Verhalten, das heute nur noch rezeptiv lebendig ist, wäre der Bereich der bereits aus der Antike ererbten und anscheinend noch bis ins 17. Jh. produktiv verwendeten Trauergebärden: die Hände ringen, (sich) die Haare raufen etc. In diesen Fällen konserviert die Sprache ältere GebärdenPraxis, und es ist anzunehmen, daß die sprachliche Kodifizierung zumindest das Vorstellungsvermögen für derartiges nonverbales Verhalten lange Zeit wachhalten kann. (Für Phraseologisierungsprozesse, die auch das rezeptive Verstehen erschweren oder verunmöglichen, s. u.) Die Frage, welche Verhaltensformen tatsächlich synchron lebendig sind, sei es produktiv oder rezeptiv, ist aus der Sprache selbst nicht endgültig zu beantworten. Rezeptive Lebendigkeit müßte mit psycholinguistischen Mitteln genauer definiert und erforscht werden. Die Verwendung und sprachliche Beschaffenheit von Kinegrammen gibt nur erste Indizien für eine Antwort: So weist die Beschreibung von nonverbalem Verhalten in Bühnenanweisungen und in narrativen Texten mindestens darauf hin, daß der Autor die Gebärde für vorstellbar hält. Man wird also ein möglichst breites Spektrum solcher Textvorkommen analysieren müssen. Ein sprachliches Indiz für absterbende (oder schon abgestorbene), aber noch imaginierbare Gebärden ist die typische irreale Formulierungs-

weise: man könnte sich die Haare ausraufen; Mutter würde die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, wenn sie deine zerrissene Hose sehen würde; nach einem solchen Fehltritt sollte man sich an die Brust schlagen und in sich gehen; dafür würde ich die Hand ins Feuer legen . . . Auch die jeweilige semantische Struktur des Kinegramms kann Hinweise geben auf die Gebräuchlichkeit des nonverbalen Verhaltens (s. u.). Die konventionalisierten Mittel der Sprache, um nonverbales Verhalten zu verbalisieren,

sind einerseits einfache Lexeme (lächeln, sich verneigen), andererseits Phraseologismen (die

Achseln zucken, den Kopf schütteln). (Für weitere nicht im gleichen Maße konventionelle Möglichkeiten vgl. Burger, S. 316ff.). Die Verteilung von Lexemen und Phraseologismen ist einigermaßen deutlich: Mimik und paralinguistisches Verhalten werden vorwiegend mit einfachen Lexemen kodiert, während Gestik in erster Linie mit phraseologischen Ausdrücken oder freien Deskriptionen wiedergegeben wird. Dahinter stehen klare physiologische und wahrnehmungspsychologische Tatsachen: Eine Veränderung der Gesichtszüge ist viel weniger leicht zu diskriminieren als die Bewegungen des Körpers (der Hände, der Füße, der Stellung . . . ) Die Semantik der Phraseologismen ist — wie gesagt — (mindestens) zweischichtig. Betrachten wir zunächst die den bloßen kinetischen Vorgang betreffende Ebene der Bedeutung: Da sind die Phraseologismen das gängigste Mittel, um auffallende Merkmale des kinetischen Ablaufs zu artikulieren. Bei mit der Faust auf den Tisch schlagen liegt eine differenzierte Aktionsbeschreibung vor, mit Angabe des Agens, des Instruments, der Richtung, des affizierten Objekts, mit punktueller Aktionsart und implizit mitverstandener Geschwindigkeit der Aktion. Neben den phraseologischen Typen sind jederzeit auch freie Formulierungen möglich, die ein nonverbales Verhalten in seinen Phasen etc. beschreiben. Bei derartigen Phraseologismen kann man klar eine „wörtliche" Bedeutung, die den kinetischen Vorgang bezeichnet, identifizieren, wobei aber bereits diese Ebene der Bedeutung — im Gegensatz zu den meisten anderen phraseologischen Typen — Bestandteil der phraseologischen Semantik ist. Die zweite, symbolische Bedeutungsebene betrifft den kommunikativen „Wert", die kommunikative „Geltung" des nonverbalen Verhaltens. So bedeutet mit der Faust auf den Tisch schlagen zugleich den äußeren Vorgang und den psychischen Affekt ,in Wut sein'; wenn man von jemandem sagt er runzelt die Stirn, so

Zwei Sonderfälle

beschreibt man sein nonverbales Verhalten und dessen Bedeutung (,etwas beanstanden', ,unzufrieden sein' etc.). Einschränkend ist aber sogleich festzuhalten, daß die zweite Bedeutungsschicht zwar konventionalisiert ist, aber im allgemeinen eine sehr weite semantische Bandbreite hat. Diese Polyvalenz kann verschiedener Natur sein. Ζ. B. — und das ist der für Phraseologismen wichtigste Fall — kann das nonverbale Verhalten selbst polysem konventionalisiert sein. Wenn man den Kopf schüttelt, kann das heißen (1) ,Verneinung', (2) ,Verwunderung'. Entsprechend ist das Kinegramm den Kopf schütteln polysem. Nur eine kleine Gruppe von Ausdrücken, die auch nur mit Vorbehalt als Kinegramme zu bezeichnen sind, ist auf die erste Bedeutungsebene beschränkt. Allenfalls wären zu nennen einfache Lexeme, die rein-physische Körpervorgänge benennen (husten, stolpern, fallen, stottern ...). Die meisten dieser Verhaltensweisen sind aber schon deshalb von geringem Interesse für die nicht-verbale Kommunikation, weil sie nicht willkürlich und damit nicht intentional-kommunikativ eingesetzt werden können. Husten wäre ein Beispiel, wo eine solche Restriktion nicht vorliegt. Aber selbst bei Ausdrücken, die scheinbar nur-physische Vorgänge anzeigen, sind im Augenblick der Verbalisierung meist weitere Konnotationen mitsignalisiert: stolpern ist ζ. B. Signal für ,Ungeschickt-Sein', husten für ,Verlegen-Sein', stottern (im nicht-pathologischen Fall) für ,Aufgeregt-Sein'; man zuckt zusammen ,vor Schreck' usw. Daneben scheint es auch eine größere Gruppe von Ausdrücken zu geben, deren Bedeutung auf die zweite Ebene beschränkt ist. Hier handelt es sich vorwiegend um Phraseologismen:

sich die Haare raufen vor jemandem auf dem Bauch liegen/kriechen jemandem auf die Fersen treten Alle diese „Verhaltensweisen" werden nicht realiter praktiziert. Ob sie früher einmal als Gebärden üblich waren und welche Bedeutung sie damals hatten, das ist eine Frage der Dia-

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chronie. In der Gegenwartssprache bedeutet sich die Haare raufen ,sehr wütend, aufgeregt sein', vor jdm. auf dem Bauch liegen heißt ,unterwürfig, ein Speichellecker sein' und mit jemandem auf die Fersen treten meint man Jemanden kränken'. Wenn die Bedeutung dieser Ausdrücke total einschichtig wäre, hätten wir keinen Grund, sie im Rahmen der Kinegramme zu behandeln. Sie wären einfach solche Phraseologismen, bei denen die Gesamtbedeutung der Kette nichts mehr zu tun hat mit der Bedeutung der einzelnen Elemente. Nun werden sie aber offensichtlich „bildlich" verstanden, das heißt: der reale Vorgang steht als Metapher für den gemeinten nicht-physischen Vorgang. In diesen Fällen ist das Verhältnis der beiden Bedeutungsebenen anders gelagert als bei den sonstigen Kinegrammen. Im Normalfall hat das Kinegramm eine kinetische ( = erste) und eine symbolische ( = zweite) Bedeutung. Beide Bedeutungen verweisen auf Realitäten: die erste auf eine physische, die zweite auf eine sozio-kulturelle bzw. psychische. Wenn diese semantischen Bedingungen gegeben sind, sprechen wir von „echten" Kinegrammen. Bei Ausdrücken des Typs sich die Haare raufen hat nur die symbolische Bedeutung eine reale Referenz. Die wörtliche Bedeutung dient als Metapher für die symbolische. Ausdrücke dieser Art sollen „unechte" oder „Pseudo"-Kinegramme heißen. Einen Extremfall von Pseudo-Kinegrammen stellen solche Ausdrücke dar, bei denen die wörtliche Bedeutung gar nicht oder nur unter grotesken Umständen realisiert werden könnte: jemandem in den Arsch kriechen jemandem auf dem Kopf/auf der Nase herumtanzen den Kopf unter dem Arm tragen.

Hier ist die Gebärde von vornherein nur als Bild denkbar. (Hübsche Beispiele dafür, wie in grotesken bildlichen Darstellungen die wörtliche Bedeutung von Pseudo-Kinegrammen auch dieser letzten Art „realisiert" werden kann, bietet Röhrich 1973.) Allgemein gilt, daß die zweite Bedeutungsebene bei PseudoKinegrammen viel stärker und viel eindeutiger konventionalisiert ist als bei echten Kinegrammen. Dies entspricht dem allgemeinen Befund

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Klassifikation: Kriterien, Probleme, Terminologie

bei stark idiomatisierten Verbindungen. Von der sprachpsychologischen Realität her gesehen ist in diesen Fällen also die „zweite" Bedeutungsebene die primäre. Der Übergang von echten zu unechten Kinegrammen ist fließend. Unterschiede (und Übergänge) können im allgemeinen an den Selektionsbedingungen der Ausdrücke abgelesen werden: Bei echten Kinegrammen lassen sich beide Ebenen durch Zusätze präzisieren/modifizieren: sie — sie —

nickte kaum merklich Modifizierung der wörtlichen Bedeutung nickte bestätigend Verdeutlichung der symbolischen Bedeutung

Meist sind aber auch solche Zusätze beiden Ebenen zugleich zugeordnet: sie nickte energisch — Präzisierung des physischen Vorgangs und Angabe des Grades der Bestätigung

Zusätze auf beiden Bedeutungsebenen können — wenngleich etwas künstlich — kombiniert werden: sie schüttelte leise den Kopf über seine Schüchternheit. leise modifiziert den physischen Vorgang; die Präpositionalphrase [über + Nomen (Akkusativ)}, die der Rektion von sich wundern entspricht, ist Signal für die symbolische Ebene. Bei nur kinetischer Bedeutung des Ausdrucks wäre dieser Valenztyp nicht möglich (statt [über + Nomen (Akk.)] könnte höchstens [über + Nomen (Dativ)] auftreten: über dem Tisch; doch wäre eine solche Formulierung nur in einem sehr konstruierten Kontext vorstellbar). Das heißt: Dadurch daß der Ausdruck zusätzlich zur kinetischen noch eine symbolische Bedeutung gewinnt, wird in der Valenz der Verbalphrase eine neue Leerstelle geöffnet (parallel zu sich wundern über [...]').

Ähnliches gilt auch für die Achseln zucken, die Stirn runzeln u. a. Wenn modifizierende Zusätze fehlen, ist impliziert, daß beide Bedeutungsebenen zugleich realisiert werden.

Bei den Pseudo-Kinegrammen werden die Selektionsverhältnisse durch die symbolische Bedeutung determiniert: a) Er griff ihr finanziell unter die Arme b) Er steckt die Nase zu sehr in die Angelegenheiten anderer Leute. c) Er schüttelte die Lösung aus dem Handgelenk. d) Du bist ihm mit deinem Spott bös auf die Zehen getreten.

Wenn diese Selektionsbedingungen verletzt werden, kann die Phrase in eine Beschreibung kinetischer Vorgänge überführt werden, dann allerdings ohne symbolische Bedeutung: a') Er griff ihr mit seinen starken Arme b') Er steckte die Nase in den c') Er schüttelte Kaninchen aus d') Du bist ihm mit ganzer Kraft treten.

Händen unter die Marmeladentopf. dem Handgelenk, auf die Zehen ge-

Doch ist es bezeichnend für den idiomatischen Charakter der Pseudo-Kinegramme, daß die Rückführung auf den kinetischen Sinn bei unveränderter lexikalischer Abfolge merkwürdig wirkt. Deshalb würde man, wenn die kinetische Ebene gemeint ist, mit leichten Nuancen anders formulieren, um den Anklang an die feste idiomatische Verbindung zu vermeiden: ζ. B. Du bist ihm mit ganzer Kraft auf beide Zehen (auf den linken/rechten kleinen Zeh) getreten. Man vergleiche im weiteren: a. Sie rieb ihm seinen Faux-pas unter die Nase, a'. Sie zerrieb ein Lorbeerblatt unter seiner Nase. b. In diesen Zeiten der Inflation ist es schwer, den Kopf über Wasser zu halten. b'. Der Mann bemühte sich verzweifelt, den Kopf über dem Wasser zu (behalten. c. Er verschloß die Augen vor dem drohenden Bankrott. c'. Bei dieser schrecklichen Szene Schloß er die Augen.

3. Grundbegriffe In diesem Kapitel wird zunächst eine Reihe von Grundbegriffen vorgestellt, die für Charakterisierung und Abgrenzung des phraseologischen Bereichs in der sowjetischen Forschung eine zentrale Rolle spielen. Sodann wollen wir, anhand deutschen Materials, die Problematik eines besonders wichtigen Grundbegriffs, der „Festigkeit", diskutieren, vor allem die Frage, welches der tatsächliche Spielraum, die faktische Variabilität der sogenannt „festen" Wortverbindungen in der Sprachverwendung ist.

3.1. Die phraseologischen Merkmale (auf der Basis der sowjetischen Forschung) In sowjetischen Arbeiten zur Phraseologie spielen die sogenannten phraseologischen Merkmale eine entscheidende Rolle. Nicht nur versucht man mit den betreffenden Termini einzelne Phraseologismen bzw. Gruppen von Phraseologismen zu unterscheiden und zu charakterisieren, die Merkmale dienen überhaupt der Abgrenzung der Phraseologie einer Sprache von ihren anderen Ebenen und Subsystemen. In der Geschichte der sowjetischen Phraseologieforschung wurden dabei die Termini ζ. T. ad hoc eingeführt, erst seit Anfang der sechziger Jahre beginnt man, sie prinzipiell auf ihren sprachtheoretischen Hintergrund zu untersuchen (ζ. B. Mel'cuk 1960). Eng mit diesen Versuchen ist das Streben der Phraseologen verbunden, die Untersuchung des Phraseologischen in der Sprache zur eigenen Diszi-

plin zu erheben und vom Studium der Lexik und Syntax abzugrenzen. Dabei mußten eben Merkmale gefunden werden, die es erlauben, im Text einen Phraseologismus zu erkennen (vgl. auch 8.2.). Besondere Schwierigkeiten machte hierbei die Problematik der Beziehung zwischen Inhaltsplan und Ausdrucksplan der Phraseologismen. Eine schematische Trennung der beiden Aspekte des Zeichens erlaubt u. E. lediglich die Illustration der Problematik der betreffenden Merkmale, im konkreten Fall zeigt es sich dann, daß überall die Rede gleichzeitig für beide Ebenen gilt und daß sie bei der Beschreibung der einzelnen Merkmale nicht getrennt werden können. Die zahlreichen phraseologischen Konzeptionen sind auf Unterschiede in der Definition der einzelnen Merkmale und in der Beurteilung ihres sprachtheoretischen Status zurückzuführen. Hierbei seien folgende Extremfälle der Bestimmung der phraseologischen Menge erwähnt: 1. Ein Merkmal wird für eine bestimmte Verbindungsart sprachlicher Einheiten als einziges differentielles Merkmal gefordert. Rojzenzon (1973) anerkennt als phraseologisch alle und nur die Wortkomplexe, die „reproduzierbar" sind. Distinktives Merkmal ist die Reproduzierbarkeit. 2. Ein Merkmal wird ohne Unterschied auf alle materiellen Einheiten der Sprache ausgedehnt: Janko-Trinickaja (1969) zählt zur Phraseologie alle Verbindungen von sprachlichen Einheiten, die gegen die üblichen Kombinationsregeln verstoßen oder individuelle Bildungen darstellen. Nach ihr gibt es ζ. B. eine morphologische „Phraseologizität" (vgl. 1.2.).

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Grundbegriffe

3. Es werden die Verbindungen aller Lexeme untersucht, d. h. alle Wortverbindungen unter dem Aspekt der lexematischen und semantischen Verbindbarkeit (Valenz) von Wörtern. (Kopylenko—Popova 1972) Angesichts der großen Anzahl der an Phraseologismen feststellbaren Merkmale (Festigkeit, Idiomatizität, Unübersetzbarkeit, Bildhaftigkeit, Expressivität, Reproduzierbarkeit bzw. Reproduziertheit, Metaphorisiertheit [Metonymisiertheit], semantische Transformiertheit [Desemantisierung], Nicht-Modellierbarkeit, Besonderheit der inneren Form, Konnotation, getrennte Formierung usw.) und der verschiedenen Möglichkeiten ihrer Definition ist leicht auszumachen, wie viele konzeptionelle Unterschiede möglich sind. Das zeigt sich auch in den einzelnen Definitionen: ζ. B. „Die phraseologische Einheit ist eine feste Wortverbindung mit total oder partiell umgedeuteter Bedeutung" (Kunin 1970, S. 210; Ubers. A. S.) „Unter Phraseologismus wollen wir eine feste, getrennt formierte Einheit der Sprache verstehen, die über eine ganzheitliche (oder partiell ganzheitliche) Bedeutung verfügt und in kommunikativer Hinsicht keinen fertigen Satz darstellt." (2ukov 1975, S. 36;

Ubers. A. S.) „Die phraseologische Einheit ist eine Wortverbindung, in der die semantische Kompaktheit (Ganzheit der Kommunikation) über die strukturelle Getrenntheit der sie bildenden Elemente dominiert (die Analyse der Merkmale des Objekts ist seiner ganzheitlichen Funktion unterworfen), so daß sie im Satz als Äquivalent eines einzelnen Wortes funktioniert." (Achmanova 1966; Übers. A. S.) „Phraseologismen sind feste Wortkomplexe verschiedener syntaktischer Strukturtypen mit singulärer Verknüpfung der Komponenten, deren Bedeutung als Ergebnis einer vollständigen oder teilweisen semantischen Umdeutung oder Transformation des Komponentenbestandes entsteht." (Cernyseva 1975, S. 209) „Unter phraseologischer Einheit wird eine relativ feste, reproduzierbare, expressive Lexemverbindung verstanden, die (in der Regel) ganzheitliche Bedeutung aufweist" (Mokienko 1980, S. 4; Ubers. A. S.) usw.

Im folgenden sollen die oben aufgezählten phraseologischen Merkmale kurz erläutert

werden, so d a ß die in ihnen liegende Problematik erfaßt werden kann. Keinesfalls aber kann die Diskussion um die phraseologischen Merkmale in der sowjetischen Phraseologieforschung als abgeschlossen betrachtet werden; dies v. a. auch deswegen, weil die einzelnen Merkmale über das eigentlich phraseologische Untersuchungsfeld in die Lexikologie, Semantik und Stilistik hinausreichen (ζ. B. Expressivität, Bildhaftigkeit, semantische Transformation, Metaphorisiertheit). Am ausführlichsten wird der Begriff der R e p r o d u z i e r b a r k e i t bei Rojzenzon (1973, S. 101 ff.) diskutiert. Nach ihm gehören alle festen Wortkomplexe zur Sprache (langue), d. h. sie existieren im Bewußtsein des Sprachträgers als fertige Einheiten im Gesamtbestand der festen Wortkomplexe einer Sprache. Die phraseologische Reproduzierbarkeit ist nach Rojzenzon nicht einfach die Wiederholung in der Rede (parole) dessen, was im System der Sprache (langue) da ist, sondern die Eigenschaft eines Wortkomplexes, der immer in der gleichen festen Form auftritt, und der zu der ihm identischen Lexemverbindung (in „wörtlicher Bedeutung") in Opposition steht. Nach Rojzenzon ist ein solches Äquivalent zumindest theoretisch immer möglich und denkbar. Bedingung für die phraseologische Reproduzierbarkeit (im Unterschied zur Reproduzierbarkeit von Wörtern, Formeln, Gedichten, usw.) ist also nach Rojzenzon das Vorhandensein folgender Paare: (a) Er hat ins Gras gebissen ist wahr dann und nur dann, wenn er (buchstäblich) ins Gras gebissen hat. (b) Er hat ins Gras gebissen ist wahr dann und nur dann, wenn er gestorben ist. Vom synchronen Standpunkt aus ist (b) Er hat ins Gras gebissen „reproduzierbar", vom diachronen Standpunkt aus „reproduziert". Entsprechend können Reproduziertheit und Reproduzierbarkeit unterschieden werden. Reproduziertheit und Reproduzierbarkeit setzt nun voraus, d a ß die Wortverbindung stabile Verwendung aufweist, und diese stabile Verwendung wird von den meisten Phraseologen als F e s t i g k e i t bezeichnet (eine andere

Die phraseologischen Merkmale

Konzeption von Festigkeit zeigt Mel'cuk 1960: Festigkeit als Vorhersagbarkeit der Komponenten. Eine konsequente Weiterführung dieses Begriffs ist der der Kohäsion aus der Glottometrie. Vgl. Janakiev 1977 und unten 8.1.1.). Die ausführlichsten Darlegungen zum Begriff der Festigkeit sind in Kunin (1970) zu finden. Hier genügt seine Definition: „Die Festigkeit der phraseologischen Einheit ist ihre Stabilität (oder die Gesamtheit ihrer konstanten Teile) auf den verschiedenen Ebenen der sprachlichen Struktur." (Kunin 1964, S. 16). Ebenso hält Archangel'skij (1964, S. 123) den Begriff „Konstanz" für geeigneter als den der Festigkeit; nach ihm besteht die Festigkeit eines Phraseologismus aus der Gesamtheit der Begrenzungen für die veränderlichen Teile des Phraseologismus, die außerhalb des Phraseologismus solche Begrenzungen nicht kennen (ζ. B. im „wörtlichen" Äquivalent des Phraseologismus). Vgl. ζ. B. namylit' golovu „den Kopf einseifen" = „den Kopf waschen": der Phraseologismus hat „globale, unabgeleitete Bedeutung, die auf der gegenseitigen Determination (d. h. keines der beiden Glieder tritt ohne das andere in dieser Bedeutung auf; Bemerkung von mir, A. S.) der Glieder auf der semantischen Ebene beruht; auf der lexikalischen Ebene besteht zwischen den Gliedern Indetermination (d. h. keines der Lexeme bedingt das Vorhandensein des andern; Bemerkung von mir, A. S.); auf morphologischer Ebene besteht negative Determination der Glieder: das Verbum (namylit') ist seiner imperfektiven Entsprechungen und der passiven Diathese nur in dieser Verbindung beraubt; Partizipialbildung ist nicht möglich; nach diesem Merkmal kann man mit großer Wahrscheinlichkeit das zweite Element voraussagen." (Archangel'skij 1964, S. 122). Neben solchen Versuchen einer Beschreibung der Festigkeit nach den Beziehungen zwischen den Elementen des Phraseologismus im Unterschied zu den Beziehungen zwischen den Elementen in den homonymen freien Wortverbindungen sind aber als Korrektiv Arbeiten zu den stilistischen Varianten von Phraseologismen und die bisher geleistete Wörterbucharbeit (v. a. Dialektsammlungen) zu stellen.

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Die dort aufgeführten Materialien zeigen eine außerordentliche Mobilität der Phraseologismen, die nicht mehr innerhalb syntagmatischer und paradigmatischer Begrenzungen in bezug auf die Komponenten im Phraseologismus beschrieben werden kann. Vielmehr zeigen die zahlreichen Arbeiten zur phraseologischen Varianz (ζ. B. Problemy 1968 und Problemy 1972, besonders aber auch Babkin 1970), daß gleichzeitig mit der Festigkeit dem Phraseologismus eine bestimmte Variabilität eigen ist und daß das Funktionieren der Phraseologismen in der Sprache und ihre Weiterentwicklung vom Verhältnis zwischen Festigkeit und Variabilität abhängt. Als Grundlage zur Bestimmung dieses Verhältnisses wären zunächst die möglichen Formen der Phraseologismen (und ihrer Varianten) aufzuführen, eine Forderung, die keines der bestehenden Phraseologischen Wörterbücher erfüllt. Dabei sind nicht nur die ζ. T . individuellen Verformungen von Phraseologismen bei Autoren, sondern auch die dialektal-geographische Verbreitung der einzelnen Varianten zu untersuchen; erst dann ist ζ. B. eine historisch-vergleichende Untersuchung durchführbar (vgl. als Beispiel in 8.1.4.2. die Arbeit von Tolstoj 1973). Die gemeinsame Untersuchung mehrerer Phraseologismusvarianten setzt aber auch eine bestimmte Stabilität in ihrer gemeinsamen Bedeutung voraus. Es zeigt sich damit, daß im Ausdrucksplan die „getrennte Formiertheit" (die meisten Phraseologismen sind ja aus freien Wortverbindungen abgeleitet) die Variabilität möglich macht, während der Inhaltsplan eine relativ feste, stabile ganzheitliche Bedeutung aufweist: „Varianten des Phraseologismus sind seine verschiedenen lexikogrammatischen Formen, die ihm in Bedeutung und Grad der semantischen Amalgamierung (der Komponenten, Bemerkung von mir, A. S.) identisch sind." (Sanskij 1972, S. 192). Für die Phraseologismen kennzeichnend ist die lexikalische Variabilität (das Kind mit dem Bade ausschütten/ausleeren), die häufiger auftritt als Wortbildungsvarianten und grammatische Varianten, weil der Phraseologismus im Ausdrucksplan getrennte Formiertheit (aus mindestens zwei Wörtern) aufweist, wobei ge-

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Grundbegriffe

rade die Möglichkeit der lexikalischen Varianz ohne Konsequenz für die ganzheitliche Bedeutung und die strukturelle Zugehörigkeit der phraseologischen Wortverbindung typisch ist. (Von dieser Konzeption von Festigkeit und Variabilität weichen die Ausführungen im Abschnitt 8.1. ab. Dort werden die Merkmale unter einem generell sprachtheoretischen Aspekt behandelt, wobei die Voraussetzung gemacht wird, daß die Stabilität der ganzheitlichen Bedeutung auch formal im Ausdrucksplan ausgedrückt sein muß und die Variation formaler Elemente des Ausdrucksplans immer auch Konsequenzen im Inhaltsplan aufweist. Im vorliegenden Abschnitt jedoch wurden die Merkmale der Festigkeit und Variabilität nach dem weitesten Konsens in der sowjetischen Forschung referiert). Die Inkongruenz zwischen ganzheitlicher und (relativ) stabiler Bedeutung des Phraseologismus im Inhaltsplan und getrennt strukturierter und (relativ) variabler Form des Phraseologismus im Ausdrucksplan führt unmittelbar in die Diskussion (1) Ν delal stol » („N machte einen Tisch") (2) Ν delal stol > (3) Ν delal stol

*

(4) Ν delal stol

>

(5) Ν delal stol

»

um die semantische Struktur der Phraseologismen, in deren Zentrum der Begriff der Idiom a t i z i t ä t steht. Bei allen Autoren wird er innerhalb der Beziehungen zwischen der Bedeutung der ganzen phraseologischen (idiomatischen) Wortverbindung und der Summe der Bedeutungen der einzelnen Komponenten behandelt (meist im Anschluß an die bekannte Definition von Bar-Hillel (1955, S. 186 f., vgl. Burger 1973, S. 31). Prinzipiell eng damit verbunden sind die Probleme der syntagmatischen Semantik (semantische Kombinatorik, semantische Amalgamierung, semantische Integration u. ä.): „Wird ein Wort in einer Aussage

gebraucht, verliert es seine Konturen, verwandelt sich in einen Teil einer Phrase und wird zu einer neuen Einheit: zu einem Element der Aussage, mit dessen Hilfe die Aussage eine Situation beschreibt. Diese Transformation des Wortes (einer Einheit einer niederen Ebene) unter dem Einfluß der Aussage (einer Einheit einer höheren Ebene) zeigt sich bei den sogenannten Bedeutungsschwankungen des Wortes in der Rede („kontextuelle Bedeutungen"), bei seiner Desemantisierung (die häufiger ist, als man gemeinhin annimmt) und bei der Bildung von Phraseologismen." (Gak 1973, S. 355, Übersetzung von mir, A. S.) Da nun die Wörterbücher (auch die phraseologischen) solche semantischen Transformationen des Wortes in der Wortverbindung (Phrase) nicht genau festhalten und die verschiedenen Idiomatizitätsgrade nicht unterscheiden, schlägt Kopylenko (1966 und 1973, S. 47 ff.) folgendes Analyseverfahren vor: Die Verbindungen mit delaf „machen, tun" werden fünf Operationen unterworfen: Ν delal stol iz dosok („N machte einen Tisch aus Brettern") U Ν stol („N hat einen Tisch.") Ν delal stol sosedu („N machte den Tisch einem Nachbarn") Ν delal stol dlja magazina („N machte einen Tisch fürs Geschäft") stol Ν („Der Tisch von N") Die fünf Operationen bringen verschiedene Sememe der Tätigkeit zum Ausdruk: (1) in bezug auf ein komponiertes Objekt, (2) Möglichkeit, dem Subjekt das Resultat der Tätigkeit zuzuschreiben, (3) äußerlich ausgedrückte Tätigkeit, (4) objektorientierte Tätigkeit, (5) Zugehörigkeit der Tätigkeit zum Subjekt. Je mehr Operationen auf eine Verbindung mit delat' angewandt werden können, desto konkreter ist die Bedeutung des Verbums und um so weniger desemantisiert, d. h. um so niedriger das Maß der Idiomatizität, aber um so größer die semantische Teilbarkeit der Verbindung, ζ. B.:

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Die phraseologischen Merkmale

1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.

Ν delal stol („N machte einen Tisch") Ν delal proekt („N machte ein Projekt") Ν delal rejs („N machte eine Fahrt") Ν delal dobro („N tat etwas Gutes") Ν delal vygovor („N machte einen Tadel" = erteilte eine Rüge") Ν (s) delal dva saga („N machte zwei Schritte") Ν delal gimnastiku („N machte Gymnastik") Razve eto delaet pogodu? („Macht denn etwa das das Wetter?" = „ist das denn so wichtig?")

Die erste Zahlenreihe gibt die Reaktion auf die Operationsfolge wieder, die zweite Reihe charakterisiert die Menge im Zehnersystem. Die Problematik solcher Operationen kann hier nicht diskutiert werden. Jedenfalls ist diese Art der Untersuchung der Idiomatizitätsgrade überaus aufwendig. Den Begriff „Idiomatizität" bringt Mel'cuk (1960, S. 75 ff., in Anlehnung an Bar-Hillel 1958) in Zusammenhang mit der Ü b e r s e t zung. Eine Verbindung der Ausgangssprache ist dann idiomatisch, wenn sie mindestens ein Wort enthält, das ein bestimmtes unikales Äquivalent in der Zielsprache nur dann besitzt, wenn es mit den betreffenden Elementen der Ausgangssprache auftritt. In anderen Verbindungen hat es andere Übersetzungen (Mel'cuk 1960 spricht von innersprachlichen Übersetzungsäquivalenten. Pekler 1967 zeigt die Anwendbarkeit eines zwischensprachlichen Idiomatizitätsbegriffs bei der Unterrsuchung konkreter Übersetzungen. Vgl. 7.2.3.3.). Die Unikalität der Übersetzung weist auf die Isolation der betreffenden Komponente innerhalb ihrer sonst möglichen Verwendungen hin. Am meisten Schwierigkeiten macht hier die Wahl der Übersetzung: Zwar kann man unikale Übersetzungsäquivalente wie Bockshorn = „Angst" und jagen = „machen" erstellen, aber es ist nicht auszumachen, warum nicht auch „Schrecken" oder „einflößen", oder einfach „ängstigen" gewählt wird. Das Idiomatizitätsproblem stößt hier auf prinzipielle Schwierigkeiten in der deskriptiven Semantik, die Wahl der „semantischen Sprache" (Apresjan 1974, Mel'cuk 1974), wobei auch für künstliche semantische Sprachen die Wahl der Elemente, mit Hilfe derer die Beziehungen zwischen den Wörtern im Text (und in der Lexik) beschrie-

11111 01111 01011 00111 00101 00011 00001 00000

31 15 11 7 5 3 1 0

ben werden sollen, ebenso willkürlich und darüberhinaus unvollständig getroffen wird. Für die Herstellung von Wörterbüchern behalten jedoch die Ausführungen von Mel'cuk (und Bar-Hillel) ihren Wert, besonders bei der Analyse von Übersetzungen (Pekler 1967). Die Ganzheitlicbkeit der Bedeutung eines Phraseologismus wird deshalb nicht immer (und immer seltener) mit dem Idiomatizitätsmerkmal beschrieben, ternyseva (1975, S. 227) verwendet andere Merkmale: „Die phraseologische Bedeutung unterscheidet sich von der lexikalischen, auch der Lexeme sekundärer Bildung, durch 1. das Vorhandensein einer bildlich motivierten Bedeutungskomponente; 2. eine potentielle Steigerung der Konnotation auf Grund der sondergestalteten Struktur der Phraseologismen." Die konnotative Bedeutung ist für die Phraseologismen kategorienbildend (ebenda S. 213), und die bildlich motivierte Bedeutung entsteht durch die semantische Transformation einer ganzen Wortverbindung (ebenda S. 213). Damit wird die Problematik auf die Begriffe der Konnotation und Bildhaftigkeit verlegt (wobei semantische Transformation als Ueberbegriff für Veränderungen in der Semantik einzelner Wörter und ganzer Wortverbindungen verwendet wird.) Für die K o n n o t a t i o n e n von Wortverbindungen gibt es bestimmte Indices (Kopylenko-Popova 1972, S. 62ff.): 1. Situativer Index: Eine Wortverbindung wird im Hinblick auf eine bestimmte Situation konnotiert: Leben Sie wohl!

Grüß Gott usw.

2. Die Terminologizität eines Ausdrucks: kalte Progression (vgl. 2.3.2.). 3. Periphrasen mit expressiv-stilistischer

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4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12.

Grundbegriffe Konnotation: für schlecht etwa ist unter aller Kritik Besondere Signallexeme: Hinz und Kunz Modaler Index: Um Gottes Willen Konjunktionen als Index: wie vom Erdboden verschluckt Negationen als Index: kein Bein Summierung von Denotaten: Stock und Stein Logische Folgerungen: wenn es Katzen hagelt Metaphorik: vor Wut kochen Intonation: Da liegt der Hase im Pfeffer! Wortspiele: am St. Nimmerleinstag

Diese Aufzählung solcher möglichen Indices ist geradezu ein Beweis für die in semiotischen Begriffen formulierte Beobachtung, daß „der Prozeß, der dem Lexem Leben gibt und es praktikabel macht, auf der Konnotation beruht", und daß die Konnotation aufgefaßt werden kann als „die Gesamtheit aller kulturellen Einheiten, die von einer intensionellen Definition des Signifikans ins Spiel gebracht werden." (Eco 1972, S. 108). Dabei ist es besonders für Phraseologismen schwierig, Konnotation und Denotation zu trennen, denn ganz allgemein gilt: „Indem er auf eine semantische Einheit des Systems verweist, verweist der Signifikant auch auf andere Einheiten, für die die erste ein - wenngleich partieller oder sehr allgemeiner — Signifikant (oder Interpretant) ist, und die ihrerseits wieder Signifikanten für andere Einheiten sind" (Eco 1977, S. 181). Besonders für Phraseologismen gilt es zu beachten, daß die Signifikationsprozesse auch schon in nicht-sprachlichen Zeichensystemen beginnen: vgl. den Kopf schütteln bzw. Wolf im Schafspelz, wo bereits die Referenten semiotisiert sind. Der Wolf ist auch außerhalb der Sprache Zeichen für Gefahr, ein ungefährlicher Wolf ist kein richtiger Wolf mehr. Der Referent Wolf signalisiert Gefahr. Das Signifikat des Signifikanten Wolf kann also auch ,Gefahr* mitbeinhalten. Ähnliches gilt auch für Verbindungen des Typs den Kopf schütteln (vgl. Burger 1976). Die besonderen Bedeutungsverhältnisse im Phraseologismus werden auch als Besonder-

heit seiner inneren Form aufgefaßt, die aus dem Spannungsverhältnis zwischen dem Ganzen und seinen Teilen hervorgeht. In Wolf im Schafspelz für „gefährlicher Mensch", dem die Gefährlichkeit äußerlich nicht anzusehen ist, ist das Element Wolf motiviert (d. h. seine Semantik ist ableitbar) durch das Merkmal „gefährlich", auf die es verweist, das Element Schaf- ist motiviert als Opposition zu Wolf, das Element -pelz durch das Merkmal „äußerlich". Im ersten Fall ist die Motiviertheit paradigmatisch: „gefährlich" impliziert auch Schlange, Tiger usw. Auf der syntagmatischen Achse ist Schaf durch Wolf bedingt. Solchen Ausdrücken wird üblicherweise auch Bildhaftigkeit (Metaphorizität) zugesprochen, wobei dieser Begriff viele und inkonsistente Erklärungen kennt (vgl. dazu Smelev 1964). Die Bildhaftigkeit wird meistens als Fähigkeit der Wörter, eine anschaulich-konkrete Vorstellung einer Erscheinung oder eines Begriffs zu evozieren, verstanden (Larin 1974, S. 47). Die beste Diskussion zur Bildhaftigkeit von Phraseologismen und zu ihrem allmählichen Verlust liefert Mokienko (1980, S. 1 2 3 162). Er weist v. a. auf die Bedeutung der Konkretheit der durch die Wortverbindungen evozierten Vorstellungen und ihren Zusammenhang mit der thematischen Motivation von Phraseologismen hin (vgl. etwa die konkreten Gebiete der Wortverbindungen, aus denen der Großteil von Phraseologismen entstehen bei Gvozdarev 1977, referiert in 8.1.2.). Insbesondere erwähnt Mokienko Phraseologismen aus der thematischen Gruppe der Berufssprachen. Als linguistische Faktoren der Bildung von Bildhaftigkeit nennt er den Vergleich und die Metapher, wobei letztere den Vergleich implizit vollzieht und aus ihm hervorgehen kann: ζ. B. wie vom Erdboden verschwunden. Nicht alle Phraseologismen sind bildhaft bzw. metaphorisch. Innerhalb der historischen Entwicklung kann ζ. B. ihre innere Form verloren gehen, d. h. die Phraseologismen werden desemantisiert (Maulaffen feilhalten). Vom synchronen Standpunkt aus ist hier keine Bildhaftigkeit mehr vorhanden, das konkrete Element Maulaffen wird nicht mehr verstanden, weist aber trotzdem Expressivität

Festigkeit und Variabilität

auf (was für die meisten Nekrotismen gilt). Die Problematik der Bildhaftigkeit, der Metaphorisierung und Konnotation geht über die Phraseologie hinaus. Ihre Bedeutung insbesondere bei der Untersuchung der sprachlichen Mittel, mit denen sie realisiert werden, führt zu Problemen der Stilistik, Semantik und Pragmatik. Im Unterschied zum Wort dominiert im Phraseologismus nicht die referentielle Funktion. Phraseologismen enthalten Informationen über den Zustand des Sprechers, der sie gebraucht (Expressivität), über die Art der Ausrichtung auf den Hörer (Konativität, Modalität) und über die Strukturierung des Inhalts (Bildhaftigkeit, poetische Funktion). Die wertvollen Bemerkungen bei Mokienko (1980), Feodorov (1973) und Babkin (1970) im Rahmen der Phraseologie wären jedoch durch die neueren literaturwissenschaftlichen und sprachtheoretischen Bemühungen um diese Begriffe zu ergänzen (insbes. denen der Textlinguistik). Grundlegend für ihren sprachtheoretischen Status ist der Charakter des sprachlichen Zeichensystems und seiner relativ festen (invarianten) und relativ variablen Merkmale und Einheiten, wie sie skizzenhaft in 8.1.1. dargelegt werden. Entscheidend hierbei ist, daß das scheinbar unikale Resultat als Produkt typischer sprachlicher Prozesse dargestellt wird, das nach bestimmten Modellen (syntaktischen Typen der Wortverbindung und struktursemantischen Invarianten) geformt ist (Modellierbarkeit; vgl. in 7.2.2.2. die Ausführungen von Mokienko 1980, S. 42ff.). Das Vorhandensein phraseologischer Modelle (phraseologischer Serien, phraseologischer (Synonym-)Reihen), auf das die neuere sowjetische Phraseologieforschung, aber auch schon Archangel'skij (1964) verweist, ist seinerseits Resultat der quantitativ vorgegebenen Entfernungen zwischen den Einheiten der Lexik auf verschiedenen Achsen („semantischen Räumen"; vgl. die Ausführungen zur Festigkeit in 8.1.1.) und den durch die konkreten Verwendungen dieser Einheiten im Text entstehenden Kohäsionen (Gebundenheit auf syntaktischer und lexematischer Ebene). Die obigen Ausführungen verfolgten den Zweck, mögliche Beziehungen zwischen den

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phraseologischen Merkmalen und Zusammenhänge mit außerphraseologischen Gebieten kurz aufzuzeigen. Die Geschichte der Erforschung dieser Merkmale in der sowjetischen Phraseologie ist uneinheitlich und komplex und einer eigenen Monografie wert. Abgeschlossen ist sie noch nicht.

3.2. Festigkeit und Variabilität Im folgenden soll, mit Belegmaterial aus der deutschen Gegenwartssprache, das Verhältnis von Festigkeit und Variabilität besprochen werden. Die neuere sowjetische Forschung (vgl. auch Telija 1981 [1970]) hat - wie in 3.1. ausgeführt — dargelegt, daß Festigkeit und Variabilität komplementäre Kategorien i n n e r h a l b der Phraseologie sind, deren jeweiliges Verhältnis für die einzelnen Phraseologismentypen und für jeden einzelnen Phraseologismus neu zu bestimmen ist. Es ist nur eine kleine Gruppe von Phraseologismen, die auf dieser Skala ganz beim Pol „fest" anzusetzen sind, die keinerlei Variabilität aufweisen (einmal abgesehen von den auch hier meist möglichen paradigmatischen Veränderungen der Morphosyntax, wie Person, Kasus etc.; Beschränkungen der morphosyntaktischen Veränderbarkeit sind diskutiert in Burger 1973, S. 75 ff.). Zu den in diesem Sinne gänzlich „festen" Wortverbindungen gehören solche mit archaischen Elementen (klipp und klar, Maulaffen feilhalten, jdn. ins Bockshorn jagen) und sonstige hochgradig idiomatische Phraseologismen (ins Gras beißen, an jdm. einen Narren gefressen haben). Alle übrigen haben mehr oder weniger starken Anteil an Variabilität. Im allgemeinen wird Variabilität verstanden als Spielraum, innerhalb dessen formale Veränderungen des Phraseologismus möglich sind, ohne daß die phraseologische Bedeutung verloren geht, wobei dieser Spielraum lexikographisch erfaßt werden kann und soll. Diese Thematik werden wir im folgenden unter dem Titel „Varianten" kurz diskutieren. Interessanter aber erscheint uns der — nicht mehr lexikographisch erfaßbare — Spielraum, den Phraseologismen (auch solche des gänzlich

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Grundbegriffe

festen Typs) in der tatsächlichen Sprachverwendung haben. Diesen Bereich benennen wir mit dem Terminus „Modifikationen".

3.2.1. Varianten Es ist ein vieldiskutiertes Problem, wo die Grenze zwischen konventionellen Varianten eines Phraseologismus einerseits, tatsächlichen Veränderungen der lexikalischen Form andererseits anzusetzen ist. Daß es in vielen Fällen Varianten von Phraseologismen gibt, die nebeneinander existieren, völlig synonym sind oder sich durch Bedeutungsnuancen unterscheiden, ist nie bestritten worden. Wie sehr aber alle Versuche der Vorhersage, welche phraseologischen Typen zu Varianten tendieren, vage bleiben, hat Häusermann (S. 67 ff.) anhand der Diskussion sowjetischer Arbeiten zum Problem der „Festigkeit" deutlich gemacht. Die phraseologischen Wörterbücher berücksichtigen natürlich die Tatsache der Variantenbildung so weit wie möglich, das heißt, soweit dem Lexikographen die konventionellen Varianten bekannt sind. Extremer als sonst im lexikalischen Bereich kann bei Phraseologismen die Konventionalisierung bestimmter Varianten geographisch, soziolektal usw. begrenzt sein. Aber selbst, wenn man dies in Rechnung stellt, sind die Möglichkeiten der Variantenbildung noch nicht abgesteckt. Es können jederzeit individuelle Varianten von Phraseologismen gebildet werden, die dem Leser oder Hörer gar nicht als Varianten auffallen und die nur vom Standpunkt des Lexikographen aus überhaupt als Varianten zu werten sind. Dies gilt insbesondere für gesprochene Sprache (vgl. 5.3.), aber auch für geschriebene Texte. Koller (1977, S. 33) zitiert z.B. folgende Belege aus der Zeitungssprache: Religiöser Eifer verhärtet den Wahn, und für einmal finden sich einzelne Propheten mit landhungrigen Ultras im gleichen Boot, (statt: im gleichen Boot sitzen). Alle Vorstellungen im Lager der Opposition unter einem Hut zu vereinen, wird sehr schwerfallen, (statt: Verschiedenes unter einen Hut bringen). Von solchen Texten her läßt sich die Vermutung formulieren, daß manche Phraseolo-

gismen einen „harten Kern" und eine „weiche Peripherie" haben, wobei in unseren Fällen im gleichen Boot und unter einen/m Hut die stärker fixierten Elemente, die Verbalteile die labileren Teile darstellen würden (vgl. 5.3.2.1.). Man sollte allerdings auch nicht zu großzügig mit dem Begriff „Variante" umgehen. Die übrigen an der angezogenen Stelle von Koller aufgeführten „Variantenbildungen" sind kaum mehr als Varianten einzustufen, sondern bereits als lexikalische Modifikationen, die klare und an der jeweiligen Stelle einmalige, vom Autor intendierte semantische Effekte haben ζ. B.: Amerikaner lebte auf betrügerischem Fuß (Nicht jeder, der auf großem Fuß, also gemäß der lexikalisierten Form des Phraseologismus lebt, lebt auch schon auf betrügerischem Fuß. Oder muß man annehmen, daß auf betrügerischem Fuß bereits eine regional akzeptierte Variante der Ausgangswendung wäre?)

3.2.2. Modifikationen Im Rahmen der Untersuchung transformationeller Defekte von Phraseologismen gingen die Generativisten recht sorglos mit dem Kriterium „das geht / das geht nicht", also mit der Zuordnung von Grammatikalitäts- bzw. Akzeptabilitätsgraden zu einzelnen Wortverbindungen um. Neuere Arbeiten (vor allem Koller 1977, Häusermann 1977, Thun 1978, Pilz 1978) haben zu Recht betont — zum Teil anhand konkreten Belegmaterials vor allem aus geschriebenen Texten —, daß man mit solchen Zuweisungen nicht vorsichtig genug sein kann. Aufgrund der Synopse unseres Belegmaterials aus verschiedensten Textsorten gesprochener und geschriebener Art und aufgrund der sonst in der Literatur zitierten Belege muß man wohl sagen: es gibt kaum eine Veränderung eines Phraseologismus, die in irgendeinem Kontext nicht möglich und durchaus sinnvoll wäre. Freilich haben, wie noch zu zeigen sein wird, verschiedenartige Formen von Veränderungen durchaus verschiedenartige Effekte. Es wäre sicher viel zu simpel, wenn man hier mit Kategorien wie „stilistisch unmarkiert"/„markiert" operieren würde. Und es hängt auch vom je-

Festigkeit und Variabilität

weiligen phraseologischen Typ ab, welcher Effekt mit einer Veränderung erzielt wird. Abwandlungen eines Phraseologismus, die nicht mehr in den Rahmen von „Varianten" fallen, bezeichnen wir als „Modifikationen". Dabei ist nach allem Gesagten klar, daß die Abgrenzung von Variante und Modifikation im Einzelfall nicht immer eindeutig ist und schwer entscheidbar sein kann. In bisherigen Arbeiten über Modifikationen von Phraseologismen wurde generell zu pauschal unterschieden zwischen „normaler" und „modifizierter" Verwendung, ohne daß die verschiedenartigen Effekte der Modifikation genügend berücksichtigt wurde. So ist auch meist vorschnell die Rede davon, daß durch Modifikation ein Phraseologismus „remotiviert" werde — oder allenfalls eben nicht remotiviert werde. Daß es sich um keineswegs einheitliche semantische Phänomene handelt, soll im folgenden gezeigt werden. Es ist auch durchaus nicht davon auszugehen, daß es sich bei jeder Modifikation um ein „Sprachspiel" handeln muß. Es soll gleichfalls gezeigt werden, daß die Effekte je nach Typ der Modifikation unterschiedlich sind und auch in je verschiedenen Arten von Texttypen gehäuft auftreten. Hier können wir allerdings keine gesicherten statistischen Ergebnisse bieten, sondern nur Vermutungen aufgrund des von uns gesammelten Materials und der Angaben in der Literatur. (Für eine statistisch abgesicherte Untersuchung der Verteilung der Modifikationen würde man eine außerordentlich große Textmenge benötigen, wenn man nicht zufällige, vielleicht idiolektale Verteilungen erhalten wollte.) Es ist im folgenden nur von Modifikationen in geschriebenen Texten die Rede. Bei geschriebenen Texten darf man annehmen, daß Modifikationen nicht bloße Folgen des Verbalisierungsvorgangs sind, wie es bei gesprochenen Texten häufig der Fall ist (vgl. 5.3.2.1.), sondern bewußt ausgewählte Formulierungen. Daß es sich auch hier nicht immer um bewußte „stilistische" Intention handeln muß, zeigen etwa Fehler in Schüleraufsätzen oder Ungeschicklichkeiten (wie Kontaminationen) in Texten anderer Provenienz (vgl. 5.3.2.3.).

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Modifikation ist weiterhin kein Kriterium für die Unterscheidung von literarischer und nicht-literarischer Sprache; Modifikationen gibt es in beiden Bereichen. Allerdings sind bestimmte Typen von Modifikationen eher in „poetischer" Sprache (im Sinne Jacobsons) anzutreffen als etwa in Sachtexten. In Weiterführung von Koller (1977) unterscheidet Schweizer (1978) zwischen „syntagma-internem" und „syntagma-externem Sprachspiel" (wobei „Sprachspiel", bezogen auf die Texte von G. Grass, ein Spezialfall von Modifikation überhaupt ist). Eine syntagma-interne Modifikation wäre dann eine Veränderung des Phraseologismus selbst (eine „innere" Veränderung), während eine syntagma-externe Modifikation dann vorläge, wenn der Phraseologismus selbst „nicht oder nur unwesentlich verändert ist, im Kontext aber durch semantische Relationen auf die wörtliche Bedeutung des ganzen Ausdrucks oder einzelner Wörter angespielt wird" (Schweizer, S. 11 f.). Abgesehen davon, daß man die semantischen Effekte der syntagma-externen Modifikation (außerhalb der Texte von Grass) weiter zu fassen hätte, (die Gegenüberstellung von phraseologischer und wörtlicher Bedeutung ist zu einfach, wie viele unserer Belege zeigen werden) führt die Unterscheidung in zwei große Klassen zu Schwierigkeiten, wenn man nicht nur einen Autor und dessen spezifisches Verfahren analysiert. Und selbst bei einem beschränkten Textkorpus ist die Unterscheidung bei näherem Zusehen nicht so unproblematisch, wie es den Anschein hat. Ζ. B.: Ist die Hinzufügung eines Adjektivs zum Nominalteil eines Phraseologismus eine interne Modifikation und die Hinzufügung eines Attributs zu einem nominalen Phraseologismus eine externe Modifikation? Ist die „Abtrennung" (vgl. 3.2.2.5.) eine interne oder externe Modifikation? Intern wäre sie, weil die Wortverbindung selbst verändert wird, extern deshalb, weil das ganze syntaktische Arrangement des betreffenden Kontextes betroffen wird. Ist die semantische Hervorhebung eines Elementes der Wortverbindung durch ein Kontextelement interne oder externe Modifikation? Intern wäre sie, weil zwar nicht der Wortlaut, wohl

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Grundbegriffe

aber die Semantik der Wortverbindung tangiert ist, extern deshalb, weil die Veränderung von außen her bewirkt wird. Um nicht solche Probleme künstlich zu schaffen, verzichten wir auf die Dichotomie intern-extern und geben statt dessen eine nach anderen Kriterien geordnete Liste der wichtigsten Modifikationstypen. Bei den Modifikationstypen gehen wir von den „Verfahren" aus und fragen nach deren Effekt (der umgekehrte Weg wäre auch sinnvoll, aber weniger übersichtlich). Dabei ist immer in Rechnung zu stellen, daß zwei oder mehrere Verfahren kombiniert auftreten können, wobei wir jeweils das Augenmerk auf das augenfälligste Phänomen richten, ferner, daß die Reihe der beobachteten semantischen Effekte nicht erschöpfend sein kann, da das vorliegende Material keine solchen exhaustiven Auswertungen zuläßt. In 3 . 2 . 3 . ; 3.2.4. werden wir, anhand homogener Textkorpora, umgekehrt vorgehen und die semantischen Prozesse von Modifikationen in den Vordergrund rücken. Für die jeweiligen semantischen Effekte verwenden wir die in 2.2. definierten Termini. Für die Verfahren knüpfen wir an früher geprägte Termini (Burger 1973) an, müssen aber dort, wo es sich nicht vermeiden läßt, neue Bezeichnungen einführen.

3.2.2.1. Lexikalische Substitution Wenn ein Wort eines Phraseologismus gegen ein anderes ausgetauscht wifd, so kann dies sehr unterschiedliche Folgen haben, je nach der semantischen Beziehung zwischen Ausgangswort und Ersatzwort und je nach Typ des Phraseologismus. Kaum einen semantischen Effekt hat eine Substitution, bei der neues und altes Wort im gleichen semantischen Bereich liegen und als kontextuelle Synonyme fungieren können: Sie sprachen geläufig und mit erkünstelter Selbstverständlichkeit von musikalischen Linien, Farbenakkorden und ähnlichem und waren überall auf der Lauer nach der .persönlichen Note', welche meist in irgendeiner kleinen harmlosen Selbsttäuschung oder Verrücktheit bestand. (Hesse, Camenzind, S. 66)

Der Austausch des üblichen lagen gegen das semantisch leere waren bewirkt beim Leser bestenfalls den Eindruck einer leicht verfremdeten Formulierung. Das gilt besonders für solche Phraseologismen, die kaum mehr remotivierbar sind, oder solche, die vollständig durchsichtig und unmetaphorisch sind, wie im folgenden Text: Es war eine dalmatinische Küste, ein brütender Mittag ( . . . ) . Von Zeit zu Zeit, wenn der wartende Dampfer wie aus Ungeduld tutete, zitterte ein Dröhnen durch die lastende. Windstille, verlor sich wie das Zischen des weißen Dampfes in der uferlosen Himmelsbläue, und alles blieb beim gleichen, die schwarzen Schlote von schlafenden Frachtern, das krause Gewirr von leeren Segelrahen . . . (Frisch, Die Schwierigen oder J'adore ce qui me brüle, S. 407) Hier befinden wir uns noch in der Übergangszone zwischen Varianten und Modifikationen, in der keine klaren Grenzziehungen möglich sind. Eindeutig um Modifikationen hingegen handelt es sich in allen folgenden Beispielen. Bei einem semantisch völlig durchsichtigen Sprichwort wie Doppelt genäht hält besser kann durch Substitution eine Anpassung an eine andere als die im Sprichwort gemeinte Situation erfolgen, ohne zusätzlich semantische Effekte: Gegen Husten Tetesept Bronchial Bonbons. Denn doppelt heilt besser. (6. 8. 76) (Das Bild zeigt einen Querschnitt des Bonbons, auf dem die zwei Wirkungskomponenten markiert sind.) Eine Resemantisierung des Phraseologismus bewirkt die Substitution von sich durch mich im Titelsatz eines 1 9 8 0 publizierten Prospekts der Schweizer Stiftung „SanArena", deren Ziel die „unfallgerechte Ausbildung von Nothelfern" ist: Rette mich, wer kann (Das Bild zeigt einen Unfall) Hier wird das Verb retten im Sinne von ,Lebensrettung' und das Verb können im Sinne von ,einen Kurs gemacht haben und darum imstande sein zu . . .' resemantisiert. Vor allem dieser Satz, scheint es, ergrimmte den Gatten dermaßen, daß er im heilichten Genua laut

71

Festigkeit und Variabilität vor sich herredete und nicht mehr wußte, wo er eigentlich ging. (Frisch, Stiller, S. 268)

Ganz ähnlich funktioniert die Substitution im

Das Substantiv Tag ist durch den Städtenamen Genua ersetzt, und als Folge davon auch die Präposition bei durch im. Es liegt derjenige phraseologische Typ vor, bei dem ein Wort (heilicht) in seinem Vorkommen an ein bestimmtes anderes Wort gebunden ist (Tag; bei

Nach Meereslust essen (Das Bild zeigt Fischerboote auf dem Meer und angerichtete Fischgerichte) (21. 6. 76)

heilichtem Tage).

Am heilichten Tage ist nun nicht einfach eine Variante von bei hellem Tage o. ä., sondern enthält die Komponente ,am hellen Tage, wo man es sonst nicht erwartet' (Duden, Bedeutungs-Wörterbuch; hinzu kommt wohl, daß derjenige, was man nicht erwartet, etwas negativ Bewertetes ist). Da das Wort Tag durch heilicht total vorhersagbar ist, und da heilicht nur in dieser Verbindung überhaupt eine Bedeutung hat, wird durch die Substitution dem Namen Genua die Bedeutung des ganzen Phraseologismus zugeschrieben, also etwa ,in Genua, bei hellem Tage, wo man nicht erwartet hätte, daß Stiller sich so benehmen würde'. Ein

ähnlicher,

etwas

komplizierterer

Fall:

Sie sieht einfach großartig aus, diese Frau, ich denke es immer wieder, ihr lichterlohes Haar in der Sonne, das weiße Pariser-Hütchen darauf... (Frisch, Stiller, S. 100) Dann überläßt sie sich wieder der Muße, dem Wind ihr lichterlohes Haar. (S. 226) lichterloh ist normalerweise an das Verb brennen gebunden. In dem von Frisch konstruierten Syntagma ist das total vorhersagbare Wort brennen ausgespart, und das normalerweise nur adverbiell — eben in dem Phraseologismus — vorkommende lichterloh wird als Adjektiv unmittelbar dem Substantiv Haar zugeordnet. Damit wird das (rote) Haar Julikas als ,wie Freuer brennend' charakterisiert. Der semantische Effekt der Substitution ist in diesen Fällen sehr stark, weil innerhalb dieses phraseologischen Typs die semantische Bindung des einen Wortes an das andere extrem stark ist. Die Modifikation bewirkt aber nicht eine Ambiguierung, sondern setzt semantische Prozesse der Informationsüberlagerung und damit Informationsverdichtung in Gang.

folgenden Werbeinserat:

Der Ersatz des determinierenden Substantivs HerzensMeeres-

im {Compositum Herzenslust

durch

ergibt für den ganzen Satz die Lesart

,mit großem Vergnügen Meeresfrüchte essen'. Im „Lied der Schwester" aus Brechts „Die sieben Todsünden der Kleinbürger" heißt es gegen Ende: Wir haben eine Vergangenheit und eine Zukunft Ein Herz und ein Sparkassenbuch Und jede macht nur, was für die andere gut ist Nicht wahr, Anna? (Brecht Gedichte III, S. 135) Das aufgrund der ersten Wörter der Wortverbindung ein Herz und . . . zu erwartende eine Seele wird ersetzt durch ein Sparkassenbuch. Wieder findet Informationsverdichtung statt (,sie sind ein Herz und eine Seele' und ,sie haben ein gemeinsames Sparkassenbuch'), zugleich aber — wie häufig in Brechts Umgang mit Phraseologismen zu beobachten — eine Art „Entlarvung" einer beschönigenden Redegewohnheit: die auf Psychisches zielende Wendung ein Herz und eine Seele sein wird auf ihre nackte ökonomische Basis zurückgeführt. Der deutlichste Effekt einer lexikalischen Substitution ist also weniger eine Resemantisierung oder Ambiguierung, als eine Verdichtung der Aussage infolge von Informationsüberlagerung. Daß dies nicht nur für literarische Texte gilt, zeigen die Belege aus der Zeitungssprache bei Koller (1977, S. 190ff.) und Bebermeyer/ Bebermeyer (S. 18 f.). Im Vergleich zu den anderen Modifikationstypen der Sammlung von Bebermeyer/Bebermeyer ist diese Gruppe aber auffallend schwach belegt. Einige Beispiele daraus: auf den Barzel (statt: Hund) kommen hinter schwäbischen (statt: schwedischen) Gardinen auf Nummer Neckermann (statt: sicher) gehen sage und sende (statt: schreibe) Koller (S. 191) gibt drei Belege für etw. an die

Frau bringen, wo Frau das Lexem Mann er-

72

Grundbegriffe

setzt. Die gleiche Substitution findet sich wiederum in einem literarischen Text, in dem der Ersetzungsvorgang selbst motiviert und vorgeführt wird: Die Leute allerdings, die Mädchen und die Frauen der Töpfer, bemerkenswert. Sogar die Männer. Keine Händler, dörfliche Handwerker, die ihre Ware selber an den Mann bringen, die Rede ein wenig mit Fachtermini angesalzen, mit einem leichten Lächeln dabei, wie Maler ihre Bilder vorzeigen, wenn der Sammler dasteht und weniger die Bilder sieht als die Wandfläche zu Hause, die er noch frei hat. Das heißt, diese Ware hier wird an die Frau gebracht: Gurkentöpfe und Marmeladentöpfe und Schmalztöpfe vornehmlich. Für einen Preis, über den man reden kann, nach dem Grad eigener oder anderer Erfahrung, das Kopftuch vorgezogen — bei den Töpferfrauen, den Hut in die Stirn gedrückt — bei den Käuferinnen, gegen das helle Licht, es geht auf den Mittag zu. (Bobrowsky, Litauische Claviere, S. 8 f.) Auch dies eine Informationsverdichtung, insofern die phraseologische Bedeutung der Wortverbindung (,etw. verkaufen', nach Friederich, wobei derjenige, an den etw. verkauft wird, nicht hinsichtlich des Geschlechts spezifiziert ist, trotz des im Phraseologismus enthaltenen Lexems Mann) erhalten bleibt, zugleich aber präzisiert und der Situation angepaßt wird (das durch das Wort Mann nahegelegte Mißverständnis wird explizit korrigiert). Die bei Koller zitierten Belege zeigen, daß Journalisten sich veranlaßt fühlen, dem durch den Wortlaut des Phraseologismus suggerierten Mißverständnis vorzubeugen, vielleicht auch nur scherzhaft „vorzubeugen". Das gleiche „sexistische" Sprachproblem stellt sich bei seinen Mann stehen (hier noch grammatisch verschärft durch das Possessivpronomen: Herr X steht seinen Mann, Frau X steht ihren Mann). Wie stark gegenwärtig bereits das Bewußtsein für solche Sprachphänomene ist — mindestens in öffentlichen Situationen, wie Diskussionen usw. — zeigt eine Passage aus der Fernsehdiskussion der „Telearena": Nachdem ein Votant gesagt hat, Cornelia (eine Figur aus dem zur Diskussion stehenden Bühnenstück) müsse im Beruf ire Maa staa, wirft eine Frau berichtigend ein tri

Frau staa.

Wenn nicht ein Lexem des Phraseologismus durch ein anderes Lexem ersetzt wird, sondern ein grammatisches Morphem durch ein anderes Morphem, ergibt sich keine Verdichtung der Information: Ich erblickte das Licht dieser Welt in Gestalt zweier Sechzig-Watt-Glühbirnen (Grass, Blechtrommel, S. 49) Der Artikel der (in Licht der Welt) hat bei normalem Gebrauch des Phraseologismus keine referentielle Funktion mehr. Die Substitution durch das Demonstrativpronomen dieser bewirkt, daß die Nominalgruppe dieser Welt wieder eine Referenz erhält. Auch Licht wird durch den Bezug zu Glühbirnen auf die konkrete Situation bezogen. Da aufgrund des Kontextes auch die phraseologische Bedeutung der Wortverbindung das Licht der Welt erblicken mitgemeint ist, ergibt sich Polysemantisierung. Auch im folgenden Werbeinserat ist nicht der semantische Kern (das Substantiv Fleck) des Phraseologismus substituiert, sondern das lexikalisch-grammatische Umfeld: Ein Grund, den Tages-Anzeiger auf dem Fleck zu abonnieren. („Unter" dem Text ist tatsächlich ein Fleck zu sehen.) (13. 10. 80) Warum statt des zu erwartenden Phraseologis-

mus (jdn.) vom Fleck weg (heiraten, engagieren o. ä.) zu lesen ist auf dem Fleck (abonnieren), wird erst durch das Zusammenspiel von Text und Bild verständlich. Der Effekt ist eine witzige Literalisierung des Phraseologismus (Fleck in vom Fleck weg bedeutet nach Röhrich 1 9 7 3 soviel wie ,Ort', was synchron mindestens noch regional bewußt sein dürfte; aktualisiert wird also nicht die derivationelle Basis — sofern man eine solche noch realisieren würde —, sondern die gängigere wörtliche Bedeutung von Fleck.) Das Wortspiel wird dann im Folgetext noch weitergeführt

(Ich möchte in Zukunft meinen eigenen Tages-

Anzeiger. Unbefleckt.), wobei Fleck jetzt wieder in eine andere (,moralische') semantische Richtung uminterpretiert wird.

73

Festigkeit und Variabilität W i e lexikalische Substitution das Resultat und die Pointe eines ganzen Artikels sein kann, zeigt eine Glosse („Kater Willi") aus der Quartierzeitung

der Sozialdemokratischen

Zürich 1 (Juni 1 9 8 0 ) . Glocke am Ende statt Schwamm Glocke,

drüber!

drüber.

Damit erhält

von der vorher die (satirische) Rede

war, die Merkmale von Schwamm drüber

Partei heißt es

in

Schwamm

zugewiesen, und rückwirkend wird da-

mit die Idee von der „Riesen-Käseglocke" ad absurdum geführt. Kater Willi Heute hat mir mein Mensch aus der Zeitung vorgelesen. Es war ein Artikel mit einem Bild, auf dem anstatt der Großmünstertürme zwei Atomkühlpyramiden zu sehen waren. Noch seltsamer war aber, was da geschrieben stand. Da haben wir das Kantonale Amt für Zivilschutz. Es soll uns vor dem Atom schützen, obschon alle immer wieder sagen, das Atom sei so furchtbar sicher und es sei ganz unwahrscheinlich, dal? jemals etwas passiere. Trotzdem hat eine Arbeitsgruppe, die einen unheimlich strahlenden Namen hat — sie heißt „Röntgen" —, sechs Jahre lang einen Plan gemacht: Was man tun muß, wenn Atomstrahlen kommen. Diesen Plan dürfen aber die Zürcher nicht kennen, weil sie sonst Angst bekämen vor dem Atom. Die Herren von Bund und Kanton sagen auch, die Leute würden das für den Notfall Vorgesehene ja bald wieder vergessen und deshalb müsse ein solcher Plan für die ganze Schweiz gemacht werden. Da komme draus, wer will. Mir wird es dabei ganz atom-schwindlig. Der Riesenschnauzer Astor hat auch den Kopf geschüttelt, als ich ihm das alles erzählt habe. Da er aber gescheit ist, hatte er sofort eine Idee. Er meint, man könnte ja einfach über die ganze Stadt ein Dach stülpen, eine Art Riesen-Käseglocke. Erstens würde so der Verkehr nicht mehr einfach in den Himmel stinken. Zweitens wäre es mit dem Heizen einfacher, man könnte die Fenster offen lassen und trotzdem Energie sparen. Man müßte auch keine Klimaanlagen mehr bauen und Häuser ohne Fenster. Drittens wären wir geschützt, wenn von Gösgen her ein Atomwind kommt. Ich finde die Idee prima. So würde ich nie mehr naß, der ständige Zürcher Regen würde von der Glocke abgehalten und wenn die Sonne einmal schiene, wäre das eine Gratisheizung. Vor allem aber käme das „Renovieren" der Altstadthäuser viel billiger. Man müßte nur die Geschäfte im Erdge-

schoß und ein paar Büros fest wiederaufbauen. Die oberen Räume, die schönen Fenster, Erker und das Dach könnte man aus Karton machen und bunt anmalen, damit die Touristen Freude haben. Gewohnt wird ja sowieso bald nur noch außerhalb der Stadt. Was ich da geschrieben habe, sei nun wirklich ein ganz großer Käse, meint der Riesenschnauzer Astor. Also: Glocke drüber'. Eine ungewöhnliche Art von Substitution liegt in der folgenden Passage aus Fontanes „Stechlin" vor (32. Kap.): (Adelheid zu Bruder Dubslav): , J a , Dubslav, was soll das nun alles wieder? Du gibst da deinem Zeisig mal wieder ein gut Stück Zucker. Ich sage Zeisig, weil ich nicht verletzlich sein will." Der Phraseologismus in seiner üblichen F o r m lautet seinem

Affen

Zucker

und be-

geben

deutet ,seiner Eitelkeit frönen, seiner Neigung nachgeben'.

Der Phraseologismus

ist

heute

wohl nicht mehr üblich. Wenn man aber weiß, daß Affe

die ,Eitelkeit' symbolisiert

(heute

noch so gebräuchlich), dann ist die Verbindung semantisch völlig durchsichtig. D a ß sie damals als motiviert aufgefaßt wurde, wird aus der Substitution ersichtlich. Affe Zeisig

durch

zu ersetzen, ist nur möglich, wenn die

phraseologische Bedeutung von Affe gesichert bleibt, wenn also klar ist, daß Zeisig höflichere Variante von Affe

nur die

sein soll. Also:

Substitution eines semantisch weitgehend autonomen

Elementes des Phraseologismus

aus

Gründen des Taktes. Damit direkt vergleichbar

— wenn

auch

wohl mit entgegengesetzter Intention formuliert — ist ein Diktum von Helmut Schmidt aus dem letzten BRD-Wahlkampf. Als Beispiel dafür, auf welch

nuancierte

Spekulationen sich ein Journalist zu einer solchen offenbar intendierten Substitution „von höchster Stelle" einlassen kann, sei ein Artikel aus der „ Z e i t " v o m 10. 10. 8 0 im Wortlaut abgedruckt: Das Wortbild, das Helmut Schmidt in der letzten Phase des Wahlkampfes gegen Franz Josef Strauß benutzte, stammt aus Ostpreußen, der Heimat so vieler Deutscher guten Willens. Wenn dort ein Landweg nicht schnurgerade, sondern in Zickzacken oder Minikurven verlief, so sagte man: „Der Weg geht, wie der Osse pißt." Schmidt wollte die vermeint-

74

Grundbegriffe

liehen Widersprüche, das Hin und Her, Vor und Zurück der politischen Richtung seines Gegners Strauß kennzeichnen, als er sagte, diese Politik gehe vor sich „wie der Bulle pißt". Die Freunde des Bayern-Führers haben, wie zu erwarten war und in den süddeutschen Zeitungen auch berichtet wurde, zornig aufbegehrt: „Hört diesen Schmidt! Hier mahnt er zur Mäßigung, dort aber benutzt er Beleidigungen, die sozusagen unterhalb der Gürtellinie liegen!" Eben nicht! Menschen von so gründlicher humanistischer Bildung wie Schmidt und Strauß, die um Ausdrücke nicht verlegen sind, wissen natürlich, daß es überall auf Nuancen ankommt, in der Kunst, im Umgang mit Menschen, in der besseren Diplomatie und in der Politik. Und hier ist wohl zu beachten, daß Schmidt, der in der Musik und der Malerei durchaus beschlagen ist, das ostpreußische Originalbild abgewandelt hat. Nicht von „Ochse" sprach er, sondern von „Bulle". Und man braucht nur an die spanischen Arenen zu denken, an die Kraft und Schönheit der Stiere, diese wuchtigen und doch federnden und eleganten Gestalten, die zornmütigen Sinnes den Torero angehen, dann erstirbt einem das Wort „Ochse" auf den Lippen. Nun wäre es freilich denkbar, daß Schmidt, als er das Wort vom wegbereitenden Bullen sprach, entsprechende Gesten beigefügt hat. Es wurde nämlich berichtet, daß, als man ihn gefragt habe, wie er es denn eigentlich meine, wie denn der Bulle pisse, seine Antwort gelautet habe: „Mal so, mal so." Nun ist dem Kanzler vom Reporter Kempski, der ihn auf einer Wahltournee begleitet hat, das Attribut eines Schauspielers („Staatsschauspielers") zuerkannt worden. Aber er müßte schon Staatstänzer sein, wollte er den wegweisenden Bullen darstellen, der da in abendlichem Dämmerlicht gemächlich marschierend und urinierend durch die Landschaft schlendert, mal so, mal so. Nein, vergleichen wir die Nuance, in der sich die Schmidtsche Variation vom ostpreußischen Original unterscheidet — und variatio delectat, um in der Sprache zu reden, der lateinischen, die Strauß vertraut ist, so gewinnt der Unterschied ein bedeutendes Gewicht. Wer möchte mit einem Ochsen verglichen werden? Aber mit einem Bullen? Ja! Helmut Schmidt hat den Ochsen denn auch fallenlassen und seinem Gegner Strauß den Bullen zugeworfen. Wie könnte dies anders denn als eine Variante der Friedenstaube aufzufassen sein. Der Wahlkampf ist zu Ende, die Politik fängt wieder an. Die erste innenpolitische Leistung könnte, wie wir sahen, die Verwandlung eines Ochsen in einen Stier sein, den Friedensstier.

Schmidt hat aus einem Neutrum ein maskulines, von männlicher Schönheit strotzendes Wesen gemacht, würdig, ein demokratisches Wappensymbol zu werden, wie der sattsam bekannte Leu oder der Aar oder die irische Harfe. Die Wahl ist vorüber. Der Horizont ist wieder klar. Nuancen. 3.2.2.2. Hinzufügung eines Adjektivs Dieser Typ von Modifikation ist sehr häufig anzutreffen, sowohl in literarischen als auch journalistischen und anderen Texten. Ob die Hinzufügung eine Ambiguierung zur Folge hat oder nicht, hangt davon ab, auf welche der Bedeutungsebenen des Phraseologismus sich das Adjektiv bezieht. Wenn das modifizierende Adjektiv die wörtliche Ebene der Wortverbindung betrifft, ergibt sich Ambiguierung, im folgenden Beispiel Polysemantisierung. Dabei hast du bei all deiner zum halbbewölkten Himmel schreienden Unwissenheit vor, diese Stundenplanschule nie wieder zu betreten. (Grass, Blechtrommel, S. 97) Viel häufiger aber — und dies gilt besonders für journalistische Texte — bezieht sich das Adjektiv auf die phraseologische Bedeutungsebene. In diesem Fall wird die phraseologische Bedeutung der Wortverbindung nicht zerstört, und es ergibt sich auch keine Ambiguierung. -

der Dreckkerl sitzt sicher selber hinter dem kapitalistischen Ofen - Das Bernervolk wird sein ganzes Gewicht in die eidgenössische Waagschale werfen müssen - Es soll ein freisinniges Licht aufgehen - Frei von Angst, beim Verteilen des wirtschaftlichen Kuchens zu kurz zu kommen. - Sich um einen größeren Anteil am volkswirtschaftlichen Kuchen streiten (sämtlich: Schweizer Wahlpropaganda) Eine Auswahl aus den bei Koller und Bebermeyer/Bebermeyer zitierten Beispielen: -

sich aufs politische Glatteis begeben auf die amerikanische Karte setzen europäisches Porzellan zerschlagen (Koller, S. 35 f.) Spiel mit dem politischen Feuer über einen revisionistischen Kamm scheren zum außenpolitischen Fenster hinausreden (Bebermeyer/Bebermeyer, S. 17)

75

Festigkeit und Variabilität In Verbindung mit einer Ersetzung des nicht-

der Fall sein dürfte, liegt wohl daran, daß ein

referentiellen bestimmten Artikels durch den

Auge auf jdn. werfen nicht — wie die anderen

unbestimmten Artikel kann die adjektivische

Beispiele — voll remotivierbar ist. Das strikte

Modifikation allerdings eine leichte Ambiguie-

Wörtlich-Nehmen der Verbindung ergibt eine

rung bewirken:

groteske Vorstellung, umgekehrt gesagt: die

Die Nahostreise Nixons wird von einigen arabischen Zeitungen unter eine äußerst kritische Lupe genommen (NZZ, nach Koller S. 35)

phraseologische Bedeutung ergibt sich nicht

Bebermeyer/Bebermeyer geben auch Beispiele für zweifache Adjektiv-Modifikationen bei Phraseologismen mit zwei Nominalphrasen: den französischen Teufel mit dem deutschen Beelzebub austreiben (S. 18) Die Leichtigkeit, mit der diese Art von Modifikation vorgenommen werden kann, und ihre relative Folgenlosigkeit für die Semantik des Phraseologismus beruhen wohl darauf, daß die betroffenen Phraseologismen leicht resemantisierbar sind und Substantive enthalten, deren metaphorische Bedeutung im Gesamt der Bedeutung des Phraseologismus leicht zu isolieren, also semantisch autonom ist. Durch das Adjektiv wird die Bedeutung des Phraseologismus an die (meist dominierende) Isotopieebene des Kontextes angeschlossen. Das Verfahren ist in journalistischen Texten wohl deshalb beliebt, weil es „bildhafte" Schreibweise ermöglicht, die gleichwohl leicht durchschaubar ist und bei der die Metapher auf elegante Art in den (abstrakten) Kontext integriert ist. Gleichwohl ist diese Spielart des Verfahrens durchaus auch in literarischen Texten zu beobachten: Da haben wir einen konsequenten Strich daruntergemacht (Späth, Commedia, S. 36) Ein Beispiel, bei dem schwer entscheidbar ist, ob die adjektivische Modifikation Ambiguierung bewirkt oder nicht, obwohl sich das Adjektiv eindeutig auf die phraseologische Bedeutungsebene bezieht, ist das folgende: . . . und auch auf mich, den er flüchtig, und wie ich zu spüren glaubte, verzweifelt streichelte, ein besorgtes Auge zu werfen, damit das Kind nicht in Kampfhandlungen gerate (Grass, Blechtrommel, S. 288) Schweizer (S. 3 6 ) ist der Meinung, daß die Modifikation „verstärkend auf die wörtliche Bedeutung" wirke. Daß dies mindestens auch

Element für Element durch metaphorischen Transfer (vgl. Burger 1 9 7 3 , S. 90). Als offensichtliches Mißverständnis dessen, was unter „Festigkeit" einer Wortverbindung zu verstehen ist, wird eine sprachkritische Bemerkung wie die folgende erkennbar: Die andre Art, solche Redensarten zu mißhandeln, besteht darin, daß man das Hauptwort herausreißt und mit einem Attribut bekleidet, anstatt die Redensart zusammenzulassen und sie als Ganzes mit einem Adverbium oder einem adverbiellen Ausdruck zu bekleiden. Der häufigste Fall ist der, daß man zu dem Hauptwort ein Adjektivum setzt, ζ. B.: es ist sehr zu befürchten, daß er dabei ernstlichen Schaden nehmen werde. Schaden nehmen ist eine Redensart, die einen einfachen passiven Verbalbegriff vertritt (geschädigt werden, beschädigt werden). Man kann nicht ernstlichen, man kann nur ernstlich Schaden nehmen, wie man nur ernstlich geschädigt werden kann. Mit anderen Worten: nicht der Schade ist ernstlich, sondern das Schadennehmen, der ganze Begriff. Der Minister nahm von den Einrichtungen der Schule eingehende Kenntnis — derselbe Fehler! Kenntnis nehmen ist eine Redensart, die einen einfachen aktiven oder passiven Verbalbegriff vertritt (kennen lernen, belehrt werden, unterrichtet werden). Man kann von einer Sache weder eingehende, noch gründliche, noch flüchtige, noch oberflächliche Kenntnis nehmen, man kann nur eingehend, gründlich, flüchtig, oberflächlich Kenntnis nehmen. Der Fehler greift in neuerer Zeit immer mehr um sich. (Wustmann 1896, S. 263) M a n könnte allenfalls vermuten, daß seit der Zeit Wustmanns die substantivischen Elemente des von ihm genannten Phraseologismus größere semantische Autonomie gewonnen haben. Doch ist dies innerhalb einer so kurzen Zeitspanne kaum wahrscheinlich. 3.2.2.3.

Determinativkomposition

Dieses Verfahren ist in seinen Effekten sehr ähnlich wie das vorhergehende. Wieder hängt es von der Semantik des modifizierenden Elementes (Substantiv, das ein Substantiv des

76

Grundbegriffe

Phraseologismus determiniert) ab, ob die Bedeutung der Wortverbindung ambiguiert wird oder nicht. Und die semantischen Bedingungen innerhalb der Wortverbindung für den einen oder anderen Effekt sind ähnlich wie oben beschrieben. Polysemantisierung liegt hier vor: Erstaunlich war, daß der Igel während dieser Szene, die doch einige Zielsicherheit verlangte, seine Frau, die sich erhoben hatte und in der Nähe des Fensters einen Faden ins Nadelöhr einzufädeln versuchte, im Brillenauge behielt. (Grass, Blechtrommel, S. 596)

Modifikation (im Sinne einer Spezifizierung) nur der phraseologischen Bedeutung findet sich wiederum vorwiegend und häufig in journalistischen Texten: Sie kamen vom Bombenregen in die Traufe. (Koller, S. 150) Frau Engel drehte den CDU-Spieß um. (Koller, S. 192; weiteres bei Koller, S. 36 f.)

Koller (S. 192) behauptet hier, ganz im Gegensatz zu seinen sonstigen Bemerkungen zu derartigen Belegen, diese Erweiterungen hätten „die Literalisierung" (man beachte die von der unsrigen abweichende Terminologie) „der Redensarten und die Verstärkung/Hervorhebung der zugrundeliegenden Bildlichkeit zur Folge". — Zum (Baby) Glück gibt es Penaten . . . (Werbeinserat 1976) — aus Koalitionsnöten eine Tugend machen — die Pistole auf die Wohlstandsbrust setzen — mit allen Fußballwassern gewaschen sein — einen Strich durch Wahlrechnungen machen — das Mitbestimmungsei des Columbus — Sand im Salt-Getriebe (Bebermeyer/Bebermeyer, S. 16 f.)

3.2.2.4. Hinzufügung eines Genitivattributs Diese Gruppe scheint kleiner zu sein als die beiden vorhergehenden, ist aber ganz nach dem gleichen semantischen Muster zu beurteilen. Koller 1977 (S. 36f.) gibt einige Beispiele von der folgenden Art, wobei immer nur die phraseologische Bedeutung modifiziert wird: Drei Fälle, im Detail recht verschieden und gewiß ungeeignet, sie über den Leisten eines pauschalen Schuldvorwurfs gegen die Staatsgewalt zu schlagen.

Im folgenden Beispiel freilich betrifft die Hinzufügung die wörtliche und die phraseologische Bedeutung und bewirkt eine Remotivierung. Sie sollen sich hüten, noch einmal in die Speichen unseres helvetischen Fuhrwerks greifen zu wollen. (Schweizer Wahlpropaganda)

Das Attribut im folgenden Satz betrifft das Subjekt eines syntaktisch „aufgelösten" und in den Kontext integrierten Sprichwortes: Die Träume einer internationalen Entspannung sind leider Schäume geblieben. (Schweizer Wahlpropaganda)

3.2.2.5. Abtrennung Bereits durch die Verfahren der Hinzufügung eines adjektivischen, eines substantivischen Elements oder eines Genitivattributs wird ein Element des Phraseologismus in gewissem Sinn „isoliert", ohne daß dies aber automatisch Ambiguierung zur Folge hätte. Einschneidender, mindestens von der syntaktischen Struktur her, ist die Abtrennung des Nominalteils einer Verbalphrase durch eine Relativsatzkonstruktion, eine Form von „mise en relief" des entsprechenden Substantivs. In Burger (1973, S. 84f.) wurde angenommen, daß Abtrennung nur in stilistisch markierten Kontexten vorkomme. Das ist nur für die Fälle aufrechtzuerhalten, wo die Elemente des Phraseologismus keinerlei (auch nicht nachvollziehbar metaphorische) Eigenbedeutung haben: * das Ohr, über das er mich gehauen hat * der Ast, den er sich lacht (Burger a. a. O.) (Das Gleiche gilt wohl auch für einige Typen der „Emphase", wie markierte Wortstellung und markierte Intonation, die wir hier nicht weiter behandeln; vgl. Burger 1973, S. 85). Koller (S. 35) gibt zwei Beispiele von Abtrennungen, die wohl nur eine schwache Ambiguierung zur Folge haben: Warum dieser Sand, der da in die Augen gestreut werden soll? (Leserbrief Tages-Anzeiger) Das schweizerische Vereinstheater . . . ist heute zum überwiegenden Teil wieder auf den gleichen Hund gekommen, auf dem es vor sechzig Jahren war (Der Schweizerische Beobachter)

Festigkeit und Variabilität

77

Durch Abtrennung wird vor allem dann der

Beleg auf der Basis der Wortverbindung

phraseologische Sinn nicht zerstört, wenn der

Thema bleiben:

Nominalteil eine gewisse semantische Auto-

Ein unerschöpfliches Thema. Weil man nicht bei ihm bleibt. (Bobrowsky, ebda. S. 183)

nomie hat, wenn er ζ. B. als Metapher auch in anderen Kontexten gelegentlich

anzutreffen

ist. So ist eines der wenigen Beispiele, die bei Grass zu finden sind, zu deuten: Es stimmte alles, was Mama dem Matzerath vorwarf und stimmte dennoch nicht, wie wir wissen. Aber er trug die Schuld und weinte sogar manchmal, weil sein Gemüt weich sein konnte. Dann mußte er von Mama und Jan Bronski getröstet werden, und sie nannten mich Oskar, ein Kreuz, das man tragen müsse, ein Schicksal, das wohl unabänderlich sei, eine Prüfung, von der man nicht wisse, womit man sie verdiene. (Blechtrommel, S. 98) Erstens tritt Kreuz in mehreren Phraseologismen mit deutlich identifizierbarer und konstanter Eigenbedeutung auf (sein Kreuz tragen,

sein Kreuz auf sich nehmen, sein Kreuz mit jemandem haben), außerdem kann Kreuz auch als Einzelwortmetapher okkasionell verwendet

werden (du bist ein Kreuz, das ist ein Kreuz

mit dieser Arbeit). Im Grassschen T e x t wird durch den Kontext, die parallele Setzung von Schicksal und Prüfung als Quasi-Synonyme, die phraseologische Bedeutung der Wendung gestützt und verhindert, daß Kreuz im wörtlichen Sinn aufgefaßt wird. (Dazu Schweizer, S. 4 6 f . ) In Phraseologismen mit semantisch „leeren" Verben wie machen ist Abtrennung besonders leicht und ohne erkennbare semantische Veränderungen möglich: Das Allerschlimmste, was du machen kannst, ist eine krumme Tour. (Späth, Commedia S. 102) Zwei Beispiele mit Substantiven, die eine starke semantische Autonomie besitzen; infolgedessen wird die phraseologische Bedeutung der Verbindung nicht zerstört: Wie der Deiwel heißt, der hier los ist, das weiß der Weiszmantel schon, jetzt bekommt er ihn zu sehen. (Bobrowsky, Levins Mühle S. 211) Hier tritt zu der Abtrennung noch das Verfahren der pronominalen Wiederaufnahme hinzu; außerdem bekommt der „Deiwel" noch einen Namen! Alles zusammen bewirkt allenfalls eine Resemantisierung. Ähnlich der folgende

beim

3.2.2.6. Verkürzungen Neben Verkürzungen von Phraseologismen, wie sie in gesprochener Sprache — aus psycholinguistischen oder pragmatischen Gründen — häufig zu beobachten sind, können Verkürzungen auch bewußt und mit stilistischer Absicht vorgenommen werden: (a) Dort, wo aus äußeren (bzw. textsortenspezifischen) Gründen Verkürzungen sprachlicher Äußerungen kaum zu vermeiden und deshalb usuell geworden sind — ζ. B. in Schlagzeilen —, ist die Verwendung von Phraseologismen keineswegs unmöglich oder unüblich. Gerade weil u. U. schon ein Bestandteil des Phraseologismus das Ganze der Wendung ins Bewußtsein zu rufen imstande ist, können Phraseologismen in Schlagzeilen in elliptischer Form auftreten. Koller hat in seinem Korpus von 153 Schlagzeilen, die Phraseologismen enthielten, 3 0 Fälle gefunden, bei denen die Wortverbindung verkürzt ist, und zwar auf den nominalen Teil verkürzt, ζ. B.: — — — — — — —

Währungsreform auf der langen Bank Wasser auf die Mühlen der IRA Brett vorm Kopf Grünes Licht für Auslandsmissionen Schweizer Erdölmarkt unter der Lupe Zwei Fliegen Fettnäpfchen

Was man hier findet, sind teilweise nahezu unauffällige Ellipsen wie Wasser auf die Mühlen der IRA, teilweise pointiertere, bewußt wortspielerische Ausdrücke wie zwei Fliegen, wo ja durchaus auch von ,zwei Fliegen' die Rede sein könnte, oder die isolierte Verwendung von Fettnäpfchen, das gemäß der lexikalischen Norm eigentlich nur innerhalb des Phraseologismus auftreten „dürfte". Koller bemerkt dazu, es handle sich hier „vorwiegend um Redensarten ( . . . ) , die sekundär motiviert sind ( . . . ) , oder um Redensarten, die Wortgut enthalten, das nur in diesen belegt ist (Fettnäpfchen . . . ) . " (S. 38). Ergänzend wird man sagen

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Grundbegriffe

müssen, daß solche Phraseologismen besonders leicht zu verkürzen sind, bei denen das Verb nicht viel mehr als eine grammatische Funktion hat (jd. hat ein Brett vor dem Kopf, etwas ist Wasser auf die Mühlen von ...), jedenfalls im Unterschied zu den Substantiven keine semantische Autonomie erhalten kann. Bei einem Ausdruck wie grünes Licht ist es synchron wohl gar nicht mehr erforderlich, das Verb „mitzudenken" (die bei Friederich notierte lexikalisierte Form des Phraseologismus lautet jdm. grünes Licht geben, wobei streng genommen noch für etwas dazugehören würde). Man hört auch ]d. hat grünes Licht (für . . . ) , und die auf der Basis von grünes Licht gebildete neue Wortverbindung grüne Welle verstärkt ihrerseits die semantische Autonomie der ersteren (vgl. 5.4.4.2.). Unser Material (Tages-Anzeiger von 1959 bis 1971) bietet bedeutend weniger elliptische Phraseologismen, als man es von den Befunden Kollers her erwarten würde. Wahrscheinlich gibt es hier bedeutende Differenzen zwischen den verschiedenen Zeitungen. Einige unserer Belege (in Klammern jeweils die vollständige Wortverbindung): De Feufer und s'Weggli (25. 5. 59; me cha nid de Feufer und s'Weggli haa) Propagandamaschine auf Hochtouren (20.6.63; auf Hochtouren laufen) Wirtschaft im Blickfeld (24.6.61; im Blickfeld stehen) Das Arbeitsvertragsrecht unter Dach (26. 6. 71; etw. unter Dach bringen) Eine Bresche in Nixons Front im Senat (24. 6. 71; eine Bresche in etw. schlagen) Finanzielle und räumliche Sorgen im Mittelpunkt des St. Galler Hochschultages (21. 6. 71; im Mittelpunkt von etw. stehen) Rüstungspolitik ohne Mäntelchen (26. 6. 71; einer Sache ein Mäntelchen umhängen)

Ellipse in Verbindung mit Substitution: Vom ö l in die Traufe? (statt: vom Regen in die Traufe kommen; Zwischentitel eines Artikels über das Atomkraftwerk Kaiseraugst. In: Abstimmungszeitung der Zürcher Koordinationsgruppe Atomschutz, 25. 8. 1980).

(b) Aber auch ohne „äußeren" Anlaß können Phraseologismen bewußt elliptisch ver-

wendet werden, wenn ein Autor — wie etwa G. Grass — ζ. B. elliptisches Formulieren geradezu als Stilzug pflegt. Wenn man die Ellipsen bei Grass mit denen der ersten Gruppe vergleicht, so zeigt sich zunächst, daß die Reduktion auch hier wieder die Verben betrifft, ferner — und das ist für einen Stilvergleich von Interesse — daß die weggelassenen Verben meistens gerade nicht vom semantisch leeren Typ sind: — den Teufel mit Beelzebub (nämlich: austreiben) — gegen Windmühlen (nämlich: kämpfen) — das eigene Nest (nämlich: beschmutzen)

Im Rahmen der weitgehend motivierten Wortverbindungen haben diese Verben einen nicht zu vernachlässigenden Anteil an der Gesamtbedeutung. (Zur Interpretation dieses Befundes vgl. 5.3.2.2.). 3.2.2.7. Koordinierung (partiell identischer Phraseologismen mit Tilgung der identischen Elemente) Dieser Typ ist uns selten begegnet, auch in der Literatur wird er kaum erwähnt. Der Effekt ist drastisch — am ehesten komisch —, wenn die formal identischen Elemente in ihren jeweiligen Verbindungen eine deutliche semantische Autonomie besitzen und eine jeweils deutlich abweichende Bedeutung haben. Vgl. Burger (1973, S. 90): Er hat ein Auge auf Emma geworfen \ Er hat die Flinte ins Korn geworfen J Er hat ein Auge auf Emma und die Flinte ins Korn geworfen.

L. Thoma (Josef Filsers Briefwexel, S. 9) nutzt diesen Effekt, verstärkt durch das Verfahren der Kontrastierung, um das parlamentarische Verhalten seines Landtagsabgeordneten Filser zu karikieren: Es sind viele geischtlinge Herren dagewesen, die wo gesagt haben, mir brauchen blos das Maul halden und sie machen es schon. Libe Mari, ich bin froh, daß ich keine Rede nicht halten brauch, sondern das Maul.

(eine Rede halten + das Maul halten-, halten hat vor allem im zweiten Fall eine erkennbare Eigenbedeutung, etwa .zuhalten', ,verschlos-

Festigkeit und Variabilität sen halten', während halten im ersten Fall vom Typ der Streckformen ist.) Eine Koordinierung von Streckformen mit identischen Verben dürfte hingegen im allgemeinen unauffällig bleiben: Es ist mir gleich, ob ich eine richtige Vorlesung halten soll oder nur einen kurzen Vortrag. (Es handelt sich hier um „Streckformen im weiteren Sinne" gemäß 2.3.5., da es keine äquivalenten einfachen Verben zu Vorlesung halten und Vortrag halten gibt — vorlesen und vortragen bedeuten eben etwas anderes.) 3.2.2.8. Wechsel Affirmation Negation Dieses Verfahren dürfte allgemein einen pointierten Effekt haben. Wenn ein Phraseologismus auf eine der beiden Aussageweisen festgelegt ist, bewirkt der Wechsel eine Art „Widerlegung" oder „ E n t k r ä f t u n g " des Inhalts des Phraseologismus. Wie beim Jüngsten Gericht, wo jedermann spricht. Ich habe, ich war, ich krümmte ein Haar ich schoß nach dem Spiegel, zweimal, ich traf, ich weckte den Spiegel aus halbblindem Schlaf. (Grass, Hundejahre, S. 576)

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Als Widerlegung der Sprichwort-Lehre, d a ß man dem geschenkten Gaul nicht ins Maul schauen solle, fügt sich diese Formulierung aber sehr gut in den allgemein zu registrierenden Funktionswandel der Sprichwörter ein (vgl. 4.2.3.) Ähnlich ein Werbeinserat für Kosmetik: Mit dieser Tagespflege können Sie den Tag schon vor dem Abend loben 3.2.2.9. Verweise im Kontext Unter diesem Titel ist ein breites Spektrum von Teilverfahren zu subsumieren, durch die der Phraseologismus mit einem oder mehreren Elementen des Kontextes in Bezug gesetzt wird. Es kann sich dabei um anaphorische oder kataphorische Verweise handeln, im einzelnen um pronominale Verweise, um Bezüge zu einem Lexem, das mit einem Element des Phraseologismus identisch ist, um Synonyme oder Antonyme in der Umgebung des Phraseologismus etc. (Koller (S. 181, in Anlehnung an Agricola 1970 a) spricht von „synonymischer Wiederaufnahme", ein Terminus, der u. E. die breite Skala der vorkommenden Kontextbezüge nicht genügend abdeckt). In Werbeinseraten finden sich zahlreiche Belege für Bezüge auf identische Lexeme im umgebenden Text, mit unterschiedlichen semantischen Effekten:

Der Effekt dieses Verfahrens ist an dieser Stelle primär ein „Widerruf" (Schweizer, S. 43) der Bedeutung der Ausgangsverbindung, eine emphatische Umkehrung der phraseologischen Bedeutung, und erst in zweiter Linie die Ambiguierung. Der Effekt ist besonders klar bei Sprichwörtern und ähnlichen satzwertigen Verbindungen, die generalisierte Erfahrungen oder Handlungsanweisungen u. ä formulieren:

Ich muß es doch endlich mal rauskriegen. Warum nur trinkt sie immer so gerne aus Pappbechern? Sie sagt, weil sie zu faul ist zum Spülen. Ich glaube aber eher, sie knabbert so gerne den Rand entlang. Das will ich jetzt ganz genau wissen. Deshalb hab* ich ihr gerade den Diamantring zur Verlobung geschenkt. Der ist nämlich nicht von Pappe (31.5.1976)

Geld spielt eine Rolle, vor allem, wenn du wenig hast. (Späth, Commedia S. 86)

Hier bewirkt die Modifikation eine klare Remotivierung.

Auch dieser Modifikationstyp ist nicht auf literarische Texte beschränkt, wenngleich er wegen des meist sehr starken Effektes nicht häufig angewendet wird:

Weil's leichter leichter geht Leichte haben's leichter, daran ist nicht zu zweifeln. Pfunde belasten, dämpfen die Lebensfreude, reduzieren die Leistungsfähigkeit, ja sogar die Lebenserwartung. Gute Gründe, Übergewicht nicht allzu leicht zu nehmen. Damit Sie'* leichter haben, leichter zu werden, hier ein heißer Tip:

Die rund hundert Arbeiter, die von dieser scheinbaren Großzügigkeit überfallen werden, tun jedenfalls gut daran, diesem geschenkten Gaul sehr genau ins Maul zu schauen. (Abendschau des SWF vom 14. 5. 79)

In Ihrem Reformhaus, in Ihrer Drogerie, in Ihrer Apotheke finden Sie's -

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Dr. Kousa ,Natürlich Leicht' mit Joghurt und Früchten, Schlankmahlzeiten — klinisch geprüft (21.6. 76)

es leichter haben und etw. leicht nehmen werden remotiviert durch "die verschiedenen Vorkommen von leicht (im Sinne von leicht an Gewicht) und dessen semantisches Umfeld (Pfunde, Übergewicht usw.). Das ungeschminkte Gesicht eines Stars sagt die ungeschminkte Wahrheit über Lux mit Feuchtigkeitscreme. (Bild: Großaufnahme von Jane Seymour und Seifenpackung) (21. 6. 76)

Partielle Polysemantisierung, wobei — wie auch sonst in Werbeinseraten — die negative Konnotation der phraseologischen Bedeutung in Kauf genommen wird. Da eine wörtliche Bedeutung des ganzen Syntagmas ungeschminkte Wahrheit eigentlich gar nicht möglich ist, kann man wohl von einem „bloßen" Wortspiel sprechen. Set d'Elnett formt und festigt ohne „Festiger-Starre". Ihr Haar hält: Locker. Luftig. Länger ( . . . ) Set d'Elnett: Der Haarfestiger, der hält, was er verspricht. (3. 8. 76)

Partielle Polysemantisierung, wie im vorhergehenden Beispiel (vielleicht noch deutlicher ein Wortspiel, da der Haarfestiger ja nicht buchstäblich hält, was er verspricht — er hält eben die Haare, und die verspricht er nicht). Studieren geht über Probieren. Ihre Haut sollte Ihnen zu schade sein, um darauf alles mögliche auszuprobieren. Deshalb gibt es Vichy Kosmetik in der Apotheke. Dort, wo Sie von jemandem beraten werden, der studiert hat — auch, womit welches Hauptproblem zu behandeln ist. (21. 6. 76)

Da dieses Sprichwort — wie viele andere — nicht eigentlich über zwei potentielle Bedeutungsebenen verfügt, könnte man nur von Resemantisierung durch die lexikalischen Bezüge im Kontext (ausprobieren, studieren) sowie durch die Umgekehrung der Reihenfolge der Verben sprechen. Genauer handelt es sich aber um eine Umdeutung der im Sprichwort kontrastierenden Verben im Sinne des Werbetextes.

In ein und demselben Werbeprospekt der Schweizer Einrichtungsfirma Conforama konnte man lesen: -

Bi de Spacemaker-Element sind d'Sparer ganz im Element Mir bliibet au bi de Teppich-Priise uf em Teppich. Tüfpriis-Wohnwänd! Was wänd Sie meh? (Eine Auswahl aus dem StudioSparadies) Da gits nöd vill z'schtüdiere! (Bunte Bettwäsche-Vielfalt aus dem SchlafSparadies) Da lueget Sie günschtig us de Wösch! Bi dene Matratze-Priis lieget Sie grad ab! (Oktober 1980)

Hier ist der lexikalische Kontext-Bezug durchgehender Werbegag, und es ist wohl müßig, im einzelnen nach den semantischen Effekten zu fragen. (Im letzten Beispiel ist der Bezug nicht mehr lexikalisch, sondern semantisch: Matratze — liegen.) Zu offensichtlich sind die Phraseologismen nur deshalb gewählt, weil sie (irgendeinen) lexikalischen Bezug zur Bezeichnung des Produkts haben — besonders kraß bei Wohnwänd — wänd. Interessant — auf der Folie der schweizerischen Diglossie-Situation — ist an diesem Prospekt, daß die eigentliche Information (Produkte, Preise, Beschreibungen etc.) hochdeutsch formuliert sind, während der Blickfang, die „Schlagzeile" auf jeder Seite in Mundart gehalten ist. Auch in einem politischen Werbetext haben wir das Verfahren gefunden: Fitness-Training! Dabei geht es um die Erhaltung der schlanken

Linie. Auch der SVP geht es um die

Linie — um eine eindeutige, klare Linie. Überzeugen Sie sich davon! (Schweizer Wahlpropaganda)

schlanke Linie wird polysemantisiert. Dabei ist aber zu beachten, daß es hier wenig Sinn hat, von einer wörtlichen und einer übertragenen Bedeutung zu sprechen. In der phraseologischen Bedeutung von schlanke Linie betrifft Linie die konkrete Erscheinung, während Linie im Folgetext eine abstrakte (politische) Linie meint. Einen Sonderfall des lexikalischen Bezugs stellt die Wiederaufnahme eines Elementes des Phraseologismus durch das gleiche lexikalische Element innerhalb eines neuen Phraseologismus dar:

Festigkeit und Variabilität Der Deklarationsentwurf aber schießt im Bestreben, Relikte der Kolonialzeit so rasch wie möglich abzubauen, weit übers Ziel hinaus und legt die Axt an einen Grundpfeiler (im Original gesperrt), auf dem die Unesco selber ruht. Nur Blinde können da auch noch mit Hand anlegen. (NZZ 7. 11. 78) Statt die Axt anlegen heißt es im Folgesatz Hand anlegen. Da die phraseologischen Bedeutungen der beiden Wortverbindungen sich in keiner Weise stören, da vielmehr das zweite allgemeiner sagt, was das erste spezifischer ausdrückte (das erste ist semantisch bedeutend spezifizierter), ergibt sich kein Bildbruch, sondern eine Remotivierung beider Phraseologismen. Mit Zwilling schneiden Sie immer gut ab. So wie hier mit dem Aufschnittmesser von Zwilling. (Bild: Das Messer zwischen dem Wurstende und bereits abgeschnittenen Scheiben) (3. 8. 76) Hier ist es nicht das gleiche Lexem, aber das zugehörige Verbalabstraktum, das den Bezug schafft. Außerdem wird die wörtliche Bedeutung durch das Bild gestützt. Der Effekt ist Polysemantisierung. Pronominale Verweise, sofern sie sich nur auf ein Element des Phraseologismus beziehen, bewirken im allgemeinen Ambiguierung (in beiden folgenden Beispielen: Remotivierung): „Ein Kaufmann muß solid sein bis in die Nieren", pflegte Onkel Philipp zu sagen. Und gerade dort war er's nicht. Aber konnte er etwas dafür, der Arme, daß seine Nieren mit einem Male fallit wurden . . . (Polgar, Im Lauf der Zeit, S. 32) Ernst gesammelt schweben die kleinen Griffe zu Seiten des Kopfes, immer bereit, niederzufallen, den Ton anzugeben. Welchen Ton? Den Trommelton. (Grass, Blechtrommel S. 65) Hier wird der pronominale Verweis ergänzt durch die Wiederaufnahme des Lexems Ton. In belletristischen Texten finden sich Bezüge im Kontext mit Vorliebe in der Form des Kontrastes, der das betreffende Element des Phraseologismus besonders deutlich „en relief" setzt und der wohl durchwegs Literalisierung zur Folge hat. Der Kontrast wird oft indiziert durch Konstruktionen wie zuerst — dann, nicht nur — sondern auch, kann aber auch auf der bloß lexikalischen Ebene verbleiben.

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Jedoch Frau Sedlak hatte auch ein Herz im Leibe, nicht nur einen Magen; und was des Magens Hoffnung, wurde des Herzens Not. (Polgar, Im Lauf der Zeit, S. 15) Frau Sedlak erzählte, ihrem Mann laufe das Wasser im Munde zusammen, so oft er das Tier nur ansehe. Ihr lief es in den Augen zusammen, wenn sie dachte, welchem Schicksal der Hase entgegenschwoll. (Polgar, ebda. S. 14) Wir treiben Handel und Händel miteinander auf unsere Kosten und zu unseren Gunsten: auf Kosten unserer Herzen, Drüsen, Hirne, Nerven. (Späth, Commedia, S. 33) Ich war sozusagen schon mit einem Fuß in der Stadt, aber da kam eine dumme Polizeiperson dazwischen und vereitelte das Nachziehen des zweiten. (Polgar, ebda. S. 102 f.) Da käme womöglich mein Halbbruder Stephan Bronski, der schließlich auch in diesen Kreis gehört, auf die Bronskiidee, zuerst ein Auge, alsbald noch mehr auf meine Maria zu werfen. (Grass, Blechtrommel, S. 434) In den ersten drei Beispielen sind außer der Kontrastierung jeweils auch noch andere Kontextbezüge beteiligt. Im folgenden Text ist die Kontrastierung und die damit verbundene Remotivierung des

Phraseologismus durch die Blume reden aus-

führlich vorbereitet; es wird expliziert, was Stroh in diesem Kontext bedeuten soll: nicht zuletzt sprachliches Stroh, hier gleichbedeutend mit „Reproduziertem" (Hinz und Kunz), das nichts von der Person verrät (ei wie

gut.

..):

Es muß im Stroh früh was geraschelt haben, das mir ans Lebendige wollte. Und ich fürchtete: ans Leben. So hielt ich mich an Stroh in jeder Form, und wollte von Rumpelstilz lernen, Gold daraus zu spinnen, und versprach mir davon, wo nicht die Königin, so doch der Königin ihr Kind. Ich war ja nicht Hinz und Kunz. Ich war . . . ei wie gut, daß niemand es wußte. Ich find's nicht mehr gut, du, ich weiß nur nichts anderes. Andere reden durch die Blume; ich durch Stroh. (A. Muschg, Baiyun, S. 305) Kontrastierung ist gleichfalls ein beliebtes rhetorisches Mittel in politischer Propaganda: Bei den Nationalratswahlen gibt es keine kleinen Leute und großen Tiere. Es gibt nur Stimmbürger. (Schweizer Wahlpropaganda)

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Grundbegriffe

Hier werden zwei Phraseologismen sprachspielerisch-witzig miteinander kontrastiert, wobei klein und groß bzw. Leute/Tiere in Opposition gebracht sind. Beide Ausdrücke werden resemantisiert, und man hört heraus, daß es sich merkwürdigerweise bei den Kleinen um Leute und bei den Großen um Tiere handelt (Propaganda der Sozialdemokraten!). Partei nehmen für unsere vernünftige Steuerpolitik. Damit die öffentliche Hand nicht zur hohlen Hand wird. (Propaganda der Freisinnigen Partei — Schweizerische Mitterechts-Partei).

Hier hat der sprachspielerische Kontrast öffentlich-hohl den Effekt der Remotivierung, insbesondere in dem Sinn, daß die abstraktere Vorstellung der öffentlichen Hand durch die hohle Hand unerwartet konkretisiert und „vom Kopf auf die Beine gestellt wird". Auch die Werbung verwendet die Technik der Kontrastierung: Wie sich ein armes Würstchen in einen herzhaften Imbiß verwandelt. (Produkt „Käsescheiben") (Das Bild zeigt appetitlich gebratene Würste; eingelassen in die Abbildung ist das Foto der angepriesenen Käsescheibenpackung) (5. 8. 76)

Durch den Kontrast zu herzhafter Imbiß wird armes Würstchen wörtlich genommen, wobei man wieder die negative Konnotation der phraseologischen Bedeutung in Kauf nimmt. Lexikalische und pronominale Bezüge sowie Kontrastierung sind die offensichtlichsten Spielarten, der Kontextverweise. Daneben gibt es auf semantischer Ebene eine unendlich abgestufte Skala von sehr engen bis zu sehr entfernten Bezügen, von eigentlichen Synonymen und Antonymen bis hin zu vagen Assoziationen, entsprechend der Vielfalt möglicher textsemantischer Verkettungen. Wir geben im folgenden einige Beispiele, angeordnet nach abnehmender Enge der semantischen Bezüge: In den ersten beiden Belegen sind noch lexikalische Identitäten und semantische Bezüge miteinander wirksam, in den folgenden dann vollziehen sich die Modifikationen nur noch durch semantische und schließlich assoziative Bezüge.

Neu: Für alle Männer, die am Ball bleiben: Silva Kur Entspannungs-Bad Das Kräuterbad gegen den großen Streß. Und gegen den kleinen (zum Beispiel auf dem Feld der Ehre, dem Fußballplatz) (4. 8. 76)

Polysemantisierung: die phraseologische Ebene wird semantisch weiter geführt in großer Streß (über ein vermittelndes Sem wie ,sehr anstrengend'), die wörtliche mit lexikalischen (Fußballplatz) und semantischen (kleiner Streß, Fußballplatz, Feld der Ehre) Mitteln. Lassen Sie sich auf die lange Sonnenbank schieben?

Dieser Titel eines Artikels in „Brigitte" (17/ 1980) über Solarien ist in verschiedener Hinsicht interessant. Isoliert genommen, ist der Titel nicht verständlich. Was man versteht, ist allenfalls die negative Konnotation des Phraseologismus etw. auf die lange Bank schieben und, daß der Artikel etwas mit Sonnenbänken zu tun haben dürfte. Die Formulierung der Frage Lassen Sie sich . . . deutet in die Richtung, daß man sich eben nicht schieben lassen sollte, verstärkt also die negative Konnotation der Wortverbindung. Soviel etwa der erste Leseeindruck. Nun wird man den vorangehenden, etwas kleiner gedruckten Text aufsuchen und dort die Erklärung bereits finden: „Bräunungsstudios schießen wie Pilze aus dem Boden. Was die künstlichen Sonnen bewirken, sollte Sie zum Nachdenken bringen". Von Bräunungsstudios über künstliche Sonnen zurück zu Sonnenbänke geht die semantische und lexikalische Kette. Damit wird klar, daß der Phraseologismus wörtlich genommen ist, die phraseologische Bedeutung spielt hinsichtlich ihrer Denotation gar keine Rolle. Bewahrt ist hingegen die Konnotation der negativen Bewertung. (Bleibt noch anzumerken, daß der Vorgang des Wörtlich-Nehmens zweistufig verläuft: zuerst wird Bank durch das determinierende Substantiy Sonne auf eine, noch nicht näher präzisierte, wörtliche Bedeutung festgelegt; sodann wird das neue Kompositum Sonnenbank auf dem Wege des kontextuellen Verweises als Terminus für die Bank im Solarium identifiziert.) Wer früher fliegt, fährt besser (. . .) (21. 6. 76)

Festigkeit und Variabilität

Der Bezug der Verben fliegen — fahren, die hier als kontextuelle Synonyme verwendet werden, bewirkt Polysemantisierung von fährt besser. Je früher Kinder lernen, den richtigen Ton anzuschlagen, um so leichter haben sie es später im Leben. Wenn Sie Ihrem Kind ein Kinderlied vorsingen, dann singen Sie zu seiner Seele. Denn Musik spricht direkt die Seele an und ist darum lebenswichtig für Ihr Kind. Je früher Sie ihm Zugang zur Welt der Musik verschaffen, um so reicher und schöner wird sein Leben. Die musikalische Erziehung fördert die Fantasie und die Empfindungsfähigkeit, aber auch Konzentration und Gedächtnis. Wir haben Ihnen hier einige Vorschläge zusammengestellt, wie Sie Ihr Kind spielerisch zur Musik führen können. Kommen Sie vorbei. Wir verhelfen Ihnen nicht nur zu den richtigen Instrumenten, sondern geben Ihnen auch gerne Hinweise zu Ausbildungsmöglichkeiten. (Musikhaus Jecklin, Inserat 1980)

den richtigen Ton anschlagen wird wörtlich genommen, oder auch polysemantisiert: durch die semantischen Bezüge zu Musik, Instrument usw. wird die wörtliche Bedeutung hervorgerufen, während durch den Bezug zu es leichter haben im Leben (und die Weiterführung mit Konzentration, Gedächtnis usw.) die phraseologische Bedeutung — nicht mehr direkt semantisch, sondern nur noch assoziativ — festgehalten bleibt. Sie kam nicht wieder. Der Tatsache, daß sie vorm Weggehen mit langem Schluck ihr Kaltgetränkglas geleert hatte, durfte ich entnehmen, daß Glasaustrinken Abschied bedeutete: Schwester Gertrud ließ mich sitzen. (Grass, Blechtrommel, S. 563)

Hier ist ließ mich sitzen polysemantisiert, auf eine selten deutliche Art: beide Bedeutungen werden durch den Kontext gleich deutlich und zugleich nahegelegt, die phraseologische durch Weggehen usw. (sie geht weg, und daraus ist zu folgern, daß er am Tisch sitzen bleibt), die wörtliche durch Abschied (am ehesten im Sinne der phraseologischen Verbindung jdm. den Abschied geben). Kraft backt das Brot von heute. Das leichte Brot. Das schlanke Brot, das Brot, das schmeckt, bekommt, für Fitness sorgt. (21. 6. 76)

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von heute evoziert zunächst — auf der phraseologischen Ebene — Wendungen wie Leute von heute, die Frau von heute, und diese Bedeutung wird im Folgetext assoziativ gestützt (durch schlank, Fitness). Zugleich wird aber die wörtliche Bedeutung mindestens als Anklang hervorgerufen durch die Kombination mit dem Wort Brot, das assoziativ an das tägliche Brot denken läßt. Also ein Fall von Literalisierung. In journalistischen Texten, vor allem politischen Kommentaren, sind Kontextverweise aller Spielarten eine beliebte Technik, wobei nicht selten Bezüge über größere Textstrecken hinweg durchgehalten werden. Folge ist dann die Konstitution einer eigentlichen metaphorischen Isotopieebene. Ob sich dabei Ambiguierung ergibt oder nicht, hängt vom jeweiligen Gesamtafrangement des Kontextes ab: Erledigt war das Thema damit natürlich nicht. Es brutzelte weiter, wenn auch nur auf Sparflamme. Dafür sorgten verschiedene parlamentarische Vorstöße. Heute ist die Flamme wieder etwas aufgedreht worden. Auf dem Tisch liegt ein brandneuer Entwurf zu einem entsprechenden Verfassungsartikel. (Echo der Zeit 3. 5. 78)

Zunächst ist Sparflamme satzintern bereits abgetrennt. Sodann wird das zweite Element des Kompositums (Flamme) im übernächsten Satz wiederaufgenommen, und das Bild wird weitergeführt (in einer nicht konventionalisierten sprachlichen Fassung). Schließlich wird in brandneu das semantische Element ,Flamme' noch einmal weitergeführt, ohne daß die gesamte Bildlichkeit des Vorhergehenden reaktiviert würde. Ein etwas anders gelagertes Beispiel für ausgedehntere Kontextbezüge: Bei den Tischreden in Püngjang, die jetzt bei den Festbanketten gehalten werden, fällt allerdings kein lauter Ton gegen Moskau, wie es sonst üblich ist, wo immer Chinesen tafeln. Das zeigt untrüglich an, daß Nordkorea einen lauten Kurswechsel jedenfalls nicht für opportun hält, und Peking ist damit zufrieden. Ihm ist die leise Annäherung dieses wichtigen Landes in seinem Rücken im Fernen Osten mehr wert wie Propaganda. (Echo der Zeit 6. 5. 78)

Hier kann kaum die Rede davon sein, daß die Bildlichkeit weitergeführt würde. Nicht der

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Grundbegriffe

laute Ton wird als Anknüpfungspunkt für die Weiterführung des Phraseologismus genommen, sondern nur das Adjektiv laut, das zunächst wieder aufgenommen, dann kontrastiv (leise) weitergeführt wird. Dabei ist merkwürdig und zugleich typisch (vgl. 5.3.2.6.), daß laut im zweiten Fall schon in einer etwas anderen Bedeutung als innerhalb des Phraseologismus verwendet wird, und dann leise vollends nicht mehr an das im ersten Satz mit dem Phraseologismus Gemeinte anknüpft (leise im Sinne von leicht, vorsichtig, zudem hier nicht mehr auf das Verhältnis zu Peking und Moskau bezogen, sondern auf das Verhältnis von Nordkorea zu China). Der folgende Text aus Horväths „Geschichten aus dem Wienerwald" demonstriert, wie durch den engeren und weiteren Kontext erkennbar wird, daß der Phraseologismus jdn. aus den Augen verlieren mit einer zynischen Nuance verwendet wird: Valerie: Wo steckt denn die arme Mariann? Alfred: Ich werde sie wohl aus den Augen verlieren — Valerie: Also du bist schon ein grandioser Schuft, das muß dir dein größter Feind lassen. (II, 6)

jdn. aus den Augen verlieren enthält die semantische Komponente ,unabsichtlich' und kommt daher normalerweise in Tempora der Vergangenheit vor (ich habe sie aus den Augen verloren). Schon die futurische Formulierung, die Alfred verwendet, hat etwas leicht Irritierendes; worin die Irritation aber genau besteht, wird nur durch Kenntnis vorangegangener Gespräche und des unmittelbaren Dialogkontextes erkennbar. Alfred hat die Absicht, sich von Mariann zu trennen, aber er will es nicht offen zugeben, sondern redet so, wie wenn das „Sich-aus-den-Augen-verlieren" ohne sein Zutun „einfach so" passiere. Der Kontext bewirkt hier eine Resemantisierung des Phraseologismus, insofern durch die zynisch-abweichende Verwendung die „normale" Gebrauchsbedingung (.absichtlich') bewußt wird. 3.2.2.10. Verletzung der semantischen Selektionsbedingungen Wenn die (satzinternen) semantischen Selektionsbedingungen eines Phraseologismus verletzt werden, ist zu erwarten, daß dies eine

Veränderung der Semantik des Phraseologismus zur Folge hat. Solche Modifikationen, die kaum anders als sehr bewußt und mit stilistischer Intention eingesetzt werden, gehören primär in die Domäne „poetischer" Sprachverwendung. Je nach Art der Regelverletzung ergeben sich unterschiedliche Effekte: So wurde die Tür zum Schlafzimmer aus den Angeln gehoben (Grass, Blechtrommel S. 480)

Zunächst selektiert wird hier die wörtliche Bedeutung von aus den Angeln heben (die Tür wird nämlich im folgenden verwendet, um einen Sarg daraus zu zimmern). Das Subjekt des Satzes (Tür) erlaubt keine andere als die wörtliche Dekodierung. Da man aber bei Phraseologismen primär die phraseologische Bedeutung dekodiert und nur durch besondere Kontextarrangements veranlaßt wird, die — potentielle — wörtliche Bedeutung zu verstehen, ist nicht zu verhindern, daß — insbesondere bei einem Leser, der vom sonstigen Sprachduktus des Autors Grass her „gewarnt" ist — hier die phraseologische Bedeutung mitschwingt, daß sich also eine Ambiguierung vom Typ des Wörtlich-Nehmens ergibt. ( . . . ) ganz frisch und wie am ersten Tage wollte er dem Schrank begegnen, weil auch der Schrank ihn mit offenen Armen empfing. (Grass, Blechtrommel S. 610).

Hier werden die Selektionsregeln in doppelter Weise durchbrochen, insofern nicht nur die phraseologische, sondern auch die potentielle wörtliche Bedeutung des Phraseologismus mit dem Subjekt (Schrank) unverträglich ist. Dadurch ergibt sich ein semantischer Kontrast der Bedeutungsmerkmale von Schrank mit dem für den Phraseologismus auf der phraseologischen wie der wörtlichen Ebene geltenden Merkmal ,menschlich'. Daraus resultiert ein metaphorischer Transfer dieses Merkmals auf Schrank, gleichzeitig auch ein witziger Effekt, insofern Schränke mit,Armen' eine merkwürdige Vorstellung sind. Der Metaphorisierungsprozeß, durch den Schrank das Merkmal ,menschlich' zugesprochen bekommt, setzt schon früher im Text ein, ζ. B.: „Schon wieder auf dem Wege zum Toilettentisch, vielleicht von der Absicht bewogen,

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Festigkeit und Variabilität

nun endlich die vermeintlichen Salbendöschen öffnen zu wollen, befahl mir der Schrank, seine Ausmaße zu beachten, seinen Anstrich schwarzbraun zu nennen, den Profilen seines Gesimses zu folgen und ihn endlich zu öffnen; denn jeder Schrank will geöffnet werden." (S. 610) „Seit Sophie", sagte der sprechende Butt, „ist die Küche wie aus dem Häuschen" (Grass, Butt, S. 5 3 2 )

Hier wird der Küche das Merkmal ,menschlich', ,mit Emotionen' zugeschrieben, und zugleich ergibt sich ein Wortwitz, insofern ein Element Häuschen des an sich unmotivierten Phraseologismus mit dem Subjekt Küche in ein groteskes semantisches Verhältnis gebracht wird. In diesem, wie auch dem vorhergehenden Beispiel, liegt also ein Sonderfall von Polysemantisierung vor. Für Ihr wertvolles Geschirr sollte Ihnen nicht jedes Mittel recht sein (Calgonit)

Die phraseologische Bedeutung von jdm. ist jedes Mittel recht verträgt sich semantisch nicht gut mit Für Ihr wertvolles Geschirr (es müßte allenfalls heißen um so ein wertvolles Geschirr zu bekommen (...) o. ä.). Dadurch und durch den Bezug zum Bild (CalgonitPackung und Geschirr) wird der Phraseologismus wörtlich genommen, wobei der semantische Prozeß punktuell, vom Wort Mittel aus, in Gang kommt. An diesem Beispiel wird besonders deutlich, daß die Rede von der wörtlichen Bedeutung eines Phraseologismus eine ungerechtfertigte Simplifizierung darstellt (vgl. 2.2.). Hier ist es einfach eine der möglichen lexikalischen Bedeutungen von Mittel (eine eher „konkrete" Bedeutung: ,Putzmittel'), die aktualisiert wird. Schließlich sei ein Werbetext analysiert, bei dem die Verletzung von Selektionsbedingungen nur den ersten Anstoß gibt für eine ganze Kette von semantischen Ereignissen (die ζ. T . unter anderen Modifikationstypen zu behandeln wären): Der Kopierer, der aus einer Mücke einen Elefanten macht. (Und umgekehrt.)

[Darunter Illustration: ein Elefant mit Mückenflügeln] Minolta ( . . .) Kann kopierverkleinern Kann kopiervergrößern Kann ein klein bißchen mehr als bloß kopieren ( . . . ) ist es für Ihre Mitarbeiter wirklich eine Kleinigkeit, Großes klein und Kleines groß zu machen. (Tages-Anzeiger 22. 9. 80)

Zunächst ergibt sich eine Inkompatibilität zwischen Kopierer und dem Phraseologismus aus

einer Mücke einen Elefanten machen (der ein

menschliches Subjekt voraussetzt). Diese Selektionsverletzung macht den Phraseologismus „offen" für neue Interpretationen. Auch der Folgesatz in Klammern deutet daraufhin, daß nicht (bloß) die übliche phraseologische Bedeutung gemeint sein kann. Wenn man nun das darunterstehende Bild anschaut, realisiert man, daß es irgendwie um die wörtliche Bedeutung des Phraseologismus geht. Der weitere, kleiner gedruckte Text zeigt dann aber, daß der Rezeptionsprozeß noch komplexer sein muß: Dominant gemeint ist innerhalb des Werbetextes der Vorgang Großes klein und Kleines groß machen. Innerhalb des Phraseologismus ist dies aber eine Zwischenstufe zwischen der eigentlich wörtlichen Bedeutung, auf die das Bild verweist (konkret ,aus einer Mücke . . . ' ) , und der phraseologischen Bedeutung (,etwas Geringfügiges aufbauschen', also abstrakt und mit negativer Konnotation). Insgesamt kann man also den Vorgang so formulieren: Der Phraseologismus wird wörtlichgenommen, in dem Sinne, daß nicht die phraseologische Bedeutung gemeint ist (diese spielt für das Inserat überhaupt keine Rolle, und die negative Konnotation wird — wie auch sonst — in Kauf genommen). Es ist aber auch nicht die potentielle konkrete wörtliche Bedeutung gemeint, sondern eine bereits metaphorisierte Bedeutungsebene. 3.2.2.11. Verletzung der textlinguistischen Bedingungen Solche Phraseologismen, deren Bedeutung sich nur durch Bezug auf die transphrastische Textumgebung oder den Situationstyp, in dem sie verwendet werden, beschreiben läßt, sind —

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Grundbegriffe

wohl weil sie viel weniger „auffällig" sind als die metaphorischen Wortverbindungen — viel seltener Gegenstand der Modifikation. Modifikation solcher Formeln kann dann primär heißen: Herauslösen aus dem textuellen oder situationeilen Zusammenhang, in den sie normalerweise eingebettet sind, eventuell Hineinstellen in einen textlinguistisch bzw. pragmatisch „unsinnigen" Zusammenhang. Eine Fülle von Beispielen dafür findet sich in G. Eichs „Maulwürfen", die voll sind von Irreführungen des Lesers, voll von „blinden Wegen"; immer werden Erwartungen aufgebaut und enttäuscht. Die unterseeischen Städte, Vineta, auch hier (siehe oben) jede Stadt eine Wunde, nur zu heilen, indem man in die nächste geht, wo eine neue Wunde etc. etc. — So beginnt der zweite Abschnitt in „Erste Notiz zu einem Marionettenspiel" (S. 46). Wenn man nun dem Textverweis siehe oben nachgeht und nach etwas wie .Stadt1 oder ,Wunde' oder etwas sonst in diesem Sinne Genannten sucht, sucht man vergeblich. Dann kann man sich auf die Suche im weiteren Rahmen der „Maulwürfe" machen, vielleicht findet man etwas, aber ob es das Gemeinte ist, bleibt dahingestellt; es bleibt überhaupt unsicher, ob der Verweis wirklich als Verweis — also in seiner üblichen textuellen Funktion — gemeint ist. Der letzte Abschnitt von lautet:

„Preisgünstig"

Und woher kommst Du? Ich war immer hier, aber ich gehe jetzt. Durchs Birnenspalier? Alte Holzbirnen, nein, mit der Eisenbahn. Das ist das sicherste. Auf einer Fensterscheibe, aller et retour. Gute Andacht, grüß alle. (S. 73) Gute Andacht, grüß alle steht als Abschluß eines nur fragmentarisch ausgeführten Dialogs (der übrigens erst mit diesem letzten Absatz beginnt). Gute Andacht und grüß alle können durchaus als Schlußsignale in Dialogen Verwendung finden, doch ist es äußerst unwahrscheinlich, daß sie im Abschluß eines Dialogs gerade dieser Art auftreten, außerdem müßte man sich schon ein sehr spezielles Situationsarrangement ausdenken, damit die beiden Formeln in Kombination sinnvoll erscheinen.

3.2.2.12. Häufung, Kontamination, Katachrese Häufung von Phraseologismen auf engem Raum braucht für die einzelnen Wortverbindungen nicht unbedingt Folgen zu haben, wenn auch der ganze Text in bestimmter Weise als stilistisch markiert auffällt (vgl. den in 1.4.1. besprochenen Text von Brant). Häufungen von Phraseologismen kommen nicht nur in literarischen oder sonst bewußt sprachspielerischen Texten vor, sondern auch ζ. B. in journalistischen Texten, die auf rhetorische Effekte abzielen. Freilich ist ein Beispiel wie das folgende schon eher ein Grenzfall: „Die Türe ist jetzt wenigstens einen Spalt breit offen", meinte heute Nationalrat F. M. Aber auch so haben Sozialdemokraten und Gewerkschafter noch kräftig zurückbuchstabieren müssen, jedenfalls wenn man ihre Mitbestimmungsinitiative von 1976 zum Maßstab nimmt. Unter den gegebenen politischen Zuständen sind sie aber offenbar gewillt, dies in Kauf zu nehmen, frei nach dem Motto: lieber den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach. Die Sozialdemokratische Fraktion jedenfalls soll sich großmehrheitlich hinter diesen Kompromiß gestellt haben. Ob da auch die gesamte Basis mitmacht, ist eine andere Frage. Ähnliches gilt auch für die CVP, auch hier werden einige wohl etwas zum Würgen haben mit dieser Formel, wenn auch aus anderen Gründen. Deutlich ablehnend war in der Kommission, ich habe es bereits erwähnt, die Haltung von SVP und FDP, besonders groß dürfte der Widerstand von freisinniger Seite werden, die Freisinnigen haben ja ihr eigenes Eisen im Feuer, es heißt „Beschränkung der Mitbestimmung vorerst einmal auf die betriebliche Ebene". Man könne dann später weitersehen. Für böse Zungen hieß das, Verschiebung auf den St. Nimmerleinstag. Nun, der Kommissions· kompromiß geht jetzt vorerst an den Bundesrat, dieser wird eine Vernehmlassung einleiten, dann Bericht erstatten und den Ball wieder ans Parlament weitergeben. Die nächste Volksabstimmung zu diesem Thema dürfte damit noch eine Weile auf sich warten lassen. Vor allem die Hürde im Ständerat dürfte der Vorlage noch einige Probleme aufgeben. Wetten? (Echo der Zeit) Bei Häufungen kann nun leicht der Fall eintreten, daß die Bildsphären der Phraseologismen nicht miteinander vereinbar sind. Dann ergibt sich ein „Bildbruch" (Katachrese). In literarischen Texten können solche Bildbrüche

Festigkeit und Variabilität bewußt eingesetzt werden, u m eine wechselseitige Ambiguierung zu erzielen oder das „Redensartliche" der einzelnen Wendungen als solches sichtbar zu machen. Im folgenden Beispiel geschieht beides (in Verbindung mit dem Verfahren der Verkürzung): Er entsteht, wo sie sich zusammenraufen und einander das Wort erteilen, wo sie hakein rangeln mitmischen hemdsärmlig sind, wo sie sich unter vier Augen besser (schon etwas besser) verstehen, wo sie alle in einem Boot und keine Krähe der anderen, wo sie von sich abzusehen bemüht sind und zwinkernd das Ganze im Auge haben (Grass, Aus dem Tagebuch einer Schnecke, S. 285) Auch in der „poetischen" Diktion der Werb u n g können Bildbrüche als beabsichtigte auftreten: Ein Kopf kann erst frei denken, wenn er nicht mehr alle Hände voll zu tun hat. (Henkel, 5. 8. 76) (Auf dem Bild sieht man eine elegante junge Frau, die in einer Bibliothek sitzt und liest. Die Frau k a n n sich das leisten, weil Henkel durch seine Waschmittel Millionen Frauen jeden Tag ein bißchen mehr Freiheit und ein bißchen mehr Freizeit verschafft.) alle Hände voll zu tun haben wird durch die Katachrese (mit dem metonymisch verwendeten Kopf) remotiviert. In Sachtexten und nicht-poetischer Sprache allgemein hingegen ist die Katachrese verpönt und wird seit alters in Stillehrbüchern bekämpft. Durch die Stillehrbücher des 19. und 20. Jhs. zieht sich als roter Faden — m a n gestatte uns einen sinngemäßen Kalauer — der Zahn der Zeit, mit dem angeblich immer wieder bedeutender U n f u g getrieben wird; ζ. B. Zur Übung. Verunglückte Bilder finden sich in den folgenden Ausdrücken. Verbessere sie! Das innere Auge bevölkert Weltteile und hebt Länder aus dem Sumpfe. Der Zahn der Zeit, der alle Tränen trocknet, wird auch über diese Wunde Gras wachsen lassen. Wir wollen diese brennende Frage nicht erschöpfen. Laß nicht des Neides Zügel umnebeln deinen Geist. Mit den Schlingen, die er dem Nachbar gestellt hatte, gräbt er sich sein eigenes Grab. Man muß die Gelegenheit bei der Stirnlocke ergreifen. Das war ein Donnerschlag ins Pulverfaß. Dr. Strauss hat seinen Lehrstuhl wegen vorgerückten

87

Alters niedergelegt. Er hat manches Haar in seiner Krone gefunden. Dieses Schreckgespenst ist längst abgedroschen. Mit gefalteten Händen hatte das Mutterohr die Bitte des Kindes angehört. Dem Unglücklichen ist keine helfende Hand zur Seite gestanden, die ihn vom Rande des Abgrunds zurückgezogen und ihm zugerufen hätte: Bis hieher und nicht weiter! Er kam wie ein Blitz hereingeschneit. (Kammerer 1903, S. 44) Schlimmer Bilderunfug wurde mit dem Zahn der Zeit getrieben: Der Zahn der Zeit hat doch schon einigen Rost auf Frau Suchers Organ gelegt (aus einer Hamburgischen Zeitung). — Der Zahn der Zeit, der alle Tränen trocknet, wird auch über diese Wunde Gras wachsen lassen. Aus Zeitungen schöpfe ich noch folgende Perlen: ,Das große Haus, das sein verschwenderischer Sohn führte, fiel als einziger Wermutstropfen in den Becher der Freude des Alten und wurde der Nagel zu seinem Sarge. — Der Bürgervorsteher G. legte den Stadtverordneten den schon seit Wochen in der Ostertorstraße angesammelten Unrat warm ans Herz.' (Engel, 1931, S. 433) In neuester Zeit ist der Zahn der Zeit — auch ohne Kontamination — endgültig dem Verdikt der Sprachkritik verfallen: Sie kann endlich noch ökonomisiert werden, zum Gebrauchsgegenstand alltäglicher Redeweise herabsinken, manchmal mit einem kitschigen Mäntelchen angetan: der Fuß des Tisches, der Zahn der Zeit. Von solchen Randerscheinungen her, wenn sie auch im täglichen Sprachgebrauch sehr häufig sind, kann das Wesen der sprachlichen Schaffensvorgänge nicht erfaßt werden. (Seidler 1953, S. 285) Der dichteste T y p der Katachrese ergibt sich, wenn zwei in ihrer Bildlichkeit unvereinbare Phraseologismen miteinander kontaminiert werden. Im literarischen Bereich können die resultierenden semantischen Effekte b e w u ß t ausgenützt werden, ζ. B.: denn eine Möve nimmt alles mit, ist keine empfindliche Taube, schon gar keine Krankenschwester — es wäre auch allzu einfach, könnte man alles, was Weiß trägt, in einen Hut werfen, in einen Schrank stecken. (Grass, Blechtrommel, S. 613) Kontaminiert sind alles in einen Topf Sachen unter einen Passus wäre also so

hier die Phraseologismen werfen und verschiedene Hut bringen. Der ganze zu interpretieren: „So un-

88

Grundbegriffe

vereinbare Wesen wie Möven, Tauben oder Krankenschwestern gleichzusetzen, hieße die Dinge allzu einfach betrachten, wäre eine unzulässige Vereinheitlichung. Die Fortsetzung mit ,in einen Schrank stecken' ist teils eine assoziative Weiterführung mit Idiom-Charakter, teils eine Anspielung auf den realen Schrank, in welchem Oskar zwischen Schwester Dorothees weißen Berufskleidern sitzt. Dieser Bezug auf einen wirklichen Schrank hat einen Umschlag von der idiomatischen auf die literale Bedeutungsebene zur Folge, der rückwirkend die Rezeption des Idioms verändert usw." (Schweizer 1978, S. 44f.) Eine sehr pointierte, den Textsinn schlaglichtartig verdeutlichende Kontamination findet sich in Brechts „Das Lied vom Klassenfeind", 2. Strophe: Und sie sagten mir: wenn ich brav bin dann werde ich dasselbe wie sie. Doch ich dachte: wenn ich ihr Schaf bin Dann werd ich ein Metzger nie. Und manchen von uns sah ich Der ging ihnen auf den Strich Und geschah ihm, was dir und was mir geschah Dann wunderte er sich. Mich aber, mich nahm es nicht wunder Ich kam ihnen frühzeitig drauf: Der Regen fließt eben herunter Und fließt eben nicht hinauf. (Brecht, Gedichte III, S. 27) Hier sind bewußt die phraseologischen (nicht die wörtlichen!) Bedeutungen der Phraseologismen auf den Strich gehen und jdm. auf den Leim gehen übereinandergelegt. Der ging ihnen auf den Strich heißt soviel wie ,der vom Klassenfeind gekaufte Proletarier prostituiert sich'. Auch phraseologische Vergleiche — bei denen ja keine potentielle Doppeldeutigkeit vorliegt — können bewußt für Kontaminationen eingesetzt werden. Im folgenden Text könnte man — je nach Interpretation — von lexikalischer Substitution oder Kontamination sprechen: Zu Pauls Erleichterung war vor vier Wochen an irgendeinen Heiratstermin nicht zu denken, und wenn man an einem bestimmten Tag heiraten wollte, wie Weihnachten oder Pfingsten, dann mußte man

sich ein halbes Jahr vorher anmelden. Pauls Satz dazu war: „Die Leute heiraten, scheint's, wie die Fliegen." Einen Kommentar dazu wollte er nicht geben. Meine Person glaubt, daß er es mit dem Satz: Die Leute sterben wie die Fliegen durcheinandergebracht hat. (Plenzdorf, Legende, S. 306) Eine Substitution läge vor, wenn im Phraseologismus sterben wie die Fliegen das (wie bei phraseologischen Vergleichen üblich, in seiner freien Bedeutung verwendete) Verb als durch ein stark kontrastierendes Verb ersetzt betrachtet würde. Ebenso gut könnte man sagen — und das wird durch den Kontext gestützt —, daß ein nicht-phraseologischer und nicht-ausgedrückter Vergleich heiraten wie . . . mit dem existierenden phraseologischen Vergleich sterben wie die Fliegen kontaminiert ist. Durch den Zusammenhang des Romans ist klar, daß heiraten und sterben für Paul in eine enge semantische Beziehung geraten sind. Die Kontamination bewirkt für den Leser eine Informationsverdichtung, nach Art eines „Freudschen Versprechers" (Paul sagt heiraten und meint sterben bzw. beides zugleich, und heiraten enthält die durch den Vergleich wie die Fliegen suggerierten abwertenden Konnotationen). Kontaminationen unterlaufen nicht selten bei schriftlichen Produkten, wenn man sich der Metaphorik oder der lexikalischen Besetzung eines Phraseologismus nicht ganz sicher ist. Das kennt man zur Genüge aus Schulaufsätzen, ζ. B. aus unserem Material (vgl. 6.4.4.1.): Der Rest der Klasse hielt dicht zusammen aus: hielt dicht + hielt zusammen mehr Aufsehen erheben aus: Aufhebens machen [das ist hier gemeint] + Aufsehen erregen aus der Reihe fallen aus: aus der Reihe tanzen + aus dem Rahmen fallen zu einer Lüge Ausflucht suchen aus: zu einer Lüge Ausflucht nehmen + eine Ausflucht suchen Er hatte eine prächtige Mähne, welche er kräftig schüttelte, um Eindruck zu erwecken. aus: Eindruck machen + den Eindruck erwecken, daß. . .

89

Festigkeit und Variabilität

Die Besitzer des Restaurants nahmen sich auch viel Mühe. aus: sich Mühe geben + sich die Mühe nehmen + Inf. Satz Diese Kontaminationen sind ausschließlich durch formale und semantische Assoziationen verursacht. Sie könnten überall im deutschen Sprachgebiet vorkommen. Darüberhinaus finden sich in unserem Material Belege für solche Kontaminationen, die durch Interferenzen zwischen Mundart und Standardsprache zustandegekommen sind, z.B.: Zum Vorschein kam ein gelber Vogelkäfig hervor (aus: zum Vorschein kommen + schwdt. isch vüre choo) Ein an Raffinesse und Komplexheit der semantischen Überlagerungen — erzielt durch die verschiedenartigsten Formen der Modifikation, vor allem durch Katachresen und Kontaminationen — kaum mehr zu überbietender Text ist der von Koller und noch eingehender von Schweizer (1978, S. lOOff.) interpretierte berühmte Abschnitt aus der „Blechtrommel": Mama konnte sehr lustig sein. Mama konnte sehr ängstlich sein. Mama konnte schnell vergessen. Mama hatte dennoch ein gutes Gedächtnis. Mama schüttete mich aus und saß dennoch mit mir in einem Bade. Mama ging mir manchmal verloren, aber ihr Finder ging mit ihr. Wenn ich Scheiben zersang, handelte Mama mit Kitt. Sie setzte sich manchmal

ins Unrecht, obgleich es ringsherum

Stühle genug gab. Auch wenn Mama sich zuknöpfte,

metaphorischen, jedenfalls nicht-wörtlichen Charakters der Wortverbindung bewußt ist, daß man sie allenfalls im phraseologischen und/oder wörtlichen Sinn meint u.a. Da es sich um ein Verfahren handelt, das „Phraseologische" des Phraseologismus bewußt zu machen, kann man es als Grenzfall von Modifikation auffassen. Signale für das „Redensartliche" des Phraseologismus liegen in den beiden folgenden Texten vor: Seit ihr Mann vor mehr als zwanzig Jahren plötzlich gestorben ist, hat sie einen kleinen Sprung in der Schüssel, wie man so sagt. (Späth, Commedia S. 38) Ich dachte, wie man so sagt, der Teufel reite und der Hafer steche mich, so war es wohl auch. (Späth, Commedia S. 45)

Im nächsten Beleg wird durch einen Ausdruck, der seinerseits bereits ein Phraseologismus ist, auf konventionelle Weise angedeutet, daß die kommentierte phraseologische Wortverbindung besonders „treffend", „sinnvoll" verwendet, weil klar motiviert ist: Aber im Fall meiner Frau war ich außerdem überzeugt, daß sie in dem Mann tatsächlich den richtigen Partner hatte, daß sich die beiden im wahrsten

Sinne

des Wortes gesucht und gefunden hatten. (Plenzdorf, Legende . . . , S. 143)

Die weiteren Belege zeigen verschiedenartige Fälle von Ambiguierung:

blieb .sie mir aufschlußreich. Mama fürchtete die

( . . . . ) hing das kleine Zug [ = Schweizer Kanton]

Zugluft, und machte dennoch ständig Wind. Sie

gewissermaßen

lebte auf Spesen und zahlte ungerne Steuern. Ich war die Kehrseite ihres Deckblattes. (S. 1 9 3 / 1 9 4 )

in der Luft (NZZ, 8 . 1 1 . 7 8 )

Bei diesem P r o j e k t . . . stehen namhafte Unternehmungen auf unserer Seite. Sie sorgen mit dafür, daß Ihre Investition sozusagen

auf goldenen Boden fällt.

3.2.2.13. Metasprachliche Kommentierung

(NZZ, nach Koller S. 183)

Wir sahen in 1.4.2., daß Sprichwörter heutzutage kaum mehr ohne metasprachliche Kommentierungen von der Art wie man so schön sagt oder es gibt da das Sprichwort ... vorkommen. Bei anderen phraseologischen Typen kann durch vergleichbare Signale auch das „Redensartliche", das „Gebräuchliche" der Wendung, auch die Tatsache, daß man eine derartige Situation üblicherweise so und so charakterisiert, angezeigt werden. Oder es wird darauf hingewiesen, daß man sich des

gewissermaßen und sozusagen geben entweder zu verstehen, daß man zwar die phraseologische Bedeutung des Phraseologismus meint, daß sie aber literalisiert oder remotiviert werden soll und der wörtliche Sinn mitzuverstehen ist, oder im Gegenteil: daß sie nicht allzu wörtlich verstanden werden dürfen. Wir saßen, wie immer mit einem Glas Mosel in Reichweite, auf meiner Couch, ohne uns doppeleindeutig,

wie

näher zu kommen. (Grass, örtlich be-

täubt, S. 179)

90

Grundbegriffe

Das Raffinierte an dieser Kommentierung ist, daß man nicht genau weiß, was mit eindeutig gemeint ist, die phraseologische oder die wörtliche Ebene. Wenn die wörtliche, dann ist eindeutig wieder eine Art Wortspiel (vom Typ eindeutig zweideutig). Die Schweiz gerät buchstäblich ins Schußfeld einer geheimen, noch unbekannten Organisation. (Radio DRS, Morgenjournal 13.10.80)

Durch buchstäblich wird hier eine Polysemantisierung bewirkt (der Satz bezieht sich auf Bombenattentate, die auf schweizerische Fremdenverkehrseinrichtungen in London und Paris verübt wurden). Dort, wo keine durch Metaphern o.ä. erzeugte potentielle Doppeldeutigkeit vorliegt, kann das metasprachliche Signal immerhin eine Resemantisierung bewirken: Seit ruchbar geworden ist, daß die anfänglich unerklärlichen Schäden an Gummi- und Kunststoffteilen bei namentlich im Raum Winterthur parkierten Autos auf das Konto von freßlustigen Steinmardern gehen, sind diese im eigentlichen Wortsinn ihres Lebens nicht mehr sicher. An der Verminderung des Marderbestands beteiligt sich nämlich auch der Kanton, in dem gegenwärtig für jeden erlegten Steinmarder eine Prämie von 40 Franken aus dem kantonalen Wildschadenfonds ausgerichtet wird. In einem am Donnerstag veröffentlichten Papier legt der Regierungsrat im einzelnen dar, welche Bewandtnis es mit der Marderplage hat und was für „Gegenmaßnahmen" eingeleitet worden sind. (Tages-Anzeiger 30.8.80)

Auch graphische Mittel — vor allem Anführungszeichen — können eine ähnliche metasprachliche Funktion haben wie lexikalische Mittel (vgl. auch Koller 1977, S. 195): Jetzt können Sie Ihr „blaues Wunder" erleben Den neuen Long Lash Mascara mit Protein. Von Margaret Astor. (...) Für junge schicke Augenblicke (5.8.76)

(Das Beispiel ist analysiert in 3.2.3.2.) 3.2.2.14. Phraseologismus als textstrukturierendes Prinzip Als Grenz- und Extremfall von Modifikation kann die bei verschiedenen modernen Autoren

zu beobachtende Technik gelten, aus einem Phraseologismus ganze Textabschnitte oder gar ganze abgeschlossene Texte zu „entwikkeln". (Das Gegenstück dazu wäre Handkes Verfahren, einen Text aus lauter verschiedenen Phraseologismen zu „klittern", vgl. 1.4.1.). Für G. Grass ist dies Verfahren charakteristisch. Wenn man so will, kann man die meisten seiner Werke als Entfaltungen der im Titel angesprochenen Phraseologismen auffassen: der Held der „Blechtrommel" redet Blech, in „Katz und Maus" wird der Titel realiter vorgeführt (eine reale Katze wird Mahlke an den Adamsapfel [= die Maus] gesetzt), in den „Hundejahren" kommen die Leute auf den Hund, in „örtlich betäubt" wird jdm. auf den Zahn gefühlt usw. Das strukturbildende narrative Prinzip besteht dann generell darin, daß die (oder eine) potentielle wörtliche Bedeutung des Phraseologismus einen Handlungsstrang konstituiert, während die phraseologische Bedeutung etwas wie eine „Interpretation" liefert. Auf kleinerem Raum, aber sehr intensiv, ist dies Prinzip in der Mehlwurmepisode der „Hundejahre" durchgehalten. Dort wird gezeigt, daß im Wirtschaftswunder der 'Wurm drin ist. Z.B. „Hört nicht auf den Wurm, im Wurm ist der Wurm!" (S. 491, auch S. 501 und 514) Die freie Marktwirtschaft wird vom Mehlwurm geritten. (S. 501)

Ein besonders amüsantes und geistreiches Stück Prosa hat G. Eich aus dem Phraseologismus kleiner Mann im Ohr (meist in der Form du hast wohl 'n kleinen Mann im Ohr o.ä.) entwickelt. Der kleine Mann wird personifiziert und zugleich — auf der phraseologischen Ebene — in Verbindung gebracht mit anderen Phraseologismen, die ebenfalls soviel bedeuten wie ,spinnen' (Du hast nicht alle Tassen im Schrank, weiße Mäuse sehen): Ode an meinen Ohrenarzt Der kleine Mann in meinem Ohr sagt: Fahre nach Madeira! Ich fahre nach Madeira. Alles ist so blau und weiß wie ichs mir dachte. Er fragt: Siehst du rosa Mäuse? Ja, sage ich, tatsächlich. Und schon

Festigkeit und Variabilität huschen sie durchs Zimmer, liebe, ziemlich große Tiere, sehr zutraulich, fast dressiert.

91

Andere Frauen in meiner Lage haben vielleicht einen Freund, ich nicht, ich mag nicht, ich will nichts

im

Näheres mehr anfangen, mit niemandem mehr. Ich

Schrank! Ich zähle. Fünf. Es müßten zwölf sein. Eine

möchte, daß alles ruhig bleibt. Ich schlafe schlecht,

Vorgestern

sagte

er:

Zähle

die

Tassen

oder zwei vielleicht noch im Abwasch, nein, nur

aber ich bin ziemlich gesund. Die Kinder sind auch

eine. Oder zähle ich falsch? Wirklich, einmal komme

schon die paar Jährchen seit dannzumal älter. Wie

ich auf fünf, einmal auf sieben, eins, zwei, drei —

gerne hätte auch ich oft schon den Blinden genom-

Tatsachen beruhigen mich, Ha, sage ich zu dem kleinen Mann, aber auf Interjektionen antwortet er nicht. Er sitzt in meinem linken Ohr, auf dem höre ich schlecht. Seit kurzem auch auf dem rechten. Vermutlich eine kleine Frau im rechten Ohr, und sie treffen sich, während ich schlafe. Seine Unruhe fällt mir in letzter Zeit auf. Aber wo treffen sie sich? Im Nasen-Rachen-Raum, so wird man mißbraucht. Ich besuche meinen Arzt, der für diese Gegend spezialisiert ist. Er macht ein optimistisches Gesicht und hat die schwedische Methode. Skol, sagt er, ich habe Ihnen doch gesagt, daß Sie keine Watte tragen sollen, und er zieht die Bäusche heraus. Frische Luft, sagt er. Kaum bin ich zuhause, fängt der Kleine wieder

men, aber das geht natürlich nicht. Man merkt das schon, wenn man sich nur schon fragt, was denn dann überhaupt passieren würde, zum Beispiel nur schon mit den Kindern. Ich könnte das nie. Die Welt ist zwar sicher riesengroß, aber man ist hier. Andere fragen sich einfach nichts, sie gehen einfach über alles hinweg, so sieht es aus. Was denkt so einer in der Nacht? Was macht man, wenn man den Blinden genommen hat und irgendwo weit weg in der Fremde mit seinem Koffer aussteigt? In geheimen Gedanken habe ich mich damals oft von meinem Mann scheiden lassen oder bin einfach weggegangen. Vielleicht haben ihn diese geheimen Gedanken zuerst immer

mehr von

mir weggestoßen

und

schließlich vertrieben. (S. 51)

an zu reden und beschwert sich über die ärztliche Behandlung. Übrigens muß ich heiraten, sagt er, meine Geliebte erwartet ein Kind. Wie stellt ihr euch das vor, frage ich zornig, aber jetzt antwortet er kein Wort mehr. (Eich, Maulwürfe, S. 16)

3.2.3. Erstes Beispiel: Werbeanzeigen Untersucht und vollständig ausgewertet wur-

In G. Späths „ C o m m e d i a " interpretiert eine

den drei aufeinanderfolgende Hefte des J a h r -

der Figuren ihren ganzen Lebenslauf als E x e m -

gangs 1 9 8 0 (8, 9 , 1 0 ) von „ B r i g i t t e " .

plifikation des Phraseologismus jd.

k a m e n fallweise Beispiele aus anderen Heften

Blinden

genommen

hat

den

(ein wohl a u f die deutsche

Schweiz beschränkter Ausdruck): Ruth Keller-Hug Manche hauen eines Tages ab. Wir sagen dann: Er hat den Blinden genommen. Vielleicht weil man ihn nicht mehr sieht, vielleicht weil er nichts mehr sehen will, alles ist ihm verleidet. Es ist besser, einer nehme den Blinden, als daß er sich aufhängt oder seine Familie und sich selbst erschießt oder vergiftet, wie es vorkommt. Man geht jeden Tag zur Arbeit. Es ist immer eine

Dazu

und anderen Zeitschriften/Zeitungen. Ca. einen

die Hälfte oder

der Anzeigen

mehrere

verwenden

Phraseologismen.

Die

Palette der auftretenden reproduzierten

Ein-

heiten reicht hier von den Phraseologismen im engeren Sinne bis hin zu Zitaten und Filmtiteln. Weitaus a m häufigsten jedoch sind die Phraseologismen. die Anzeigen

(Nebenbei sei gesagt,

ohne

Phraseologismen

daß

häufig

sonst irgendeine stilistische Auffälligkeit aufweisen.)

Überwindungssache, ekelhaft, aber man ist von jung

Die auftretenden Phraseologismen sind e t w a

auf irgendwie dressiert. Man muß ja auch Geld ver-

zur Hälfte n o r m a l verwendet, o h n e Modifika-

dienen. Zwei Kinder, die Wohnung, der Haushalt und alles. Mein Mann hat den Blinden genommen, ich weiß nicht wohin, sicher in ein billiges sonniges Land. Er hat mir schon lange bevor er ab ist keine Alimente mehr bezahlt. Wir waren schon geschieden, es ging nicht mehr. Er soff und ich heulte, ich war

tionen. Modifikationen der Semantik

durch

K o n t e x t o d e r Bild sind deutlich häufiger als Veränderungen des W o r t l a u t e s (Verhältnis c a . 3:1). Normale

und

abweichende

Verwendung

niemand mehr, und die Kinder neun und sechs da-

findet sich sowohl an den prominenten Stellen

mals. Zum Glück habe ich eine richtige Berufslehre

der Anzeige als a u c h im laufenden (kleinge-

gemacht und eine Stelle gefunden.

druckten) T e x t .

92

Grundbegriffe

3 . 2 . 3 . 1 . N o r m a l e Verwendung Hier dominieren im laufenden T e x t die Zwillingsformen und Modellbildungen, und zwar ein ganz kleines Inventar immer wiederkehrender Ausdrücke, die meist

produktspezifisch

Die Sicherheit, mit Supplegen das Beste für Ihre Haut zu tun (Germaine Monteil) — Selbstpräsentation des Produkts (indem es sich in direkter Rede vorstellt): Darf ich mich vorstellen (Tampax Tampon)

angewendet werden. Ζ . B. sorgen Kosmetika

— Das Werbeversprechen:

dafür, daß die H a u t gegen

Wetten, daß Gesundheit einfach nicht besser schmekken kann? (Die Weiße Nestle, Schokolade) Es gibt ein Land ganz in Ihrer Nähe, das können Sie 365mal im Jahr neu entdecken. Wetten, daß. Deutschland, Ihr näh'stes Urlaubsland. (Deutsche Bundesbahn)

Wind und

Wetter

geschützt ist. Zahlreiche Produkte m u ß man Tag für

Tag

(ζ. B. Payot) anwenden, durch

Appetitzügler (ζ. B. Regulin) wird m a n Tag

zu

Tag

schlanker, bestimmte

zen fehlen der H a u t mehr

und

mehr

(Louis

und

Nacht

— Versuch, den Konsumenten zur Identifika-

wohl

tion mit der Werbeintention zu veranlassen;

Massage-Geräte

effizientes Mittel dafür ist die Verwendung

Widmer), Bakterien greifen Tag (Blendax) die Z ä h n e an, Sie fühlen von

Kopf

bis

Fuß

durch

von

Substan-

sich

(Müko-Massage). Allgemeiner: Darüber

sind

sich groß und klein einig . .. (Nestle) Tag für Tag ist dabei am vielseitigsten verwendbar, für alles, was man jeden T a g braucht oder täglich anwenden sollte. Die übrigen Phraseologismen

formulieren

häufig die Pointe einer der für Werbebotschaften im allgemeinen zentralen

Komponenten,

ζ. B.

direkter Rede (nicht selten mit einem „repräsentativen" Konsumenten im Bild): Ich gehe meinen eigenen Weg (J'ai ose, Laroche, Parfüm) Ich gehe wieder unter die Leute (Branslim, Diätplan) Ich sage immer, auf Bauknecht kann man sich verlassen Ein weiterer üblicher Trick besteht darin, dem Konsumenten zu suggerieren, daß er modern,

— Einmaligkeit und Faszination des Produkts:

aufgeschlossen, sogar erst ganz er selbst ist,

Ravissa Eau de Toilette hat was . . . [Punkte im Text]

wenn

Die dezente Kühle, die auf den ersten Blick als ein

Modelle wie Die Frau von heute o. ä.

Hauch von Unnahbarkeit erscheinen mag (Platin Gilde) Sie besitzen das gewisse Etwas (Zeiß Sonnenbrillen) Die Uhr, die neue Horizonte setzt. (Rado) Die Weiße Nestle, die hat's in sich. — Fortschrittlichkeit und innovatorischer Charakter des Produkts: Sie werden Augen machen (Miele) Der Zeit einen Schritt voraus (Marbert) Das Ansehen auf vier Rädern wird längst nicht mehr in Metern und Litern Hubraum gemessen. Die Zeiten sind vorbei (Ford) Die Uhr, die man den „Leader in Styling" nennt. Weil sie Trends setzt, welche die Welt erobern. (Rado) (Unannehmlichkeiten, die) endgültig der Vergangenheit angehören (Tampax) — zuverlässige Qualität des Produkts: Stellen Sie unsere (. . .) Sauger auf die Probe (Miele) Gehen Sie auf Nummer Sicher (Soltron-Bräuner) Ich sage immer, auf Bauknecht kann man sich verlassen

er das

Produkt

kauft.

Gängig

sind

Die Frau von heute nimmt sich (. . . ) mehr Zeit (Placentubex) Für Mädchen von heute (Janine D.) Eine Frau ist ganz Frau mit dem Duft von dane Denn welcher Frau macht es nicht Spaß, mit der Mode zu gehen (Poly Style) Neben diesen für Werbung allgemein geltenden Aspekten sind es wie gesagt häufig Aspekte des spezifischen Produkts oder der betreffenden Firma, die durch den

Phraseologismus

pointiert ins Licht gerückt werden: (typisch für ein Kaufhaus:) Der Kaufhof bietet tausendfach alles unter einem Dach (Staubsauger erleichtern das mühsame Putzen, daher:) mit leichter Hand (Miele) Schluß mit Staubrändern . . . (Miele) Der saugt alles weg wie nichts (Black and Decker) (Auch Hemdenbügeln ist mühsam, darum:) Machen Sie Schluß mit der lästigen Hemden-Bügelei! (Libero)

Festigkeit und Variabilität

93

(Für eine Landkarte ist es wichtig, daß man das Wichtigste) auf den ersten Blick (bereits überblickt: Deutsche Generalkarte) (Fitness-Geräte haben es mit der Form zu tun:) Unsere bewegungsarme, kalorienreiche Lebensweise macht unserem Körper zu schaffen. Kein Wunder, daß er es nicht schafft, fit und in Form zu bleiben, (und:) Sie kommen in Schwung (Slendertone)

Der verbale Phraseologismus hat in den beiden ersten Fällen die semantische Bedingung [Subjekt + menschlich], im dritten Beispiel die Bedingung [Dat.objekt + menschlich]. Da die entsprechenden Substantive Haut, Natur und wieder Haut diese Bedingung nicht von sich aus erfüllen, erhalten sie in metaphorischem Transfer das Merkmal zugesprochen.

O b es Zufall ist, d a ß in der Anzeige für ein Haushaltsgerät und für eine Zeitschrift, die über Haushaltsartikel berichtet, der gleiche Phraseologismus verwendet wird (im selben Heft)?

Bei Nur ein schwarzer Kaffee erzählt die ganze Wahrheit metaphorisiert die Verbalphrase, in der die ganze Wahrheit phraseologisch ist, das Substantiv Kaffee, das seinerseits Teil des Phraseologismus schwarzer Kaffee ist (schwarz im Kontext von Kaffee bedeutet nicht primär die Farbe schwarz — eher schwarz-braun —, sondern ,ohne Milch'; Typus blinder Passagier). Hier reihen sich die Phraseologismen in die breite Skala der rhetorischen Verfahren ein, mit denen die Werbung Produkte vermenschlicht, Unbelebtes belebt, Teile für das Ganze setzt.

Die guten Ideen rund um den Haushalt (Moulinex) Vorschläge rund um die Küche (Nicole) Ein vermutlich durch die Werbung verfestigter Ausdruck, der wohl im Zusammenhang mit dem Superlativ-Verbot zu sehen ist, ist mehr machen aus, der von Kosmetik-, Lebensmittelfirmen (in qualitativem Sinne) und Banken (!) (in quantitativem Sinne) verwendet wird: Elida Plus macht mehr aus Ihrem Haar. Quark (...) macht mehr aus uns'rem Obst. Wir machen mehr aus Ihrem Geld. (Deutsche Bank) Ähnlich: Machen Sie das Beste aus Ihrer Haut. (MarbertKosmetik) (Hier liegt wohl schon eine leichte semantische Uradeutung vor, da der Ausdruck normalerweise bedeutet ,aus einer schlechten Sache das Beste machen'). Dinge, von denen „ m a n nicht spricht", werden mit entsprechendem verhüllendem phraseologischem Material präsentiert: Um das gewisse Örtchen macht er einen großen Bogen (Depuran) 3.2.3.2. Modifizierte Phraseologismen Vorweg ist auf die zahlreichen Fälle zu verweisen, w o der Phraseologismus in semantisch inkongruenter Umgebung auftritt, aber nicht selbst modifiziert wird, sondern seinerseits modifizierend, meist metaphorisierend, wirkt: Ihre . . . Haut stellt an Kosmetik den höchsten Anspruch (Roc) Die Natur hat Ihnen viel zu sagen (Harzer Verkehrsverband) Bienfait du Matin schenkt Ihrer Haut jeden Morgen gute Laune (Lancöme)

Dort, w o der Phraseologismus selbst verändert ist, kann man feststellen, d a ß mindestens tendenziell die Modifikationen relativ willkürlich sind, d a ß sie einem Sprachspiel, das primär Aufmerksamkeit erregen soll, dienen und nicht nach einem einheitlichen semantischen Muster erfolgen. Es gibt sogar Fälle, in denen der Phraseologismus Objekt eines Wortspiels ist, ohne d a ß er aber in auffälliger Weise dadurch semantisch modifiziert würde: in allen Größen große Klasse (Schießer, Konfektion) ganz schön schön (Prestige Spiegel) Bei 9 Programme geben acht auf Ihren Braten (AEG) liegt außer dem metaphorisierenden Effekt (achtgeben setzt [Subjekt + menschlich] voraus) mit neun und acht ein Wortspiel vor, das man beim Lesen wohl nicht so unmittelbar realisiert wie beim Hören, das aber — wie der weitere Text nahelegt — sicherlich beabsichtigt ist. In Wenn Ihre Tage seit Tagen ausgeblieben sind (Predictor Test) wird mit der polysemen Bedeutung von Tage gespielt (wobei im ersten Fall die Bedeutung ,Menstruation' nur im Plural und mit Possessivpronomen zustandekommt, in diesem Sinne also phraseologisiert ist).

94

Grundbegriffe

Von den Verfahren der Modifikation bleibt kaum eines ungenützt. Der interessanteste Befund ist aber nicht der, daß es primär die Eigenschaft der Motiviertheit wäre, die die verwendeten Phraseologismen für Werbetexte geeignet machen würde (entgegen Koller, 1977, passim, ζ. Β. S. 189), sondern die Tatsache, daß die Wortverbindung in irgendeiner Weise auch wörtlich verstanden werden kann. Dabei spielt es gar keine Rolle, ob die aktualisierte wörtliche Bedeutung mit der phraseologischen Bedeutung in (ζ. B.) metaphorischem Zusammenhang steht oder nicht, ob sie also die derivationelle Basis für die phraseologische Bedeutung bildet oder nicht. Es dominieren also die semantischen Prozesse der Literalisierung, des Wörtlich-Nehmens und der Polysemantisierung (ohne Bezug auf die derivationelle Basis, sofern überhaupt vorhanden). Dafür einige Beispiele, bei deren Interpretation wir den Akzent auf die semantischen Effekte legen, weniger auf die jeweils verwendeten modifizierenden Verfahren: Poly Color gibt den Ton an Literalisierung. Gemeint ist hier der Farbton, der durch die Haartönungswäsche erzielt wird; diese wörtliche Bedeutung hat mit der — gleichzeitig intendierten — des Phraseologismus nichts zu tun. Ein extremes Beispiel (vor allem) für Literalisierung ist das folgende, wo an mehreren Stellen die gleiche Technik wiederaufgenommen wird (und das im übrigen noch eine Reihe nicht-modifizierter Phraseologismen als rhetorische Elemente enthält): „Nichts geht über unsere Polsterelemente. Höchstens unsere schönen Wechselbezüge. Die gehn drüber. Exakt." (Polsterelemente aus Flötotto's Profilsystem.) EHRLICH: Passend zu unserem Profilsystem können wir Ihnen hier ein paar Polstermöbel anbieten, die wirklich was drauf haben: zunächst mal einen Standardbezug aus gutem grobem Baumwollstoff. ( . . . ) Und dann gibt's da noch unsere Wechselbezüge zum Drüberziehen: feinsten Velours, echtes Halbleinen oder rustikalen Cord. ( . . . ) Auch wenn Sie nach ein, zwei Jahren — sagen wir — braun nicht

ein neues Sofa. Alle Bezüge — auch die Standardbezüge — haben Reißverschlüsse und können beliebig oft in Null Komma nichts gewechselt oder in die Reinigung gebracht werden. Doch zum System selbst. Es besteht aus Einzel- und Eckelementen, die einen stabilen Stahlrohrkern mit erstklassiger Federung haben. Voll und ganz mit Stoff bespannt und darüber knautschige Sitz- und Rückenkissen, die es in sich haben. Nämlich: moderne, dauerelastische Schaumstoffüllung. Und bauen können Sie aus den Elementen praktisch was Sie wollen: Alle möglichen Sofas (Zweisitzer, Dreisitzer etc.), Sitzecken, U-förmige Gruppen oder ganze Sitzlandschaften. Und A ο α> (λ η Ce V) («IΛ Im W co M jz c. CL H 1/SJ=

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148

Pragmatische Aspekte

Die Texttypen, die wir untersucht haben, lassen sich in bezug auf die Häufigkeit der darin vorkommenden Phraseologismen in drei Gruppen aufteilen: Tagesschau (Nachrichten) Echo der Zeit Radionachrichten

enthalten ± 2200 Phraseologismen auf 50 000 Wörter

Tagesschau (Film) Morgenjournal Von Tag zu Tag Zeitungskommentar

enthalten ± 1700 Phraseologismen auf 50 000 Wörter

Persönlich Familiengespräch

enthalten ± 1000 Phraseologismen auf 50 000 Wörter

Diese Reihenfolge der Texttypen nach der Anzahl von Phraseologismen, die darin vorkommen, gilt wohlverstanden für genau die Gesamtheit der genannten phraseologischen Typen. In bezug auf die absolute Häufigkeit des Vorkommens eines phraseologischen Typs kommen ganz andere Reihenfolgen der Texttypen zustande.

rakterisiert: Es handelt sich dabei jeweils um relativ häufiges Vorkommen eines phraseologischen Typs bezogen auf die absoluten Werte des Vorkommens. Wie häufig phraseologische Typen gesamthaft gesehen vorkommen, hängt wiederum mit den ausgewählten Texttypen zusammen. D a ß in unserem Fall die phraseologischen Termini die Rangfolge der Vorkommenshäufigkeit anführen, hat beispielsweise damit zu tun, d a ß es sich in den meisten Fällen um Medientexte handelt, darunter noch zu einem großen Teil Informationssendungen, die viele solche Phraseologismen enthalten. Tabelle 3

Η υ •c

α

% 3600 --

Z u 2): Tabelle 3

3400

Die untersuchten phraseologischen Typen lassen sich der Häufigkeit ihres Vorkommens nach in zwei große Gruppen einteilen. Phraseologische Termini Verbale phraseologische Ganzheiten Adverbielle Phraseologismen Situationsspezifische Phraseologismen Streckformen Sonstige verbale Phraseologismen Sonstige nominale Phraseologismen Zwillingsformeln Feste Phrasen etc. Vergleiche

3200 3000 42800 2600 2400 - -

zwischen 2300 und 3600 Vorkommen

2200 2000 1800 -1600 1400 1200

•s

#

£

1000 + unter 1250 Vorkommen

Diese absolute Verteilung m u ß man vor Augen haben, wenn man einen Texttyp durch häufiges Vorkommen eines phraseologischen Typs cha-

800

Μ

600 400 200 + 0

Ii

(Die quantitativen Ergebnisse für die einzelnen phraseologischen Typen sind am Ende des Abschnittes zusammengestellt.)

Verwendung

Beispiele dafür sind: Der erseht August (schweizerischer Nationalfeiertag) die Veräinigte Staate di Kantonali Behörde s eidgenössische Luftamt erschti Hilf

Weiter ist diese Zusammenstellung insofern aufschlußreich, als man ihr entnehmen kann, in welchem Verhältnis die verschiedenen phraseologischen Typen untereinander in bezug auf die Häufigkeit ihres Vorkommens stehen. So sind ζ. B. Zwillingsformeln fast zehn Mal häufiger als Vergleiche, aber fast sechs Mal seltener als verbale phraseologische Ganzheiten. (c) Interpretation Im folgenden sollen nun die einzelnen Texttypen durchgegangen werden, und zwar in der Reihenfolge, die sich ergibt durch die Anzahl Phraseologismen, die sie gesamthaft enthalten. Dies aus dem Grund, daß der Gesichtspunkt der absoluten Häufigkeiten miteinbezogen werden kann. Die Texttypen sollen im übrigen daraufhin charakterisiert werden, welche phraseologischen Typen sie häufig (ζ. T. auch nur in geringer Zahl) enthalten. Zusätzlich soll angegeben werden, in welcher Relation die Anzahl derjenigen Phraseologismen, die für eine Textsorte kennzeichnend sind, steht zu der Gesamtzahl dieses Typs in allen untersuchten Texttypen. Wenn alle zehn Typen von Phraseologismen in allen Texttypen gleichmäßig vertreten wären, so betrüge der Anteil eines Typs an einer Textart 10% und bezogen auf das Vorkommen dieses Typs in allen neun Textarten (100% : 9 =) 11%. Beachtet werden sollen im folgenden vor allem starke Abweichungen von dieser hypothetischen gleichmäßigen Verteilung, wie beispielsweise Anteile von mehr als 20 oder gar 30% und weniger als 5 oder 2,5%. Tagesschau-Nachrichten: Fast 27% der Phraseologismen, die in den Tagesschau-Nachrichten vorkommen, sind phraseologische Termini. Das hängt mit dem politischen Thema sowie mit dem Informationsauftrag dieser Sendung zusammen, in der

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zwangsläufig in komprimierter Form von den verschiedensten Organisationen und Institutionen die Rede ist, deren Namen unter diese Kategorie fallen. 25% der Phraseologismen in den Tagesschau-Nachrichten machen situationsspezifische Phraseologismen aus: in diesem Fall handelt es sich dabei um die Äußerungen zuhanden des Zuschauers (wie Guten Abend, meine Damen und Herren), ferner auch gliedernde Bemerkungen, wenn sie konventionalisiert sind (wie Nun zum Ausland), und schließlich Quellenangaben oder sonstige sprachliche Elemente, die zum Ausdruck bringen, in welchem Verhältnis die Redaktion zu dem steht, was sie sagt, ζ. B.: . . . verlautete aus Kreisen der Ölindustrie In Peking verlautete ferner Vietnam hat nach eigenen Angaben . . . Nach offiziellen Angaben Nach Angaben der Regierung in Washington Nach Informationen aus Teheraner Regierungskreisen Von offizieller chinesischer Seite wurden keine Angaben . . . gemacht wie der Bundesrat erklärte Dem Vernehmen nach suchten die Guerillas . . .

Bezüglich solcher Formulierungen bilden sich in den jeweiligen Nachrichtenredaktionen interne Sprachregelungen heraus (ζ. B. eine Abstufung der Formeln nach dem Grad der Zuverlässigkeit der Quelle), die aber mehr der eigenen Legitimation dienen als der Information des Hörers/Zuschauers, da dieser ja keinerlei Einblick in solche Normierungsvorgänge hat. Außerdem sind die Regelungen von Redaktion zu Redaktion verschieden, so daß es nicht nur denkbar, sondern durchaus wahrscheinlich ist, daß sich hinter der gleichen sprachlichen Formulierung bei verschiedenen Studios verschiedene normierte Bedeutungen verbergen. Gemessen an der Gesamtzahl der vorkommenden phraseologischen Termini und situationsspezifischen Phraseologismen sind es gut 18 bzw. 25%. Daß die phraseologischen Termini mit 27% Anteil an der Tagesschau nur 18% an allen vorkommenden phraseologischen Termini ausmachen, bedeutet, daß die

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Pragmatische Aspekte

Klasse auch in anderen Textarten häufiger vorkommt als die situationsspezifischen Phraseolagismen, die mit einem Viertel Anteil an der Tagesschau auch ein Viertel an der Gesamtzahl dieses Typs ausmachen. Was den Vergleich der Tagesschau-Nachrichten mit anderen Texttypen in bezug auf die Gesamtzahl der phraseologischen Termini betrifft, so enthalten die Radio-Informationssendungen etwas mehr Phraseologismen dieses Typs, nämlich das Morgenjournal gut 19%, die Radionachrichten ca. 23%. Das Echo der Zeit (15%) und die Tagesschau-Filmberichte (13%) sowie die Zeitungskommentare (knapp 9%) enthalten deutlich weniger phraseologische Termini. Der Anteil des Familiengesprächs, sowie diejenigen von Von Tag zu Tag und von Persönlich gehen gegen Null. Echo der Zeit: Diese Kommentarsendung im Anschluß an die Radionachrichten wird am stärksten durch verbale phraseologische Ganzheiten bestimmt (knapp 27%). Es handelt sich dabei um 20% Anteil an allen vorkommenden verbalen phraseologischen Ganzheiten. Darunter sind viele metaphorische Phraseologismen, die sich dazu eignen, die politischen facts zu interpretieren. Des weiteren machen auch hier die phraseologischen Termini 24% der vorkommenden Phraseologismen aus, obwohl der Anteil an der Gesamtzahl phraseologischer Termini nur 14% beträgt. Die Medientexte, um die es sich hier vorwiegend handelt, sind also generell durch viele phraseologische Termini gekennzeichnet. Interessant ist weiter, daß dieser Texttyp 30% aller vorkommenden festen Phrasen, Sprichwörter und Gemeinplätze enthält (wobei gleichzeitig der Anteil dieses Typs an allen in dieser Sendung vorkommenden Phraseologismen lediglich gut 2% beträgt). Auch dies läßt sich damit erklären, daß die Aufgabe dieser Sendung u. a. darin besteht, die politischen Fakten auf einen Nenner zu bringen und sie zuhanden des Zuhörers — mit vertrauten Schemata — zu interpretieren. Typisch für diese Sendung im Unterschied zu anderen Textarten sind weiterhin die son-

stigen nominalen Phraseologismen; sie enthält 25% aller vorkommenden Phraseologismen dieses Typs, die gleichzeitig wiederum am Gesamtanteil der Phraseologismen dieser Textart relativ wenig ausmachen, nämlich 7%. Unter sonstige nominale Phraseologismen fallen Wortverbindungen wie: de springendi Punkt e herti N u ß schweizerische Medienlandschaft es grüttlets M a a ß a e trochni Materie s tägliche Läbe es häisses Ise s Lädeli um de Egge en bunte Aabig en alte Chlaus gwüssi militanti Kreis der Fall X der liebe Gott es ungschribnigs Gsetz frischi Luft de grooß Huufe

Das Echo der Zeit enthält ferner den größten Anteil an Paarformeln (20%), gefolgt von der Sendung Von Tag zu Tag mit gut 16%. Dies hat nun weniger mit der direkten inhaltlichen Aufgabe der Sendung zu tun, als daß der Gebrauch von Paarformeln ein rhetorisch-stilistisches Mittel der vorbereiteten öffentlichen Sprache ist, wenn es weniger darum geht, sachlich zu informieren als darum, einen Sachverhalt eindrücklich zu schildern. Radionachrichten: Die Phraseologismen der Radionachrichten bestehen zu 44% aus phraseologischen Termini. Den zweitgrößten Anteil von Phraseologismen bilden die verbalen phraseologischen Ganzheiten mit lediglich gut 14%. Die Radionachrichten enthalten damit die größte Dichte an phraseologischen Termini (knapp 24% aller vorkommenden Phraseologismen dieses Typs). Das bedeutet, daß in den Radionachrichten auf noch kleinerem Raum als in anderen Informationssendungen noch mehr konventionalisierte Wortverbindungen gebraucht werden, die ihren Sinn nur in festgelegten institutionellen Zusammenhängen und Beziehungsgefügen haben.

Verwendung

Tagesschau-Filmberichte: Dieser Texttyp enthält 30% verbale phraseologische Ganzheiten (immerhin knapp 20% von allen vorkommenden verbalen phraseologischen Ganzheiten). Weiter bestehen die Phraseologismen der Filmberichte in der Tagesschau zu knapp 26% aus phraseologischen Termini und zu gut 19% aus adverbiellen Phraseologismen. Am Gesamtanteil der adverbiellen Phraseologismen sind die Tagesschau-Filmberichte zu 13% beteiligt; sie unterscheiden sich damit aber nicht groß von Radionachrichten (13%), Echo der Zeit (11%), Zeitungskommentar (13%), Tagesschau (gut 9%), Morgenjournal (gut 8%). Am meisten adverbielle Phraseologismen enthält Von Tag zu Tag (mit knapp 19%), am wenigsten das Familiengespräch (mit knapp 3%). Unter diese Kategorie fallen Wortverbindungen wie us folgendem Grund i dere Hiisicht im Hiiblick uf zu däm Zwäck im Vordergrund i dem M a a ß

Adverbielle Phraseologismen sind relativ gleichmäßig verteilt. Die Extremwerte in Von Tag zu Tag einerseits und dem Familiengespräch anderseits hängen wohl damit zusammen, daß in der Sendung Von Tag zu Tag zwar eher ausführlich erzählt, aber gleichzeitig öffentlich erzählt wird, wohingegen das Familiengespräch wenig längere zusammenhängende Berichte enthält, die zudem nicht öffentlich sind. Morgenjournal: Die Phraseologismen im Morgenjournal bestehen zu 4 0 % aus phraseologischen Termini. Die Verteilung der Phraseologismen ist im übrigen ähnlich wie in den Radionachrichten. Von Tag zu Tag: Gut 33% dieser Sendung machen adverbielle Phraseologismen aus; dabei handelt es sich um fast 20% aller vorkommenden adverbiellen Phraseologismen. Weitere knapp 15% machen die situationsspezifischen Phraseologismen aus; es sind dies 10% aller vorkommenden

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Phraseologismen dieses Typs. Ferner enthält dieser Texttyp fast 20% aller vorkommenden festen Phrasen (die allerdings nur 1,4% der Phraseologismen des Texttyps ausmachen). Zeitungskommentar: Die Zeitungskommentare enthalten zu 24% verbale phraseologische Ganzheiten, ferner zu knapp 24% adverbielle Phraseologismen. Abgesehen davon, daß die geschriebenen Zeitungskommentare gesamthaft ein Drittel weniger Phraseologismen enthalten als das gesprochene Echo der Zeit, ist also auch diese Textart stark durch verbale phraseologische Ganzheiten charakterisiert. Eine große Rolle spielen ferner — wie bei allen Medientexten, die politisch informieren oder kommentieren — die phraseologischen Termini mit 2 0 % . Ferner enthalten die Zeitungskommentare 2 7 % aller vorkommenden Vergleiche. Persönlich: Persönlich und die Familiengespräche enthalten einerseits gesamthaft am wenigsten Phraseologismen. Zudem sind die Schwerpunkte bei der Vorkommenshäufigkeit der Typen anders gelagert. Beide enthalten am meisten situationsspezifische Phraseologismen. Das hängt sicherlich damit zusammen, daß es sich dabei um die zwei einzigen GesprächsTypen handelt. Persönlich enthält gut 35% situationsspezifische Phraseologismen, ferner — und dies im Unterschied zum Familiengespräch — einen großen Teil adverbielle Phraseologismen, nämlich gut 20%. In Persönlich kommen sozusagen keine phraseologischen Termini vor. Familiengespräch: Die Phraseologismen in der Familie bestehen zu 60% aus situationsspezifischen festen Wortverbindungen. Sie enthalten mit 11 % den kleineren Anteil von verbalen phraseologischen Ganzheiten. Die Familiengespräche sind durch völliges Fehlen von phraseologischen Termini gekennzeichnet. 36% der vorkommenden Vergleiche finden sich in Familiengesprächen. Sie machen allerdings einen so geringen Anteil an den Phraseologismen des Texttyps aus, daß ihre Verteilung nicht als textcharakteristisch interpretiert werden kann.

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Pragmatische Aspekte

Wenn man die Textarten durchgeht nach denjenigen zwei, drei Typen von Phraseologismen, die den Löwenanteil an den vorkommenden Phraseologismen ausmachen, werden gewisse Typen regelmäßig übergangen, weil sie keinen großen Anteil an der Gesamtsumme der Phraseologismen ausmachen. Diese Phraseologismentypen kommen zur Charakterisierung eines Texttyps erst dann ins Blickfeld, wenn man den Schwerpunkten ihrer Verteilung nachgeht, die für die Texttypen genauso charakteristisch sein können wie die Verteilung der zahlenmäßig häufigeren Phraseologismen.

Überlegungen überschritten werden können. Gerade die quantitativ eher im Hintergrund stehenden phraseologischen Typen wie beispielsweise die festen Phrasen können adäquat nur mit Hilfe weiterer Kategorien wie ζ. B. ihrer Funktion in bestimmten Texttypen beschrieben werden. Abschließend sollen dennoch diejenigen Ergebnisse dieser Auszählung festgehalten werden, die im Lichte unserer sonstigen Uberlegungen und auf dem Hintergrund der opinio communis interessant sind.

Zu diesen zahlenmäßig zurücktretenden Phraseologismen gehören einmal die Streckformen, die bei Persönlich, bei Von Tag zu Tag und bei den Zeitungskommentaren mehr als 10% ausmachen, aber bei allen übrigen Textarten unter der 10%-Grenze bleiben. Bei diesen Typen von Phraseologismen sind die Zahlen des Anteils eines Texttyps an allen vorkommenden Phraseologismen dieses Typs aufschlußreicher als die Zahlen ihres Anteils an den Phraseologismen des jeweiligen Texttyps. Es sind z.B. 17·% aller Streckformen, die in der Sendung Von Tag zu Tag auftreten. Streckformen sind eines der wesentlichen Stilmittel für Schweizerdeutsch und öffentlich vorgetragene Berichte zu anderen als außenpolitischen oder innenpolitischen Informationsthemen.

1) Für jeden der Texttypen ließe sich anhand der Statistik eine Konfiguration dominanter phraseologischer Merkmale erstellen. Die Verwendung bzw. Bevorzugung bestimmter phraseologischer Typen scheint somit ein klares differentielles Merkmal von Texttypen zu sein.

Ferner gehören zu den zahlenmäßig zurücktretenden Phraseologismentypen die sonstigen verbalen Phraseologismen, die aber wohl als Restgruppe zu heterogen sind, als daß man ihre Verteilung interpretieren könnte. Die Zwillingsformeln kennzeichnen vor allem das Echo der Zeit und die Zeitungskommentare, ferner Von Tag zu Tag und die Tagesschau-Filmberichte. Vergleiche haben wir zu wenige in unserem Material, als daß man darüber viel sagen könnte. Eine Zusammenstellung und Analyse der quantitativen Verteilung von Phraseologismen und phraseologischen Typen stößt damit (gerade auch, wenn die Textarten nahe beieinander liegen, wie in unserem Fall, wo vor allem die Familiengespräche einen gewissen Kontrast bilden) an Grenzen, die nur durch qualitative

2) Die Filmberichte der Tagesschau und das Echo der Zeit weisen je ungefähr doppelt so viele metaphorisch-verbale bzw. idiomatischverbale Phraseologismen auf wie Radionachrichten, und je siebenmal soviele wie alltägliche Familiengespräche. Andererseits enthalten Familiengespräche und die Talk-Show Persönlich je gut viermal soviel gesprächsspezifische Phraseologismen wie die Filmberichte der Tagesschau und zweieinhalbmal soviel wie Radio-Nachrichten. 3) Was die Alltagskommunikation betrifft, so ist über die bloße Statistik hinaus zur Verdeutlichung noch zu ergänzen: Gerade die metaphorischen Phraseologismen sind also gerade nicht charakteristisch für Alltagskommunikation, vor allem nicht für deren routinierte Phasen. Wenn sie gehäuft auftreten, dann in nicht-routinierten Interaktionen mit starker emotionaler Besetzung. Es konnte beobachtet werden (vgl. Burger 1979, S. 94f.), daß während eines Kartenspiels, bei dem es um Geldeinsätze ging, die Anzahl der metaphorischen Phraseologismen auf das Zwei- bis Dreifache des sonst registrierten Durchschnittswertes stieg. Inhaltlich betrachtet, gehören die in der Alltagskommunikation auftretenden Phraseologismen überwiegend dem Bereich an, der die

Verwendung

kommunikative Beziehung der Partner zueinander betrifft (du bist nicht ganz bei Trost), weit weniger dem für die Zeitungssprache zentralen semantischen Feld, das Interpretationen von Vorgängen, Handlungen usw. enthält (den Karren aus dem Dreck ziehen). Dies ergab sich auch — als Nebenresultat — bei einer Umfrage, die wir zu einem speziellen Soziolekt, der Schülersprache, durchführten. Die Umfrage richtete sich an alle Volksschullehrer des Kantons Zürich. Gefragt wurde zwar primär nach neu auftretenden Phraseologismen, doch berichteten viele Lehrer allgemein über modische Phraseologismen, die sie in der Schülersprache häufig beobachteten, ohne Rücksicht auf das Alter der Wendung. Selbst wenn man in Rechnung stellt, daß es sich um sehr restringierte Situationstypen handelt, in denen Lehrer ihre Schüler überhaupt beobachten können, ist es doch auffällig, wie stark Phraseologismen dominieren, die abschätzige Bemerkungen dem Partner gegenüber, Beleidigungen, Drohungen u. ä. betreffen (viel seltener positive Einstellungen!). Schon dies Beispiel zeigt, daß statistische Aussagen über die Alltagssprache mit Vorsicht zu genießen sind. In der Alltagssprache kann der prozessuale Charakter gesprochener Kommunikation jederzeit einmal bestimmte Merkmale wie „routiniert/nicht routiniert" hinfällig machen, an nahezu beliebigen Punkten der Interaktion können die Partner die Situation neu definieren und damit ein neues Situationsschema erstellen. Bei Alltagssprache kann folglich auch nicht mit gleichem Recht von „Texttyp" die Rede sein wie bei den anderen von uns untersuchten Texten, bei denen die außersprachlichen und situationalen Merkmale (im Sinne der ursprünglichen Textsortenkonzeption der Freiburger Forschungsstelle für gesprochene Sprache) weitgehend konstant bleiben. Daß nicht nur ein Wechsel des emotionalen Klimas die Distribution der phraseologischen Typen beeinflußt, zeigt das folgende Beispiel aus der Alltagskommunikation, bei dem ein Wechsel des Themas stattfindet: Im Verlauf einer alltäglichen Gesprächssituation erwähnt ein Kind, daß man sich in der Schule an einem Intelligenztest beteiligen

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könne, offenbar im Rahmen einer wissenschaftlichen Untersuchung. Mit der Einführung dieser im Rahmen des Familiengesprächs eher ungewöhnlichen Thematik wechselt das Stilniveau. In einer kurzen Äußerungsfolge reihen sich Phraseologismen wie sich zur Ver-

füegig stelle, d Iiwilligung gää, Uskunfi gää, Kontakt ufnää mit öpperem, der entschäidendi Punkt — Wendungen (vorwiegend aus dem Bereich der Funktionsverbgefüge), die sonst in halb- oder ganzöffentlichen Situationen ihre Domäne haben. Strässler (1981) kommt in einer Untersuchung englischer Konversationstexte zum Ergebnis, daß die Frequenz der „Idiome" (die etwa unseren „phraseologischen Ganzheiten" entsprechen) außerordentlich gering ist (1 Idiom auf 1150 Wörter). Sein Korpus von 106 0 0 0 Wörtern umfaßt Alltagsgespräche, therapeutische Dialoge, Gerichtsverhandlungen usw. bis hin zu den „White House Transcripts". Die im ganzen Material vorkommenden 9 2 „Idiome" lassen keine sinnvollen statistischen Schlüsse hinsichtlich der Verteilung nach Textsorten zu. Im Vergleich mit unseren Ergebnissen ist diese Zahl erstaunlich niedrig, selbst wenn man sie nur mit unseren Befunden für die Familiengespräche vergleichen würde. 4) Ihren eigentlichen Platz haben metaphorische und idiomatische verbale Phraseologismen demnach in halb-öffentlichen und öffentlichen Sprech- und Schreibsituationen (mundartlich ebenso wie standardsprachlich), dort wo man sich ins rechte Licht rücken muß, wo also Rhetorik erfordert ist. Angesichts dessen erstaunt es nicht, daß Nachrichtensendungen mit ihrem rein informativen Anspruch (und Anspruch auf Objektivität) nur einen geringen Anteil an diesem Typ von Phraseologismen haben. Besonders kraß und auf den ersten Blick erkennbar ist die unterschiedliche Verteilung bei magazinartigen Sendungen der elektronischen Massenmedien, wo heterogene Texttypen zu einem Gesamttext verknüpft werden. Dafür je ein Beispiel aus Sendungen des deutschschweizerischen Radios und Fernsehens und des S WF-Fernsehens:

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Pragmatische Aspekte

Das Morgenjournal (Radio DRS) vom 2 1 . 6. 1 9 7 9 begann mit einer Passage des Moderators, in der die folgenden Nachrichten- und Kommentarteile nicht nur informierend angekündigt, sondern (mit einer metasprachlichen und zugleich wortspielerischen Formulierung) zusammengeordnet und vorgreifend gedeutet werden: Das Stichwort Druck könnte man recht eigentlich als Uberschrift über unsere heutige Ausgabe setzen. Bundesrat Gnägi hat unter dem Druck der nationalrätlichen Militärkommission den noch verbleibenden Kredit von 120 Millionen Franken für die Herstellung der vierten Panzer 68-Serie gesperrt. Nach nur zweimonatiger Amtszeit ist der ugandische Präsident Jussufu Lule unter dem Druck seiner innenpolitischen Gegner zurückgetreten. ( . . . ) Und auch im Fußball haben die Servettiens die Young Boys unter Druck gesetzt ( . . .) Und auch der Wetterbericht spricht von einem Hoch-Druck-Gebiet (...). (Hervorhebungen von uns) Darauf folgt die erste eigentliche NachrichtenMeldung im herkömmlichen Nachrichtenstil (von einem anderen Sprecher im bekannten Nachrichtenton gelesen) und mit dem üblichen Aufbau einer Meldung: Die Mängel beim Panzer 68 sollen ausgeleuchtet werden. Die Militärkommission des Nationalrates will dazu eine spezielle Arbeitsgruppe einsetzen. Die Ständeratskommission ihrerseits forderte einen Bericht des EMD zu diesem Themenbereich an. Dies wurde gestern abend im Anschluß an eine gemeinsame Sitzung der beiden Militärkommissionen beschlossen (. . .). Es schlief?t sich ein moderierend-kommentierender Teil an, zum gleichen Thema, vom ersten Sprecher gesprochen: Gut eine Woche ist es nun her, daß die Weltwoche den Hasen aufscheuchte. (.. .) Charakteristisch für die kommentierenden Passagen dieses Morgenjournals ist es, daß sie mit metaphorisch-phraseologischen (verbalen phraseologischen Ganzheiten) oder auch salopp-umgangssprachlichen Ausdrücken einsetzen, womit sie — offensichtlich bewußt und gezielt — in ihrer Stilhaltung von den reinen Nachrichten-Texten abgesetzt werden sollen.

Zum Teil ebenso drastisch sind die StilUnterschiede zwischen den verschiedenen in der Tagesschau DRS vereinigten Texttypen. (Die folgenden Beispiele stammen aus der Zeit vor der Neustrukturierung der Tagesschau, die Anfang 1 9 8 0 vorgenommen wurde. Damals ähnelte die deutschschweizerische Tagesschau sehr stark der Tagesschau ARD. Nach der Neustrukturierung, die vor allem durch einen Wechsel von moderierten Passagen und Nachrichtenblöcken bestimmt ist — vergleichbar dem Heute-Journal —, sind die Stilunterschiede zwischen den Texttypen eher noch krasser geworden). Die Iran-Berichterstattung vom 2 0 . Februar 1 9 7 9 begann mit einem NachrichtenT e x t , „ o n " gesprochen, mit Karte des Iran im Hintergrund: Weitere Hinrichtungen und Unruhen in Kurdistan, das sind heute die spektakulärsten Ereignisse aus dem Iran. Die gestern zum Tode verurteilten Generäle des Schah-Regimes wurden in der Nacht auf heute exekutiert. Die Zahl der vollstreckten Todesurteile seit der Ausrufung der islamischen Republik hat sich damit auf acht erhöht. Schwierigkeiten machen den neuen Machthabern in Teheran die iranischen Kurden, die für Autonomie und Vereinigung mit ihren Stammesbrüdern im Irak und in der Türkei kämpfen. Regierungschef Basargan machte sofort unmißverständlich deutlich, daß er nicht bereit sei, auf die Forderungen der Kurden einzugehen. Erneut rief Ayatollah Khomeini die linksgerichteten Gruppierungen des Landes auf, die Waffen, die ihnen während der Revolution ausgehändigt worden waren, abzugeben. Er warnte sie auch, die Wiederaufnahme der Erdölförderung zu behindern. Der Text enthält keine auffälligen phraseologischen Merkmale (wie ζ. B. verbale phraseologische Ganzheiten). Machte unmißverständlich deutlich und erneut rief (. . .) auf gehören zu den typischen Zitateinleitungen von Nachrichtentexten, wären also nach unserer Kategorisierung situationsspezifische Phraseologismen. Der darauffolgende Filmbericht ist dann ganz anders getextet: Normalisierung auf dem Bildungs-Sektor. Auf Anordnung des Schiitenführers Ayatollah Khomeini drücken seit heute nach viermonatigem Streik Mil-

Verwendung

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Honen von Schülern in ganz Persien wieder die Schulbank. Das Gewehr der Revolution stellten heute auch die Studenten der persischen Universitäten wieder in die Ecke und griffen erneut zu ihren Büchern. Schwierigkeiten bekunden vor allem die Lehrer, da sie auf Schulbücher aus der Zeit des Schah-Regimes zurückgreifen müssen.

Die Landesregierung müsse wissen, daß ab Sommer fast 5000 Lehrer vor der Tür stehen und auf eine Anstellung warten. Schon jetzt seien trotz vorhandenen Bedarfs 12 000 Lehrer zwangsweise kurzbeschäftigt. Dieser Lehrerüberschuß müsse zur Bildung kleinerer Schulklassen genützt werden.

Daß diese überaus deutliche Differenz zwischen den Texttypen des jeweiligen Sendegefäßes nicht nur charakteristisch ist für die großen Nachrichtensendungen des Radios und Fernsehens, sondern auch für Regionalmagazine, zeigt etwa die Abendschau des SWF. In der Sendung vom 14. 5. 7 9 beginnt der Moderator — nach den Schlagzeilen — mit einer salopp formulierten Einführung, mit einem Phraseologismus wie nach Art des Hauses, der in diesem Kontext selbst-ironisch wirkt, und spricht — im Gegensatz zu den vorher zitierten Nachrichtensendungen — in der Ich-Form:

Die technischen Werke Stuttgart wollen den Strompreisboykotteuren die Leitungen vorerst nicht sperren. Die TWS teilten heute mit, daß seit letztem September 40 Bürger in der Landeshauptstadt nur noch einen Zehntel ihrer Stromrechnung bezahlen. Den Rest überweisen sie auf ein Sperrkonto. Mit dieser Aktion wollen sie gegen den Atomstrom protestieren. Bevor die TWS eigene Schritte gegen ihre zahlungsunwilligen Kunden unternehmen, wollen sie gerichtliche Entscheidungen abwarten.

Schön guten Abend, meine Damen und Herren. Ich weiß nicht, warum Sie an einem solch schönen Tag vor dem Fernseher sitzen, ich wage auch kaum zu hoffen, daß es an der Attraktivität dieser Sendung liegt, aber was für Gründe Sie immer haben mögen, seien Sie herzlich willkommen hier bei der Abendschau. Nach Art des Hauses beginnen wir mit den Nachrichten, es gibt schließlich nicht nur Berichtenswertes in der Welt, es gibt auch Neues aus dem Lande. Ein ähnlich salopper Bezug auf das eigene Haus, mit hauseigener Phraseologie, in der Sendung vom 9. 5. 7 9 : Des Südfunk jüngstes Kind ist die schnelle RheinNeckar-Welle, 91,5 UKW Kurpfalz Radio. Seit heute morgen können über 1 Mio. Kurpfälzer im Programm Südfunk 1 neue Radio-Art erleben. Viel Service ist da im Kanal vom Montag bis Freitag und dieser Versuch der sogenannten Subregionalisierung ist das Südfunkmodell der allernächsten Bürgernähe. Dann folgen die Nachrichten, im gleichen Stil wie bei den Hauptnachrichtensendungen, mit festen Formulierungen wie Wie (...) erklärte (situationsspezifische Phraseologismen) oder Schritte (. . .) unternehmen (Streckformen): Der Verband Bildung und Erziehung fordert 1000 neue Lehrerstellen im Land. Wie der Verband in Stuttgart erklärte, gilt es, im nächsten Schuljahr eine gravierende Lehrerarbeitslosigkeit zu verhindern.

(...)

Nach den Nachrichten leitet der Moderator zu den Filmbeiträgen über, mit einer Aufzählung von Klischees, die sich an Mai anschließen: Der Mai also. Nun will er an sich werden, was er angeblich ist, der Wonnemond. Nun haben wir ihn also mit allem, was einem dazu einfällt, mit den vielen Hochzeiten und den Knaben, die nachts die Gartentürchen aushängen. Und was sonst noch alles nach dem Mai benannt ist, die Glöckchen und die Bowle und der Baum, der Maibaum. In Hohenlohe — Sie habens schon gehört — gab es einen Maibaumwettbewerb, an dem 27 Ortschaften sich beteiligt haben. Ronald Kranz hat sich auf den Weg zum Brauchtum gemacht: (. . .) Ähnlich strukturiert ist die Einleitung der Filmbeiträge in der Sendung vom 8. 5. 79: Beim heutigen Wetter darf man hoffen, der nächste Sommer kommt bestimmt. Die deutsche Bundesbahn jedenfalls vertraut darauf und hat heute ihren Sommerfahrplan vorgestellt, der ab 27. Mai gelten soll. Soweit wie alle Jahre wieder. Neu aber ist ein erweitertes Intercity-Angebot. Nach 10 Jahren Upper-Class-Service auf Schienen wird dieses Modell jetzt ein wenig sozialisiert. Und das bedeutet einen günstigeren Zusatztarif, einige D-Züge werden hochgestuft, mehr Züge in höheren Frequenzen eingesetzt und weitere Städte zu Intercity-Haltestationen auserkoren. Ob das der Bahn ein wenig aus dem Keller hilft, und was das für die Passagiere in unserem Land bedeutet, das erklärt Klaus Peter Senkel: (.. .) Die Überleitung zum nächsten Filmbeitrag enthält dann die typischen rhetorischen Phraseologie-Mittel des journalistischen Kommentars

156 oder der Moderation (sich ins Gespräch

Pragmatische Aspekte brin-

gen, es hat einen Haken, .. . tun gut daran, diesem geschenkten Gaul sehr genau ins Maul zu schauen, Machen Sie sich selbst ein Bild): Wir müssen uns leider einem weit weniger kurzweiligen Thema zuwenden: Unternehmer verschenkt seinen Betrieb. Mit solchen Schlagzeilen kann man sich ins Gespräch bringen, wie jener Unternehmer aus Schöpfheim bei Lörrach. So ein Angebot ist entweder eine sozialpolitische Sensation oder es hat einen Haken. Die rund hundert Arbeiter, die von dieser scheinbaren Großzügigkeit überfallen werden, tun jedenfalls gut daran, diesem geschenkten Gaul sehr genau ins Maul zu schauen. Machen Sie sich doch am besten selbst ein Bild, ob Sie sich von diesem südbadischen Ehrenmann sein Fabrikle schenken lassen möchten. Uber die Hintergründe informiert Sie Hartmann von der Tann: (. . .) D a ß der M o d e r a t o r seine Beiträge gelegentlich durchkomponiert, ist aus der Sendung vom 11. 5. 7 9 ersichtlich: Moderator-Einleitung: ( . . . ) Ich fürchte allerdings, dann wird es sehr bald Parkuhren für Fahrräder geben, Pflichtversicherungen für Radfahrer und eine Fahrradsteuer. Dann werden die Preise steigen für Fahrräder, Schmieröl und was man sonst noch alles braucht. Aber so weit ist es Gottseidank noch nicht, liebe Zuschauer, große und kleine, Grüßgott und 'Willkommen bei der Abendschnu '. . .). Es folgen die Nachrichten, dann der M o d e rator: Soweit die Nachrichten. Nun zu den Filmbeiträgen. Zu den wenigen Themen, die Jung und Alt noch

miteinander gemein haben, gehört die Schule. Ein Dauerbrenner ( . . . ) Die etwas abgewandelte Zwillingsformel

groß

und

jung

klein

wird wiederaufgenommen in

und alt (außerdem ist auch der Gruß paarig formuliert Grüßgott

und

Willkommen).

Das Stilgefälle von moderierten

Passagen

und Nachrichten zeigt sich zum Beispiel auch darin, daß es dem M o d e r a t o r gestattet ist, die offizielle,

für Communiques

geeignete

und

in den Nachrichten verbreitete Phraseologie der Politiker metasprachlich aufs Korn zu nehmen: Vor unserem ersten Beitrag, liebe Zuschauer, möchte ich gleich eines vorwegnehmen. Es geht uns nicht darum, die Bevölkerung in und um Obrigheim in Panik zu versetzen, aber es ist nicht sehr beruhigend, was da jetzt eine kleine Anfrage des Karlsruher Abgeordneten Dieter Stotz im Landtag zu Tage gefördert hat. Nämlich erhebliche Zweifel an der Qualität des Materials, das für einige Teile des Reaktors Obrigheim verwendet wurde. Auch gibt es bei der Instandhaltung dieses Kernkraftwerks, übrigens eines der ältesten im Land, merkwürdige Verzögerungen. In seiner Antwort gab das Gesundheitsministerium in noblem Bürokratendeutsch immerhin zu, daß Radioaktivität kontrolliert an die Umgebung abgegeben worden sei, übte sich im übrigen aber in Beschwichtigungen, und solche vergiften bekanntlich seit Jahr und Tag das Klima der Auseinandersetzungen um die Atomenergie. Max Fastus hat versucht herauszufinden, was nun wirklich faul ist oder unter Materialermüdung leidet im Kernkraftwerk Obrigheim. 10. 5. 79

(157)

Anhang: Die quantitativen Ergebnisse für die einzelnen phraseologischen Typen:

Verbale phraseologische Ganzheiten υ

Streckformen

Adverbielle Phraseologismen, ohne Zwillingsformeln

Sonstige verbale Phraseologismen

% 20 Ν

£

-α ο

15

10

5•

Vergleiche

Zwillingsformeln Ν Ν Ζ Ν

Ν

ΰ

60 Γ3

Η

ε Ν

Η

Phraseologische Termini

Sonstige nominale Phraseologismen

(159)

Die quantitativen Ergebnisse für die einzelnen Texttypen: Persönlich

Familiengespräche

ν

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υ !Λ S" (Λ 00 Ο ο - "δ ο tft rt es

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§

Von Tag zu Tag

Zeitungskommentare NZZ

Morgenjournal

Radionachrichten

40--

Echo der Zeit

4.2.5.2. Rezeption texttypischer phraseologischer Merkmale (a) Versuchsanlage

Ο

Η

%

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25

ao jo

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20

--

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Ο

-± 10

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5

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:0 t

Wir stellten uns die Frage, ob dieser Verteilung im Bereich der Textproduktion auch entsprechende Strukturen im Bereich der Textrezeption korrespondieren. M. a. W.: ob der Rezipient ein Bewußtsein bzw. eine Intuition (beides zusammen macht den Bereich dessen aus, was herkömmlich als „Stilempfinden" o. ä. bezeichnet wird) dafür hat, welche Arten von Texten passend sind. Wir unterscheiden im folgenden eine bewußte Ebene der Zuordnung von phraseologischem Merkmal und Texttyp und eine normalerweise unbewußte Ebene der bei der Zuordnung tatsächlich ablaufenden psycholinguistischen Mechanismen (wobei das Nichtbewußte unter Umständen durchaus ins Bewußtsein gehoben werden kann). Da Untersuchungen dieser Art sehr aufwendig sind, konzentrierten wir uns auf Text-

I

163

Verwendung

typen, bei denen die Verteilung der phraseologischen Typen besonders stark differiert. Wir wählten drei Textgruppen: 1. Radionachrichten der Deutschen Schweiz und Sprechermeldungen der deutschschweizerischen Tagesschau, 2. Echo der Zeit und Filmberichte der deutschschweizerischen Tagesschau, 3. außenund innenpolitische Kommentare der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ). (Die unterschiedliche Zuordnung von Sprechermeldung und Filmbericht bei der Tagesschau ergab sich aus unseren Beobachtungen hinsichtlich der Verteilung der phraseologischen Typen.) (Vgl. 4.2.5.1.) Aus Textexemplaren dieser drei Gruppen wurden insgesamt 80 Einzelsätze (in einigen Fällen Einheiten von 2 Sätzen) ausgewählt, deren gemeinsamer Nenner das Vorkommen von Phraseologismen war. Grundsätzlich war dabei, da es sich um nicht-konstruierte Texte handelte, nicht auszuschalten, daß neben den phraseologischen Einheiten auch andere sprachliche und andere als sprachliche Indizien für die Identifizierung des Texttyps vorkamen. Bei Beispiel-Gruppe (2) und (3) wählten wir solche Beispielsätze, die uns als typisch, durchschnittlich und unauffällig im Rahmen der betreffenden Texttypen erschienen, bei Beispiel-Gruppe (1) unterschieden wir zwei Untergruppen: ( l a ) — Beispiele, die wir für unauffällig im Rahmen des Texttyps hielten, (1 b) — Beispiele, die uns im Rahmen des Texttyps als störend, auffällig, ungewöhnlich, unpassend bis hin zu lächerlich erschienen. Die Liste der Beispiele (im folgenden „Items" genannt) wurde 60 Versuchspersonen in schriftlicher Form vorgelegt. Es handelte sich um Studenten, bei denen wir Vertrautheit mit allen beigezogenen Texttypen voraussetzen konnten. Den Versuchspersonen wurde für die Item-Gruppe (1) und (2) im einzelnen erklärt, welche Sendungen gemeint waren. Zu ItemGruppe (3) wurde nur gesagt, daß es sich um Medientexte handle, die nicht aus (1) und (2) stammten. Die Versuchspersonen hatten dann jedes Item einer und nur einer der folgenden vier Kategorien zuzuordnen. Ν

( = Itemgruppe 1) (N = Nachrichten)

Κ

( = Itemgruppe 2) (K = Kommentar)

NK ( = kann in beiden Itemgruppen vorkommen) —

( = gehört sicher weder zu Ν noch zu K)

Außerdem wurden die Versuchspersonen gebeten, den Textteil oder die Textstelle (im folgenden „(sprachliche) Elemente" genannt) zu unterstreichen, die für ihre Zuordnung maßgebend waren. Schließlich war eine Rubrik für zusätzliche Bemerkungen angeboten. (Die Ergebnisse der Untersuchung und ihre Interpretation sind im Detail beschrieben in Burger/ Buhofer 1981). (b) Ergebnisse 1. Es gibt Kriterien schon auf der Ebene des Wortes oder der Wortverbindung — freilich nur innerhalb der jeweiligen Kontexteinbettung die eine bewußte Stilentscheidung erlauben. Die Versuchspersonen unterscheiden klar zwei große Textgruppen: nachrichtenartige und kommentarartige Texte. Bei den kommentarartigen Texten fällt auf, daß die Zeitungskommentare nicht eindeutig gegen andere Kommentare abgesetzt werden. Das liegt sicher einerseits am durchgehend schriftlich angebotenen Testmaterial, andererseits wohl aber auch an der Schriftlichkeit (der schriftlich konzipierten Form) vieler Radiound Fernsehkommentare. Wenn Zeitungstexte explizit von anderen Texttypen abgehoben werden, dann dort, wo sie Wertungen, Interpretationen enthalten, die die Vpn für Monopolmedien als unpassend beurteilen. Im Gegensatz zu Informationssendungen des Radios und Fernsehens ist etwa eine Zeitung nicht auf Ausgewogenheit verpflichtet; sie kann ζ. B. bestimmte parteipolitische Interessen wahrnehmen, und bei einem Blatt wie der N Z Z erwarten die Leser eine solche klare Stellungnahme. Unter Bemerkungen heißt es etwa es wäre ein Skandal, wenn so etwas in Radio oder Fernsehen gesagt würde. 2. Unter den sprachlichen Kriterien für die Stil-Zuordnung bilden die Phraseologismen — und das ist, wie die Detail-Untersuchungen der Unterstreichungen zeigt, keineswegs ein Artefakt der Versuchsanlage — auch von der Re-

164

Pragmatische Aspekte

zeption her eine nicht nur wichtige, sondern qualitativ und quantitativ herausragende Gruppe, die die Unterscheidung und Identifikation von Texttypen ermöglicht. Dasjenige phraseologische Merkmal, das am meisten beachtet wird (wie aus den Unterstreichungen hervorgeht) und das explizit als Kriterium für eine bewußte Stilzuordnung genannt wird (in den „Bemerkungen"), ist die Metaphorik von Phraseologismen. Das deutet darauf hin, daß für Verwendung und Rezeption von Phraseologismen nicht alle phraseologischen Merkmale (vgl. 3.1.) von gleicher Relevanz sind, daß die für die Sprachverwendung relevanten Kriterien — auch hier — nicht identisch sein müssen mit den linguistischstrukturellen Merkmalen der Phraseologismen. Neben den Phraseologismen spielen aber eine Reihe weiterer sprachlicher Kriterien eine bedeutende Rolle: — grammatische Kriterien, wie der Konjunktiv als Indiz dafür, daß es sich bei einer Meldung um eine Nachricht aus zweiter Hand handelt — semantische Kriterien, insbesondere die verschiedenartigen Beurteilungen, die ein Zitat erfährt durch die Wahl des verbum dicendi; oder Lexeme, die deutlich Stellungnahmen, Einschätzungen des Redakteurs implizieren (undenkbar, selbstverständlich, offenbar) — stilistische Kategorien, wie Saloppheit der Formulierung (Wörter wie Weiterwursteln, berappen, Pßästerli, die für Nachrichten und ζ. T. für Monopolmedien überhaupt als unpassend eingestuft werden.) 3. Für die Zuordnung zu einem Texttypus sind außer sprachlichen häufig auch inhaltlichthematische Indizien maßgebend, darüberhinaus noch allgemeinere ζ. B. politische Erwartungen, die man mit dem jeweiligen Medium verbindet. Dieses Resultat bestätigt, aus einer ganz anderen Perspektive, Ergebnisse neuerer Untersuchungen zur Verständlichkeit von Fernseh- und Radioinformationssendungen: daß nämlich Faktoren wie Interesse und Thema die Rezeption stärker steuern als formal-sprachliche Elemente (Renckstorff 1977). Nicht selten wird man annehmen müssen, daß die Kri-

terien für die Zuordnung ein Gemisch darstellen aus sprachlichen Kriterien, inhaltlichen Anforderungen und Erwartungen an die Texttypen, wobei die einzelnen Ebenen nicht mehr voneinander zu trennen sind. (c) Test-Material (Abkürzungen: R N = Radionachrichten DRS EdZ = Echo der Zeit DRS N Z Z = Kommentar der Neuen Zürcher Zeitung TS = Tagesschau DRS) 1) Wenn Popularität und Wirkungsvermögen in einem derart eklatanten Mißverhältnis zueinander stehen, wie das bei der Preisüberwachung der Fall ist, gibt es allemal politische und wirtschaftspolitische Kreise, die in Ermangelung anderer Popularitätsträger im Wind der Preisüberwachung zu segeln sich anschicken. (NZZ) 2) In den meisten europäischen Ländern standen die Maikundgebungen im Zeichen der Probleme um die Arbeitslosigkeit. (RN) 3) Der deutsche Bundeskanzler und sein sowjetischer Gast gaben nach einem zweieinhalbstündigen Gespräch unter vier Augen über Abrüstungsfragen bekannt, daß die politischen Bemühungen um eine Entspannung zwischen Ost und West durch umfassende militärische ergänzt würden, wie es hieß. (RN) 4) Das Gewehr der Revolution stellten heute auch die Studenten der persischen Universitäten wieder in die Ecke und griffen erneut zu ihren Büchern. (TS Film) 5) Einmal mehr zieht eine Rüstungsaffäre ihre Kreise, und weil Panzer im engeren und im weiteren Sinne gewichtig sind, zieht sie ihre Kreise weit. Nur im Militärdepartement scheint der Horizont zu eng zu sein, um die volle Tragweite zu überblicken. (NZZ) 6) In den westeuropäischen Ländern warf der Tag der Arbeit besonders hohe Wellen in Spanien. (RN) 7) Nach israelischen Angaben haben palästinensische Guerillas in den letzten Tagen die Linien der UNO-Truppen durchstoßen und sind in großer Zahl in ihre früheren Stellungen zurückgekehrt. (RN) 8) Die argentinischen Juntageneräle treten ein Glied zurück in ihrem militärischen Machtgebäude. (EdZ) 9) Parteien und Gruppen, deren Auffassung in Fragen der Demokratie, gelinde gesagt, von landesüblichen Vorstellungen beträchtlich abweicht, wer-

Verwendung fen sich zu Hütern des freiheitlichen Rechtsstaates auf und spielen die gekränkte und verfolgte Unschuld. (NZZ) 10) Die Polizei hatte am Wochenende zwei an der Tat beteiligte Personen festgenommen. Zuvor hatte sie ein Telefongespräch zwischen Entführern und den Angehörigen der Verschleppten mitgehört und war so den Verbrechern auf die Spur gekommen. (RN) 11) Gesichter, noch und noch, Kenner sagen, es seien Spiegelbilder des facettenreichen Gesichtes des Künstlers. (TS Film) 12) Es kommt ihm bei diesem Tanz auf dem hohen Seil das Faktum zu Hilfe, daß die Wirtschaftswissenschaften keine soliden Methoden zu offerieren vermögen, mit denen zuverlässig festzustellen wäre, wie denn nun die Preisbewegungen ohne Überwachung verlaufen wären. (NZZ) 13) Jetzt versucht Carter, die Wogen zu glätten und das ölgeschäft mit Mexiko in Gang zu bringen. (TS Film) 14) Karamanlis ist nämlich ein Europäer im griechischen, wenn ich so sagen darf, und im europäischen Sinne. (EdZ) 15) Neben ideellen Motiven war dabei auch immer die praktische Überlegung wegleitend, daß politisch extreme Gruppen sich besser unter Kontrolle halten lassen, wenn sie im Lichte der Öffentlichkeit agieren, als wenn man sie in den Untergrund der Illegalität abdrängt. (NZZ) 16) Auf dem Balkon der früheren israelischen Wirtschaftsmission weht die Palästinenserflagge, wo die PLO heute ihr Büro eingerichtet und eingeweiht hat. (TS Film) 17) Nach einem Treffen zwischen Ministerpräsident Andreotti und anderen Parteiführern wurde jedoch ein Gnadenakt in Aussicht gestellt, falls Moro unversehrt und bedingungslos freigelassen würde, und die Koten Brigaden sich bereit erklärten, Gewaltakten künftig abzuschwören. (RN) 18) Das gilt ja schließlich auch für gewöhnliche Sterbliche. (EdZ) 19) Dabei läßt sich aus dem hektischen Stimmengewirr der Politiker und Publizisten, die dieses beliebte Thema unermüdlich mit immer neuen Beiträgen bereichern, die Spreu vom Weizen, will sagen die bloße Spekulation von einigermaßen konkreter Substanz, vorläufig kaum zuverlässig unterscheiden. (NZZ) 20) Auch Amsterdam verwandelte sich über Nacht in eine Winterlandschaft. Den Trams machte die weiße Pracht arg zu schaffen. (TS Sprecher) 21) Es ist selbstverständlich, daß die Aktivität einer Partei mit den programmatischen Zielsetzun-

165

gen und der in die Zeit des Stalinismus hinabreichenden Vergangenheit der PdA (. . .) mit besonderer Sorgfalt beobachtet wird, auch wenn sie gelegentlich in das schon ziemlich verschlissene Mäntelchen des Eurokommunismus schlüpft. (NZZ) 22) Das Übereinkommen des Europarates zur Bekämpfung des Terrorismus kann demnächst in Kraft treten. (RN) 23) Und hier schließt sich der Zirkel, der zum Weiterwursteln zwingt. (NZZ) 24) Wie aus zuverlässigen palästinensischen Kreisen in Beirut verlautete, ordnete Arafat die Verfolgung und Verurteilung aller Beteiligten an dem Angriff auf den Stützpunkt französischer Blauhelme an. (RN) 25) Aber was soll's, der Steuerzahler berappt es ja. (EdZ) 26) Ein Erfolg von SALT II könnte dem Chef im Kreml andererseits gewisse Früchte dieser Politik in Reichweite bringen, die ihm bisher zu hoch hingen, an denen er aber stark interessiert ist — insbesondere die Meistbegünstigung im Handel mit Amerika. (NZZ) 27) Das IKRK hat es da noch schwerer, denn es fordert von jedem Staat die Aufgabe einer Parzelle seiner nationalen Souveränität. Daher sieht man es im Konfliktfalle lieber draußen vor der Tür. (EdZ) 28) Die südwestafrikanische Unabhängigkeitsbewegung Swapo erklärte, der Angriff Südafrikas habe die Zweifel verstärkt, daß eine Lösung des Namibiaproblems auf friedlichem Weg zustande komme. (RN) 29) Mexiko nämlich hat sich beklagt, von den USA nicht nur in ölangelegenheiten herablassend als arme Verwandte behandelt zu werden. (TS Sprecher) 30) Wie das Verbindungsbüro der PLO irvParis mitteilte, soll Arafat dem Offizier sein Bedauern über den Zwischenfall ausgesprochen haben. (RN) 31) Diese Äußerungen Dayans haben in Israel einen Sturm der Entrüstung und der Zustimmung hervorgerufen. (TS Sprecher) 32) Der Präsident wollte die Vorstöße Moskaus in Angola, Äthiopien, im Jemen sozusagen zur Gretchenfrage der Entspannung schlechthin machen und das Schicksal von SALT II damit verbinden. (NZZ) 33) In Genf nahmen aber bereits heute verschiedene Stimmbürger den Weg zur Urne unter die Füße. (TS Film) 34) Am Morgen hat sich der sowjetische Gast erneut mit dem Bundeskanzler unterhalten, am Abend waren es dann Außenminister Genscher und der SPD-Vorsitzende Brandt, die ihre Aufwartung machten. (EdZ)

166

Pragmatische Aspekte

35) Gibt es einen Stimmbeteiligungsrekord an diesem Wochenende? Die Zeichen stehen nicht schlecht. (TS Sprecher) 36) Der heutige Tag der Arbeit ist für Millionen Menschen in aller Welt der Anlaß, auf die Straßen zu gehen. (RN) 37) Politisch ragte an diesem Wochenende in unserem westlichen Nachbarland der Nationale Kongreß der Sozialisten heraus, an welchem die Parti socialiste sich die Wunden der Wahlschlacht leckte. (EdZ) 38) Die für Portugal ungewöhnlichen Regengüsse haben zu ausgedehnten Überschwemmungen geführt, die vor allem die Landwirtschaft in Mitleidenschaft gezogen haben. (TS Sprecher) 39) Wer dazu neigt, auch die jüngste Affäre wieder mit ein paar Pflästerli zuzudecken, sollte das bedenken. (NZZ) 40) Um allen Gerüchten um eine baldige Ablösung von der Parteispitze den Wind aus den Segeln zu nehmen, pries Ρ. Α., einer der möglichen Nachfolger Mitterands, den Chef in hohen Tönen. (EdZ) 41) Der ehemals mit dem Titel Held der Sowjetunion ausgezeichnete Grigorenko erinnerte seinen, wie es heißt, gleichaltrigen Waffenbruder Breschnew daran, daß er aus einem Land ausgebürgert worden sei, für das er zweimal Blut vergossen habe. (RN) 42) Geht man ihren Ursachen nach, so stößt man auf die Welt, in der wir leben. (EdZ) 43) Die Revolution im Iran scheint kurz vor ihrem Erfolg. Die Verfechter einer islamischen Republik sind bereits im Siegestaumel. (TS Sprecher) 44) Während in Rom die alte Suppe weiterkocht, gibt es in Italien nach wie vor blühende Provinzen, wo eine vitale Rasse gesunde Familien hervorbringt und Privatfirmen erfolgreich den Weltmarkt beliefern. (NZZ) 45) Auf Anordnung des Schiitenführers Ayatollah Khomeini drücken seit heute nach viermonatigem Streik Millionen von Schülern in ganz Persien wieder die Schulbank. (TS Film) 46) Erledigt war das Thema damit natürlich nicht. Es brutzelte weiter, wenn auch nur auf Sparflamme. (EdZ) 47) Weit aus dem Rahmen fällt der Kanton Wallis mit einer Zunahme der Arbeitslosen um 3,7 Prozent. (TS Sprecher) 48) Wer der Meinung ist, Panzer müßten nicht nur pro Jahr drei Wochen Wiederholungskurs mit einer Miliztruppe bestehen, sondern im Kriegsfall auch während Wochen gegen einen überlegenen Gegner kämpfen, dem ging die Galle hoch, als er vernahm, die beanstandeten Sachen würden von der

Gruppe'für Rüstungsdienste in den dritten Rang unter sonstige Mängel verwiesen. (NZZ) 49) So wurden denn heute die Parolen gegen die Regierung und gegen Patrons, die Unternehmer, mit wenig Schwung vorgebracht, es fehlte offenbar der Glaube. (EdZ) 50) Als dann die Fragen vor allem um Berlin immer bohrender wurden, kündigte der sowjetische Sprecher kurzerhand an, Weiteres zu diesem Thema werde er nicht mehr beantworten, womit auch dem hintersten und letzten der Anwesenden klar geworden sein dürfte, daß man sich in der Sowjetunion an andere journalistische Bräuche gewöhnt ist als hierzulande. (EdZ) 51) Ein solches Risiko können und wollen die Roten Brigaden nicht auf sich nehmen, deshalb wollen sie der Gegenseite, der Democrazia Cristiana, der Regierung, dem Parlament Beine machen. (EdZ) 52) Gewiß, die Guerillakämpfer der Swapo hatten in den vergangenen Wochen die Geduld der Südafrikaner mehr als strapaziert. (EdZ) 53) Nach der Unterzeichnungszeremonie erklärte Breschnew, die unterschriebenen Dokumente würden eine große Rolle für die Verbesserung der Beziehung zwischen den beiden Ländern spielen. (RN) 54) Die Ubergangsregierung hatte gestern alle gegen Rhodesien operierenden Guerillas aufgefordert, die Waffen niederzulegen. (RN) 55) Zwar müssen sich die Anhänger der PdA und ihre Sympathisanten nicht wundern, daß sie genau unter die Lupe genommen werden, wenn sie sich in den Dienst des sonst von ihnen so verlästerten Staates drängen. (NZZ) 56) In Mexiko ist Carters Eintreten für die mit Füßen getretenen Menschenrechte in Lateinamerika auf fruchtbaren Boden gefallen. (EdZ) 57) Bundespräsident Ritschard erklärte in einer Rede in Thun, für die Arbeiterschaft sei der Moment noch nicht gekommen, sich auf den Lorbeeren auszuruhen. (RN) 58) 87 Prozent der Walfänge gehen auf das Konto japanischer und sowjetischer Fischer. (RN) 59) Der amerikanische Senat wird auf solche Weise von einem merkwürdig gemischten Chor aus dem Weißen Haus, dem Kreml und aus Westeuropa zugleich aufgefordert, seine Pflicht zu tun und keine Schwierigkeiten bei der Ratifikation zu machen. (NZZ) 60) Bachtiar hat in einer schwierigen Ubergangsphase seine Pflicht getan - Bachtiar kann gehen. (TS Film) 61) Der sudanesische Staatschef Numeiri ist mit seinem Werben um eine Versöhnung der arabischen Länder in Syrien auf Widerstand gestoßen. (RN)

Verwendung 62) Νach Auskunft von Bundeskanzler Huber gelangte die Landesregierung zum Schluß, daß in den nächsten Monaten mit zusätzlichen wirtschaftlichen Schwierigkeiten gerechnet werden muß. (RN) 63) Eine Brücke zwischen den Sozialdemokraten und den Progressiven ist nach wie vor undenkbar. Falls trotzdem der Versuch gemacht würde, sie zu schlagen, dürfte bei vielen Mitgliedern der größten Partei der politischen Linken die Reaktion in Stillschweigen und der Faust im Sack bestehen . . . (NZZ) 64) Wegen der schwierigen Währungssituation ist im übrigen damit zu rechnen, daß die Exportrisikogarantie vermehrt in Anspruch genommen wird. (RN) 65) Wie du mir, so ich dir. Für die Kommunisten tragen die Sozialisten die ganze Schuld an der Wahlniederlage der Linken. (EdZ) 66) Ständerat Schlumpf ist deshalb auch bei der Beurteilung der Frage, wie stark die Preisüberwachung dazu beigetragen hat, die inflationären Wogen zu glätten, äußerst vorsichtig. (NZZ) 67) In Carters Politik hat andererseits die russische Karte innert kurzer Zeit an Bedeutung und Interesse erstaunlich viel gewonnen, und er hat um eines besseren Verhältnisses zu Moskau willen diverse Pflöcke beträchtlich zurückgesteckt. (NZZ) 68) Von der Euphorie vergangener Tage ist weiß Gott nicht mehr viel übrig geblieben. Sie hat zumeist Ernüchterung oder gar Enttäuschung Platz gemacht. (EdZ) 69) Durch eine weitere Vervielfachung dieser bereits zahlreichen Informationssperren wird diesem Übel kaum beizukommen sein. Der Wurm sitzt tiefer. (NZZ) 70) Was Wunder also, daß Amerikas CIA kürzlich per Stellenanzeiger in der New York Times um neue Leute werben mußte. (EdZ) 71) Die letzten Getreuen des gestürzten Diktators, die Palastwachen, ergaben sich widerstandslos

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— nach Augenzeugenberichten mit Tränen in den Augen. (TS Sprecher) 72) Afghanistan verbindet grob gesprochen den Nahen mit dem Fernen Osten und zugleich Zentralasien mit dem indischen Subkontinent. (EdZ) 73) Mit der Verängstigung der Bürger wurde hüben und drüben hausiert. Auch Fälschungen, Imitationen und Plakatüberkleben gehörten zur Tagesordnung. (TS Film) 74) Die Straßen rund um die ehemalige Mädchenschule, in der nun Schiitenführer Ayatollah Chomeini residiert, gleichen einem Hexenkessel. (TS Film) 75) Heute rief er die immer noch zahllosen Streikenden auf, sich endlich wieder an die Arbeit zu begeben. Indem sie den Schah aus dem Lande gejagt und das Kabinett Bakthiar in die Knie gezwungen hätten, sei das erste Ziel der Revolution erreicht worden. (TS Sprecher) 76) Breschnew hat, um günstigen Wind für die Chancen des Abkommens im Senat zu machen, zwar wie üblich keine substantiellen politischen Zugeständnisse, aber einige taktische Konzessionen gemacht. (NZZ) 77) Der Entschluß der Armee-Führung hat dem offiziellen Regierungschef Bachtiar offenbar den Rest gegeben. (TS Sprecher) 78) Der israelischen Seite lägen zuverlässige Berichte vor, wonach die palästinensischen Guerillas zumeist in Dreier- und Vierergruppen die UNOLinien passierten. (RN) 79) Im Klartext wollte er dem amerikanischen Gast Vance unmißverständlich darlegen, daß Mexiko sich in Sachen Erdöl von niemandem beeinflussen lassen will. (EdZ) 80) Am gleichen Tag gab sich Bachtiar auch gegenüber Journalisten lässig. Die Lage sei ausgezeichnet, meinte er, die Leute seien nun mal lärmig, na und? (TS Film)

5. Psycholinguistik 5.1. Einleitung Die Phraseologieforschung hat sich bisher vor allem mit den Eigenschaften (Definition und Klassifikation) und mit den Verwendungsweisen (Häufigkeit und Art des Gebrauchs in Abhängigkeit von Text-Typen) von Phraseologismen als sprachlichen Einheiten befaßt. Phraseologismen sind als Gegenstand grundsätzlich von der Sprache her bestimmt: im engeren, herkömmlichen Sinn als lexikalische Einheiten (ζ. B. dadurch, daß ihre Bedeutung nicht der Summe der Bedeutungen ihrer Wortbestandteile entspricht); im weiteren Sinn von der sprachlichen Verwendungsweise her (beispielsweise dadurch, daß sie in immer der gleichen Konstellation, also fest, verwendet werden). Demgegenüber gibt es eine Reihe verschiedenartiger Gründe, Phraseologie und Phraseologismen auch von der psychologischen Seite her anzugehen: Einmal stellt sich ganz generell die Frage, ob das Gebiet der Phraseologie so, wie es sich von der sprachlichen Seite her eingrenzen läßt, auch von der Psychologie her als in sich zusammengehörig und gegen außen abgrenzbar beschrieben werden kann. Dann kann man annehmen, daß Einsichten in die psychologischen Prozesse, die mit dem Gebrauch und mit dem Verstehen von Phraseologismen verbunden sind, zum tieferen und adäquateren Verständnis von phraseologischen Erscheinungen beitragen können, deren Beschreibung von sprachlicher Seite umstritten oder problematisch ist. Und schließlich enthalten verschiedene Begriffe, die zur Beschreibung von Phraseologismen benutzt werden, — tatsächlich oder der Möglichkeit nach — psychologische Implikationen, deren Verhältnis

zur Phraseologie allgemein untersucht werden muß. Psychologische Implikationen liegen beispielsweise dann nahe, wenn man Phraseologismen mit Hilfe des Begriffs der Reproduktion definiert oder charakterisiert. Dabei wird der Begriff der Reproduktion meistens gebraucht, um das Gebiet der Phraseologie aus dem Bereich der Sprache auszunehmen, der nach Auffassung der generativen Grammatik produktiv verwendet wird. Unter diesen Umständen liegt es — auch im Zuge der Psychologisierung von Begriffen wie „Generieren" und „Produzieren" und der Frage nach der psychologischen Realität von Grammatiken generell — nahe, mitanzunehmen, Phraseologismen würden auch vom Sprecher/Hörer im Verwendungsprozeß reproduziert. Darin liegt eine Überschreitung der Grenzen der sprachlichen Beschreibung von Phraseologismen als „reproduzierten" oder „reproduzierbaren" Einheiten auf die Psychologie hin, die allerdings meist unreflektiert erfolgt und zur weitverbreiteten Annahme führt, Phraseologismen gehörten im Normalfall zu den Automatismen im Sprachproduktionsprozeß. Ob man tatsächlich davon ausgehen kann, daß die Eigenarten der phraseologischen Produktion im Sinne von Sprachverwendung in der Reproduktion, also im nicht-produktiven Sprachgebrauch von vorgefertigten sprachlichen Versatzstücken besteht, oder ob darin nicht eine unzulässige Verkürzung liegt, die mehr verdeckt als erklärt, das ist eine der Fragen, die im folgenden Kapitel behandelt werden soll. Ansatzweise wird jedenfalls in Sammlungen wie Bebermeyer und Bebermeyer 1977 „Abgewandelte Formeln — sprachlicher Ausdruck unserer Zeit", die sich mit reproduzierten

Einleitung

Sprachelementen befassen, sichtbar, daß die sprachlich bestimmte Gruppe von Phraseologismen mit der lernpsychologisch definierten Menge von Reproduziertem nicht übereinstimmt. Ähnliche psychologische Implikationen wie beim Begriff der Reproduziertheit können dann vermutet werden, wenn man — unabhängig von Kriterien phraseologischer Semantik — alles das in den Bereich phraseologischen Interesses einbezieht, was sich durch festen Gebrauch auszeichnet, vor allem also gesprächsspezifische Phraseologismen, aber auch andere phraseologische Wortverbindungen, die sich mehr durch die Üblichkeit der Kombination im Gebrauch als durch phraseologische Gesamtbedeutung oder durch syntaktische Festigkeit oder Besonderheit auszeichnen wie bevorzugte Analysen und allgemein pragmatisch phraseologische Wortverbindungen. (Vgl. dazu 4.1.). Da in diesen Fällen keine strukturell begründete Festigkeit, aber eine solche des Sprachgebrauchs vorliegt, liegt es nahe, auf der psychologischen Seite eine Verfestigung im Verwendungsprozeß anzunehmen, die ebenfalls dadurch charakterisiert ist, daß sowohl die Möglichkeit, vor allem aber die Notwendigkeit der Auswahl der sprachlichen Bestandteile der Wortverbindung wegfallen. Sowohl diese Annahme selbst als auch eine Analyse der Funktionsmöglichkeiten, die sich für solchermaßen feste Wortverbindungen auf der Basis dieser Annahme eröffnen, erfordern den Zuzug auch von psychologischen Kategorien. Die Fragen, die sich daran anschließen lassen, lauten noch allgemeiner als oben: Wie läßt sich der Gebrauch von Phraseologismen von einem Standpunkt aus beschreiben, der sowohl linguistische wie auch psychologische Gesichtspunkte einbezieht und zunächst insofern „psycholinguistisch" genannt werden kann? Und unterscheidet sich der Gebrauch verschiedener Typen von Phraseologismen in psycholinguistischer Hinsicht? Drittens werden auch dann psychologische Implikationen gemacht, wenn — vor allem auch im Zusammenhang mit der Bedeutungsstruktur von metaphorisch motivierten Phraseologismen — davon die Rede ist, daß phra-

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seologische Wortverbindungen als Ganze sowohl verstanden als auch gelernt werden müssen. (Vgl. dazu Buhofer 1980). Insofern Verstehen und Lernen Prozesse sind, die nicht oder nicht ausschließlich von linguistischen Kriterien der sprachlichen Form abhängig sind, handelt es sich auch dabei um Vorgänge, die auch in den Zuständigkeitsbereich der Psychologie fallen und deshalb von einem psycholinguistischen Standpunkt aus betrachtet werden sollten. Eine weitere Frage, die in diesem Rahmen gestellt werden soll, betrifft deshalb das Verstehen und das Lernen (vgl. dazu 6.) von Sprache generell und den Platz, den Phraseologismen darin einnehmen. Auch die wahrscheinlichkeitstheoretischen Überlegungen, die dazu dienen können, den Aspekt des Zusammenvorkommens und die damit verbundene Art der Festigkeit von Phraseologismen zu charakterisieren, haben eine psychologische Seite (die des Verstehens aufgrund von wahrscheinlichen Erwartungen), die mehr oder weniger explizit mitgemeint ist. Und schließlich stellt sich auch die Frage, ob die intuitiv-selbstverständliche Annahme von einer psychologischen Entsprechung zur sprachlich bestimmten phraseologischen Einheit haltbar ist. Wenn man sich die verschiedenen Gründe für einen psycholinguistischen Ansatz zur Beschreibung der Phraseologismen noch einmal vergegenwärtigt, so lassen sich von daher für dieses Kapitel die folgenden Fragen stellen: Lassen sich die innerhalb der Sprache als Phraseologismen beschriebenen Einheiten auch psycholinguistisch als solche beschreiben? Oder in geläufigeren Termini: Kommt der Phraseologie „psychologische Realität" zu? Ist damit die Vermutung auf psycholinguistische Besonderheiten aufgrund sprachlicher Besonderheiten berechtigt? Lassen sich die Mechanismen beschreiben, die mit der Speicherung der Äußerung und dem Verstehen von Phraseologismen verbunden sind? Wie lassen sich die verschiedenen Eigenschaften von Phraseologismen psycholinguistisch beschreiben?

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Psycholinguistik

Lassen sich die unterschiedlichen Typen von Phraseologismen psycholinguistisch unterschiedlich beschreiben?

5.2. Die Frage der Einheiten Eine der wesentlichen Fragen für die Beschreibung des Produzierens und Verstehens von Phraseologismen ist die grundsätzliche Frage nach ihrer psycholinguistischen Einheit. Können Phraseologismen auch psycholinguistisch betrachtet als Einheiten angesehen werden? Diese Frage soll hier — unter Beizug von psycholinguistischen Erkenntnissen und eigenen phraseologischen Beobachtungen — sozusagen als Voraussetzung für die folgenden Kapitel erörtert werden. Wie wären solche psycholinguistische Einheiten allenfalls definierbar? Α. A. Leont'ev diskutiert in seiner Untersuchung „Psycholinguistische Einheiten" im Anschluß vor allem an die amerikanische Psycholinguistik der 60er Jahre (besonders: Osgood, Sebeok (eds.). Psycholinguistics. 1965) drei Sorten von Einheiten: 1. Linguistische Einheiten, die er im Anschluß an G. A. Klimov folgendermaßen definiert: „Die linguistische Einheit wird definiert (. . .) als Komponente eines linguistischen Modells, d. h. als eine bestimmte methodische Konstruktion, mit der der Linguist bei der Formierung des Begriffs der einen oder anderen sprachlichen Einheit operiert." (Leont'ev 1975, S. 3). 2. Psycholinguistische Einheiten: „Einheiten vom Typ der Silbe, des Worts oder des Satzes, in bezug auf die wir ein „prälinguistisches" Wissen besitzen, werden als psychologische Einheiten definiert." (Leont'ev 1975, S. 15). Es sind „(. . .) Einheiten, deren sich der Sprecher der Sprache bedient, wenn er über seine Sprache spricht,", „Einheiten, die vom Sprecher intuitiv erkannt werden." (Leont'ev 1975, S. 14). 3. Psycholinguistische Einheiten: das sind „solche Segmente der Mitteilung, die als Ganze funktional operativ in den Prozessen der Decodierung und Codierung auftreten und einer Ebenenanalyse unterworfen werden." (Leont'ev 1975, S. 15). Damit wird, was oben

vereinfachend „psycholinguistische Entsprechung von linguistischen Einheiten" genannt wurde, erweitert und aufgeteilt in psycholinguistische (Verarbeitungs-)Einheiten und psychologische (Bewußtseins-) Einheiten. Diese Unterscheidung wird im folgenden für die Objektebene beibehalten. Auf der Beschreibungsebene wird dagegen terminologisch der linguistischen Beschreibung weiterhin eine psycholinguistische Beschreibung gegenübergestellt, die sowohl den Aspekt der Beschreibung psychologischer als auch denjenigen der Beschreibung psycholinguistischer Einheiten umfaßt. In welchem Verhältnis stehen die Einheiten dieser drei verschiedenen Ebenen? Linguistische Einheiten stimmen normalerweise mit den intuitiven psychologischen Einheiten nicht überein, da sie auf dem Hintergrund linguistischer Theorien definiert sind. Sie können aber auch zu psychologischen Einheiten werden, wenn die entsprechenden linguistischen Kriterien beispielsweise durch die Schule vermittelt werden, so daß die darauf aufbauenden linguistischen Einheiten selbstverständlicher Bestandteil des Sprachwissens eines durchschnittlichen Sprecher/Hörers werden. Psycholinguistische Einheiten sind dem Sprachwissen nicht grundsätzlich zugänglich, deshalb stimmen die psychologischen Einheiten nicht von vornherein mit ihnen überein. Die psycholinguistischen Einheiten können aber zum Teil als Folge von Mechanismen wie Hindernis (Claparedsches Gesetz) (vgl. 6.1.2.) und explizite Belehrung bewußt werden und auf dieser Basis den Status von psychologischen Einheiten bekommen. Linguistische und psycholinguistische Einheiten sind durch linguistische Theorie einerseits und durch psycholinguistisch-kognitive Verarbeitung anderseits gegeben. Man kann deshalb nicht davon ausgehen, daß sie übereinstimmen. Es wird aber Fälle geben, in denen sie über die Vermittlung durch psychologische Einheiten mehr oder weniger zur Deckung gebracht werden, sowie solche Fälle, in denen eine „zufällige" Übereinstimmung besteht. Gänzlich zusammenfallen werden linguistische,

Die Frage der Einheiten

psychologische und psycholinguistische Einheiten sowohl vom Inhalt als auch vom Umfang der zugrundeliegenden Kategorienbegriffe her im Normalfall nicht. Einmal deswegen, weil die linguistischen Einheiten generell und gerade auch in bezug auf die Phraseologismen nicht mit Rücksicht auf tatsächliche Verarbeitungsmechanismen bestimmt worden sind, zum anderen ist die psychologische Vermittlung „ungenau", bzw. nicht auf systematischlinguistisches Vorgehen ausgerichtet, und die tatsächliche psycholinguistische Verarbeitung wird auch von anderen als sprachlichen Faktoren mitbeeinflußt. In neueren Untersuchungen ist deshalb auch die Annahme von der Ubereinstimmung von linguistischer Beschreibung von Sprache und tatsächlicher, realer Sprachproduktion und realem Sprachverstehen aufgegeben worden. (S. ζ. B. Leont'ev 1975, in spezielleren Zusammenhängen: Engel 1977, S. 18, Schneider 1978, S. 170). Auf dem Hintergrund dieser Unterscheidungen kann die eingangs formulierte Frage noch einmal gestellt werden: Entsprechen den sprachlichen bzw. (wenn man den theoretischen Aspekt betonen will) den linguistischen Einheiten der Phraseologismen auch psychologische und/oder psycholinguistische Einheiten? Es ist zwar schon die Frage nach solchen Entsprechungen generell und nach entsprechenden Einheiten im besonderen in der heutigen Psycholinguistik nicht mehr unumstritten. Leont'ev beispielsweise sieht darin die Folge einer linguistischen Denkmethode im Gegensatz zu einer psychologischen: „Die dominierende Rolle spielen für den Linguisten Charakteristika der Beschreibung, welche zu den Charakteristika des realen redeerzeugenden Apparats in keiner Beziehung stehen. Dabei ist der Linguist organisch nicht fähig, in der Terminologie von Prozessen zu denken: Er operiert nur mit Einheiten und deren Eigenschaften." (Leont'ev 1975, S. 118). Leont'ev stützt sich — nach der Diskussion der amerikanischen Ansätze — für seine eigenen Überlegungen vor allem auf Ν. A. Bernstejn, weist ausdrücklich darauf hin, daß Bern-

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stejn nirgends mit dem Begriff der Einheit operiert und kommentiert: „Darin liegt jedoch nichts Verwunderliches. Der Begriff der Einheit als solcher setzt, auf eine Tätigkeit angewandt, deren diskreten Charakter voraus. Die wichtigste Besonderheit der Bernstejnschen Konzeption besteht aber gerade darin, daß nach Bernstejn die Tätigkeit etwas Dynamisches (im Sinne Millers u. a.), Kontinuierliches ist: Die „Aktivität" des Organismus wird nicht als Reaktivität betrachtet, die die Hervorhebung einzelner Reaktionen oder Gruppen von Reaktionen als „Einheiten" gestattet, sondern als ununterbrochene aktive Einmischung des Organismus in die Umwelt, als aktive Bewältigung der Umwelt durch die geregelte Tätigkeit eines komplizierten Mechanismus mit vielen Ebenen." (Leont'ev 1975, S. 35). Diese Auffassung ist vor dem Hintergrund der russischen Sprechtätigkeitstheorie zu sehen, deren Einheit nicht das sprachliche Zeichen, sondern die Sprachhandlung ist. (Vgl. dazu auch Hörmann 1978, S. 306). Bezugnehmend auf die amerikanische Psycholinguistik stimmt Leont'ev deshalb entschieden Bever zu, „ ( . . . ) der das Problem der „psychologischen Realität" des einen oder anderen Modells für ein Scheinproblem hält ( . . . ) und das eigentliche Problem in etwas gänzlich anderem sieht, nämlich darin, „wie diese (linguistischen) Strukturen in den realen psychologischen Prozessen wie Wahrnehmung, Kurzzeit-Gedächtnis usw. zusammenwirken". (Leont'ev 1975, S. 247). Die Ablehnung von der Auffassung der psycholinguistischen Entsprechung zu linguistischen Kategorien geht soweit, daß Leont'ev im Gegensatz etwa zu Katz/Fodor auch nicht annimmt, es würden Wörter gespeichert (diese Auffassung bezeichnet er als „Engramm-Theorie" (Leont'ev 1974,· S. 70): „Kann man annehmen, daß das Wort irgendwo im „Lexikon" des Gehirns „eingetragen" ist und daß die hier beschriebenen Wege und Verfahren für die Suche einzig und allein darauf gerichtet sind, diese Eintragung zu finden? Wir sind anderer Auffassung. Wir meinen: Ein Wort ist in Form seiner Suche eingetragen. Indem wir mit den entsprechenden Merkmalen operieren,

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Psycholinguistik

„vergleichen" wir bereits die „Eintragung" im Lexikon. Und es hat kaum einen Sinn, irgendwo in den Nervenzellen das Engramm der Lautform eines Wortes, irgendeinen „Abdruck" mit angefügtem „Etikett" zu suchen." (Leont'ev 1975, S. 234). Auch wenn man einräumt, daß die Fragen nach psychologischen und vor allem nach psycholinguistischen Einheiten, die zudem in einem Gleichheits- oder Abweichungsverhältnis zu den sprachlichen Ausgangseinheiten stehen sollen, Fragen von einem linguistischen Standpunkt aus sind, die möglicherweise den realen Sprachverarbeitungs- und Sprachbewußtwerdungsprozessen nicht optimal adäquat sind, so sind sie doch in diesem Fall legitim, und zwar aufgrund folgender Überlegungen: 1. Ein Standpunkt, wie ihn Leont'ev vertritt, führt dazu, daß mit der Aufgabe des linguistischen Ausgangspunktes aus Gründen einer theoretisch postulierten Adäquatheit die Berücksichtigung jedes linguistischen Kriteriums als möglicher Faktor im Sprachverwendungsprozeß aus denselben Gründen fragwürdig wird. Solange deshalb nicht erwiesen ist, daß ein sprachliches Kriterium linguistischer Beschreibung für die psycholinguistisch zu erfassenden Prozesse der Sprachverwendung keine Rolle spielt, ist das Ausgehen und Einbeziehen von sprachlichen Kategorien ein praktisch sinnvolles und deshalb berechtigtes Unterfangen. 2. Die Psycholinguistik hat bisher keine Theorie entwickelt, die eine begründete und empirisch abgesicherte Auswahl und Vermittlung von psychologischen und linguistischen Kategorien leisten würde, so daß man sich daran halten könnte. 3. Vom Standpunkt der Phraseologie aus stellt sich die linguistisch motivierte Frage, wie Phraseologismen psychologisch und psycholinguistisch erscheinen. Wenn man diese Frage zunächst primär mit Kategorien der Einheit oder Nicht-Einheit anzugehen sucht, so mag das von einer gewissen linguistischen Voreingenommenheit zeugen, ist aber mangels anderer psycholinguistisch geprüfter Denkkategorien unumgänglich.

4. Auch wenn sich der Gegensatz zwischen Einheit und Nicht-Einheit als theoretisches Konstrukt erweisen sollte, das die prozeßhafte Wirklichkeit der Sprachverwendung nicht in allen Teilen trifft, so dürfte man doch an folgendem festhalten: eine syntagmatische Sprachbetrachtung ergibt, daß gewisse sprachliche Elemente enger zusammengehören, insofern einheitlicher sind, als andere; es spricht nichts gegen und einiges für die Annahme, daß es auch die Prozesse des Brauchens und Verstehens von Sprache nicht mit gleichmäßig voneinander gesonderten „Bauklötzen" der Sprache zu tun haben, sondern mit sprachlichen Elementen, die in den verschiedenartigsten Beziehungen zueinander stehen, u. a. eben auch in Zusammengehörigkeits- und damit Einheitlichkeitsbeziehungen. Sind also Phraseologismen psychologische und psycholinguistische Einheiten? Von der Phraseologieforschung her würde man wohl, wenn man sich diese Frage stellen würde, annehmen, daß sie das sein müssen, und zwar aufgrund von Überlegungen wie der folgenden: — Phraseologismen sind als Wortverbindungen nicht das Ergebnis von regelhaften paradigmatischen Auswahl- und syntagmatischen Kombinationsprozessen. Das äußert sich in syntaktischen und vor allem semantischen Unregelmäßigkeiten bzw. phraseologischen Besonderheiten. Von daher würde man wohl im Sinne der Definition psycholinguistischer Einheiten annehmen, daß es sich dabei um solche Segmente der Mitteilung handelt, die als Ganze funktional operativ in den Prozessen der Decodierung und Codierung auftreten. — Der Sprecher/Hörer muß wissen (oder sich so verhalten, als ob er wüßte), daß Phraseologismen keine regelhaft zustande gekommenen Produkte sind. Er muß ζ. B. wissen, daß man sie nicht wörtlich nehmen darf. Das muß gelernt werden und wenn man dabei annimmt, daß der Sprecher/Hörer Phraseologismen bewußt als solche lernen muß, wären Phraseologismen damit Einheiten, über die der Sprachteilnehmer ein „prälinguistisches" Wissen besitzt, von der Art beispielsweise, daß er weiß,

Die Frage der Einheiten

daß sie nicht wörtlich genommen werden dürfen. Insofern wären Phraseologismen auch psychologische Einheiten. Unter dem Gesichtspunkt der Einheit hätten Phraseologismen damit einen psycholinguistischen und psychologischen Status, der demjenigen der Wörter vergleichbar scheint, die (wenn überhaupt mit dem Begriff der Einheit gearbeitet wird) unbestritten als die Einheiten betrachtet werden. Das wäre die einfachste Möglichkeit der psycholinguistischen Beschreibung phraseologischer Sprachgebrauchsprozesse. Im folgenden soll deshalb diskutiert werden, ob die Annahme der Äquivalenz zwischen phraseologischer Wortverbindung und Wort in bezug auf Einheitlichkeit im Sprachproduktions- und Sprachverstehensprozeß begründet werden kann und allenfalls inwiefern. Wenn man sich das Wort als Einheit der kognitiven Verarbeitung vorstellt, so kann man (in Anlehnung an die entsprechende Unterscheidung linguistischer Beschreibung) unterscheiden zwischen dem Bedeutungskonzept einerseits und der dazugehörigen Lautfolge anderseits. (Diese Unterscheidung hat sich psycholinguistisch vor allem auch im Zusammenhang mit der sprachpathologischen Beschreibung aphatischer Krankheitszustände als hilfreich erwiesen: Wortfindungsstörungen kann man auf dieser Basis als Störung der Verbindung zwischen Bedeutungskonzept und entsprechender Lautfolge beschreiben. (Vgl. Stachowiak 1979, S. 13).) Was die phraseologischen Wortverbindungen betrifft, so müßte man sich demnach analog dazu ebenfalls vorstellen, daß sie psychologisch und psycholinguistisch gesehen aus einem einheitlichen Bedeutungskonzept einerseits und einer dazugehörigen einheitlichen Lautfolge anderseits bestehen. Im Zusammenhang mit einer solchen Beschreibung stellen sich jedoch eine Reihe von Fragen, die sich nicht ohne weiteres beantworten lassen. Zur Einheit der Lautfolge: - Die phraseologische Lautfolge besteht ja aus Wörtern, die zum überwiegenden Teil auch allein vorkommen und aufgrund ihrer

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prinzipiellen Selbständigkeit dazu prädestiniert sind, im Normalfall für den durchschnittlichen Sprecher/Hörer zu den wichtigsten psychologischen Einheiten der Sprache zu werden. Daß Wörter den Prototyp psychologischer Einheiten darstellen, die intuitiv als sprachliche Einheiten erkannt und genannt werden können, bedeutet zwar nicht notwendigerweise, daß sie auch in allen Fällen die tatsächlichen psycholinguistischen Verarbeitungseinheiten sein müssen; es ist aber sehr wahrscheinlich, daß sie es in den meisten Fällen sind. Es stellt sich darum die Frage, ob in phraseologischen Fällen auch Wortverbindungen lautliche Verarbeitungs- und auch Speicherungseinheiten sein können, ob nicht die psychologische Dominanz der Worteinheiten phraseologische Verarbeitungseinheiten auf der psycholinguistischen Ebene verunmöglichen oder doch so spezielle Bedingungen schaffen, daß Wörter und phraseologische Wortverbindungen nicht analog beschrieben werden können. Dafür würde auch die Tatsache sprechen, daß Phraseologismen für die Sprachproduktion und für das Sprachverstehen in vielerlei Hinsicht nicht als Einheiten behandelt werden können, sondern wie freie Wortverbindungen behandelt werden müssen. — Wie kann man sich die Speicherung von Phraseologismen vorstellen? Es gibt verschiedene Theorien über die Ordnungsprinzipien des Langzeitgedächtnisses. Ausgehen kann man wohl in jedem Fall davon, daß es verschiedene Faktoren sind, die für das Langzeitgedächtnis wichtig sind. Leont'ev arbeitet mit einer Auffassung, wonach für das Langzeitgedächtnis mindestens drei Faktoren relevant sind: „die semantische (assoziative) Nähe der Wörter, ihr Klang und ihre subjektive Wahrscheinlichkeitscharakteristik" (nach Broadbent, Leont'ev 1975, S. 227). Daran anschließend stellt sich für die klanglich-lautliche Organisation die Frage, ob es für Phraseologismen so etwas wie ein Lemma gibt und ob dafür bestimmte Wortarten bevorzugt werden. Daraus ergäben sich Probleme für die Verbindung von Lautfolge und Bedeutungskonzept. Zwischen einem Lemma, das Bestandteil einer phraseologischen Wortverbindung ist, und

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Psycholinguistik

einem Wort-Lemma müßte irgendwie unterschieden werden können. Zur Einheit des Bedeutungskonzepts: Es gibt verschiedene Auffassungen darüber, wie man sich Bedeutungsrepräsentationen im Gedächtnis vorstellen kann, und es kann nicht ausgeschlossen werden, „daß wir es beim Sprachgedächtnis nicht mit eigentlich semantischen, sondern mit assoziativen Charakteristika zu tun haben" iind „daß die verschiedenen Arten „semantischer Felder", „semantischer Gruppen" usw., die auf der Basis des bewußten Vergleichs der Wortbedeutungen aufgestellt werden, (. . .) für die Redemechanismen irrelevant" sind. (Leont'ev 1975, S. 227). Ohne in bezug auf solche Fragen zu einem Schluß kommen zu können, lassen sich für eine psycholinguistische Beschreibung von phraseologischen Bedeutungen und Wortbedeutungen doch folgende Probleme festhalten: — Wie kann man sich die Speicherung von phraseologischen Bedeutungskonzepten wie

denjenigen von ins Gras beißen,

jemanden

übers Ohr hauen vorstellen, die bezüglich ihrer denotativen Bedeutung denjenigen von sterben und betrügen entsprechen? Kann man sich das Verhältnis zwischen diesen ähnlichen Bedeutungskonzepten analog zu demjenigen von Wortsynonymen denken? — Wie ist es mit der Speicherung von Bedeutungskonzepten bei Phraseologismen, die nicht mit einem Wort umschrieben werden können, wie beispielsweise den Stier bei den

Hörnern packen und auf einen grünen Zweig

kommen ? Deutet dies lediglich darauf hin, daß für diese Bedeutungskonzepte im Deutschen eine lexikalische Lücke besteht, indem es dafür e i n Wort gar nicht gibt? Oder kann man sich in diesen und ähnlichen Fällen gar kein psycholinguistisch beschreibbares Bedeutungskonzept vorstellen? Müßte man da eher ein Äquivalent zu Gebrauchsbedingungen annehmen? — Richtet sich die semantische Integration von festen Wortverbindungen nach denselben Mechanismen/Gesetzmäßigkeiten wie die semantische Integration von Wörtern? Spielen

dabei die verschiedenen Arten von Motivierbarkeit eine Rolle? Die psychologische und psycholinguistische Beschreibung von Phraseologismen als Einheiten analog zu derjenigen von Wörtern, so daß der Unterschied zwischen Phraseologismen und Wörtern nur in der sprachlich-lexikalischen Realisierung (Wort gegenüber Wortverbindung) bestünde, hätte damit einige Schwierigkeiten zu bewältigen. Allerdings treten diese Schwierigkeiten im Zusammenhang mit Phraseologismen gehäuft auf und stellen sich als Probleme einzeln allenfalls auch bei der Beschreibung von anderen Elementen der Sprache. Das kann man ζ. B. daraus entnehmen, daß man Phraseologismen beschreiben kann als sprachliche Einheiten, die sich durch die Verbindung zweier Asymmetrietypen auszeichnen, die man auch an anderen Orten in der Sprache finden kann: der syntagmatischen Asymmetrie, die durch eine Nichtübereinstimmung der Gliederung von Inhalt und Ausdruck definiert ist, und der paradigmatischen Asymmetrie, bei der keine 1 : 1 Beziehung zwischen Zeicheninhalt und Zeichenform besteht. In der phraseologischen Vielgliedrigkeit zeigt sich die syntagmatische Asymmetrie in der einen ganzheitlichen Bedeutung, der mehrere Zeichenformen gegenüber stehen. In der phraseologischen Idiomatizität, in der Bedeutungsübertragung liegt die paradigmatische Asymmetrie, indem für die phraseologische Bedeutung Zeichen verwendet werden, die bereits eine eigene sogenannte wörtliche Bedeutung haben. (Überlegungen von V. T. Gak unter dem Titel „Die phraseologischen Einheiten im Lichte der Asymmetrie des sprachlichen Zeichens", 1976). Wenn es also den Anschein hat, als ob die psychologische und psycholinguistische Gleichsetzung von phraseologischen Wortverbindungen mit Wörtern verschiedene phraseologische Aspekte nicht zu erfassen vermöge, so gibt es doch Konzepte zum Sprachproduzieren und Sprachverstehen, die eine befriedigendere Lösung ermöglichen. Im Zusammenhang mit dem Reproduktionsbegriff der generativen

Die Frage der Einheiten

Grammatik wird das Brauchen von Phraseologismen hin und wieder mit dem lerntheoretischen Begriff des Automatismus in Verbindung gebracht. Das wäre ein möglicher Ansatzpunkt für die Beschreibung des psycholinguistischen und psychologischen Status von phraseologischen Wortverbindungen, der im folgenden geprüft werden soll: Linguistischer Ausgangspunkt dafür ist der Reproduktionsbegriff, der auf dem Hintergrund der generativen Grammatik zu verstehen ist, genauer auf dem Hintergrund ihrer grundlegenden Hypothese von der Sprachbeherrschung als aktiver produktiver Fähigkeit, der aber in Absetzung davon auf den vorgeformten Aspekt der Sprache zielt, darauf, daß vieles von dem, was wir sagen, schon oft geäußert und gehört worden ist und daß manches sich kaum oder nur mit großem Aufwand anders sagen läßt als in bestimmten vorgeformten Wendungen (vgl. Burger 1973, S. 1). Mit dieser linguistischen Interpretation des Begriffs der Reproduktion können auch psycholinguistische Annahmen verbunden werden, beispielsweise so, daß Phraseologie zusätzlich dadurch charakterisiert wird, daß es sich dabei um diejenigen sprachlichen Erscheinungen handelt, „die im Sprechakt eher durch Mechanismen der „Reproduktion" als der „Produktion" Zustandekommen". (Burger 1973, S. 1). Daß etwas im psycholinguistischen Sinne reproduziert wird, scheint — was immer dabei genau unter „Reproduktion" verstanden wird —, vor allem dann wahrscheinlich, wenn es sich dabei um Automatismen handelt. Auf diesem Hintergrund ist wohl die — in den meisten Fällen eher intuitive — Annahme zu sehen, wonach Phraseologismen psycholinguistisch gesehen Automatismen sind; eine Annahme, die — weniger theoretisch als praktisch — auch in der Umkehrung vorkommt, wenn als Beispiel für sprachliche Automatismen jeweils Phraseologismen angegeben werden. „Reproduktion" und „Automatismus" sind wesentliche Kategorien der Lernpsychologie. Die Lernpsychologie befaßt sich mit Arten von

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Lernprozessen, Lernresultaten und der Aktualisierung von Lernresultaten. Schneider (1978, S. 66ff.), auf den sich die folgende Darstellung im wesentlichen stützt, beschreibt den Lernprozeß in einer Arbeit über sprachliche Lernprozesse (in Anlehnung an Parreren) als „eine qualitative Entwicklung von Handlungsstrukturen", das Lernresultat als „End-Handlungsstruktur". Wichtig für den Lernprozeß ist die Unterscheidung von kognitiven und nicht-kognitiven Handlungsstrukturen. Eine Handlungsstruktur ist kognitiver Natur, wenn das Handeln durch Einschalten bewußter Aktivitäten, wie Wissen, Urteilen, Uberlegen, Auswählen usw. erfolgt. Ein Beispiel für nicht-kognitive Handlungsstrukturen ist das Aufsagen des Alphabets, wo eine Kenntnis der Aufeinanderfolge während des rhythmischen Aufsagens selbst nicht wirksam ist: Wissen ergibt sich erst sekundär aus der Möglichkeit, das eigene Handeln zu beobachten. Lernprozesse können so verlaufen, daß aus einer ursprünglich kognitiven Handlungsstruktur eine nicht-kognitive Endhandlungsstruktur entsteht oder umgekehrt (vgl. Schneider 1978, S. 66ff.). Die Unterscheidung zwischen bewußteren und weniger bewußten Lernprozessen und Lernresultaten ist ein zentrales Moment einer Lerntheorie. Unterschiede bestehen zwischen der Anzahl der Stufen und Ebenen, die dabei angenommen werden: Leont'ev beispielsweise unterscheidet teilweise drei, teilweise vier solcher Bewußtseinsebenen. (Leont'ev 1974, S. 25 ff.). Jedenfalls gibt es beim Sprechen beides: „bewußtes sprachliches Angehen und sprachlichen Zustrom". (Schneider 1978, S. 89). In diesem Zusammenhang ist „Reproduktion" ein Begriff der Verwendung von Lernresultaten: lerntheoretisch gesprochen ist die Reproduktion die einfachste Art einer Aktualisierung und meint ein einfaches Wiederfinden eines auf einem Lernresultat basierenden Verhaltens. Es gibt Reproduktionen mit kognitiver Zwischenschaltung: erfolgt eine Reproduktion über Besinnung, so entspricht sie dem, was gemeinhin als Gedächtnisleistung bezeichnet wird. Reproduktionen ohne kognitive Zwischenschaltung sind Automatismen. Läuft eine

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Aktualisierung nicht auf eine exakte Wiederholung des Lernresultats hinaus, d. h. ist die Situation im Moment der Aktualisierung nicht gänzlich analog zur Lernsituation, so handelt es sich um Produktion: Sie wird im Hinblick auf die Leistung, die darin besteht, daß die Aktualisierung auch in mehr oder weniger modifizierten Situationen erfolgen kann, als Transfer bezeichnet. Während der Transfer von nicht-kognitiven Lernresultaten sich weitgehend autonom vollzieht, überlegt die handelnde Person im Falle eines Transfers kognitiver Lernresultate aktiv und bewußt, welches der kognitiven Schemata, über die sie verfügt, in der gegebenen Situation anwendbar und hilfreich sein könnte. (Nach Schneider 1978, S. 72 ff.) Für die Charakterisierung von Automatismen ist wichtig, daß Lernresultate in der Regel keine endgültigen, unveränderbaren Größen sind: Durch weiterführende oder später hinzukommende Lernprozesse (etwa in Form eines einfachen overlearning, d. h. durch Üben über den Zeitpunkt einer ersten Beherrschung hinaus) erweist sich eine Handlungsstruktur als vorläufig und muß als Zwischenstadium auf dem Weg zu einer in der psychologischen Qualität veränderten (neuen) Endhandlungsstruktur verstanden werden (nach Schneider 1978, S. 68 ff.). „Eine solche Veränderung betrifft etwa den Grad der Automatisierung und den nicht selten damit implizierten Abbau kognitiver Elemente" (Schneider 1978, S. 69). Zu beachten ist dabei, daß die Automatisierung zwar oft, aber offenbar nicht notwendigerweise mit einem Abbau kognitiver Elemente verbunden ist, so daß „Automatismus" nicht einfach die Bezeichnung für nicht-kognitive Handlungsstrukturen darstellt. Dies scheint jedoch keine generelle terminologische Regelung zu sein: Leont'ev trennt Automatismen zunächst mit Hilfe des Begriffs der Fertigkeiten ab, die dadurch definiert sind, daß sie automatisiert und Teil einer komplizierteren Handlung werden. (Leont'ev 1974, S. 17f.). Später spricht er allerdings davon, „daß der Begriff der Fertigkeit im Grunde genommen in zweifacher Weise zu verstehen ist. Die Fertigkeit kann „von unten" entstehen, als Resultat von

Stimmungsübertragung oder Nachahmung, oder „von oben" als Resultat der Automatisierung und Reduktion einer Fähigkeit." (Leont'ev 1974, S. 27). Das würde heißen, daß unter Automatisierung die ganz generelle Veränderung eines kognitiven Lernresultats in ein nicht-kognitives Lernresultat zu verstehen sein könnte. Was nun den Zusammenhang von Phraseologismen und Automatismen betrifft, so findet man schon bei Schneider, der sich nicht speziell mit Phraseologie befaßt, entsprechende Hinweise: für das Phänomen von Kontaminationen, die auf dem Hintergrund von Automatismen entstehen, gibt er phraseologische Beispiele: „Bezeichnend für den durch overlearning erreichten Grad von Automatismus sind die häufig zu beobachtenden Kontaminationsinterferenzen: (23) „Mich wundert sehr, daß der Weg der Verfassungsklage nun eingelegt ist." (ZDF, heute, 25. 7. 74; Interview)

Die Interferenz geht auf Verklumpung zurück, wobei zwei Spuren: Verfassungsklage einlegen und den Weg der Verfassungsklage beschreiten/ wählen/gehen (vgl. auch: einen Weg ein(!)schlagen) aufgrund des identischen Sachverhalts des beiden Spuren gemeinsamen Elements „Verfassungsklage" zugleich aktualisiert werden." (Schneider 1978, S. 96). Van Lancker 1975 befaßt sich mit der neurologischen und psycholinguistischen Repräsentation von Sprache. In diesem Rahmen übernimmt sie eine Unterscheidung Jacksons zwischen „prepositional speech" und „automatic speech" und ordnet verschiedene sprachliche Elemente auf einer Skala zwischen diesen beiden Gegensatzpunkten an: Dabei sind sowohl Idiome als auch pragmatische Wendungen automatischer eingestuft als „normale Sprache". In einem Bericht über Methoden der Überbrückung von Wortfindungsstörungen bei Aphatikern weist Weigl daraufhin, daß es Wortassoziationen gibt, die vor allem in der

Die Frage der Einheiten

automatischen Rede häufig vorkommen, wie Jacke-Hose, Himmel-Hölle, Mann-Frau, die zudem „häufig durch stehende Redensarten wie „es ist mir Jacke wie Hose", „er setzt Himmel und Hölle in Bewegung", „sie sind Mann und Frau geworden" usw. verstärkt werden." (Weigl in: Bierwisch 1979, S. 280). Auch da wird damit ein weiter nicht begründeter, intuitiv aber offenbar plausibler Zusammenhang zwischen automatischer Rede und Phraseologismen gesehen. Weigl ist der „Erfinder" der sogenannten Deblockierungsmethode, die dazu dient, Wortfindungsstörungen zu überbrücken und davon ausgeht, daß man dazu die lexikalischen Gedächtnisstrukturen, soweit sie noch intakt sind, ausnützen kann. (Weigl in: Bierwisch 1979, S. 270 und 280). Untersuchungen darüber, welche klanglichen, syntaktischen und semantischen Beziehungen sich am besten eignen, um die gestörte Verbindung zu einem Wort herzustellen, haben beispielsweise bei Peuser (1978) gezeigt, daß die Vorgabe von Phraseologismen, die das gesuchte Wort enthalten, das aber bei der Vorgabe ausgespart wird, die besten Erfolge zeigt. Wenn man einem Aphatiker ermöglichen will, beispielsweise das Wort „Bett" zu finden, so ist von verschiedenen Möglichkeiten wie Angabe eines Oberbegriffs, Angabe des Anlauts etc. die Vorgabe eines idiomatischen Kontexts wie Scheidung ist die Trennung von Tisch und . . . am hilfreichsten. (Vgl. Peuser 1978, S. 389 ff.). Da es sich bei dieser Untersuchung um eine Pilot-Studie handelt, stellt Peuser diesen Befund vor, ohne ihn im einzelnen zu interpretieren. Nachdem es eine bekannte und unumstrittene Tatsache ist, daß sich bei Aphasien Automatismen am besten erhalten, würde man aber wohl auch hier versuchen, sich die Wirkung damit zu erklären, daß die gesuchten Wörter als Bestandteile von Phraseologismen auch solche von Automatismen seien. Dieser Befund stimmt jedenfalls auch mit den Ergebnissen einer Aphasie-Studie von Engel 1977 überein, die sich u. a. befaßt mit „häufig vorkommenden sprachlichen Wendungen und Floskeln, die bei gesunden Sprechern zum Einleiten, Aufrechterhalten und Be-

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schließen einer Sprechhandlung in einer bestimmten Kommunikationssituation dienen." (Engel 1977, S. 58). Engel nennt diese ein- und mehrwortigen Floskeln „Kommentierungen" und wenn sie idiolektal mehrmals vorkommen „stereotypisierte Redewendungen" (Engel 1977, S. 58 ff.). Zu den häufigsten Kommentierungen und stereotypisierten Redewendungen gehören beispielsweise folgende mehrwortigen Floskeln: hoffen wir s / ο Gott / sagen wir mal / an und für sich / mehr oder weniger. (Vgl. Engel 1977, S. 211). Von solchen Wendungen weiß man, daß sie bei Aphatikern gehäuft auftreten. Engel versucht sie unter dem Gesichtspunkt der Beziehung von Sprachproduktionsstörung und gleichzeitiger sprachlicher Kompensation durch das Ausfallen von gewissen Funktionen und das Kompensieren mit Restfähigkeiten zu erklären. (Engel 1977, S. 66). Auf die Frage danach, wieso Aphatiker vor allem Floskeln und Wendungen noch äußern können, weist Engel darauf hin, „daß „Kommentierungen" bereits bei gesunden Sprechern durch häufigen Gebrauch und durch hohe Konventionalität eingeschliffen sind. Das bedeutet, daß sie in sich eine eigene Sprachverwendungsebene bilden." (Engel 1977, S. 67). Als Beispiel nennt sie einen Fall, „bei dem der behandelnde Neurologe lediglich aufgrund einer einzigen Äußerung des Patienten „Grüß Gott Herr Doktor, wie geht's" Aphasie diagnostizierte, die sich in der nachträglichen Untersuchung auch bestätigte. Der Patient hatte den Arzt zum ersten Mal gesehen. Die Äußerung „wie geht's" bei der ersten Begrüßung eines Arztes ist extrem ungewöhnlich und beim Aphatiker dadurch zu erklären, daß die Wendung „Grüß Gott, wie geht's" bereits eingeschliffen war und nicht einzelne Elemente davon abgelöst werden konnten." (Engel 1977, S. 68). Unter Berufung auf die Überlegungen Van Lanckers stellt Engel abschließend fest, daß die Kommentierungen in hohem Maße automatisiert seien. (Engel 1977, S. 69). Engel behandelt in ihrer Untersuchung sprachliche Elemente, die — sofern sie mehrwortig sind — vor allem unter die phraseologischen Kategorien „gesprächsspezifische Phraseologismen" fallen. Sie betont zwar am Anfang,

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daß diese Wendungen nichts mit Idiomen (worunter sie wohl metaphorisch motivierte und unmotivierte Wortverbindungen versteht) zu tun hätten, dies allerdings im Hinblick darauf, daß Idiome im Unterschied zu Kommentierungen eine referentielle Bedeutung haben. Im Zusammenhang mit der Begründung dafür, daß Aphatiker überproportional viele Kommentierungen brauchen, weil Kommentierungen eingeschliffen sind, automatisiert eben, kommt sie dann aber doch auf Idiome zu sprechen und weist darauf hin, daß Cohen et al. (1975) bei Aphatikern mit Erfolg eingeschliffene Wendungen, allerdings in übertragener Bedeutung wie ζ. B. Idiome, zum Abruf von Wörtern benutzen würden (Engel 1977, S. 67). Sie bezieht sich dabei wohl auf die schon erwähnte Deblockierungsmethode. Offenbar hält Engel Idiome für vergleichbar mit Kommentierungen in bezug auf ihren psycholinguistischen Status als Automatismen. Zusammenfassend kann man sagen, daß es verschiedene Hinweise darauf gibt, daß phraseologische Wortverbindungen — auch verschiedene Typen von phraseologischen Wortverbindungen psycholinguistisch gesehen Automatismen sind. Begründet allerdings wird dieser Zusammenhang nirgends. Wenn diese Auffassung richtig wäre, so müßte sich angeben lassen, weshalb Phraseologismen im Verlaufe des Lernprozesses automatisiert werden und ob sie notwendigerweise automatisiert werden. Es wäre zu überprüfen, ob es die phraseologischen ihrer Eigenschaften sind, die dafür verantwortlich sind. Das wäre nämlich die Voraussetzung dafür, daß das sprachlich abgrenzbare Gebiet der Phraseologie auch psycholinguistisch und psychologisch als zusammenhängender und einheitlicher Bereich beschrieben werden könnte. Wenn Phraseologismen lediglich automatisch werden k ö n n e n , so unterscheidet sie das nicht von freien Wortverbindungen. Wenn es nicht sprachliche Kriterien im engeren Sinn sind, die eine Automatisierung bewirken, — von der Lernpsychologie her spricht nichts dafür —, sondern beispielsweise Kriterien des idiolektal häufigen Gebrauchs, dann ist eigentlich nicht einzusehen, weshalb ein linguistisch definiertes Gebiet wie

die Phraseologie sich mit einem lerntheoretisch definierten Gebiet wie Automatismen decken soll. Neben dem Aspekt des Automatischen gibt es zwei weitere Ansatzpunkte zur phraseologischen Beschreibung, die linguistische Begriffe verwenden, die auch psycholinguistisch interpretiert werden, ohne daß jedoch auf deren Ort und Definition innerhalb von psycholinguistischen Theorien zurückgegriffen würde. (Es ist allerdings u. W.s bisher nicht versucht worden, das Gebiet der Phraseologie auf dem Hintergrund eines dieser Gesichtspunkte psycholinguistisch vom Gebiet der übrigen Sprache abzugrenzen und als Ganzes zu beschreiben.): Weitere Ansatzpunkte bieten vor allem die Begriffe der Wahrscheinlichkeit und des Bewußtseins: Einmal werden Phraseologismen auf dem Hintergrund der Wahrscheinlichkeitsstruktur der Sprache beschrieben, und der Schritt zu psycholinguistischen Interpretationen ergibt sich daraus, daß auch der Sprecher/ Hörer Wahrscheinlichkeitsstrukturen aufbaut und daraus Produktions- und Verstehensstrategien ableitet. Was das Bewußtsein betrifft, so geht es da darum, daß man die linguistische Beschreibung aller sprachlichen Phänomene als etwas auffassen kann, bezüglich dessen sich der durchschnittliche Sprachteilnehmer so verhält, als ob er es wüßte. In diesem Sinn kann man auch die phraseologische Beschreibung auffassen als Zusammenstellung dessen, wonach sich der Sprachteilnehmer in seinem Sprachverhalten richtet, als ob er es wüßte. Hier ergibt sich der Schritt zur psycholinguistischen Interpretation daraus, daß man leicht annimmt, der Sprachteilnehmer hätte tatsächlich ein Bewußtsein von Phraseologismen und phraseologischen Eigenschaften, wenn möglich noch im Unterschied zu allen anderen sprachlichen Phänomenen. Wahrscheinlichkeit und Bewußtsein sind nicht nur zwei linguistisch gebrauchte Begriffe mit psycholinguistischen Implikationsmöglichkeiten. Es sind auch zentrale Begriffe psycholinguistischer Überlegungen. Bei Leont'ev bilden die zwei Aspekte (zusammen mit einem dritten, der hier keine Rolle spielt) diejenigen

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Kriterien, die für die innere Organisation der Sprechfähigkeit des Menschen ausschlaggebend sind. (Leont'ev 1974, S. 28 f.) Im folgenden soll nun zunächst der Aspekt der Wahrscheinlichkeit besprochen werden, und zwar so, daß ein paar allgemeine linguistische und psycholinguistische Überlegungen zur Wahrscheinlichkeitsstruktur der Sprache an den Anfang gestellt werden sollen, denen dann die linguistisch-phraseologischen Erörterungen folgen. Im Anschluß daran kann sodann diskutiert werden, ob das Gebiet der Phraseologie auch psycholinguistisch mit Kategorien der Wahrscheinlichkeit beschrieben werden kann. Die nachstehenden Ausführungen zur Wahrscheinlichkeit allgemein orientieren sich vor allem an Hörmann 1970, hauptsächlich Kapitel V, ferner an Leont'ev 1974, Kapitel I und II. Man kann wohl unbestrittenerweise davon ausgehen, daß die Wörter einer Einzelsprache mit unterschiedlichen Häufigkeiten auftreten und daß sie einander mit unterschiedlichen Häufigkeiten folgen. Man kann also davon sprechen, daß die Wörter einer Sprache unterschiedliche Auftretenswahrscheinlichkeiten haben und daß sie einander mit unterschiedlichen Auftretenswahrscheinlichkeiten folgen. Bei den Auftretenswahrscheinlichkeiten von einzelnen Wörtern spricht man von absoluten Auftretenswahrscheinlichkeiten; wenn es darum geht, mit welchen Wahrscheinlichkeiten Wörter einander folgen, spricht man von bedingten Auftretenswahrscheinlichkeiten. Letzteres kann man auch so sagen: sprachliche Ereignisse sind redundant oder enthalten Redundanz. Redundanz ist also ein Charakteristikum nicht eines einzelnen Ereignisses, sondern einer Sequenz von Ereignissen. Bei einem Redundanzgrad von Null haben alle möglichen Ereignisse die gleiche Wahrscheinlichkeit des Auftretens. Der extreme Fall wäre eine Sequenz von 100% Redundanz, in der die Ereignisse nach einer festen Regel aufeinanderfolgen, so daß man, kennt man ein Ereignis, alle folgenden voraussagen kann. Sprachliche Sequenzen haben einen Redundanzgrad zwischen null und hundert Prozent. Je redundanter eine Sprache ist, desto mehr einzelne Ereignisse, einzelne Sym-

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bole benötigt man, um eine bestimmte Nachricht mitzuteilen. Das Verstehen einer Mitteilung involviert, informationstheoretisch gesehen, stets das Hinausgehen über das im Signal selbst Enthaltene, einen Rekurs auf das Ensemble von Möglichkeiten, das im Empfänger bereitsteht und aus welchem das betreffende Signal ausgewählt worden ist. Denn da nicht alle Möglichkeiten gleich wahrscheinlich sind, lernt der Sprecher/ Hörer die absoluten Auftretenswahrscheinlichkeiten der Wörter, und er lernt, welche Wörter einem bestimmten Wort oder mehreren bestimmten Wörtern mit gleicher Wahrscheinlichkeit folgen, d. h. er lernt auch die bedingten Auftretenswahrscheinlichkeiten der Wörter in der Sprache. Dafür kann man auch sagen, der Sprecher/Hörer sammelt probabilistische Erfahrungen und stützt sich darauf für seine Wahrscheinlichkeitsprognosen. Das so gesammelte Wissen geht in die Empfangsleistung des Hörers ein. Denn wer etwas hört, hat keine Möglichkeit im voraus zu wissen, was kommen wird, es sei denn aus der Wahrscheinlichkeitsstruktur, welche das Vorangegangene mit dem Folgenden verbindet. Auch der Sprecher kann sich auf erworbene Wahrscheinlichkeitskenntnisse stützen, allerdings mehr oder weniger, so daß man unterscheiden kann zwischen eher stochastischem Sprechen, das als bloße Kette interdependenter Elemente entsteht, und eher geplantem Sprechen, dem ein innerer Konstruktionsplan der Äußerung entspricht. Es gibt die verschiedenartigsten empirischen Untersuchungen, anhand derer aufgezeigt werden kann, was sich mit dem Instrumentarium dieser Begriffe über die Vorgänge beim Hören und Sprechen psycholinguistisch erfassen läßt. Eine Art von solchen Vorgängen, über die Hörmann 1970 (S. 105 ff.) berichtet, soll hier näher vorgestellt werden, da sie im Hinblick darauf, wie man sich das Verstehen von Phraseologismen vorstellen kann, wichtig werden könnte: Bedingte Wenn-Dann-Wahrscheinlichkeiten werden auch Verbund- oder Übergangswahrscheinlichkeiten genannt, und wenn in einer Sequenz von Einheiten (beispielsweise allen Buchstaben des Alphabets) alle Einheiten

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(Buchstaben) dieselben Auftretenswahrscheinlichkeiten haben, dann spricht man dabei von einer „Annäherung nullter Ordnung an Sprache". Annäherungen höherer Ordnung werden meist so konstruiert: Man gibt der ersten Person ein Wort, ζ. B. komme, mit der Aufforderung, ein Wort dazu zu schreiben, das darauf folgen könnte. Sie schreibt ich. Die nächste Person erhält ein ich und schreibt bin, die nächste erhält bin und schreibt ζ. B. doch dazu. Es entsteht komme ich bin doch als Annäherung zweiter Ordnung. Mit der Erhöhung der Ordnungszahl der Annäherung wird der Einfluß des Vorangegangenen auf das einzelne Element immer größer; bei einer Annäherung vierter Ordnung auf der Wortebene wird jedes einzelne Wort durch die drei vorangegangenen Wörter bestimmt. Diese Reihe von Annäherungen an echte Sprache wird von G. A. Miller aufgefaßt als eine Dimension, die vom Pol des Sinnlosen anfangend immer mehr sich dem Sinnvollen nähert. Miller sieht also das Sinnlos- bzw. Sinnvollsein nicht als Alternative, sondern als graduell abgestufte Dimension an. Wenn diese Auffassung richtig ist, so bildet die Reihe der Annäherung an echte Sprache eine Möglichkeit, die Dimension der Sinnhaftigkeit operational zu bestimmen, denn man kann davon ausgehen, daß sinnvolles Material besser gelernt und besser behalten wird als sinnloses Material. Miller und Selfridge (1950) haben dazu Versuche gemacht, und das in diesem Zusammenhang interessanteste Ergebnis dieser Untersuchungen besteht darin, daß „von etwa der 5. Ordnung an kein Unterschied im Behalten mehr gefunden wird, auch nicht gegenüber „echtem" Text. Streng genommen sind ja alle Annäherungsstufen sinnlos, aber das Gedächtnis funktioniert jedenfalls nicht nach dieser Dichotomie der Philosophen; eine Passage der 5. oder 6. Annäherung wird ebenso gut behalten wie echter Text. Die in diesem psychologischen Zusammenhang relevante Unterscheidung ist also nicht eine scharfe Trennung sinnlos/sinnvoll, sondern die Unterscheidung von Material, bei dem früher Gelerntes sich auswirken kann, und Material, bei welchem früher Gelerntes sich weniger stark

auswirken kann." (Hörmann 1970, S. 108 f.). Für die Beschreibung des Verstehens von Phraseologismen bleibt davon festzuhalten, daß der Hörer offenbar nicht alles, was nicht in jeder Hinsicht den sprachlichen Normen entspricht, beim Verstehen zunächst als sinnlos einstuft. Daraus könnte man ableiten, daß Phraseologismen beim Verstehen nicht zuerst als (im wörtlichen Sinn) sinnlos erkannt werden müssen und erst in einem zweiten „phraseologieadäquaten" Anlauf, dann aber „richtig" phraseologisch verstanden werden können. Der Begriff der Wahrscheinlichkeit wird von linguistischer Seite auch zur Beschreibung der phraseologischen Besonderheiten gebraucht, und zwar vor allem im Zusammenhang mit der phraseologischen Festigkeit. (Vgl. 8.1.1.; 3.1.). Festigkeit läßt sich nämlich auch als statistische Größe definieren, wie es exemplarisch Mel'cuk versucht hat: „Die Festigkeit einer Verbindung durch ein relativ gegebenes Element wird nach der Wahrscheinlichkeit gemessen, mit der dieses Element das gemeinsame Auftreten der übrigen Elemente der Verbindung (in einer definierten Reihenfolge in bezug auf das voraussagende Element) voraussagt." (Vgl. Burger 1979, S. 92). In der festen Wortverbindung Lug und Trug sagt jedes der beiden Substantive das andere mit der Wahrscheinlichkeit 1 voraus, in klipp und klar wird klar durch klipp mit der Wahrscheinlichkeit 1 vorhergesagt. Bei den weitaus meisten phraseologischen Wortverbindungen wird jedoch die Wahrscheinlichkeit 1 nicht erreicht. Daher ist es bei diesem Verfahren nötig, eine (notwendigerweise willkürlich angesetzte) „Schwelle der Festigkeit" anzusetzen, oberhalb derer eine Verbindung als fest gelten kann. Die statistische Methode arbeitet zunächst ohne Berücksichtigung der Semantik, und somit ohne Berücksichtigung dessen, was üblicherweise unter „Idiomatizität" verstanden wird (daß die Bedeutung einer Wortverbindung nicht oder nicht eindeutig aufgrund der freien Bedeutungen der einzelnen Wörter, bei Anwendung der syntaktischen Regeln, vorhersagbar ist.) Daraus ergibt sich für Mel'cuk, daß Wortverbindungen fest sein können, ohne idiomatisch zu

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sein, und umgekehrt. Mit einem distributionellstatistischen Verfahren arbeiten auch A. Rothkegel (1973) und ein Göteborger Forschungsprojekt zur schwedischen Phraseologie, geleitet von St. Allen. (Vgl. dazu Burger 1979, S. 91 f.). In linguistischen Zusammenhängen wird der Aspekt der probabilistischen Einheit oft mit demjenigen der automatisierten Verwendung verknüpft, so daß der eine Aspekt den anderen begründet bzw. sie sich wechselseitig verstärken. Es heißt dann etwa von Phraseologismen, daß sie wahrscheinlichkeitsmäßige Einheiten seien und automatisch geäußert würden, mehr im Sinne einer zusätzlichen Charakterisierung als auf dem Hintergrund ausführlicher Begründungen. Aus dieser Perspektive gesehen sind also Phraseologismen Einheiten, die sich durch einen relativ größeren inneren Zusammenhang auszeichnen, als er zwischen freien Wortverbindungen besteht, und zwar durch einen Zusammenhang, der durch Übergangswahrscheinlichkeiten begründet ist, so daß man von Phraseologismen von der Sprache her als probabilistischen Einheiten sprechen kann. Damit stellt sich nun die Frage, ob auch der Sprecher/Hörer solche probabilistischen Einheiten aufbaut bzw. ob es die sprachlich definierten Phraseologismen sind, die psycholinguistisch zu probabilistischen Einheiten werden: Für die Beantwortung dieser Frage kann zwar davon ausgegangen werden, daß es von der Sprache her gesehen, wenn man ein genügend großes Korpus berücksichtigt, als Idealgröße objektive absolute und bedingte Wahrscheinlichkeiten gibt, die es u. a. ermöglichen, freie Wortverbindungen von festen Wortverbindungen zu unterscheiden, so daß die so zustandekommenden festen Wortverbindungen ungefähr mit dem Gebiet zusammenfallen würden, das auch auf andere — beispielsweise strukturelle — Weise als Gebiet der Phraseologie ausgegrenzt werden kann. Psycholinguistisch betrachtet sind für den Aufbau von Wahrscheinlichkeitsstrukturen beim Sprecher/Hörer aber subjektive Wahrscheinlichkeiten maßge-

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bend, die 1. aufgrund eines Teilkorpus des gesamten möglichen Korpus Zustandekommen und 2. auf dem Hintergrund subjektiver Rezeptionsmechanismen aufgebaut werden. Leont'ev formuliert das so, „daß die probabilistische Struktur der Erfahrungen aus der Vergangenheit nicht mit der Vorkommenshäufigkeit dieser oder jener Stimuli in der Vergangenheit, sondern mit der Vorkommenshäufigkeit dieser oder jener Reaktionen des Organismus auf die Stimuli verbunden ist". (Leont'ev 1974, S. 40). Aus diesem Grund ist es nicht notwendigerweise so, daß von der Sprache her im Hinblick auf die Wahrscheinlichkeit feste Wortverbindungen (die auch nur ungefähr mit dem strukturell ausgrenzbaren Gebiet der Phraseologie übereinstimmen) auch für den Sprecher/Hörer zu probabilistischen Einheiten werden. Mit anderen Worten: Phraseologismen müssen nicht notwendigerweise für den Sprachteilnehmer zu probabilistischen Einheiten werden. Auf der anderen Seite können auch sprachlich freie Wortverbindungen für den einzelnen Sprecher/Hörer einen probabilistisch zusammenhängenden Status bekommen, wenn seine subjektiven Texterfahrungen und seine subjektiven Rezeptionsweisen zum Aufbau starker Übergangswahrscheinlichkeiten bei diesen an sich freien Wortverbindungen führen. Vom einzelnen Sprecher/Hörer her lassen sich also Phraseologismen nicht generell und im Unterschied zu anderen Wortverbindungen als probabilistische Einheiten beschreiben, was natürlich nicht ausschließt, daß trotzdem viele phraseologische Wortverbindungen für viele Sprecher/Hörer auch psycholinguistisch fest sind. Von diesen Überlegungen her muß man sich jedoch im klaren sein, daß es nicht nur Phraseologismen im engeren Sinne sind, die für den einzelnen Sprecher/Hörer in bestimmten Kontexten und Situationen zu probabilistischen Einheiten werden, sondern auch sozial häufige pragmatisch feste Wendungen und idiolektale gesprächsspezifische Wortverbindungen und ganz generell individuell häufige oder nur in diesen Konstellationen vorkommende Wortverbindungen. Da Übergangswahrscheinlichkeiten von 0—100 Prozent möglich sind und

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die Grenze für probabilistische Einheiten in jedem Fall relativ willkürlich angesetzt werden rnüßte, muß auch mit graduellen Unterschiedlichkeiten in der Einheitlichkeit gerechnet werden, die — nebst allen subjektiven Bedingungen — unter anderem auch von den sprachlichen Voraussetzungen her begründet sind: die größte Chance für hohe Übergangswahrscheinlichkeiten hätten von daher Phraseologismen mit frei nicht vorkommenden Elementen wie klipp und klar und jemanden ins Bockshorn jagen-, große Chancen haben auch ungewöhnliche Wortkombinationen wie an jemandem einen Narren gefressen haben oder jemanden Lügen strafen, weniger prädestiniert sind wohl phraseologische Wortverbindungen, die auch frei gebraucht werden können. Wenn also psycholinguistisch maßgebend nicht die objektive, sondern eine subjektive Wahrscheinlichkeit ist, die zudem sicherlich auch von Kontext- und Situationsfaktoren abhängt, so wird zu psycholinguistischen probabilistischen Einheiten alles, was der individuelle Sprecher/Hörer entweder „häufig so" oder „nur so" (letzteres nicht notwendigerweise „häufig" und möglicherweise „nur" in bestimmten Kontexten und Situationen „so") hört bzw. braucht. Im Extremfall sind individuelle Wahrscheinlichkeitsstrukturen der Sprache idiolektale Wahrscheinlichkeitsstrukturen. Sie haben im Falle von Wortverbindungen in bezug auf das psycholinguistische Äquivalent zur Konventionalität des sprachlichen Zeichens denselben Status wie die Wortverbindungen, die Schneider 1978, S. 94f. in Anlehnung an Pottier „individuelle Lexien" nennt. Schneider charakterisiert diese individuellen Lexien folgendermaßen: „Die Herausbildung von gleichsam individuellen „Lexien" (mit der damit meist verbundenen qualitativen Veränderung dieser sprachlichen Speichereinheiten) ist typisch für beruflich bedingtes overlearning. Was ein Politiker im Augenblick eines vor den Medien abgegebenen Statement „formuliert", besteht aus sehr großen unites memorisees inhaltlich-syntaktischer Art, wie sie im Verlauf des Studiums von Referentenentwürfen, Protokollen, Thesenpapieren u. ä. und bei vorausgegangenen internen und ex-

ternen Diskussionen entstanden sein mögen". D. h. die von Schneider angesprochenen Wortverbindungen sind in erster Linie individuell fest wie auch probabilistische Einheiten, die aus mehreren Wörtern bestehen, individuell aufgrund subjektiver Bedingungen zustande kommen können. Allerdings sind die individuellen Lexien weniger durch hohe Ubergangswahrscheinlichkeiten als durch den Aspekt des „Überlernens" und Automatisierens gekennzeichnet. Es stellt sich daher in diesem Zusammenhang die Frage, ob und wie diese beiden Aspekte miteinander verknüpft sind. Tendenziell kann man sagen, daß man mit „automatisiert" eher den Produktionsprozeß charakterisiert, während Überlegungen zur Wahrscheinlichkeit sich eher dazu eignen, den Verstehensprozeß näher zu beschreiben. Die Begrifflichkeiten werden denn auch meistens funktional so verteilt, obwohl man beispielsweise mit Recht sagen kann, daß die Wahrscheinlichkeit ebenso die Produktion betrifft, wenn man bedenkt, daß der Sprecher auch sein eigener Hörer ist, so daß bei der Äußerung einer Wortverbindung wie die Zähne putzen im Verlaufe des Äußerns auch das Sich-SelberZuhören dazu führt, daß man „die Zähne" mit putzen verbindet und nicht etwa mit bürsten, säubern oder waschen. Während Hörmann hauptsächlich von Wahrscheinlichkeits-Untersuchungen zum Verstehen berichtet, erwähnt Leont'ev auch das „stochastische Sprechen". Welchen Effekt Automatismen für das Verstehen haben, ist auf der andern Seite weniger leicht abzusehen; vermutlich zumindest den, daß der Hörer sofort das Gefühl hat, zu verstehen, weil er dasselbe jederzeit auch sagen könnte. Bezeichnen nun aber Automatismen und probabilistische Einheiten dasselbe am Produktions- bzw. Verstehensprozeß? Dazu kann an diesem Ort lediglich vermutet werden, daß die beiden Aspekte häufig korrelieren, aber nicht zusammenfallen, indem nicht alles, was subjektiv probabilistisch zusammengehört auch automatisiert sein muß, obwohl vermutlich Automatismen eher auch probabilistische Einheiten sind. Daß jedenfalls sowohl Wahrscheinlichkeit als auch Automatisierung beim Brauchen und

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Verstehen von Phraseologismen eine Rolle spielen, soll in den zwei folgenden Abschnitten (5.3.; 5.4.) gezeigt werden. Allerdings geht schon aus den bisherigen theoretischen Überlegungen hervor, daß sich nicht der ganze psycholinguistische Bereich des Phraseologismengebrauchs auf dem Hintergrund dieser zwei Aspekte einheitlich beschreiben läßt. Ein wenn auch subjektives Wahrscheinlichkeitsprofil der Sprache setzt sprachliche Erfahrungen voraus. Ein Kind verfügt noch nicht über sehr viele sprachliche Erfahrungen, und auch für Erwachsene gibt es in bezug auf einzelne sprachliche Bereiche immer wieder Erfahrungslücken, die in bezug auf Phraseologismen die Annahme notwendig machen, daß sie verstanden und wohl auch gebraucht werden können, auch ohne daß sie psycholinguistisch zu probabilistischen Einheiten geworden sind, oder bevor sie allenfalls dazu geworden sind. Ganz abgesehen davon, daß aufgrund der vorhergehenden theoretischen Überlegungen keine Notwendigkeit erkennbar ist, mit der Phraseologismen auch psycholinguistisch zu Einheiten werden müßten, kann man daher auch aus Gründen des Lernprozesses nicht annehmen, die psycholinguistische phraseologische Einheitlichkeit sei eine unabdingbare Voraussetzung des Verstehens und des Gebrauchs. An dieser Stelle — bei der sich die Frage nach dem Lernprozeß stellt — kann man das Bewußtsein als Beschreibungs- und Erklärungskategorie in die Überlegungen miteinbeziehen. Um den Bewußtseinsbegriff näher zu bestimmen, muß zunächst ein wenig ausgeholt werden: In der Linguistik spielt der Begriff des Sprachbewußtseins — in welcher konkreten Füllung auch immer — keine große Rolle, wenn er überhaupt in die Überlegungen einbezogen wird, wie beispielsweise bei der Transformationsgrammatik, wo er allerdings hauptsächlich zur Abgrenzung dient. Da hat Chomsky immer wieder betont, daß die Annahme von Regeln nicht impliziere, daß man sich dieser Regeln so bewußt sein müsse, daß man

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sie ζ. B. auf Aufforderung hin formulieren könne. Das schließe allerdings nicht aus, daß man sich der Regeln, die man in Gebrauch nehme, bewußt werden könne, daß man sie sich bewußt machen könne. So gesehen ist sprachliches Bewußtsein ein Epiphänomen ohne notwendige Funktion für Sprachgebrauch und Sprachverstehen. Angesichts dieser marginalen abgrenzenden Einbeziehung des Sprachbewußtseins, kann man Leont'evs Bedauern nachvollziehen: „Ein wesentlicher Mangel des Transformationsmodells in seiner klassischen Ausprägung besteht darin, daß es keine Einfügung einer Komponente gestattet, die die verschiedenen Arten der Bewußtwerdung des Sprechens beschreibt. Es ist eine Theorie der ausschließlich unbewußten Sprachverwendung." (Leont'ev 1975, S. 119) Wenn es um den Spracherwerb geht, (zu dessen Beschreibung man fast notwendigerweise psycholinguistische Gesichtspunkte einbeziehen muß) sowie in allgemeinen lerntheoretischen Zusammenhängen taucht der Begriff des Bewußtseins schon eher auf, allerdings auch da einerseits in der oben erwähnten sekundären epiphänomenalen Funktion: Leont'ev (1974, S. 27), der sich in diesem Punkt stark auf Wygotski stützt, schreibt zur Sprachentwicklung, es sei „leicht einzusehen, daß das Sprechen in der Zeit vor dem Vorschulalter und im frühen Vorschulalter als unbewußte Imitation und als „Stimmungsübertragung" ausgebildet wird, wobei im weiteren allmählich die Mechanismen der unbewußten Kontrolle zusammengesetzt werden. Bei den ältesten Vorschul- und bei den jüngsten Schulkindern wechselt das Sprechen über die Ebene der aktuellen Bewußtheit auf die Ebene der bewußten Kontrolle über. Die weitere Entwicklung der Sprechfähigkeit verläuft als Entwicklung des Sprechens auf immer höheren Stufen der Bewußtheit. Bewußtheit und Willkürlichkeit breiten sich auf alle größeren Struktureinheiten des Textes aus." Im Anschluß an das „Gesetz der Bewußtwerdung" von Claparede (wonach man sich einer Sache nur nach Maßgabe seiner Nichtanpassung bewußt wird. Vgl. dazu 6.1.2.) und

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in Zusammenhang mit dem lerntheoretischen Begriff der kognitiven Handlungsstrukturen bekommt Sprachbewußtsein eine weitere Funktion: Danach wird eine Erscheinung dann bewußt, wenn sie Mühe macht und nicht-kognitiv nicht bewältigt werden kann, so daß unter diesen Umständen bewußt gelernt werden muß, also zunächst kognitive Handlungsstrukturen entstehen, die aber dennoch später automatisiert werden können. (S. dazu Schneider 1978, S. 69 und S. 91). Unter diesen Umständen ist Bewußtsein von einem sprachlichen Phänomen nicht nachträgliche Rekonstruktion von Verhaltensweisen, die auf der Ebene des Verhaltens selber auch ohne diese Rekonstruktionsmöglichkeit funktionieren, sondern unabdingbare Voraussetzung für deren Erwerb. In phraseologischen Zusammenhängen spielt hauptsächlich dieser zweite Bewußtseinsbegriff eine Rolle, indem von linguistischer Seite vielfach intuitiv angenommen wird, der linguistisch-phraseologischen Besonderheit entspreche auf psycholinguistischer Seite ein Bewußtsein von diesen Besonderheiten, so daß erwachsene Sprecher/Hörer beispielsweise darum wissen, daß Phraseologismen nicht wörtlich zu nehmen sind, und Kinder zu diesem Wissen auch in bezug auf den Einzelfall fähig sein müssen, bevor sie Phraseologismen erwerben können. (Vgl. dazu Buhofer 1980, Kapitel 2. und 3.). Genaueres wird (an den in Buhofer 1980 ausführlich besprochenen Äußerungen) zu der Art dieses Bewußtseins nicht gesagt, und es läßt sich deshalb nur vermuten, daß dieses Wissen — im Sinne der obigen Unterscheidung von psycholinguistischen und psychologischen Einheiten — eher psychologisch gemeint ist. Es soll hier versucht werden, die beiden Aspekte von Bewußtsein und den Sinn ihrer Unterscheidung zu erläutern: Wenn man davon ausgeht, daß Lernprozesse, Resultate von Lernprozessen und deren Aktualisierung nicht-kognitiv und kognitiv sein können, und wenn man diese nichtkognitiven und die kognitiven Handlungsstrukturen als eigentlich psycholinguistischen Bereich mit der Möglichkeit zu psycholingu-

istischen Einheiten (beispielsweise als Automatismen) betrachtet, wenn man anderseits diesem Bereich einen psychologischen Bereich dessen gegenüberstellt, was der Sprecher/ Hörer über seine Sprache weiß, und dazu auch Wissen um psychologische Einheiten zählt, so ist hier zweimal von Wissen und Bewußtsein die Rede. Ist damit dasselbe gemeint oder nicht? Es ist aus verschiedenen Gründen sinnvoll anzunehmen, daß damit nicht dasselbe gemeint ist: Einmal sind kognitive Handlungsstrukturen (im Unterschied zu nicht-kognitiven Handlungsstrukturen) unter diesen Umständen Handlungsstrukturen, die als diese einzelnen bewußt sind. Psychologisches Bewußtsein kann demgegenüber abstrahierendes Wissen sein, wie beispielsweise im Falle psychologischer Einheiten das Wissen von Wortkonzepten und phraseologischen Konzepten. Zudem können auch nicht-kognitive Handlungsstrukturen oder auch Automatismeri als solche bewußt werden. In diesem Fall ist das Bewußtsein psychologischer Natur. Denn psycholinguistisches Bewußtsein würde ja im Gegensatz zum Status des Nicht-Kognitiven stehen, so daß eine Handlungsstruktur nicht gleichzeitig nicht-kognitiv und kognitiv sein könnte. Daß Kognition an konkreten einzelnen Verhaltensweisen beteiligt ist (im Sinne von psycholinguistisch bewußt kontrollierten Verhaltensweisen), bedeutet nicht, daß diese kognitiven Operationen reversibel und damit rekonstruierbar sind und daß sie verbalisiert werden können. Es ist auch möglich, daß die tatsächlich ablaufenden kognitiven Prozesse und das, was der Sprecher/Hörer darüber zu wissen „meint", nicht übereinstimmen. Und schließlich ist es nicht notwendig, daß ein psychologisch bewußtes Konzept wie eine theoretische Vorstellung von phraseologischen Eigenarten im phraseologischen Einzelfall kognitiv wirksam wird. Aus diesen Gründen wäre es unsinnig, die beiden Arten von Bewußtsein zusammenfallen zu lassen. Damit soll nicht behauptet werden, daß es keine adäquateren Darstellungsmittel

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gäbe als diejenigen im Anschluß an die Unterscheidung von psychologischen und psycholinguistischen Einheiten. Die Literatur zum Erwerb von Phraseologismen spricht davon, daß es unabdingbare Voraussetzungen für den Erwerb von Phraseologismen gebe, wie beispielsweise die Möglichkeit einzusehen, daß dabei sprachliches Material mit einer eigenen Bedeutung in einer sehr bestimmten Kombination ein zweites Mal gebraucht wird, oder wie beispielsweise die Möglichkeit, einsehen zu können, daß Phraseologismen eine ganzheitliche Bedeutung haben. Mit anderen Worten wird also von phraseologischer Seite angenommen, die Besonderheit von Phraseologismen drücke sich psycholinguistisch darin aus, daß man ein psychologisch-reales Wissen als Voraussetzung für den Lernprozeß annehmen müsse. Zur klareren Vorstellung dessen, was das bedeutet, stelle man sich vor, es würde die Auffassung vertreten, die Voraussetzung für den Erwerb von unregelmäßigen Verben bestehe in der Einsichtmöglichkeit in das Konzept der unregelmäßigen Konjugation. In bezug darauf wäre eine solche Voraussetzung nicht denkbar. Sie kann im Zusammenhang mit Phraseologismen lediglich durch deren (linguistisch-theoretisch bedingte, absolute) Sonderstellung erklärt werden.

Es läge also die dritte Möglichkeit, das Zustandekommen von psycholinguistischen Einheiten für Phraseologismen zu erklären (neben Automatismen und probabilistischen Einheiten), darin, daß man annimmt, sie würden als Einheiten bewußt gelernt. Die psychologische Ebene würde — nicht im Sinne einer nachträglichen Rekonstruktion, sondern von Anfang an — die Vermittlerrolle zwischen sprachlichphraseologischen Einheiten und je individuell zu etablierenden psycholinguistischen Verarbeitungs- und Speichereinheiten einnehmen, und zwar so, daß von der psychologischen Ebene und von psychologischen Einheiten her die psycholinguistischen Einheiten regelrecht konstituiert werden. Auf diese Weise wäre — im Unterschied zu den Vorstellungen im Zusammenhang mit

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Automatismen und probabilistischen Einheiten — gewährleistet, daß die sprachlich definierten phraseologischen Einheiten und nur diese (im Unterschied zu freien Wortverbindungen) auch mehr oder weniger vollzählig zu psycholinguistisch festen Einheiten würden. Diese Auffassung ist aber schon aufgrund theoretischer Überlegungen nicht sehr wahrscheinlich, denn normalerweise ist es beim Mutterspracherwerb eher so, daß die sprachlichen Lernresultate zunächst in einer „Beherrschung" bestehen, und diese Lernresultate dann aufgrund eigener Reflexion (zum Beispiel Vergleich) oder aufgrund von äußeren Anstößen (in der Schule beim Lesen- und Schreibenlernen oder im Grammatikunterricht) in solche Lernresultate umgewandelt werden, die einer „Kenntnis" entsprechen. (Vgl. dazu Schneider 1978, S. 67). Insofern ist es wahrscheinlicher, daß auf der psychologischen Ebene ein nachträgliches Bewußtwerden stattfindet. Dazu kommt, daß auch empirische Ergebnisse zum Erwerb von Phraseologismen gegen diese Auffassung sprechen, indem Kinder Phraseologismen viel früher selbstverständlich lernen als sie von ihrer kognitiven Entwicklung her imstande sind, den Unterschied beispielsweise zwischen der ganzheitlichen und der summativen Bedeutung einer Wortverbindung zu sehen (s. dazu 6). Auch die Tatsachen, daß erwachsene Sprachteilnehmer „üben" müssen, Phraseologismen zu erkennen (wenn sie sich beispielsweise als Linguisten damit befassen wollen), daß andernfalls mindestens die Hälfte von in einem Text vorkommenden Phraseologismen übersehen werden, ferner, daß auch auf explizite Befragung hin (und demnach aufgrund eingehender Überlegungen) durchschnittliche Sprecher/Hörer die Tendenz haben, Unregelmäßigkeiten (lexikalischer, semantischer und syntaktischer Art) nicht zu bemerken (vgl. Burger 1973, 26 f.), tragen nicht gerade zur Stützung der Auffassung von Phraseologismen als bewußten und von Anfang an notwendigerweise bewußten Einheiten bei. All das spricht (analog zu den vorhergehenden Überlegungen) wiederum nicht dagegen, daß doch, vor allem in späteren (auch erwach-

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senen) Phasen des Spracherwerbs, einzelne Phraseologismen bewußt gelernt werden (können), (es bedeutet aber wohl, daß sie nicht bewußt gelernt werden müssen). Wie kann man sich das Verhältnis von solchermaßen bewußten psychologischen Einheiten zu allfälligen Automatismen bzw. probabilistischen Einheiten vorstellen? Könnte eine phraseologische Wortverbindung einerseits den Status einer bewußten psychologischen Einheit haben und gleichzeitig auf der psycholinguistischen Ebene ein Automatismus oder eine probabilistische Einheit sein? Oder anders gefragt: Schließen sich der Status einer bewußten psychologischen Einheit und derjenige von beispielsweise einem Automatismus aus?

Dennoch können den Phraseologismen psycholinguistisch Automatismen, probabilistische und psychologisch bewußte Einheiten entsprechen, wie den freien Wortverbindungen auch, wenn es auch sein mag, daß eine der psycholinguistischen Einheits-Konstellationen bei Phraseologismen besonders häufig ist.

Wenn man die Unterscheidung in eine psychologische und eine psycholinguistische Ebene akzeptiert, ein kognitives sprachliches Lernresultat (das unter Beteiligung von kognitiven Prozessen aktualisiert wird) also nicht dasselbe ist wie subjektiv rekonstruiertes Bewußtsein von diesem sprachlichen Phänomen (das im übrigen nicht mit dem realen psycholinguistischen Ablauf übereinstimmen muß), dann kann potentiell jedes wie auch immer geartete psycholinguistische Lernresultat auf der psychologischen Ebene mehr oder weniger adäquat bewußt werden. Das bedeutet, daß auch ein Automatismus als solcher auf der psychologischen Ebene als psychologische Einheit bewußt werden kann. Eine phraseologische Wortverbindung kann also einerseits den Status einer bewußten psychologischen Einheit haben und gleichzeitig auf der psycholinguistischen Ebene ein Automatismus oder eine probabilistische Einheit sein.

Die generelle Charakterisierung von Phraseologismen als automatisiert, als probabilistisch zusammenhängend und/oder als dem Sprecher/Hörer in wesentlichen ihrer zentralen linguistischen Eigenschaften bewußt, führt zu einer identifikatorischen Verknüpfung zwischen einem Gebiet, das linguistisch definiert ist, und psycholinguistischen Tatbeständen. Diese Verknüpfung wirkt verkürzend und verfälschend. Sie hilft u. a. auch die (wissenschaftshistorisch allerdings begründete) Sichtweise von Phraseologismen als festen ganzheitlichen Wortverbindungen zu zementieren. Eine solche Inanspruchnahme von psycholinguistischen Phänomenen kann mit dazu benützt werden, den tatsächlichen phraseologischen Sprachgebrauch sehr normativ zu beschreiben, so, daß jede Verwendung, die in irgendeiner der vielen möglichen Weisen von der lexikologischen phraseologischen Form abweicht (vgl. dazu 3.2.2.), als Performanzoder Kompetenzfehler betrachtet oder gar nicht beachtet wird, — anders kann man sich wohl nicht erklären, daß sich die Phraseologieforschung weithin an Beispielen orientiert, die die einseitigen Theorien von den „festen" Wortverbindungen stützen, und die zahlreichen Beispiele „nicht-fester" Verwendung entweder nicht erwähnen oder allenfalls als Kuriosum aufführen.

Wenn die obenstehenden Überlegungen zur psycholinguistischen Einheit von Phraseologismen richtig sind, dann ist zusammenfassend festzustellen, daß phraseologische Wortverbindungen aus theoretischen Erwägungen (zu den empirischen Befunden siehe die folgenden Abschnitte) psycholinguistisch nicht gleichgesetzt werden können mit Automatismen, mit probabilistischen Einheiten, mit bewußt als solchen gelernten psychologischen Einheiten, weil es keine Gründe gibt, die anzunehmen erlauben, daß sie notwendigerweise dazu werden.

Angesichts der Tatsache, daß — der Theorie der Lernpsychologie zufolge — Lernresultate nicht konstant sind, sondern ihren psychologischen und psycholinguistischen Status dauernd verändern, muß nicht nur angenommen werden, daß Phraseologismen tendenziell auf alle möglichen Arten und Weisen psycholinguistisch und psychologisch repräsentiert sein können, sondern es muß auch damit gerechnet werden, daß sich die psycholinguistischen und psychologischen Entsprechungen und die Kombinationen dauernd verändern können.

Die Frage der Einheiten

All das bedeutet für die Phraseologie vor allem eines: Linguistisch gesehen lassen sie sich aus dem Bereich der übrigen Sprache ausgrenzen: von ihrer syntaktischen und semantischen Struktur her, von ihrer lexikalischen Festigkeit und von ihrem Gebrauch her sind ihre Bestandteile fester miteinander verbunden und sie sind daher einheitlicher als alle freien Wortverbindungen. Aber diese Einheiten sind nicht notwendigerweise auch psycholinguistisch und psychologisch als Einheiten repräsentiert, und das bedeutet, daß sie vom Sprecher/Hörer nicht notwendigerweise als Einheiten behandelt werden beim Sprechen und beim Verstehen; das wiederum würde vermutlich heißen, daß sie in der Aktualgenese auch wie freie Wortverbindungen behandelt werden können. Im Anschluß an diese theoretischen Uberlegungen stellen sich nun die Fragen, wie man sich die aktualgenetischen Prozesse vorstellen kann, die mit dem Produzieren und dem Verstehen von Phraseologismen zusammenhängen, und wie demnach der Gebrauch von Phraseologismen zu beschreiben ist. Ferner die Frage, welche Rolle dabei die (zugegebenermaßen) besondere sprachliche Struktur der phraseologischen Wortverbindungen spielt. Im folgenden sollen die Eigenarten des Gebrauchs von Phraseologismen — nach Produktion und Verstehen getrennt — in Vorkommensbeispielen, die zum Teil unter den verschiedenen Aspekten auch in anderen Kapiteln besprochen sind, beschrieben und zusammengestellt werden. Nach Bedarf und Möglichkeit werden an einzelnen Stellen, vor allem im Abschnitt zum Verstehen, das empirisch schwieriger anzugehen ist, weitere psycholinguistische Überlegungen und Untersuchungen beigezogen. Zusammenfassend soll versucht werden, ein zusammenhängendes Bild vom Phraseologismengebrauch zu entwerfen und es zu den bisherigen theoretischen Überlegungen in Beziehung zu setzen. Es ist eine grundsätzliche Frage, ob man davon ausgehen darf, daß es sich beim Produktions- und beim Rezeptionsprozeß um Vorgänge mit identischer Struktur, aber in umgekehrter prozessualer Abfolge handelt,

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oder nicht. Empirische Untersuchungen erbringen immer wieder Ergebnisse, die als Hinweise darauf aufgefaßt werden können, daß die beiden Prozesse nicht oder zumindest nicht in allen Teilen spiegelbildlich verlaufen. Auf dem Hintergrund solcher Beobachtungen ist es nicht möglich, von einer generellen Identität einfach auszugehen. Immerhin wird man probeweise annehmen dürfen und sinnvollerweise annehmen müssen, daß Faktoren, die für die Rezeption wichtig sind, auch in der Produktion eine Rolle spielen, und umgekehrt, — zumindest bis das Gegenteil nachgewiesen ist. Es sollen im folgenden alle Faktoren berücksichtigt werden, von denen man begründet annehmen kann, daß sie in den betreffenden Prozessen eine Rolle spielen, ohne daß behauptet werden soll, daß die Aufzählung vollständig sei. Da es also den sprachlichen Produktionsprozeß schlechthin nicht gibt, sondern die Struktur und der Ablauf des Produktionsprozesses vielmehr von der Aufgabenstellung abhängen, wobei unter „Aufgabe" sowohl natürliche Anforderungen des alltäglichen Sprachgebrauchs als auch solche verstanden sein sollen, die von Lehrern oder Experimentatoren gestellt werden, ist eine der ersten Fragen, die sich in diesem Zusammenhang stellen, die folgende: Welche Gesprächs- und Schreibsituationen und dementsprechende Aufgabenorientierungen lassen sich im Zusammenhang mit dem von uns verwendeten empirischen Material unterscheiden? Zur Produktion lassen sich grob zwei Gruppen — allerdings mit Zwischenformen — auseinanderhalten: 1. schriftliche und 2. mündliche Produktion: darunter lassen sich eine Reihe von Untergruppen bilden, die zum großen Teil in 4.2.5.1. näher beschrieben werden. Zu den dort genannten Texten kommen die folgenden hinzu: 1. schriftliche Produktion: geschriebene Sprache — Schüleraufsätze von deutschschweizerischen Schülern verschiedener Altersstufen entstehen in einer Phase, in der die Kinder erst lernen, hochdeutsch zu schreiben, und

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Psycholinguistik in einer Situation, in der sie sich möglichst gut und fehlerfrei ausdrücken wollen (Noten).

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Zeitungstexte — Schlagzeilen: Erfordernisse für Schlagzeilen sind Kürze, Blickfang (Originalität oder Pseudooriginalität) und inhaltlicher Bezug.

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Zeitschriftentext — Werbung: aus verschiedenen schweizerischen Zeitungen, teilweise mit Bild, vor allem aber aus Brigitte, einer verbreiteten deutschen Frauenzeitschrift.

— Literarische Texte 2. mündliche Produktion: gesprochene Sprache -

Kindersprachliche Texte: in der Familie, hochdeutsch. — Kindersprachliche Texte: im Kindergarten, Schweizerdeutsch. — Gespräche mit Schülern, Schweizerdeutsch. Die Untersuchungen, die in 4.2.5.1. referiert werden, haben gezeigt, daß je nach „Aufgabenstellung", je nach zu produzierender Textart verschiedene Typen von Phraseologismen bevorzugt gebraucht werden, so daß sich tendenziell angeben läßt, welche Phraseologismen wo in welchen Häufungen zu erwarten sind. Was das Verstehen betrifft, so hängen auch dabei die Strategien von der Aufgabenstellung ab. Genauso wie sich verschiedene Produktionsaufgaben unterscheiden lassen, würden sich auch verschiedene Verstehensaufgaben und damit Verstehenssituationen festhalten lassen. D a aber das Produkt dieses Verstehens nicht wie dasjenige der Produktion in einem hörbaren oder lesbaren Text besteht, und überhaupt nicht notwendigerweise äußerlich und damit faßbar wird, da aus diesem Grund keine materiellen Ergebnisse des Verstehens typologisiert werden müssen, wird hier auf eine analoge Darstellung von Verstehensarten verzichtet.

5.3. Produktion von Phraseologismen Von der linguistisch-phraseologischen Theorie her wäre zu erwarten, daß Phraseologismen

lexikalisch konstant und vollständig und in Respektierung ihrer funktionalen und transformationellen Defekte gebraucht werden müssen, weil sonst ihre phraseologische Bedeutung nicht zustande kommen kann und der Hörer sie demnach gar nicht oder nur wörtlich verstehen kann. Aus den vorhergehenden psycholinguistischen Überlegungen ergibt sich, daß Phraseologismen psycholinguistisch gesehen nicht notwendigerweise einheitlicher repräsentiert sein müssen als freie Wortverbindungen, und daß der psycholinguistische Status eher von individuellen Lern- und Gebrauchsprozessen abhängt als von sprachlichen Eigenschaften und Strukturen. Daraus ließe sich schließen, daß der Sprecher/Hörer phraseologische Wortverbindungen im Gebrauchsprozeß nicht notwendigerweise als Einheiten behandeln wird, und daß sie auch wie freie Wortverbindungen verarbeitet werden können. Letzteres würde nicht unbedingt bedeuten, daß Phraseologismen damit sprachlich nicht mehr als Einheiten auftreten würden. M a n kann sich ja durchaus vorstellen, daß Phraseologismen — auf welchem psycholinguistischen Hintergrund auch immer — sprachlich „zu Einheiten (also in Respektierung all ihrer Besonderheiten) produziert werden" und zwar durchaus als Ausnahmen produziert werden, indem sie beispielsweise als Ausnahmen rekonstruiert werden und also an der Äußerung kognitive Prozesse beteiligt sind. In diesem Falle würden Produktion und Reproduktion mit kognitiver Zwischenschaltung zusammenfallen, weil die kognitiven Prozesse dem Zusammensetzen und Aufbauen im Sinne der Produktion einer Ausnahme dienen. (Diese Auffassung entspricht einer Variante eines lerntheoretischen Reproduktionsbegriffs. Ein linguistisch orientierter Reproduktionsbegriff impliziert wohl meistens, daß keine kognitive Zwischenschaltung stattfindet.) Wenn nun der Sprecher/Hörer phraseologische Wortverbindungen psycholinguistisch auch wie freie Wortverbindungen behandeln könnte, so würde das bedeuten, daß Phraseologismen im Text so häufig und auf solche Arten nicht als sprachliche Einheiten realisiert würden, daß es

Produktion unmöglich oder unglaubwürdig erschiene, diese Vorkommensweisen als Performanzerscheinungen oder als Folgen mangelnder Kompetenz abzutun. Es sind also verschiedene Erwartungen, die sich von phraseologischen und von psycholingu istischen Überlegungen her ableiten lassen. Diesen Erwartungen wird im folgenden eine Bestandessaufnahme dessen gegenübergestellt, was beim Gebrauch von Phraseologismen zu beobachten ist. Die Darstellung und Diskussion der Beobachtungen wird in zwei Abschnitte gegliedert: im ersten Abschnitt werden ein paar Aspekte des unauffälligen Gebrauchs von Phraseologismen besprochen und im zweiten und ausführlicheren Abschnitt werden die verschiedensten Auffälligkeiten des phraseologischen Gebrauchs zusammengetragen und interpretiert werden.

5 . 3 . 1 . Unauffälliger Gebrauch von Phraseologismen D a ß Phraseologismen unauffällig gebraucht werden, soll bedeuten, daß sie „richtig" gebraucht werden, so wie sie im Lexikon stehen und ohne daß eine ihrer Gebrauchsnormen verletzt wird. Was die psycholinguistische Interpretation unauffälligen Phraseologismengebrauchs betrifft, so muß man sich zum vornherein im klaren sein, daß man nachträglich aus der Äußerung von Phraseologismen nicht auf das schließen kann, was dieser Äußerung psychoIinguistisch zugrunde liegt. Im Normalfall, wenn nicht glückliche Umstände es ermöglichen, läßt sich für die einzelne Verwendung gar nichts aussagen. Wenn man hingegen eine ganze Reihe von Beispielen von phraseologischen Verwendungsweisen sammelt und vergleicht, so lassen sich zumindest begründete Aussagen darüber machen, ob die Annahmen bestimmter zugrundeliegender Mechanismen wahrscheinlich sind oder nicht. Auf der Basis vieler Beispiele gibt es damit zwei Ansatzmöglichkeiten, um empirisch zu überprüfen, ob dem sprachlich definierten Bereich der Phraseologie ein psycholinguistisch definierbarer Bereich von Produk-

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tionsbedingungen und Produktionsmechanismen entspricht. Einmal ist zu überprüfen, ob plausibel gemacht werden kann, daß grundsätzlich allen phraseologischen Verwendungsweisen eine bestimmte Art der Aktualgenese zugrundeliegt, daß also allen Gebrauchsweisen dieselben psycholinguistischen Mechanismen entsprechen. Zum anderen muß untersucht werden, ob es nur die phraseologischen Wortverbindungen sind, denen die noch zu bestimmenden psycholinguistischen Mechanismen zugrundeliegen. Wenn man Beispiele unauffälligen Phraseologismengebrauchs ansieht, kann man dann annehmen, daß diese Phraseologismen reproduziert worden sind, und daß sie darüber hinaus ohne kognitive Zwischenschaltung reproduziert worden sind, so daß es sich dabei um Automatismen handelt? Es gibt besondere Fälle, die darauf hindeuten, beispielsweise wenn hochdeutsche phraseologische Wortverbindungen völlig unauffällig als Ganze und ohne Pausen innerhalb der Wortverbindung vorgebracht werden, und zwar — und darin liegt das Besondere — im Kontext eines schweizerdeutschen Textes: D Füürweer sälber het sogaar Wasser i irem Chäller ghaa, und well alli Motoorpumpe uswärts iigsetzt gsii sind, händ die braave Pompier nach alter Väter Sitte bi sich dehäim i de Füürweerzentrale vo Hand s Wasser uusepumpt. (Von Tag zu Tag)

Die Tatsache, daß nach alter Väter Sitte sowohl hochdeutsch ausgesprochen wird, als auch in bezug auf die Lexeme und auf den grammatischen Aufbau (Genitiv) hochdeutsch belassen wird, weist darauf hin, daß die Einheit als Ganze übernommen wird; das ist die Voraussetzung dafür, daß man annehmen darf, sie könnte als Einheit reproduziert oder automatisiert worden sein. Es besteht jedoch auch so die Möglichkeit, daß der Sprecher die hochdeutsche Wendung rekonstruiert oder gar zusammensetzt und damit produziert, und das Hochdeutsche nicht dadurch zu erklären ist, daß er die Wortverbindung als hochdeutsche Einheit gespeichert hat (und sie demzufolge — im Normalfall — reproduziert oder automatisiert verwendet). Beispielsweise könnte man sich vorstellen, daß der Sprecher an dieser

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Psycholinguistik

Stelle aus ökonomischen Gründen, damit er keinen Nebensatz machen muß, eine Präpositionalkonstruktion brauchen will, diese im Schweizerdeutschen unübliche Konstruktion dann aber „konsequenterweise" auch hochdeutsch braucht. In einem ähnlichen Sinne besondere Fälle, die Hinweise darauf enthalten, daß bei der Äußerung nicht produziert wird, sind — sogar ohne Kontext — Ausrufe wie Ο du meine

Güte, Ο du mein Trost, die auch im Schweizerdeutschen üblich sind als Ο du mini Güeti, Ο du miin Trooscht. Wenn diese Ausrufe produziert würden, müßte die Betonung auf O, du und Güte bzw. Trost gleichmäßig verteilt sein und nach du müßte eine kleine Sprechpause eingeschaltet werden, die sichtbar machen würde, daß meine Güte und mein Trost sich als Apposition auf du beziehen. Statt dessen liegt die Betonung am stärksten auf meine bzw. mein und die Äußerung bildet paralinguistisch deutlich eine Einheit. Daraus, daß die übliche Art der Äußerung eines solchen Ausrufs nicht übereinstimmt mit der Art, wie eine solche Wortverbindung geäußert werden müßte, wenn sie produziert würde, kann man schließen, daß es sich dabei — wegen dieser sehr speziellen prosodischen Beschaffenheit — in den meisten Fällen, vor allem, wenn sie tatsächlich als Ausrufe der Überraschung gebraucht werden — um automatisierte Bestandteile eines Idiolekts handeln wird. In der folgenden Passage spricht ein Politiker in der Radio-Talkshow „Persönlich" für ein öffentliches Publikum über private Ansichten. Er setzt zuerst eher souverän an und spricht dann - vielleicht als Folge des Gelächters auf seine ersten Äußerungen — zunehmend unsicherer, setzt immer wieder neu an und kommt schließlich — auch mit Hilfe der neuen Frage des Moderators — wieder in Fahrt. Diese Entwicklung drückt sich auch im Gebrauch der phraseologischen Wortverbindungen aus: Der Sprecher braucht zunächst phraseologische Wortverbindungen wie Streckformen, die typisch sind für die Sprache der Öffentlichkeit, in der zweiten unsicheren Phase häufen sich

gesprächsspezifische Wendungen und Versatzstücke, die er als Politiker für alle Fälle beherrscht. Mit zunehmender Sicherheit geht die Häufigkeit des Gebrauchs von gesprächsspezifischen Wendungen zurück, und es tauchen wieder Streckformen und bevorzugte Analysen auf: Moderator: Me säit jo villfach, daß d Politiker und d Schauspiler vill Gmeinsams händ . . . Bringolf: Jo do händ, en guete Politiker het immer öppis Schouspilhafts, also (Gelächter des eingeladenen Publikums, das die Sendung live verfolgt) und wenn er, und wenn er ken guete Schouspiler isch, de macht er ken lidruck a de Versammlige, da wend doch d Mensche, si wend doch da me ou no öppisem gliich gset a de Volksversammlige nid, - isch es woor oder nid?; ich meine, me will doch da, da, da mue me sich gar nüt vormache, me, ich meine, ich ha mich nie üb, nie überschetzt, Gott sei Dank, süsch war i jo nid do, nid, Moderator: Wie isch es, händ si . . . Bringolf: und eh, aber ich gib mir Rechenschaft drüber, daß da so isch Moderator: Wenn Si Reede vorbereitet händ, Reede, wo Si vor em Parlamänt ghaa händ, händ Si die richtig au iigüebt dehäim, zum Biispil? Bringolf: Ja, wüsse Si, dasch nun e Problem, wo — e seer heikli Froog, und da, ich bi, wenn Si die kenned, wo mich guet kennt hend ζ Bern, weret miner Amtsziit, de wöret die Ine sege, daß de Bringolf meischtens ooni Manuskript gredt het, aber d Materie beherrscht het, er het nid is Leeri use gredt, sondern er het zur Sach gsproche, da ghöört zu de Uufgoobe, me mues de, d Materie beherrsche, und me mues si ou chönne vertrette. Voilä! (Persönlich)

Auffällig ist, daß Bringolf vor allem am Anfang und am Schluß, also nicht in der Partie mit den gesprächsspezifischen Wendungen, Phraseologismen braucht, die im Hochdeutschen üblich sind, die er ins Schweizerdeutsche übernommen hat. Obwohl es nicht immer so einfach ist, hochdeutsche Phraseologismen Schweizerdeutsch zu übernehmen, weil man fortwährend entscheiden muß, welche vor allem lexikalischen Elemente man ändern will und welche nicht (daß man die Lautung anpaßt, ist im allgemeinen klar) (vgl. 7.1.), braucht Bringolf die phraseologischen Wortverbindungen richtig, vollständig und ohne zu

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Produktion

zögern, während sein Diskussionsbeitrag im übrigen alle Merkmale gesprochener Sprache enthält, er immer wieder abbricht, stockt und neu ansetzt. Interessanterweise gibt der Politiker in dieser Passage selber eine Erklärung für dieses Phänomen, indem er auf die arbeitsbedingte Auseinandersetzung mit „der Materie" verweist, die dazu führt, daß man seine Reden nicht sprachlich vorbereiten muß, um nicht ins Leere hinaus zu reden, sondern mit der Kenntnis der Sache auch die Sprache zur Verfügung hat, in diesem Falle vor allem die hochdeutsche Sprache. So entsteht das, was Schneider „individuelle Lexien" nennt und ebenfalls auf intensive Beschäftigung mit einer Sache zurückführt. (Vgl. 5.2.) Phraseologismen erscheinen so als Produkt eines individuellen fortwährenden Lern- und Gebrauchsprozesses, das seinen Grund in der stetigen Beschäftigung mit einer Sache hat. Unter diesen Umständen ist es wahrscheinlich, daß es sich dabei um individuell zu Automatismen gewordene Wortverbindungen handelt. Da sich aber auch freie Wortverbindungen dazu eignen, sich mit politischen Sachverhalten auseinanderzusetzen und sie sprachlich darzustellen, gibt es keine Gründe anzunehmen, daß sie nicht in der genau gleichen Weise wie Phraseologismen zu individuellen Lexien und damit zu Automatismen werden können. Mit anderen Worten: Es lassen sich auch Beispiele finden, die darauf hinweisen, daß sprachlich gesehen freie Wortverbindungen reproduziert werden oder zu Automatismen geworden sind. In 2.5.1. wird ein Typ von Phraseologismen (Geflügelte Worte) diskutiert, die nicht phraseologisch im engeren (linguistischen) Sinne sind, wohl aber als reproduziert gelten können. Unter „reproduziert" ist dann — in der Begrifflichkeit der Generativen Grammatik — zu verstehen, daß diese Phraseologismen nicht aktualgenetisch „produziert" werden (nach den gängigen syntaktisch-semantischen Regeln der Sprachproduktion), sondern daß der Sprecher auf bereits bestehende Wortverbindungen zurückgreift. „Reproduzieren" in diesem Sinne ist nicht lerntheoretisch definiert und enthält unbestimmte psycholinguistische Implikationen. Jedenfalls geht es um

Buchtitel wie Der Spion, der aus der Kälte kam, Gruppenbild mit Dame, um Filmtitel wie

Sonntags nie, um Liedtitel wie Alle Jahre wie-

der, ferner um Werbeslogans und Zitate. Und das sprachliche Wiederverwenden von vorbestehenden Wortverbindungen, die aber nicht im engen Sinn phraseologisch sein müssen, ist die Voraussetzung dafür, daß diese Verbindungen beim Einzelnen psycholinguistisch fest werden, daß sie reproduziert oder als Automatismen geäußert werden. Daraus läßt sich ablesen, daß bestimmte sprachliche Strukturen und bestimmte psycholinguistische Mechanismen keineswegs von vornherein übereinstimmen. Noch deutlicher wird die Nichtübereinstimmung zwischen bestimmten sprachlichen Strukturen und bestimmten psycholinguistischen Mechanismen wie der Automatisierung, wenn man ganze Texte einbezieht, die der Sprecher auswendig äußert: ein besonders hübsches literarisches Beispiel für diese Konstellation bietet der Anfang von Thomas Manns „Buddenbrooks": „ T o n y ! " sagte sie (die Konsulin), „ich glaube, daß mich Gott - " Und die kleine Antonie, achtjährig und zartgebaut, in einem Kleidchen aus ganz leichter changierender Seide, den hübschen Blondkopf ein wenig vom Gesichte des Großvaters abgewandt, blickte aus ihren graublauen Augen angestrengt nachdenkend und ohne etwas zu sehen ins Zimmer hinein, wiederholte noch einmal: „Was ist das", sprach darauf langsam: „Ich glaube, daß mich G o t t " , fügte, während ihr Gesicht sich aufklärte, rasch hinzu: „— geschaffen hat samt allen Kreatuen", war plötzlich auf glatte Bahn geraten und schnurrte nun, glückstrahlend und unaufhaltsam, den ganzen Artikel daher, getreu nach dem Katechismus, wie er soeben, Anno 1835, unter Genehmigung eines hohen und wohlweisen Senates, neu revidiert herausgegeben war. Wenn man im Gange war, dachte sie, war es ein Gefühl, wie wenn man im Winter auf dem kleinen Handschlitten mit den Brüdern den Jerusalemsberg hinunterfuhr: es vergingen einem geradezu die Gedanken dabei, und man konnte nicht einhalten, wenn man auch wollte. (I. Teil, 1. Kapitel)

Die Voraussetzungen für psycholinguistische Einheitlichkeit von Wortverbindungen werden einerseits vor allem durch raumzeitliche Kon-

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tiguität von Wörtern und anderseits durch außersprachliche Gründe geschaffen: Wörter wie Unglücksfälle und Verbrechen, die in den Schweizer Zeitungen immer zusammen als Titel einer Spalte Unglücksfälle und Verbrechen vorkommen, haben damit beste Chancen zu psycholinguistischen Einheiten zu werden. Und ob eine Verbindung wie Es darf gelacht werden zu einem immer wieder gern gebrauchten Titel für lustige Sendungen und für Witzseiten in Zeitungen wird oder nicht, hat mit ihrer Verbreitung einerseits und mit ihrer immer neuen Brauchbarkeit anderseits zu tun, wenig aber mit ihrer sprachlichen Struktur. Davon, ob die Verbindung immer wieder gebraucht wird, hängt es im wesentlichen ab, ob sie gute Voraussetzungen hat, beim einzelnen Sprecher/ Hörer psycholinguistisch fest zu werden. Daneben gibt es jedoch sicher auch Fälle, in denen tatsächlich sprachliche Besonderheiten der Syntax, der Semantik oder der lexikalischen Besetzung den Grund dafür bilden, daß eine feste Wortverbindung als Ganze gelernt und eingeübt wird, so daß sie ebenfalls eine Einheit darstellt. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, daß der durchschnittliche Sprecher/Hörer Besonderheiten nicht nach linguistischen Kriterien feststellt, weil er nicht über linguistische Kriterien verfügt und auch nicht systematisch analysiert. Es ist also keineswegs gesagt, daß das, was der durchschnittliche Sprachteilnehmer als Besonderheit oder Ausnahme lernt, auch linguistisch gesehen eine solche ist.

Man kann also davon ausgehen, daß es genetisch verschiedene psycholinguistische Einheiten gibt, daß nicht alles, was in der Aktualgenese als Einheit behandelt wird, auf dieselbe Weise zu einer solchen Einheit geworden ist. Es ist aber nicht plausibel, daß die Gründe linguistischer Besonderheiten in diesem Prozeß der psycholinguistischen Einheitenbildung eine große Rolle spielen.

5.3.2. Auffälliger Gebrauch von Phraseologismen Daß Phraseologismen auffällig gebraucht werden, soll bedeuten, daß sie nicht „richtig" gebraucht werden, nicht so, wie sie im Lexikon stehen, oder so, daß eine ihrer Gebrauchsnormen verletzt wird. Welches sind die Gründe dafür, daß man sich mit phraseologietheoretisch auffälligem

Gebrauch befaßt? Die phraseologietheoretischen Idealvorstellungen vom Gebrauch und vom Verstehen von Phraseologismen als Einheiten haben nicht unwesentlich zu den verkürzten oben diskutierten Vorstellungen von der psycholinguistisch ebenso einheitlichen Repräsentation aller Phraseologismen beigetragen, bzw. sie haben sie wohl eigentlich ermöglicht. Wenn man nach psycholinguistischen Repräsentationen fragt, so kann man nur vom Gebrauch und vom Verstehen von Phraseologismen darauf schließen. Zu diesem Zweck muß man alle Möglichkeiten des Gebrauchens und Verstehens von Phraseologismen vor Augen haben. Von einem phraseologischen Standpunkt aus bedeutet das, auch die phraseologietheoretisch defekten, allenfalls negativ bestimmten und damit auffälligen Gebrauchs und Verstehensweisen einzubeziehen. Die im folgenden unterschiedenen Typen von Auffälligkeiten in phraseologischen Vorkommensweisen müssen sich weder notwendigerweise ausschließen noch erheben sie den Anspruch, vollständig zu sein. Sie sollen dazu dienen, immer wieder auftretende Gebrauchsphänomene bewußt zu machen, damit sie für die psycholinguistische Diskussion in Rechnung gestellt werden können. 5.3.2.1. Varianten und Modifikationen In 3.2. ist anhand vieler Beispiele gezeigt worden, daß Phraseologismen in Modifikationen gebraucht werden, die über das hinausgehen, was man von lexikologischen und phraseologiegrammatischen Standpunkten her noch tolerieren würde. Und dies keineswegs nur in Texten gesprochener Sprache, bei denen man sich allenfalls noch auf den Standpunkt stellen kann, es handle sich bei' diesen Verwendungsweisen um Performanzfehler; die Beispiele in 3.2. entstammen vorwiegend geschriebenen veröffentlichten Texten, in denen der Autor „Fehler", so sie ihm als solche erschienen wären, hätte ausmerzen können. Die in diesem Kapitel zusätzlich verwendeten Beispiele stammen teils aus Texten gesprochener und teils aus Texten geschriebener Sprache. Was kann man aus variierten und modifizierten Verwendungsweisen für die Pro-

Produktion duktion dieser festen Wortverbindungen schließen? Zunächst ein paar Beispiele, die ζ. T. in 3.2. auch besprochen werden. Religiöser Eifer verhärtet den Wahn, und für einmal finden sich einzelne Propheten mit landhungngerr Ultras int gleichen Boot (statt im gleichen Boot sitzen). (Koller 1977, S. 33) Alle Vorstellungen im Lager der Opposition unter einem Hut zu vereinen, wird sehr schwerfallen (statt unter einen Hut zu bringen). (Koller 1977, S. 33) Koller führt die Varianten die Katze im Sack kaufen und die Katze aus dem Sack lassen an und sagt dazu in einer Anmerkung: Anzuführen wäre auch noch die Katze im Sack verkaufen: Aus einer Anzeige: Es ist so einfach, die Katze im Sack zu verkaufen. Aber Coop hat etwas dagegen. Der Konsument hat das Recht, möglichst viel über die Produkte zu wissen. (Koller 1977, S. 27) Die massive Kritik von Divisionär Hähner an der Kriegstauglichkeit des Panzer 68 hat politische Steine ins Rollen gebracht („Morgenjournal") (statt „einen Stein ins Rollen bringen": Pluralisierung und Erweiterung durch ein Adjektiv auf der Ebene der phraseologischen Bedeutung: das Verfahren wird in 3.2.2.2. besprochen). Ich erblickte das Licht dieser Welt in Gestalt zweier Sechzig-Watt-Glühbirnen. (Grass, Blechtrommel, S. 49) (statt „das Licht der Welt": durch die Substituierung des Artikels durch das Demonstrativpronomen „dieser" wird der referentielle Charakter der Wortverbindung wiederhergestellt, und die Wendung wird polysemantisiert). Im Abschnitt zum Begriff der Varianten wird angesichts solcher Verwendungsweisen die Vermutung formuliert, daß manche Phraseologismen einen „harten Kern" und eine „weiche Peripherie" haben. (Vgl. 3.2.1.). Im Abschnitt zu den Modifikationen (3.2.2.) werden diese Gebrauchsweisen nach Verfahren klassifiziert und in bezug auf ihre semantischen Effekte besprochen. Für die aktualgenetische Art der Äußerung von Phraseologismen bedeuten Kontaminationen, Varianten und Modifikationen zweierlei. Einmal läßt dieser Gebrauch darauf schließen, daß bei der Produktion durchaus auch bei einzelnen Wörtern angesetzt werden kann, ein-

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zelne Wörter aus dem Verband der festen phraseologischen Verbindung herausgelöst werden und ergänzt werden können. Zum anderen kann angenommen werden, daß bei der Produktion von Phraseologismen auch die „normalen" Mechanismen der Verwendung freier Wortverbindungen in Gebrauch genommen werden. Sobald Teile einer phraseologischen Wortverbindung herausgelöst und resemantisiert werden und als Einzelwörter wirksam werden, indem sie durch ein synonymes oder antonymes ersetzt werden, durch beispielsweise ein Demonstrativpronomen oder ein Adjektiv ergänzt werden, indem sie pluralisiert werden oder mit Teilen einer anderen Wortverbindung kombiniert werden, muß zur Integration der ersetzten oder ergänzten Bestandteile auf die zur Verfügung stehenden Produktionsregeln für die entsprechenden Fälle zurückgegriffen werden. Man kann sich auch vorstellen, daß die aktualgenetische Produktion einzelner Teile der phraseologischen Wortverbindung sich auf die ganze Wortverbindung ausdehnt, die dann als Ausnahme aufgrund einer Produktionsregel, die nur für diesen Fall gilt — (unbewußt oder bewußt kontrolliert) erzeugt wird. Unter diesen Umständen müßte die bisher vertretene Auffassung relativiert werden, wonach die psycholinguistisch einheitliche Speicherung einer Wortverbindung und die aktualgenetische Verwendung „in und an einem Stück" (als Automatismus oder als bewußte Einheit oder wie auch immer) notwendig komplementär aufeinander bezogen sind. Auf diesem Hintergrund ist es auch möglich, daß eine Wortverbindung als Einheit gespeichert ist und doch im Fall der einzelnen Verwendung teilweise oder als ganze Wortverbindung „zusammensetzend" geäußert wird. Die Mechanismen, die dafür in Anspruch genommen werden, hängen dann von der Art der Variantenbildung oder Modifikation ab, und können damit von Verwendungsweise zu Verwendungsweise verschieden sein. Es stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, wie weit phraseologische Variantenbildung und Modifikationen gehen dürfen, so daß der lexikologische und semantische Bezug

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auf die phraseologische Wortverbindung noch gewährleistet bleibt. Das ist die Frage nach dem „harten Kern" und der „weichen Peripherie" einer festen Wortverbindung, die wohl nur empirisch — durch Tests über einzelne Verwendungsweisen — beantwortet werden kann, wobei man sicher davon ausgehen kann, daß es eine Grenze gibt. Daraus, daß man aber wenig Beispiele findet, über die man sich streiten könnte, ob es sich noch um (variierte oder modifizierte) phraseologische Wortverbindungen handelt, kann man wohl schließen, daß eine phraseologische Wortverbindung klar als einheitliche Wortverbindung in den Äußerungsprozeß einbezogen wird, wenn der Sprecher „darauf stößt", wobei man sich sowohl vorstellen kann, daß er von einer phraseologischen Äußerung ausgeht und sie so braucht oder für seine Zwecke abwandelt, als auch, daß er über ein Einzelwort auf die phraseologische Wortverbindung kommt und sie je nach Ausgangspunkt verwendet. Es gibt allerdings nicht nur die beiden Möglichkeiten, daß der Bezug auf die phraseologische Wortverbindung noch gewährleistet ist oder daß er nicht mehr gewährleistet ist und damit eine freie Wortverbindung produziert wird. Eben weil Phraseologismen variiert und modifiziert werden können, können sie nicht nur in bezug auf ihre phraseologische Bedeutung abgewandelt werden, sondern es kann auch das Verhältnis zur wörtlichen Bedeutung einer freien Wortverbindung wieder hergestellt werden, beispielsweise durch die Ersetzung eines Artikels durch ein Demonstrativpronomen wie in dem oben genannten Beispiel Ich erblickte das Licht dieser Welt in Gestalt zweier Sechzig-Watt-Glühbirnen.

Wenn ein solcher Effekt nicht zufällig zustande kommt, so hat der Sprecher beim Äußern der Wortverbindung die wörtliche Bedeutung — in diesem Fall vor allem Welt, (aber auch Licht und erblicken, wie aus dem Kontext hervorgeht) — vor Augen. Man kann also — zumindest in solchen Fällen — nicht sagen, daß der Sprecher sich eine Bedeutung ,geboren werden' denkt und ausdrücken will und dies — aus den verschiedensten möglichen Gründen —

mit Hilfe eines signifiants tut, das zufälligerweise eine phraseologische Struktur hat, aber ohne daß psycholinguistisch ein Unterschied bestünde oder bestehen könnte zur Äußerung eines zeichentheoretisch gesehen gleichwertigen Einzelworts. Semiotisch gesehen sind ein Wort und eine phraseologische Wortverbindung, die dieselbe Bedeutung haben, gleichwertig, sie haben ein- und dieselbe Bedeutung. Für den aktualgenetischen Produktionsprozeß kann ein großer Unterschied bestehen zwischen der Äußerung eines Wortes und derjenigen einer Wortverbindung, die — phraseologische Bedeutung hin oder her — die verschiedensten Ansatzpunkte für „normale", freie Produktionsmechanismen bietet. Die „In-Gebrauchnahme" von bei freien Wortverbindungen üblichen Produktionsmechanismen für phraseologische Wortverbindungen kann dazu führen, daß das Resultat einer solchen Modifikation oder Variation den grammatischen Normen nicht mehr entspricht, daß man es als Fehler anstreichen müßte. Das kann allerdings — in Übereinstimmung mit allem, was oben gesagt wurde — nicht bedeuten, daß jedes Produzieren oder Teil-Produzieren von Phraseologismen als „Unfall" im Produktionsprozeß analog zu Performanzfehlern gewertet werden kann. Denn daß Phraseologismen wie freie Wortverbindungen behandelt werden können, hängt erstens damit zusammen, daß sie aus mehreren Wörtern bestehen, die dem Sprecher als einzelne während der Aktualgenese bewußt werden können, und hat zweitens zur Folge, daß sie dem individuellen Kontext optimal angepaßt werden können. Die unter „Modifikationen" besprochenen Beispiele zeigen denn nicht nur von der Form, sondern auch von der Bedeutung her die verschiedensten kontextuellen Bedeutungs- und Beziehungsverhältnisse. Und obwohl der Sprecher diese Verhältnisse nicht so bewußt schafft, daß er sie analysierend rekonstruieren könnte — sogar die linguistische Beschreibung setzt im Einzelfall differenzierte Überlegungen voraus —, würde er diese produzierten Verwendungsweisen — im Unterschied zu Performanzfehlern — nicht korrigieren, wenn sie ihm zur Überprüfung vorgelegt würden.

Produktion 5 . 3 . 2 . 2 . Der Gebrauch von phraseologischen Bruchstücken Unter phraseologischen Bruchstücken sollen Phraseologismen verstanden werden, die generell unvollständig gebraucht werden: ob die leere Stelle, die durch den unvollständigen Gebrauch entsteht, wieder gefüllt wird, wie bei lichterlohes Haar (statt lichterloh brennendes Haar) spielt keine Rolle. (Vgl. dazu 3.2.2.1.). Jedenfalls handelt es sich dabei — von Grenzfällen abgesehen — nicht mehr um Variationen oder Modifikationen eines Phraseologismus, sondern man muß vielmehr von der impliziten Kombination eines phraseologischen und eines zusätzlichen Zeichens sprechen. Der Gebrauch von phraseologischen Bruchstücken ist sowohl in der gesprochenen als auch in der geschriebenen Sprache häufig zu beobachten. Bei der gesprochenen Sprache sind diese Bruchstücke wohl mit größerer Häufigkeit unfreiwillige Produkte des schlecht kontrollierbaren Produktionsprozesses, in der geschriebenen Sprache handelt es sich häufiger um bewußt und mit stilistischer Absicht vorgenommene Verkürzungen. (Vgl. dazu den Abschnitt „Verkürzung", 3.2.2.6.). In der gesprochenen Sprache können solche Bruchstücke etwa folgendermaßen aussehen: das isch glaub kän Zwiifel (im Sinne von daran ist kein Zweifel) (vgl. für weitere Beispiele Burger 1979, S. 97) Stattdessen erklärte der Parteivorstand die Entlassung für hin und nichtig, (statt null und nichtig, Echo der Zeit, 1. 5. 78) Für die gesprochene Sprache ist es im Einzelfall schwierig nachzuweisen, daß es sich bei solchen Bruchstücken nicht um unfreiwillige Produkte des Verbalisierungsprozesses handelt. Die Frage, ob es sich beim Gebrauch von Bruchstücken nicht um Performanzphänomene handelt, scheint uns aber auch nicht ausschlaggebend. Entscheidend ist die Frage, ob der Sprecher (und im Verstehensprozeß auch der Hörer) das Gefühl hat, die Verwendung eines unvollständigen Phraseologismus zerstöre die phraseologische Bedeutung oder lasse sie gar nicht zustande kommen. Dieses Gefühl muß

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psycholinguistisch erklärt werden können, d. h. es müssen seine psycholinguistischen Voraussetzungen angegeben werden können. Denn davon geht man ja von einem phraseologischen Standpunkt aus, daß die Besonderheit des phraseologischen Zeichens besondere Voraussetzungen des Gebrauchs macht, deren Nichtbeachtung das delikate phraseologische Zeichenkonstrukt nicht ermöglicht. Nun hat der Sprecher ja — gerade wenn er am Radio spricht, wie in den obigen Beispielen — im Normalfall eine gewisse Kontrolle nicht nur über das, was er sagen wird, sondern auch über das, was er schon gesagt hat. Und wenn er der Meinung wäre, die Unvollständigkeit der phraseologischen Äußerung mache sie unverständlich oder mißverständlich, würde er sich nachträglich korrigieren. Daß solche Korrekturen selten gemacht werden, ist ein Hinweis darauf, daß der Sprecher offenbar nicht das Gefühl hat, daß die Bruchstückhaftigkeit der phraseologischen Äußerung die phraseologische Information gefährde. Bei Texten gesprochener Sprache reicht dieser eine Hinweis aus der Perspektive 'des Sprechers nicht aus, um daraus Überlegungen zu den psycholinguistischen Voraussetzungen des Gebrauchs von phraseologischen Bruchstücken aufzubauen, weil im Unterschied zu Texten geschriebener Sprache nicht ausgeschlossen werden kann, daß der Sprecher den Text, wenn er ihn schriftlich vor sich sähe, abändern würde, und zwar nicht nur, weil er grammatisch nicht richtig wäre, das ist in unserem Zusammenhang unerheblich, sondern vor allem, weil mit diesem Bruchstück das Zustandekommen der phraseologischen Bedeutung nicht gewährleistet wäre. Weitere Hinweise auf den durchaus möglichen Gebrauch von Bruchstücken in gesprochener Sprache ergeben sich vom Hörer her, vor allem durch Antworten auf die Fragen, ob der Hörer phraseologische Bruchstücke versteht und welche spezifisch phraseologischen und/oder allgemeineren psycholinguistischen Mechanismen daran beteiligt sind. Da der Sprecher als sein eigener Hörer als Spezialfall hier außer acht gelassen werden soll, wird das Problem der phraseologischen Bruchstücke ge-

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sprochener Sprache im Abschnitt „Verstehen" (5.4.1.) wieder aufgenommen. Im folgenden werden Beispiele von Bruchstücken in geschriebenen Gebrauchstexten und in literarischen Texten besprochen. Da schriftliche Texte im allgemeinen überprüft werden und ihnen im Falle literarischer Texte sogar größte Aufmerksamkeit gewidmet wird, kann davon ausgegangen werden, daß im T e x t verbleibende phraseologische Teile weder als Verstöße gegen die sprachliche Norm

(Perfor-

manzerscheinungen) noch als die phraseologische Bedeutung tangierend aufgefaßt werden. Die

Verwendung

von

phraseologischen

Bruchstücken wird mit ziemlicher Regelmäßig-

im Sack machen fehlt in dieser (nominalen) Verwendung das Verb. In Gebrauchstexten wie den obigen braucht man Bruchstücke wohl u. a. aus Gründen der semantischen und syntaktischen Nützlichkeit, und man akzeptiert sie als Produzent, ohne sich aber Gedanken über Struktur und Funktion dieser Bruchstücke zu machen. In literarischen Texten hingegen kann die Verwendung von Verkürzungen bewußte stilistische Absicht sein, wie in den Texten von Grass, die unter dem Aspekt der Modifikation besprochen worden sind. Da kommt beispielsweise vor:

den Teufel mit Beizebub (austreiben)

keit in Zeitungsschlagzeilen praktiziert.

das eigene

Im Kapitel „Modifikationen" (3.2.2.) werden unter „Verkürzung" (3.2.2.6.) Beispiele wie die folgenden genannt:

allgemein, worunter vermutlich auch die phra-

Währungsreform auf der langen Bank Fettnäpfchen

maßen:

In diesen Fällen sind es sehr häufig die Verben, die weggelassen werden, das realisierte Bruchstück besteht aus den Nominalteilen. In anderen schriftlichen Texten ist das Vorkommen von phraseologischen Teilstücken eher zufälliger: Eine Brücke zwischen den Sozialdemokraten und den Progressiven ist nach wie vor undenkbar. Falls trotzdem der Versuch gemacht würde, sie zu schlagen, dürfte bei vielen Mitgliedern der größten Partei der politischen Linken die Reaktion kaum mehr in Stillschweigen und der Faust im Sack bestehen. (NZZ 15. 6. 79) In Zeitungskommentaren, in denen Phraseologismen sowieso häufig verwendet werden, sind auch phraseologische Bruchstücke zu finden wie in diesem Text, der gleich zwei solche Bruchstücke enthält: Für die Wortverbindung eine Brücke schlagen kommt das Verb dermaßen spät und erst in einer Wiederaufnahme der phraseologischen Bedeutung, daß Brücke — wenigstens bis zum Vorkommen von schlagen in der zweiten Verwendung, die von daher wieder bruchstückhaft nur aus dem Verb besteht — als phraseologischer Teil betrachtet werden muß. Der Wortverbindung die Faust

Nest (beschmutzen)

(vgl. 3.2.2.6.)

Grass hat sich zur Verkürzung der Sprache seologische Verkürzung fällt, selber geäußert und erklärt diesen Sprachgebrauch folgender-

„Das Deutsch ζ. B., das heute gesprochen wird, ist sehr stark vom Wirtschaftsdeutsch geprägt, vom Amtsdeutsch geprägt, im Gedanklichen von Heidegger geprägt. Die Substantivierung nimmt immer größere Ausmaße an, und mit diesem Material muß ich als Schriftsteller arbeiten. Es ist also nicht nur mit dem Konjunktiv getan, und es ist auch nicht eine Sache der Kommata, sondern es gibt zum Beispiel Sätze, in denen das Verbum weggelassen wird. Die Satzaussage fehlt, weil ich dem Leser bei einem angefangenen Satz dann und wann überlassen kann, die Satzaussage selber auszufüllen, weil sie auf der Hand liegt. Und vielleicht habe ich nebenbei den Ehrgeiz, die deutsche Sprache etwas zu verkürzen. Sie ist furchtbar umständlich. Ich glaube, daß innerhalb der deutschen Satzstellung sich einiges — ohne jetzt als Sprachreformer vordergründig auftreten zu wollen — von dem was ich sagen und beschreiben will, zur Satzverkürzung anbietet, ein Reduzieren also der Sprache auf die Dinglichkeit hin" (nach Schweizer 1978, S. 17) Grass läßt also die Verben weg, weil sie „auf der Hand liegen", weil sie redundant sind, weil sie also weggelassen werden können und weil er „nebenbei den Ehrgeiz h a t " , „die deutsche Sprache etwas zu verkürzen." Ist diese Begründung in diesem Zusammenhang sinnvoll? Kann man davon sprechen, daß

Produktion

Teile von Phraseologismen redundant sind und, wenn ja, sind es gerade die Verben? Koller 1977 (S. 38), der die Verkürzung von phraseologischen Wortverbindungen auf den Nominalteil in Schlagzeilen bespricht, meint, es handle sich dabei vorwiegend um Phraseologismen, deren Bedeutung additiv aus der übertragenen Bedeutung der Einzelteile erschlossen werden könne (in seiner Terminologie sind das „sekundär motivierte Redensarten") und um Phraseologismen, die Wortgut enthalten, das nur in diesen belegt ist. Im Kapitel 3.2.2.6. („Verkürzungen") wurde ergänzend festgehalten, daß solche Phraseologismen besonders leicht zu verkürzen seien, bei denen das Verb nicht viel mehr als eine grammatische Funktion hat. Anderseits kann man anhand der Grass'schen Beispiele feststellen, daß die weggelassenen Verben meistens gerade nicht vom semantisch leeren Typ sind. Die obigen Erklärungen — einschließlich derjenigen von Grass — sind von verschiedener Art: sie können zwei Typen zugeordnet werden: es sind einerseits „phraseologische Erklärungen" und anderseits „nichtphraseologische Erklärungen". Wie ist das zu verstehen? Wenn man sagt, es könnten Teile von solchen Phraseologismen weggelassen werden, deren Bedeutung additiv aus den übertragenen Bedeutungen der Einzelteile erschlossen werden könnten, so spricht man von Phraseologismen mit einer teilbaren Bedeutung. Auch wenn man mit der Semantik von weggelassenen Teilen argumentiert — „semantisch leer" oder „nicht leer" — impliziert man, daß die Bedeutung der phraseologischen Teile eine Rolle spielen kann. Insofern sprechen diese Erklärungen von Phraseologismen wie von freien Wortverbindungen, die eine zusammengesetzte Bedeutung haben, und nicht wie von Phraseologismen, die eine ganzheitliche Bedeutung haben. Unter diesem Gesichtspunkt sind es „nichtphraseologische Erklärungen". Wenn anderseits davon gesprochen wird, daß solche Phraseologismen verkürzt werden können, die unikale Wörter enthalten, und diese unikalen Wörter stehenbleiben (Fettnäpfchen), so wird als Voraussetzung und Bedingung für die phraseologische Verkürzung

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die phraseologische Einheitlichkeit ins Feld geführt. Noch deutlicher kommt dies zum Ausdruck in Grass* Ausführungen: da ist die Rede davon, daß auf der Hand liegende und damit redundante Teile weggelassen werden könnten. Wenn dies auf Phraseologismen bezogen wird, so bedeutet es wiederum, daß auf die Einheitlichkeit der phraseologischen Wortverbindungen als Voraussetzung der Möglichkeit zu Verkürzungen abgestellt wird: redundant sind solche Elemente der Sprache, die anderen Elementen mit hoher Wahrscheinlichkeit folgen; die einzelnen Elemente von Phraseologismen sind durch hohe Übergangswahrscheinlichkeiten miteinander verbunden und bilden insofern gegenüber anderen sprachlichen Elementen, die miteinander in einem syntagmatischen Kontext auftreten können, eine Einheit. Insofern handelt es sich bei diesen Erklärungen um „phraseologische Erklärungen". Kann man daraus schließen, daß Gründe und Voraussetzungen und Bedingungen für die Möglichkeit, nur Teile von Phraseologismen zu äußern, einerseits darin gesehen werden, daß Phraseologismen in bezug auf bestimmte Aspekte wie Redundanz Einheiten sind, und anderseits darauf verwiesen wird, daß Phraseologismen in bezug auf andere Aspekte wie Semantik teilbar und also nicht einheitlich sind? Darin, daß man plausibel solche Erklärungen geben kann, liegt ein Hinweis darauf, daß Phraseologismen sowohl einheitlich als auch nicht einheitlich sein können. Was in dieser Formulierung widersprüchlich tönt, kann man sich im einzelnen beispielsweise folgendermaßen vorstellen: Phraseologische Wortverbindungen können in bezug auf ihre Semantik teilbar, in bezug auf das Miteinandervorkommen ihrer Teile aber in hohem Maße redundant sein. Da für Einheitlichkeit sprachlicher Art und solche psycholinguistischer Art verschiedene Kriterien ausschlaggebend sind, sind die verschiedensten Kombinationen von verschiedenen Typen von Einheitlichkeit in einer Wortverbindung möglich. Auch für ein- und dieselbe Wortverbindung sind verschiedene Kombinationsmöglichkeiten denkbar, weil für

Psycholinguistik

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psycholinguistische oder psychologische Einheiten nicht hauptsächlich sprachliche Kriterien ausschlaggebend sind, und weil die psychologischen sprachliche

Gegebenheiten

und auch

Produktionsbearbeitung

die

indivi-

duell verschieden sein können. Denn für die Sprache und mit linguistischen Kriterien lassen sich phraseologische Gruppen wie beispielsweise eine solche mit teilbarer Semantik und eine solche mit ganzheitlicher Semantik einigermaßen

auseinanderhalten,

aber

für

die

einzelnen Sprecher würden die Abgrenzungen des phraseologischen Bereichs und innerphraseologische

Klassifikationen

je

verschieden

ausfallen, weil der durchschnittliche Sprecher nicht über linguistisch-objektivierte, sondern über intuitiv-subjektive sprachliche Kriterien verfügt und weil die psycholinguistisch beschreibbaren

Mechanismen

— bezogen

auf

eine bestimmte Wortverbindung — von Sprecher zu Sprecher verschieden sein können. Man kann annehmen, daß je nach Sprecher, Situation und Kontext ein Aspekt der Einheit oder Nicht-Einheit dominiert. Ein Beispiel dafür, bei dem von der Verkürzung abgesehen wird: Wenn jemand beispielsweise auf einer Speisekarte in der Rubrik Vorspeisen schreibt: Schnecken — ganz aus dem Häuschen, aber tief in selbstgemachter Kräuterbutter, sind sie, die fünf Schnecken Fr. 5 . (Zunfthaus Saffran, Basel) so wählt er zwar bewußt die phraseologische Formulierung, aber um sie zunächst nicht phraseologisch als semantische Einheit zu brauchen, sondern in der wörtlichen zusammengesetzten Bedeutung der Wortverbindung, um dem Gast mitzuteilen, daß er die Schnecken nicht mühsam aus dem Häuschen herausoperieren muß, bevor er sie essen kann. Erst im Anschluß an diese Formulierung kommt der Sprecher mit Hilfe des adversativen aber auf die phraseologische Bedeutung zurück, von der er annehmen kann, daß er sie, schon durch die Wahl der phraseologischen Wortverbindung allein, beim Hörer wachgerufen hat. Während bei diesem Sprecher für diese Restaurant-Situation und im Kontext der Rede von Schnekken die semantische Nicht-Einheit von Phraseologismen dominiert, kann man sich ohne weiteres vor-

stellen, daß derselbe oder ein anderer Sprecher „ganz aus dem Häuschen sein" automatisch verwendet, wenn er mitten im lebhaften Erzählen ist. In diesem Fall würde für diesen Sprecher ein Aspekt der phraseologischen Einheit dominieren.

Wie lassen sich also unter diesen sehr verschiedenartigen Umständen Verkürzungen im Gebrauch von Phraseologismen erklären? Weil die Hintergründe von verkürzt gebrauchten Phraseologismen verschieden sein können, muß im Einzelfall immer mit mehreren Interpretationsmöglichkeiten gerechnet werden: Für den Sprecher kann einerseits die Zusammensetzbarkeit der phraseologischen Wortverbindung im Vordergrund stehen, so daß er deshalb nur ein Stück der Wortverbindung braucht, von dem er intuitiv annimmt, daß es auch für den Hörer von der phraseologischen Wortverbindung abteilbar ist. Oder der Sprecher stützt sich auf die Einheitlichkeit der phraseologischen Wortverbindung, von der er deshalb nur ein Stück braucht, weil er sie intuitiv ergänzt und intuitiv annimmt, auch der Hörer könne sie ergänzen. Die tatsächlichen psycholinguistischen und psychologischen Abläufe brauchen auch keineswegs so alternativ zu sein wie die obige Formulierung vermuten läßt. Es können auch durchaus mehrere Aspekte gleichzeitig eine Rolle spielen, weil logische Widersprüche nicht notwendigerweise auch psychologische Widersprüche sein müssen und weil für die verschiedenen sprachlichen und psycholinguistischen Aspekte nicht dasselbe zutreffen und gelten muß. Welche Elemente von phraseologischen Wortverbindungen können jeweils weggelassen werden? Wenn die sprachlich gesehen festen Wortverbindungen vom Sprecher eher wie freie Wortverbindungen gebraucht werden, so kann er die inner- und außersprachlichen Kontextbedingungen der Elemente ausnützen wie bei grundsätzlich allen Lexemen, d. h. der Sprecher kann auf Valenzen, Klasseme und semantisch-syntaktische Interdependenzen und auf außersprachliche Konventionen abstellen, und es gelten dieselben Regeln für den Gebrauch von verkürzten phraseologischen Wortverbindungen wie für die Verwendung von freien

Produktion

Wortverbindungen beispielsweise in Schlagzeilen. Wenn ein Redaktor für die Rubrik Unfälle und Verbrechen Schlagzeilen der folgenden Art über die einzelnen Meldungen setzt: Fälscherring, Erdrückt u. ä., so erspart er im ersten Fall das Prädikat und im zweiten Subjekt und Objekt und teilt doch etwas darüber mit. P. von Polenz (1972) schreibt über diese Erscheinungen: „Die Journalisten haben hier ohne sprachwissenschaftliche Anleitung linguistische Grundtatsachen entdeckt und unreflektiert, aber erfolgreich genutzt wie die, daß der sprachliche „Satz" keineswegs an eine bestimmte Satzform wie den vollständigen Verbalsatz gebunden ist, daß vieles in den natürlichen Sprachen redundant (überflüssig) ist und daß sich Wortbedeutungen wie Satzbedeutungen aus dem (inner- wie außersprachlichen) Kontext determinieren." (S. 150)

Wenn Phraseologismen frei verwendet werden, indem sie in der Aktualgenese als phraseologische Bedeutungen produziert werden, so sind die Probleme der bruchstückhaften Verwendung also in dem weiteren Rahmen des Gebrauchs von Teilen von Wortverbindungen generell zu sehen. Wie ist es aber, wenn bei der Aktualgenese einer phraseologischen Wortverbindung ein sprachlicher, psychologischer oder psycholinguistischer Aspekt der festen Einheit im Vordergrund steht, wenn die Wortverbindung als feste Wortverbindung geäußert wird? Gibt es unter diesen Umständen andere Regeln für die Weglaßbarkeit von Teilen? Lassen sich — wie in den obigen Beispielen — grundsätzlich nur die verbalen Teile von phraseologischen Wortverbindungen weglassen, oder hat das Weglassen der Verben andere Gründe wie beispielsweise solche der grammatischen Ökonomie, weil verbale Phraseologismen ohne Verb einen nominalen Gebrauch ermöglichen? Von einer für ihn festen Wortverbindung kann der Sprecher darum ein Stück weglassen, weil das oder die weggelassenen Wörter redundant sind. Sie sind aber in diesen Fällen nicht aus inhaltlichen Gründen redundant, wie beispielsweise die Angabe eines Subjekts zu einem Verb redundant sein kann, weil das Subjekt durch das Verb weitgehend vorgegeben sein

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kann. Eine feste Einheit ist als probabilistische Einheit oder als Automatismus oder auch als psychologische Einheit durch das rein formale Miteinandervorkommen der Bestandteile definiert. Es ist eine formal definierte Redundanz, die es ermöglicht, Teile der festen Wortverbindung zur ganzen Wortverbindung zu ergänzen, so daß von der gegenseitigen Verständigung her keine Notwendigkeit für den Sprecher besteht, auch die — in einem ersten Verbalisierungsversuch oder aus stilistischen oder anderen Gründen — weggelassenen Teile zu äußern. Wenn das die Voraussetzungen der Möglichkeit sind, Phraseologismen bruchstückhaft zu gebrauchen, dann kann es keine Rolle spielen, welche Teile der phraseologischen Wortverbindung weggelassen werden, solange der Rest zur Ergänzung ausreicht. In der folgenden Passage ist es beispielsweise eines der Substantive der Wortverbindung das ist Jacke wie Hose, das nicht gehört werden kann, weil der Major das unten erwähnte Getöse inszeniert. Hose galt nämlich zu der Zeit in besseren Kreisen als anstößiges Wort, und der Major wollte verhindern, daß es die anwesenden Damen hörten. Voraussetzung dafür ist, daß er als Hörer die Wortverbindung ergänzt, bevor sie fertig geäußert worden ist. (Van der Straaten:) „Und das ist es, was ich zweierlei Maß genannt habe. Den Murillo-Zauber möchtet ihr zu Hexerei stempeln, und die Wagner-Hexerei möchtet ihr in Zauber verwandeln. Ich aber sag' euch, es liegt umgekehrt, und wenn es nicht umgekehrt liegt, so sollt ihr mir wenigstens keinen Unterschied machen. Denn es ist schließlich alles ganz egal und, mit Permission zu sagen, alles Jacke. . .." Der aus der vergleichenden Kleidersprache genommene Berolinismus, mit dem er seinen Satz abzuschließen gedachte, wurde auch wirklich gesprochen, aber er verklang in einem Getöse, das der Major durch einen geschickt kombinierten Angriff von Gläserklopfen und Stuhlrücken in Szene zu setzen gewußt hatte. Zugleich begann er: „Meine verehrten Freunde, . . ." (Fontane, L'Adultera, S. 33)

Wann immer der Sprecher Wortverbindungen selber als feste Einheiten betrachtet und glaubt, auch sein Zuhörer kenne diese feste Einheit,

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Psycholinguistik

braucht er die Wortverbindung nur „anzutippen". Aus Untersuchungen zum SprichwortGebrauch in ländlichen Regionen (Burk 1953) geht hervor, daß Sprichwörter, die in der Alltagskommunikation einer Bauernfamilie häufig verwendet wurden, in diesem Sinn bruchstückhaft verwendet wurden: „Mehrere Sprichwörter, besonders längere, werden auch als Halbformen gebraucht. Die Funktion einer Halbform ist verschieden, je nachdem, in welcher Situation sie angewendet wird. Gebraucht in einer ruhigen Unterhaltung älterer Personen jemand eine Halbform, so steht diese für das ganze Sprichwort. Der Sprecher hält es nicht für erforderlich, die volle Form anzuwenden, da jeder der Anwesenden sie kennt. Die Mutter braucht nur zu sagen „Wo einen die Liebe hintreibt . . . " , und die Hörer wissen sofort, welche Ergänzung nach dieser Andeutung folgen soll." (S. 59) (Das ganze Sprichwort lautet: Wo einen die Liebe hintreibt, ist einem kein Weg zu weit). Ähnlich kann man sich auch den Gebrauch von anderen Sprichwort-Anfängen wie Wer andern eine Grube gräbt .. Was du nicht willst, das man dir tu .. . etc. vorstellen. Auf der Grundlage der Möglichkeit, Phraseologismen nur in Teilen zu gebrauchen, eröffnet sich eine weitere kompliziertere Gebrauchsmöglichkeit: die Möglichkeit nämlich, ein Stück von einer phraseologischen Wortverbindung zu gebrauchen, (das zur ganzen phraseologischen Bedeutung ergänzt werden kann) und gleichzeitig an die grammatischen Stellen der fehlenden Teile andere Lexeme einzusetzen, deren Bedeutung zur gesamten phraseologischen Bedeutung hinzukommt und nicht etwa nur eine phraseologische Teilbedeutung ersetzt oder verändert. Während also bei den meisten lexikalischen Substitutionen die phraseologische Bedeutung nur erweitert oder leicht verändert dem Kontext angepaßt wird und allenfalls die wörtliche Bedeutung stärker ins Spiel gebracht wird, so daß generell eine Ambiguierung stattfindet, kommt hier zur phraseologischen Bedeutung eine weitere Bedeutung hinzu, die aber lexematisch nicht an die phraseologische Wortverbindung angehängt wird, sondern in die Struk-

tur der phraseologischen Bedeutung hineinverpackt wird: Beispiele dafür sind im heilichten Genua und lichter-

lohes Haar aus Frischs Stiller, die in #.2.2.1. besprochen worden sind: im heilichten

Genua besteht demnach semantisch

aus am heilichten Tag und in Genua und

lichterlohes Haar besteht semantisch aus lichterloh brennend, das hier metaphorisch gemeint ist, und

Haar.

Während die meisten übrigen Modifikationen von Phraseologismen ein Hinweis darauf sind, daß es psycholinguistisch gesehen in der Aktualgenese auch Aspekte einer Produktion geben muß, daß an der Aktualgenese von phraseologischen Wortverbindungen auch Mechanismen der Erzeugung freier Wortverbindungen beteiligt sein können, läßt diese Art von Modifikationen, bei der weniger ein phraseologisches Zeichen verändert wird, als daß zwei Zeichen zu einem zusammengenommen werden, Vermutungen in bezug auf die Speicherung und den Abruf von Phraseologismen zu: beim Sprecher sind diese Wortverbindungen als Einheiten repräsentiert, die Äußerungen von heilicht und lichterloh ergänzen sich deshalb „von selber", der Rest braucht nicht geäußert zu werden, und es kann das nächste zu äußernde Wort oder eine ganze Wortgruppe an die grammatische Stelle der fehlenden Teile treten. Auf diese Weise kann vermieden werden, daß der Gebrauch von phraseologischen Bruchstücken zu grammatisch nicht korrekten Äußerungen führt. In welchem Verhältnis steht eine ganzheitliche Speicherung von phraseologischen Wortverbindungen zur Beteiligung von Mechanismen für freie Wortverbindungen an der Aktualgenese von Phraseologismen? Schließen sich diese zwei Tatbestände aus? Es ist oben schon mehrmals festgestellt worden, daß sich für jede Einzelsprache mit statistischen, semantischen, syntaktischen und lexikalischen Kriterien einigermaßen festlegen läßt, welche Wortverbindungen phraseologisch sind und welche nicht (wenn auch je nach Kriterienbündel der phraseologische Bereich verschieden abgegrenzt werden muß),

Produktion

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daß für den einzelnen Sprecher aber sowohl sprachlich als auch psychologisch und psycholinguistisch nicht gerade und nur die phraseologischen Wortverbindungen fest sein müssen, und daß es für die einzelne Wortverbindung verschiedene Kombinationsmöglichkeiten verschiedener Aspekte von Festigkeit auf verschiedenen Ebenen geben kann.

Rolle spielt. Von daher müßte jede einzelne Verwendung als singuläres Produkt der verschiedensten beeinflussenden Faktoren beschrieben werden; die Heraushebung eines, wenn auch dominierenden Aspektes, wie bei der Zuordnung der obigen Beispiele, ist eine Abstraktion zugunsten einer klareren und einfacheren Beschreibung.

Können nun an der Aktualgenese einer Äußerung allgemeine Produktionsmechanismen beteiligt sein, obwohl die geäußerte Wortverbindung beim Sprecher psycholinguistisch fest repräsentiert ist, indem sie beispielsweise als lautliche Einheit gespeichert ist?

In diesem Kapitel geht es vor allem um die Mechanismen der aktualen Verwendung und dafür zeigt beispielsweise der Gebrauch von phraseologischen Bruchstücken, daß freie und feste psycholinguistische Mechanismen an der Produktion dieser Wortverbindungen beteiligt sein können. Das Sammeln von sprachlichen Erfahrungen mit Phraseologismen, das Lernen von Phraseologismen, und die Reihenfolge dieser Erfahrungen sind eigentliches Thema des Kapitels 6. Es läßt sich jedoch schon an dieser Stelle vermuten, daß die individuellen sprachlichen Erfahrungen sich mit zunehmendem Alter und mit zunehmender sozialer Integration ausgleichen, so daß ein gewisser Durchschnitt zustande kommt.

Zur Beantwortung dieser Frage muß man unterscheiden zwischen angesammelten sprachlichen Erfahrungen mit Wortverbindungen einerseits, die auf eine bestimmte Art gespeichert sind, und der jedesmaligen bzw. je einmaligen Verwendung einer Wortverbindung anderseits. Man kann annehmen, daß die gesammelten und gespeicherten Erfahrungen mit einer Wortverbindung einen gewissen Einfluß auf ihre Aktualgenese haben: ein automatisiertes Lernresultat wird mit großer Wahrscheinlichkeit im Einzelfall als Automatismus geäußert werden, um ein Beispiel zu nennen, bei dem der determinierende Einfluß der „angesammelten" Erfahrungen besonders groß ist. Das bedeutet aber — sogar bei automatisierten Lernresultaten — keineswegs, daß Art und Inhalt der Speicherung die Aktualgenese notwendigerweise und gänzlich determinieren, vor allem dann nicht, wenn andere Faktoren wie Kontext und Situation hinzutreten, was bei Sprachgebrauch in normalen (nichtexperimentellen) Situationen ja die Regel ist. Es ist deshalb durchaus möglich, daß eine Wortverbindung psycholinguistisch fest gespeichert ist, aber aus Gründen des inner- oder außersprachlichen Kontexts oder der Situation aktualgenetisch wie eine freie Wortverbindung produziert wird. Dabei wird allerdings der Einfluß von Art und Inhalt der Speicherung nur in seltenen Fällen völlig wegfallen, so daß im Normalfall auch bei der psycholinguistisch freien Verwendung von Phraseologismen die Speicherung (beispielsweise als Einheit) eine

Während deshalb die psycholinguistische Beschaffenheit der aktuellen Äußerung von Sprecher zu Sprecher, von Kontext zu Kontext und von Situation zu Situation für ein- und dieselbe phraseologische Wortverbindung verschieden sein kann, ist der zusätzliche Einfluß der Speicherung, weil er auf intersubjektiven angesammelten Erfahrungen beruht, konstanter und besteht für sicher viele phraseologische Wortverbindungen in einer sich mehr oder weniger auswirkenden lautlichen und bedeutungsmäßigen Einheit. 5.3.2.3. Fehlerhafter Gebrauch von Phraseologismen Als fehlerhafter Gebrauch von Phraseologismen soll gelten, was den grammatisch-lexikalischen Normen nicht entspricht. Ausgegangen wird von allem Fehlerhaften, das auf dem Hintergrund dessen beschrieben werden soll, was bisher über psychologische und psycholinguistische Hintergründe des Phraseologismengebrauchs gesagt worden ist. Im Zusammenhang mit fehlerhaftem Gebrauch spielen die Produktionsbedingungen

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Psycholinguistik

gesprochener bzw. geschriebener Sprache eine große Rolle, die zu typischen Merkmalen gesprochener und geschriebener Sprache führen und für die Produktionsform typische Fehler zur Folge haben: Was in geschriebener Sprache produziert wird, wird bewußt gesetzt und kontrolliert, wirkt manchmal etwas gesucht, Fehler werden ausgemerzt und alles, was falsch sein könnte, wird vermieden. Das ist besonders typisch für Schülerarbeiten wie Aufsätze. Gesprochene Sprache ist sehr viel stärker an die lineare Abfolge gebunden, was vorbei ist, wird sehr viel weniger beachtet und verbessert, die Kontrolle ist allgemein weniger gut möglich, und allein von daher enthält gesprochene Sprache sehr viel mehr Fehler als geschriebene Sprache. Anderseits hört der Sprecher beim Sprechen, was er sagt, und auch dies beeinflußt die Produktion, die durch das bloße Sehen von geschriebener Sprache nicht erreicht wird: Stabreim, Rhythmus, Silbigkeit, Struktur kommen als Produktionshilfe beim Sprechen viel besser zum Tragen als beim Schreiben; in mündlichen Assoziationstests kommen denn auch bezeichnenderweise sehr viel mehr lautliche Assoziationen vor als in schriftlichen Tests, w o die Assoziationen über andere Kanäle, wie Bedeutungen, laufen. Systematische Fehleruntersuchungen haben wir gemacht an einem Aufsatzkorpus (vgl. dazu 6.4.4.1.) von 10—15jährigen Schülern: Dabei hat sich herausgestellt, d a ß die Schüler, die ja noch mitten im Spracherwerbsprozeß — vor allem der geschriebenen hochdeutschen Sprache — drin sind, wenig Fehler machen, bei denen sie einen korrekten Phraseologismus semantisch oder pragmatisch falsch anwenden: Dennoch ein Beispiel: Mein Schimmel bäumte sich auf, und ich fiel Hals über Kopf rückwärts zu Boden. Etwa zehnmal häufiger machen die Schüler Fehler, indem sie Phraseologismen von ihren Gebrauchsbedingungen her richtig, aber in einer falschen Form verwenden: Beispiele: Doch seine Freunde und alle, die ihn gut kennen, können ein besseres Zeugnis für das Engelgesicht abgeben. (Die lexikologisch richtige Form müßte

lauten: ein Zeugnis ausstellen oder mit etwas anderer Bedeutung Zeugnis ablegen von etwas) Das half natürlich nicht minder dazu bei, daß die Schüler sich im Recht fühlten, (richtig: das trug dazu bei) Das fängt bei klein an und hört bei groß auf. (richtig: im kleinen / im großen) Meine Schwester und ich wurden unter der Ausrede, es sei schon spät, ins Bett gesteckt, (richtig: mit der Ausrede oder unter dem Vorwand) Seuchen und Korruption wären Tagesordnung. (richtig: an der Tagesordnung sein) Ich sagte meiner Schwester, das sei sicher nur ein Ebenbild von Sophia Loren, sonst würde man sicher viel mehr Aufsehen erheben, (richtig: Aufhebens machen oder in anderer Bedeutung Aufsehen erregen) Diese Beispiele fehlerhaften phraseologischen Gebrauchs zeugen davon, d a ß die Schüler zwar die Gebrauchsweise und Teile der richtigen phraseologischen Form erworben haben, d a ß sie aber die an sich feste phraseologische Form in mehr oder weniger verstümmelter Art und Weise gebrauchen. Die Gründe dafür liegen teilweise sichtlich in der Vermischung zweier phraseologischer Wortverbindungen, teilweise aber auch einfach darin, d a ß die Schüler allgemeinere Produktionsmechanismen zu Hilfe nehmen, die dann für den phraseologischen Einzelfall zu falschen Resultaten führen: so heißt es eben dazu beitragen, obwohl dazu beihelfen genauso denkbar wäre. In keinem der Fälle aber könnte man sagen, d a ß noch keine Spur der phraseologischen Bedeutung und der phraseologischen Lautfolge vorhanden wäre: Die Voraussetzung für die Klassifizierung dieser Erscheinungen als Fehler im phraseologischen Gebrauch besteht ja darin, d a ß man die Phraseologismen von der bedeutungsmäßigen Leerstelle im Text und vom verwendeten Wortmaterial her erkennt. Für den sprachlichen und psycholinguistischen Hintergrund der Verwendung von Phraseologismen bedeutet das, daß Phraseologismen zwar stufenweise integriert werden, aber auch auf Stufen unvollkommener Integration bedeutungsmäßig richtig, aber mit Fehlern in der Ausdrucksweise gebraucht werden. Obwohl Phraseologismen für die linguistische Beschreibung Zeichen sind, die aus anderweitig

Produktion verwendeten Zeichen neu „zusammengeschmolzen" werden, gilt für den Gebrauch kein Alles-oder-Nichts-Prinzip. Phraseologismen können ohne Beeinträchtigung des gegenseitigen Verstehens nicht nur bruchstückhaft, sondern sogar fehlerhaft verwendet werden. Schwierig zu entscheiden ist im Einzelfall, ob es sich bei diesen Fehlern auch bei diesen Schülern um eine aktual freie Produktion schon fest gespeicherter Wortverbindungen handelt. Die Fehler würden dann dadurch entstehen, daß die Mechanismen der freien Produktion (beispielsweise der Wahl von Lexemen) am falschen Ort eingesetzt würden. Die andere wahrscheinlichere Möglichkeit ist die, daß die festen Wortverbindungen zwar irgendwie als solche markiert sind (sonst könnten die Schüler ja jede beliebige freie Wortverbindung aufbauen), aber noch nicht vollständig gespeichert sind. Wahrscheinlicher ist dies deshalb, weil die Schüler noch mitten im Erwerb der schriftlichen öffentlichen Sprache sind, deren Bestandteil die obigen Beispiele bilden. Um im Einzelfall zu entscheiden, müßte man Methoden der nachträglichen Befragung entwickeln, aufgrund derer der Schüler die richtige Version der phraseologischen Wortverbindung bezeichnen könnte, wenn er sie gespeichert hätte. Die bloße nachträgliche Befragung reicht für diese Zwecke nicht aus, weil die falsche Realisation das Zurückkommen auf einen allfälligen Speichereintrag außerordentlich erschwert. (Vgl. dazu 5.3.2.4.). Bei Erwachsenen sind jene Fehler phraseologischen Gebrauchs selten, die darauf zurückzuführen wären, daß allgemeine freie Produktionsmechanismen am falschen Ort zur Anwendung kommen, oder daß sie aus unerklärbaren Gründen falsch gelernt worden sind. Wenn Erwachsene phraseologische Fehler machen, dann häufiger solche, bei denen zwei phraseologische Wortverbindungen vermischt werden, die entweder bedeutungsmäßig ähnlich sind oder die teilweise dieselben Wörter enthalten. Stattdessen erklärte der Parteivorstand die Entlassung für hin und nichtig (Echo der Zeit, 1 . 5 . 78) (Vermischung von: hinfällig werden, für null und nichtig erklären.)

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In den Fällen, in denen die Bedeutungen zweier Wortverbindungen ähnlich sind, kann die Vermischung durchaus unauffällig wirken und nur dem geschulten Beobachter auffallen, wie in den folgenden Beispielen, die man deshalb im Unterschied zu den anders gelagerten Schülerbeispielen auch nicht als Fehler anstreichen würde, obwohl die Phraseologismen formal nicht richtig gebraucht werden: Eine Mitte-Rechts-Koalition wird wohl die Hebel im neuen Parlament für 5 Jahre fest in der Hand halten. (Morgenjournal vom 11.6. 79, Nachrichtenteil) (Vermischung von: die Zügel fest in der Hand halten, alle Hebel in Bewegung setzen, Schalthebel der Macht). So schoben sich beide gegenseitig den schwarzen Peter für die internationalen Krisenherde zu. Carter warnte Breschnew, die Sowjetunion müsse sich Zurückhaltung auferlegen und solle nicht in unruhigen Weltgegenden im Trüben fischen (vgl. 4.2.5.2.) (Vermischung von: jemandem den schwarzen Peter zuschieben, jemandem die Schuld zuschieben für etwas. Jemandem den schwarzen Peter zuschieben bedeutet .jemandem etwas Unangenehmes zuschieben', dazu paßt die Präposition für nicht.) In den Fällen vor allem gesprochener Sprache, in denen nicht die Bedeutungen der Wortverbindung(en), sondern die Wörter, aus denen sie bestehen, für eine Vermischung von Wortverbindungen oder für eine Kombination von Wort und Wortverbindung ausschlaggebend sind, kann es dann zu Äußerungen kommen, die so aussehen, als ob die phraseologische Form unter falschen Gebrauchsbedingungen angewandt worden sei: Scho wider sind im Vercheershuus im ene seltene und tüüre Flugzüüg Tüür und Toor uuftaa worde. (Von Tag zu Tag, 10. 8. 78). einer Sache Tür und Tor öffnen bedeutet ,eine Sache bereitwillig ermöglichen, geschehen lassen'. Was der Moderator hier sagen will, ist wohl eher, daß dem Flugzeug die Türen weit aufgetan wurden. Indiz dafür ist auch der Artikel vor Tür, der im Zusammenhang mit einer Sache Tür und Tor öffnen falsch ist. Man kann deshalb vermuten, daß der Moderator durch die lautliche Seite des Worts Tür auf das Gleis der in diesem Zusammenhang falsch gebrauchten phraseologischen Wortverbindung gekommen ist. Unterstützend mag der Klang des vorangehenden tüüre gewirkt haben.

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Psycholinguistik

Der Sprecher braucht demnach die Wortverbindung nicht deshalb falsch, weil er ihre Gebrauchsbedingungen nicht kennt, — wenn man ihn nachträglich befragen würde, würde er die falsche Verwendung vermutlich auch erkennen —, sondern er äußert sie deshalb, weil er aufgrund lautlicher Zusammenhänge auf diese Wortverbindung gekommen ist, die er den Zwängen eines Automatismus folgend auch als Ganze äußert, zumal die Bedeutungen der einzelnen Wörter seinen Intentionen durchaus entsprechen. Burger 1979 (S. 98 f.) beschreibt einen ähnlichen Fall: „Wie sehr die psychischen Mechanismen des Verbalisierens die normative Tendenz zur Fixierung eines Phraseologismus zu durchkreuzen und überspielen vermögen, zeigen Beispiele, wo dem Sprecher eine Wendung „auf der Zunge liegt", er aber nur ein Element zu verbalisieren imstande ist und dann „aufs falsche Geleise" gerät: Zigüüner tüend sich einglech eener üsserlich lich zäige äußerlichen

(gemeint ist: sie sind Merkmalen)

erkänt-

zu erkennen

an

(Persönlich)

Diese Interpretation als nur vermeintlich falsche Anwendung, die auf Äußerungsautomatismen zurückgeht, wird auch durch folgende Überlegung gestützt: Wenn schon Schüler nur wenig phraseologische Anwendungs-, also Bedeutungsfehler machen, ist es um so unwahrscheinlicher, daß die Fehler Erwachsener auf mangelnden Kenntnissen von phraseologischen Gebrauchsbedingungen beruhen; unter den erschwerten Bedingungen gesprochener Sprache sind sie demnach eher als Formfehler in der Aktualgenese zu interpretieren. Besondere Fälle von Fehlern im phraseologischen Gebrauch sind die in Stillehrbüchern und anderen normativen Zusammenhängen vielbeachteten Katachresen (vgl. dazu auch 3.2.2.12.): Koller 1977 (S. 64ff.) bespricht und bewertet verschiedene negative Stellungnahmen zu Katachresen, wie diejenige von G. van den Bergh, wonach Katachresen Mischlinge von verschiedenen Ausdrücken sind, die „aus der Zusammenarbeit sprachlichen Ungenügens mit Drang nach Höherem" entstehen. (S. 64)

Koller meint dazu, wenn man solchen Gebrauch von Phraseologismen als fehlerhaft bezeichne, so werde deutlich, „daß hier eine Grundmöglichkeit von Sprache und Sprechern, die in den Redensarten ein dankbares Objekt findet, nicht in Betracht gezogen wird: die Möglichkeit des Spiels, der Veränderung, des Sprach- und Sprechwitzes durch Veränderung gerade von als „stehend" oder „fest" geltenden Ausdrücken; die Möglichkeit eben, daß „schiefe" Bilder, sei es nun, daß sie durch Katachrese, sei es, daß sie durch Idiomveränderung oder -erweiterung entstehen, als bewußtes Stilmittel eingesetzt werden." (S. 67f.). Katachresen können bewußt eingesetzt werden, sie können aber auch auf dem Hintergrund allgemeinerer Phänomene der Aktualgenese gesehen werden, sie werden dann durch die Kategorie „Performanzfehler" unnötig restriktiv und negativ zusammengefaßt und haben weder mit sprachlichem Ungenügen noch mit Drang nach Höherem zu tun: Katachresen stellen einen Spezialfall von Kontaminationen dar, von Katachresen spricht man dann, wenn man die Kontamination von zwei Bildern als Bildbruch empfindet, was übrigens darauf hinweist, daß in einer reflexiven Überprüfungsphase des Geäußerten durchaus nicht nur die ganzheitliche Bedeutung, sondern auch die einzelnen Elemente des Bildes vorgestellt und zusammengesetzt werden. Nun können aber Bildbrüche bzw. Bildvermengungen durchaus sinnvoll sein und ausdrücken, was der Sprecher sagen will, ohne daß sie als „ G a g " gesetzt werden. Sie sind dann völlig unauffälliges Ergebnis der unbewußten Kombination von Bedeutungen, die statt durch Einzelwörter durch Wortverbindungen ausgedrückt werden: Und wer mit einer privaten Armee von 2 0 kräftigen Leibwächtern, den Allüren eines US-Halbgottes und einem Katalog amerikanischer Schimpfwörter im Reisegepäck nach Australien kommt, steht mit einem Fuß im Fettnäpfchen.

schon

(Koller 1 9 7 7 , S. 3 2 )

Schon mit einem Fuß im Fettnäpfchen stehen ist zusammengesetzt aus schon mit einem Bein im Grab stehen und ins Fettnäpfchen treten, die Bilder stören sich nicht, da sie beide mit

Produktion ,Stehen' zu tun haben, und sie kombinieren die Bedeutung von ,einem Zustand nahekommen', wobei der Zustand durch die Weglassung von Grab nicht näher umschrieben wird, und die Bedeutung von ,sich gesellschaftlich unmöglich machen'. Im folgenden Beispiel sind es lautliche Ähnlichkeiten und Ähnlichkeiten der Bilder, nicht aber der Bedeutungen, die zur Kontamination zweier bildlicher Wendungen führen. Gemeint ist denn auch nur die Bedeutung des einen Ausdrucks. Hintergrund dieses „Fehlers" im phraseologischen Gebrauch, den der Sprecher aber nicht korrigiert und den der durchschnittliche Hörer versteht, ohne d a ß ihm in den meisten Fällen die Katachrese auffallen wird, ist die in der Aktualgenese verwendete Strategie, sich Wörter bildlich vorzustellen (vgl. dazu 5.4.2.). Und die hend si alii guet under äi Huube chönne bringe? kontaminiert aus unter einen Hut bringen und unter die Haube bringen oder kommen.) (Persönlich) Am Beispiel solcher Katachresen, die als besonders schlimme Fehler des Phraseologismengebrauchs gelten, läßt sich zeigen, d a ß solche Gebrauchsweisen — obwohl sie unbestreitbar phraseologische Wortverbindungen unvollständig gebrauchen, kombinieren und vermischen — d a ß solche Gebrauchsweisen dennoch sinnvoll, vorstellbar und verständlich sind und auf allgemeinere Produktionsmechanismen zurückzuführen sind, so daß sie — aus einem weiteren Blickwinkel gesehen — nicht Fehler darstellen, sondern Ausdruck von im sprachlichen, im psychologischen und im psycholinguistischen Sinne kreativem Sprachgebrauch sind.

5.3.2.4. Ergänzen von Phraseologismen und Verbessern von Fehlern Wenn man einen Sprecher bittet, in einem Text mit Lücken fehlende Bestandteile von Phraseologismen zu ergänzen oder fehlerhaften Gebrauch zu verbessern, so handelt es sich dabei um besondere Aufgabenstellungen, die als Hauptaufgabenstellungen nur in experimentellen Situationen oder allenfalls in Schulsituatio-

205

nen vorkommen. Dennoch handelt es sich dabei um Aufgaben, die auch in normalen Sprech- und Schreibsituationen vorkommen können, die jedoch vor allem in experimenteller H ä u f u n g systematische Schlüsse über Speicherung, Abruf und nachträgliche Rekonstruktion des Speichereintrags von Phraseologismen zulassen würden. Wir haben Schülern verschiedener Altersstufen solche Aufgaben vorgelegt. (Vgl. dazu 6.6.4.1.). Die richtigen Ergänzungen zeigen, daß der Schüler die phraseologische Wortverbindung richtig herausfindet und den sprachlichen Normen entsprechend brauchen kann. D a ß der Schüler die nur teilweise realisierte Wortverbindung „errät", ist ein Indiz dafür, d a ß er sie als Einheit irgendwie gespeichert hat. O b er sie dann phraseologisch richtig braucht oder nicht, ist ein anderes Problem. Es wäre ein erstaunlicher Zufall, wenn er aufgrund von nichtphraseologischen syntaktischen und semantischen Überlegungen gerade auf eine in der Sprache übliche phraseologische Wortverbindung stoßen würde. Uber die Aktualgenese aber läßt sich aufgrund richtiger Ergänzungen nichts sagen. Da sind die fehlerhaften Ergänzungen, die aber in einer bestimmten Beziehung zur gemeinten phraseologischen Wortverbindung stehen, ergiebiger: sie geben Aufschluß über die Bahnen, auf denen nach phraseologischen Wortverbindungen gesucht wird, und über die Mechanismen, die an der Aktualgenese beteiligt sein können, und zwar nicht nur dann, wenn der Sprecher die Wortverbindung nicht mehr ganz „im Kopf" hat und anfängt, sie zu rekonstruieren, sondern auch dann, wenn er sie phraseologisch richtig äußert. Verglichen mit dem Ergänzen von lückenhaft gebrauchten Phraseologismen ist das Verbessern von fehlerhaft gebrauchten Phraseologismen viel schwieriger. Während die Schüler selber in der aktiven Sprachverwendung (im Aufsatz), auf die Gesamtzahl der Verwendungen gesehen, wenige Fehler machen, übersehen sie die Fehler leicht in einem durchzulesenden Text, sogar dann, wenn sie durch die Aufgabenstellung darauf hingewiesen werden, nach Fehlern zu suchen. Das läßt sich dadurch

206

Psycholinguistik

erklären, daß die Anwesenheit einer phraseologischen Realisation es erschwert, die aufgebauten Wahrscheinlichkeitsstrulcturen auszunützen, wie das beim Lückentext möglich ist, wo der Sprecher darauf warten kann, was ihm einfällt, wenn er die Wortverbindung als probabilistische Einheit gespeichert hat. Daraus, daß die Fehler häufig übersehen werden, kann jedenfalls geschlossen werden, daß einerseits die phraseologischen Bedeutungen durch die Fehler nicht beeinträchtigt werden, daß es aber anderseits schwierig ist, Phraseologismen zu isolieren und lexikologisch richtig zu rekonstruieren, was entschieden gegen eine Auffassung von Phraseologismen als bewußten psychologischen Einheiten spricht. Letzteres kann auch aus vielen Fällen falscher Korrekturen aber am richtigen Ort geschlossen werden, was darauf hindeutet, daß der Sprecher intuitiv spürt, was falsch ist, ohne aber die richtige Form zu wissen, bewußt darüber zu verfügen. Was die Ergänzungen betrifft, so zeigen die fehlerhaften Lösungen, daß sich die Schüler stark an Formen, Lauten und Klängen orientieren, ferner auch an bildlichen Vorstellungen: In die folgende Lücke hätten die Schüler wohl oder übel einsetzen sollen: Aber vorher mußte er (.. .) übel die Klasse ins Vertrauen ziehen. Stattdessen sind Ergänzungen mit formalen Anklängen an die Wortverbindung zustande gekommen wie: wohl aber übel, vor oder übel. Wenn er nur nicht auf den Stuhl schaut, schoß es Peter (.. .). durch den Kopf hätte die richtige Ergänzung gelautet, die von vielen Kindern auch gefunden worden ist. Es gab aber auch Varianten wie: schoß es Peter im Hirn herum, schoß es Peter durch das Gehirn/Gedächtnis, schoß es Peter in den Sinn/ durch den Leib, die aufgrund ungefährer bildlicher Vorstellungen zustande gekommen sind.

Vergleichsweise selten waren Kontaminationen mit anderen phraseologischen Wortverbindungen, und wenn sie auftraten, so aufgrund ähnlicher Lautformen einzelner Wörter und nicht aufgrund ähnlicher phraseologischer Bedeutungen: Es ging alles wie am (. . .). Schnürchen richtige Antwort geheißen.

hätte die

Stattdessen haben einige Schüler ergänzt es ging alles wie am Spieß/Spießchen. Dem liegt vermutlich eine Kontamination mit schreien wie am Spieß zugrunde. Die Wortverbindung tönt ähnlich aufgrund der Passage wie am Sch(. . .). Dazu kommt, daß schreien wie am Spieß bevorzugt im Imperfekt gebraucht wird und sich die formale Ähnlichkeit unter diesen Umständen auch auf das i im Verb erstreckt.

Da Fehler im phraseologischen Gebrauch bei Erwachsenen häufig auf Kontaminationen beruhen, und zwar sowohl auf solchen formaler wie inhaltlicher Art, ist dieser Befund wohl typisch für die Sprachentwicklungsstufe, auf der die Schüler stehen. Aufschlußreich ist jedoch die Tatsache, daß die Orientierung für die Ergänzung außerordentlich häufig an Teilen von Phraseologismen erfolgt: sowohl die formalen als auch die bildlichen Irrtümer beziehen sich nur auf Teile der phraseologischen Form bzw. der Vorstellung, die damit verbunden wird. Das zeugt davon, daß der Sprecher nicht die phraseologische Wortverbindung als ganze reproduziert, sondern daß er sie produktiv zusammensetzend braucht, wozu allerdings die Aufgabenstellung auch beitragen mag. Was die Verbesserung von phraseologischen Fehlern betrifft, so soll darauf nicht anhand von Beispielen eingegangen werden; die Fehler, die beim Verbessern der Fehler gemacht werden, sind jedoch ebenso wie die Ergänzungen selten auf Kontaminationen zurückzuführen, sondern haben häufig mit Unsicherheiten gegenüber der genauen phraseologischen Form zu tun; sie zeugen — wie die Ergänzungen — davon, daß die Schüler formale und inhaltliche Teilvorstellungen von Phraseologismen und allgemeinere syntaktische und semantische Produktionsmechanismen zu Hilfe nehmen, um die Aufgaben zu lösen. 5.3.2.5. Momentane und idiolektale Fixierung des Sprechers auf Phraseologismen Wenn man Gesprächstexte nach den Beiträgen einzelner Sprecher ordnet oder sonst längere Passagen einzelner Sprecher auf Phraseologismen hin durchschaut, fällt auf, daß einzelne Sprecher manchmal über eine längere Textpassage hinweg auf bestimmte Wortverbin-

207

Produktion düngen geradezu fixiert scheinen bzw. d a ß der

Andreotti zu. Das nur aus Christlich-Demokraten

Gebrauch gewisser phraseologischer W o r t v e r -

bestehende Kabinett dürfte den

bindungen individualspezifisch zu sein scheint. Ein Beispiel für eine solche Fixierung auf eine bestimmte phraseologische

Wortverbin-

seinerseits dem Parlament

schwarzen

Peter

zuschieben.

(Echo der Zeit, 5. 5. 78) Es ist ja im allgemeinen nicht Brauch, daß man die Kosten, die ein Staatsbesuch verursacht, zu ver-

dung innerhalb einer längeren T e x t p a s s a g e : Uber das Verhältnis der Griechen zu Europa unterhielt sich Ch. Fieri mit P. Zermias in Athen: Man sollte zwei Aspekte berücksichtigen, zunächst einmal den innenpolitischen Aspekt der Angelegenheit und den außenpolitischen Aspekt. Kara-

öffentlichen pflegt. Daß es einen Haufen Geld kostet, versteht sich ja von selbst.

( . . .) Daß dann eben am

heutigen sonnigen Morgen Breschnews Gesundheitszustand Gesprächsthema Nr. 1 war, versteht fast von selbst.

sich

(Echo der Zeit, 5. 5. 78)

manlis ist nämlich ein Europäer im griechischen,

Schlagzeile: Paris: Der Gründer der ägyptischen

wenn ich so sagen darf, und im europäischen Sinne.

kommunistischen Partei ist bei einem Attentat ums

Er vertritt in Griechenland eine europäische Politik

Leben

im Sinne der Versöhnung mit der Türkei, das ist ein

gekommen.

Ausführlichere

Nachrichten:

Der

im Exil

in

Anliegen Karamanlis, wenn allerdings auch aus

Frankreich lebende Gründer der ägyptischen kom-

Gründen des vorsichtigen Operierens, aber er ist

munistischen Partei ist in Paris bei einem Attentat

auch ein Europäer im weiteren Sinne des Wortes.

ums Leben

(. . .) Karamanlis ist ein überzeugter Befürworter

gekommen.

In der nächsten Meldung: Erst vor einigen Tagen zwei junge Deutsche bei einem Bombenan-

dieses Beitritts, Papandreou hingegen betrachtet das

waren

als eine, wie er sagt, Kapitulation vor dem west-

schlag auf einen Ausflugbus in Westjordanien ums

europäischen und amerikanischen Monopolkapita-

Leben gekommen.

lismus. In diesem

Im Falle Moros steht das Menschenleben auf dem

Sinn kann man von Europafreun-

den und Europagegnern sprechen, (. . .). Europafreunde im dargelegten Sinn sind in diesem Moment die Anhängerschaft der Regierungspartei, {. . .), die sind auch europäisch im dargelegten Sinn und die unorthodoxen (. . .) (Echo der Zeit, 5. 5. 78)

wiederholte

oder

einer

Vorkommen

Wortverbindung,

eines der

Wortes

darin

Spiel, es ist ein hoher Wert. Leben trifft Eigentum, lautet bereits ein römisch-rechtlicher Grundsatz. Der Gefangenenaustausch ist nicht nur rechtlich vertretbar, sondern auch opportun und zwar nicht nur für den zum Tode verurteilten Gefangenen der Terro-

Es gibt zunächst einen plausiblen G r u n d für das

(Radionachrichten, 4. 5. 78)

be-

stehen kann, d a ß i m m e r von derselben Sache

risten, dessen Leben gerettet werden kann und die gefangenen Terroristen in den Staatsgefängnissen, die in andere Länder abgeschoben werden können, sondern auch für das Volk in seiner Gesamtheit. Denn auf diese Weise wird das Blutvergießen ver-

die Rede ist. N u n ist zwar in der zitierten

mindert, kann ein Bürgerkrieg eher verhütet werden.

Passage die Rede v o m Verhältnis der Griechen

Die Staatshoheit steht

zu E u r o p a . A b e r im Unterschied zum W o r t

tausch nicht auf dem Spiel. Auf dem Spiel steht die

das deshalb aus sachlichen Gründen

Staatshoheit vor allem durch die Unfähigkeit der

Grieche,

immer wieder gebraucht werden m u ß , ist es nicht sachlich begründet, i m m e r wieder im Sinne

xy

zu sagen, zumal der Sprecher die W o r t -

verbindung auf verschiedene Weisen braucht. D a z u k o m m t , d a ß aus stilistischen E r w ä g u n gen

der

allzu

häufige

Gebrauch

desselben

W o r t e s oder derselben Wortverbindung verp ö n t ist. Es m u ß also andere Gründe haben, wenn

der

Sprecher

immer

wieder

dieselbe

phraseologische W o r t v e r b i n d u n g braucht.

mit dem Gefangenenaus-

Staatsorgane. („Echo der Zeit", 1. 5. 78) Eher dürfte ins Gewicht

fallen und zur Stimmungs-

mache sich eignen (. . . ) . Andere Gesichtspunkte dürften ebenso stark ins Gewicht

fallen.

(NZZ, Oktober 1978) Wenn

in

Leser-

briefen zu einem bestimmten T h e m a

man

Auseinandersetzungen

unter-

suchen würde oder wenn m a n andere aufeinander bezogene T e x t e beiziehen würde

wie

beispielsweise Filmkritiken in Zeitungen, bei denen m a n den später erscheinenden Kritiken

Weitere Beispiele Die Leitung der DC schiebt eine entsprechende

a n m e r k t , d a ß sie die früher erschienenen verden schwarzen

Entscheidung der

Peter für

arbeitet haben, so w ü r d e m a n vermutlich auch

Regierung

feststellen können, d a ß dieselben Phraseologis-

208

Psycholinguistik

men auffällig häufig immer wieder herangezogen werden. In der schweizerischen politischen Diskussion ist beispielsweise die phraseologische Wortverbindung (nicht) im selben Boot sitzen eine Wortverbindung, die überproportional häufig gebraucht wird. Wie kann man sich diese Erscheinung erklären? Eine Möglichkeit wäre, darin die Auswirkungen von Vorgängen zu sehen, die den umgekehrten oder gegenteiligen Status von Wortfindungsstörungen haben. Was die „phraseologische Wortfindung" betrifft, so könnte man sich vorstellen, d a ß die Verbindung von Bedeutungen zu phraseologischen Lautformen, wenn sie nicht aufgrund von Lernprozessen automatisiert worden ist, schwieriger herzustellen ist als zu Lautfolgen, die nur aus einem Wort bestehen, weil das phraseologische Zeichen dadurch, daß es aus mehreren Wörtern besteht, mehr „kritische" Stellen enthält, die die Möglichkeit bieten, durch Klang, Vorstellungen oder Bedeutungen der einzelnen Wörter auf andere Geleise zu kommen. Darin könnte unter anderem auch ein Grund liegen für die im Vergleich zu Einzelwörtern als relativ selten empfundene Verwendung von Phraseologismen. Die komplementäre Erscheinung dieser „Phraseologismenfindung" könnte dann darin liegen, d a ß die Verbindung zwischen Bedeutung und Lautform, wenn sie einmal gefunden ist, vergleichsweise stabil ist, so d a ß darin ein Grund für die Fixierung des Sprechers auf bestimmte Wortverbindungen innerhalb eines Textes liegt. In welchem Verhältnis dazu stehen psycholinguistisch gesehen individualspezifisch feste Wortverbindungen, wie zum Beispiel gesprächsspezifische feste Wortverbindungen? (vgl. dazu 4.1.3.1.) Ein Beispiel dafür: ja s isch scho verschlüsslet aber ich gsee de Zämehang nöd oder ich mein ich träume irgend es ich mein es chunt doch vil voor daß si — daß ich öppis träume wo — wo unmittelbar mit öppisem — ζ tue hed und wo eim lidruck gmacht hed oder wo eim blibe isch oder irgend so öppis oder mer isch verschrocke oder irgend so öppis — (Atmet) daß das wider chunt — (Atmet) ich meine das hed mer jo as Chind no vil mee oder . . . (Familiengespräch)

Gesprächsspezifische phraseologische Wortverbindungen sind stark idiolektal, es handelt sich dabei also nicht um eine vorübergehende Fixierung auf eine bestimmte Wortverbindung. Der Hintergrund der Verwendung von solchen festen Wortverbindungen, die meist auch ganz andere Funktionen haben als die vorwiegend referentiell gebrauchten Wortverbindungen der obigen Beispiele (vgl. dazu 4.1.3.), besteht meistens aus einer hochgradigen Automatisierung. Das sieht man daran, d a ß ihre Verwendung nur schwer unter Kontrolle zu bringen ist, d a ß sie bei gewissen Themen, die volle Konzentration erfordern, kaum auszuschalten sind, und d a ß es bewußte Anstrengung kostet, sich exzessiven Gebrauch abzugewöhnen. 5.3.2.6. Über den Phraseologismus hinausgehende, im Text anwesende Bildebene Wenn man die nähere Textumgebung von phraseologischen Wortverbindungen untersucht, kann man relativ häufig feststellen, d a ß die bildliche Vorstellung der Wortverbindung oder von Teilen davon auch in der Umgebung des Phraseologismus „anwesend" ist, sei das durch das besprochene Thema, durch Formulierungen mit Hilfe von Worten, die demselben Wortfeld angehören oder durch Zurückführung der phraseologischen Wortverbindung auf die wörtliche Bedeutung mit Hilfe des Kontextes oder durch die Art des Gebrauchs. Ein paar Beispiele: Der Deklarationsentwurf aber schießt im Bestreben, Relikte der Kolonialzeit so rasch wie möglich abzubauen, weit übers Ziel hinaus und legt die Axt an einen Grundpfeiler, auf dem die Unesco selber ruht. Nur Blinde können da auch noch mit Hand anlegen. (NZZ 7. 11. 78) (vgl. 3.2.2.9.) Hier ist es die bildliche Vorstellung von ,mit den Händen arbeiten', die die Wendungen die Axt anlegen und Hand anlegen verbindet. Die Vorstellung der Hand, die sowieso mit dem Gebrauch von Hand anlegen und vermutlich auch mit dem Gebrauch von die Axt anlegen verbunden ist (obwohl die phraseologischen Bedeutungen ,helfen' und ,zerstören' auch ohne diese Vorstellung möglich wären) ist damit über die einzelne Wortverbindung hinaus im Text anwesend.

Produktion Bei den Tischreden in Püngjang, die jetzt bei den Festbanketten gehalten werden, fällt übrigens kein lauter Ton gegen Moskau, wie es sonst üblich ist, wo immer Chinesen tafeln. Das zeigt untrüglich an, daß Nordkorea einen lauten Kurswechsel jedenfalls nicht für opportun hält, und Peking ist damit zufrieden. Ihm ist die leise Annäherung dieses wichtigen Landes in seinem Rücken im Fernen Osten mehr wert wie Propaganda. („Echo der Zeit", 6.5.78). (vgl. 3.2.2.9.) Bei diesem Beispiel ist die Vorstellung von lautleise über die phraseologische Wendung hinaus im Text anwesend. Erledigt war das Thema damit natürlich nicht. Es brutzelte weiter, wenn auch nur auf Sparflamme, dafür sorgen verschiedene parlamentarische Vorstöße. Heute ist die Flamme wieder etwas aufgedreht worden, auf dem Tisch liegt ein brandneuer Entwurf zu einem neuen Verfassungsartikel. („Echo der Zeit", 3. 5. 78). (Vgl. 3.2.2.9.) Die Vorstellung von Feuer kommt in diesem Text immer wieder durch die Wortwahl zum Ausdruck, zuletzt in der Verstärkung brandneu. Die durchgehende Bildebene hängt wohl damit zusammen, daß der Sprecher sich Feuer vorstellt, ohne daß er sich vermutlich dessen bewußt ist. „Vornehmlich die jungen Ratten, von denen es geradezu zu wimmeln scheint, kennen keine Scheu; sie lassen sich sogar füttern. Kein Brot haben ihnen gegenüber etwa Spatzen, die sich ihren Anteil am Futterkuchen zu sichern suchen." („Tagesanzeiger", vom 3. 9. 80). In diesem Zeitungsartikel geht es um die Vermehrung von Ratten aufgrund der Fütterungen von Enten und Schwänen. Die Vorstellung von Brot, das dazu meistens verwendet wird, ist daher mit der Wortverbindung kein Brot haben = ,keine Chance haben' verbunden und darüberhinaus im Text präsent.

In diesen Textbeispielen wird durch die sprachliche und inhaltliche Umgebung offenbar, daß der Sprecher die bildliche Vorstellung der phraseologischen Wortverbindung oder eines Teils davon realisiert, wobei diese Vorstellung sowohl Ursache als auch Wirkung der Kontextvorstellungen sein kann. Der Sprecher denkt also auch an die einzelnen Wörter und stellt sie sich v o r , soweit das möglich ist, auch wenn er eigentlich eine ganzheitliche phraseologische Bedeutung braucht, und dies vermutlich nicht nur unter diesen speziellen Umständen, unter denen dies sichtbar wird.

209

In der bildlichen Vorstellung liegt daher eine weitere Möglichkeit des regulären „Aufbrechens" der ganzheitlichen phraseologischen Bedeutung, die auch für das Verstehen von Phraseologismen zentrale Bedeutung hat und deren theoretischer Status deshalb in 5.4.2. besprochen werden soll. Ein Beispiel für solches Aufbrechen der phraseologischen Bedeutung, das durch keinerlei sprachkritische oder sprachspielerische Absicht bedingt ist, sondern nur durch die Vorstellung des Sprechers zustande kommt, sich aber nicht äußert in dem, was er sagt, sondern lediglich für den Sprecher den Übergang zum nächsten Gedanken schafft, gibt die folgende literarische Beschreibung: Deshalb verlange ich eine Aussprache unter uns. Wir sind dazu verpflichtet. Auch wenn ich Gaby zutraue, daß sie lieber einkaufen gehen möchte. Mein Gott. Aber diesmal gibt's keine Birnen. Der Gedanke an Birnen ließ ihn wieder zum Fenster hinaussehen, aber da war nur Reis, Reisfelder ohne Ende. (diesmal gibt's keine Birnen, Helvetismus für ,diesmal gibt es daran nichts zu rütteln') (A. Muschg, Baiyun, S. 320)

Auf dem Hintergrund dieser psycholinguistischen Abläufe kann der Vorgang der Motivierung noch einmal aufgegriffen werden: In 2.2. haben wir schon bezweifelt, daß man der Auffassung folgen kann, wonach das Kriterium der Motivierung in einer synchronischen Sprachbetrachtung irrelevant sei. Die Frage war dort, ob beispielsweise Kohldampf schieben abgesehen von stilistischen Unterschieden die gleichen Charakteristika hat wie Hunger haben, ob also die Merkmale von schieben und Kohldampf mit den Merkmalen der synchronisch betrachteten Bedeutung nichts zu tun haben. Von einer psycholinguistischen Warte aus ist die in 2.2. kritisierte Auffassung nicht richtig, weil die phraseologische Bedeutung mit der Vorstellung einzelner Teile verbunden wird, auch wenn diese Vorstellung mit der gemeinten Bedeutung nichts zu tun hat. Auf diesem Hintergrund ließe sich auch der Eindruck der starken Bildlichkeit erklären, den man Phraseologismen immer wieder zugesteht, auch wenn sie als Ganze gar kein vorstellbares

210

Psycholinguistik

Bild ergeben und selbst wenn sie Elemente enthalten, die synchron geradezu unverständlich sind. Daß es ein allgemeiner Mechanismus des Verstehens ist, vorstellbare Wörter sich auch tatsächlich vorzustellen, wäre dann die Basis, auf der das Phänomen erklärt werden muß, daß in den meisten Idiom-Sammlungen gerade die starke Bildhaftigkeit, eventuell sogar bildhafte Drastik der Idiome gepriesen wird, auch dort, wo das einstige Bild gar nicht mehr nachvollziehbar ist. (Vgl. dazu 1.3.) Die bildlichen Vorstellungen von Teilen von Phraseologismen, die zu einem gesamten phraseologischen Bild zusammengefügt werden können, aber nicht müssen, erklären wohl auch mit die Leichtigkeit, mit der Modifikationen an Phraseologismen vorgenommen werden können. In 3.2.2.6. wurde u. a. vermutet, daß die relative Folgenlosigkeit von Modifikationen für die Semantik der Phraseologismen vielfach darauf zurückgeführt werden kann, daß die betroffenen Phraseologismen leicht remotivierbar sind und Substantive enthalten, deren metaphorische Bedeutung im Gesamt der Bedeutung der Phraseologismen zu isolieren ist. Zusätzlich kann man dazu festhalten, daß die Vorstellungen der Bedeutungen einzelner Wörter, auch wenn sie nicht Teil einer remotivierbaren oder metaphorisierbaren Bedeutung sind, mit dazu beitragen, daß der Ganzheitlichkeit der phraseologischen Bedeutung immer auch die Tendenz zur Auflösung gegenübersteht, ohne daß sich Ganzheitlichkeit und Auflösung der Festigkeit gegenseitig ausschließen würden. Wenn deshalb für Bilder Werbung gemacht wird mit dem Spruch Bilder, die aus dem Rahmen fallen oder wenn für Tische geworben wird mit Machen Sie jetzt reinen Tisch, wobei die phraseologische Wortverbindung semantisch überhaupt keinen Bezug zu Tischverkauf und Tischkauf hat, so ist dies nicht bloß ein zufälliger Werbegag. (Vgl. 3.2.3.2.) Die Verknüpfung zwischen Produkt und Phraseologismus wird nicht nachträglich hergestellt, sondern sie besteht von allem Anfang an durch die mit der phraseologischen Wortverbindung verbundene gleichzeitige Vorstellung einzelner ihrer Teile, wie hier Tisch und Bild.

5.3.2.7. Phraseologische Leerstellen Phraseologismen können Leerstellen haben, d. h. sie können offene Stellen enthalten, die kontextadäquat besetzt werden müssen: Wenn man viele Texte auf Phraseologismen hin durchschaut, fällt auf, daß auch die an sich frei ausfüllbaren Leerstellen oft textsortenspezifisch mit hoher Wahrscheinlichkeit durch ganz bestimmte Elemente besetzt werden. So ist es zum Beispiel sehr häufig Schuld, was jemandem in die Schuhe geschoben wird, und es ist häufig eine Regierungspartei oder eine andere politisch definierte Gruppe, die am Ruder ist. Auf die Spur kommt man häufig Gründen oder Ursachen. Es ist häufig die Sache, die einen Haken hat usw. Einerseits sind solche Erscheinungen Ausdruck davon, daß Phraseologismen sprachlich gesehen „offene Grenzen" haben können. Anderseits zeugen solche Gebrauchsweisen davon, daß den strukturellen sprachlichen Kriterien für Festigkeit Gebräuchlichkeitskriterien gegenüberstehen, die mit den strukturellen Kriterien nicht übereinstimmen müssen, die selber zunächst einmal sprachlich sind (textsortenabhängige Wahrscheinlichkeiten des Vorkommens und Miteinandervorkommens von sprachlichen Einheiten), die zudem aber auch die größere Chance haben, auch für den einzelnen Sprecher im psycholinguistischen Sinne zu festen Wortverbindungen zu führen. 5.3.2.8. Die Festigkeit der Phraseologismen in Abhängigkeit vom Gebrauch Semantische, syntaktische oder lexikologische Festigkeit von Wortverbindungen ist - auf Zeiträume von Jahrzehnten bezogen — mehr oder weniger unabhängig davon, ob die Wortverbindung häufig oder selten gebraucht wird. Den Vogel abschießen ist für jeden deutschsprachigen Sprecher/Hörer des 20. Jahrhunderts phraseologisch, auch dann, wenn er die Wortverbindung noch nie gehört hat und ihre Bedeutung nachschlagen muß. Die Festigkeit, die im Zusammenhang mit psycholinguistischen Überlegungen eine viel größere Rolle spielt oder jedenfalls einen viel stärkeren Einfluß auf die psychologische und psycholinguistische Art der Speicherung und

Produktion

der Aktualgenese ausübt, ist die Gebräuchlichkeit von Wortkombinationen. Was gebräuchlich ist, was viel gehört und gelesen werden kann, wird dadurch für den einzelnen Sprecher/Hörer auch subjektiv zur Einheit. Daß eine Wortverbindung zur psycholinguistischen Einheit wird, ist die Voraussetzung dafür, daß sie — auch über die Summe der Wortbedeutungen hinaus — in solchen Verwendungsweisen intuitiv-assoziativ verstanden wird, in denen sie bloß bruchstück- und andeutungsweise verwendet wird, was für unzählige Beispiele aus Werbe- und Mediensprache der Fall ist. (Vgl. dazu 2.5.1.3.; 3.2.3.) Die Parfumreklame Der Duft, der aus der Sonne kam kann jeder, der die darin vorkommenden Wörter versteht, soweit verstehen, wie die Kombination der Bedeutungen der Wörter es ermöglicht. Ob aber die Reklame diejenigen Effekte auslöst, die durch die intuitive Assoziation zur Wortverbindung Der Mann, der aus der Kälte kam zustande kommen, hängt nicht davon ab, ob der Sprecher den Titel dieses Buches schon einmal gelesen und verstanden hat, sondern ob er diese Wortverbindung — oder eine davon abgeleitete Wortverbindung mit derselben Struktur — psycholinguistisch als feste Einheit ausgebildet hat. Ob dagegen eine bruchstück- oder strukturweise Verwendung von sprachstrukturell phraseologischen Wortverbindungen (Phraseologismen im engen Sinn) verstanden wird, hängt von der Kenntnis der phraseologischen Wortverbindung ab, nicht aber von der Art ihrer psycholinguistischen Speicherung. Wenn ein Sprecher eine gebräuchlich feste Wortverbindung — häufig sind es Geflügelte Worte — auch psycholinguistisch als feste gespeichert hat, so daß er nicht nur auf Mechanismen der Aktualgenese angewiesen ist, wenn er sie verstehen will, verfügt er über angesammelte Erfahrungen zur Festigkeit dieser Wortverbindungen und damit über die Voraussetzungen für die Weitergabe dieser Erfahrungen, indem er die Wortverbindung selber braucht, und so dazu beiträgt, daß sie weiterhin gebräuchlich bleibt. Es gibt in einer Sprachgemeinschaft Wortverbindungen, die für die meisten oder sehr

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viele Sprachteilnehmer fest sind, und zwar sowohl sprachlich als auch psycholinguistisch, aber nur, weil sie beides sind. Sie sind sprachlich (statistisch) fest, weil sie psycholinguistisch fest sind, und deshalb immer wieder in der Konstellation gebraucht werden und umgekehrt. Solche Wortverbindungen sind heutzutage Filmtitel, Titel von Fernsehsendungen, Werbesprüche u. ä. mehr. Um die Jahrhundertwende waren es - wenn man davon ausgeht, daß die Auswahl in Büchmann repräsentativ ist — in den meisten Fällen literarische Wortverbindungen. Wie schnell sich diese Festigkeit, die auf sprachlicher Gebräuchlichkeit und einem psycholinguistischen Korrelat beruht, ändern kann, zeigen die verschiedenen Reaktionen von einer Studenten- und einer Lehrergruppe, die im Alter ca. 15 Jahre auseinander liegen. (Vgl. 2.5.1.3.) 5.3.2.9. Die Häufigkeit der Phraseologismen im Gebrauch Eine der allgemeinsten Erfahrungen, die diejenigen machen, die Phraseologismen in Alltagstexten untersuchen wollen, ist diejenige, daß Phraseologismen dort selten gebraucht werden. Dies ist mit ein Grund für die weitverbreitete Meinung, daß Phraseologismen für den Sprecher etwas Schwieriges sein müßten. Diese Auffassung wirkt sich vor allem im Zusammenhang mit den Beschreibungen des Phraseologismenerwerbs insofern aus, als man den Kindern lange Zeit nicht zutraut, Phraseologismen erwerben zu können. Von der psycholinguistischen Betrachtung des Gebrauchs her lassen sich keine Gründe finden dafür, daß Phraseologismen für den Sprecher schwierig sind, außer vielleicht der Vermutung, daß sie im Vergleich zu einem Wort schwieriger zu finden sind im Gedächtnis (vgl. dazu 5.2.). Die Tatsache, daß Phraseologismen in der Aktualgenese vielfach mit allgemeineren als nur phraseologischen Mechanismen angegangen werden, läßt darauf schließen, daß sie im Gegenteil stark in die übrige allgemeine Sprachproduktion einbezogen sind und sich nicht davon abheben. Die Gründe für den eher seltenen Gebrauch aller anderen als gesprächsspezifischen Phraseolo-

212

Psycholinguistik

gismen in der Alltagssprache müssen wohl eher an einem anderen Ort gesucht werden. Wie häufig Phraseologismen gebraucht werden und welche Phraseologismen gebraucht werden, das hängt mit der Textsorte zusammen (vgl. dazu 4.2.5.). Dieselben Sprecher, die für die eine Textsorte sehr wenig beispielsweise idiomatische Phraseologismen brauchen, verwenden in einer anderen Textsorte ausgesprochen viele, so dal? die Häufigkeit des Gebrauchs nicht in erster Linie mit ihrer grundsätzlichen „Schwierigkeit" zusammen hängen kann.

5.4. Verstehen von Phraseologismen Wie versteht man Phraseologismen? An der Merkmalsemantik orientierte Auffassungen über das Verstehen von Sprache allgemein und von Phraseologismen im besonderen gehen davon aus, daß Verstehen Kombinieren von semantischen Merkmalen heißt. Unter diesen Umständen versteht man freie Wortverbindungen problemlos, indem man die semantischen Merkmale ihrer Wortbestandteile addiert. Metaphern und metaphorisch motivierte feste Wortverbindungen versteht man, indem man zunächst einmal wörtlich versteht, dann feststellt, daß es so nicht gemeint sein kann und schließlich in einem Transferprozeß auf die gemeinte metaphorische Bedeutung kommt. Die übrigen phraseologischen Wortverbindungen versteht man, indem man ebenfalls zunächst die Merkmale der einzelnen Wörter aktiviert und addiert und ebenfalls feststellt, daß dies keinen Sinn ergibt. In einem dritten Schritt aktiviert man hierfür eine gelernte gesamtheitliche Bedeutung. Vor allem diese letzteren nicht metaphorisch motivierten Wortverbindungen erscheinen so als die Verstehens-Anomalien, als die sie in Untersuchungen wie denen von Katz/Fodor oder Weinreich beschrieben werden. An genau diesen Anomalie-Beispielen entwickelt Hörmann 1978 eine andere, psycho-

linguistisch begründete Auffassung vom Verstehen von phraseologischen Wortverbindungen im speziellen und Sprache im allgemeinen: Hörmann geht davon aus, daß „es sich beim Verstehen nicht bloß um ein analysierendes oder interpretierendes Bearbeiten des Input, sondern um ein Konstruieren auf der Basis des Input handelt." (S. 465). Das Verstehen von Wörtern bzw. das von Texten zeigt demnach den Einfluß jener beim Input sich ergebenden Konstruktionen aus dem Kontext bzw. aus der durch den Gesamt-Input aktivierten jeweils relevanten Weltkenntnis des Hörers. (S. 466). Hörmann geht davon aus, daß der Mensch die Tendenz habe, gehörte Sätze in jedem Fall mit Sinn zu füllen (vgl. dazu auch 6.1.2.): „Wenn wir die Verhältnisse in dieser Weise sehen, so müssen wir freilich konsequenterweise noch einen Schritt weiter gehen: wir benötigen eine „Instanz", welche darüber entscheidet, ob im gegebenen Fall zusätzliche Informationen einbezogen oder auch überhaupt erst nach ihr gesucht werden soll. Eine Instanz, die auch die Entscheidung fällen kann „jetzt ist die semantische Beschreibung der Sachlage „klar" oder verständlich „genug", so daß weder im Kontext der Wahrnehmung noch im Kontext meines Wissens nach weiteren PräzisierungsInformationen gesucht zu werden braucht." Die Instanz, die dafür zuständig ist, nennt Hörmann „Sinnkonstanz". (S. 477) „SinnvollSein", „Verständlich-Sein" sind in uns in allgemeiner Form vorgegebene dynamische Schwerpunkte, auf welche zu die in den erwähnten Versuchen ablaufende Integration konvergiert." (S. 477) Ein Beispiel für die Unterschiede der Beschreibung, die sich daraus ergeben: „die gängigen linguistischen Theorien gehen ja alle von invarianten semantischen Eigenschaften des Wortes aus (ob sie diese nun Markers oder Features oder implizite assoziative Responses oder auch Vorstellungen nennen). Diese Invarianz paßt zwar zur entsprechenden Dimensionalität eines dazu konzipierten Lexikons, wird aber der semantischen Flexibilität nicht gerecht, die sich beispielsweise an der verschiedenen Auffassung des Wortes Klavier zeigt, wenn man die Sätze hört:

Verstehen

der Mann

hob zerschlug stimmte fotografierte

das Klavier

Der erste Satz spricht durch sein Verb das Klavier als etwas Schweres, der zweite als etwas Hölzernes, der dritte als etwas Tönendes, der vierte als eine bestimmte Form an, d. h. jeder Satz aktiviert ein anderes Feature von den vielen, die „Klavier" kennzeichnen. Das heißt: das gehörte Wort „Klavier" spricht nicht als Ganzes ein begriffliches Pendant im Lexikon des Hörers an, sondern je nach dem Kontext, in welchem das Wort auftritt, wird ein anderes der dieses Wort kennzeichnenden Features aktiviert." (S. 467).

Während — nach H ö r m a n n — in den bisherigen Beschreibungs-Modellen das Sinnhaft-Sein eines Satzes sich aus der Analyse dieses Satzes ergibt (oder auch nicht ergibt, wenn ζ. B. eine Anomalie vorliegt), postuliert er, d a ß SinnhaftSein ein vorgegebenes Kriterium ist, dem zu genügen die Analyse des Satzes sich „bemüh e n " muß. (S. 193) „Wenn der Satz George is on the wagon sozusagen als ganzer schon sinnvoll verstanden werden kann (in etwa dem Sinn „George ist derzeit Abstinenzler"), so wird er nicht weiter in andere, kleinere Einheiten analysiert. Die Notwendigkeit, ζ. B. Features von „wagon" zu aktivieren (und dann eventuell durch i'ine zusätzliche „Idiom-Kompetenz" wieder streiclirn zu lassen), ergibt sich gar nicht erst. Je nach dem Sinnbezug, in welchen der Hörer den Satz hineinstellt — was eine aktive Leistung des Hörers ist und sich nicht von selbst ergibt - muß er die syntaktische und semantische Analyse weiter vorantreiben oder nicht. In der arme Ludwig hat ins Gras beißen müssen ist vom Sterben die Rede — aber darauf kann der Hörer nur kommen, wenn er sein Wörter- oder Morphem-Lexikon nicht verwendet, d. h. wenn er „Gras" und „beißen" nicht als selbständige Einheiten anerkennt. Das heißt aber wieder, daß er einen Entscheidungsspielraum zwischen Anerkennung und Nicht-Anerkennung haben muß. Die Entscheidung wird unter einem Sinnhorizont getroffen, der der Analyse (oder Nicht-Analyse) in kleinere Einheiten vorgeordnet ist. Um die sprachliche Analyse „richtig" vornehmen zu können, muß der Hörer also sprach-relevante Entscheidungen aus nichtsprachlichen Gründen heraus treffen. Zugespitzt können wir formulieren: man kann Sprache nur verstehen, wenn man mehr als Sprache versteht." (S. 210)

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Soweit zu allgemeinen psycholinguistisch fundierten Verstehensprinzipien. Wie kann man sich demnach das konkrete Verstehen einzelner Wörter und Sätze vorstellen? Bock 1978 hat verschiedenste Untersuchungen zur Verarbeitung von Wörtern, Sätzen und Texten miteinander verglichen und aus den Ergebnissen auf eine Gesetzmäßigkeit der sprachlichen Informationsverarbeitung geschlossen. Er ist der Auffassung, d a ß das Grundprinzip dieser Informationsverarbeitung ein Organisationsvorgang sei, für den er den Begriff der Recodierung aufnimmt: Im Verlauf dieses Organisationsvorganges werden Einzelinformationen, die sich nach bestimmten Gesichtspunkten zusammenfassen lassen, um einen Organisationskern gruppiert und zu umfassenden Gedächtniseinheiten integriert. (Bock 1978, S. 10f.). Buchstaben oder Laute werden zu Wörtern integriert, die im Langzeitgedächtnis repräsentiert sind (S. 10), und Wörter werden zu größeren Gedächtniseinheiten recodiert. Welche Wörter eines Satzes zu einer Gedächtniseinheit recodiert werden, das ist durch die semantischen Relationen bestimmt, die eine Versuchsperson zwischen den einzelnen Wörtern herstellt. (Bock 1978, S. 36). Erkennen kann man solche Gedächtniseinheiten daran, daß entweder alle Einzelinformationen reproduziert werden können ocler gar keine (S. 12). „Die Recodierung von Sätzen scheint nicht grundsätzlich anders zu verlaufen, als die Recodierung von ähnlichen oder unverbundenen Wörtern. Auch hierbei erfolgt die Recodierung mit Hilfe eines Satzteils, dessen Funktion als Organisationskern daran sichtbar wird, d a ß er besser behalten wird und eine bessere Retrieval-Hilfe darstellt als andere Satzteile. Darüber hinaus ist festzustellen, d a ß diese Funktion nicht vom Verb übernommen wird, wie es propositionstheoretische Ansätze erwarten lassen. Weniger eindeutig ist dagegen die Frage zu beantworten, o b diese Funktion eher vom grammatischen oder eher vom logischen Subjekt übernommen wird, wenn beide Funktionen durch verschiedene N o m e n repräsentiert werden." (S. 43). Einen von Bock angesprochenen propositionstheoretischen Ansatz vertritt beispiels-

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Psycholinguistik

weise Engelkamp 1974. Er beschreibt die Satzbedeutung als Spezifikation der Verbbedeutung: „Die Bestimmungen über den Ausschluß von bestimmten Merkmalsdimensionen und über bestimmte Merkmalsausprägungen, die ein konkretes Argument enthält oder enthalten kann, sind von der Kenntnis des Verbums her vorhersagbar. In diesem Sinne impliziert das Verbum die Argumente und kann als implizierende Sequenz bezeichnet werden. Anderseits enthält das Verbum unspezifizierte Informationen über die Argumente, indem es dem Hörer sagt, daß eine bestimmte Dimension relevant sein kann oder auch nicht und darüber, daß bestimmte Merkmalsausprägungen möglich sind, ohne jedoch zwischen ihnen zu entscheiden. Diese Informationen liefert erst das jeweils konkrete Argument (. . .). Die konkreten Argumente spezifizieren in diesen Fällen die im Verbum über die Argumente implizierten Informationen. Insofern sprechen wir davon, daß das Verb durch die Argumente modifiziert wird und bezeichnen das Verb als die modifizierte und die Argumente als die modifizierenden Sequenzen." (S. 105). Aus den Ergebnissen der oben angesprochenen Untersuchungen scheint sich also schließen zu lassen, daß die Elemente einer Äußerung im Verstehensprozeß miteinander verzahnt werden, aber die Gesetzmäßigkeiten der Verarbeitung und die Hierarchie, die dabei befolgt wird (welches Element wird zum Retrieval?), sind nicht klar angebbar und hängen vermutlich auch von verschiedenen Umständen ab. Was bedeutet das nun für das Verstehen von Phraseologismen? Die Situation des Phraseologismenverstehens ist einerseits nicht analog zur Situation des Recodierens von Buchstaben zu einem Wort: zwar gilt die Tatsache, daß es der Versuchsperson beim Recodieren von Buchstaben zu Wörtern gelingt, diese durch eine Bedeutungseinheit zu ersetzen, analog auch für das Recodieren von Phraseologismen, aber bei Phraseologismen haben — im Unterschied zu den Wörtern — schon die Teile eine Bedeutung. Auf der anderen Seite kann Verstehen von Phraseologismen auch nicht grundsätzlich mit dem Verstehen von freien

Wortverbindungen zusammenfallen, weil die grammatischen, logischen und semantischen Verhältnisse phraseologischer Wortverbindungen sich von denen freier Wortverbindungen unterscheiden. Um etwas dazu sagen zu können, welche Elemente bei Phraseologismen allenfalls als Retrieval dienen würden, wären umfassende empirische Untersuchungen nötig. Dazu kommt, daß auch wahrscheinlichkeitstheoretische Phänomene gerade beim Behalten und Zurückrufen von ganzen Äußerungen eine große Rolle spielen können. Sobald eine Wortverbindung eine probabilistische Einheit bildet, eignen sich mehrere oder unter Umständen alle Elemente als Retrieval-Elemente. Zum dritten hat sich aber bei der Produktion von phraseologischen Wortverbindungen gezeigt, daß dafür in der Aktualgenese oft kein Unterschied gemacht wird zwischen freien und phraseologischen Wortverbindungen, obwohl das Ergebnis durch die Festigkeit des Gedächtniseintrags mitbeeinflußt werden kann. Wenn sich die Äußerung von phraseologischen Wortverbindungen aber nicht notwendigerweise von der freier Wortverbindungen unterscheiden muß, wird das wohl auf der Verstehensseite auch nicht viel anders sein. Wenn man all das berücksichtigt, ergeben sich zwei tendenzielle Möglichkeiten phraseologischen Verstehens, die sich nicht ausschließen und deren Realisierung von verschiedenen Umständen abhängt, wie einmal von der zu verstehenden phraseologischen Wortverbindung, dann von den individuellen Erfahrungen, die der Hörer bisher mit dieser Wortverbindung gemacht hat, weiter vom Kontext und von der Situation des zu verstehenden phraseologischen Gebrauchs. Die eine dieser Möglichkeiten besteht in der Zuhilfenahme von Gelerntem, die andere Möglichkeit besteht in momentanen Überlegungen. Hörmann beschreibt das Verstehen von Phraseologismen auf dem Hintergrund der Sinnkonstanz, indem er sagt: „Wenn der Satz „George is on the wagon" sozusagen als ganzer schon sinnvoll verstanden werden kann (in etwa dem Sinn „George ist derzeit Abstinenzler"), so wird er nicht weiter in andere, kleinere Einheiten analysiert" und in bezug

Verstehen

auf ein anderes Beispiel: „In „der arme Ludwig hat ins Gras beißen müssen" ist vom Sterben die Rede — aber darauf kann der Hörer nur kommen, wenn er sein Wörter- oder Morphem-Lexikon nicht verwendet". (S. 210). Vorausgesetzt wird dabei, daß der Hörer weiß, daß „to be on the wagon" „abstinent sein" heißt und daß „ins Gras beißen" „sterben" bedeutet. Das muß der Hörer gelernt haben aufgrund früherer Erfahrungen mit diesen Wortverbindungen. Unter diesen Umständen muß die phraseologische Bedeutung nicht zu einer Einheit recodiert werden, weil es schon gar nicht soweit kommt, daß sie bis auf die Wortebene hinab analysiert wird. Dies gilt zumindest für das bloße Verständnis der phraseologischen Bedeutung, es schließt nicht aus, daß die Analyse trotzdem und gleichzeitig bis auf die Wortebene hinab fortgesetzt wird. Anders liegen die Verhältnisse, wenn der Hörer die Wortverbindung nicht gelernt hat oder aus irgendwelchen Gründen nicht auf dieses Gelernte zurückgreift, sondern die phraseologische Wortverbindung in momentane Verstehensüberlegungen einbezieht und die üblichen aktuellen Verstehensmechanismen darauf anwendet. Ein Spezialfall aktueller Verstehensmechanismen ist das Verstehen eines Wortes als Metapher, analog dazu wäre das Verstehen einer phraseologischen Wortverbindung als metaphorisch-motivierter Wortverbindung. Soweit es sich dabei nicht um eine gelernte konventionelle Metapher handelt und sie deshalb in der speziellen einzelnen Verwendung metaphorisch verstanden werden muß, beschreibt Hörmann diesen Verstehensvorgang psychologisch etwa so: „Die Metapher ist eine Sprachfigur, die durch erstes, semantisches Nichtpassen ein Zögern im Sprachbenutzer verursacht, den Verstehensvorgang in ihm bewußt macht und ihn durch Einbeziehung einer ungewohnten Denkperspektive seiner kommunikativen Aufgaben besonders gerecht werden läßt." (Nach Engelkamp 1974, S. 100). Zum Verstehen von Metaphern brauchte es demnach unter diesen Umständen zusätzliche kombinatorische und abstrahierende Verstehensanstrengungen. Diese Verstehensauffas-

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sung unterscheidet sich nur darin von einer merkmalsemantisch orientierten Auffassung, daß im metaphorischen Verstehen unter der Perspektive eines Sinnhorizonts nichts Anomales liegt. Auch metaphorisch motivierte Phraseologismen können ad hoc auf diese Weise verstanden werden. Die Möglichkeiten des aktualgenetischen Verstehens auch von Phraseologismen sind aber damit nicht ausgeschöpft: Im stützenden individuellen Kontext und ohne Anspruch auf allgemeine Bedeutung können Phraseologismen auch „mehr oder weniger wörtlich" und sogar ohne starke Beachtung der lexikalischen Besetzung verstanden werden, wie an den Beispielen aus der Schülerphraseologie weiter unten noch gezeigt werden wird. Darin kommt die erwachsenensprachliche Weiterführung des kindersprachlich-synkretistischen Verstehens von Phraseologismen zum Ausdruck. (Vgl. 5.4.3.) Sowohl das kindersprachliche wie das erwachsenensprachliche Verstehen aufgrund einzelner phraseologischer Teile und mit Hilfe des Kontexts und der Situation, das damit auch in phraseologischen Fällen nicht notwendigerweise auf Lern-Erfahrungen angewiesen ist, darf deswegen nicht als Ausdruck irgendeines Verstehensdefizits angesehen werden: es zeugt für eine positive allgemeine Verstehensfähigkeit, die auch Phraseologismen integrieren kann. Es wäre illusorisch anzunehmen, daß Äußerungen, die doch vor allem hinsichtlich ihrer Funktion und in bezug auf ihren Aussagegehalt hin verstanden werden wollen, in einem ersten Schritt nach strukturellen Kriterien auf Phraseologismen hin abgesucht werden, und diese Phraseologismen dann als erstes einmal aus den allgemeinen normalen Verstehensbemühungen ausgenommen werden. Der durchschnittliche Sprecher/Hörer unterscheidet nicht grundsätzlich aufgrund genau festgelegter Kriterien streng zwischen sinnvollen, weil in jeder normativen Hinsicht richtigen Wortverbindungen und solchen, die in irgendeiner Hinsicht auffällig sind, und deshalb zunächst einmal mit spitzen Fingern zur weiteren Bearbeitung ausgesondert werden. Davon legen die oben (vgl. 5.2.) angesproche-

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Psycholinguistik

nen Untersuchungsergebnisse zum Behalten von Annäherungen verschiedener Ordnung an Sprache Zeugnis ab, die zeigen, daß die psycholinguistischen Verstehensmechanismen keiner strengen Dichotomie zwischen sinnlosen und sinnvollen Sätzen folgen: „Besonders auffallend ist, daß von etwa der 5. Ordnung an kein Unterschied im Behalten mehr gefunden wird, auch nicht gegenüber echtem Text. Streng genommen sind ja alle Annäherungsstufen sinnlos, aber das Gedächtnis funktioniert jedenfalls nicht nach dieser Dichotomie der Philosophen; eine Passage 5. oder 6. Annäherungsordnung wird ebensogut behalten wie echter Text. Die in diesem psychologischen Zusammenhang relevante Unterscheidung ist also nicht eine scharfe Trennung sinnlos/sinnvoll, sondern die Unterscheidung von Material, bei dem früher Gelerntes sich auswirken kann, und Material, bei. welchem früher Gelerntes sich weniger auswirken kann. Das früher Gelernte ist die Strukturiertheit der Sprache." (Hörmann 1970, S. 108 f.). Mit anderen Worten: es reicht aus, daß sich gewisse Sprachstrukturprinzipien im Text wiederfinden lassen, um einen Text psychologisch als sinnvoll zu empfinden. Phraseologismen entsprechen in viel mehr Aspekten den freien Wortverbindungen als sie sich von ihnen unterscheiden: ein semantisches, lexikalisches oder syntaktisches Detail, das sich erst bei genauem Studium mit Hilfe von Grammatiken und Wörterbüchern als unregelmäßig entpuppt, ist demgegenüber offenbar unerheblich. Abschließend wäre also festzuhalten, daß es nicht zwei völlig verschiedene Verstehensverfahren sind, mit denen freie Wortverbindungen einerseits und phraseologische Wortverbindungen anderseits verstanden werden; die Unterschiede bestehen eher in aktualgenetischen Bemühungen um Bedeutung und Sinn einer Wortverbindung und dem Rückgriff auf gelernte Zuordnungen von Äußerungen und Bedeutung oder Funktion, die aber sowohl freie wie phraseologische Wortverbindungen betreffen können. Einen Spezialfall von aktualgenetischen Verstehensversuchen stellen im Vergleich zu anderen Verstehensmechanismen stärker kontrollierte und rekonstruierbare

Verstehensweisen wie Abstraktion und Uberträgung dar, die von Erwachsenen im Unterschied zu Kindern zum Verstehen von Phraseologismen beigezogen werden können. Im Einzelfall des Verstehens einer phraseologischen Wortverbindung ist es eine Frage des Sinnhorizonts, der Situation des Kontexts und des individuellen sprachlichen Gedächtnisses, auf welche Weise, wie schnell und ausschließlich es zum Verstehen der phraseologischen Bedeutung kommt.

5.4.1. Das Verstehen von abgewandelten (oder verkürzten) Phraseologismen Der Assoziationstest, der in 2.5.1.3. näher besprochen wurde, hat gezeigt, daß die Reaktionen auf Werbespielereien wie Es darf gesüßt werden (Assugrin) Manche mögen's weiß (Quark-Rezepte) individuell sind. Die Versuchspersonen haben unterschiedliche individuelle Vorstellungen davon, ob eine realisierte Äußerung eine Abwandlung einer phraseologischen Wortverbindung darstellt und auch die Vorstellung davon, was abgewandelt worden ist, wie das Original lautet, ist von Versuchsperson zu Versuchsperson verschieden. Ob eine Versuchsperson das Gefühl hat, eine Wortverbindung stelle eine Abwandlung einer anderen dar, hängt meistens davon ab, ob sie die ihrer Meinung nach abgewandelte Wortverbindung als Einheit, und zwar meistens als probabilistische Einheit gespeichert hat, so daß die Übergangswahrscheinlichkeiten zwischen den einzelnen Elementen der Wortverbindung auch im Sprachgedächtnis des einzelnen Sprechers/ Hörers besonders hoch sind. Die Ergänzung einer abgewandelten oder bruchstückhaften festen Einheit zum gespeicherten Original hat wenig mit der Bedeutung der Wortverbindung oder mit dem Kontext zu tun, sondern stellt einen tendenziell mehrheitlich unbewußten, nicht zielgerichteten Vorgang dar. Wer den Spruch Ach wie gut, daß niemand weiß, daß ich Rumpelstilzchen heiß kennt und in seinem Gedächtnis als Einheit repräsentiert hat, wird den Buchtitel von Ga-

Verstehen

briele Wohmann mehr oder weniger automatisch daraufhin ergänzen: er lautet bloß Ach wie gut, daß niemand weiß. Ohne daß der Hörer weiß, worauf der Titel sich bezieht, was er bedeutet, ergänzt er ihn zur ganzen Einheit oder ordnet ihn mindestens als Teilstück dieser Einheit zu. Ohne daß dies über die Bedeutung laufen müßte, kann es aus rein formalen Gründen stören, wenn der Hörer sich selber oder einem anderen Sprecher zuhört, der die psycholinguistische Einheit aus irgendwelchen Gründen nicht richtig realisiert. Im folgenden Beispiel hat wohl die Tatsache, daß der Moderator mehr oder weniger braucht, damit zu tun, daß er es unmittelbar vorher falsch gehört hat und es ihn wohl eher unbewußt so gestört hat, daß er die Wortverbindung im stillen richtig ergänzt hat, und sie nun für seine Äußerung zur Verfügung hat. Notwendig ist die Wortverbindung an dieser Stelle nicht, in der Einleitung hat sie der Moderator auch nicht gebraucht: Zu Beginn weist der Moderator auf einen Bericht hin mit: Di eidgenössisch Ernäärigskommission läit ire Tätigkeitspricht vor, e trochni, aber nid unintressanti Materie.

Unmittelbar bevor dieser Bericht gesendet wird, beendet ein Pressesprecher der Stadtpolizei seine Ausführungen: (. . .) sicher het s immer chlineri oder meer

und

wenig größeri Droogehändler.

Unmittelbar anschließend leitet der Moderator den neuen Bericht ein: Jaarespricht, mini Dame und Here, sind meer oder weniger e trochni Aaglägeheit. (Von Tag zu Tag, 10. 8. 78)

Auch zum Scherz abgekürzte und veränderte Wortverbindungen ist man als Hörer geneigt zu rekonstruieren, wenn man sie als Einheit gespeichert hat und die vielfach fast unwillkürliche Rekonstruktionsarbeit nicht von wichtigeren Faktoren überlagert wird: Wenn jemand beispielsweise mit angrenzender Sicherheit in seine Äußerungen einflicht, wird man, so man diese Wortverbindung als Einheit ausgebildet hat, zu mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ergänzen.

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Beim Verstehen freier Wortverbindungen findet ein Recodierprozeß statt, über dessen Regelhaftigkeit die Meinungen auseinandergehen, von dem man aber annehmen kann, daß er durch textsemantische und textgrammatische Faktoren gesteuert wird. Die Auffassung, wonach die Satzbedeutung als Spezifikation der Verbbedeutung angesehen werden kann, ist einer von verschiedenen vorstellbaren Recodierprozessen. Das Behalten und Abrufen schließt in den Fällen freier Wortverbindungen bezüglich Speicherung und Retrieval Cue an die Resultate der Recodierprozesse an. Bei Wortverbindungen, die psycholinguistisch als Einheiten repräsentiert sind, kommen zu den textsemantischen und textgrammatischen Faktoren formale Eigenschaften hinzu, die die Verarbeitung, Speicherung und den Abruf der Wortverbindungen mitbestimmen. Während es bei freien Wortverbindungen grammatische und semantische Bedingungen sind, die darüber bestimmen, welche Elemente von Wortverbindungen als Bruchstücke geäußert, auf die ganze Wortverbindung hin verstanden werden und in welcher Weise über das Bruchstück hinaus verstanden wird, tritt bei Wortverbindungen, die beispielsweise als probabilistische Einheiten gespeichert sind, der Aspekt der wahrscheinlichkeitsmäßigen Zusammengehörigkeit in den Vordergrund. Unter diesen Umständen sind es vor allem Gesichtspunkte der wahrscheinlichkeitsmäßigen Verbundenheit eines Elementes mit den übrigen Elementen der Wortverbindung, die seine Verstehbarkeit als Bruchstück einer ganzen Wortverbindung bestimmen. Wenn der Hörer eine Wortverbindung als wahrscheinlichkeitsmäßig zusammengehörig gespeichert hat, wird er je nach Situation, Kontext und inhaltlicher Konzentration mehr oder weniger dazu neigen, gehörte Teile aus solchen Wortverbindungen zur ganzen Wortverbindung zu ergänzen. Dieser Vorgang erfolgt mehr oder weniger automatisch und vor dem Einbezug inhaltlicher Kriterien. Wenn Kinder Fernsehwerbesprüche zu probabilistischen Einheiten ausbilden, so hat dies in erster Linie einen formalen Aspekt und der Inhalt dieser wahrscheinlichkeitsmäßig zusammenhängenden

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Wortverbindungen bleibt zweitrangig und wird auch in Abwandlungen und Veränderungen nicht unbedingt eingebracht, wie die Analyse von abgewandelten phraseologischen Wortverbindungen in 2.5.1.3. zeigt, wo auch mit Abwandlungen phraseologischer Wortverbindungen negativen Inhalts Werbung gemacht wird und man offensichtlich darauf vertraut, daß der Rezipient die Festigkeit wahrnimmt, die Abwandlung also auf eine psycholinguistische Einheit beziehen kann, ohne deren Inhalt zu aktivieren.

5.4.2. D a s Verstehen von Phraseologismen, die bildlich vorstellbare Teile enthalten Bisherige Untersuchungen zum Verstehen zeigen, daß nicht alles sprachliche Material vom Hörer in derselben Weise verarbeitet wird. Hoffmann, Klix 1979 (S. 198) gehen davon aus, „ d a ß es neben der merkmalsspezifischlogischen Repräsentation von Begriffen eine ganzheitlich-anschauliche Informationsspeicherung im Gedächtnis gibt." Sie nehmen darüber hinaus an, „ d a ß zwischen diesen beiden Repräsentationsformen Wechselwirkungen stattfinden, denen im Prozeß des Bedeutungsverstehens eine fundamentale Rolle zukommt." Ausgehend von der Analyse zahlreicher Untersuchungen zur Repräsentation sprachlich gebotener Informationen unterscheiden Hoffmann, Klix 1979 zwischen drei Repräsentationsformen: „Eine verbal-sprachliche Repräsentation speichert die graphemischen und phonemischen Charakteristiken sprachlicher Reize. Sie dient der Identifikation sprachlicher Reize bei veränderter individueller Merkmalscharakteristik, erschließt aber nicht deren Bedeutung. Eine bildlich-anschauliche Repräsentation speichert die sensorischen Wirkungen von sprachlich bezeichneten Ausschnitten der objektiven Realität. Sie dient der Erzeugung von erlebten und möglichen Reizeinwirkungen aus dem Gedächtnis. Und schließlich speichert eine begrifflich-logische Repräsentation sprachlich gebundene Klassen von Objekten und Ereignissen in ihrer begriffsspezifischen Merkmalsstruktur. Diese Repräsentationsform fi-

xiert eine begriffliche Ordnung der Realität anhand der Merkmalscharakteristiken von zu unterscheidenden Objekt- und Ereignisklassen. In der Zuordnung sprachlicher Reize zur bildlich-anschaulichen oder begrifflich-logischen Repräsentation der bezeichneten Ausschnitte der objektiven Realität liegen, so wurde angenommen, zwei mögliche Wege für die Bedeutungserkennung sprachlicher Aussagen." (S. 259). Bock 1978 (S. 26) nennt die sehr effektive Behaltensstrategie, die darin besteht, sich die durch die Wörter bezeichneten Sachverhalte visuell vorzustellen, „Imagery-Strategie". Hörmann spricht die Auffassung als „DualCoding-Hypothesis" an, wonach man „zwei verschiedene Bearbeitungsphasen eines sprachlichen Inputs annehmen" müsse: „eine, in welcher die Features aktiviert und damit für die auf ihnen aufbauende Art der Bedeutungserfassung zugänglich gemacht werden, und eine andere, in welcher die Vorstellung sich bildet ( . . . ) . " (1978, S. 463). Es gibt keinen Grund, anzunehmen, daß die Verstehensstrategie, sich unter den Wörtern, die sich bildlich vorstellen lassen, etwas vorzustellen, wobei die Vorstellbarkeit von Wörtern durchaus individuell sein kann, vor Phraseologismen haltmacht. Die Tatsache, daß man sich Teile einer Wortverbindung oder die ganze Wortverbindung vorstellt, auch wenn sich von der Vorstellung her kein Zugang zur Gesamtbedeutung ergibt, erklärt einige Befunde im Zusammenhang mit dem Gebrauch von Phraseologismen. Die bildliche Vorstellung eines Teils einer phraseologischen Wortverbindung bietet einen weiteren Ansatz für das Aufbrechen von sprachlich gesehen festen Wortverbindungen. Sie erklärt Erscheinungen in der Produktion, die dadurch beschrieben werden können, daß die bildliche Vorstellung von Teilen des Phraseologismus auch in der Umgebung der phraseologischen Wortverbindung anwesend ist. Zudem hängt mit dieser Verstehensstrategie vermutlich auch der Eindruck starker Motiviertheit und Bildhaftigkeit von Phraseologismen zusammen. (Vgl. Burger 1973, S. 27) Auf diesem Hintergrund läßt sich begründen, warum der subjektive Eindruck der Moti-

Verstehen

viertheit und die individuelle Motivierung von Phraseologismen in den meisten Fällen alles andere als mit der sprachhistorisch richtigen Motivierung übereinstimmt und w a r u m diese subjektive Motivierung auch nicht auf der wörtlichen Bedeutung aufbaut. Die subjektive Motivierung ist in den meisten Fällen kein Produkt schlüssiger historischer Überlegungen und auch nicht das Resultat der Summierung von Einzelwortbedeutungen nach den Gesetzen logisch-begrifflichen Denkens, sie ist stattdessen u. a. das Ergebnis von Imagery-Verstehensstrategien, die auch beim Verstehen von Phraseologismen offenbar eine positive verstehensstabilisierende Funktion haben und gerade nicht verwirrend wirken, indem sie dem Hörer zusätzlich zum Verstehen der phraseologischen Bedeutung das Gefühl einer plausiblen vorstellbaren Äußerung geben. Werbungen wie die folgende, die den ganzen ausführlichen Werbungstext mit der Vorstellung von Grün verknüpft, tun also nichts anderes als die mit großer Wahrscheinlichkeit sowieso auftretende Koppelung von Vorstellung und Textverstehen auszunützen: Grünes Licht für gute Bankgeschäfte Wofür brauchen Sie grünes Licht? Etwa für einen reibungslosen Zahlungsverkehr mit dem Ausland? Für einen kommerziellen Kredit? Oder für eine heikle Exportfinanzierung? Dann stellen Sie uns doch auf die Probe! Mit ihrem umfassenden Know-how sind unsere sorgfältig ausgebildeten Spezialisten in der Lage, Sie in allen Sparten des modernen Bankgeschäfts erstklassig zu beraten und zu bedienen. Damit sei gleichzeitig zum Ausdruck gebracht, was das freundliche Grün unserer Hausfarbe als ein angesehenes Markenzeichen in der Geschäftswelt zu bedeuten hat. Wußten Sie, daß Sie die Schweizerische Volksbank allein in der Schweiz nicht weniger als 140mal finden? Und auch in Luxemburg, in London und in Tokio. Ein weitgespanntes Korrespondentennetz ergänzt zudem die ausgezeichneten Beziehungen mit allen wichtigen Punkten der Welt. Es ist schon so: die richtige Bankverbindung ist ein wichtiges Mittel, um auf einen grünen Zweig zu kommen, anstatt in die roten Zahlen. Wie toär's wenn Sie jetzt Ihren Bankverkehr - oder zunächst einen Teil davon — auf Grün schalten?

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Freie Fahrt für Ihren Bankverkehr

Ein Teil des Titels (Grünes Licht) und das Signet der Bank sind zudem grün gedruckt. Ausgangspunkt für den Aufbau der Werbung ist die Hausfarbe „ g r ü n " , die in Titel und Signet visuell wahrgenommen wird. Im Text kommen diverse Redewendungen vor, die das Wort grün enthalten (grünes Licht, auf einen grünen Zweig kommen, auf Grün schalten), sowie Redewendungen, deren Bestandteile mit grün in einer semantischen Beziehung stehen (in die roten Zahlen kommen, Freie Fahrt). Damit wird eine maximale Verknüpfung von Sache (Bank mit Hausfarbe grün), visuell Wahrnehmbarem (grüner Druck in normalerweise schwarz gedruckter Zeitung) und sprachlichen Informationen erreicht, die die Tatsache ausnützt, daß man sich beim Verstehen ohnehin Vorstellungen bildet,' die im Normalfall (zwar nicht für den Hörer!) aber für die Zwecke der Werbung ungenutzt bleiben. Die Möglichkeit der aktualen visuellen Vorstellung von einzelnen Wörtern auch bei Phraseologismen, ist ein weiterer Hinweis darauf, d a ß phraseologische Wortverbindungen im jedesmaligen Verwendungsprozeß tendenziell aufgespalten werden, während sie durch Erfahrungs- und Lernprozesse tendenziell fest werden. Diese zwei Bewegungen heben sich nicht auf, sie betreffen verschiedene Aspekte von festen Wortverbindungen.

5.4.3. Zu verschiedenen Faktoren im Zusammenhang mit dem Verstehen von Phraseologismen Es sind verschiedene Faktoren, die das Verstehen von Phraseologismen beeinflussen. Der einzelne Verstehensakt stellt jeweils eine Mischung aus den Wirkungen dieser Faktoren dar, wobei in vielen Fällen e i n Verstehensfaktor ausschlaggebend sein wird. Eine Möglichkeit des Verstehens von Phraseologismen besteht darin, d a ß die phraseologische Bedeutung gelernt worden ist und als Lernresultat der phraseologischen Äußerung zugeordnet

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wird. Eine weitere Möglichkeit besteht in der Anwendung von aktualgenetischen sprachbezogenen Verstehensmechanismen: Darunter fallen Versuche, feste Wortverbindungen wörtlich, durch Abstraktion oder Metaphorisation zu verstehen. Daß diese zwei Verstehensmöglichkeiten nicht die einzigen Faktoren sind, die am Verstehen fester Wortverbindungen beteiligt sind, läßt sich besonders gut zeigen an Beispielen von Phraseologismen, die einerseits kaum — wie die übrige Sprache in langjährigen Lernprozessen — gelernt werden können, weil sie zum größten Teil in Schülergruppen aufkommen, eine Zeitlang Mode sind und dann wieder vergessen werden. Anderseits können diese Phraseologismen aber auch mit aktualgenetischen Verstehensmechanismen auf sprachlicher Basis kaum verstanden werden, weil sie kaum motivierbar sind und ihre lexikalische Besetzung keinerlei Regeln zu folgen scheint. Gemeint sind Redensarten in der Schülersprache: Auf diesem Gebiet existierten noch kaum Materialsammlungen. Eine Ausnahme bildet Dorothea Gruner (1977). Um auch neue Bildungen und Eintagsfliegen zu erfassen, wurde im Herbst 1976 eine Umfrage durchgeführt, deren Ziel die Schüler waren, eine Bevölkerungsgruppe, die Modeausdrücke besonders aktiv verwendet und auch selbst neu schöpft. Ein Rundschreiben mit der Bitte, neubeobachtete Ausdrücke mitzuteilen, ging daher an alle Volksschullehrer des Kantons Zürich. Die Sammlung, die daraufhin entstand, enthielt ca. 2000 Einheiten (650 Wortverbindungen), die teils neu, teils recht alt sind. Daraus läßt sich aber gerade ersehen, wie unterschiedlich die Lebensdauer umgangssprachlicher Wendungen sein kann. (Für eine ausführliche Darstellung vgl. 6.4.3.) Beispiele für solche Phraseologismen des Schülerslangs: Hesch ert Tilt im Chaschtef für ,dumm sein', ,nicht begreifen' / Gang go näschte!, um jemanden wegzuschicken / Heb di am Chopf und säg Fallobscht! zu jemandem, der etwas Absurdes erzählt und das endlich einsehen soll. Schmöcksch de Töff? Wotsch de Gongf sind Sprechakte der Drohung in

Frageform. Zwenig Huut am Rugge haa wird von den Schülern zuhanden Außenstehender übersetzt mit ,ein großer Maulheld sein'. Es ist symptomatisch für solche Phraseologismen, daß es schwierig ist, sie zu paraphrasieren, so daß die Versuche der Schüler oft sehr unbeholfen tönen wie beispielsweise im Falle von Zwenig Huut am Rugge haa, das mit ein großer Maulheld sein umschrieben wird. Dazu kommt, daß die Angaben zu denselben phraseologischen Wortverbindungen von Klasse zu Klasse oft leicht differieren, so daß angenommen werden muß, daß die Ausgestaltung und Festlegung der Bedeutung in Klassen- oder sonstigen Gruppen jedesmal wieder passiert. Daß Phraseologismen dieser Art von allen Beteiligten problemlos verstanden werden, obwohl sie kaum konventionalisiert und normiert sind und es schwierig ist, ihre Bedeutung anzugeben, hängt damit zusammen, daß sie eine klare Funktion haben: sie bewerten Verhalten und Beziehungen in einer vordergründigen emotionalen Art und Weise. Worauf sie sich beziehen, geht in den meisten Fällen aus dem außersprachlichen Kontext hervor. Wenn einer dauernd redet oder eine „dumme" Frage gestellt hat, ist dies für alle Beteiligten (einschließlich den dies bewertenden Sprecher) unmittelbar wahrnehmbar. Wie diese Phraseologismen gemeint sind, läßt sich dem Tonfall sowie Gestik und Mimik entnehmen, die ja bei der Äußerung von Einschätzungen und Bewertungen besonders expressiv sind. Soweit entspricht die Situation für den Erwerb dieser Phraseologismen der idealen Spracherwerbssituation für ein Kleinkind, das einmal anfangen muß, Sprache zu lernen (in einem Stadium, in dem es noch nicht nach Bedeutungen fragen kann), und dabei auf außersprachliche und paraverbale Indizien angewiesen ist, die völlig unabhängig von der Struktur dessen sind, was sprachlich zu lernen ist. Darin liegt ein weiterer Hinweis darauf, daß das Verstehen von Phraseologismen nicht aus dem Verstehen von anderen sprachlichen Einheiten heraus gegeben zu sein braucht, sondern auch noch im Jugend- und Erwachsenenalter auf dem „direkten" (nichtsprachlichen) Weg erfolgen kann.

Bewußtsein von Phraseologismen

Der Unterschied zum Verstehen des Kleinkinds liegt in bezug auf die hier besprochenen Schülerphraseologismen darin, daß ihre Struktur (die ζ. T. immer wieder gleich ist: ζ. B. nid alii X am Y haa), sowie ihre meist absurde lexikalische Besetzung den Sprachteilnehmern zusätzlich anzeigen, daß diese Wortverbindungen nicht wörtlich zu nehmen sind.

5.5. Bewußtsein von Phraseologismen Was weiß der durchschnittliche Sprachteilnehmer von Phraseologismen im allgemeinen und einzelnen Verwendungsweisen im besonderen? Für Kinder im Vorschulalter und für Schulkinder haben wir dazu eigene Untersuchungen gemacht, deren Ergebnisse im folgenden Kapitel referiert werden. Was die Erwachsenen betrifft, so kann man feststellen, daß sie Phraseologismen im Einzelfall oft gar nicht als solche erkennen; jedenfalls dann nicht, wenn sie von einer sprachlichstrukturellen Definition ausgehen und nach Wortverbindungen suchen, die diesem „Anforderungsprofil" entsprechen. Das deutet allgemein darauf hin, daß man sich als durchschnittlicher Sprecher/Hörer der phraseologischen Unregelmäßigkeit nicht zum vornherein für jeden konkreten Fall bewußt ist und sich dessen auch nicht in jedem Fall so schnell und problemlos bewußt werden kann. Ausdruck davon ist im einzelnen auch die Tatsache, daß „ungeschulte" Beobachter immer sehr viel mehr Phraseologismen als motiviert ansehen als im phraseologischen Sinn tatsächlich motiviert sind. (Vgl. 5.4.2.) Und dies, obwohl entsprechende Untersuchungen zeigen, daß Testsituationen (die Situation der Befragung als solche, dazu noch schriftliche Fassungen von Unterlagen oder Fragekatalogen) die Ergebnisse „zugunsten" generell strikterer, stärker normorientierter Auffassungen verfälschen: es werden dann Urteile provoziert, die von normativen Ansprüchen aller Art her gesteuert sind, und die erst aufgrund bewußter Sprachreflexion zum Vorschein kommen. (Vgl. dazu beispielsweise Burger 1979, S. 101 f.)

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All dies bedeutet keineswegs, daß man als Sprecher/Hörer Phraseologismen nicht wahrnimmt — wenn auch nicht unbedingt in ihren Eigenschaften als sich von anderen Wortverbindungen unterscheidenden phraseologischen Wortverbindungen. Das zeigen die Untersuchungen zu Phraseologismen als Indikatoren für Stil- und Texttypen, aus deren Ergebnissen ganz klar hervorgeht, daß Phraseologismen sowohl unbewußt als auch bewußt als Textsortenmerkmale wahrgenommen und beurteilt werden. Die Untersuchungsanordnung ist in 4.2.5.2. beschrieben. Die Versuchspersonen hatten die Aufgabe, eine Reihe von kurzen Test-Texten verschiedenen Textsorten wie „Nachrichten" oder „Kommentaren" zuzuordnen. Wichtig ist in unserem Zusammenhang, daß sie das einerseits aufgrund unbewußt-intuitiver Urteile tun sollten, indem sie die ihrem Gefühl nach richtige Zuordnung mit einem Kreuz versahen. Anderseits sollten sie versuchen, wenn möglich, anzugeben, was sie zu ihrer Zuordnung bewogen hatte, indem sie die ausschlaggebenden Textstellen unterstrichen. Letzteres galt uns als bewußtes Urteil. Interessant sind die bewußten Beurteilungen sowie das Verhältnis der bewußten Beurteilungen zu den unbewußten Zuordnungen. Unterstreichungen von Phraseologismen können nicht nur mehrdeutig sein wie die Unterstreichung einfacher Wörter. Phraseologismen können auch unterschiedlich vollständig unterstrichen sein, und zwar gibt es dabei folgende Möglichkeiten: Es werden entweder nur einzelne oder alle phraseologismenkonstituierenden Elemente angestrichen, die Phraseologismen werden mit oder ohne diejenigen Elemente angestrichen, die die Leerstellen einnehmen, und auch mit oder ohne adjektivische oder genitivische Ergänzungen. Zudem besteht auch die Möglichkeit, daß größere Einheiten unterstrichen werden, deren hauptsächlicher Bestandteil Phraseologismen sind. Wie immer Phraseologismen unterstrichen werden, man muß davon ausgehen, daß sie zunächst als Phraseologismen verstanden worden sind und auch als solche, also in derselben mehr oder minder festen Kombination von

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Psycholinguistik

den Versuchspersonen gebraucht werden würden. Da viele Phraseologismen semantisch unmotiviert sind und auch motivierbare Phraseologismen von der wörtlichen Bedeutung her nicht nur auf eben diese Weise verstanden werden können, müssen phraseologische Wortverbindungen auf der unbewußten Ebene der psycholinguistischen Mechanismen nicht nur, aber auch als Ganze, als Einheiten behandelt und beurteilt werden. Dies ist in Rechnung zu stellen, wenn es darum geht, die Unterstreichungen von Phraseologismen zu interpretieren. Etwa in der Hälfte der Fälle werden die beurteilten Phraseologismen als Ganze unterstrichen, und zwar meist ohne die sprachlichen Elemente, die die Leerstellen füllen, und meist auch ohne eingeschobene Adjektive und Genitivattribute. Mit dieser Art der Unterstreichung kommen die Versuchspersonen der phraseologischen Infinitiv- oder Normalform, wie sie im Wörterbuch aufgeführt ist, am nächsten. In diesen Fällen läßt sich die Unterstreichung wohl auch auf bewußtes Isolieren der phraseologischen Wortverbindung zurückführen; die Versuchspersonen analysieren den Text auf die grammatische und lexikalische Einheit des Phraseologismus hin. Für diese Unterstreichungen gilt damit zunächst, daß das Verstehen und Beurteilen auf der unbewußten Ebene mit der bewußten Beurteilung mittels Unterstreichung im Resultat übereinstimmt; darüberhinaus, daß die Versuchspersonen nicht nur unbewußt Phraseologismen beurteilen, sondern auch wissen, daß sie Phraseologismen beurteilen — was keineswegs selbstverständlich ist, wenn man bedenkt, daß ungeübte Sprecher/Hörer große Mühe haben, Phraseologismen zu erkennen und als Ganze zu isolieren. In etwa der Hälfte der Fälle sind die unterstrichenen Phraseologismen nicht vollständig angestrichen, oder es wird mehr als der Phraseologismus angestrichen. Wenn die Unterstreichung über die Grenzen des phraseologischen Ausdrucks hinausgeht, so kann dies bedeuten, daß die Kombination von phraseologischer Wortverbindung und unterstrichenen Kontextelementen beurteilt

wird und für die Zuordnung maßgebend ist. Für Item 4 dürfte die ganzheitliche Unterstreichung von Das Gewehr der Revolution stellten heute auch die Studenten der persischen Universitäten wieder in die Ecke bedeuten, daß die Kombination der festen Wortverbindung etwas in die Ecke stellen mit das Gewehr der Revolution beurteilt wird und nicht das Vorkommen von etwas in die Ecke stellen allein. Aus Gründen der grammatischen und inhaltlichen Vollständigkeit ist es weiterhin naheliegend, die durch den Phraseologismus eröffneten Leerstellen mitanzustreichen (vor allem Pronomina, Objekte, Attribute), wie im folgenden Beispiel das Genitivattribut: (.. .) auch wenn sie gelegentlich in das schon ziemlich verschlissene Mäntelchen des Eurokommunismus schlüpft (21). Wenn die Unterstreichung unter der Grenze der gesamten phraseologischen Wortverbindung bleibt, so kann dies verschiedene Gründe haben: Es kann mit der Wort- und Satzstellung zusammenhängen. Phraseologismen, deren Bestandteile alle beieinander stehen, haben die größere Chance, vollständig unterstrichen zu werden, als Phraseologismen, die durch andere Satzglieder auseinandergerissen werden. Daß in Item 63 häufig nur Brücke unterstrichen und das dazugehörige schlagen nicht beachtet wird, ist weiter nicht verwunderlich, da die phraseologische Wortverbindung auf zwei Sätze verteilt ist. Es heißt da nämlich: Eine Brücke zwischen den Sozialdemokraten und den Progressiven ist nach wie vor undenkbar. Falls trotzdem der Versuch gemacht würde, sie zu schlagen (•••). In ähnlicher Weise werden Phraseologismen vor allem in Zeitungskommentaren recht häufig verwendet. In vielen Fällen liegt der Grund in der Vernachlässigung grammatisch zwar unerläßlicher, inhaltlich aber wenig auffälliger und stilistisch nicht markierter Elemente wie Pronomina, Artikel und Präpositionen. So wird in Item 37 bei sich die Wunden der Wahlschlacht leckte „sich" häufig nicht mitunterstrichen. Ähnlich wird in Item 7 von einem Teil der Versuchspersonen die Präposition nach in der Formulierung Nach israelischen Angaben vernachlässigt.

Bewußtsein von Phraseologismen

Die weitaus häufigste Konstellation der unvollständigen Unterstreichung ist folgende: Die Versuchspersonen unterstreichen bei den zahlreichen verbalen Phraseologismen, die aus mindestens einem Substantiv und einem Verb bestehen, nur den nominalen Teil; ζ. B. so: Item 6: Item 35: Item 40: Item 55: Item 63:

(. . .) warf der Tag der Arbeit besonders hohe Wellen (. . .) Die Zeichen stehen nicht schlecht (. ..) pries P. A. (. . .) den Chef in hohen Tönen. (. . .) daß sie genau unter die Lupe genommen werden. Eine Brücke zwischen den Sozialdemokraten und den Progressiven ist nach wie vor undenkbar. Falls trotzdem der Versuch gemacht würde, sie zu schlagen (. ..).

Dahinter kann zunächst die auch sonst (vor allem in gesprochener Sprache) zu beobachtende Tendenz (vgl. 4.2.2.) stehen, solche Teile des Phraseologismus, die eine gewisse „semantische Autonomie" besitzen, zu isolieren — und das sind meistens die Nominalteile der verbalen Phraseologismen. Darüberhinaus und spezieller ist aber — wie in vielen Fällen unseres Materials — eine für eine große Gruppe von Phraseologismen charakteristische Eigenschaft indiziert: die konventionalisierte Metaphorik. Beispielsweise in Nummer 6, wo hauptsächlich der metaphorische Phraseologismenbestandteil hohe Wellen unterstrichen wird, oder in Item 55, wo vor allem die Metapher der Lupe beachtet wird. Metaphorik ist denn auch eine immer wiederkehrende Bemerkung, eine der wenigen, die etwas über die spezifische Beurteilung der Phraseologismen aussagen. Schließlich kann der Fall eintreten, daß Phraseologismen analog zu freien Wortverbindungen behandelt werden; dann kommen dieselben Typen von Kriterien zur Anwendung, die bei nichtphraseologischer Sprache maßgebend sind: In Item 2 ist es für gewisse Versuchspersonen die Verwendung des Imperfekts innerhalb des (verbalen) Phraseologismus, die für die Zuordnung ausschlaggebend war: In den meisten europäischen Ländern standen die Maikundgebungen int Zeichen der Probleme (.. .).

223

Für die Zuordnung von Item 24 beurteilen einige Versuchspersonen den Wortinhalt des eingeschobenen Adjektivs zuverlässig innerhalb der festen Formulierung wie aus zuverlässigen palästinensischen Kreisen in Beirut verlautete . . . . Nach demselben Prinzip beurteilen einige Versuchspersonen das Adjektiv verschlissen im Rahmen der phraseologischen Wortverbindung in das verschlissene Mäntelchen schlüpfen (21). Versuchspersonen, die sich nicht mit Definitionen, Klassifikationen und Vorkommen von festen Wortverbindungen befaßt haben, nehmen nicht von vornherein aus theoretischen Gründen phraseologische Einheiten an. Es ist daher durchaus möglich, daß sie die einzelnen Phraseologismen auf der Ebene der bewußten Beurteilung nicht als Einheiten behandeln, ohne daß dies etwas über die psycholinguistischen Mechanismen aussagen würde (vgl. dazu 5.2.). Zusammenfassend läßt sich also sagen: In der Mehrzahl der Fälle wird der Phraseologismus als ganzer oder doch mit seinen semantisch und syntaktisch wichtigsten Elementen angestrichen. Das deutet darauf hin, daß Phraseologismen als qualitativ unabhängiges Kriterium für die Texttypenzuordnung gelten dürfen. Da sie nicht nur in fast allen Vorkommen, sondern jeweils auch von sehr vielen Versuchspersonen wahrgenommen werden (wie die Liste der absoluten Häufigkeit der Unterstreichungen zeigt), sind sie zudem als quantitativ dominierendes sprachliches Kriterium anzusehen. Wenn nur Bruchstücke des Phraseologismus beurteilt werden, dann einerseits bei den metaphorischen Phraseologismen — und dort ist es das am augenfälligsten metaphorische Element, das hervorgehoben wird. Andererseits dann, wenn sich die nichtphraseologischen und die phraseologischen Kriterien überschneiden, wenn die Versuchspersonen die phraseologischen Wortverbindungen zum Teil analog zu freien Wortverbindungen behandeln und dieselben Typen von Kriterien zur Anwendung bringen, die für die Zuordnung nicht-phraseologischer Textelemente maßgebend sind.

6. Spracherwerb 6.1.

Methodische Überlegungen

6.1.1. Literatur, Fragestellungen, Material Wie und in welchen Entwicklungsstufen erwerben Kinder Phraseologismen? Abhandlungen zu diesem Thema sind dünn gesät und empirische Untersuchungen findet man kaum. Was es gibt, sind im Normalfall mehr oder minder ausführliche Äußerungen zum Erwerb von phraseologischen Wortverbindungen im Kontext von theoretischen Überlegungen oder empirische Untersuchungen, die einem anderen Thema gelten. Dabei werden Phraseologismen auch meistens nur unter einem möglichen Kriterium gewürdigt, das zudem nicht für alle phraseologischen Wortverbindungen zutreffen muß. (Vgl. dazu Buhofer 1980, Kapitel 3). Der Tenor der Stimmen, die sich zum Erwerb von Phraseologismen äußern, geht in folgende Richtung: 1. Phraseologismen sind kompliziert strukturierte Ausnahmeerscheinungen in der Sprache. In dieser Feststellung stimmt die Spracherwerbsforschung mit der Phraseologieforschung überein. 2. Der Erwerb von Phraseologismen erfordert deshalb spezielle Strategien, die sich erst im Verlauf der Primarschule ausbilden. 3. Phraseologismen — vor allem die traditionell im Vordergrund stehenden phraseologischen Wortverbindungen des metaphorischen Typs — werden deshalb erst vom Alter von ca. 10 Jahren an erworben. Phraseologismen wären demnach eine der wenigen Erscheinungen der Sprache, deren Er-

werb mit bestimmten Erwerbsmechanismen stehen oder fallen soll. Von den meisten Erscheinungen der Sprache nimmt man an, daß sie zunächst zur Erfüllung bestimmter eingeschränkter sozial-interaktionaler oder referentieller Zwecke erworben werden, daß der Erwerb damit aber nicht abgeschlossen ist, sondern erst eigentlich beginnt und so lange dauert, bis die betreffenden Erscheinungen als das gelten und so gesehen werden, wie es in der Erwachsenensprache üblich ist. Die Frage, die sich nun vor allem stellt, ist also die, ob Phrasealogismen nicht nur Ausnahmeerscheinungen im System der Sprache sind, sondern auch Ausnahmeerscheinungen im Erwerbsprozeß, indem für sie ein Alles- oder Nichts-Prinzip gelten soll. Diese allgemeine Frage läßt sich in eine Reihe von Teilfragen auflösen: Wie verhalten sich Kinder gegenüber Struktur von Phraseologismen:

der

— Wie verstehen sie Phraseologismen ? im Hinblick auf — Wie brauchen sie ihre Struktur? Phraseologismen? — Wie reagieren sie, wenn man sie auf Strukturbesonderheiten von Phraseologismen anspricht oder aufmerksam zu machen sucht? — In welchem Verhältnis steht die Fähigkeit, Phraseologismen zu gebrauchen und zu verstehen, zur Fähigkeit, die Struktur von Phraseologismen zu erkennen? Wie verhalten sich Kinder gegenüber der Funktion von Phraseologismen? Wie verstehen sie Phraseologismen ? Wie brauchen sie Phraseologismen ?

im Hinblick auf ihre Funktion?

Methodische Überlegungen

Läßt sich etwas darüber sagen, welchen psycholinguistischen Status Phraseologismen bei Kindern haben? Wie ist das Verhältnis von erwachsenensprachlichen Phraseologismen im Wortschatz der Kinder zu festen und freien Wortverbindungen im Wortschatz der Kinder? Eine zusätzliche methodische Frage: Welches sind die Indizien in der Sprache der Kinder, die man als Kriterien dafür ansehen darf, daß Wortverbindungen in der Kindersprache in irgendeiner Hinsicht phraseologisch sind? Es geht also in diesem Kapitel im Unterschied zum Kapitel „Psycholinguistik" nicht um Mechanismen der Alctualgenese von Phraseologismen, sondern um die Herausbildung der erwachsenensprachlichen Gedächtnisrepräsentation von Phraseologismen, um die Reihenfolge der Erfahrungen mit Phraseologismen, deren Ansammlung schließlich zum individualspezifischen erwachsenensprachlichen Status jeder einzelnen phraseologischen Wortverbindung führt, der die Aktualgenese zwar nicht determiniert, aber einen mitbestimmenden Einfluß auf Produktion und Verstehen hat. Für die Zwecke dieses Kapitels verwenden wir zusätzlich zum Terminus „Phraseologismus" den Terminus „feste Wortverbindung", wenn eine psycholinguistische Festigkeit im Sinne des Kapitels 5 gemeint ist, die nicht unbedingt auch linguistisch faßbar sein muß. Wir sind davon ausgegangen, daß man für eine unvoreingenommene Untersuchung des Erwerbs von festen Wortverbindungen die Äußerungen von Kindern von dem Moment an untersuchen muß, in dem sie Wortverbindungen lernen können. Wir haben deshalb Kinder von der Stufe der Zweiwortphase an in unsere Untersuchungen einbezogen und haben die phraseologische Entwicklung in Kindergarten und Schule weiterverfolgt, bis zu dem Moment, in dem die Schüler die obligatorische Schulpflicht absolviert haben, d. h. also bis sie um 15 Jahre alt sind. Das Material von den zwei- bis vier-fünfj ährigen Kindern stammt zum größten Teil aus einer Serie von Aufnahmen, die H. Burger von seinen Kindern Pia und Kristian und deren

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Cousin Florian in verschiedenen natürlichen Familiensituationen gemacht hat. Dieses Material ist hochdeutsch, weil sowohl die Eltern von Pia und Kristian als auch diejenigen von Florian deutschsprechend sind. Das Material für die Untersuchung der Kindergartenkinder wurde im Rahmen der Untersuchung von Buhofer 1980 erhoben und stammt aus 14tägigen systematischen Aufnahmen in einem deutschschweizerischen Kindergarten. Das Material ist Schweizerdeutsch und wurde mit Hilfe von verschiedensten Übungen, Spielen, Unterhaltungsprogrammen, Geschichten und Fragen provoziert, in denen die Kinder mit Phraseologismen konfrontiert wurden. Das Material für die Untersuchungen an Kindern im Schulalter stammt zum kleineren Teil aus der Untersuchung von Scherer 1978 (dieses Material ist Schweizerdeutsch und wurde im Kanton Zug erhoben), vorwiegend wurde es von uns im Rahmen umfangreicher Erhebungen in Schulen des Kantons Zürich gesammelt. Dieses Material ist vor allem hochdeutsch. Wir haben zu seiner Gewinnung die verschiedensten Methoden eingesetzt wie Aufsatzanalyse, schriftliche Tests, Fragebogen, Klassengespräche und Einzelgespräche.

6.1.2. Theoretische Vorüberlegungen Was ist in bezug auf den Erwerb von Phraseologismen zu erwarten? Diese Frage soll zunächst theoretisch auf dem Hintergrund von neueren allgemeinen Verstehenstheorien, Theorien über die kognitive Entwicklung und lerntheoretischen und „sozialfunktionalen" Überlegungen zum Spracherwerb behandelt werden (für eine ausführliche Darstellung vgl. Buhofer 1980). Neuere Überlegungen zum Verstehen von Sprache, wie vor allem diejenigen von Hörmann 1978 (besonders Kapitel 7 und 15), betrachten das Verstehen nicht bloß als ein analysierendes oder interpretierendes Bearbeiten des sprachlichen Input, sondern als ein Konstruieren auf der Basis dieses Input. (Vgl. auch 5.4.). Für das Verstehen von Phraseologismen bedeutet dies — laut Hörmann — folgendes:

226

Spracherwerb

In der arme Ludwig hat ins Gras beißen müssen ist vom Sterben die Rede - aber darauf kann der Hörer nur kommen, wenn er sein Wörter- oder Morphem-Lexikon nicht verwendet, d. h. wenn er ,Gras' und ,beißen' nicht als selbständige Einheiten anerkennt. Das heißt aber wieder, daß er einen Entscheidungsspielraum zwischen Anerkennung und Nicht-Anerkennung haben muß. Die Entscheidung wird unter einem Sinnhorizont getroffen, der der Analyse (oder Nicht-Analyse) in kleinere Einheiten vorgeordnet ist. (1978, S. 210) Mit anderen Worten also: Die gängige Auffassung ist problematisch, gemäß derer man annimmt, d a ß das Verstehen von festen Wortverbindungen notwendigerweise den folgenden Weg gehen muß: (1) Der Hörer setzt die Bedeutungen der einzelnen Wörter zusammen (wie er das immer tut, wenn es um das Verstehen von Sprache geht). (2) Er stellt fest, d a ß dieses wörtliche Verstehen bei der festen Wortverbindung keinen Sinn ergibt. (3) Der Hörer versteht ganzheitlich — er zieht eine gelernte ganzheitliche Bedeutung bei oder er vollzieht eine metaphorische Ubertragung. Soweit Überlegungen zum Verstehen allgemein. Im folgenden sollen die Eigenarten des kindlichen Verstehens und die kindlichen Mechanismen des Spracherwerbs besprochen werden: Die kognitiv-orientierten Spracherwerbstheorien gehen davon aus, d a ß man den Erwerb der Sprache nur von der kognitiven Entwicklung her erklären kann. Sie orientieren sich zu einem großen Teil an Piaget, dessen Auffassungen über die kognitive Entwicklung in ihren Konsequenzen für das kindliche Denken, die kindlichen Begriffe und das damit zusammenhängende Sprachverstehen hier kurz dargestellt werden sollen. (Für eine ausführlichere Darstellung der theoretischen Hintergründe und eine Darstellung und Kritik von Piagets Untersuchungen zu Redewendungen und Sprichwörtern vgl. Buhofer 1980.) Piaget unterscheidet fünf Phasen in der geistigen Entwicklung der Kinder:

(1) Die Entwicklungsphase der sensomotorischen Intelligenz: bis 1; 6 Jahre. Sensomotorisch meint den Bereich von Empfinden und Tun, nicht jedoch denjenigen des Denkens, weil die symbolische Funktion noch fehlt. (2) Die Entwicklungsphase der vorstellenden (symbolischen) Intelligenz auf der Ebene des konkreten (anschaulichen) Denkens: 1; 6—7; 8 Jahre. Das konkrete Denken betrifft die empfundene Wirklichkeit, es bezieht sich auf konkret vorhandene Gegenstände, nicht aber nur auf rein verbal hervorgerufene Vorstellungen. (3) Die Entwicklungsphase der vorstellenden Intelligenz auf der Ebene des verbalen Denkens: 7; 8—11; 12 Jahre. Das verbale Denken betrifft rein verbal hervorgerufene Vorstellungen; es zeigt sich notwendigerweise auf der sprachlichen Ebene. (4) Die Entwicklungsphase des formalen Denkens: 11; 12—14; 15. Das formale Denken ist durch einen Primat der Betrachtung des Möglichen über die Betrachtung des Realen gekennzeichnet und ermöglicht dadurch den Umgang mit Hypothesen und das Nachdenken über Aussagen, die von der konkreten und aktuellen Feststellung losgelöst sind. (5) Die adoleszente Phase. Piagets vielfältige Arbeiten zur geistigen Entwicklung lassen sich unter mehreren Deutungsprinzipien verstehen, deren in diesem Zusammenhang wichtigstes hier kurz dargestellt werden soll: die Hypothese des kindlichen Egozentrismus und Realismus. Mit dem Terminus „Egozentrismus" bezeichnet Piaget eine ausgeprägte Tendenz des Kindes, außer acht zu lassen, d a ß es neben seinem eigenen Standpunkt auch noch andere Gesichtspunkte gibt. Kinder neigen deshalb dazu anzunehmen, die Personen, mit denen sie in Berührung kommen, hätten dieselben Kenntnisse wie sie. Ein Kind geht auch noch im Primarschulalter im allgemeinen davon aus, was der andere sage, bedeute genau das, was es selber davon verstehe. Ein weiterer Aspekt des kindlichen Egozentrismus besteht darin, d a ß

Methodische Überlegungen

Kinder sich ihr eigenes Denken nicht bewußt machen. „Realismus" meint die noch allgemeinere Tendenz des Kindes, die wahrnehmende Aktivität über die vorstellende Aktivität herrschen zu lassen. Das kann sich — ebenfalls noch im Primarschulalter — darin äußern, daß das Kind den Gehalt eines Satzes auf seinen wahrnehmbaren Inhalt reduziert. Beide Tendenzen werden im allgemeinen auf der Ebene des konkreten Denkens bis zum 7., 8. Altersjahr und auf der Ebene des verbalen Denkens bis zum 11., 12. Altersjahr überwunden. Egozentrismus und Realismus gehen Hand in Hand mit Unbewußtheit. Das Kind ist sich alles dessen bis zu 7, 8 Jahren nicht bewußt. Wenn man es nach seinem Denkprozeß fragt, so erfindet es einen willkürlichen Denkprozeß, der die Lösung selbst schon voraussetzt. Wann und wie entsteht ein diesbezügliches Bewußtsein? Hier gilt nach Piaget das funktionale Gesetz der Bewußtwerdung von Claparede, wonach man sich einer Sache nur nach Maßgabe seiner Nichtanpassung bewußt wird. Die Strukturale Frage nach den Mitteln dieser Bewußtwerdung beantwortet Piaget mit dem Gesetz der Verlagerung: sich einer Operation bewußt werden, heißt, sie von der Ebene der Handlung auf die Ebene der Sprache übergehen zu lassen, die Erfahrungen, die man tatsächlich hat machen können, noch einmal geistig zu machen. Die bloße Tatsache, eine Operation zu denken anstatt auszuführen, läßt nämlich Umstände Wiederaufleben, die auf der Ebene der Handlung längst vergessen sind (Piaget 1972b, S. 211 ff.). Für die zwei vom Spracherwerb her besonders interessierenden Entwicklungsphasen 2) und 3) sollen nun die Eigenarten des kindlichen Denkens und der kindlichen Begriffe und ihr Einfluß auf das kindliche Sprachverstehen beschrieben werden: 1. Das kindliche Denken Die Fähigkeit zu denken, setzt u. a. folgende Teilfähigkeiten voraus: — Die Fähigkeit, ein Ganzes objektiv und nachvollziehbar in seine Teile zu zerlegen

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— zu analysieren — und diese Teile wieder zum selben Ganzen zusammenzufügen — eine objektive Synthese zu machen. — Die Fähigkeit, gleichzeitig das Ganze und alle Teile vor Augen zu haben. — Die Fähigkeit, sich seines Standpunkts und seiner Schritte bewußt zu werden. Der kindliche Egozentrismus verhindert die Ausbildung dieser Fähigkeiten bis weit in die Phase 3) hinein, und zwar gleichzeitig durch einen Mangel u n d ein Übermaß an Verknüpfungen. Der Mangel an Verknüpfungen bewirkt, daß das Kind Einzelheiten ohne Ordnung nebeneinander stellt, ohne sie zu einem Ganzen zusammenzufügen. Piaget nennt diese Erscheinung „Parataxe". Das Übermaß an Verknüpfungen präsentiert sich als Zusammenschau, die ein unbestimmtes, aber umfassendes und die Einzelheiten verdrängendes Schema bildet. Piaget spricht davon als „Synkretismus" (Piaget 1972b, S. 25ff.). Der Synkretismus führt zu einer Vorherrschaft des Ganzen über das Einzelne, die Parataxe zu einer Vorherrschaft des Einzelnen über das Ganze. Das Denken des Kindes ist deshalb nicht diskursiv, sondern springt durch einen einzigen intuitiven Akt von den Prämissen zum Schluß, ohne sich der Deduktion zu bedienen. Es braucht bildliche Schemata und Analogieschemata, verzichtet auf jegliche Beweisführung und ist demzufolge auch unempfindlich gegen Widersprüche. Das kindliche Denken enthält nichts Analytisches, geht nicht in expliziten Denkvorgängen vor sich. Piaget charakterisiert den Denkprozeß des Kindes stattdessen mit dem Begriff der Transduktion als Denkprozeß, der vom Besonderen zum Besonderen vorgehe — ohne Verallgemeinerungen und ohne logische Strenge (vgl. ζ. B. Piaget 1972a, S. 160 und 1972b, S. 189 und S. 225 ff.). Insofern ist das kindliche Denken individuell und nicht sozial. Diese Art zu denken ist nicht ohne Folgen für das Verstehen von Sprache. Piaget zeigt an eigenen Untersuchungen (1972 a, Kapitel IV und V) folgende Eigentümlichkeiten des kindlichen Sprachverstehens:

228

Spracherwerb

1. Kinder meinen grundsätzlich, sie würden alles verstehen. Wenn ein unter 7jähriges Kind vergessen oder schlecht verstanden hat, erfindet es in aller Aufrichtigkeit. 2. Kinder verstehen mit Hilfe von synkretistischen Gesamtschemata — und schalten die Wahrnehmung von einzelnen sprachlichen Elementen aus. Kinder verstehen auch in parataktischer Weise einzelne sprachliche Elemente, ohne sie zueinander oder zum Kontext in Beziehung zu setzen. Unverstandene Wörter ζ. B. gehen so einfach unter oder werden den verstandenen Teilen des Satzes angeglichen. D. h. also, Kinder bauen ihr Satz-Verstehen nicht aus dem Verstehen jedes einzelnen Wortes eines Satzes auf. Sie verstehen zwar Wörter, aber offenbar nicht Wort-für-Wort. 3. Kinder können ihren Verstehensvorgang nicht rekonstruieren und nicht bewußt machen, m. a. W. sie können ihn nicht überprüfen. Piaget beschreibt den Verstehensprozeß zusammenhängend so: „Die Dinge verlaufen ungefähr so: Wenn das Kind zuhört, was gesprochen wird, bemüht es sich nicht etwa, sich anzupassen oder sich in das Denken des anderen hineinzuversetzen, sondern es versucht, alles, was gesagt wird, seinem eigenen Standpunkt und allem, was es bereits erworben hat, zu assimilieren. Daher erscheint ihm ein unbekanntes Wort nicht im gleichen Maße unbekannt, als wenn es sich bemühen würde, sich dem anderen wirklich anzupassen. Dieses Wort ist im Gegenteil mit dem unmittelbaren Kontext verschmolzen, den das Kind für hinlänglich verstanden hält. Die allzu neuen Wörter werden niemals analysiert. Die Wahrnehmung oder das Verstehen sind also synkretistisch, weil nicht analysiert, und nicht analysiert, weil nicht angepaßt. Nur ein Schritt, ein einfaches Bewußtwerden, trennt diesen Synkretismus der sogenannten „Rezeption" (der Wahrnehmung oder des Verstehens) vom Synkretismus des Denkprozesses" (Piaget 1972 a, S. 184). Diese Beschreibung gilt durchgehend bis zum Alter von etwa 7 Jahren. In der Phase von 7, 8 Jahren bis 11, 12 Jahren werden die genannten Eigentümlichkeiten allmählich überwunden.

2. Die kindlichen Begriffe Der Begriff eines Erwachsenen ist nach Piaget stabil. Jeder Faktor kann bewußt gemacht werden. Alle Faktoren können zusammen gesehen werden. Es gibt eine Hierarchie der Faktoren. Der ganze Begriff steht in Beziehung zu anderen Begriffen (Piaget 1972b, S. 164). Die kindlichen Begriffe — Piaget nennt sie auch Konglomeratbegriffe und Vorbegriffe — sind ein Produkt des entsprechenden Denkens: sie sind ein Nebeneinander disparater Elemente, die zu Widersprüchen führen, weil das Kind nicht gleichzeitig, sondern abwechslungsweise an die bestimmenden Faktoren denkt. Ihre Einheit ist eine subjektive Einheit, die der Synkretismus verschiedenartigen Elementen verleiht (Piaget 1972b, S. 163). Der Begriff der Erwachsenen realisiert ein dauerndes Gleichgewicht zwischen der Assimilation der Objekte untereinander und der Akkomodation an jedes einzelne Objekt. Er stützt sich in gleichem M a ß auf die Analyse wie auf die Synthese und ist eine echte Abstraktion und Verallgemeinerung, die allen Objekten gerecht wird, aber keines bevorzugt. Der Vorbegriff ist an ein privilegiertes Objekt gebunden, das als Bild eine Zeichenfunktion behält und ein partielles Substitut des bezeichneten Gegenstandes darstellt. Die Vorbegriffe enthalten keine Akkomodation, die auf alle Objekte ausgedehnt wäre. Die Teilelemente werden direkt miteinander identifiziert ohne das Zwischenglied eines Ganzen. Den Vorbegriffen fehlt die Allgemeinheit, sie haben nur quasisymbolische Struktur (Piaget 1969, Kapitel VIII). Die Begriffe von Kindern und Erwachsenen sind nur funktionell äquivalent, strukturell sind sie verschieden. Insofern ist der Unterschied nicht nur quantitativ, sondern qualitativ. Die Begriffsentwicklung ließe sich insofern nicht als Summierungsvorgang von Begriffsfaktoren oder ähnlich erklären. Auch die Charakteristika der Vorbegriffe wirken sich auf das Sprachverstehen der Kinder aus: Wenn ihnen nämlich ein- und derselbe Begriff nicht als Identisches, Stabiles und Allgemeines erscheint, dann fehlen ihnen für ein analytisches Wort-für-Wort-Verstehen nicht nur die analy-

Methodische Überlegungen tischen Fähigkeiten, sondern auch die komplementären Zieleinheiten einer allfälligen Analyse, soweit diese begrifflicher N a t u r sind. Denn Einheiten sind nicht unwesentlich dadurch definiert, d a ß sie eine mehr oder weniger stabile Identität haben. Damit stellt sich nun aber die Frage, aufgrund wovon eigentlich Kinder verstehen. Piaget selber wirft diese Frage auch auf, allerdings schränkt er durch die Form der Frage die möglichen Faktoren erheblich ein, wenn er formuliert: Versteht das Kind den Satz aufgrund der Wörter oder versteht es die Wörter aufgrund des Satzes? - Faktoren wie Kontext und Situation sowie sprachliche Erfahrungen werden nicht berücksichtigt. Für die Beantwortung der Frage beschränkt sich Piaget denn auch auf die Faktoren, die er als Teil der strukturellen Besonderheit des kindlichen Denkens beschrieben hat: die Parataxe und den Synkretismus. Während der Synkretismus dazu führt, d a ß das Kind den Satz als Ganzes versteht und die Wörter entweder diesem Gesamtschema angleicht oder nicht berücksichtigt, bewirkt die Parataxe, d a ß das Kind gewisse einzelne Element des Satzes versteht und beziehungslos nebeneinander stellt. M a n kann deshalb sagen, das Kind versteht den Satz aufgrund der Wörter u n d es versteht die Wörter aufgrund des Satzes u n d beide Verstehensrichtungen sind voneinander abhängig. (Piaget 1972a, S. 184ff.) Piaget geht davon aus, d a ß die Entwicklung der Sprache direkt mit der kognitiven Entwicklung verbunden sei. Es wäre jedoch falsch, generell anzunehmen, daß Kinder nur soweit sprechen lernen können, als sie imstande sind, die Sprache kognitiv zu durchschauen. Z u r Beschreibung des Spracherwerbs müssen auch andere (wie lernpsychologische und sozialfunktionale) Gesichtspunkte einbezogen werden. Eine Lerntheorie ist eine Theorie darüber, was Lernen ist und wie es vor sich geht. Der Lerninhalt, in diesem Fall der Erstspracherwerb, beispielsweise als Erwerb verschiedener Strukturen, interessiert dabei erst in zweiter Linie und geht deshalb weniger stark in die Formulierung der Theorie ein. Eine neuere Untersuchung aus diesem Bereich stammt von

229

Schneider 1978, der empirisches Material anderer Untersuchungen lerntheoretisch interpretiert: Die allgemeineren Theoreme dieser Theorie sind in 5.2. kurz dargestellt worden. Schneider geht davon aus, d a ß der Erstspracherwerb in bezug auf Bewußtheit und Analysemechanismen folgendermaßen charakterisiert werden kann: Die ersten sprachlichen Lernprozesse sind großenteils nichtkognitiver N a t u r , d. h. sie sind — im Sinne dieser Theorie — nicht bewußt. Wissen ergibt sich allenfalls sekundär aus der Möglichkeit, sich selber zu beobachten. (Schneider 1978, S. 68, S. 182) Es gibt allerdings auch den andern Prozeß: Ein sprachliches Phänomen macht Mühe, wird deshalb bewußt und wird durch Übung zunehmend automatisiert und unbewußt. Die Lernresultate sind jedenfalls keine endgültigen, unveränderbaren Größen, sie verändern sich ζ. B. im Hinblick auf ihre Bewußtheit und im Hinblick auf den Grad ihrer Automatisierung (Schneider 1978, S. 69). Wortfolge und Wortstellung zum Beispiel sind zunächst nichtkognitiver N a t u r , werden aber im Rahmen schulischer Spracherziehung auf eine gewisse Ebene der Bewußtheit und kognitiven Kontrollierbarkeit gehoben. (Schneider 1978, S. 91) Schneider bezieht die Rolle des Analyseprozesses explizit in seine Untersuchungen ein: Er nimmt nicht nur an, d a ß der Analyseprozeß sich komplementär zu einem Wahrnehmungslernen vollziehen muß, sondern berücksichtigt auch, d a ß die Analyse zum Problem werden kann, weniger aus grundsätzlichen entwicklungspsychologischen Gründen als deshalb, * weil sie nicht im Zentrum der frühen Sprachentwicklung steht. Schneider rechnet geradezu mit der Übernahme von unanalysierten Segmenten, indem er davon ausgeht, d a ß das Lernen über Syntagmen mittlerer Größenordnung erfolgt, die vom Lernenden zum jeweiligen Zeitpunkt als relevant empfunden werden (Schneider 1978, S. 181, S. 246). Als solche unanalysierte Wortverbindungen böten auch Phraseologismen in semantischer und lexikalischer Hinsicht keine besonderen Schwierigkeiten, wenn sie im nichtkognitiven Verfahren erworben werden können.

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Spracherwerb

Was den sozial-funktionalen Ansatz betrifft (die Bezeichnung stammt von Halliday 1978, Kapitel 1.2), so sucht er die ausschlaggebenden Faktoren für die Entwicklung der Sprache im Bereich der Kommunikationsfunktionen innerhalb der Interaktion Kind-Erwachsene. Solchermaßen pragmatisch orientierte Theorien über den Spracherwerb wollen nicht den Erwerb von strukturellen Eigenschaften der Sprache beschreiben und erklären, sondern die Entwicklung der kindlichen Fähigkeiten, die Verzahnung von sprachlicher Kommunikation und nichtsprachlicher Situation deuten und Sprache für bestimmte Funktionen einsetzen. Wegweisend sind da im englischen Sprachbereich die Untersuchungen Hallidays 1978, im deutschen Sprachbereich die Untersuchungen Ramges 1975 und 1976. Auf die Ergebnisse soll in diesem Rahmen nicht näher eingegangen werden. Wichtig ist in unserem Zusammenhang — wie schon beim lerntheoretischen Ansatz — die Perspektive:

überwindbares Hindernis darstellen, sollte es auch kleineren Kindern grundsätzlich möglich sein, phraseologische Wortverbindungen zu lernen, zu verstehen und zu gebrauchen. Ergebnisse und Diskussion unserer Untersuchungen sollen in zwei Teilen dargestellt werden. In einem ersten Teil wird anhand des Materials der Vorschulkinder der Frage nachgegangen, ob Kinder grundsätzlich von Anfang an auch Phraseologismen erwerben können oder ob diesbezüglich grundsätzlich eine Barriere besteht bis zu einer bestimmten Altersstufe. In diesem ersten Teil werden die prinzipiellen Befunde beschrieben und erklärt. Im zweiten Teil werden anhand des Materials von Schulkindern verschiedene Stufen des Erwerbs von Phraseologismen besprochen. Die folgenden Ausführungen folgen im wesentlichen den Darstellungen von Burger 1980 b und Buhofer 1980.

Eine pragmatische Untersuchung nimmt nicht bestimmte syntaktische Strukturen oder strukturelle Eigenschaften von Bedeutungen und Begriffen zum Ausgangspunkt und fragt sich, wann sie erworben werden und warum gerade dann. Eine pragmatische Untersuchung fragt, wann und wie welche pragmatischen Fähigkeiten und Funktionen erworben werden. Wie die sprachlichen Äußerungen gebaut sind, mit denen die pragmatischen Funktionen ausgedrückt werden, interessiert dabei — wenn überhaupt — in zweiter Linie. Zur Frage, in welcher Reihenfolge sprachliche Formen und Strukturen erworben werden, verweist eine pragmatische Untersuchung allenfalls auf die Strukturen, welche die Erwachsenen brauchen, die das Kind umgeben.

6.2.

Es spricht also — auch von daher — nichts gegen einen frühen Erwerb von Phraseologismen. Sie könnten als ganze Äußerungen erworben werden. Alles hängt davon ab, was die Erwachsenen, die das Kind umgeben, brauchen, und davon, ob es die jeweilige Funktion versteht und selber ausdrücken will. Zusammenfassend kann man demnach festhalten: Wenn die Strukturbesonderheiten phraseologischer Wortverbindungen kein un-

Die Ergebnisse der empirischen Untersuchungen zu Vorschulkindern

6.2.1. Methodenprobleme Wann können Kinder anfangen, erwachsenensprachliche Phraseologismen zu erwerberi? Wie kann man das herausfinden? Man kann nicht davon ausgehen, daß Kinder die sprachlichen Kriterien nachvollziehen können, die den Erwachsenen erlauben, zwischen festen und freien Wortverbindungen zu unterscheiden. Man muß deshalb damit rechnen, daß sie die Grenzen zwischen festen und freien Wortverbindungen anders ziehen, als sie in der Erwachsenensprache gezogen werden. Das bedeutet, daß man auf zwei Erscheinungen achten muß: 1. Auf Spuren erwachsenensprachlicher Phraseologismen in der Kindersprache und 2. auf Wortverbindungen, die für die Kinder fest sein könnten. Dies deshalb, um auch alle die Wortverbindungen zu erfassen, die in der Erwachsenenund in der Kindersprache nicht denselben Sta-

Vorschulkinder

tus haben; das sind die Wortverbindungen, die erwachsenensprachlich phraseologisch, aber kindersprachlich freie Wortverbindungen sind, und diejenigen, die kindersprachlich fest, aber erwachsenensprachlich frei sind. Ob eine Wortverbindung der Kindersprache erwachsenensprachlich phraseologisch ist, läßt sich aufgrund der Kriterien, die für Phraseologismen zu gelten haben, entscheiden. Schwieriger ist es, zu entscheiden, ob eine Wortverbindung kindersprachlich fest ist. Im Zusammenhang mit Phraseologismen der Erwachsenensprache kann Festigkeit verschiedenerlei heißen (vgl. 3.1.): Gemeint sein kann eine statistische Festigkeit, die sich für die Wortverbindung als lexikalische Festigkeit auswirkt; gemeint sein kann beispielsweise auch die Ganzheitlichkeit der Bedeutung. Wie kann man entscheiden, ob Wortverbindungen der Kindersprache in dieser Hinsicht fest sind? Die Feststellung einer statistischen Festigkeit läßt sich nur auf der Basis eines großen und repräsentativen Korpus von jedem einzelnen Kind machen, das uns nicht zur Verfügung steht. Von lexikalischer Festigkeit kann man sprechen, wenn eine Wortverbindung immer in derselben Kombination von Wörtern vorkommt oder wenn eventuelle Varianten sich in engen Grenzen halten. Auf Festigkeit der Bedeutung einer Wortverbindung kann man schließen, wenn einzelne Bestandteile der Wortverbindung auch außerhalb dieser Wortverbindungen, also frei, vorkommen und dort eine andere Bedeutung haben, als sie in die fragliche Wortverbindung hinein mitbringen. Umgekehrt kann man dann annehmen, daß die Bedeutung einer Wortverbindung nicht fest ist, wenn die Bedeutung der Wortverbindung sich um die Bedeutung eines Wortes verändern läßt, indem man ein Wort verändert. Drittens steht dann zu vermuten, daß die Gesamtbedeutung eines Phraseologismus fest ist, wenn es Varianten gibt, die in der gleichen Situation gebraucht werden und aus mindestens einem Element mehr oder weniger bestehen.

231

Auch auf dem Hintergrund solcher methodischer Überlegungen ist es aber nicht immer möglich, bei kleinen Kindern zwischen festen und freien Wortverbindungen zu unterscheiden. Dies soll hier exemplarisch und an einer möglichen Beispielkonstellation gezeigt werden. Man kann dann annehmen, daß die Bedeutung einer Wortverbindung nicht fest, also frei ist, wenn die Bedeutung der Wortverbindung sich um die Bedeutung eines Wortes verändern läßt, indem man ein Wort substituiert. Es soll versucht werden, dieses Kriterium auf die folgenden Wortverbindungen anzuwenden, die für Pia lexikalisch fest sein dürften, insofern sie immer dieselbe Kombination von Wörtern braucht. Owo alle Das sagt Pia im Alter von 15 Monaten, wenn sie eine Flasche mit Ovomaltine leergetrunken hat. Mama Arm Damit äußert Pia mit IS Monaten den Wunsch, von der Mama auf den Arm genommen zu werden.

Die vorliegenden Wortverbindungen sind keine Ausschnitte aus erwachsenensprachlichen Äußerungen. Pia läßt die erwachsenensprachlich notwendigen Artikel, Präpositionen, Pronomen, Verben weg. Diese Äußerungen sind kindersprachliche Äußerungen, die der Form nach in der Erwachsenensprache nicht vorkommen. Owo alle und Mama Arm sind deshalb auch für Pia Wortverbindungen; sie müssen das Resultat eines kinderspezifischen Kombinationsprozesses sein, der aber nicht notwendigerweise bei jeder Verwendung der Wortverbindung wieder vollzogen werden muß. Die Frage, ob die Wortverbindungen für Pia fest oder frei sind, läßt sich also sinnvollerweise stellen. Man untersucht, ob das Kind die Bedeutung der Wortverbindung um die Bedeutung eines Wortes verändern kann, indem es ein Wort durch ein anderes ersetzt. Der Anlaß für eine Veränderung der Wortverbindung kann dann gegeben sein, wenn die Situation, auf die sich das Kind mit Hilfe der Wortverbindung bezieht, in einem Element verändert ist. Die Situationen, auf die sich Owo alle und

232

Spracherwerb

Mama Arm beziehen, kann man sich leicht in einem Element verändert vorstellen: f ü r Owo alle kann sie dann verändert sein, wenn das Kind statt Ovomaltine Tee getrunken hat. Für Mama Arm kann sie dann verändert sein, wenn das Kind den Vater bittet, es auf den Arm zu nehmen. Wenn man davon ausgehen kann, d a ß Pia die Wörter für Tee und Vater kennt, so kann man folgende Hypothesen aufstellen: Wenn Pia vom Vater auf den Arm genommen werden möchte und diesem Wunsch oder dieser Aufforderung mit der Wortverbindung Papa Arm Ausdruck gibt, dann sind die Wortverbindungen Papa Arm und Mama Arm freie Wortverbindungen. Wenn sie aber in dieser Situation auch Mama Arm sagt, dann hat die Wortverbindung eine feste Bedeutung, die sich mit ,nimtn mich bitte/gefälligst auf den Arm' umschreiben läßt. Wenn Pia eine Flasche Tee leergetrunken hat und diese Situation mit Owo alle kommentiert, dann hat die Wortverbindung für sie eine feste ganzheitliche Bedeutung, die sich mit ,die Flasche ist leergetrunken' oder ähnlich umschreiben ließe. Wenn Pia in dieser Situation aber Tee alle sagt, dann sind f ü r sie beide Wortverbindungen freie Wortverbindungen, weil sie die Bedeutung der Wortverbindung um die Bedeutung eines Wortes verändern kann, indem sie ein W o r t durch ein anderes ersetzt. Die ganzen Überlegungen, um herauszufinden, ob die Wortverbindungen für Pia fest oder frei sind, werden dann hinfällig, wenn es die geringfügig, um ein Element veränderten Situationen für Pia nicht gibt. Ein etwas älteres Kind k o m m t mit Sicherheit in die Situation, daß es etwas anderes als Ovomaltine getrunken hat oder daß es von jemand anderem als der Mutter auf den Arm genommen werden will. Ein kleineres Kind trinkt möglicherweise nur Ovomaltine oder will möglicherweise nur von der Mutter auf den Arm genommen werden. Die Schwierigkeit mit diesem Kriterium ist also die, daß kleine Kinder viele Wortverbindungen deshalb nicht verändern, weil es die Situationen für sie nicht gibt, in denen es nötig

wäre, die Wortverbindungen zu verändern oder sie als unveränderte Wortverbindung zu brauchen, wenn sie in ihrem Sprachgebrauch bedeutungsmäßig fest sind. Schon für die Kinder und demnach auch für die erwachsenen Beobachter entscheidet sich auch in diesem Fall nicht, ob die Wortverbindungen frei oder fest sind, weil dafür die Voraussetzungen fehlen, von denen man intuitiv ohne weiteres annehmen würde, daß sie gegeben sind. Auch wenn man dennoch viele kindersprachliche Wortverbindungen nach Festigkeit und Freiheit unterscheiden kann, so m u ß man sich wohl davor hüten, diese Freiheit und Festigkeit nur sprachlich beschreiben zu wollen, beispielsweise als bedeutungsmäßige Freiheit bzw. Festigkeit. Darauf weisen auch die Wortverbindungen hin, die sich aus anderen als sprachlichen Gründen nicht sinnvoll als bedeutungsmäßig freie und feste Wortverbindungen beschreiben lassen. Möglicherweise würde man in diesem Alter bis hin zum Kindergartenalter bei Wortverbindungen, die „irgendwie" fest erscheinen, richtiger von einer Festigkeit in bezug auf die Situation sprechen. Die Wortverbindungen, die wir oben unter dem Aspekt einer sprachlich definierten Festigkeit zu besprechen versucht haben, sind nämlich durchgehend mit einer bestimmten Situation gekoppelt. Es sind d i e Wortverbindungen, die in d e r Wortkombination in d e r bestimmten Situation gebraucht werden. Wenn man davon ausgehen würde, d a ß es in der Kindersprache von Anfang an auch feste Wortverbindungen gibt, die aber zunächst wohl nur in gewisser Hinsicht sprachlich beschrieben werden können und deshalb probeweise als „Einheiten in bezug auf die Situation" betrachtet werden sollen, dann würden sich im Zusammenhang mit dem Erwerb von Phraseologismen folgende Fragen stellen: Wie verläuft der Prozeß, in dem die Festigkeit und Freiheit von Wortverbindungen zunehmend durch sprachliche Kriterien bestimmt werden? Und in welchem Zusammenhang damit steht die Herausbildung d e r Eigenschaften von Phraseologismen, die für die Definition der Phraseologismen in der Erwachsenensprache ausschlaggebend sind?

233

Vorschulkinder

Im Sprachsystem der Erwachsenen gibt es freie und feste Wortverbindungen, die nach Kriterien der Struktur dieser Wortverbindungen unterschieden werden. Weil Kinder bis weit ins Primarschulalter hinein über den Hintergrund dieser Sprachstruktur nicht verfügen (sie sind ja erst im Begriff, die Sprache als System zu erwerben), weil sie zudem vor allem verbal lange nicht durchgehend analytisch denken (vgl. Piaget) und weil sie über die Wirklichkeit weniger wissen und anderes annehmen als die Erwachsenen (sie haben noch nicht so viele Erfahrungen gemacht), müssen die Kinder freie und feste Wortverbindungen der Erwachsenensprache nicht als das übernehmen, was sie in der Erwachsenensprache sind. Schon für zweijährige Kinder gilt deshalb: Sie können feste und freie Wortverbindungen der Erwachsenensprache übernehmen als ein Wort oder als Wortverbindungen, die zwar fest sind, deren Festigkeit aber noch genauer zu bestimmen wäre, oder als im üblichen Sinne feste Wortverbindungen oder als im üblichen Sinne freie Wortverbindungen. In einem Schema kann man das folgendermaßen darstellen:

ein Wort

Unter solchen Umständen müßte zudem das Verhalten gegenüber erwachsenensprachlich festen Wortverbindungen — und nur dieses — im Laufe der Sprachentwicklung korrigiert werden. Wenn dagegen erwachsenensprachlich freie Wortverbindungen und erwachsenensprachlich feste Wortverbindungen in die Kindersprache hinein übernommen werden können, ohne daß die Kriterien, die sie erwachsenensprachlich unterscheiden, dabei eine Rolle spielen würden, dann können Phraseologismen von allem Anfang des Spracherwerbs an unterschiedslos miterworben werden. Nach diesen methodischen Erörterungen und dem Hinweis darauf, daß erwachsenensprachliche Phraseologismen nicht notwendigerweise auch in der Kindersprache phraseologisch sein müssen und daß es feste kindersprachliche Wortverbindungen gibt, die erwachsenensprachlich nicht als fest gelten, soll im folgenden die Perspektive auf den Erwerb erwachsenensprachlicher Phraseologismen eingeengt werden: Kriterium für die folgenden Beispiele ist, d a ß die Kinder erwachsenensprachlich Phra-

freie Wortverbindungen

feste Wortverbindungen

Sprache der Erwachsenen

freie Wortverbindungen

feste Wortverbindungen

Sprache des Kindes

Diese Konstellation ist nicht selbstverständlich: Man könnte sich beispielsweise auch vorstellen, daß die Kinder, solange sie sprachstrukturelle Kriterien nicht erkennen können, grundsätzlich alle Wortverbindungen als freie Wortverbindungen übernehmen würden. Damit würden erwachsenensprachlich freie Wortverbindungen adäquater behandelt als erwachsenensprachlich feste Verbindungen. Phraseologismen in der Kindersprache wären damit in dieser Hinsicht von Anfang an Sonderfälle.

seologisches übernehmen. Uber das W i e ist damit nichts gesagt: Phraseologismen können als ein Wort übernommen werden, sie können so übernommen werden, daß weder für das Kind noch für den erwachsenen Beobachter entscheidbar ist, ob es sich dabei in der Kindersprache um ein Wort oder eine Wortverbindung bzw. um eine feste oder um eine freie Wortverbindung handelt, und sie können als freie oder als feste Wortverbindung übernommen werden.

234

6.2.2.

Spracherwerb

Kinder bis zum Eintritt in den Kindergarten

6 . 2 . 2 . 1 . Exemplarische Fälle D a ß auch kleine Kinder tatsächlich feste Wortverbindungen

aus der

Erwachsenensprache

übernehmen, und was das für Phraseologismen sind, die sie übernehmen, soll anhand der folgenden Beispiele besprochen werden: Andrea (1; 6) bildet selber noch keine Zwei-WortSätze, braucht aber folgende feste Wortverbindungen: muesch käi Angscht haa Musig mache Lätzli aalegge Angscht haa ist erwachsenensprachlich eine bevorzugte Analyse. Die Form, in der Andrea die Wortverbindung braucht, läßt darauf schließen, daß ihre Eltern oder andere Bezugspersonen jeweils zu ihr sagen, sie müsse keine Angst haben, und sie die Wortverbindung als Ganze so übernommen hat. Auch die Wortverbindungen Musig mache und Lätzli aalegge sind erwachsenensprachliche Beispiele für bevorzugte Analysen. Es sind Ausschnitte aus erwachsenensprachlichen

Äußerungen wie Sole mer Musig mache? und Chum, mer tüend s Lätzli aalegge, die die Erwachsenen dem Kind gegenüber brauchen; in einer mehr oder weniger unbewußten Anpassung an das Sprachvermögen des Kindes reduzieren möglicherweise schon die erwachsenen Sprecher solche Äußerungen auf Lätzli aalegge und Musig mache. Indem Andrea diese Wortverbindungen übernimmt, lernt sie von allem Anfang an, daß Musig mit mache und nicht mit spile oder einem anderen Wort kombiniert wird, und daß Lätzli mit aalegge und nicht mit einem anderen Wort kombiniert wird, obwohl man sich von der Gesamtbedeutung der Wortverbindungen her einige andere Kombinationen denken könnte, die von den Bedeutungen her nicht falsch wären, aber die nicht üblich sind. Da Andrea selber noch keine Wortverbindungen bildet, ist es wahrscheinlich, daß sie diese Wortverbindungen als ein Wort übernommen hat, ohne zu wissen, daß und wie sie segmentiert werden können. Man

kann also sagen, daß sie etwas über die Gepflogenheiten der Kombination von Wörtern gelernt hat, bevor sie weiß, daß es sich dabei um eine Kombination handelt. Pia (1; 6) sagt jeweils, wenn sie sich weh gemacht hat: selber schuld. Selber schuld ist eine Wortverbindung aus der Umgangssprache, die syntaktisch unregelmäßig, weil unvollständig ist und insofern und aufgrund ihres rhythmischen Formelcharakters fest ist. Pia hat das jeweils als Kommentar zu hören bekommen, wenn sie sich wehgetan hatte, und die Wortverbindung in dieser Funktion als Kommentar übernommen, sicherlich ohne die Wörter selber und schuld zu isolieren und ohne ihre Bedeutung zu kennen. Dafür spricht nicht zuletzt die begründete Vermutung, daß sie die Wortverbindung wohl kaum gebrauchen würde, wenn sie wüßte, was die einzelnen Wörter bedeuten. Das folgende Beispiel soll zeigen, daß kleine Kinder, wie das theoretisch zu erwarten ist, tatsächlich gewisse erwachsenensprachliche Phraseologismen so übernehmen, wie wenn es sich dabei um freie Wortverbindungen handeln würde. Kristian (knapp 3 Jahre alt) sagt: wenn das Auto ins Schiff reinfährt, dann lachen mir ganz arg, dann lachen mir uns tot. Dann wirft er sich auf den Boden und spielt tot. Die Wendung sich totlachen ist erwachsenensprachlich bildlich zu verstehen, sie ist metaphorisch motiviert. Daß Kristian die Gesamtbedeutung der Wortverbindung aus den Bedeutungen von tot und lachen aufbaut, sieht man daran, daß er sich zu Boden wirft und tot spielt. Uber die Bedeutung des Wortes tot weiß Kristian ungefähr, daß das heißt, daß jemand liegt, nicht mehr aufsteht, begraben wird; aber er unterscheidet mit Sicherheit nicht zwei Bedeutungen dieses Wortes, und wenn er zwei Bedeutungen unterscheiden würde, dann nicht eine wörtliche und eine übertragene, und ohne zu wissen, welche Bedeutung im Sprachsystem der Erwachsenen die wörtliche und welche die übertragene ist. Damit hängt es zusammen, daß es dem Kind trotzdem möglich ist, die

Vorschulkinder

Wortverbindung auch als freie Wortverbindung richtig zu verstehen und zu gebrauchen. Daß Kristian die erwachsenensprachlich phraseologische Wortverbindung wirklich versteht, ersieht man aus der Formulierung unmittelbar vor der phraseologischen Wendung, wo er sagt da lachen mir ganz arg. Dann lachen mir uns tot ist die Neuformulierung und Steigerung. Daß Kristian mit seiner Auffassung von tot kein Ausnahmefall ist, soll die folgende Unterhaltung zwischen Pia (5 Jahre) und dem Vater zeigen. Der Anlaß des Gesprächs sind tote Hühner in einem Bilderbuch. Pia: Des is tot, Papi, gell? Vater: Was heißt des, tot} Pia: die a u f m Rücken liegen sind tot, und des isch tot, des auch, liegt a u f m Bauch. Vater: Wieso isch'n des tot? Pia: (laut und beleidigt:) des liegt a u f m Bauch, isch auch tot! Vater: doch nich alles was a u f m Bauch liegt is tot? Wenn du a u f m Bauch liegsch, bisch doch nicht tot, oder? Pia: H m (nachdenklich — verneinend) Vater: Wieso isch'n des tot? Pia: Gell, wenn die Hühner a u f m Rücken liegen und a u f m Bauch, sind sie tot!

Der Erwerb von Bedeutungen hängt mit dem Machen von Erfahrungen zusammen. Solange tot nicht mehr heißt als auf dem Rücken oder auf dem Bauch zu liegen, ist es auch vorstellbar, daß man sich totlacht. Wenn dieses Beispiel für jüngere Kinder typisch ist, würde das für den Erwerb von Wörtern und Wortverbindungen mit zwei oder mehreren Bedeutungen folgendes heißen: Da der Erwerb von Wörtern, Wortverbindungen und den damit verbundenen Bedeutungen häufig an bestimmte Situationen, Vorgänge und Handlungen gebunden ist, können schon kleine Kinder Wörter in mehrfacher Bedeutung und sekundär kodierte Wortverbindungen lernen. Weil das Verstehen und der Gebrauch solcher Wortverbindungen unmittelbar mit den erwähnten konkreten Situationen verbunden ist, muß der Umweg über das isolierte Wort und seine Bedeutung bzw. Bedeutungen nicht gemacht werden, — damit werden eine ganze Reihe von Schwierigkeiten vermieden,

235

die erst durch diesen Umweg auftreten würden. Das heißt nicht, daß es nicht dennoch zu Mißverständnissen kommen k a n n , wenn ein Kind mit einer Wortverbindung konfrontiert wird, die auch noch eine andere Bedeutung hat, als es bisher damit verbunden hat. Mutter: Der Thomas ist nach Haus gegangen. Er hat die Nase voll. Kristian (3): Hat er Schnupfen?

Kristian begegnet hier der phraseologischen Wortverbindung die Nase voll haben. Entscheidend ist dabei nicht, daß er die Wortverbindung mißversteht; ausschlaggebend ist, daß er die Bedeutung der Wortverbindung ,genug haben' in Verbindung mit einer Situation auch nach diesem Mißverständnis erwerben kann, ohne daß die Beziehung zwischen der wörtlichen und der übertragenen Bedeutung der Wortverbindung ihm bewußt gemacht werden muß. Aus diesem Grund, und weil solche Mißverständnisse nicht mit Notwendigkeit auftreten, sind solche Beispiele kein Argument gegen die Auffassung, daß Kinder sozusagen von Anfang an auch erwachsenensprachliche Phraseologismen lernen können. (Vgl. 6.2.2.2.) Bei kleinen Kindern zeigt sich eine starke Tendenz, ganze Lieder und passagenweise Kinderbücher auswendig zu lernen und sich gegen jede Veränderung der sprachlichen Form zu wehren. Dazu die folgenden Beispiele: Die ganze Familie singt das Lied Eia wiwi Mutter: soils der liebe Köbi sein (Köbi (Ubername von Kristian) absichtlich statt: soils die liebe Anne sein). Kristian: nein! liebe Anne! Mutter: muß sie auch recht artig sein Kristian: (dazwischenrufend) soll sie Vater: Heidi pupeidi mein Pia schlaf ein (absichtlich Pia statt Kind) Pia (4): (korrigierend) Kindl Am Abend. Pia will nicht mitsingen, auch nicht nachsprechen. Aber auf die falsche Vorgabe hin reagiert sie korrigierend: Vater: drum seid nur brav und still Pia: alle still!

Was bedeutet das für die Herausbildung allfälliger psycholinguistischer Einheiten, die

236

Spracherwerb

sprachlich gesehen Wortverbindungen umfassen? Gibt es in der Sprache kleiner Kinder irgendwelche Hinweise auf die Bildung psycholinguistischer Einheiten? Die Ausgangssituation für die Bildung solcher psycholinguistischer Einheiten ist bei Kindern insofern gut, als sie offenbar beim Erwerb von Sprache ganze Segmente, ζ. T. sicherlich auch aktual unanalysiert, übernehmen. Hinweise auf solche Einheiten enthalten die folgenden Beispiele: Pia (3; 9) u n d Kristian (2; 9) schauen mit d e m Vater ein Buch an. Der Vater liest teilweise vor u n d die Kinder setzen fehlende W ö r t e r ein, w e n n der Vater stoppt. Sie k ö n n e n den T e x t großenteils auswendig. Bei der Passage

die Räuber ergriffen die Flucht:

Vater: ergriffen Pia: die Flucht Vater: W a s heißt η das? ergriffen die Flucht? Pia u n d Kristian ä u ß e r n etwas Unverständliches und nicht auf die Frage Bezogenes.

Pia ergänzt hier ergriffen mit die Flucht. Das läßt darauf schließen, daß sie die Flucht ergreifen als zusammengehörig empfindet. Daß sie die Wortverbindung selbständig ergänzen kann, deutet darauf hin, daß sie sie als Verbindung gespeichert hat. Die Verbindung zwischen ergreifen und die Flucht scheint nicht über die Bedeutung hergestellt zu werden. Pia weiß nicht, was die Wortverbindung bedeutet. Um herauszufinden, ob die Kinder nicht einfach den ganzen Text mehr oder weniger auswendig können und in der Ergänzung der Wortverbindung tatsächlich ein Ansatz zur psycholinguistischen Einheitenbildung erkennbar ist, müßte man allerdings herausfinden, ob die Ubergangswahrscheinlichkeiten von einem beliebigen Wort zum nächsten im Text verschieden hoch sind. Wenn Pia mit der gleichen Wahrscheinlichkeit, mit der sie ergriffen mit die Flucht ergänzt, angeben könnte, daß auf die Räuber ergriffen folgt, so spräche das eher dafür, daß sie den ganzen Text auswendig kann, als dafür, daß sie die Flucht ergreifen als Einheit empfindet. Welche Wortverbindungen im Vorschulalter allenfalls psycholinguistisch fest werden, in dem Sinn, daß sie gemeinsam gespeichert und als Ganze abrufbar werden, ist wohl eine Frage

des häufigen Gebrauchs und damit zu einem guten Teil idiolektal bestimmt.

6.2.2.2. Der Erwerb von verschiedenen phraseologischen Typen Wenn man die sprachlichen Äußerungen von Kindern zwischen 1 und 5 Jahren auf Typen von phraseologischen Wortverbindungen anschaut, so ergibt sich folgendes Bild: Die große Gruppe von Phraseologismen, die dem Fremdsprachenlernenden besondere Mühe bereiten, die aber sprach-intern nicht auffallen und die häufig erst bei kontrastivlinguistischer Analyse als Phraseologismen erkennbar werden, die sog. bevorzugten Analysen — Wortverbindungen wie die Zähne putzen, sich die Hände waschen, Fieber messen —, treten, soweit es sich um Bezeichnungen von Alltagshandlungen und -Vorgängen handelt, schon sehr früh auf und gehören bald zum selbstverständlichen Sprachbesitz der Kinder. Die zweite Gruppe früh zu beobachtender Phraseologismen sind Wortverbindungen, die die kommunikative Dimension der Beziehung zwischen Menschen betreffen: in erster Linie Beschimpfungen, die zwischen den Kindern ausgetauscht werden, daneben aber auch Wortverbindungen, die Kinder an Erwachsene richten. Dabei wechseln die Moden sehr stark, ständig werden neue Ausdrücke aktuell, und andere werden — abgenutzt — fallengelassen. Blöde Kuh, blöde Sau, aber auch ungewöhnlichere (vielleicht aus Kinderbüchern bezogene) Wortverbindungen wie du bist ein Ungetüm sind im Alter von 3 und 4 Jahren täglich zu registrieren. Im Unterschied zu Erwachsenen, die vergleichbare Ausdrücke verwenden, machen die Kinder, soweit das aus den Situationen zu erschließen ist, keine erkennbaren Differenzierungen im Grad der Beleidigung. Und häufig handelt es sich, pragmatisch gesehen, auch gar nicht um Beleidigungen im Sinne der Erwachsenenkommunikation, sondern eher um ritualisierten Schlagabtausch, an dem alle Beteiligten ihren Spaß haben. Die interessanteste Gruppe bilden solche Phraseologismen, die an bestimmte Situatio-

Vorschulkinder

nen bzw. Situationstypen gebunden sind und nur im jeweiligen Situationstyp ihren (funktionalen) Sinn haben. Hierher gehören Alltagssituationen, die zum festen Erfahrungsbereich der Kinder gehören, wie Essen, Einkaufengehen usw. Andererseits aber auch seltenere, sensationelle Situationen, die Anlaß geben zu immer neuem Nachspielen. Bei Alltagssituationen ist es vor allem der Bereich der „Manieren", der ein genaueres Studium verdienen würde. Hier läßt sich sehr klar die stufenweise Integration von terminologischem und phraseologischem Material der Erwachsenensprache in die kindliche Sprachkompetenz beobachten. Die vierjährige Pia verwendet (gelegentlich) spontan und unauffällig bitte, danke, guten Appetit, während beim dreijährigen Kristian (und seinem gleichaltrigen Cousin Florian) Dialogabläufe dieser Art typisch sind: Vater: Habt ihr auch guten Appetit gesagt schon? Florian: Guten Appetit. Kristian: Guten Appetit. (Beide „zitierend"-imitativ, im Tonfall der Erwachsenen, deutlich abgehoben von ihrer sonstigen Sprechweise.)

Beim Nachspielen sensationeller Ereignisse wie „Zugfahren" zeigt sich auf formaler, semantischer und pragmatischer Ebene der stufenweise Aufbau des korrekten Sprachspiels: Pia beherrscht die mit dem Zugfahren verbundene Phraseologie ohne Schwierigkeiten, Kristian erst ansatzweise, und Florian — der noch wenig Zug gefahren ist — nahezu gar nicht. Für diese Phase sind Sequenzen dieser Art charakteristisch: (Die drei Kinder „steigen in den Zug" und „sitzen dann darin".) Pia: Achtung an der Bahnsteigkante! Kristian: Aufsteige! Zug fährt los. ( . . . ) Zug fährt los (. ..) an der Bahnkanstante (sie!) (etwas später:) Anstange! (etwas später:) An Bahnkanstanke, alle aussteige!

Kristian sagt richtig alle aussteigen, nicht richtig aufsteigen, das Lexem Bahnsteigkante artikuliert er verstümmelt; er kennt das isolierte Wort und dessen Bedeutung nicht, sondern nur im Kontext der Wortverbindung an der Bahnsteigkante. Außerdem verwendet er

237

die letztere Verbindung pragmatisch falsch, da er sie anwendet, während die Kinder im Zug „fahren". Drei Wochen später sagt er immer noch Bahnkanstante, verbindet aber mit dem isolierten Wort bereits eine Bedeutung, sofern er im Bahnhof tatsächlich auf die Bahnsteigkante zeigt. Ein halbes Jahr später hat Kristian dieses und ähnliche Sprachspiele gelernt, verwendet sie aber noch nicht selbstverständlich, sondern deutlich als eben angeeignete Errungenschaft: Vater: Wie geht das, wenn man mit dem Polybähnle fährt? Pia: Das isch ein rotes Bähnle mit Zahnräder. Und dann muß man einsteigen, und es klingelt automatisch und 's hat kein' Fahrer. ( . . . ) Das klingelt einfach. Das heißt alle Leute einsteigen, dann fährt's weiter. (Das alles im gleichen sehr schnellen Tempo. Pia durchschaut den Vorgang und beherrscht das Sprachspiel geradezu routinemäßig.) Vater: (nachfragend) Was heißt das Klingeln? Pia: Kristian, sagst Du's? Kristian: 's Klingeln heißt Achtung, alle Leute einsteigen (laut, betont deklamierend).

Im gleichen Alter spielen die beiden Kinder häufig das Rollenspiel „Besuch", wobei mindestens einer der Akteure ein Erwachsener ist. Die Kinder verwenden weitgehend die Anrede Sie und benutzen typische Elemente der Gesprächsphraseologie von Erwachsenen (wissen Sie u. ä.). Auffallend an Gesprächsabläufen bei solchen Rollenspielen ist ganz allgemein die — von der Erwachsenensprache her gesehen — oft geradezu groteske Inkohärenz der Dialogsequenzen. Einmal spielt Kristian ein Kind, das zu Pia zu Besuch gekommen ist, wobei sich ein Dialog von Valentinscher Qualität entwickelt: Kristian: Als beide (Vater und Mutter) gestorben waren, bin ich bin ich extra zu Euch gefahren. Pia: Hast Du gewußt / warst Du schon mal mit der Mutter da? Kristian: Ja! Pia: Bei uns? Kristian: x-mal (laut, deklamierend).

In diesen Sprachspielen üben die Kinder neue Sprachvarietäten ein (ζ. B. Mutter statt Mami),

238

Spracherwerb

ineins mit neuen Verhaltensweisen. Aber sie üben bruchstückhaft, mit Versatzstücken aus der Erwachsenenrede. Diese werden zwar mit den formalen Mitteln der Dialoggrammatik verknüpft. In semantischer und besonders in pragmatischer Hinsicht aber ergeben sich vielfältige Inkohärenzen. Der Hauptgrund dafür liegt wohl darin, daß das Kind die Gesprächsintentionen des Partners zwar zu erkennen vermag, innerhalb des jeweiligen neuen Sprachspiels aber noch nicht über genügend Strategien verfügt, um seine Reaktionen den Äußerungen des anderen flexibel anzupassen. In die größeren Versatzstücke eingebettet ist auch phraseologisches Material (wissen Sie, x-mal), das zunächst nur in diesen stereotypen Kontexten erscheint. Der nächste Schritt ist dann die Loslösung der phraseologischen Verbindungen aus dem ursprünglichen Sprachspiel und das Freiwerden für neue Situationszusammenhänge. Eine Gruppe von Phraseologismen ist in der spontanen Sprachverwendung der Kinder eher selten anzutreffen: die stark idiomatischen, metaphorisch motivierten oder wenigstens remotivierbaren Wortverbindungen. Pia und Kristian lernen sie vor allem kennen in Kinderbüchern, und im Kontext von Sprechen-überdie-Geschichte spielen sie eine gewisse Rolle. Der Transfer von der Situation „Vorlesen" auf Alltagskommunikation vollzieht sich aber noch kaum. Eher noch verwenden die Kinder die zahlenmäßig freilich kleine Gruppe von Idiomen, die in der Sprache der Eltern alltäglich vorkommen, wie die Nase voll haben von etw. Zwar äußert Kristian im Alter von 2 3 A Jahren Mami, ich habe die Nase voll. Schau, Blasen kommen! (Dies, weil er Schnupfen hat; gleichzeitig signalisiert er aber, daß ihm kalt ist und er vom Schlittenfahren nach Hause möchte. Hat er den Ausdruck hier nur wörtlich oder auch schon phraseologisch gemeint?) Wenige Monate später aber hat er die Wortverbindung in ihrer phraseologischen Funktion voll internalisiert. Wenn man die Frequenz der summarisch aufgeführten Gruppen von Phraseologismen in der Kindersprache mit der quantitativen Verteilung von Phraseologismen in der Erwachse-

nensprache vergleicht, so zeigen sich Übereinstimmungen und Unterschiede: — Wie die Kinder verwenden auch die Erwachsenen in gesprochener Alltagskommunikation wenig metaphorische Idiome. Die „Redensarten" im Sinne von Koller gehören primär Sprachvarietäten an, die sich bewußt von Alltagssprache abheben und die auf rhetorische Effekte abzielen. (Vgl. Burger 1979, S. 94). Gemeinsam ist der Kinder- und Erwachsenensprache auch das häufige Vorkommen von Phraseologismen aus dem Bereich der zwischenmenschlichen Beziehung. Ein auffallender Unterschied liegt darin, daß den Kindern weitgehend noch eine Dialogphraseologie fehlt (Wortverbindungen, die zur Dialogsteuerung, Kontaktsicherung etc. dienen). Der Mechanismus des Dialogs vollzieht sich, von den erwähnten Versatzstücken aus der Erwachsenensprache abgesehen, vorwiegend mit rudimentäreren Mitteln als dem Arsenal, das den Erwachsenen zur Verfügung steht: mit Interjektionen und paraverbalen bzw. nonverbalen Mitteln (Intonation, Mimik, Gestik). — Da jüngeren Kindern sprachstrukturelle Eigenschaften von Äußerungen noch wenig zugänglich sind, liegt darin kein Hinderungsgrund für den Erwerb von Phraseologismen auch durch Kinder zwischen zwei und fünf Jahren. Phraseologismen sind demnach keine Elemente der Sprache, die aus strukturellen Gründen erst von einer bestimmten Altersstufe an erworben werden können. — Ausschlaggebend ist für den Erwerb, ob die Kinder den Phraseologismen eine kommunikative Funktion zuordnen können und sie die Situation identifizieren können, in denen ein Phraseologismus von den Erwachsenen normalerweise gebraucht wird. — Es ist nicht zu erwarten, daß die Kinder die erwachsenensprachlich festen phraseologischen Wortverbindungen durchgehend als solche übernehmen. Es ist damit zu rechnen, daß die Kinder die Phraseologismen teilweise als freie Wortverbindungen behandeln. Und es muß in Betracht gezogen werden, daß Festigkeit und Freiheit der Wortverbindungen in der Kindersprache einen anderen Status haben als in der Erwachsenensprache. Das würde be-

Kindergärtler

239

deuten, daß der Erwerb von Phraseologismen

fische Phraseologismen und bevorzugte Ana-

zwar nicht an ein bestimmtes Alter gebunden

lysen. (Vgl. dazu 6.2.2.2.). Dazu brauchen die

ist, daß sich aber die Eigenschaften und der

Kindergärtler spontan aber auch Phraseologis-

Status von Phraseologismen

im Laufe der

Sprachentwicklung ändern, bis der Stand der

men wie öpper am Säil abeloo, e Schraube locker

haa und ähnliche.

Erwachsenensprache erreicht ist. 6 . 3 . 1 . 2 . Der Gebrauch abgeänderter Formen

6.3.

Kindergärtler

6.3.1. Brauchen 6 . 3 . 1 . 1 . Unauffälliger Gebrauch Auch Kindergärtler brauchen Phraseologismen, zum Teil sogar in völlig unauffälliger Art und Weise. Dafür wollen wir zunächst ein paar Beispiele anführen, in denen die Kinder bei Nacherzählungen Phraseologismen brauchen, die in den vorgegebenen Geschichten vorgekommen sind. (Im folgenden wird „Versuchsleiter" als VL abgekürzt): VL: und de, was het de Raab gsäit? Roman: ich lueg scho, daß mir rtiemer uf d Schlich chunnt. VL: jo und de, was händ di andere Tier gfunde? Isa: s isch ne rächt gschee. Bettina: s isch ne rächt gschee und de han i nochhär gsäit: jo würkli! Harald: di andere Tierli, die händ nur glachet, das gscheet em Raab nur rächt Die Kinder gebrauchen diese Phraseologismen richtig und völlig unauffällig. Dasselbe gilt für die Phraseologismen in folgenden Beispielen: VL: jo, und de Till? Thomas: glachet Rene: de Buuch ghebt vor Lache VL: Und d Lüiit, was händ die gsäit? Rene: das isch ne rächt gschee Harald: d Lüüt sind sich no i de Haare gläge und händ mitenand gstriitet. Isa: ( . . . ) und de sind d Lüüt cho vo allne Sitte und de ( . . . ) VL: und was händ denn d Lüüt gsäit? Daniel: d Lüüt händ gsäit, das gschiet dene zwäi Diebe rächt. Die Kinder brauchen auch in ihren freien Erzählungen spontan Phraseologismen. Es handelt sich dabei vorwiegend um gesprächsspezi-

Dafür zunächst ein paar Beispiele: Harald: und denn am nächschte Taag isch er wider choo und het en Chääsmocke im Muul Sabine: zeerscht het er no i de Oore umegligge VL: jo guet, das müe mer no zwüschet ine nää. Und no öppis hämmer vergässe: de Hund het de Raab gfrogt, öb er käi Angscht heb is Doorf ζ goo und was het denn de Raab gsäit? Harald: jo näi, ich bi scho no nie uf de Chopf ine gfloge, und denn isch am nächschte Taag de Raab wider choo mit em Chääsmocke im Muul, und denn het er tänkt, jo chönnt ich das uuswächsle, und denn hät er tänkt VL: moment gschnäll, jetz chunnt na öppis, das mit den Oore ligge, mues d Sabine no verzelle, gäll? Sabine: jetz ligg mer äntli nümme uf den Oore umme, mir längt s. Sabine sagt hier beidemale nicht öpperem i den Oore ligge, sondern einmal öpperem i de Oore umeligge und einmal sogar öpperem uf de Oore umeligge. Harald sagt statt nid uf de

Chopf gfalle sii: nid uf de Chopf ine gfalle sii. Solche Veränderungen nehmen die Kinder in mindestens der Hälfte aller Fälle vor, in denen sie Phraseologismen brauchen. Die Phraseologieforschung definiert ja Phraseologismen u. a. durch ihre Festigkeit. Sie ist der Auffassung, daß die Elemente einer festen Wortverbindung in dieser und genau in dieser Kombination vorkommen müssen, damit der Phraseologismus als zustande gekommen gelten kann. Diese restriktiven Bedingungen für die Form von Phraseologismen hängen damit zusammen, daß Phraseologismen aus Elementen der Sprache bestehen, die als einzelne selber schon Zeichen sind, daß sie sprachstrukturell gesehen also sekundär-kodierte Zeichen sind, deren Zeichenstatus deshalb viel weniger stabil ist als derjenige primärer Zeichen und darum sorgfältig bewahrt werden muß. Wenn die Bedingungen der bestimmten bedeutungsmäßigen und strukturell analogen Be-

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Spracherwerb

Ziehungen beim Abändern von Phraseologismen nicht eingehalten werden, dann zerfällt die phraseologische Bedeutung zugunsten der wörtlichen Bedeutung — so die Auffassung der sprachstrukturell orientierten Theorie von Phraseologismen (vgl. aber 2.2.2.). Kindergärtler beachten diese phraseologische Festigkeit oft nicht. Was bedeutet das? Solche Veränderungen sind keine Anpassungen an die eigene Grammatik und auch keine Performanzerscheinungen, sondern können Ausdruck einer „Gleichgültigkeit" gegenüber formalen Einzelheiten und größeren formalen Zusammenhängen sein, die die Bedeutung in keiner Weise beeinträchtigen. Es wird zu untersuchen sein, ob diese Nichtbeachtung von formalen Eigenschaften von Phraseologismen auf der Verstehensseite allenfalls eine Entsprechung hat. Daneben gibt es eine andere Art von formalen Veränderungen. Dafür zunächst die folgenden Beispiele: Markus: (.. .) und de het de Hund de Raab gfrööget, hesch du Hunger, un de nochäne het er gsäit, näi, und denn isch, denn isch de Raab und denn nochäne het de Raab zvil gredet, und de het er de Schnabel is Loch ine ghebt, und denn het er gredet und den nochäne (.. .) (Es geht um die Wendung öpperem ufd Finger luege) VL: was isch gsii mit em Till? Thomas: het welle Fäscht goo VL: und de? Thomas: het nid welle VL: worum het er nid welle? Thomas: isch em langwiilig gsii VL: und de, was isch passiert, wer isch no mit choo a das Fescht? Thomas: d Mueter VL: und was het die tänkt? Rene: er soll nid bös sii (Pause), daß er Säich machi i de Liiüt Harald: Jo, das han i au welle säge, d Mueter isch taub worde und het en fescht α de Händ ghebet, uf d Händ gluegt.

Auch diese Veränderungen lassen sich kaum als Anpassungen an das individuelle kindersprachliche System interpretieren. Sie haben viel eher mit den Vorstellungen zu tun, die mit dem Gebrauch dieser Phraseologismen verbunden sind.

Markus gibt den Phraseologismus der Vorlage, i äis Loch ine schwätze, richtig wieder mit reden und zuviel reden, darüber hinaus formuliert er die Vorstellung, die er damit verbindet, wonach der Rabe den Schnabel in ein Loch hinein steckt, während er redet. Harald sagt zunächst statt uf d Finger luege, α de Händ hebe und dann uf d Händ luege. Worum es dabei geht, ist klar. Till soll keine Dummheiten machen. Zu diesem Zweck kann man ihn an den Händen halten oder ihm auf die Hände schauen. Mit dieser zweiten Version kommt Harald der Form des phraseologischen Vorbilds näher. Auch in den folgenden Beispielen finden die Kinder Formen, deren Verwandtschaft mit den phraseologischen „Vorbildern" noch deutlich erkennbar ist, die aber gleichzeitig ihren Vorstellungen entsprechend abgeändert worden sind: (Es geht um die Passage, wo die Räuber den Kartoffelkorb mitnehmen.) Sabine: (. ..) und denn sind äbe Räuber choo und händ de Choorb mitgnoo, und debii isch s nur de Choorb gsii, wo de Till dinne gsii isch, und denn händs überhaupt nid gmerkt, daß das ja en fuule Choorb isch. VL: Was isch fuul gsii? Sabine: De Till isch fuul gsii, wil er ja gschlaafe het, isch er ja fuul. (In der Vorlage hieß es: (...), daß si gar nid gmerkt händ, daß mit däm schwääre Choorb öppis fuul isch ...) Isa: und de het er alls verzeih, und de hends em gsäit, du hesch rächt, VL: je, rächt gschee isch ne. VL: und di andere Tier? Roman: die händ glachet VL: jo Rene? Rene: und händ tänkt, es sig doch rächt wie dä Raab ( . . . ) VL: . . . wer wäiß no, was er gsäit het, worum er käi Angscht me het? Claudia: er luegi scho, daß käne uf in gschliche chient (In der Vorlage heißt es: . .., daß im käne uf d Schlich chiem.)

Erstaunlich ist, daß die Kinder die Phraseologismen durchaus selbstverständlich so zurechtbiegen, wie sie sich etwas darunter vor-

Kindergärtler stellen können. Daß es für die Kinder jeweils nicht nur eine einzige mögliche Kombination von Form und Vorstellung gibt, zeigt die Reaktion Sabines, die nicht darauf beharrt, daß entweder der Korb faul sein müsse oder daß sie nicht verstehe, worum es gehe. Aus dem Kontext begründet sie ad hoc die Variante, wonach Till faul ist, weil er ja schläft. Es ist also weder so, daß die Kinder Phraseologismen entweder kennen und unauffällig brauchen oder aber weglassen, noch so, daß die Kinder die Phraseologismen strikt nach ihren eigenen sprachlichen Regeln brauchen oder weglassen. Die Gründe für die Veränderungen, die die Kinder an phraseologischen Formen vornehmen, müssen nicht unbedingt sprachliche Gründe sein. In den folgenden Äußerungen haben die Kinder eine konkrete Vorstellung von der Bedeutung, die sie ausdrücken wollen, und versuchen, die phraseologische Form der Vorlage zu rekonstruieren. Das gelingt ihnen verschieden gut: (Die Kindergärtnerin fragt nach der Bedeutung von Phraseologismen.) K-gärtnerin: s Lache wird üüch scho vergaa (. ..) was heißt das? (...) Roman: ir tüend jetz de glii nümme lache K-gärtnerin: worum tüend s nümme lache? Sabine (sie erwartet etwas wie: weil der Frosch bald eine von den Fliegen gefangen haben wird) Sabine: ( . . . ) wil s t/illicht mit de Flüüge, wie häißt s eso, em, wil s nochhär tüend brüele, wil nämmli d Flüüge doch es Tier isch. K-gärtnerin: jawoll, wil me de Verbaarme mit de Flüüge hätti, gäll!? Sabine: ja Sabine will Verbaarme ha mit öpperem brauchen, kann aber nur noch die Präposition mit rekonstruieren, sagt dann wie häißt s eso und em und umschreibt schließlich relativ umständlich, was sie meint. Die Kindergärtnerin errät, was sie hat sagen wollen, fragt wil me de Verbaarme mit de Flüüge hätti, gäll? und Sabine ist zufrieden. Sabine: und nochäne het er gmäint, ebe es sei siin Gspaane, und nochetäne het er gschumpfe mit im, het gsäit, m, (Pause): bisch nid rächt bi dir? oder so öppis?

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VL: jo genau, bisch nid ganz bi Trooscht? Sabine: jo, und nochetäre . . . Sabine erinnert sich hier an die Struktur des Phraseologismus, aber nicht mehr an den genauen Wortlaut. Sie findet eine Variante, die es ihr ermöglicht, die Struktur mit anderen lexikalischen Elementen zu besetzen. Bei diesen Beispielen zeigen die Umstände, das paraverbale Verhalten der Kinder, sowie ihre Bemerkungen wie häißt s und oder so öppis?, daß es im Zusammenhang mit dem Gebrauch der Phraseologismen Probleme der richtigen Form geben kann. Die Kinder, die ja auch andere Möglichkeiten als phraseologische haben, das auszudrücken, was sie wollen, und davon manchmal auch Gebrauch machen, bemühen sich aber, die sprachliche Form der Vorlage zu treffen. Und zwar tun sie das auch in Fällen wie dem folgenden, in dem sie weniger die Vorstellung von einer Bedeutung haben, die sie ausdrücken wollen, als daß sie sich gegenseitig an Ausdrucksformen erinnern. Isa: het er gsäit, Mami törf i e chli go spaziere, de het si gsäit: näi, näi du und de, de het er tankt, jetz schliich i ab Markus: nä'ä VL: was het er de tänkt? Markus: er het tänkt, (...) d Mueter häig mich gärtt VL: d Mueter häig mich gärn? Isa: nä'ä, ich tue jetz e chli α der Mueter Fäde zie Markus: Fäde zie!? VL: was häißt Fäde zie? Isa und Markus zögern, schließlich meint Markus fragend : Markus: Hoor uusriiße? VL: Fäde zie häißt „verschwinde" . . . Die Kinder erinnern sich an die Form, haben aber keine Vorstellung davon, was das bedeutet, und schlagen schließlich Hoor uusriiße vor. Daß in einer solchen Szene ein möglicher erster Schritt im Erwerb von Phraseologismen liegen kann, zeigt die Tatsache, daß dieselben Kinder im Verlauf der zwei Wochen lernen, was Fäde zie heißt und wie man den Ausdruck braucht; allerdings brauchen sie den Phraseologismus auch am Schluß formal noch nicht richtig. Es scheint, daß die Kinder Kontexte kennen, in denen sie erwachsenensprachliche Phraseo-

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logismen brauchen können, lange bevor sie wissen, w a s E r w a c h s e n e über Phraseologismen wissen und wissen m ü s s e n , u m Phraseologism e n brauchen und verstehen zu können. Die Kinder brauchen die Phraseologismen jedenfalls, ohne d a ß sie die je speziellen Festigkeitsa n f o r d e r u n g e n der Struktur beachten.

6.3.2. Verstehen A n den A n f a n g dieses Kapitels sollen die R e a k tionen v o n vier K i n d e r g r u p p e n auf die Wortverbindung e Schraube

locker haa gestellt wer-

den. Sie zeigen einen großen Teil des Spektrums der Möglichkeiten, die Kinder haben, Phraseologismen zu verstehen: Die einen Kinder verstehen nichts. D i e anderen Kinder verstehen etwas, aber nicht d a s , w a s die E r w a c h senen darunter verstehen: sie fangen an, von Schrauben, M u t t e r n und Z a n g e n zu erzählen. Die dritten kennen und brauchen die Wortv e r b i n d u n g im erwachsenenmäßigen Sinn: sie bringen S y m p t o m e , erzählen von konkreten Verwendungssituationen. Die einen stören sich nicht an der konkreten Vorstellung von Schrauben im K o p f der M e n s c h e n , und die anderen sind g a r nicht d a z u zu bringen, sich d a s vorzustellen und sich d a z u zu äußern. VL: letschti het d Sybille zu de Claudia gsäit, si heg e Schraube locker, hesch du äigetli e Schraube locker? het si gfrogt. Ir wüssed sicher alli, was das häißt oder? alle fünf: näi, näi VL: hesch e Schraube locker, näi? alle: näi VL: spinnsch, häißt das alle: (lachen) VL: händ ir das no nie ghöört? alle: näi VL: also guet, we mer säit, du hesch e Schraube locker, de mäint mer dodermit, spinnsch; worum säit mer acht das, hesch e Schraube locker? Isa: will er e chli spinnt VL: aber worum e Schraube? d Lüüt händ jo käi Schraube Isa: mer chönnt jo au daas zeersch schraube, näi e Schlüssel müe mer äinisch mit de Chetti nää Carmela: am Velo isch e Schraube los Isa: (zeigt an Bauch und Stirne) näi, aber mir händ dodo e Schraube, kik oder da obe VL: säged ir das au, du hesch e Schraube locker?

hesch du äigentlich e Schraube locker? - was häißt das? Markus: e Schraube locker, häißt, isch dir e Schraube locker, das häißt, si isch e bitzli use Beat: d Muetere Ursli: e Zange VL: aber das säit me nid zum Velo, das säit me zum Biischpil zu dir. Wenn ich das zu dir säge, oder de Ursli säit zu dir, du hesch e Schraube locker? Het das öppis mit Muetere ζ tue? (...) Beat: de mues d Muetere locker sii, de isch au d Schraube locker, die mues wiiter voore sii VL: du Bettina, was häißt das, du hesch e Schraube locker Bettina: hesch e Schruubezier? VL: öpper het e Schraube locker, das het letschti Philip: (zeigt auf die Stirn) do obe het öpper e Schraube locker VL: was häißt das? Thomas: das häißt, me seig blöd VL: jo, und worum häißt ächt das esoo, d Lüüt händ doch kä Schraube? Philip: jo äifach so Thomas: wil s bsoffe sind Philip: jo wil s bsoffe sind Sabine: wo mir äinisch Auto gfaare sind, isch do uf ζ Maal e Bsoffne cho, und de het s ganz Trottoir braucht, de wer fascht is Auto ine gloffe, i euses VL: aber het de e Schraube locker ghaa? Sabine: jo Philip: du, ich mues der öppis säge, wäm mer e Schraube locker hät, de häißt das, du bisch halb blöd oder häsch e Schraube verlöre, das häißt, lauft der s Sagmääl use? VL: jo genau, aber worum säit mer das, d Lüüt händ jo käi Schraube? Sabine: jo Philip: wil, wil, wil em VL: (zu Claudia und Sybille) du hesch letschti zu ire gsäit, du hesch e Schraube locker, gäll? Sybille: (nickt) mhm VL: was häißt das? du hesch e Schraube locker? Rene: ah hesch es Vögeli do obe VL: jo genau, aber worum säit mer das, d Lüüt händ jo gar käi Schraube? Sybille: wenn si tick tack hesch Rene: wenn sie mäined, daß du spinnsch, hesch e chli en Vogel do obe VL: jo genau, denn säit me das, aber worum säit mer, hesch e Schraube locker, wenn doch d Lüüt gar kä Schruube händ und au kän Tick Tack?

Kindergärtler Sybille: das säit amigs de Reto zu mir au, und wäisch de Bapi het emol zum Reto gsäit, hesch du do obe e Schruube locker, de het er gsäit, hes du Luube locker, Bapi obe? VL: aber chönd ir üiich voorstelle, worum me das säit? (...) Roman: wenn du nüme ganz normaal bisch VL: jo aber me het doch käi Schruube, me müest jo säge, hesch du en Aadere platzt da obe oder fäält dir en Chnoche? Sybille: das säit mer äifach, wil süscht isch es äifach, das isch äifach e chli schooner zum säge weder son es Vögeli und so, schööner zum säge

Um etwas darüber zu erfahren, wie die Kinder verstehen, haben wir ihnen oft metakommunikative Fragen gestellt. Wir haben sie zum Beispiel gefragt, weshalb sagt man von Menschen, die doch keine Schrauben haben, daß sie eine Schraube locker hätten. Man könnte vermuten, daß solche Fragen die Kinder überfordern. Dem ist aber nicht so. Die Kinder verfügen über verschiedene Möglichkeiten, auf solche Fragen zu reagieren: Einmal scheuen sie sich nicht, zu sagen, das wüßten sie nicht. Diese Reaktion ist je häufiger, je kleiner der Kontext des Phraseologismus ist, über den wir reden. Wenn die Phraseologismen jedoch in Geschichten eingebettet sind, dann haben die Kinder andere Möglichkeiten, auf metakommunikative Fragen zu reagieren. Sie können dann beispielsweise vom Kontext der fraglichen Stelle erzählen. Dann verstehen sie die Frage so, wie sie sie sinnvoll beantworten können, was sehr aufschlußreich ist. Es kommt häufig vor, daß sie eine andere Frage beantworten, als wir eigentlich gestellt hatten. Das ist im allgemeinen darum ohne weiteres möglich, weil wir die Fragen meistens stellen, ohne sie weiter zu begründen oder irgendwelche Präsuppositionen zu formulieren. Andernfalls sind die Kinder auch imstande, die Annahmen, die mit der Frage gemacht werden, zurückzuweisen: Beispielsweise können sie darauf beharren, daß Menschen Schrauben hätten, auch wenn zur Fragebegründung explizit davon ausgegangen wird, daß Menschen keine Schrauben haben. Im folgenden sollen Beispiele dargestellt und besprochen werden, die darüber Aufschluß geben, ob die Kinder unter Phraseologismen

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etwas verstehen, was sie verstehen, und wie ihr Verstehen zustande kommt. Verstehen soll dabei zunächst nicht heißen, „richtig" vom Standpunkt der Erwachsenen aus verstehen. Verstehen soll heißen etwas verstehen im Gegensatz zu nichts verstehen, was nicht dasselbe ist wie Nicht-Verstehen im erwachsenenmäßigen Sinn. Daß die Kinder nichts verstehen, sieht man daran, daß sie auch auf Aufforderung hin, nichts sagen oder daß sie sagen, sie wüßten nicht, was das heiße. Wie aber sieht man, daß die Kinder etwas verstehen, was die Kinder verstehen, und wie ihr Verstehen zustande kommt? Dafür gibt es verschiedene Indizien, die die Grundlage der folgenden Einteilung in Unterkapitel bilden sollen. 6.3.2.1. Nonverbale und paraverbale Indizien für Verstehen Daß die Kinder verstehen, und was sie verstehen, kann man zum Beispiel an der Gestik und Mimik ablesen, mit der die Kinder spontan oder auf Aufforderung hin Phraseologismen begleiten. Man kann das Kind ζ. B. auffordern, einen bestimmten Text zu „spielen", eine bestimmte Wortfolge „auszuführen" oder eine Geschichte mit Puppen oder Bauklötzen nachzuspielen. Der Erfolg solcher Operationen hängt gänzlich davon ab, ob das Kind gerade Lust hat, auf das Spiel einzugehen und wie lange es damit durchhält. Im Glücksfall gelingt der Nachweis, daß das Kind sich unter der Wortverbindung etwas vorstellt und daß diese Vorstellung der erwachsenensprachlichen Bedeutung zumindest nicht widerspricht. Im Zusammenhang mit der Drohung waartet nur, ich will üiich leere, die im Froschspiel vorkommt, sprechen einige Kinder schon beim ersten Mal drohend mit und fuchteln dabei mit ihren Zeigfingern warnend in der Luft herum. Schon beim zweiten und dritten Mal machen fast alle Kinder begeistert und schließlich geradezu überbordend mit. Als die Kindergärtnerin die Geschichte vom Till Eulenspiegel zum zweitenmal erzählt und

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die Kinder stumm mitspielen sollen, verrieht Claudia, die den Till spielt, bei der Stelle de Till het en Lätsch gmacht ihr Gesicht, so gut es geht, und hilft sogar noch mit den Fingern nach, die Mundecken herabzuziehen. An der Stelle, w o Till sich de längewääg in den Kartoffelkorb legt, versucht sie krampfhaft, lang wie sie ist, sich über den mitgebrachten, runden Korb zu legen. Als die „ R ä u b e r " sie schließlich im Korb wegtragen wollen, muß sie sich wohl oder übel doch im Korb zusammenrollen. Wenn die Kinder einen Phraseologismus schon kennen, kommt jedoch häufig die Erfahrung, die sie damit gemacht haben, in ihrem nonverbalen und paraverbalen Verhalten zum Ausdruck: Die Kinder äußern die Phraseologismen im selben Ton, mit denselben Gesten, mit denen sie sie gehört haben, tröstend, wütend, herausfordernd, aufgeregt, nicht so, als ob sie bloß erklären würden, was sie heißen, sondern so, als o b sie sie anwenden würden.

6.3.2.2. Der Bezug auf individuelle Situationen als Hinweis auf Verstehen Kindergärtler hören sich die Geschichten, die die Kindergärtnerin erzählt, nicht einfach als Geschichten an, sie beteiligen sich daran, sie beziehen sie auf ihre — momentane oder allgemeine, aber in beiden Fällen individuelle — Situation im Kindergarten oder zu Hause. Dabei kommt es vor, daß sie sich auf Elemente der Geschichte beziehen, die phraseologisch ausgedrückt worden sind. Als die Kindergärtnerin die Geschichte vom Till Eulenspiegel zum erstenmal erzählt und beginnt: De Till isch en Bueb, en Luusbueb, wo Oppen emol tummi Sache macht und andere Lüiit no so gärn en Sträich spilt, fangen einige Kinder spontan an von den Streichen zu erzählen, die sie andern Leuten schon gespielt haben. Im folgenden Beispiel bezieht sich Rene auf die Eigenschaft der Tante Frieda, die durch i äis Loch ine schwätze charakterisiert ist: VI ist daran, den Witz von Tante Frieda zu erzählen, die gerade i äis Loch ine schwätzt.

Da ruft Rene dazwischen: wie η iich\ Er ist ganz glücklich darüber, daß auch andere Leute zuviel reden. Im nächsten Beispiel reagieren einige Kinder auf die Aufforderung, zu erklären, was wunder nää bedeutet, als ob sie gefragt worden wären, ob etwas sie wundere. Sie reagieren demonstrativ mit näi, näi. Kindergärtnerin: was häißt das wunder nää, tuet s üüch nid wunder nää? Mehrere: näi, näi Kindergärtnerin: liebe Frosch, heb doch Verbaarme mit mir aarme. Was häißt das, wenn ich säge, heb doch Verbaarme? Philip: er het e käi Flüüge gfange (...) Rene: fräß mich doch lieber nöd! (...) Birgit: bis doch lieb zu mir Bettina: das cha mer au em Leu säge, mier Mansche! Eines: oder bi me Tiger Kindergärtnerin: wenn ich jetz eu säge, ich ha Glace da usse, so lauft i eu allne zäme s Wasser im Muul zäme, was häißt das s Wasser im Muul zämelaufe? Carmela: ich wäiß es Beat: jede wett VL: was häißt das, das chunnt gar nid i Froogf Roman: das taf me nöd, das tafsch jetz äifach nöd. Philip: er mues i d Badi VL: näi, er darf ebe nid i d Badi Carmela: ebe grad nöd! Du töfsch äifach nid. Das muesch äifach nöd. Ersch wenn d im Chindergaarte bisch, törfsch. Philip: aber er wott, gället Si, er wott VL: jo, er wott VL: wäge miine, wäge miine chasch d Aepeeri haa Claudia: jo, du chasch s haa Rene: hedo, hedo, hedo Roman: chasch s haa, do chasch s nee Andere: nimm, nimm (Die Kinder überbieten sich gegenseitig) Im Zusammenhang mit heb doch Verbaarme findet Bettina eine im Kontext von Kinderbüchern zu begreifende Möglichkeit, die Wortverbindung anzuwenden, nämlich gegenüber einem Löwen. Sie sagt auch nicht die Men-

schen können das zu einem Löwen sagen, sondern sie sagt, wir Menschen können das zu einem Löwen sagen. Wie das im Kindergarten

Kindergärtler

üblich ist, zieht eines der Kinder sofort nach mit dem Parallelvorschlag oder zu einem Tiger. Beim folgenden Beispiel bettet die Kindergärtnerin schon in der Frage die Wortverbindung in eine Kindergartensituation ein, und Beat nimmt das auf. Nid i Froog choo umschreibt Carmela — ganz Kindergärtlerin: Du töfsch äifach nid. (...) Ersch wenn

d im Chindergaarte bisch, törfsch. In der kleinen Szene, in der es um wäge tniine geht, fangen die Kinder an, „Erdbeeren-Anbieten" zu spielen, sie stehen auf, strecken die Hände mit den anzubietenden Erdbeeren aus und steigern sich gegenseitig im Ausdruck der Zustimmung dazu, daß der andere die Erdbeeren haben kann. Man kann diese Äußerungen zusammenfassen unter dem Aspekt, daß es Beispiele sind, in denen sich die Kinder anhand von Phraseologismen auf konkrete Situationen beziehen, die sie erlebt haben, oder die sie im Moment erleben oder spielen. Es könnte so aussehen, als ob die Berichte von Erlebnissen oder das Hinweisen auf die momentane Situation oder das Spielen von Szenen, die sich die Kinder vorstellen, von den phraseologischen Wortverbindungen wegführen würden, die wir gerade „besprechen". Das stimmt insofern, als es von den Phraseologismen als metasprachlichen Objekten wegführt; als solche müssen wir sie vorbringen, wenn wir Fragen stellen. Das heißt aber nicht, daß man deshalb weniger erfährt, in gewisser Hinsicht erfährt man mehr: Die Reaktionen der Kinder zeigen nämlich, daß sie in bezug auf diese Phraseologismen ein aktives Verstehenswissen und eine aktive Verstehensfähigkeit haben, auf deren Grundlage sie die Phraseologismen in konkrete Situationen bringen können. Darin liegt auch eine methodische Bestätigung der Untersuchung: Die Erhebungssituation ist offenbar nicht so künstlich oder so weit von der Alltagssituation der Kinder entfernt, daß sie die Verbindung zu ihrer individuellen Wirklichkeit nicht jederzeit herstellen könnten. Dann gibt es eine zweite Ebene, auf der Kinder sich anhand von Phraseologismen auf konkrete Situationen beziehen. Das ist nun -

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zumindest aus erwachsener Sicht — eine metasprachliche Ebene. Ausgehend von Phraseologismen erzählen die Kinder, wann sie oder jemand, den sie kennen, den Ausdruck gebraucht haben. Manchmal erzählen sie, was sie oder ihre Familienmitglieder stattdessen in solchen Situationen zu sagen pflegen, und auch das ist nicht selten aus erwachsenensprachlicher Sicht phraseologisch. Daß die Kinder konkrete Verwendungssituationen angeben, ist im großen und ganzen ein Zeichen dafür, daß sie die Phraseologismen kennen und — in bezug auf die angegebenen Situationen — richtig verstehen. VL: was häißt das i de Oore ligge? Bettina: er möcht so gärn goo VL: was het das mit Oore ζ tue? Isa: i de Oore ligge, äifach immer gstürmt VL: säged ir das au dehäi? Bettina: ich säge ame: Mami töf i e chuurze Pulli, und de säit si immer: jetz hör emol uuf stüiirme, muesch mer gar nid immer i de Oore ligge Markus: Mis Mami säit nur, wenn ich öppis Chuurzärmligs will, nä'ä Enzo: mis Mami säit immer, ich töf scho bade goo (Den Kindern wird ein Wortspiel vorgelegt, das darauf aufbaut, daß die phraseologische Wortverbindung fescht uf d Zään büße ambiguiert werden kann. Die Kinder lachen und werden gefragt, was sie daran lustig finden.) Rene: denn chan ich doch nid go bore und so Zügs VL: wenn säit me denn das, d Zään zämebiiße? Eines: daß nid wee tuet Rene: jetz säit si s wider, und e tuet wider ums verrecke Sybille: we me Sprütze macht, säit d Fräulein ame bi üüs bim Toktor, tue fescht uf d Zää büße, de macht s nid wee Kindergärtnerin: (. . .) er isch em i den Oore gläge, was häißt das acht? Markus: das häißt, du tuesch battle (...) Sabine: s Mami säit au immer ame, jetz ligg mer nid immer i den Oore

Im folgenden Beispiel erzählen die Kinder im Anschluß an die Unterhaltung über einen Witz, in dem die Wortverbindung er isch scho wider uf de Bäine gsii auch ambiguiert wird, was ihre Mutter in solchen und ähnlichen Situationen jeweils sagt:

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Claudia: er isch scho wider uf de Bäi gsii Eines: ich au Roman: ich au, ich ha au der Claudia ires luschtig gfunde, das find ich au luschtig VL: (an die übrigen) was finded iir luschtig? Eines: as er wider uf de Bäine isch VL: jo wenn säit mer das normaalerwiis? Claudia: wenn öpper wider gsund isch Bettina: mir säged, jetz bisch wider glücklich und gsund, jetz bisch wider guet uf de Bäine oder s Mami säit mängisch, we mer guet uusgschloofe isch, jetz bisch wider guet uf de Bäine Claudia: s Mami säit ame mängisch, bisch wider guet im Strumpf, we mer Roman: das säit s Mami au immer wenn ich amigs mues früe uufstoo, und ich bi verruckt, säit s Mami, bisch mit em lingge Bäi uufgstande

6.3.2.3. Die Erklärung durch den sprachlichen Kontext als Hinweis auf Verstehen Zuerst ein Beispiel: Kindergärtnerin: ( . . . ) und jetz müend er lose, was de Frosch gsäit het: waarted nur, ich will euch leere. Was häißt acht das, Rene? Rene: ich fange dänn schon no e Flüüge Claudia: das han i au welle säge Brigit: chasch denn luege, ich fang scho no e Flüüge

Waarted nur, ich will iiüch leere, das ist eine Drohung und bedeutet ,wer zuletzt lacht, lacht am besten'; mit ich fange dänn scho no e Flüüge hat diese Wortverbindung nur in diesem speziellen Kontext zu tun, d. h. die Erklärung der Kinder ist nur dann nachvollziehbar, wenn man die Geschichte kennt, auf die sie sich in der Erklärung beziehen. In der folgenden Äußerung geht es um den Ausdruck nid uf de Chopf gfalle sii. Das heißt nur dann mich het würkli niemer gsee, wenn man folgenden Zusammenhang kennt: Wenn der Rabe sagt, daß er nicht auf den Kopf gefallen ist, so meint er damit, daß er sich beim Stehlen nicht erwischen läßt, indem er dafür sorgt, daß er nicht gesehen wird. Kindergärtnerin: (. . .) ich bi schließli nid uf de Chopf gheit, was häißt ächt das? Sabine: mich het würkli niemer gsee

Der Kontext bietet den Kindern die Möglichkeit, Fragen nach der Bedeutung von Phraseologismen auch dann zu beantworten, wenn sie — ihren Kontexterklärungen nach zu urteilen —, die Phraseologismen nicht kennen oder jedenfalls nicht im Sinne der erwachsenenmäßigen Bedeutung verstehen. Das kann man wohl als Hinweis darauf ansehen, daß die Kinder auch für sich selber die Bedeutungen von Phraseologismen aus dem Kontext zu verstehen suchen können. Dafür spricht auch die Tatsache, daß die Kinder ersichtlich nicht unter dem Zwang, eine Antwort zu geben, schließlich etwas aus dem Kontext einer phraseologischen Wortverbindung erzählen, die sie nicht kennen und nicht verstehen können; die Kinder melden sich auch in diesen Fällen ungeduldig mit ich wäiß was und machen den Eindruck als ob sie ganz sicher wären, daß ihre Version absolut richtig ist. Die Erklärung von Bettina im folgenden Beispiel fängt als allgemeine Bedeutungsbeschreibung an und endet mit dem Beizug ganz spezieller Kontextelemente: am Säil abeloo kann man generell umschreiben mit „bewirken, daß jemand hereinfällt"; und de mäint er, daas stimmt, debit git dim der ander e Säich aa ist eine eingeschränktere Umschreibung und debii flüügt de nachher, was mer im Muul het, use stimmt nur noch für den Raben in unserer Geschichte. Carmela formuliert trotzdem allgemein was man im Mund hat; sie scheint den Unterschied zwischen ihren ersten allgemeineren Umschreibungen und der kontextabhängigen am Schluß nicht zu bemerken. VL: am Säil abeloo? Philip: wenn äine abgeheit ab em Bärg (...) Beat: keit äine uf d Schnorre Bettina: näi, de gheit eine drii und de mäint er, daas stimmt, debii git äim der ander e Säich a und debii de flüügt de nachher, was mer im Muul het, use.

Im allgemeinen erinnern sich die Kinder an den tatsächlichen Kontext einer Wortverbindung, auch wenn das Erzählen der entsprechenden Geschichte Stunden oder Tage zurückliegt. Ihre Versuche, vom Kontext her zu erklären, sind darum selten ganz falsch.

Kindergärtler 6 . 3 . 2 . 4 . Angaben zu einem möglichen sprachlichen Kontext und allgemeine Bedeutungsumschreibungen als Hinweise auf Verstehen Es gibt Fälle, in denen die Kinder anhand der vorliegenden Phraseologismen nicht auf die Erfahrungen zu sprechen kommen, die sie mit „ W e l t " oder Sprache gemacht haben; es gibt Fälle, in denen die Kinder auch nicht auf den Kontext zu sprechen kommen, in dem die Phraseologismen vorgekommen sind; stattdessen machen sie Angaben zu einem möglichen sprachlichen Kontext, den sie sich selber ausgedacht haben, der aber nicht konkret ist, in dem Sinn, daß angegeben wird, daß er sich auf die konkrete außersprachliche Situation bezieht, stattdessen geben sie auch Bedeutungsumschreibungen, die für mehrere, viele oder annäherungsweise auch alle möglichen Verwendungsweisen der betreffenden Phraseologismen gelten würden. Dafür ein Beispiel: Kindergärtnerin: . . . gäll, er isch jo dick und fäiß gsii und het immer so i äis Loch ine gschwätzt, was häißt das so, i äis Loch ine gschwätzt? Beat: daß er immer gschwätzt het Kindergärtnerin: denn, was häißt das: Nacht für Nacht sind em Hund d Auge zuegfalle, Bettina? Bettina: jedi Nacht sind em d Auge zuegheit, daß er nümme het chönne de Puurehoof bewache Kindergärtnerin: wenn ich dir tue s Läbe schänke, muesch s Flüüge halt an Nagel hänke. Was häißt acht das? Beat: wäiß nid (...) Brigit: d Flüüge chasch an Nagel 'länke Mehrere: ich wäiß was! Carmela: ich wäiß was, nie me flüüge Sabine: darfsch äifach nie me e Flüüge sii, bisch verzauberet (...) Eines: das cha me jetz nüme mache In diesem letzten Beispiel umschreibt Brigit

muesch s Flüüge halt art Nagel hänke mit d Flüüge chasch an Nagel hänke. Diese Bedeutungsumschreibung zeigt, daß sie die Wortverbindung nicht richtig versteht. Das ist nicht weiter verwunderlich: Kindergärtler können zwar grundsätzlich Phraseologismen richtig

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verstehen, — das geht aus dem Material hervor —, das heißt aber nicht, daß sie alle Phraseologismen richtig verstehen, die man ihnen vorlegt. Erstaunlich ist nicht, daß Brigit nicht richtig versteht, erstaunlich ist vielmehr, wie sie hier versteht. Ein erwachsener Sprecher/ Hörer, der den Phraseologismus nicht kennt, würde nicht so verstehen. Er würde eher entweder merken, daß es sich bei der ganzen Wortverbindung um eine phraseologische handeln muß, und sie als ganze isolieren, oder er würde auf eine ganz bestimmte Art und Weise verstehen bzw. mißverstehen: man nennt diese Art und Weise „wörtlich" und spricht dann von „wörtlichem Verstehen". Brigit versteht nicht wörtlich: sie macht aus s Flüüge d Flüüge, obwohl damit — aus erwachsenensprachlicher Sicht — die sinnvolle Beziehung zum Kontext verloren geht, in dem der Frosch zur Fliege übers Fliegen spricht. Die Frage, die sich hier aufdrängt, ist diejenige nach den Mechanismen, aufgrund derer Brigit so versteht. Das ist die Frage nach dem Wie des Verstehens von Phraseologismen bei Kindern. Wenn man das Material daraufhin durchgeht, so findet man zwei Typen von Möglichkeiten, die die Kinder haben, um Phraseologismen zu verstehen: Sie können „ganzheitlich verstehen" oder sie können „synkretistischwörtlich verstehen". Diese beiden Verstehensarten sagen noch nichts darüber aus, ob die Kinder richtig verstehen oder nicht. Das widerspricht einer intuitiven Vorannahme, derzufolge man ohne weiteres annehmen würde, daß ganzheitliches Verstehen zu richtigem Verstehen führt, wörtliches Verstehen aber Mißverstehen bedeutet. Welches die Gründe dafür sind, das wird zu erläutern sein.

6 . 3 . 2 . 5 . Ganzheitliches Verstehen \ Wenn man die folgenden Beispiele durchgeht, so gibt es bei den Erläuterungen der Kinder nicht den leisesten Hinweis darauf, daß die Kinder ihre Umschreibung und damit möglicherweise auch ihr Verstehen innerhalb der Wortverbindung aufbauen: Weder brauchen sie einzelne Wörter der phraseologischen Verbindung in ihrer Umschreibung, noch hat die

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Umschreibung eine analoge Struktur zur phraseologischen Wortverbindung; auch wird die Bedeutung nicht analog aufgebaut — beispielsweise mit bedeutungsähnlichen Wörtern — und die Umschreibung hat nichts Künstliches, Ungebräuchliches. Stattdessen sind es gebräuchliche, andere, freie oder phraseologische Wortverbindungen, die manchmal auch nicht genau die Grenzen der zu umschreibenden Wortverbindung einhalten. VL: d Mueter het de Till nid us den Auge gloo Sabine: immer am Tag schöön auf en uufpaßt Kindergärtnerin: und was häißt acht daas? Bisch du äigetli schwäär vo Begriff? (...) Roman: ich wäiß es (...) Röman: begriifsch nüt? VL: es hänkt mer jetz den uusf Roman: ich wirde jetz denn verruckt he! Claudia: jetz muesch denn öppe uufhööre

Daß die Kinder auf diese Art erläutern, ist ein erster, schwacher Hinweis darauf, daß sie diese Phraseologismen als Ganze verstehen. Weiteren Aufschluß kann die Frage an die Kinder geben, ob sie wüßten, weshalb man das so sage, woher diese Ausdrucksweise komme. Mit Hilfe dieser Frage kann man versuchen, herauszufinden, ob die Bedeutungen der einzelnen Wörter der phraseologischen Wortverbindung für die Konstituierung der phraseologischen Bedeutung eine Rolle spielen; denn eine der Möglichkeiten, die obigen Fragen zu beantworten, liegt darin, eine Verbindung von der phraseologischen Bedeutung zu den Bedeutungen einzelner Elemente des Phraseologismus herzustellen; und wenn die Kinder die phraseologische Bedeutung aufbauen, dann werden sie diese Verbindung machen: VL: was häißt das, Hals über Chopfi Enzo: das häißt wegsprunge, sind wegsprunge Bettina: ganz ganz ganz gschnell devoogsprunge i Wald oder irgendwo hi, und öppis ewäg nää VL: worum häißt das Hals über Chopf? Isa: si händ welle öppis wäg nää VL: wem wäg nää? Isabelle: a de Lüüt VL: was het de Till gmacht ghaa? Harald: Äpeeri gnäschelet

Sabine: isch er jetz devoo gschliche, das häißt, jetz het er sich scho usem Staub gmacht, jetze isch er scho devoogschliche VL: worum häißt das so, chasch du dir voorstelle, worum das so häißt? Sabine: furtschliiche häißt ganz langsam furtgoo

Diese Beispiele zeigen eine mögliche Reaktion der Kinder auf die Frage, warum man das wohl so sage: Sie verstehen und beantworten eine andere Frage als die, die eigentlich gestellt bzw. gemeint war: Isabelle beantwortet die Frage, warum die Diebe Hals über Kopf davongerannt seien, und Sabine erklärt, was fortschleichen heiße. Das säit mer äifach esoo ist eine weitere Möglichkeit, die die Kindergärtler haben, um auf die Frage warum? zu reagieren. Das säit mer so, tönt irgendwie sehr fortgeschritten. Man ist versucht, diese Stellungnahme als Anerkennung der phraseologischen Ausnahme als Ausnahme zu interpretieren. Tatsächlich bedeutet das aber nur, daß die Kinder sich in ihrer Gesamtbedeutung nicht verunsichern lassen und keine zweite Bedeutung der Wortverbindung sehen, die mit ihrer Gesamtbedeutung zusammenhängen würde. Soweit die Kinder durch Fragen dazu gebracht werden, an die Bedeutungen einzelner Wörter zu denken, klammern sie sie aus. Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, daß die Kinder sich dessen bewußt sind, daß das eine Ausnahmesituation ist, wenn man die wörtlichen Einzelbedeutungen einfach wegläßt. Die Situation scheint in keiner Weise rechtfertigungsbedürftig zu sein. Hin und wieder haben wir versucht, die Kinder dazu zu bringen, eine Verbindung herzustellen zwischen einer phraseologischen Bedeutung und der Bedeutung eines Elementes, indem wir nach einem Element gefragt haben: (Bisch du nid ganz bi Trooscht?) VL: was häißt das? Roman: das törf mer nid Claudia: spinnsch du e chli Carmela: häsch nid gnueg gschlaafe Philip: spinnsch du e chli? Roman: spinnsch du e chli? Carmela: du muesch no äinisch is Bett, wenn du so müed bisch Claudia: oder so böös bisch

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Kindergärtler VL: was häißt Trooscht? Philip: bisch liebe, näi bööse Carmela: Trooscht, wie, bisch no nid lieb oder ä, oder bisch spinnsch oder de Thomas säit das mir au immer, bisch als nid bi Trooscht, säit de Thomas aligs bi mir au immer.

Wir sind davon ausgegangen, daß die Kinder imstande sein würden, die Wortverbindung zu zerlegen, wenn sie sie vorher aufgebaut haben. Deshalb haben wir nach der Bedeutung von Trost gefragt. Philip antwortet: bisch liebe, näi bööse. Weshalb reagiert er zuerst mit einer Bedeutung, die das genaue Gegenteil von der phraseologischen Bedeutung darstellt, die die Kinder vorher genannt haben? Vermutlich denkt Philip im Zusammenhang mit dem isolierten Wort Trost an trösten. Trösten tut man liebe Kinder und trösten kann man, indem man sagt: du bist ein liebes Kind. Das scheint Philip zu wissen, deshalb kommt er zuerst auf die Bedeutung bisch liebe. Dadurch gerät er in Widerspruch zu Claudias Äußerung wenn du so böös bisch. Philip korrigiert sich deshalb in Richtung auf die Ergebnisse des vorangegangenen Gruppengesprächs. Aus dem Widerspruch, der durch die Bedeutungserklärung von Trost entsteht und durch die anschließende Selbst-Korrektur wieder aufgehoben wird, kann man wohl schließen, daß Philip bei der vorangegangenen Erklärung der festen Wortverbindung nicht an die Bedeutung des isolierten Wortes Trost gedacht hat. Carmela versucht die Bedeutung Trost zu erklären, indem sie die Struktur und die Lexeme der Wortverbindung bis auf Trooscht, das sie ersetzen will, beibehält. Wenn ein solches Verfahren gelingt, kommt man auf eine Teil-Bedeutung, die dem Wort Trost entspricht, aber nicht unbedingt die wörtliche Bedeutung sein muß. In diesem Fall ist es wohl nicht möglich, die Konstruktion und die Gesamtbedeutung beizubehalten und Trost mit einem anderen Wort zu umschreiben. Carmela nimmt drei Anläufe: der erste Versuch gelingt am besten, befriedigt sie aber offenbar nicht, so daß sie zu einem zweiten Versuch ansetzt. Schließlich verlegt sie sich darauf zu erzählen, daß ihr Bruder Thomas das zu ihr auch immer sage.

Daß es den Kindern nicht gelingen will, dem Wort Trost eine Teilbedeutung im Rahmen der Bedeutung des Phraseologismus zuzuschreiben, deutet darauf hin, daß sie ihr Verständnis der Wortverbindung nicht aus Teilbedeutungen aufgebaut haben, sondern daß sie die Wortverbindung als Ganze verstehen. 6.3.2.6. Synkretistisch-wörtliches Verstehen Das obige Kapitel enthält Beispiele von Phraseologismen, die die Kinder ganzheitlich verstehen. Da Phraseologismen in der Erwachsenensprache eine Gruppe von Erscheinungen sind, für die alle die Verstehensregel gilt, wonach man sie nicht wörtlich, sondern in übertragenem Sinn verstehen soll, wird man von einem erwachsenensprachlichen Standpunkt aus auch im Zusammenhang mit dem Erwerb von PhraseologiSmen intuitiv davon ausgehen, daß sie als eine Gruppe von Erscheinungen einheitlich erworben werden. Die folgenden Beispiele zeigen aber, daß die Kinder sich bei ihrem Verstehen auch auf die Bedeutungen einzelner Elemente der Phraseologismen abstützen, so daß sie gewisse Phraseologismen ganzheitlich, andere aber aufgrund einzelner Elemente verstehen. (Hals über Chopf dervoo gsprunge) Claudia und Carmela reagieren spontan. Claudia: gschwind, gschwind Carmela: gschwind, gschwind Philip: über d Chöpf gumpet VL: über wem sini Chöpf? Roman: über de Lüüt sini Chöpf gumpet VL: was häißt Hals über Chopf no? Carmela: ganz gschnäll Claudia: ja, ganz ganz gschwind

Philip und Roman reden hier davon, daß jemand über die Köpfe der Leute springe und davonrenne. Carmela und Claudia protestieren nicht. Diese Auffassung läßt sich mit ihrem Verständnis von ganz schnell wegrennen durchaus in Ubereinstimmung bringen. Und die beiden Buben haben nicht das Gefühl, eine andere Bedeutung der Wortverbindung vorzuschlagen, sondern zur Erläuterung von gschwind, gschwind beizutragen. Bemerkenswert ist, daß sie für ihr Verständnis einige, aber nicht alle Bedeutungen der Elemente der Wortver-

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bindung brauchen: Sie berücksichtigen die Bedeutungen von Kopf und über, sie vernachlässigen aber die Bedeutung von Hals und die Tatsachen, daß vor Kopf der Artikel fehlt und das Wort im Singular und nicht im Plural steht. Daß die Kinder nicht alle Elemente der Phraseologismen berücksichtigen, sondern sich an einzelnen Wörtern orientieren, zeigt sich auch an den folgenden Verwechslungen: (Die Kindergärtnerin fragt nach der Bedeutung von einzelnen Phraseologismen) Kindergärtnerin: das chasch der us em Chopf schlaa Bettina: das häm mer scho ghaa Kindergärtnerin: häm mer das scho gsäit? Näi Mehrere: moll Kindergärtnerin: nä'ä, uf de Chopf gheit, han i gsäit. — Das chasch der us em Chopf schlaa? Eines: klar häm mer scho gsäit Kindergärtnerin: nä'ä, du häsch es Durenand Philip: tänke, öppis tanke Kindergärtnerin: nä'ä, tüend emol lose, de Hund hät doch immer gfrogt, dörfi emol mitchoo oder chasch mer emol öppis bringe: chasch tänke, das chasch der us em Chopf schlaa Roman: du muesch nüme draa tänke VL: was häißt, sich i de Hoore ligge? Sabine? Thomas: Oore ligge VL: näi, nid i de Oore ligge, sondern i de Hoore ligge Sabine: ganz fescht striite VL: sich i de Hoore ligge, hämmer ä scho paarmaal gha Carmela: was Hoore ligge, ich ha gmäint i den Oore? VL: sich i de Hoore ligge, das git s au, öpperem i den Oore ligge, we me bättlet. Aber we me sich i de Hoore liit, wüssed ir no, wer sich i de Hoor gläge isch? Isa: i de Hoore ligge, de Till

Bisher kann man zusammenfassend sagen: es kommt auch vor, daß die Kindergärtler eines oder mehrere Elemente des Phraseologismus verstehen und die Gesamtbedeutung der festen Wortverbindung aufbauen. Allerdings tun sie das nicht konsequent im Sinn von Wort für Wort: weder berücksichtigen sie jedes Wort, noch fühlen sie sich an die genaue Form des Wortes gebunden (Sg. - PI.), noch macht es ihnen etwas aus, Artikel beispielsweise einzuschieben. Das ist einer der Gründe, weshalb wir dabei nicht von wörtlichem Verstehen

sprechen möchten, sondern von synkretistisch„wörtlichem" Verstehen. Mit synkretistisch bezeichnet Piaget die Eigenschaft des kindlichen Denkens, die sich hier auswirkt. Synkretistisches Denken ist dadurch charakterisiert, daß es nicht objektiv analysiert und objektiv synthetisiert und unter Berücksichtigung gewisser, aber meistens nicht aller Elemente ohne System ein Gesamtschema herstellt. Genau das tun die Kinder in diesen Fällen beim Verstehen. Als erwachsener Sprecher/Hörer würde man nicht so vorgehen: man würde sich tendenziell eher „verpflichtet" fühlen, alle Elemente der Wortverbindung zum Verständnis der Gesamtbedeutung zusammenzufügen; das ist einer der Gründe, weshalb man bei Erwachsenen von wörtlichem Verstehen sprechen kann. Der zweite Grund dafür, weshalb wir hier von synkretistisch-„wörtlichem" Verstehen sprechen möchten und wörtlich in Anführungszeichen setzen, hat drei Aspekte und hängt mit der jeweiligen Bedeutung der Elemente von Phraseologismen zusammen, die synkretistisch-„wörtlich" verstanden werden. Welcherart ist diese Bedeutung der Elemente? Im folgenden Beispiel geht es um d Nase rümpfe. Diese Wortverbindung kann man wörtlich verstehen, zumal wenn man die Nasenbewegung kennt und interpretieren kann. Die Kinder verstehen d Nase rümpfe aber nicht wörtlich: VL: was häißt das, d Nase rümpfe? d Mueter het öppis so Guets gchocht, aber de Till het d Nase grümpft Ursli: ich wäiß das VL: jo Ursli säg Ursli: i de Nase obe grüblet VL: nid ganz, näi, Markus? Markus: me het nid gfolget oder öppis, oder me well immer devoo Carmela: er het en Böög abegrüblet und is Muul gnoo VL: näi, er het nid i de Nase grüblet, er het d Nase grümpft über öppis Carmela: jetz wäiß i s VL: säg Carmela: er het do obe gehratzet (kratzt sich an der Nase)

Kindergärtler VL: d Nase rümpfe, ich rümpfe d Nase über öppis, das häißt, (Roman rümpft die Nase), jo soo, d Nase rümpfe über öppis, häißt, daß äim öppis nid gfallt

Ursli, Markus und Carmela halten sich nicht an übliche Bedeutungen der sprachlichen Elemente der festen Wortverbindungen: Unter dem Einfluß der Erfahrungen, die sie mit der Nase gemacht haben — sie dürfen nicht darin „grübeln" — verstehen sie unter rümpfen eben grübeln und schließlich eine abgeschwächte Variante davon, nämlich kratzen. Im Einfluß solcher konkreter eigener Erfahrungen liegt eine Möglichkeit, wie die Bedeutung einzelner Elemente erwachsenensprachlich fester Wortverbindungen zustande kommen kann. Kindergärtnerin: jetz mach aber en Punkt? Sabine: jetz mach äntli Schluß! Kindergärtnerin: wäisch wohär das chunnt, jetz mach aber en Punkt? Sabine: nä'ä Kindergärtnerin: wäisch bim verzelle hört me doch äinisch wider uuf, und we me zum Biispiil öppis tuet schriibe, z. B. d Sabine goot schnäll häi (.. .) verzeli no wiiter, si isch go spaziere, si got schnäll häi, ( . . . ) , de chame säge: jetz tue doch emol en Schlußstrich setze, mach en Punkt, und bim Schriibe wäiß me denn en Punkt, und de wäiß me de Satz isch jetz fertig, jetz chunnt wider en neue Satz, wider öppis Neus aafange.

Jetz mach aber en Punkt! Das kann Sabine nicht wörtlich verstehen. Arten und Funktionen von Satzzeichen kann sie als Kindergärtlerin noch nicht kennen. Muß man daraus schließen, daß sie die Wortverbindung ganzheitlich versteht, da sie sie ja im erwachsenensprachlichen Sinn versteht? Die Struktur ihrer Bedeutungsumschreibung deutet darauf hin, daß sie jetz mach aber en Punkt analog zu jetz mach aber Schluß versteht. Unter diesen Umständen kann das Wort Punkt für sie die Bedeutung ,Schluß' haben. Für Erwachsene wäre die Bedeutung,Schluß' für Punkt eine übertragene, metaphorische Bedeutung. Erwachsene verfügen aber über ein fertig ausgebildetes, gemeinsames Sprachsystem, in dem die Wörter feste primäre und sekundäre Bedeutungen haben. Man neigt im

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allgemeinen dazu, anzunehmen, die Kinder würden zuerst diejenigen Bedeutungen lernen, die im Sprachsystem der Erwachsenen wörtliche Bedeutungen sind. Wahrscheinlicher ist aber wohl, daß die Kinder diejenigen Bedeutungen eines Wortes zuerst lernen, die in ihrer Umgebung gebraucht werden und die sie verstehen, gleichgültig welchen Status diese Bedeutungen im Sprachsystem der Erwachsenen haben. Beispielsweise kann man sich vorstellen, daß ein Kind Hammer in der Bedeutung .Frechheit' lernt, bevor es weiß, daß ein Hammer in erster Linie ein Werkzeug ist. Dann kann es die Wortverbindung das isch de Hammer in gewissem Sinne wörtlich verstehen, so wie Sabine vermutlich jetz mach aber en Punkt in gewissem Sinne wörtlich versteht: Die wörtliche Bedeutung ist dann diejenige, die das Kind mit dem Wort verbindet, nicht diejenige, die im Sprachsystem der Erwachsenen als wörtliche Bedeutung gilt. Unter diesen Umständen würde folgender Tatbestand erklärbar: Die Kindergärtler haben über keine der phraseologischen Wortverbindungen gelacht, sie haben keine dieser festen Wortverbindungen komisch gefunden: sie können e Schruube locker haa richtig im Sinne von ,einen Vogel haben' verstehen und sich gleichzeitig tatsächlich Schrauben im Kopf eines Menschen vorstellen. In der Sequenz, in der wir immer wieder fragen, warum man wohl im Zusammenhang mit Menschen davon' spreche, daß jemand eine Schraube locker habe, findet Sybille schließlich den Ausweg, das sei anständiger als hesch es Vögeli da obef. Die Kinder waren nicht dazu zu bringen, irgend etwas an dem Phraseologismus komisch zu finden. Das könnte damit zusammenhängen, daß Kinder ihr semantisches System noch nicht so weit ausgebaut haben, daß Schrauben nicht in gleicher Weise und auf gleicher Ebene mit Werkzeug und mit Menschen kombiniert werden können. Das heißt also, daß die Bedeutungen einzelner Elemente von festen Wortverbindungen nicht nur stark mit den Erfahrungen zusammenhängen, die die Kinder gemacht haben, sondern auch ein Produkt des Erwerbsprozesses des semantischen Systems sind: die Bedeu-

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tungen korrelieren zwar mit einem einzelnen Wort, insofern kann man sagen, daß die Kinder wörtlich verstehen; aber es muß sich dabei nicht um die Bedeutungen handeln, die im Sprachsystem der Erwachsenen primär mit dem Wort verbunden werden; insofern kann man nicht davon sprechen, daß die Kinder wörtlich verstehen. Der dritte Aspekt, hinsichtlich dessen sich die Bedeutungen der phraseologischen Elemente von den wörtlichen Bedeutungen der Erwachsenen unterscheiden, wenn die phraseologische Gesamtbedeutung aufgebaut wird, wird an folgenden Beispielen sichtbar. (Zum Witz: danke guet, er (de Fisch) isch scho sit zwöi Taage wider uf de Bäine) Harald meint, dann müßte der Fisch Beine haben. Carmela: de Goldfisch isch so orange und dä schwämmt doch! VL: wenn säit mer das, er isch wider uf de Bäine Eines: wenn öpper chrank isch und wider gsund worden isch. Die Kinder lachen und werden gefragt, was sie lustig finden. Rene: de Fisch isch uf de Bäine Sabine: er schwümmt sit zwäi Taage VL: jo, wenn säit me uf de Bäine sii? Rene: er isch, er lauft scho uf de Bäine Eines: er het jo gar käi Bäi Sabine: das häißt äifach, sit zwöi Taag scho wider schwümmt er umenand (Zum Witz: ich ha d Zään fescht zäntepisse) Die Kinder lachen. Philip: de Zaanarzt cha jo nid flicke, wenn er d Zää zämebiißt. Wenn s Muul zue isch, cha de Zaanarzt jo käini Zään usezie. VL: wenn büßt mer de Zään zäme? Eines: we mer ißt Eines: we mer tapfer isch

Wenn man sechsjährigen Kindern Witze erzählt, deren Pointe für Erwachsene darin besteht, daß die wörtliche Bedeutung von Phraseologismen aktualisiert wird, so daß die Phraseologismen doppeldeutig werden, dann finden sie diese Witze zunächst lustig. Wenn man sie fragt, was daran lustig sei und sie bittet, die Witze zu erklären, dann geben sie Auskunft darüber, wie sie die Phraseologismen verstan-

den haben, die ja die Pointe bilden und am Schluß stehen. Die Kinder geben im Normalfall nur eine Bedeutung an, nämlich diejenige, die sie verstehen: diese eine Bedeutung kann eine Gesamtbedeutung sein oder eine synkretistisch produzierte Bedeutung. Eine Bedeutung, die auf die einzelnen Wörter abstellt, wird ja durch den Witzkontext nahegelegt. Die Kinder geben nicht zwei Bedeutungen an und bemerken dazu, die eine sei richtig und die andere falsch, aber beide „kämen" im Witz „vor", indem jemand das verstehe, was man sage, statt das, was man meine. Zweitkläßler können die Witze zum Teil so erklären, die Kindergärtler im allgemeinen noch nicht. Was die Kinder lustig finden, ist das Verhältnis der so oder so verstandenen Pointe zum Kontext. Daraus ersieht man, daß die Kinder noch der Auffassung sind, Phraseologismen hätten entweder die eine oder die andere Bedeutung, jedenfalls aber eine Bedeutung wie alle anderen Wortverbindungen auch. Die Möglichkeit der Doppeldeutigkeit sehen sie noch nicht. Sie sehen höchstenfalls den Widerspruch zwischen synkretistisch-„wörtlicher" Bedeutung und Gesamtbedeutung, nicht aber deren gemeinsame Form, die es erlaubt, die zwei Bedeutungen in ein besonderes Verhältnis zueinander zu bringen, nämlich in das Verhältnis von wörtlicher und übertragener Bedeutung. Darin liegt ein weiterer Unterschied in der Bedeutung der phraseologischen Elemente bei Kindern gegenüber derjenigen bei Erwachsenen: die „wörtliche" Bedeutung phraseologischer Elemente muß nicht nur nicht notwendigerweise diejenige Bedeutung sein, die im Sprachsystem der Erwachsenen als die wörtliche Bedeutung gilt, die „wörtliche" Bedeutung phraseologischer Elemente ist auch durch keinen Gegensatz zu einer übertragenen Bedeutung definierbar. Eine der grundlegenden Eigenschaften der phraseologischen Struktur, — ihre Übertragenheit und damit ihre potentielle Doppeldeutigkeit —, ist den Kindergärtlern gar nicht bewußt. Gegenüber denselben Witzen haben 9jährige Kinder teilweise neue Reaktionsmöglichkeiten.

Kindergärtler Vorlage: De Patrik het am Morge zum Zaanarzt miiesse. Zmittag, wo di ganz Familie am Tisch sitzt, frogt de Vatter: „So Patrik, het s fescht wee too bim Zaanarzt? Hesch miiesse brüele?" Do straalet de Patrik und säit: „Neinei, ich ha fescht uf d Zand pisse." Viele: Das goot jo gar nid. De Zaanarzt mues jo da ine bore. Conny: Ich weiß, was es heißt, em mer mues nid Angscht haa, mer mues probiere, daß s nid wee tuet, daß mer s nid gmerkt. Eifach mer mues Muet haa. Manuela: Mer säit nur, mer häig uf d Zää bisse. Ein großer Teil der Kinder zeigt eine ähnliche Reaktion wie die Kindergärtler: Wenn sie den Phraseologismus eher wörtlich verstehen, machen sie auf den inhaltlichen Widerspruch zum Kontext aufmerksam, andernfalls erläutern sie die phraseologische Bedeutung, wie das Conny tut. Der Ausdruck eifach in Connys zweitem Satz ist nicht eindeutig interpretierbar. Eifach kann bedeuten ,zusammenfassend', ,kurz', oder es kann heißen ,nur'. In diesem Fall würde die letzte Äußerung Connys bedeuten: ,nur mer mues Muet haa und nid öppe, mer mues tatsächlich uf d Zää büße'. Das wäre eine Aussage, die ein 6jähriges Kind im Normalfall nicht machen würde. Jedenfalls haben sich die Kinder im Kindergarten zu keinem der Witze so geäußert. Manuela ergänzt in Richtung dieser zweiten Bedeutung von eifach: mer säit nur, mer häig uf d Zää bisse, damit weist sie darauf hin, daß man zwar das eine sage, aber das andere meine. Sie zeigt damit, daß sie die zwei Bedeutungsmöglichkeiten sieht und nachvollziehen kann. Damit man das, „was man sagt", als wörtliche Bedeutung verstehen kann, müssen zwei Voraussetzungen gegeben sein, die bei den Kindergärtlern in den meisten Fällen noch nicht gegeben sind: Erstens muß die Entwicklung der Wortbedeutungen soweit fortgeschritten sein, daß es eine eindeutig wörtliche Bedeutung gibt. Zweitens muß der Prozeß des Wort-fürWort-Verstehens als normaler Verstehensvorgang etabliert sein. Damit man überhaupt nachvollziehen kann, was bei einem Phraseologismus „eigentlich" gesagt wird, muß man

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davon ausgehen, daß wörtliches Verstehen in beiderlei Hinsicht der Normalfall und eine phraseologische Gesamtbedeutung allenfalls die Ausnahme ist; das, was man nicht sagt, sondern meint. Vorlage: (.. .). Wo d Schuel aafoot, frogt d Leereri: „Monika, wie goots dim chranke Goldfisch?" Do säit d Monika: „Danke, er isch scho wider uf de Bäine." Cornelia: Er schwimmt wider ume, aber das heißt nid, as er em Bäi überchoo het. Er schwimmt eifach wider, isch wider gsund worde und schwimmt wider ume im Aquarium. Auch Cornelia sieht hier, daß uf de Bäine sii zwei Bedeutungen haben kann. Sie hat eine Vorstellung davon, welches die richtige Bedeutung ist, die mit der erwachsenensprachlichen Bedeutung der Wortverbindung übereinstimmt, und kann sich gleichzeitig vorstellen, wie man die Wortverbindung mißverstehen kann. Für einzelne 9jährige Kinder sind zumindest einzelne Phraseologismen Wortverbindungen mit zwei Bedeutungen. Erst damit werden Phraseologismen zu besonderen Wortverbindungen, die nicht das heißen, was sie sagen. Mit der Zeit werden die Kinder dahinter ein Prinzip, einen Mechanismus. vermuten, der ihnen später erlauben wird, von Wortverbindungen, die sie wörtlich nicht verstehen, anzunehmen, daß sie wohl phraseologisch sein müssen. Der Vergleich der Reaktionen von Kindergärtlern und Zweitkläßlern auf dieselben phraseologischen Witze stützt die Auffassung von der allmählichen Entwicklung und Herausbildung der Doppeldeutigkeit phraseologischer Wortverbindungen. Die Reaktionen der Zweitkläßler bestätigen diese These, wonach die Voraussetzung für das Erkennen der Doppeldeutigkeit darin besteht, wörtlich verstehen zu können und wörtliches Verstehen für den Normalfall sprachlichen Verstehens zu halten. Erst auf dieser Basis kann es auch für die Kinder zu den Problemen kommen, die sich den Erwachsenen im Zusammenhang mit Phraseologismen stellen. Erst wenn man gewohnt ist, wörtlich zu verstehen, kann beispielsweise die feste phraseologische Form zum ausschlag-

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gebenden Faktor für die Unterscheidung der wörtlichen und der phraseologischen Bedeutung werden. Erst wenn man zwischen wörtlicher und übertragener Bedeutung unterscheidet und eine metaphorische Beziehung zwischen den beiden Bedeutungen herstellen kann, kann man sich beispielsweise die metaphorische Motiviertheit von Bedeutungen beim Verstehen zunutze machen. 6.3.2.7. Schlußfolgerungen 1. Die Besonderheiten der Struktur phraseologischer Wortverbindungen stellen für Kindergärtler kein unüberwindbares Hindernis dar: 6- bis 7jährige Kinder verstehen und brauchen erwachsenensprachliche Phraseologismen und sind imstande, neue Phraseologismen zu lernen. Die Struktur von Phraseologismen scheint kein ausschlaggebender Faktor für den Erwerbsprozeß von Vorschulkindern zu sein. Wie ist das möglich? 2. Der Grund für diesen, auf den ersten Blick erstaunlichen Tatbestand liegt darin, daß die Kinder die besondere phraseologische Struktur nicht bemerken, weil sie — von Einzelfällen abgesehen — dazu nicht imstande sind. Daß die Kinder die besondere phraseologische Struktur nicht bemerken, kann man daraus schließen, daß sie mit Phraseologismen umgehen, ohne über die auffälligsten Strukturprinzipien der formalen und bedeutungsmäßigen Festigkeit zu stolpern, aber auch ohne ihnen in irgendeiner Weise Rechnung zu tragen. Obwohl die Kinder schon ausgeprägte metakommunikative Fähigkeiten haben, äußern sie sich auch nicht in der Richtung, daß Phraseologismen andere und besondere Wortverbindungen seien; sie geben auch nicht zu erkennen, daß sie wüßten, was das gemeinsame Merkmal all der Wortverbindungen ist, die man für die Erwachsenensprache unter Phraseologismen zusammenfassen kann. Weshalb sollen die Kindergärtler nicht dazu imstande sein, die Eigenschaften der phraseologischen Struktur zu erkennen? Dafür sind drei kinderspezifische Faktoren verantwortlich:

1) Die Vorstellungen, die die Kinder sich über die Wirklichkeit machen: Das Wirklichkeitsbild der Kinder entspricht nicht demjenigen der Erwachsenen und kann deshalb beispielsweise auch Schrauben im Kopf des Menschen enthalten (vgl. die feste Wortverbindung hesch e Schruube locker?). 2) Die typischen kindlichen Denkmechanismen jeder Altersstufe; die Kindergärtler denken noch vorwiegend synkretistisch und berücksichtigen deshalb nicht unbedingt jedes Wort einer Wortverbindung, um die Gesamtbedeutung der Wortverbindung aufzubauen. 3) Das sprachliche Wissen der Kinder, das gegenüber demjenigen der Erwachsenen kleiner ist und weniger Ausnahmen und Besonderheiten enthält. Kinder müssen deshalb viele Wortverbindungen, die für Erwachsene semantisch und syntaktisch unregelmäßig sind, für durchaus unauffällig halten. Man kann demnach sagen, Kinder seien nicht imstande, die Besonderheiten der phraseologischen Struktur zu bemerken, weil sie sie in vielen einzelnen Fällen aufgrund ihrer altersgemäßen Voraussetzungen nicht erkennen können. Zu diesen altersgemäßen Voraussetzungen gehören ihre Vorstellungen über Wirklichkeit, ihr Denken und ihr Wissen von Sprache, die sie in vielen Fällen nicht dazu zwingen, eine Wortverbindung für unregelmäßig zu halten. Im Einzelfall können die Kinder aber trotzdem auf die besondere Struktur eines Phraseologismus stoßen, dann nämlich, wenn ihre Vorstellungen von Wirklichkeit und Wahrscheinlichkeit mit denjenigen der Erwachsenen zusammenfallen und wenn das Resultat ihres synkretistischen Denkens mit dem Resultat logischen Denkens zusammenfällt und wenn sie die Merkmale der wörtlichen Bedeutungen der Elemente eines Phraseologismus kennen. Dann kann den Kindern eine feste Wortverbindung, die sie nicht kennen, so erscheinen, wie sie den Erwachsenen erscheinen kann, wenn sie die Wortverbindung nicht kennen, nämlich „irgendwie" komisch. Erwachsene klassifizieren solche Fälle als unregelmäßig

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und schließen auf eine feste Wortverbindung mit einer ganzheitlichen Bedeutung. Kinder sind mit diesem Mechanismus noch nicht vertraut. 3. Die Kindergärtler verstehen erwachsenensprachlich phraseologische Bedeutungen im Normalfall ganzheitlich oder synkretistisch„wörtlich". Wie ist es möglich, daß auch auf dem zweiten Weg Bedeutungen zustande kommen, die den erwachsenensprachlichen Bedeutungen entsprechen? Die Sinnfindungsregeln von Vorschulkindern sind alles andere als eng an das sprachlich Vorliegende und an logisches Denken gebunden. Dazu kommt — wie bereits oben erwähnt — daß die Kinder von Sprache und Wirklichkeit noch weniger wissen, und demzufolge sowohl in bezug auf die Sprache als auch in bezug auf die Wirklichkeit weniger für unwahrscheinlich halten müssen als Erwachsene. Das hat nicht nur zur Folge, daß die phraseologische Struktur nicht bemerkt wird und demzufolge kein Hindernis darstellt, sondern es bedeutet auch, daß andere Faktoren als nur sprachliche und logische das Verstehen stärker mitbeeinflussen: Da sind vor allem die Situation, der Kontext und nonverbale und paraverbale Merkmale zu nennen, die auch die Konstitution der Bedeutung von ganzheitlich verstandenen Phraseologismen bewirken. Aufgrund dieser Faktoren und mit Hilfe eines lockeren Sprachverstehens können auf synkretistisch-„wörtlichem" Weg äquivalente Bedeutungen zu erwachsenensprachlich richtigen Bedeutungen zustande kommen. Was bedeutet das für die erwachsenensprachlich unter Phraseologismen zusammenfaßbare Gruppe von festen Wortverbindungen, deren Erwerb hier untersucht wird? 4. Erwachsenensprachliche Phraseologismen sind offenbar für Kindergärtler keine einheitliche Gruppe von Wortverbindungen: zum Teil werden sie analog zu freien Wortverbindungen, zum Teil analog zu festen Wortverbindungen behandelt. Mit anderen Worten: Phraseologismen werden erst im Laufe der allgemeinen Sprachentwicklung zu Phraseologismen im erwachsenensprachlichen Sinn. Die adäquate Art und

Weise, Phraseologismen als Phraseologismen zu lernen, bildet sich im Prozeß des Erwerbs von Sprache heraus. Das unbewußte und vor allem das bewußte Verhalten gegenüber Phraseologismen entwickelt sich bis zum erwachsenensprachlichen Stand fortwährend. Obwohl aber erwachsene Sprachteilnehmer in selbstverständlicher Art und Weise mit den Konzepten der wörtlichen und übertragenen Bedeutungen umgehen, fällt es ihnen im Einzelfall oft schwer, anzugeben, ob eine Wortverbindung in diesem Sinn phraseologisch ist oder nicht. Das hängt wohl damit zusammen, daß man im Laufe des Spracherwerbsprozesses nicht immer konsequent den ganzen Wortschatz auf den neuesten „theoretischen Stand" bringt. Ein 9j ähriges Kind, das anfängt, zwischen wörtlicher und übertragener Bedeutung zu unterscheiden, wird kaum seinen ganzen Wortschatz nach diesen Gesichtspunkten neu strukturieren. Hingegen steht ihm diese Unterscheidung von diesem Zeitpunkt an für alles Neue und alles Bekannte, das ihm bewußt wird, zur Verfügung. Wenn noch Erwachsene Mühe haben, zu entscheiden, ob gewisse Wortverbindungen im oben angegebenen Sinn phraseologisch sind oder nicht, so ist das ein Hinweis darauf, daß sie diese Wortverbindungen in einer Phase der Sprachentwicklung erworben haben, in der diese Unterscheidung keine Rolle gespielt hat. Denn Phraseologismen können erworben werden, ohne daß eine einzige der (zumeist strukturellen) Eigenschaften, die phraseologische von anderen Wortverbindungen unterscheiden, eine Rolle spielt.

6.4.

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6.4.1. Fragestellung Wenn ein Kind mit 6—7 Jahren in die Schule kommt, erwartet man von ihm, daß es über die notwendigen muttersprachlichen Kenntnisse verfügt, um sich anderen Kindern und erwachsenen Bezugspersonen gegenüber verständlich zu machen. Seit seinem zweiten Lebensjahr hat es also schon eine enorme sprachliche Lernleistung erbracht, indem es von Null an das phonologische, morphologi-

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sehe und syntaktische System weitgehend erworben hat und in der lexikalischen, semantischen und pragmatischen Kompetenz so weit gekommen ist, daß es seine kommunikativen Bedürfnisse befriedigen kann. Die bisherige Kindersprachforschung hat sich daher begreiflicherweise auf den Spracherwerb der ersten Jahre konzentriert. Im Sprachgut, welches das heranwachsende Kind zu hören bekommt, kommen selbstverständlich auch feste Wortverbindungen vor, so daß diese Spracherscheinungen vom frühen Erwerb der Muttersprache nicht ausgespart bleiben. Ein Kind, das in der deutschen Schweiz aufwächst, wächst in folgende besondere Sprachsituation hinein: Schriftsprache ist hochdeutsch. Die Sprachsituation in der gesprochenen schweizerdeutschen Sprache zeichnet sich durch „pragmatische Diskontinuität" (Ris 1977, S. 89) im Gebrauch der beiden Sprachformen aus. „Es gilt ein klares Entweder-Oder. Code Wechsel ist nur im Schutz von Institutionen (ζ. B. in der Schule) möglich, kaum im freien Gespräch, wo sich dem Gebrauch des Hochdeutschen bei den meisten Schweizern sehr starke emotionale Hemmungen entgegenstellen". (Ris S. 89) „Das Bild wird aber dadurch viel komplizierter, daß die deutsche Einheitssprache, die nach wie vor fast ausschließlich als Schriftsprache

gilt, in verschiedenen Situationen auch noch aktiv gebraucht werden muß und schließlich in ihrer bundesrepublikanischen Form besonders durch das Fernsehen auch immer stärker passiv rezipiert wird, so daß sich die passive Sprachkompetenz eines Schweizers kaum noch von derjenigen eines Deutschen unterscheidet." (Ris, S. 90). An einem andern Ort versucht Ris, die heutige Sprachsituation auf eine Formel zu bringen: „Berücksichtigen wir, daß der Dialekt als gesprochene Sprachform den Rang einer Ausbausprache bekommen hat und sich ferner von der Einheitssprache linguistisch so stark unterscheidet, daß er von Deutschen normalerweise nicht verstanden wird, müßten wir ( . . . ) echten Bilingualismus ansetzen, wobei allerdings die beiden .Sprachen' nur in der mündlichen Anwendung konkurrieren, wogegen in der Schrift nur die eine gebraucht wird." (Ris 1979, S. 56). Eine der Folgen davon, daß das Schweizerdeutsche auch in vielen öffentlichen Situationen (beispielsweise in den Medien) gebraucht wird, besteht darin, daß sich für diese Funktion ein Schweizerdeutsch herausgebildet hat, das sich lexikalisch und syntaktisch diesen öffentlichen und insofern offizielleren und formelleren Situationen angepaßt hat und ζ. B. viele hochdeutsche Wörter und Wendungen enthält, die lediglich phonologisch der Mundart angeglichen werden. Wir nennen diese Aus-

Spracherwerb in der deutschschweizerischen Sprachsituation

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Schweizerdeutsch

Hochdeutsch

Schulkinder

prägung der schweizerdeutschen Sprache für öffentliche Situationen „Umgangssprache" und meinen damit eine pragmatisch bedingte Varietät des Schweizerdeutschen (im Sinne von Bichel 2 1980, S. 381). Das Schweizerdeutsche, das in der Familie und mit Freunden gesprochen wird, bezeichnen wir demgegenüber als „Alltagssprache". Aus dieser deutschschweizerischen Sprachsituation ergeben sich die sprachlichen Erfordernisse, die an das Kind im Schulalter herantreten (s. Grafik auf S. 256). Bis zum Schuleintritt lernt das Kind in der primären Sozialisation die Alltagssprache, in der es sich mühelos mit seinen Familienangehörigen und anderen vertrauten Leuten unterhalten kann, soweit seine Kommunikationsbedürfnisse reichen. Zumeist noch recht wenig Übung hat es verständlicherweise in der Umgangssprache. Da es im Vergleich zum Erwachsenen viel seltener mit fremden Leuten selbständig verkehrt, verfügt es noch nicht in ausreichendem Maß über den Wortschatz und die formellere Sprechweise, die solchen umgangssprachlichen Kommunikationssituationen angemessen sind. Das kann sich etwa am Fahrkartenschalter zeigen, wenn ein Kind erst dank verständnisvollen Rückfragen des Beamten zu seinem Retourbillett kommt. Eine Beanstandung im Geschäft oder eine Platzreservation im Zirkus wird den meisten Vorschulkindern nicht gelingen, jedenfalls nicht in der bei diesen Gelegenheiten üblichen Sprechweise. Mit unbekannten Leuten gar am Telefon zu sprechen, macht ihnen zusätzliche Schwierigkeiten. Freilich fällt es nicht allen Kindern gleich schwer, sich umgangssprachlich auszudrücken. Wie vertraut sie mit dieser Sprachform schon vor dem Schuleintritt werden, hängt mit davon ab, wie stark sie von ihrer Familie zum Auftreten nach außen angehalten werden. In der Phase der sekundären Sozialisation, die mit dem Eintritt in die Schule und der stärkeren Loslösung von der Familie beginnt, treten in sprachlicher Hinsicht neue Forderungen an das Kind heran. Erstens lemt es einen mehr oder weniger ausgeprägten Peer-Group-Slang, der sich unter

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anderem durch seine starke und spezifische Phraseologie auszeichnet. Zweitens wird es stärker als bisher mit der Umgangssprache konfrontiert, im mündlichen Unterricht, in der Öffentlichkeit, beim Radiohören usw. Drittens muß es lesen und schreiben lernen, zwei völlig neue Techniken, zudem in einer neuen Sprachform, der hochdeutschen Schreibsprache, die vom Schweizerdeutschen abweicht, was die Schwierigkeiten noch vermehrt. Dabei muß sich der Schüler zum erstenmal mit schreibsprachlichen Phraseologismen vertraut machen. Alle diese drei neuen Funktiolekte sind nun stärker phraseologisch als die Alltagssprache, ganz im Gegensatz zur lange in der volkskundlich geprägten Phraseologie herrschenden Meinung, die „Sprache des Volkes" sei besonders reich an Redensarten. Unsere Untersuchungen (vgl. 4.2.5.1.) haben anhand eines Korpus protokollierter Familiengespräche gezeigt, daß Alltagssprache, das Verständigungsmittel des Vorschulkindes, mit Ausnahme von pragmatischen Phraseologismen relativ wenig feste Wortverbindungen enthält. Von daher gesehen bilden die Schuljahre einen neuen, wichtigen Zeitabschnitt für den Erwerb von festen Wortverbindungen. Viertens tritt die Sprache im Laufe der Schuljahre immer stärker ins Bewußtsein, einmal weil sie in der Sprachlehre zum Gegenstand der Betrachtung wird, aber auch weil die hochdeutsche Schreibsprache beim Lernen Schwierigkeiten macht. In den oberen Klassen tritt vermehrt auch ein stilistisches Bewußtsein hinzu, der Schüler nimmt gegenüber der Sprache und ihren Ausdrücken eine wertende Haltung ein. Das synkretistische Verstehen wird somit im Schulalter zunehmend durch eine mehr analytische Verarbeitung ergänzt, was auch für den Phraseologieerwerb von großer Bedeutung ist, indem feste Wortverbindungen zum Gegenstand der Sprachreflexion werden können. Nach dem skizzierten Bild der sprachlichen Anforderungen in der Sekundärsozialisation richten sich die folgenden Ausführungen. Zunächst geht es um die Frage, wie Schulkinder

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Spracherwerb

feste Wortverbindungen verstehen, wie sie sie dekodieren. Sodann soll der Gebrauch fester Wortverbindungen beim Sprechen beschrieben werden. Die Kenntnis und Anwendung der schreibsprachlichen Phraseologie wird Thema eines weiteren Kapitels sein. Schließlich wird berichtet, wie sich das phraseologische Wissen und Stilempfinden während der Schuljahre entwickeln.

6.4.2. Das Verständnis von Phraseologismen In Textgesprächen wollten wir erfahren, ob und auf welche Weise Kinder bildhafte Phraseologismen verstehen, die sie erstmals unter normalen Bedingungen, d. h. im Kontext eingebettet, hören. Deutsche Phraseologismen zu verwenden, schien uns zu diesem Zweck nicht geeignet, weil ein Teil der Kinder sie sicher schon gekannt und ihre Bedeutung aus dem Gedächtnis abgerufen hätte. Da es uns darauf ankam, erstens für alle die gleichen Bedingungen zu schaffen und zweitens Situationen zu simulieren, in denen sie bisher mit Sicherheit nie gehörte Phraseologismen zu rezipieren hatten, wendeten wir einen Kunstgriff an. Wir übersetzten englische Phraseologismen ins Schweizerdeutsche und bauten sie in kurze Geschichten ein, und zwar an sinnwichtiger Stelle, damit sie nicht übergangen werden konnten. Die Geschichten erzählten wir an Primarschulen neun kleinen Gruppen von Zweit-, Viert- und Sechstkläßlern. Ihre Reaktionen und die kurzen Gespräche über die Geschichten wurden aufgenommen und hinterher analysiert. Zur Illustration folgt ein Beispiel, allerdings in hochdeutscher Version, nach dem englischen Idiom to pull the wool over a person's eyes (,jdn. hinters Licht führen'): Es war einmal ein Bauer, der hatte eine uralte Kuh im Stall, die schon lange keine Milch mehr gab. Eines Morgens sagte der Bauer zu seiner Frau: „Mütterchen, ich geh heute auf den Markt und verkaufe die alte Kuh." „Ach, das alte Klappergestell kauft dir bestimmt niemand ab", erwiderte die Frau. Der Bauer aber hörte nicht auf sie und ging mit der Kuh auf den Markt.

Schon gegen Mittag kam er wieder nach Hause, strahlte übers ganze Gesicht und rief: „Ich hab sie verkauft! Ich hab sie verkauft!" Seine Frau war jedoch gar nicht begeistert. „Du bist doch immer der Gleiche", schimpfte sie, „du hast wohl wieder mal jemandem die Wolle über die Augen gezogen, schäme dich nur!" Was sagte darauf wohl der Bauer?

Andere Beispiele künstlicher Lehnphraseologismen: jdm. etw. vor die Tür legen von engl, to lay stb. at somebody's door (,jdm. etw. in die Schuhe schieben') mit jdm. Hand im Handschuh sein von engl, to be hand in glove with somebody (,ein Herz und eine Seele sein') durch den Hut reden von engl, to talk through the hat (,phantasieren, übertreiben')

Sehr viele Zweitkläßler reagierten mit Ratlosigkeit auf die Geschichten. Das kann in manchen Fällen daran liegen, daß sie die Geschichten wegen ihrer gerafften Form nicht ganz mitbekamen, zweifellos ist aber auch ihre noch geringe Metaphernerwartung dafür verantwortlich. D. h. sie rechneten bei idiomatischen Wortketten, die ihnen nicht geläufig waren, noch nicht mit der metaphorischen Bedeutung, sondern versuchten es zuerst mit konkreten Vorstellungen, die dann zusammen mit dem Kontext keinen rechten Sinn ergaben. Tatsächlich errieten einige Zweitkläßler zunächst eine wörtliche Auffassung, was in den höheren Klassen kaum mehr vorkam. Darin zeigt sich die Bedeutung des „Gelernthabens" für jüngere Kinder: sie sind stärker auf Erfahrungen mit den gerade zu verstehenden Wortverbindungen angewiesen als ältere Kinder oder Erwachsene, die sich eher mit aktualgenetischen Mechanismen behelfen können. Viel häufiger aber nahmen sie das Gehörte selektiv auf, indem sie den ihnen unerklärlichen Wortlaut der idiomatischen Kette ganz einfach nicht beachteten und sich ohne ihn den Sinn der Geschichte zusammenreimten. Auch als wir hinterher gezielt auf die Redensarten hinwiesen, ließen sie sich fast nicht dazu bringen, auf den genauen Wortlaut zu hören, sondern interessierten sich vielmehr für die Gestalten und Ereignisse der Geschichte. Immer-

Schulkinder hin war dann der eine und andere imstande, die Bedeutung der Redensart zu erklären, entweder aus dem Bild oder — was häufiger vorkam — aus dem Zusammenhang. Auch die Viertkläßler beschäftigte jeweils viel mehr die Geschichte selber als die Redensart. Im Unterschied zu den Jüngeren gaben sie sich aber selten ratlos, sondern hatten fast immer eine Erklärung bereit, die die richtige Bedeutung der Redensart traf oder ihr wenigstens nahe kam. Beispielsweise machte eine Schülergruppe durch ihre ersten Äußerungen zur Kuhhandelsgeschichte klar, welchen Sinn das betreffende Idiom hatte: (S = Schüler) VL: (. . .) Du bisch doch immer de Gliich, het si gschumpfe, hesch dank wider emol öpperem d Wulle über d Auge zöge. Schäm di nume! Sj: (sofort) Ahaa, ich chumm druus! Vilicht hät er en Säich aagee. S2: (zustimmend) Mhm S3: Aso gsäit, si git no Milch oder gsäit e neui oder eso. S4: Hed gloge, aso hed gsäit — jo ebe wi de Werni gsäit hed — daß sie no Milch geb und daß si no jung sig, aso jung nüme grad, aber daß si e gueti Chue sig, Milchchue. Und denn hät si natüürlech äine abgchauft. Auffallend groß war auch die Bereitschaft der Schüler zu Motivierungsversuchen, ζ. B.: Dur de Huet rede häißt äigentlich, daß mer hööch aagit, das isch de hööchschti Punkt äifach. Zu jdm. die Wolle über die Augen ziehen: d Auge verdecke, er hed in aagschwindlet Wenn er d Wulle vor em Gsicht het, de wäiß er grad im Momänt nid. Aber er gseet, wenn er d Wulle wider ewägg nimmt, de gseet er, daß s nöd stimmt. Er hed s nid gwüßt zum voruus, daß er in aagloge het. Erseht won er d Chue denn gmulche hät, hed er s denn gmerkt! Der letztere, ausführliche Motivierungsversuch erfolgte allerdings erst, als der Versuchsleiter auf der Erklärung der Phraseologismen insistierte. Zuvor hatte auch diese Schülergruppe die Geschichte mit dem Kuhhandel mühelos verstanden. M a n bemerkte, d a ß der Bauer den andern „angelogen" und „beschissen" habe, und malte aus, wie er dies getan haben könnte. Offenbar hatte man den Phraseologismus, obwohl er neu war, im Zusammenhang der Geschichte ohne weiteres ver-

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standen. Wie hier ist auch in vielen anderen Fällen zu vermuten, d a ß die Motivierung ein sekundärer Vorgang war, der das Verstehen aus dem Kontext nur begleitete oder ihm erst metasprachlich folgte. Sehr o f t begnügten sich die Kinder mit der Sinnerklärung, ohne von sich aus den Bezug zum Bildspender herzustellen. Hin und wieder verstand allerdings jemand die Wendung falsch, weil sich Assoziationen zu anderen Phraseologismen einstellten. D a f ü r zwei Zitate, wiederum zur Redensart jdm. die Wolle über die Augen ziehen: d Auge zuetue, aso mer säit jo au amig: Blinde Wut tut selten gut. Vilicht es Aug zuetrucke für de ander, aso für ganz wenig gää. Doch wie gesagt, zeigten sich die Viertkläßler im allgemeinen schon recht routiniert im Verstehen von bildhaften Phraseologismen. Das konnte so weit gehen, d a ß sie behaupteten, sie hätten den betreffenden Phraseologismus schon einmal gehört. Die Sechstkläßler hatten überhaupt keine Probleme mehr. Sie erklärten den Sinn der Wendungen immer und auf Anhieb richtig. Keiner faßte mehr wörtlich auf, und spontane Motivierungsversuche waren selten. M a n darf daraus schließen, d a ß die Dekodierung von Phraseologismen in diesem Alter schon sehr selbstverständlich erfolgt, indem einerseits der Kontext zuhilfe genommen wird und andrerseits auf aus vielen Einzelerfahrungen abgeleitete Verstehensmechanismen zurückgegriffen wird. Die Ergebnisse des Versuchs bestätigen in der Hauptsache die Hypothese. 1. Schon 7—8jährige Kinder sind grundsätzlich in der Lage, ihnen unbekannte, metaphorische Wendungen zu verstehen, falls sie nicht isoliert, sondern in einem Kontext dargeboten werden. Ein früherer Test mit Zweitkläßlern, der ähnlich angelegt war, jedoch geläufige Phraseologismen enthielt, zeigte, d a ß schon Zweitkläßler die Phraseologismen ihres Dialekts recht gut kennen. 2. Die Leichtigkeit, auch neue Phraseologismen zu verstehen, nimmt in den folgenden

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Spracherwerb

Jahren beträchtlich zu und erreicht gegen Ende der Primarschulzeit einen Stand, der völlig ausreicht, um die allermeisten Phraseologismen zumindest in gesprochener Sprache zu verstehen. 3. Synkretistisch-„wörtliches" Auffassen wird im Laufe der ersten sechs Schuljahre mehr und mehr zur Ausnahme. Einerseits ist dafür sicher die zunehmende Erfahrung, daß die Sprache von Phraseologismen durchsetzt ist, verantwortlich. Andererseits muß der wörtliche Sinn für den Schüler auch deshalb immer unwahrscheinlicher werden, weil seine Wortbedeutungen immer genauer und sein Wortschatz immer systematischer werden. Je enger der Bedeutungsumfang und damit die Kombinierbarkeit eines Wortes eingeschränkt ist, desto schlechter läßt es sich in seinem wörtlichen Sinn mit einem metaphorischen Kontext vereinbaren, und desto mehr muß nach einer übertragenen Bedeutung gesucht werden. 4. Hingegen werden durchsichtige Phraseologismen von den älteren Schülern oft motiviert. Ob Phraseologismen motivierbar sind oder nicht, spielt jedoch fürs Verstehen eine untergeordnete Rolle, da die Determination durch den Kontext in der Regel ausreicht. Die Vermutung, daß Kinder mit mehr Schulerfahrung die Phraseologismen analytischer angehen als jüngere, kann daher nur in dem Sinne bestätigt werden, als sie genauer auf den Wortlaut achten, dies jedoch — wie es scheint — erst nach dem spontanen Verstehen.

6.4.3. Der Gebrauch von Phraseologismen in der gesprochenen Sprache Wenn das 6—7jährige Kind in die Schule kommt, so bringt es die Fähigkeit mit, sich alltagssprachlich zu unterhalten. Von der hochdeutschen Schreibsprache abgesehen sind es die formellere, öffentliche Umgangssprache und der Peer-Group-Slang, die es nach und nach hinzulernen muß. Da diese Funktiolekte phraseologischer als die Alltagssprache sind, darf man annehmen, daß sich in der Schulzeit die Aneignung fester Wortverbindungen beschleunigt.

Einen geradezu lustvollen Gebrauch von Phraseologismen machen die älteren Schüler beim Sprechen mit Gleichaltrigen, dem sogenannten Peer-Group-Slang. Er bildet sich im späten Kindes- und verstärkt im Jugendalter in Gruppen, Klassen oder ganzen Schulen heraus und hat vor allem die Funktion, dem Jugendlichen, der ihn beherrscht, Zugehörigkeit zu garantieren. Dieser Peer-Group-Slang ist in erster Linie an seinen vielen Redensarten und Modeausdrücken zu erkennen, die eine Zeit lang grassieren und dann von neuen abgelöst werden. Ein Aufruf an die Volksschullehrer des Kantons Zürich im Herbst 1976, solche Schülerwendungen zu sammeln, erbrachte eine Dokumentation von rund 650 Wortverbingen. Die Ergebnisse einer ersten Sichtung der Sammlung wurden schon veröffentlicht (Buhofer, Häusermann, Humm 1978). Dennoch sollen hier ein paar wichtige Ergebnisse wiedergegeben werden. Aufschlußreich für die Altersfrage ist, daß Lehrer vom 6. Schuljahr an aufwärts den größten Teil der Beiträge lieferten. Das Bedürfnis nach einer Insider-Sprache erwacht offenbar erst im Jugendalter. Die wirklich zur Phraseologie zu zählenden Einheiten aus dem zugesandten Material wurden nach Bedeutungen geordnet. Ungefähr ein Drittel sind Ausdrücke für ,dumm sein', ,spinnen' und ähnliche negative Aussagen über Mitmenschen. In engem Zusammenhang damit stehen Wendungen, die in Drohungen verwendet werden. Eine weitere Gruppe läßt sich mit Einstellung zu Tätigkeiten, „geistige und seelische Verfassung" beschreiben. Viele Phraseologismen beziehen sich auf den sprachlichen Umgang (wir nennen dies die Gruppe der metakommunikativen Phraseologismen). Eine kleine Menge von Wendungen enthält Beschreibungen alltäglicher Vorkommnisse. Interessant sind dabei speziell die Ausdrücke für Tabuisiertes. - a) Häsch en Tilt im Chaschtef Häsch en härten Abzuug! Die in dieser umfangreichen Gruppe zusammengefaßten Wendungen bedeuten ,dumm sein', ,begreifen/nicht begreifen', ,spinnen' —

Schulkinder

wobei die dritte Untergruppe mehr als die Hälfte ausmacht. Oft lassen sich die Bedeutungen nicht scharf trennen: ζ. B. bisch nid ganz hundert kann — je nach Intonation — heißen du bist dumm oder spinnst du? Viel seltener sind Ausdrücke für ,klug sein', ,begreifen' usw.: öppis ufem Lade haa (,etwas können'), de Zwänzger isch abegheit (,jemand hat begriffen') oder öppis vom Schiff us gsee (,etwas ist sonnenklar' — gemeint ist: ,Ich bin doch nicht so dumm, daß ich die Situation nicht sofort erfasse!'). b) Schmöcksch de Fridhoof? Bedeutend weniger umfangreich ist diese Gruppe, in der Wendungen aufgenommen sind, die sich direkt an jemanden richten, wobei eine Reaktion erwartet wird. Naturgemäß handelt es sich dabei meistens um Imperative, ζ. B.: Mach dich zu Chääs und verzie di! Zie Läine!, um jemanden wegzuschicken. D Finger ab de Rööschti zu jemandem, der alles anfaßt. Wotsch de Gong? — auch in Frageform läßt sich eine Drohung ausdrücken, ebenso wie die Mitteilung, man habe jetzt genug (wenn sie sich nicht auf das Verhalten eines Stärkeren, ζ. B. des Lehrers, bezieht): das haut äim de Nuggi use, de letscht Zwick α de Gäisle haa, das haut de Stärchschti um, jetz isch dänn d Schnuer gschpane! Manche Wendungen bezeichnen zwar eine Handlung (öpperem äis hinder d Chiime gää Jemand am Kopf schlagen', oder allgemeiner: öpper in Sankel stelle, öpperem de Gumi schliiffe ,jemand zurechtweisen', öpperem in Hammer lauffe, den Meister gezeigt bekommen'), werden aber gewöhnlich als Drohung gebraucht (Ich gib der äis hinder d Chiime, Söll der de Gumi schliiffe usw.). c) Chasch mer an Ranze hange Eine ähnlich umfangreiche Gruppe wie a), wenn auch bedeutend stärker aufgesplittert, bilden die Phraseologismen, die die persönliche Verfassung (meist des Sprechers selbst) oder die Einstellung zu Tätigkeiten ausdrücken. Es schnäggelet mi aa, es stinkt em Unggle, es chotzt mi aa drückt aus, daß man eine bestimmte Arbeit nur mit Unlust tut. Wird man einer Sache überdrüssig, so löscht's äim ab,

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me hät d Nase voll oder de Rolllade gaat äim abe. Will man von jemandem nichts wissen, so chart er äim de Puggel aberutsche oder am Profeetebeeri blaase. Sich in Arsch chlüübe bedeutet ,sich anstrengen', käi Strick verriisse ,keine große Leistung erbringen', und wenn jemand churzi Äärm hat, ist er ein Faulpelz. In dieselbe Richtung weisen auch: es Äi legge ,viel Geduld brauchen', käs Büro uuftue ,kein Aufhebens machen', öppis mache, das es tätscht ,etwas mit großem Eifer tun', wie vergiftet ,mit größtem Einsatz', fascht umstaa ,Mühe haben'. Ausdrücke für ,schnell' und .langsam': Hääni gää .beschleunigen', en schaurige Zaa druff haa ,sehr schnell sein', e grausams Roor haa ,einen scharfen Schuß im Fußball oder Eishockey haben'. In dieselbe Gruppe wurden auch Ausdrücke des Erstaunens oder der Begeisterung eingeordnet. Es gheit äim de Chifer abe, me säicht in Ofe ,vor Bewunderung'; öppis isch d Bombe, es isch d Show oder de Hammer. Gaasch abe wien en Spöiz α de Schiibe ,vor Begeisterung'. Da gumped ja d Flöö a d Tecki meint ,das ist wirklich erstaunlich', und um das Verb staunen zu verstärken, kann man sagen: da stuunsch Bouchlötz. Ein allgemeiner Verstärkungsausdruck ist wäisch wie?, der überall vorangestellt oder angehängt werden kann. Gewisse Wendungen beziehen sich auf ein seelisches Wiederaufrichten: es stellt äim uuf. Das Gegenteil davon kann auf recht vielerlei Art ausgedrückt werden, öpperem uf de Wecker gaa, öpper schwanger mache, öpperem uf de Nase umetanze bedeutet: Jemanden reizen, ärgern, böse machen'. ,Verstockt oder ärgerlich werden': de Latz abelaa, es verjagt äim. Für den Zustand des Schlechtgelauntseins sind unter anderem folgende Beschreibungen genannt worden: en ticke Hals mache, mit em lätze Bäi zum Bett uusgstige sii, en suure Stäi mache, Toorfmull gfrässe haa. Um auszudrücken, daß man müde ist oder Kopfschmerzen hat, sagt man: ich bin zue oder tilt i de Bire. Ist jemand traurig, so isch em e Luus über d Läbere gchroche, für ,toben' sagt man: d Bäärgschue aalegge und d Wänd uuf marschiere. — In denselben Bereich gehören Angst und Schrecken: es tötterlet äim ,Angst haben',

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Spracherwerb

en Stäi ab em Häärz haa ,erleichtert sein', es überstellt äitn ,man erschrickt'. Zahlreich sind die Phraseologismen, die Erfolg und Mißerfolg u. ä. zum Thema haben: flach usechoo wien en Flugplatz, nu nid so grooß für ,nicht erfolgreich sein'. Wenn etwas mißlingt, so gaat's s Loch ab, es lauft chlämm, es gaat i d Hose. Wer die Hoffnung auf etwas aufgibt, schriibt's auch heute noch is Chämi, wer sich nicht wehren kann, isch verschösse. Uf de Stümpe sii, uf em Hund sii oder Hünd gsee bedeutet ,seelisch oder körperlich erschöpft sein'. Wie de Tschingg am Waldrand staa bedeutet ,nicht mehr weiterwissen'. Für ,sich täuschen' können i d Rööre luege oder i d Schiissi lange gebraucht werden, während de Häiland im Hosesack haa oder es Chrottehaar im Sack haa ,Glück haben' bedeutet. Es litt drin sagt den Erfolg, Muesch nid welle am ene Fels sändele den Mißerfolg eines Unterfangens voraus. d) Häsch es Tonband verschluckt? Wendungen, die sich auf die sprachliche Kommunikation beziehen, haben zu mehr als der Hälfte Schwatzhaftigkeit zum Gegenstand bzw. handeln von Aufforderungen zum Stillesein. Es Buech verschlückt haa, en lockere Chifer haa bedeutet ,viel reden', dasselbe meint der Hinweis auf einen großen Mund: e Schnure so grooß wien e Landepiste, e langt Zunge haa. Siini knappe föifMinuute haa ist das Gegenteil davon: ,kurz angebunden sein'. S Muul nid i de Chnüü haa wird übersetzt mit:,großer Maulheld'. Die Aufforderung, still zu sein, kann lauten: Heb de Schnabel! Heb s Loch! oder aber: Legg en Stäi vor d Hööli! Schließlich beziehen sich verschiedene Ausdrücke auf das Verhalten des Sprechenden: ,übertreiben': Habasch verzelle, ,ohne Umschweife die Wahrheit sagen': käi Böge mache, Jemandem etwas Unangenehmes sagen': öpperem en Schnägg in Sack stooße, ,immer das Gleiche erzählen': en Sprung i de Platte haa. e) S schlaat äim um de Egge Alltägliche Begebenheiten und Tätigkeiten werden selten redensartlich ausgedrückt, wenn schon einfache Wörter dafür zur Verfügung

stehen — außer der Sprecher möchte gleichzeitig seine Wertung des Besprochenen kenntlich machen. Bisch im Schilf uufgwachse? fragt man jemanden, der die Türe immer offen läßt. Alles wien es Huen laa ligge bedeutet ,eine große Unordnung haben', en Stäi vor de Hööli haa u. a. ,ein Stubenhocker sein'. Eine Anzahl Wendungen beschäftigt sich mit der äußeren Erscheinung des Menschen und deren Pflege, z. B.: d Flüügeschliiffi richte ,sich kämmen'. Für bildhafte Ausdrücke sind ferner jene Situationen geeignet, deren konkrete Nennung ein Tabu verbietet bzw. die man gerne euphemistisch darstellt. Liecht im Chäller haa heißt ,den Hosenschlitz offen haben', öppis im Ofe haa schwanger sein, α bäide Pöörter Schnägge sueche ,schielen'. Hierher gehören auch die Ausdrücke, die sich mit Stoffwechsel und Verdauung befassen. Anstatt uff de Aabee gaa kann man ζ. B. sagen: de Container lääre, en Neger absäile, äine umtopfe. Bröckli lache bedeutet ,sich übergeben'. Für ,sich betrinken' paßt sich en Siech aasuuffe, für ,betrunken sein' Ööl am Huet haa oder en Flade haa. Eine Gruppe von Phraseologismen hat das Verhältnis von Knaben und Mädchen zum Thema, wobei die klassische Rollenverteilung, daß sich die Knaben um die Mädchen bemühen, und nicht umgekehrt, zum Ausdruck kommt: go scharre, uf Schliichpfaade sii ,sich an ein Mädchen heranmachen', Süeßholz rasple verliebt sein oder tun'. — Zum Schluß seien noch einige Umschreibungen für ,sterben' erwähnt: d Radiisli νο une gsee wachse, de Schirm zue tue oder Bodehoochsig haa. (Zusammenstellung aus: Buhofer, Häusermann, Humm 1978, S. 39 ff.). Wie leicht zu erkennen ist, drücken die Schüler mit ihren Redensarten vorwiegend emotionale und bewertende (meist abwertende) Einstellungen gegenüber Personen und Sachen aus. Sie befriedigen damit das wachsende Bedürfnis der Jugendlichen, alles entschieden zu beurteilen, was ihnen begegnet. Ein besonderes Vergnügen bereitet ihnen dabei das Spiel, Dinge neu und möglichst absurd zu kombinieren und somit die Normen der Sprache und der Wirklichkeit umzustoßen (öpper chan äim i d

Schulkinder

Chappe jodle; Efeu am Hoseträger haa; bisch hool i de Β ire). Dieses doppelte Bedürfnis erklärt wohl die Häufigkeit, mit der jugendliche Schüler Phraseologismen im Umgang mit ihresgleichen gebrauchen.

6.4.4. Der Gebrauch von Phraseologismen in der geschriebenen Sprache Einen wichtigen Platz im Unterricht der ersten Schuljahre nimmt der Erwerb der Kulturtechniken Lesen und Schreiben ein. Das Kind soll lernen, geschriebene Texte zu lesen und sich selber in der Schreibsprache auszudrücken. Es begegnet dabei einem neuen Funktiolekt, der hochdeutschen Standardsprache, die je nach Wohnort und sozialer Herkunft mehr oder weniger stark von der Alltagssprache abweicht, die es in seiner Familie spricht. Wie die Kinder im Laufe der Schulzeit mit der ζ. T. neuen Phraseologie der Standardsprache zurecht kommen, wie sie sie in den eigenen schriftlichen Ausdruck übernehmen, darüber können unsere Untersuchungen mit Zürcher Schülern einige Aufschlüsse geben. Dabei ist zu berücksichtigen, daß das Erlernen der Standardsprache für Kinder, die in der Schweiz aufwachsen, weit mühsamer als für deutsche Kinder ist, weil ihre schweizerdeutsche Alltagssprache sich stärker vom Hochdeutschen unterscheidet. Dennoch werden die Ergebnisse, die im folgenden berichtet werden, mit Einschränkungen auch für deutsche Verhältnisse Geltung haben. Es sind Ergebnisse über die Häufigkeit von Phraseologismen, über Schwierigkeiten bei ihrer Verwendung und über den Sonderfall der Funktionsverbgefüge. Die an sich interessanten Helvetismen, d. h. die Abweichungen von der standardsprachlichen Phraseologie, die in der deutschschweizerischen Variante der Standardsprache akzeptiert sind, kommen hier nicht zur Sprache. 6.4.4.1. Häufigkeit in Schüleraufsätzen In den Jahren 1978/79 unterzogen wir 516 Stundenaufsätze von Schülern der Stadt Zürich mit ca. 125 000 Wörtern der phraseologischen

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Analyse. Thematisch stellten wir den Lehrern der Primarklassen ( 4 . - 6 . Schuljahr) lediglich die Bedingung, es müsse ein Erlebnis berichtet werden; die Oberstufenschüler (7.-9. Schuljahr) der (schweizerischen Schul-)Typen Real-, Sekundär- und Mittelschule erhielten ein Thema, das sowohl einen Erlebnisbericht wie eine argumentative Behandlung zuließ. Eine erste, rein quantitative Betrachtung zeigt deutlich, daß die Schüler, je älter sie werden, desto mehr Phraseologismen verwenden. In den Texten der Viertkläßler kommt im Durchschnitt auf 176 Wörter ein Phraseologismus, in jenen der Sechstkläßler schon auf 143 Wörter. Bedeutend öfter verwenden die Schüler des 7 . - 9 . Schuljahres Phraseologismen, wobei es scheint, daß Jugendliche, die eine Schule höheren Typs besuchen, etwas zurückhaltender sind: bei den Mittelschülern ein Phraseologismus auf 98 Wörter, bei den Sekundarschülern auf 87 und bei den Realschülern auf 80. Recht interessante Befunde zeigen sich, wenn man die Phraseologismen aus den Aufsätzen nach Strukturtypen ordnet. Phraseologismen mit übertragener Bedeutung scheinen Viertkläßler noch kaum aktiv zu gebrauchen. Einen Anteil von rund 20—25 Prozent erreicht dieser Typ erst bei den Oberstufenschülern. Zudem sind unter ihnen wenig „klassische", sprichwörtliche Redensarten zu finden wie: Ich will mich nicht von Ihnen aufs Glatteis führen lassen (9. Schuljahr, Mittelschule) (. . .) daß ihm die Haare zu Berge stehen (9. Schuljahr, Sekundärschule)

In der Mehrzahl sind sie unscheinbarer, weniger bildhaft: (. . .) dann ergriff Herr Schmid das Wort (6. Schuljahr, Primarschule) Es regnete in Strömen (8. Schuljahr, Sekundärschule) ( . . . ) sich sauber aus der Affäre ziehen (8. Schuljahr, Sekundärschule)

Streckformen kommen in der 4. Klasse noch kaum vor, in der 6. schon häufiger, und in den Oberstufenarbeiten erreichen sie einen Anteil von 10—20 Prozent. (Streckformen mit haben und machen nicht eingerechnet). Sie sind aber bei Mittelschülern wesentlich beliebter als bei

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Sekundär- und Realschülern. Daß Streckformen trotzdem nicht einfach als Symptom eines intellektualisierten Stils gewertet werden dürfen, sondern auch der Ausdrucksdifferenzierung dienen können, zeigen ein paar Beispiele: Der C a r setzte sich in Bewegung (6. Schuljahr, Pri-

Sie sind fast alle nur in hochdeutscher Form bekannt. Man geht wohl nicht fehl, wenn man hier unter anderem auch den Einfluß der üblichen Sprichwortaufsätze und der Übungssentenzen in den Sprachbüchern vermutet. Beispiele:

marschule)

Durch Schaden wird man klug (8. Schuljahr, Mittel-

Ich führe mein eigenes Leben (9. Schuljahr, Real-

schule)

schule)

„Ich weiß, daß ich nichts weiß", sagt Sokrates.

E r ging in Führung (8. Schuljahr, Mittelschule) Wir kamen zum gemeinsamen Schluß, daß (. . . ) (9. Schuljahr, Sekundärschule)

(9. Schuljahr, Mittelschule) Jedem Menschen recht getan, ist eine Kunst, die niemand kann. (8. Schuljahr, Sekundärschule)

In der 4. Klasse die Hälfte, später noch rund ein Drittel machen die übrigen verbalen Wortgruppen aus:

Durchgängig beliebt sind schließlich die Zwillingsformeln. Sie machen 5—10 Prozent aller Phraseologismen aus:

Mein Vater löste die Billette (8. Schuljahr, Mittel-

Wir kommen an Wald und Wiesen vorbei (6. Schul-

schule)

jahr, Primarschule)

(. . .). welche Richtung sie einschlagen sollten (9.

( . . . ) mit Sack und Pack (4. Schuljahr, Primarschule)

Schuljahr, Sekundärschule)

(. . .) so oder so (9. Schuljahr, Sekundärschule)

(. . .) ihr habt schulfrei (7. Schuljahr, Realschule)

Das ist ja gut und recht, aber (. . .) (7. Schuljahr,

(. . . ) mir blieb nichts anderes übrig, als nach R. zu

Realschule)

fahren (6. Schuljahr, Primarschule)

Feste Vergleiche, die im Schülerslang so beliebt sind, finden sich in den Aufsätzen keine, was an der mangelnden Emotionalität dieser Textsorte liegen mag. Sprichwörter, Zitate und Sentenzen streuen erst die Oberstufenschüler in ihre Aufsätze ein, besonders die Sekundär- und Mittelschüler.

Um weitere Aufschlüsse über Gebrauchsaspekte von Phraseologismen zu erhalten, haben wir den Schülern einen Test vorgelegt, der aus einem inhaltlich zusammenhängenden Lückentext bestand, in dem 15 unvollständige phraseologische Wendungen ergänzt werden sollten. Es handelte sich dabei um bildhafte Redensarten, Streckformen und Paarformeln,

Phraseologismus-Ergänzungstest: Ergänzungsleistungen nach Schuljahr und Schultyp in Prozenten

Schuljahr/Schultyp

Schülerzahl S

Gesamtzahl Lücken

15 x S = 100%

Ergänzungen richtige

andere

keine

4./Primarschule 6./Primarschule

89

1335 1320

35% 57%

35% 35%

30% 8%

7./Realschule 8./Realschule 9./Realschule

43 38 37 40 45 42

58% 62% 63% 71% 75% 78%

36% 28% 31% 17%

6% 10% 7%

7./Sekundarschule 8./Sekundärschule 9./Sekundärschule

645 570 555 600 675 630

19%

15%

12% 5% 6%

7./Mittelschule 8./Mittelschule 9./Mittelschule

43 35 35

645 525 525

77% 79%

18% 16% 18%

5% 5% 2%

88

80%

265

Schulkinder die alle ungefähr gleich sprachüblich sind. Der Text sollte die Entwicklung der Mechanismen messen, mit denen Teile von Phraseologismen ergänzt werden. Dje Tabelle zeigt, wie die Testwendungen ergänzt wurden. Darin sind die Prozentwerte als Durchschnitte aus allen 15 Wendungen zu verstehen. Nicht zum Ausdruck kommen damit die ζ. T . beträchtlichen Unterschiede zwischen den einzelnen Wendungen (Tabelle S. 264). Im 4. Primarschuljahr werden die Lücken durchschnittlich erst von 35 Prozent der Schüler korrekt ergänzt. Ebensoviele setzen irgend etwas anderes ein, von freien, aber sinnvollen Wortverbindungen bis zu sinnlosen und agrammatischen. Fast jeder Dritte läßt die Lücke leer. Noch relativ wenig Schüler haben also psychologische oder psycholinguistische, den Phraseologismen entsprechende Einheiten gebildet, über die sie verfügen, obwohl man den fehlerhaften Ergänzungen häufig ansieht, daß Lernprozesse in Richtung Einheit stattgefunden haben. In der 6. Primarklasse wurden bereits 5 7 Prozent der Lücken richtig ergänzt. Dies ist sicher der wachsenden hochdeutschen Hörund Leseerfahrung zu verdanken, die hauptsächlich in der Schule und durch die Medien erworben wird. Wie zu erwarten war, klafften dann auf der Oberstufe Sekundär- und Mittelschüler einerseits und Realschüler andererseits in ihren Leistungen deutlich auseinander. Die Realschüler kamen bis zur 9. Klasse nur wenig über 6 0 Prozent hinaus, die Sekundär- und Mittelschüler jedoch brachten es soweit, daß an die 80 Prozent von ihnen die Lücken jeweils richtig ausfüllten. Der Kenntniszuwachs verflachte aber gegen das Ende der Schulzeit. 6.4.4.2. Schwierigkeiten bei der Verwendung Die abweichenden Ergänzungen lohnen eine besondere qualitative Interpretation. Sie sind freilich sehr verschieden zu erklären. In gewissen Fällen ergänzte der Schüler zu einer sinnvollen Wörtgruppe, doch war sie nicht mit dem Kontext zu vereinbaren. Eine zweite Art von Ergänzungen vertrug sich zwar mit dem

Kontext, hatte aber mit dem Phraseologismus nichts zu tun. Manchmal setzte der Schüler offensichtlich aus Ratlosigkeit irgend etwas ein, das keinen erkennbaren Sinn ergab. Aufschlußreicher als die erwähnten Fälle sind jedoch all die Ergänzungen, bei denen man vermuten kann, daß an der Produktion die Vorstellung vom Phraseologismus mitbeteiligt war. Solche Fehlleistungen werfen ein Licht auf die Art und Weise, wie im Laufe des Spracherwerbs Phraseologismen im Gedächtnis repräsentiert werden und welche Mechanismen an der Aktualgenese beteiligt sind. Sieht man von der Möglichkeit ab, daß vielleicht einige Schüler aus Spaß falsch ergänzten, so kann man vier Typen unterscheiden: 1-Typ Die Schüler erinnerten vom PhraseologismusTeil, den es in die Lücke einzusetzen galt (im folgenden kursiv), nur das Hauptlexem, während sie die semantisch blasseren Morpheme, oft grammatische, nicht sicher speicherten und daher auch nicht korrekt wiedergeben konnten. Beispiele: wurde er auf frischer Tat ertappt der Tat seiner Tat Darauf faßte er den Entschluß, . . . erfaßte befaßte schoß es Peter durch den Kopf in den Kopf durch seinen Kopf 2. Typ Die Schüler hatten den ungefähren Klang des Phraseologismus in Erinnerung: Vorher mußte er wohl oder übel . . . wohl aber vor oder schoß es Peter durch den Kopf in den Schöpf auf frischer Tat ertappt frischem Fuß 3. Typ Viel häufiger zu beobachten war aber der umgekehrte Fall: Das Kind hatte sich das ungefähre Bild zusammen mit der phraseologischen Bedeutung ins Gedächtnis eingeprägt, war aber nicht mehr in der Lage, den festen Wort-

266

Spracherwerb

laut abzurufen, sondern nur eine mehr oder weniger metonymische Wortkette. er faßte sich ein Herz ans Herz ins Herz an die Brust alles ging wie am Schnürchen Seilchen Faden Band Schwanz

Leider teilen sich die Meinungen oft (9. Schuljahr, Sekundärschule)

(die M. gehen auseinander / geteilter M. sein)

Beim nächsten Beleg ist die Bedeutung (,stur') stärker als die Bildvorstellung (,steif und fest'). Sie schleicht sich gewissermaßen in den Wortlaut ein und bricht das Bild auf:

schoß es Peter durch den Kopf im Kopf/Hirn herum durch das Gehirn/Gedächtnis in den Sinn durch den Leib

4. Typ Relativ selten waren Kontaminationen, d. h. Vermischungen zweier Phraseologismen. Sie kamen hier wohl dadurch zustande, daß der vorgegebene Phraseologismus-Teil eine phraseologische Ergänzung aus dem Gehirn abrief, die ebenfalls denkbar wäre, wenn man den Kontext nicht beachtete.

sie behauptete stur und steif (9. Schuljahr, Realschule) Einige anerkennen sie nicht einmal als voll (9. Schuljahr, Sekundärschule)

(steif und fest / stur) (für voll nehmen / anerkennen)

Umgekehrt verhält es sich in den folgenden Fällen. Hier haben die Schüler offenbar v. a. die Bildvorstellung gespeichert und sind dafür nicht mehr in der Lage, den festen Wortlaut wiederzugeben: er war der ewige Täter unter ihren Augen (9. Schuljahr, Sekundärschule)

(in ihren Augen)

Die Nachricht kam auch an das Ohr der Leiterin (7. Schuljahr, Sekundärschule)

(kam der Leiterin zu Ohren)

nach langem Hin und Her und wieder schoß es Peter durch den Kopf über den Rücken

(hin und wieder) (kalt über den Rücken laufen)

alles ging wie am Schnürchen Spieß/Spießchen (!) (schreien wie am Spieß) laufenden Band

Daß Fehlleistungen, wie sie beim Ergänzungstest auftraten, nicht einfach künstliche Konstrukte sind, beweisen die Schüleraufsätze, in denen sich ganz ähnliche Abweichungen von der phraseologischen Norm finden lassen. Zum Beispiel können auch hier Fehler durch die Kontamination zweier Wendungen entstehen. Solche Mischbildungen erfolgen fast nie nur aufgrund einer lautlichen, sondern meistens auch einer semantischen Ähnlichkeit: Ich sah, daß Frau E. den Auto- (beruhigen / fahrer fürchterlich beschimpfte zum Schweigen . . . Wir wollten Frau E. zur bringen) Ruhe bringen (7. Schuljahr, Sekundärschule)

6.4.4.3. Streckformen als Sonderfall Besondere Beachtung verdient schließlich eine phraseologische Erscheinung, die in der hochdeutschen Schreibsprache wesentlich häufiger vorkommt als in der (schweizerdeutschen) Alltagssprache: die Streckformen mit speziellen Funktionsverben. Sie sind zu unterscheiden von Streckformen mit allgemeineren Funktionsverben wie Streit, Vertrauen, Freude haben oder einen Ausflug, Vorschlag machen, die auch in der Alltagssprache gebräuchlich sind und die hier nicht mitgemeint sind. In den Aufsätzen treten, wie oben erwähnt, Streckformen mit speziellen Funktionsverben erst ungefähr vom 6. Schuljahr an in großer Zahl auf. Der Schüler erkennt je länger je mehr diese Besonderheit der schreibsprachlichen Phraseologie und nimmt sie in seinen eigenen Schreibstil auf. Beispiele aus den Aufsätzen: wo wir unsere Koffer in Empfang nahmen (6. Schuljahr, Primarschule)

Schulkinder ich wollte dem Spiel ein Ende setzen (Sekundärschule) Gleichberechtigung kann nicht in Erfüllung gehen (Realschule)

Die Oberstufenschüler schießen dabei im Bemühen, sich besonders schreibsprachlich auszudrücken, oft übers Ziel hinaus. Anstatt ohne Nominalisierung verbal oder doch mit Hilfe der allgemeinen Funktionsverben haben, machen usw. zu schreiben, verwenden sie spezielle Funktionsverben in der Meinung, diese seien Kennzeichen eines guten schreibsprachlichen Stils. Dadurch werden die Wendungen sehr oft preziös bis falsch. Beispiele: sein Stimmrecht in Gebrauch setzen

(Sekundär-

schule) um Einkäufe zu erledigen (Sekundärschule, Realschule) Vergnügen / Freude bereiten (Sekundärschule) wir beschlossen, dem Eisfeld einen Besuch abzustatten (Mittelschule)

In Verwendung und Beherrschung von Streckformen unterscheiden sich die Jugendlichen der drei Schultypen merklich. Mittelschüler gebrauchen sie öfter als Sekundarschüler, und v. a. verfügen sie dabei über die größere sprachliche Sicherheit. Die Realschüler schreiben noch weniger Streckformen als die Sekundarschüler und sind noch unsicherer in ihrer Verwendung. Man kann sich nun fragen, ob sich die deutlichen Differenzen in der aktiven Verwendung von Streckformen mit einem entsprechend unterschiedlichen Bewußtsein verbinden oder gar begründen lassen. Um die Frage beantworten zu können, ließen wir die Schüler mehrere Streckformen beurteilen. Sie sollten jeweils von zwei Varianten die bessere wählen, wobei die eine mit allgemeinem, die andere mit speziellerem Funktionsverb gebildet war. Test- und Aufsatzbefunde fügen sich zu folgendem Bild zusammen: Die Primarschüler brauchen selber noch kaum spezielle Streckformen, weil sie ihnen von der Sprechsprache her unbekannt sind. Hingegen wandeln sie ihr Urteil über solche

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Wendungen in bemerkenswerter Weise. Zu Beginn der Schulzeit halten sie überhaupt noch nichts von ihnen, später aber ziehen sie sie je länger je mehr den einfachen Versionen vor, offenbar weil sie gründlich dazu angehalten werden, treffende, schöne Wörter zu suchen. Erst auf der Oberstufe scheint sich dann (gegen die Schulnorm?) die differenziertere Erkenntnis durchzusetzen, daß allgemeine Funktionsverben auch besser sein können als spezielle, die nur allzu oft preziös wirken. Jedenfalls geben die ältesten Schüler den Vorzug wieder vermehrt den einfachen Versionen. Die Realschüler sind aufgrund mangelnden Vertrauens in ihr Sprachgefühl, das mit erschüttertem Vertrauen in ihre Fähigkeiten allgemein zusammenhängt, am stärksten von der Meinung geprägt, in der Schriftsprache sei alles ganz anders als in der Alltagssprache. Zum stilistischen Urteil aufgefordert, entscheiden sie sich eindeutig für die spezielleren Streckformversionen. Es ist daher nicht verwunderlich, daß sie, wenn sie selber Streckformen brauchen, nach speziellen Funktionsverben suchen, was oft zu eigenartigen Resultaten führt. Mittelschüler lehnen Streckformen mit allgemeinen Funktionsverben nicht rundweg ab. Sie wissen durchaus zu differenzieren zwischen Fällen, in denen Verben wie machen, haben angebracht sind, und solchen, in denen eine präzisere Wendung vorzuziehen ist. Da sie folglich weniger krampfhaft nach dem treffenden Verb suchen und ganz allgemein wortsicherer sind als Realschüler, unterlaufen ihnen in ihrem häufigen Streckformengebrauch auch weniger Mißgriffe. Sekundarschüler bemühen sich offenbar stärker als Mittelschüler, Allerweltsverben zu vermeiden, verfügen aber gleichzeitig nicht über ein gleich sicheres Sprachgefühl, weshalb sie öfter preziöse Streckformen produzieren. Viele Sekundarschüler begründen ihren Entscheid für die speziellere Variante mit Bemerkungen wie: machen ist ein zu großer Begriff, machen braucht man zuviel, auf dem WC macht man. Dahinter sind Kampagnen des Lehrers gegen zu häufigen Gebrauch dieser Verben zu vermuten.

268

Spracherwerb

6.4.5. Phraseologismen im Bewußtsein der Schüler Soll der muttersprachliche Unterricht nicht nur die Kommunikationsfähigkeit üben, sondern auch das Bewußtsein von der eigenen Sprache und das Verständnis für ihre Erscheinungen fördern, wie es seit jeher seine Aufgabe war, so wird er auch Phraseologismen zum Gegenstand der Sprachreflexion machen. Voraussetzung dafür ist die Kenntnis dessen, was die Schüler einer bestimmten Schulstufe von Phraseologismen wissen und wie sie sich zu ihnen einstellen, welche metasprachlichen Einsichten möglich sind und welche nicht. Das phraseologische Bewußtsein, das schon mit dem Streckformentest angesprochen wurde, tritt im folgenden, abschließenden Teil in den Mittelpunkt.

6.4.5.1. Das phraseologische Wissen In Gesprächen mit Vorschulkindern und mit Kindergärtlern konnten wir die Erfahrung machen, daß die Kinder schon vor ihrem Schuleintritt grundsätzlich in der Lage sind, sich über einzelne Phraseologismen zu äußern, ihren Sinn oder ihre Anwendung zu erklären. Angesichts dieser Möglichkeit zur Metakommunikation ist es bemerkenswert, daß sich die Kinder nie über Phraseologismen wunderten oder amüsierten. Wir haben dies einerseits damit erklärt, daß die Kinder wegen den noch weiten Wortbedeutungen die semantische Anomalie noch gar nicht bemerkten. Zudem konnten wir feststellen, daß die Kindergärtler den gemeinsamen phraseologischen Charakter all der Redensarten, die da zur Sprache kamen, nicht erkannten. Sie realisierten nicht, daß es sich immer — linguistisch gesprochen — um Einheiten aus mehreren Wörtern mit anomaler Syntax und/oder Semantik handelte. Dazu kommt anderseits, daß den Kindern vielfach auch die Welterfahrungen fehlen, um phraseologische Wortverbindungen vom Inhalt her komisch zu finden. Mit dem einsetzenden Lese- und Schreibunterricht tritt die Sprache stärker ins Bewußtsein der Kinder.

Im Vergleich zu den 2—3 Jahre jüngeren Kindergärtlern zeigten die Schüler ein bedeutend größeres phraseologisches Bewußtsein. Sie begriffen sehr bald, daß es in den TestGesprächen immer um das Gleiche ging, um sonderbare Wendungen, die sich auf zwei Arten verstehen ließen. Und während die Jüngeren die Redensarten immer eng am Kontext erläuterten, gaben die Zweitkläßler die Bedeutungen schon recht oft in Form einer allgemeinen Definition an. Auch lachten sie häufig über Phraseologismen, führten zum Spaß mit Hilfe von Gesten ihren wörtlichen Sinn aus und berichteten über selbst erlebte Eulenspiegeleien. All diese Beobachtungen lassen auf zunehmende Kenntnisse der semantischen Struktur von Phraseologismen schließen. In den folgenden Jahren bis zum Ende der Schulzeit nimmt das phraseologische Wissen weiter zu, gefördert vom Sprachunterricht, der von Jahr zu Jahr die Sprachreflexion stärker betont. Diese Entwicklung kann aufgrund der Gespräche beschrieben werden, die wir mit 10 Primarklassen und je 6 Real-, Sekundär- und Gymnasialklassen führten. Nachdem wir die Schüler mehreren schriftlichen Tests zur Phraseologie unterzogen hatten, unterhielten wir uns mit ihnen über diese Tests und allgemeiner über Phraseologismen. Dabei vermieden wir den Unterrichtscharakter, indem wir bewußt auf Belehrung verzichteten und zudem Mundart sprachen. Zunächst ist zu bemerken, daß nur die Sekundär- und Mittelschüler mehr oder weniger selbständig erkannten, daß es in den Tests um Phraseologisches gegangen war. Ihnen schienen Phraseologismen — sie sprachen von „gebräuchlichen Ausdrücken", „festen Redewendungen", „Sprichwörtern", „Klischeeausdrücken" u. ä. — bekannt und bewußt zu sein. Die Realschüler und v. a. die Primarschüler kamen von sich aus selten auf die richtige Spur. Im Verlauf der Gespräche wurden die Klassen immer wieder mit Phraseologismen, vor allem mit bildhaften, konfrontiert und aufgefordert, die besonderen Eigenschaften solcher Wendungen zu nennen. Die Äußerungen der Schüler zeigen den Entwicklungsweg hinsichtlich zunehmenden phraseologi-

269

Schulkinder

Einige Zweitkläßler bemerkten, daß diese

Das Häschen hat das Sprichwort Hast du eine Schraube locker? wörtlich verstanden; es ist einfach eine Redensart.

Ausdrücke besonders sind („komisch", „nicht

Einen vagen Begriff von grammatischer Irregu-

sehen Wissens und wachsendem metasprachlichem Ausdrucksvermögens.

ganz hundertprozentig"), konnten aber ihren

larität bzw. von Festigkeit darf man wohl

Eindruck nicht genauer bestimmen. Wenige,

schon hinter folgenden Erklärungen vermuten:

noch unbeholfene Äußerungen ließen vermu-

Redensarten sind meistens sprachlich nicht so korrekt, sie tönen komisch. Ein Satz, der immer genau gleich tönt.

ten, daß ihre Sprecher die Bedeutungsübertragung erkannt hatten. Andere sprachen vom Aspekt der abnehmenden

Gebräuchlichkeit

oder spielten gar auf ihre Reproduzierbarkeit

Daß die Einsicht in phraseologische Eigen-

an:

schaften nicht nur eine Sache des Alters, son-

die hat man früher gebraucht, jetzt hört man sie nicht mehr oft

aus den Gesprächen auf der Oberstufe ge-

auf den Leim gehen ist ein altes Wort, das kommt immer wieder In der 4. Klasse drehten sich viele Bestimmungsversuche um die Eigenschaften der Bedeutungsübertragung: Es gibt auch ein Spiel, da muß man ein Wort haben, das zwei Bedeutungen hat, ζ. B. die Bank Solche Wörter haben eine Bedeutung: nicht mehr alle Tassen im Schrank haben hat die Bedeutung ,da oben nicht mehr ganz sein' Einige Kinder wiesen darauf hin, daß Redensarten der Ausdrucksdifferenzierung dienen können, indem sie ζ. B. scherzhaft oder euphemistisch seien: Es sind eigentlich Scherzausdrücke Man wagt etwas nicht richtig zu sagen, darum sagt man einfach ein anderes Wort [ = Phraseologismus; hier war die Rede von nicht alle Tassen im Schrank haben]. Das richtige Wort ist irgendwie frecher. Es ist ein anständiges Wort. Recht deutlich wurde auch erkannt, daß die Bedeutung mancher Redensarten durch den Kontext determiniert wird, ζ. B.: Man muß eben die ganze Geschichte kennen, damit man weiß, was der Satz heißt. Wenn man einfach hört: du hast ne Schraube locker, dann kann man nicht wissen, was es heißt. Die Sechstkläßler drückten sich schon recht gewandt aus. Sie sahen ebenfalls vor allem die Bedeutungsübertragung: Ein Stein kann nicht vom Herz fallen; es hat eben einen zweiten Sinn. Man sagt es anders als man es meint.

dern auch der Schultypzugehörigkeit ist, muß schlossen

werden.

Die

Realschüler

hatten

außerordentlich Mühe zu erklären — sogar anhand

von

Beispielen

—, wodurch

sich

Redensarten auszeichnen. Nur in drei der fünf Klassen kam jemand darauf, daß Phraseologismen nicht nur im normalen übertragenen, sondern auch im wörtlichen Sinn verstanden werden können. Ein Realschüler erklärte ζ. B. den Kopf verlieren so: er kann sich nicht mehr konzentrieren, verliert ihn natürlich nicht materiell gesehen, einfach wegwerfen, sondern weiß nicht mehr, was er macht. In erwachsenensprachlichen Kategorien erklären, was man unter Redewendungen versteht, konnten eigentlich nur die Sekundär- und mit genaueren Begriffen die Mittelschüler. Stellt man eine Anzahl ihrer treffendsten Definitionsversuche zusammen, so sieht man, daß keines der wesentlichen phraseologischen Merkmale unerkannt blieb: Reproduzierbarkeit: Das sind Sätze oder mindestens Satzteile, die wir schon richtig im Gehirn haben, und sie kommen dann sofort, wenn ein abgebrochener Satz kommt. (7. Schuljahr, Sekundärschule) eine feststehende Sache, die man eben immer wieder einsetzt bei solchen Gelegenheiten. (9. Schuljahr, Sekundärschule) Bedeutungsübertragung: im übertragenen Sinn gemeint (9. Schuljahr, Sekundärschule) es ist nicht das, was man gerade sagt, man meint eigentlich etwas anderes (9. Schuljahr, Sekundärschule)

270

Spracherwerb

Mehrgliedrigkeit: Es sind oft einfach zwei, drei oder mehr Wörter, die einfach zusammengehören. Und es ist nicht wortwörtlich gemeint. (7. Schuljahr, Sekundärschule) Verwendbarkeit in definierten Situationen: Ein Ausdruck, den man üblicherweise in bestimmten Situationen so sagt. (7. Schuljahr, Mittelschule) Gebräuchlichkeit und Irregularität: Sätze, die sich durch häufigen Gebrauch eingebürgert haben und dabei gar nicht immer grammatisch zu sein brauchen. (8. Schuljahr, Mittelschule) Festigkeit und Undurchsichtigkeit: und das ist eigentlich das Charakteristische, daß sie so starr bleiben und sich dann lange Zeit halten, und daß man am Schluß den Ursprung gar nicht mehr erkennt, nur noch die Bedeutung. (9. Schuljahr, Mittelschule) ein Ausdruck, der zusammengehört, den man nicht auseinandernehmen kann. (7. Schuljahr, Mittelschule) Schon auf der Unterstufe ist also ein erstes Thematisieren von Redensarten möglich, wenn man von konkreten Wendungen ausgeht. Eine Thematisierung aller phraseologischen Eigenschaften auf allgemeinerer Betrachtungsstufe dürfte aber erst in der Sekundär- und v. a. in der Mittelschule sinnvoll sein. Am stärksten war den Schülern die Eigenschaft der Bedeutungsübertragung bewußt. Sie wurde durchgehend genannt, wird also nicht erst im Alter des formal-logischen Denkens entdeckt. Obwohl die allermeisten Klassen nach eigenen Angaben das Thema „Phraseologismen" noch nie eingehend behandelt hatten, stammte das phraseologische Wissen der Schüler, besonders in den oberen Klassen, zu einem großen Teil aus dem Schulzimmer. Wie stark ihr Phraseologismus-Begriff vom Unterricht geprägt war, zeigte sich sehr schön darin, daß die Sekundarschüler auffällig oft, in einigen Klassen gar ausschließlich, hochdeutsche Beispiele nannten, obwohl sonst Schweizerdeutsch gesprochen wurde. Sekundär- und Mittelschüler äußerten denn auch im Gespräch eindeutig die Meinung,

Phraseologismen seien charakteristischer für die Schul- oder Schriftsprache als für die Alltagssprache. Natürlich wußten sie, daß Redensarten auch in der schweizerdeutschen Alltagssprache vorkommen, doch waren für sie Äußerungen folgender Art charakteristisch: man braucht sie mehr in der schriftdeutschen Sprache (8. Schuljahr, Sekundärschule) in der Umgangssprache nicht, aber in der Schule schon, in Aufsätzen, . . . ein schönes Deutsch (8. Schuljahr, Sekundärschule) Anders die Realschüler. Sie verstanden unter Redensarten eher alltagssprachliche Wendungen, vor allem solche der Peer-Group, mit denen sie untereinander ihre Beziehungen regeln: also wir benützen diese . . . Ausdrücke, Redewendungen . . . im Aufsatz benützt man sie nicht so oft wie im Mündlichen, etwa wenn man miteinander spricht und einander ankotzt. (8. Schuljahr, Realschule) Wohl aufgrund schlechter Erfahrungen mit Redewendungen in Aufsätzen, die vom Lehrer beanstandet wurden, neigten sie dazu, Phraseologismen in schriftlichen Arbeiten zu umgehen. Stärker noch als die Realschüler hielten die jüngeren Kinder Redensarten für alltagssprachlich, und zudem verbanden sie zuweilen damit noch die moralische Wertung, Redensarten seien Kennzeichen ungesitteter Sprache. Einige meinten, man dürfe sie nicht im Verkehr mit Erwachsenen brauchen: Mein Vater sagt zuweilen Blas mir in die Schuhe!. Und wenn wir es sagen, so dürfen wir das nicht, weil wir noch nicht erwachsen sind. (2. Schuljahr, Primarschule) Meine Eltern sagen, daß wir solche Ausdrücke [Schraube locker] nur den Kollegen erzählen dürfen. (6. Schuljahr, Primarschule) Andere waren der Ansicht, sie seien typisch für das Schweizerdeutsche, die hochdeutsche Sprache habe etwas viel Anständigeres an sich als die schweizerische. Sie verglichen die Alltagssprache mit der hochdeutschen Schulsprache, wobei ihnen diese gezwungenermaßen anständiger erscheinen mußte.

Schulkinder

6.4.5.2. Die stilistische Einstellung zu Phraseologismen Wenn das phraseologische Bewußtsein zu beschreiben ist, interessiert es natürlich nicht nur, was die Schüler von Phraseologismen wissen, sondern auch, was sie in stilistischer Hinsicht von ihnen halten. Daher soll nun auf die Einschätzung von Phraseologismen eingegangen werden. Da die Kinder die meisten der gebräuchlichen Phraseologismen im Laufe der Schulzeit mit dem Erwerb des Hochdeutschen kennen und gebrauchen lernen, darf man annehmen, daß ihre Einschätzung der Phraseologismen mit ihrer allgemeinen Einstellung zur Schulsprache zusammenhängt. Trifft dies zu? Hängt die Einschätzung der Phraseologismen vom Grad der Identifikation mit dem Schulstil ab? Zur Klärung dieser Frage konzentrierten wir uns auf die Schüler der Oberstufe und verglichen die verschiedenen Schultypen in der Vermutung, Erfolg und Mißerfolg in der Schulsprache könnten auch die Einstellung prägen. Was die Schüler von der hochdeutschen Sprache halten, die sie in der Schule lernen, versuchten wir durch eine Anzahl schriftlicher Fragen herauszufinden. Das Ergebnis der Antwortenauswertung läßt sich in vereinfachender Kürze so zusammenfassen: Die Realschüler sind sich bewußt, daß ihre eigene Schreibsprache nicht dem Stil entspricht, der von der Schule gefordert wird. Sie denken aber keineswegs kritisch über den Schulstil, sondern halten ihn für ein unerreichtes (oder unerreichbares) Vorbild, wogegen ihre eigene Sprache mangelhaft sei. Ein viel stärkeres Vertrauen ins eigene Sprachgefühl zeigten die Sekundär- und Mittelschüler. Eine Mehrheit von ihnen war der Ansicht, Schulstil sei eben der Stil, den man auch selber gut finde. Offenbar bewältigten diese Schüler die sprachlichen Anforderungen der Schule recht gut, so daß sie sich mit ihnen identifizieren konnten. Eine recht große Minderheit der Sekundarund Mittelschüler unterschied die Sprache der Schule von der eigenen, privaten, stufte jedoch im Gegensatz zu den Realschülern den Privatstil positiver ein. Ihre Distanz zur Schulsprache

271

ist keine bewundernde, sondern eine kritische im Bewußt.sein, selber sprachlich kompetent zu sein. Dieser allgemeinen Haltung entspricht recht genau die stilistische Einschätzung von Phraseologismen. So äußerten die Realschüler — soweit sie überhaupt zu Sprachreflexion fähig waren — keinerlei Skepsis gegenüber der Verwendung von Phraseologismen, jedoch gewisse Schwierigkeiten, sie im Hochdeutschen korrekt zu gebrauchen. Sie bemühten sich offenbar um die Phraseologie der Schulsprache, stießen dabei aber oft auf Schwierigkeiten. In den Sekundarklassen war der Tenor eindeutig positiv. Man sah in der Redewendung den treffenden, allgemeinverständlichen Ausdruck, den man in manchen Situationen einsetzen könne, ohne sich zu einer eigenen Formulierung anstrengen zu müssen. Redensarten seien besonders dann am Platz, wenn man etwas „speziell ausdrücken", „ein schönes Deutsch schreiben müsse", also etwa in Aufsätzen. Die Mittelschüler teilten diese positive Meinung nicht einhellig. Die jüngeren unter ihnen machen sich gern die vielfältige und bequeme Verwendbarkeit der Phraseologismen zunutze. So meinten Schüler im 8. Schuljahr: J a , sie helfen, wenn man einen Aufsatz schreiben will, kann man irgendwie eben wie mit solchen Redewendungen - dann weiß man eher, was man schreiben kann. Ich finde, es wirkt sehr auflockernd, es schildert ein wenig die Spontaneität.

Bei den älteren Mittelschülern treten andere Aspekte in den Vordergrund. Auf die Frage, was von Redewendungen als Ausdrucksmittel in Aufsätzen zu halten sei, äußerten sie sich vorwiegend kritisch. Sie tönten lächerlich oder geschwollen, seien häufig schal und nichtssagend, eben weil sie so allgemein verwendbar seien: Die kann man in so vielen Situationen brauchen, daß sie eigentlich schon gar keine Farbe mehr haben und gar keine Aussagekraft. Also ich finde, bei einem Aufsatz sollte man ja eigentlich selber etwas gestalten und eine Meinung, die man selber hat, formulieren . . . und daher meide ich solche Ausdrücke, wo es geht.

Ill

Spracherwerb

Bleibt dieses stilistische Bewußtsein, das die Schüler im Gespräch erkennen ließen, nur theoretisch, oder wirkt es sich konkret im Beurteilen von Sprachklischees und im eigenen Sprachverhalten aus? Darauf soll zum Schluß mit Hilfe von Test- und Aufsatzbefunden eine Antwort versucht werden. Wer Schüleraufsätze liest, weiß, daß für den klischeehaften Eindruck, den viele von ihnen machen, häufig nicht so sehr lexikalisierte Phraseologismen verantwortlich sind als vielmehr Wendungen, die, obwohl in keinem Wörterbuch zu finden, immer wieder stereotyp vorkommen, so daß man sie geradezu als Aufsatzklischees bezeichnen kann. Beispiele: Endlich

war es soweit, die Sonne lacht durch das Fenster herein, das muntere Treiben, die Herzchen schlagen höher, (der Nachmittag) verfliegt immer viel zu schnell. Diese und ähnliche Klischeewendungen aus realen Schüleraufsätzen bauten wir in einen kurzen Text ein und forderten die Schüler auf, anzustreichen, was ihnen gefiel bzw. mißfiel. Wir vermuteten, daß die jüngeren Schüler noch kaum etwas auszusetzen hätten, weil ihnen die gewählte Ausdrucksweise im Vergleich zu ihren eigenen Schreibversuchen als vorbildlich erscheinen müßte, und daß sich die Schüler erst mit zunehmendem Alter von diesem Schülerdeutsch distanzieren würden. Wider Erwarten beurteilten jedoch die Sechstkläßler die einzelnen Klischees deutlich positiver als die um zwei Jahre jüngeren Kinder. Sie zeigten sich eindeutig am klischeefreundlichsten. Gut jeder zweite fand Gefallen an ihnen, und jeder vierte ließ sie unmarkiert und fand sie folglich normal. Nur jeder siebte bewertete sie negativ. Ein kleiner Rest fiel auf widersprüchliche Markierungen. Vom 7 . - 9 . Schuljahr flaute dann die Begeisterung ab, und auch die negativen Stimmen wurden wieder häufiger. Die Tatsache, daß die Schüler im 6. Schuljahr am stärksten zu Klischees neigen, ist sinnvollerweise zusammen mit dem Streckformentest (vgl. 6.4.4.3.) zu deuten, bei dem die Schüler ebenfalls eine Eigenheit des Schulstils, die „treffenden" Funktionsverben, zu beurteilen hatten. Hier wie dort ist die gleiche Ent-

wicklung festzustellen: Der Schüler gleicht sein Stilempfinden im Laufe der Primarschuljahre dem Schulstil an, wohl im gleichen Maße, wie er selber immer besser imstande ist, so zu schreiben, wie es die Schule anstrebt. Erst etwa vom 7. Schuljahr an macht sich eine kritischere Einstellung zum Schulstil bemerkbar, und zwar nicht etwa nur in den Gymnasialklassen. In allen drei Oberstufentypen fiel die Klischeebeurteilung praktisch gleich aus: etwas mehr als 2 /s der Schüler hießen die Wendungen gut, und bloß gut jeder fünfte fand die Klischees ausdrücklich schlecht. Daß die Mittelschüler nicht etwa kritischer urteilten, ist um so erstaunlicher, als sie doch in den Gesprächen abgegriffene Wendungen deutlich als billige Lösungen abgelehnt hatten. Ihre Übereinstimmung mit der Schulsprache im eigenen Sprachverhalten ist offenbar doch sehr groß, auch wenn sie sich in bewußter Reflexion teilweise von ihr distanzieren. Um da zu einer abschließenden Beurteilung zu kommen, müßte man jedoch in einer neuen Untersuchung genauer herausfinden, welche phraseologisch-stilistischen Teilgruppen die Schüler jeweils vor allem vor Augen haben, wenn sie Urteile abgeben. Zur Ergänzung haben wir die Oberstufenaufsätze auf Wendungen hin untersucht, die uns klischeehaft schienen. Die Zuordnung zu dieser Kategorie war freilich noch schwieriger als diejenige lexikalisierter Phraseologismen und blieb im Einzelfall subjektiv. Beispiele mögen illustrieren, was mit Klischeewendungen gemeint ist: Aber plötzlich bewölkten sich die heiteren Kindergesichter die Bäume tragen ein weißes Kleid darum gingen sie in die weite Welt hinaus todmüde sank ich ins Bett die Zeiten haben sich geändert nun war alles wieder gut

Die ca. 110 Wendungen, die wir herausschrieben, stammten sehr gleichmäßig von Schreibern aller drei Schultypen. Dadurch wird der Schluß, der aus dem Test gezogen wurde, erhärtet: Die Mittelschüler lehnen sprachliche Klischees in der Theorie ab. Bei der stilistischen Bewertung eines erwachsenensprachlich als

Schulkinder

klischeehaft empfundenen Textes und erst recht in der eigenen Sprachproduktion verhalten sie sich keineswegs klischeekritischer als ihre Altersgenossen anderen Schultyps. In diesem Schlußteil sind die zweifelhaften Auswirkungen einer Stilschulung sichtbar geworden, die sich starr auf die ideale Hochsprache ausrichtet. Zwar wird niemand bestreiten, daß die Förderung des sprachlichen Ausdrucks von Anfang an eine Aufgabe des Sprachunterrichts ist. Dazu gehört die Erweiterung und Nuancierung des Wortschatzes. Doch hat ein forciertes Training des betreffenden Wortes leicht auch zur Folge, daß sich die Schüler Klischeewendungen angewöhnen

273

oder sich in preziösen Streckformen versuchen, die im jeweiligen Kontext oft unecht und schuldeutsch klingen. Zudem bringt die Erziehung zum „schönen Deutsch" den Schülern, die weniger gut folgen können, den Nachteil, daß ihr Vertrauen ins eigene Sprachgefühl darunter leidet. Diese negativen Folgen des Wortschatztrainings kann der Lehrer vermindern, wenn er gleichzeitig das Bewußtsein dafür weckt, daß nicht eine ideale Hochsprache, sondern je nach Schreibanlaß verschiedene Stilschichten möglich sind, oder wenn er selber wenigstens in diesem Bewußtsein Schülerarbeiten korrigiert.

7. Kontrastive Phraseologie Im folgenden wird einerseits das Verhältnis zweier Sprachformen, andererseits dasjenige zweier (oder mehrerer) Sprachen exemplarisch betrachtet. Als Beispiel für das erstere wählen wir das diglossische Verhältnis von Mundart und Standardsprache in der deutschen Schweiz; der zweite Problemkreis soll anhand der wichtigsten sowjetischen Arbeiten — bislang hat sich vor allem die sowjetische PhraseologieForschung damit befaßt — dargestellt werden; schließlich geben wir noch einen Ausblick auf die Problematik des Übersetzens von Phraseologismen.

7.1. Kontrast Mundart — Standardsprache Untersucht werden strukturelle Relationen und Mechanismen der wechselseitigen Beeinflussung. Derartige Beeinflussungen könnte man mit dem in der Linguistik gängigen Begriff der „Interferenz" benennen. Doch scheint uns dies wenig tunlich, angesichts der für unsere Fragestellung zu engen Interpretation des Begriffs, wie sie etwa in Juhäsz (1980) gegeben wird: „Interferenz ist die durch die Beeinflussung von Elementen einer anderen oder der gleichen Sprache verursachte Verletzung einer sprachlichen Norm bzw. der Prozeß dieser Beeinflussung." (S. 646) Interferenz wird also primär als Prozeß mit negativem Ergebnis gesehen. Das zeigt sich noch genauer bei der weiteren Differenzierung: „Besteht zwischen Elementen zweier Sprachen eine wesentliche Ähnlichkeit, bzw. gibt es in beiden Sprachen überhaupt eine Entsprechung zwischen je einer Entität bzw. Struktur, so ist — in beiden Richtungen — eine Interferenz recht unwahrscheinlich, sondern die Wirkung

ist potentiell „positiv". Dieser Fall wird in der Literatur i. a. (positiver) Transfer genannt. ( . . .) Besteht zwischen je einer Entität zweier Sprachen ein großer Unterschied, bzw. gibt es für einen Begriff nur in der einen Sprache einen Ausdruck mit deutlichem Grenzsignal, so ist die Wahrscheinlichkeit einer Interferenz relativ größer." (S. 649) In diesem zweiten Fall spricht man von „negativem Transfer". Der Begriff der Interferenz, wie er hier verwendet wird, setzt voraus, daß die Strukturen der interferierenden Systeme im Prinzip verschieden sind (bei starker Ähnlichkeit ergeben sich eben nur selten Interferenzen). Außerdem wird die Möglichkeit nicht explizit erfaßt, daß im einen System — verglichen mit dem anderen — ganze Bereiche gar nicht besetzt sind. Es scheint uns daher vernünftiger, den Begriff des „Transfers" als neutralen Oberbegriff zu nutzen. Dies zunächst im Sinne des lerntheoretischen Ansatzes, wie er in Schneider (1978) formuliert ist (vgl. 6.1.2.). Eine Aktualisierung von Gelerntem, die nicht auf eine exakte Wiederholung des Lernresultats hinausläuft, bezeichnet Schneider generell als Transfer, und zwar im Hinblick „auf die Leistung, die darin besteht, daß die Aktualisierung auch in mehr oder weniger modifizierten Situationen erfolgen kann." (S. 72) „Gerät eine Transferleistung zum Nachteil des Lerners, d. h. bedeutet sie keinen Gewinn, sondern im Gegenteil eine Störung im Handeln, so spricht man von negativem Transfer." (S. 73). Auf den Gebrauch von zwei Sprachen oder Sprachformen angewendet, kann dies heißen: Im grammatischen Bereich wirken sich Transfers als grammatisch richtige oder falsche Lösungen aus. Daneben können Transfers aber — jenseits der Dichotomie richtig/falsch —

Mundart - Standardsprache

funktionale Effekte haben, dies insbesondere im Bereich des Lexikons und der Phraseologie. Ζ. B. können durch phraseologischen Transfer stilistische Konnotationen erzeugt werden, oder es können im einen System bestehende Lücken durch Elemente des anderen Systems gefüllt werden.

7.1.1. Das Verhältnis von Mundart und Standardsprache in der deutschen Schweiz 7.1.1.1. Voraussetzungen des Transfers Unter strukturellem Gesichtspunkt läßt sich die Ausgangsbasis für Transferprozesse zwischen den beiden Sprachformen so beschreiben: Es gibt, vom phraseologischen Bestand her, einen relativ großen Deckungsbereich der Sprachformen und jeweils sprachformspezifischen Bereiche. (a) schwdt. = hochdt.: es Aug zuetrucke / ein Auge zudrücken schwäär vo Begriff sii / schwer von Begriff sein im grooße und ganze / im großen und ganzen uf liislige Sole / auf leisen Sohlen (b) Nur Schweizerdeutsch: Ob ein Phraseologismus nur Schweizerdeutsch oder auch standardsprachlich ist, läßt sich leicht herausfinden, indem man Sprechern der deutschen Standardsprache entsprechende Listen von in der Schweiz gebrauchten Wendungen vorlegt. Man sieht dann schnell, daß Phraseologismen wie es hät scho wiit abegschneit (,es ist schlecht bestellt um eine Sache'), ett Chopf mache (,schmollen, trotzen'), ζ aarme Tage choo (,verarmen') spezifisch Schweizerdeutsch sind. Man sieht auch, daß die schwdt. Dialekte in vielen Fällen Streckformen verwenden, wo das Hochdte. einfache Verben hat: ett Läärme mache für lärmen, ett Lätsch mache für schmollen, Grüezi säge für begrüßen. Bei den Verben handelt es sich um die gleichen, die schon ahd. und mhd. für die Produktivität der Streckformen verantwortlich sind (mache, tue, haa, wäärde, sii. . .). Im Gegensatz zur nhd. Standardsprache, wo Streckformen vor allem dank der Produktivität

275

der Nominalisierungen (zur Durchführung gelangen) bis in die Gegenwart hinein eine große Rolle spielen, handelt es sich bei den Substantiven der mundartlichen Phraseologismen durchwegs um alte Abstrakta, und die neuen standardsprachlichen Bildungen auf -ung (oder andere Typen von neuen Nominalisierungen) werden gerade als besonders „unschweizerdeutsch" empfunden. Bei den nur-schweizerdeutschen Phraseologismen ist dann weiter zu fragen, ob sie im Einzelfall auf nur einen Dialekt beschränkt sind, oder größere geographische Reichweite bis hin zum gesamtschweizerdeutschen Raum aufweisen. Im letzteren Fall haben sie die Chance, als „Helvetismen" in die regional-schweizerische Variante der Standardsprache aufgenommen zu werden. Allerdings haben nicht alle standardsprachlichen Helvetismen eine dialektale Entsprechung: Es gibt also für Helvetismen auch andere Quellen als synchrone Bestandteile der Mundart. Wenn es sich um einzelmundartliche Phraseologismen handelt, unterscheidet sich die Situation nicht von der anderer Regionen des deutschsprachigen Gebietes, wo Standardsprache und Mundart — mit ihrer teilweise eigenen Phraseologie — nebeneinander vorkommen. (c) nur hochdeutsch: Die Frage, welche Phraseologismen nurhochdeutsch sind, ist nicht so einfach zu beantworten wie die Frage nach den nur-schweizerdeutschen Ausdrücken, und in der heutigen Sprachsituation ist es nicht einmal sicher, daß die Frage sinnvoll zu stellen ist. Prinzipiell kann ja jeder standardsprachliche Ausdruck phonetisch in Mundart umgesetzt werden, so daß im Einzelfall nicht erkennbar sein muß, daß ein ursprünglich standardsprachlicher Phraseologismus vorliegt. Eindeutig erkennbar ist die Herkunft in folgenden Fällen: (1) Wenn der Phraseologismus ein Lexem enthält, das von Schweizern allgemein als nicht-schweizerdeutsch empfunden wird: e suuberi Weschte haa (hier: Weste), öppis i d Waagschale werfe (werfen statt rüere), öppis uf de Merkt bringe (Merkt statt Märt), alläi uf wiiter Fluer (Flur).

276

Kontrastive Phraseologie

(2) Wenn der Phraseologismus

morpho-

syntaktische Elemente enthält, die schweizerdeutsche Regeln verletzen:

Morphologische

Abweichung weist das Beispiel nid

erspart

bliibe auf, wenn angenommen wird, daß die Vorsilbe er- im entsprechenden Dialekt nicht (d. h. nur angeglichen an das restliche morphologische System, in der Form νer-) vorkommt. in vollem Gang sii (Adjektiv ohne Artikel mit starker Flexion) in knapper Form (ebenso) sich zuenemender Beliebthäit erfreue (Verb mit Genitivkonstruktion) ich bin au deren Aasicht (Genitiv) eines Tages (Genitiv) der Not gehorchend (Partizip Präsens, zudem von einem Verb, das als nicht Schweizerdeutsch empfunden wird) (3) Wenn der Phraseologismus lautliche Komponenten enthält, die dem schweizerdeutschen phonologischen System entsprechend anders realisiert werden müssen. Eine lautliche Abweichung ist ζ. B. im Phraseologismus int Beräich vo vorhanden, wenn der Sprecher Berner ist und nach den Regeln seine Mundart hspr. [at] als [ei] oder [«] wiedergeben sollte. Das lexikalische Kriterium ist aber auch nicht mehr in allen Fällen unstrittig: alles in Butter könnte heutzutage ebensogut hochdeutsch wie Schweizerdeutsch sein, da das Lexem Butter sich immer mehr gegenüber dem autochthonen Wort Anke durchsetzt. 7.1.1.2. Transferprozesse Betrachtet man nun die tatsächlich vorkommenden Transferprozesse und ihre Funktionen in der gegenwärtigen deutschschweizerischen Sprachsituation, so ist zunächst festzuhalten, daß Mundart und Standardsprache nicht in jeder Hinsicht äquivalente Sprachformen sind. Die Standardsprache ist eine ausgebaute, in zahlreiche Funktiolekte differenzierte und normierte Sprache. „ D a s " Schweizerdeutsche gibt es nicht — allenfalls in Ansätzen eine gewisse Vereinheitlichung im Einzugsgebiet der Stadtmundarten —, das Schwdt. ist in Dialekte zersplittert, eine einheitliche Norm gibt es nicht. Schon von daher werden die unter (1) be-

schriebenen Schwierigkeiten der Abgrenzung der den Sprachformen zuzuweisenden Bestände verständlich, und entsprechend ist die Identifikation eines Transferprozesses im Einzelfall nicht immer möglich. Hier verschärft sich ein methodisches Problem, das im Rahmen der „Interferenz"forschung allgemein sich stellt: „Das komplizierte Verhältnis zwischen Invarianten und Variablen innerhalb der Norm sowie das zwischen Systemhaftigkeit und Norm erschwert bei dem Kontakt zweier einander kulturell nahestehender Sprachen die Feststellung einer Interferenz. Deshalb ist die genaue Formulierung dessen, was normgemäß ist, eine wichtige Vorbedingung für die Untersuchung der Interferenz. Die Frage, ob eine sprachliche Form noch als Interferenz oder schon als integrierter Bestandteil der Norm angesehen werden kann, ist in vielen Fällen nur mit starker Idealisierung zu entscheiden." (Juhäsz 1 9 8 0 , S. 6 5 0 ) Die Diglossie-Situation bringt es mit sich, daß die Transferprozesse in den beiden Richtungen nicht komplementär verlaufen und nicht den gleichen kommunikativen Stellenwert haben. Prinzipiell schreibt man in der Schweiz in der Standardsprache (von Ausnahmen wie Mundartliteratur usw. abgesehen), aber man spricht — unabhängig vom Soziolekt — weitaus mehr Mundart als Standardsprache, und: man kann in der Mundart prinzipiell über alle denkbaren Themen sprechen. Also auch über Themen, für die in der Mundart kein ausgebautes Vokabular vorhanden ist (ζ. B. fachsprachliches/wissenschaftliches Vokabular). Darum ist die Mundart angewiesen auf den „Ausbau" durch entsprechende lexikalische und phraseologische Bereiche der Standardsprache. Das Sprechen in Standardsprache ist weitgehend reserviert für formale, offizielle Situationen, und entsprechend kann die Übernahme standardsprachlicher Phraseologie von vornherein mit den daraus resultierenden Konnotationen behaftet sein. Die in kommunikativer Hinsicht bei weitem interessantere Richtung des Transfers ist die Beeinflussung des Mundartlichen durch Standardsprachliches. Transfers in der umgekehrten Richtung wirken als Abweichungen vom stan-

Mundart — Standardsprache dardsprachlichen System (als „Fehler"), ent-

adverbielle Phraseologismen

stehen

i Riichwiiti

im allgemeinen

unbeabsichtigt

und

277

haben selten stilistische Effekte. (Das Problem

in Zuekumft

stellt sich vor allem beim Erwerb von hoch-

Bei nicht-adaptierten hochdeutschen „Einsprengseln" haben wir die Beobachtung gemacht, daß sie sehr selbstverständlich verwendet werden und nur dann durch metasprachliche Signale signalisiert werden, wenn es sich deutlich um Zitate, Sprichwörter, Geflügelte Worte handelt, ζ. B.

deutscher Phraseologie durch muttersprachlich schweizerdeutsche Sprecher, vgl. dazu 6.4.) Im folgenden befassen wir uns nur mit der Beeinflussung mundartlicher gesprochener Rede durch die Standardsprache. Formal gesehen, kann ein solcher Transfer auf zwei Arten — mit verschiedenen Zwischenstufen — vor sich gehen: 1. Der hochdt. Phraseologismus wird phonetisch und morphologisch an die schwdt. Sprachstruktur adaptiert und wirkt insofern unauffällig. 2. Der hochdt. Ausdruck bleibt phonetisch und morphologisch hochdeutsch, er wird nicht adaptiert und kann (muß aber nicht notwendigerweise) insofern als eine Art von Zitat wirken. Die Adaptation kann jedes beliebige Element eines Phraseologismus betreffen, von unselbständigen Morphemen (ζ. B. Endungen, Vorsilben) bis hin zur totalen Anpassung der Wendung. Beispiele für mehr oder weniger an das Schweizerdeutsche adaptierte hochdt. Phraseologismen: Streckformen der Hoffnig Uusdruck gää Kontakt uufnää en Standpunkt verträtte Entgägekomme zäige in Betracht zie der Mäinig sii zur Überzüiigig choo bildhafte verbale Phraseologismen

S häd jo früener es Sprichwort gee, das häißt, es isch vo de Bible: Ehre Vater und Mutter! (Telearena) ( . . . ) wenn er sich, wie s häißt, der Gefahr einer Verarmung aussetzt" (Telearena) Die formalen Möglichkeiten korrelieren sehr deutlich mit Typen möglicher Funktionen bzw. Effekte des Transfers: (1) Es wäre falsch, jeder vom Hochdt. beeinflußten Wendung eine Funktion zuschreiben zu wollen. Oft werden solche Wortverbindungen nur gebraucht, weil sie heutzutage allgemein schon geläufiger sind als die entsprechenden mundartlichen Ausdrücke, oder — das ist der häufigere Fall - weil sie einem bestimmten Sprecher durch Beruf, sprachliches Milieu usw. geläufiger sind. Dies fällt vor allem bei Personen auf, die oft hochdeutsch sprechen und viel lesen, die in einer Schweizerdeutsch geführten Fernsehdiskussion („Telearena") beispielsweise sagen: e Chraft empfange oder letschten Endes sälber min Erachtens Natürlich können solche Transfers, die vom Sprecher sicher nicht intentional eingesetzt sind, für den Hörer als Signale gelten, die ihn zu einer bestimmten Einschätzung des Sprechers veranlassen.

d Schnauze halte öpm. platzt de Chrage is Fettnäpfli trampe im Äimer sii i d Waagschale wärfe uf d Spitze triibe

(2) Im allgemeinen erfolgt diese Art des Transfers unter mehr oder weniger weitgehender Adaptation an die schwdt. Sprachstruktur (sofern die Adaption nicht größere Änderungen etwa der syntaktischen Konstruktion bedingen würde).

konjunktionale Phraseologismen in Unkänntnis, daß im Hi(n)blick darauf, daß

(3) Ein quantitativ großer Transfer-Typ ergibt sich daraus, daß in der Mundart lexikalisch-phraseologische Bereiche für bestimmte

278

Kontrastive Phraseologie

Sachbereiche ganz oder teilweise fehlen. Ins-

sondere

besondere phraseologische Termini oder son-

die ZDF-Hitparade oder Film-Serien haben

stige nominale Phraseologismen sind von die-

einen nachweisbaren Einfluß auf die schwei-

ser Art Transfer betroffen. Phraseologismen

wie gläitendi Aarbetsziit, Sportler des Jahres

TV-Unterhaltungssendungen,

etwa

zerdeutsche Umgangssprache vor allem der Jugendlichen. Drastisch sind die Beispiele, die

stammen nicht aus der Alltagssprache — wenn

bei spielenden Schulkindern zu beobachten

sie auch in die Alltagssprache eingegangen

sind. Wenn sie sich zurufen du bist des

sind. Ihre Herkunft aus fachlichen Zusammen-

nehmen sie ausdrücklich Bezug auf Cowboy-

hängen

Filme, mit Wendungen Daß dich das

(Administration,

Sportterminologie)

Todes, Mäuslein

bleibt aber bewußt und verhindert meist eine

beißt, Das haut hin, sich den Bauch vollschla-

volle Adaptation an das Schwdt.

gen zitieren sie Comics oder Trickfilme. Auch

(4) Einen ausgeprägt stilistischen Charakter

bei Erwachsenen sind Ausdrücke wie

Mein

haben die Transfers dann, wenn sie der Be-

Gott, Walter, Das hat die Welt noch nicht ge-

tonung, Hervorhebung der Aussage dienen. In

sehen auf Produkte der Unterhaltungsindustrie

der von uns untersuchten Diskussion der „Tele-

zurückzuverfolgen.

arena" haben die weitaus meisten hochdeutschen Einsprengsel diese Funktion: Eine Votantin zählt verschiedene Arten von Sucht auf. Um zu zeigen, daß jede Gewohnheit in Sucht ausarten kann und niemand grundsätzlich davon verschont bleibt, betont sie das letzte Beispiel besonders: (. ..) alles isch süchtig, ich ha Bekannti: Eine Frau, die hat eine Putzsucht — ist auch eine Sucht! Eine andere Votantin hebt die Quintessenz einer Aussage mit Hilfe einer hochdeutschen Schlußformulierung hervor: (...) denn Erziehen kann man nicht lernen, das ischt eine Begabung. Ein Votant weist nach einer einleitenden Erklärung hochdeutsch daraufhin, daß er zum Hauptpunkt kommen möchte: ( . . . ) nid woor, jetzt isch aber die Frage Der Wechsel des Codes hat hier also dieselbe Funktion wie paraverbale Mittel, etwa das Heben der Stimme, langsames Sprechen, oder wie Wiederholungen, metasprachliche Hervorhebungssignale usw. Der Codewechsel äußert sich in diesen Fällen nicht nur durch NichtAdaptation der hochdeutschen Elemente, sondern durch prononciert hochdeutsche Artikulation. (5) Einen besonders interessanten Typ von intentional eingesetzten hochdeutschen Elementen, die gleichfalls nicht-adaptiert verwendet werden, bilden solche Phraseologismen, die durch das deutsche Fernsehen in den zunächst passiven, dann auch aktiven Sprachbesitz der Deutschschweizer gelangen. Insbe-

7 . 1 . 2 . Zwei Beispiele: V o m Nutzen der Standardsprache Die Sprecher deutschschweizerischer Dialekte können grob in zwei Gruppen aufgeteilt werden: jene, für die die aktive Beherrschung der Standardsprache im täglichen Sprachgebrauch wichtig ist (weil sie sich ζ. B. im Beruf standardsprachlich ausdrücken müssen), und jene, die größtenteils mit einer passiven Kenntnis der Standardsprache auskommen (weil sie, abgesehen von einigen Standardsituationen, keine standardsprachlichen Äußerungen leisten müssen, vgl. 6.4.1.). Die Sprecher der ersten Gruppe haben nun auch im mundartlichen Kontext den Vorteil, daß sie Transfers von der Standardsprache auf die Mundart mit allen sich anbietenden Konnotationen und Funktionen ausnützen können. Dabei sei gar nicht unterstellt, daß dies immer bewußt geschehen müsse und daß die Funktionen im einzelnen klar voneinander zu trennen wären. 7 . 1 . 2 . 1 . Erstes Beispiel: Gesprächsverhalten bei unterschiedlicher standardsprachlicher Kompetenz Wer über beide Sprachformen aktiv verfügt, verfügt auch über das Vokabular und die Phraseologie zu den Sachbereichen, die in der Mundart nicht mit der nötigen Differenzierung verbalisiert werden können. Wir geben zwei Ausschnitte aus Radio- bzw. Fernsehsendungen, in denen je ein Schweizer Bürger auf die

279

Mundart — Standardsprache F r a g e a n t w o r t e t , weshalb er nicht zu Abstim-

D e r erste Sprecher gebraucht mehrere Äuße-

mungen geht. D e r erste s t a m m t von einem Z i r -

rungen, die a n h a n d einzelner Phoneme, M o r -

kusartisten mit kaufmännischer Ausbildung in

pheme oder syntaktischer M e r k m a l e als stan-

leitender Stellung in seinem Unternehmen, das

dardsprachlich erkennbar sind: gueten

zweite v o n einem Arbeiter einer Maschinen-

bens

fabrik.

nitiv), Usenandersetzige

(^Genitiv) verschidener

usenand),

(1) Es e, me setzt sich für öppis ii. Mer kämpft für öppis, und nachhär wird me vom Volk abekanzlet, me wird immer aakridet, jede Politiker het Angscht zum öppis duregoo loo oder öppis säge, wil d Partäi

korrekt:

( * P a r t . Praes.),

{*umenander

flußt durch hdt.

Glau-

sii ( * G e -

{*usenander,

stillschwigend

enanderschlaa

Mäinig

für umher,

um-

beein-

einander).

Der zweite Sprecher verwendet die K o n junktion indem,

allerdings schon lautlich der

chönt s em aachride, und es isch es isch für miich

M u n d a r t angeglichen (idem),

und das Adverb

persöönlich son es ungfröits Gebiet, wol ä me chan

grööschtetäils

des

gueten Glaubens verschidener Mäinig sii, und nach-

*-täils

här git s Usenandersetzige. Und — solang s Schicksaal miir emale nid sötti d Politik uferlegge, wil ich mich vorane nid engaschiere derfüür. J a , ich mäine, wenn, wenn, wenn etz irgendöppis zur Abstimmig chämti, won iich mir würdi an Chopf lange, und säge, näi, das darf doch aifach nüd duregaa, de

(das

den kann). Schon die als Ü b e r n a h m e n aus der Standardsprache äußerlich erkennbaren Elemente sind beim ersten Sprecher in größerer Z a h l vorhanden. W e n n wir uns jetzt a u f die Phraseologismen konzentrieren,

bi äim Gebiet aa, und stäigeret sech nachane über

Sprecher:

miich sälber politisch engaschiere, uf äi Richtlinie, je nachdäm wen ich mich dann dafüür iisetze. Aber solang iich stillschwigend äifach ää demit iiverstande bin, gsen ich kän — Grund, das iich mich etz daa soll - mit grooße Paroole oder miich daa mit ää mit mit am ää Politikum umenanderschlaa. (Radio DRS 1, Persönlich, 29. 8. 1976)

finden wir beim

ersten

Angscht haa öppis duregoo loo gueten Glaubens sii verschidener Mäinig sii zur Abstimmig choo sich an Chopf lange über wiiti Gebiet kän Grund gsee je nachdem

(2) J a , ich würt säge, das isch mer äifach - ζ kompliziert und ζ umständlich gsii, di ganz Sach. Und ää — wen ich das gläse ha, bin ich äifach nüme druuschoo. Und em Schluß isch doch nüme — d Mäinig, wo miir händ, isch gaar nüme zum Voorschii choo, isch jo doch — gmacht woorde, was s händ wele. Und ä sage mer mit de Propaganda da, bi de letschte Abstimmig, da isch äfech die - Pensionierte, AHV und soo, das — ich wäiß nid, mached die Politik nu mit dene, wo — pensioniert sind oder, idem s ne äfech immer — Angscht mached mit der AHV und — das wäär nöd nöötig, es isch -

Morphems

als standardsprachlich bezeichnet wer-

würd ich miich langsam afaa interessiere. Das fangt wiiti Gebiet un un un — und wirt nachane wird ich

wegen

das isch aber nöd d

Mäinig vom Volch. Miir, wo schaffed und — schließli zaled miir Stüüre, das isch ja de grööscht Täil, — wo schaffed, und nid die, wo pensioniert sind. Aber ää — miiner Mäinig mached die — grööschtetäils Politik und — ich gsee ää ich gsee äifech nöd de Sinn, werum ich soll go stimme, wen s nachhär am Schluß doch esoo usechunnt ää

-

Beim zweiten Sprecher: ich würt säge di ganz Sach am Schluß zum Voorschii choo . . . und soo ich wäiß nid Angscht mache miiner Mäinig (naa) Politik mache de Sinn nöd gsee Auffallend ist nun, d a ß v o r allem der 1. Sprecher Phraseologismen verwendet, die äußerlich (auf G r u n d der genannten strukturellen M e r k male) als standardsprachlich erkennbar sind. E r benutzt auch den F a c h a u s d r u c k zur mig choo

Abstim-

— als Streckform eindeutig aus den

wien ich, nöd usechunt, wien ich wott. Oder. (Fern-

hdt. politischen T e x t e n s t a m m e n d — und den

sehen DRS, CH-Magazin, 12. 12. 1977)

durch

seine abstrakte

Bedeutung

noch

als

280

Kontrastive Phraseologie

Übernahme erkennbaren Phraseologismus über wiiti Gebiet. Den Rest bilden Phraseologismen, die in Gesprächen themen- und sprecherunabhängig auftreten: Angscht haa, öppis duregoo loo, steh an Chopf lange (trägt sogar eher eine Konnotation des Saloppen), kän Grund gsee, je nachdem. Dieser Typ ist auch beim zweiten Sprecher feststellbar: Angscht mache, di ganz Sach, am Schluß, de Sinn nöd gsee. — Zwei Streckformen sind zu verzeichnen, diese sind aber weniger fachspezifisch als die des ersten Sprechers: Politik mache und zum Voorschii choo. Auffallend sind schließlich die gesprächsspezifischen Phraseologismen beim zweiten Sprecher: ich wärt säge,... und soo, ich wäiß nid, die wohl auf eine gewisse Unsicherheit beim Verbalisieren des komplexen Sachverhalts hindeuten. Das Beispiel soll nicht überstrapaziert werden. Es soll aber genügen als Beleg für einerseits einen Sprecher, der mit dem abstrakten Wortschatz, den die Standardsprache liefert, besser vertraut ist, und andererseits einen Sprecher, der diesen Vorteil nicht hat, als ein Beleg dafür, daß sich dieser Unterschied auch im Phraseologiegebrauch niederschlägt. Man kann jedoch nicht davon ausgehen, daß weniger gewandte und geschulte Sprecher keine Interferenz-Vorteile hätten für schweizerdeutsche Äußerungen von ihrer Kenntnis des Hochdeutschen. Als Beispiel für positive Effekte der Hochdeutschkenntnisse auch bei weniger routinierten Sprechern sollen die Voten von Diskussionsteilnehmern an der Fernsehsendung Telearena gelten: Wenn man bei der Talk-Show „Persönlich" davon ausgehen kann, daß die Gesprächspartner in ihren sprachlichen Fertigkeiten ungefähr gleichwertig sind, so ist dies bei der „Telearena", einer sehr interessanten experimentellen Sendung des Schweizer Fernsehens (die inzwischen durch eine Nachfolgesendung „Telebühne" ersetzt wurde), durchaus nicht der Fall. Das Konzept der Sendung läßt sich so charakterisieren: Zunächst ein für die Sendung geschriebenes Bühnenstück, das nicht primär um seines literarischen Selbstwertes willen gespielt wird, sondern um die nachfolgende Diskussion

in Gang zu setzen. Thematisch geht es um Themen, die Aktualität und Interesse bei einem großen Publikum beanspruchen können („Auto", „Sucht", „Homosexualität" usw.). Die Diskussion ist angelegt als Groß-Diskussion: im Zentrum der Moderator, um ihn herum in blockweiser, räumlicher Anordnung eine große Gruppe von Diskutierenden (vgl. Burger/v. Matt 1980). Die Diskutierenden setzen sich aus allen Bevölkerungsschichten zusammen, sind entsprechend unterschiedlich in ihren Verbalisierungsfähigkeiten. Wenn man nun eine solche Sendung, die der schweizerischen Sprachsituation entsprechend ganz selbstverständlich in Mundart geführt wird, auf die Interferenzen von Mundart und Standardsprache hin betrachtet, so zeigt sich im Prinzip das gleiche Funktionsschema wie bei der Talk-Show, nur hier noch verschärft: das Code-Switching in hochsprachliche Phraseologie dient auch dem weniger Gewandten dazu, sich so auszudrücken, daß man sein Votum ernst nimmt, daß man ihm eine gewisse Objektivität zubilligt. Interessant ist auch zu sehen, von welchem Typ die hochsprachliche Phraseologie ist: es sind vor allem Maßangaben, statistische oder statistisch wirkende Angaben, Zitate (auch aus der vorhergehenden Diskussion selber), juristische und fachsprachliche Terminologien, Werbeslogans u. dergl., die das Umfeld der phraseologischen Erscheinungen ausmachen, also der Grenzbereich zwischen Phraseologismus und bloß Reproduziertem: Einige Beispiele aus der Sendung „Auto": Und ich möchti all dene Lüiit, wo prinzipielli Autogegner (sie), säge: mache mer doch e mol nüd driiü autofreii Suntig sondern en Monet hinderenand, und dann würdet mer gsee, was i eusem Land und i euser Wirtschaft passiert ooni Auto. Das isch 'nicht mehr wegzudenken*, es goot nid. Dorf ich bi dem Punkt bliibe: 4 Das Auto an sich ist nicht böse, aber der Mensch, der drin sitzt*, dä isch es. Da äne sitzt *die schweigende Mehrheit"·. Bitte schön! Es git kein einzige Parlamentarier wo öppis fürs Auto übrig hat, wo en Profit hat ζ Bern oben am Auto. *Eine Automobillobby gibt es nicht in Bern*.

281

Mundart — Standardsprache Das mueß dezue cho, leere s Auto uf de Spuur bhalte, daß s nüd plötzli, wie s so schön heißt, *auf die linke Seite gerät*, und daß mer s na chan aahalte. Und das leert me i dene Kürs. Er hat vorig gseit, in nääms wunder, wo d Polizei der Chopf oder der Verstand heig, und ich ha mi gfragt, wo de Touring Club vo, de TCS vo Genf die Gschwindigkeit (emphatisch:) 'hundertdreißig auf Autobahnen* usegää hat, ha mi au gfragt, wo Genf eigetlich de Verstand im Chopf obe hei. Und als Vorschlag han ich bracht, mueß me de Verzicht studiere, de Verzicht, äh, s Auto ζ benütze. Und das wird nüd erreicht *durch noch und noch* erzieherische oder, äh, mee und mee Kürs. De schwiizerisch Straßevercheersverband het, tuet sich bemüehe, dem ganze Autofahrerelend ζ begegne, und zwar in großem Maß. Er setzt 1,85 Milliarde, nid Millione, setzt er ii, um die ganzi Sach ζ regle. *Leiser fahren* und so witer, hä, also ich chönt e ganzi Ding verzelle, hat kä Wert. S isch ganz eifach: D Begründig, werum mir der Uffassig si, daß me die Resultat nüd soll veröffentliche: me cha dermit (emphatisch:) *auf jede Art Mißbrauch treiben*, und de Konsument cha sich überhaupt nüt voorstelle unter irgend emc Wert.

Wir konnten ferner beobachten, daß es keineswegs zufällig ist, an welcher Stelle einer Äußerung die hochdt. Elemente auftreten. Eine Äußerung oder ein Satz innerhalb einer Äußerung beginnt kaum je mit einem hochdt. Wort oder einer hochdt. Wortverbindung. Vielmehr deuten Wortstellung und paraverbale Realisierung darauf hin, daß das Code-Switching in der Satzplanung vorbereitet ist, daß die Äußerung auf die hochdeutschen Elemente hin profiliert ist, ein zusätzliches Indiz dafür, daß das Code-Switching einen Wechsel auf eine andere, „höhere", „formellere" Ebene des Sprechens bedeutet. In anderen Sendungen der Serie zeigt sich das gleiche Bild. Gemeinsam ist allen Sendungen auch, daß die Regie des Moderators, die Strategie der Diskussionsführung sich weitgehend im Rahmen standardsprachlicher (bzw. standardsprachlich beeinflußter) Phraseologie vollzieht. Dafür einige Beispiele aus der Sendung „Sucht": ich möcht si bitte (Übernahme einer hochdeutsch üblichen Aufforderung)

ich bitte si, sich ζ mälde (hochdeutsche Infinitivkonstruktion) würd sich dergäge Widerschpruch erhebe? (erheben·, bevorzugte Analyse mit hochdeutschem Lexem) chönnd Si sich mit däm iiverstande erkleere? (hochdeutsche Wendung: einverstanden

erklären)

miner Aasicht naa (Genitiv als Indiz für die Übernahme einer hochdeutschen Wendung) ich erlaub mer, si diräkt aazspräche (Infinitivkonstruktion, ansprechen gibt es im Schweizerdeutschen nicht) um jetz zrugg ζ choo uf das (um-zu Konstruktion) dörf ich Si um Ires Wort bitte? (Übernahme von Elementen einer hochdeutsch üblichen Aufforderung)

Die eher unbewußten und negativen Aspekte des Interferenz-Problems — letzteres sei hier zum Äbschluß einschränkend angefügt — zeigt die Sprachverwendung in der Sendung „Blickpunkt" (Fernsehen DRS). Dabei handelt es sich um ein regionalpolitisches Magazin für die deutsche und rätoromanische Schweiz, das täglich von Montag bis Freitag im Vorabendprogramm gesendet wird. Sprache der Sendung ist prinzipiell Mundart (im Gegensatz etwa zur Tagesschau des deutschschweiz. Fernsehens), vor allem auch deshalb, weil „Blickpunkt" Informationen über Probleme und gesellschaftliche Gruppen liefern möchte, die sonst am Fernsehen eher zu kurz kommen. Dabei soll auch der Betroffene so oft wie möglich zu Wort kommen. Besonders bei Gesprächspartnern mit geringerer Bildung würde die Standardsprache eine deutliche Barriere erzeugen. Nun zeigt sich aber auch in dieser Sendung, entgegen den ausdrücklichen Absichten der Redaktion, ein starker Einfluß des Hochdeutschen, in Syntax, Lexikon und Phraseologie. Besonders der Kommentartext — weniger die Interviewpassagen — ist stark der Schriftsprache angenähert. Es ist sicher nicht die angestrebte „Sprache des gewöhnlichen Menschen", die hier gesprochen wird, sondern eine Mundart, die den Eindruck erweckt, daß die Texte zunächst schriftsprachlich aufgeschrieben und

282

Kontrastive Phraseologie

dann in Mundart „übersetzt" wurden. Einige Beispiele aus dem phraseologischen Bereich: Us regionalwirtschaftliche Überlegige schafft de Bundesrat neui Kapazitete wo nach Abschluß vo . . . Jedes erfüllt en Uufgaab . . . es Häim mit langjääriger Erfaarig zäme mit de Sozialpartner nach Löösige sueche und was für Erwaartige es jungs Mäitli dra chnüpft er erhebt käi Aaspruch uf Uusgwogehäit De Kanton Bern hat de Bernische Chraftwerk AG s Rächt ertäik, s Aarewasser ζ nutze und d Pflicht uferläit, für ali Folge vom Stau uufzchoo. Si widmed sich deren Uufgab scho sit bald füfzä Jaar und händ so uf privater Basis es Häim gschaffe . . . Biim Mittagässe büütet sich äim es Bild vo harmonischer Gmeinschaft. Was aber erforderlich gsi isch a Iisatz, Geduld und Verständnis für d Bedürfnis vo jedem äinzelne, das cha me chuum ermässe.

Die Interferenzen sind teils bereits phonologisch und morphologisch erkennbar, teils nur lexikalisch (bei korrekter Umsetzung in die mundartliche Phonologie und Morphologie). Es handelt sich um wenig rhetorische, im mundartlichen Kontext weitgehend unauffällige Verbindungen, vor allem Streckformen, bevorzugte Analysen, u. ä., die sich aus der Verwaltungssprache und der sonstigen standardsprachlichen politischen Berichterstattung in den mundartlichen Kontext „eingeschlichen" haben. Es sind also eher die Schreibgewohnheiten der Journalisten, die hier für Interferenzen verantwortlich sind, als das mehr oder weniger bewußte Ausnutzen der durch die Diglossie-Situation gegebenen Möglichkeiten des Code-Switching.

7.1.2.2. Zweites Beispiel: Gesprächsverhalten bei guter standardsprachlicher Kompetenz Das Material stammt aus einem stündigen Gespräch öffentlicher Art: aus einer Radio-TalkShow, in der „über Gott und die Welt" diskutiert wird („Persönlich", Radio DRS 1, 8. 8. 1976). Die Teilnehmer am Gespräch sind sämtliche Intellektuelle und Leute, die sich durch ihren Beruf täglich schriftlich und mündlich hochsprachlich ausdrücken müssen:

M: D: H: L:

Moderator Schriftsteller und „Mythologe" Kabarettist und Schriftsteller Politikerin — Stadt- und Ständerätin

Die Sprecher lassen auf allen sprachlichen Ebenen immer wieder erkennen, daß sie mit den traditionell hspr. Textsorten (Zeitungs-, Agenturtexte, Fachliteratur, schöne Literatur, Vorträge usw.) bestens vertraut sind. Das wird auch durch die Wahl der Gesprächsthemen und durch die Art ihrer Behandlung klar. Einen Hinweis darauf gibt nun eben die Häufigkeit der Bezugnahmen zum sprachlichen System der Standardsprache. Dies zeigen nicht nur die verwendeten Phraseologismen, sondern auch schon die nichtmundartlichen Lexeme: M : allzu, näbscht, beräits, vergliichswiis, bildlich, s Wäsentlichi, realitäätsbezoge, notfalls, fällig, doch, Fähigkeit, Gliichberächtigung. D: Käineswägs, oft, anderersiits, wobii, wiir, obschon, nachdäm, sogenannt, sälbscht, fäälend, erwäänt, rapiide, eräigne, Chäärn, diisbezüglich, uusdrücke,

flüügend,

Karren, Waagen,

durchstööbere,

äinigi, denn,

Ding,

beaaspruche,

nänne, nun, Gott säi Dank, dauernd, gläichgestellt, gläich, jeedermann. H: Schildere, bedüütend, um . . . z, äinigi, aachnüpfe, Uussee, insofärn, irgendwelchi L:

aastrebe, Stütze, bestaa, wesentlich, seerwarschinlich, erfasse, Wissesgebiet,

ärdhaft,

be-

dingt, Beräich, um . . . z, wiitgehend, s Alläinsii, nicht, befridigend, mittäile, allzuseer, etwas, abgedrosche.

Auch diese Aufstellung zeigt, wie problematisch es ist, „rein" mda. Lexik und Übernahmen aus dem Hochdeutschen zu unterscheiden, weil der Übergang fließend ist: von wievielen und von welchen Sprechern muß ein Lexem als nicht akzeptabel bezeichnet werden, welche anderen Kriterien sollen zur Anwendung gelangen? Im Bereich der Phraseologie entscheiden wir uns für folgendes primäres Kriterium: Phraseologismen, die hspr. lautliche, morphologische, syntaktische oder lexematische Merkmale aufweisen, die die entsprechende Mundart nicht kennt, werden grundsätzlich als Belege für Transfers gezählt.

283

Mundart - Standardsprache Hinsichtlich der Funktion des Transfers las-

den allgemein geläufigen Terminus oder — was

sen sich in dem untersuchten Gespräch die fol-

wahrscheinlicher ist — er spielt auf das damals

genden drei Gruppen unterscheiden:

aktuelle gleichnamige Buch von Alice Schwar-

1. Termini und Zitate: Phraseologismen, die nicht durch mundartliche synonyme Bildungen ersetzt werden können, weil sie einen Sachverhalt bezeichnen, der durch standardsprachliche Vermittlung bekannt geworden ist, und ganze Äußerungen Dritter, die der Sprecher in der originalen Lautung wiedergibt. 2. Phraseologismen, mit denen man sich allgemein von umgangssprachlich-mundartlicher Redeweise absetzt und anzeigt, daß man den jeweiligen fachlichen Jargon beherrscht. 3. Gesprächsspezifische Phraseologismen. Hierzu rechnen wir auch solche Ausdrücke, die nicht von vornherein unter die Definition dieser Kategorie fallen würden (vgl. 4.1.3.), die aber im Gesprächskontext ad hoc eine entsprechende Funktion erhalten, sowie in diesem Zusammenhang auch im engeren Sinn metakommunikative Ausdrücke. (1) Wir haben es im vorliegenden Gespräch, wie gesagt, mit Sprechern zu tun, für deren Fachgebiet eine ausgeprägte standardsprachliche Terminologie vorliegt. Sie sprechen zudem nicht nur über ihr Fachgebiet, sondern über andere — gesellschaftsbezogene — Themen, deren spezifischer Wortschatz sich ebenfalls in der Standardsprache ausgebildet hat. Wenn also ein Terminus verwendet wird, ist es verständlich, wenn er als Übernahme aus der Standardsprache erkennbar ist. Dies ζ. B. beim Terminus der kleine

schied:

Unter-

Thema ist die Emanzipation der Frau, die Frage, ob Frau und Mann in allen Bereichen dieselben Rechte und Pflichten haben sollen: D: Aber sött si nun taatsächlich gleichgestellt sii? Wie ja d Bestrebig allgemäin ischt, und wie si für vernünftig aagluegt wird, sött si gläich sii im Pruef und in allen Dingen ? Wo isch denn daa no der Underschiid? L: Ja, es git scho en Underschiid. D: Ja, es git, jaa, der Kleine Unterschiid. (Gelächter, Applaus) Indem der Sprecher diesen Terminus in der hochdt. Form verwendet, bezieht er sich auf

zer an und ordnet damit die Aussage von L der Argumentationsweise einer bestimmten Interessengruppe zu, etikettiert sie also und bewertet sie für den Hörer, je nach Vorkenntnis und Standpunkt des Hörers, negativ oder positiv. Das Beispiel zeigt, daß sich der Sprecher mit der Verwendung des hdt. Terminus automatisch solidarisiert mit jenen, denen der Terminus ebenfalls geläufig ist. Wer den Begriff der Kleine

Unterschied

nicht kennt, ist aus dem

Kreis derjenigen ausgeschlossen, für die diese Anspielung bestimmt ist. Dies ist auch bei weniger auffälligen Termini der Fall. Das Jahr der Frau hat zwar eine große Publizität und Popularität erfahren. Dennoch: sollte unter den Hörern jemand sein, der davon nichts weiß, wird er diesen Phraseologismus wegen seiner hdt. Lautung als eine ihm fremde Bezeichnung erkennen (während er das nicht mit Sicherheit tun könnte, wenn der Sprecher z. B. s ]aar vo de Frau sagte): . . . s isch jo nonig so lang häär, daß mir s Frauestimmrächt hend, un miir Fraue, au wen jetz daa de Herr Clerc miich so nätt vorgschtellt ghaa het, isch es ää mit em Jahr der Frau und so wiiter, aber s isch doch äifach soo, das miir Fraue immer no chli Stütze bruuche tönd, oder? Termini aus dem Fachbereich des Sprechers, die also nicht primär die Funktion der Anspielung auf Modethemen haben, bilden die folgenden zwei Phraseologismen:

fliegende Untertasse: D: Tuusig Joor spööter oder zwäituusig Joor spööter tüend den d Mytheforscher die Pressearchiv durchstöbere. Und si stooßed immer uf de Begriff flüiigendi Undertasse. Und dän frööged s d Archeolooge, was isch en Undertasse . . .

alleinstehende Mütter: L: Luege Si, das sind etz die Fraue, mit dene ich im Amt inne ζ tue ha. Mit de, mit dene Fraue, wo amaal Witwe wäärde, mit de gschidene Fraue, mit de aläinstehende Müetere, und so wiiter In diesem Zusammenhang muß daran erinnert werden, daß nicht jeder Typ von Fachwortschatz in der Deutschen Schweiz hochsprach-

284

Kontrastive Phraseologie

lieh ist. Ebenso selbstverständlich, wie es für den Intellektuellen ist, daß seine Fachtermini aus der Standardsprache stammen, so selbstverständlich ist es für den Bauern, daß seine Fachsprache in der M d a . „gewachsen" ist. Schon dieses Selbstverständnis prägt nicht nur das Sprachverhalten von Gruppen, sondern auch die Selbst- und Fremdeinschätzung der Vertreter verschiedener Gruppen (vgl. hierzu die Beispiele bei Strübin 1 9 7 6 , S. 1 1 3 - 1 1 4 ) . Es ist nicht von vornherein klar, daß Zitate vorwiegend in der Originallaut'mg, in der Sprache ihres Autors, wiedergegeben werden müssen. Gerade in der Deutschschweizer Umgangssprache wird aber häufig auf diesen Aspekt geachtet. Wer aus der unmittelbaren Erlebnissphäre zitiert, behält die da verwendete Mundart bei (wenn er es kann, oft unter Imitation des dabei verwendeten Dialekts), wer beim Zitieren auf Gelesenes, im Radio oder Fernsehen Gehörtes zurückgreift, gibt die Äußerung in Standardsprache wieder, falls sie original hdt. war. Ältere Männer zitieren ζ. B. auch in Erzählungen aus dem Militärdienst ihre Offiziere hdt., weil früher für Offiziere der Schweizer Armee Hochdeutsch Vorschrift war. Wieder läßt die Verwendung der Standardsprache innerhalb eines mda. Textes den Zitatcharakter deutlicher werden und damit auch die Gefühle, die der Umgang mit der Quelle des entsprechenden Zitates weckt. Zitieren aus der schönen Literatur ζ. B. wird auf diese Weise eine noch deutlichere Demonstration der Bildung des Sprechers, als wenn dasselbe innerhalb eines hdt. Textes zitiert würde. Eine nicht besonders spektakuläre Passage aus dem Anfang der Sendung soll dies illustrieren: Der Moderator stellt den Gast D vor und nennt, um des dramaturgischen Effektes willen, statt des Namens erst die einprägsamen Titel seiner Bücher: M: Und de dritti Gascht, da möcht ich mit vier Titel aasäge vo Büecher, won äär gschribe het - Erinnerungen an die Zukunft, Aussaat und Kosmos, Zurück zu den Sternen und Erscheinungen. De Eerich von Däniken. Mit dem Zitieren der Buchtitel zeigt der Sprecher an, daß er den Einstieg der Sendung vor-

bereitet hat. Gleichzeitig spricht er jene Hörer an, denen die Titel bekannt sind und die sie mit Erich von Däniken assoziieren können. Erst in einem zweiten Schritt lüftet er das Geheimnis (das eines bleiben wird für jene, denen auch der Name nichts sagt). Anspielungen, die nicht auf der Ebene der hdt. Phraseologie gemacht werden, werden entweder verstanden oder bleiben unbemerkt. Anspielungen der hier verwendeten Art aber können die enttäuschende Wirkung auf den Hörer wegen ihrer eindeutigen Markierung durch die hspr. Lautung nie verfehlen. Anspielung auf einer relativ breiten Basis (Bibel) ist auch: D: As s Wesentlichi isch, das ich under anderem behaupte, das e die sogenannte Götter, aso ebe die fremde Astronaute, die Mansche, üsi Voorfaare also gschaffe hebe, und zwaar nach iirem Eebenbild. Dää Satz Die Götter schufen den Menschen nach ihrem Ebenbilde, dä taucht i de gsamte Mythologie uuf, au i de Bible. Im Nachhinein wird auch hier die Herkunft des Zitates bekanntgegeben. Mitunter leitet der Sprecher auch ein Zitat ein, indem er die Quelle und den Sinnzusammenhang nennt, in dem er es verstanden haben will — eine Möglichkeit, zwar selbst belehrend zu wirken, aber den Hörer nicht zu frustrieren. Das folgende Beispiel setzt nur noch den Namen

Franz

Kafka als bekannt voraus: H: Das isch esoo, das isch esoo ää, ää, es git en Satz vom Franz Kafka, de het sich güßeret über über den eerscht Wältchrieg, won är jo erlabt het, und het gseit: Dieser Krieg ist aus einem schrecklichen Mangel an Phantasie entstanden. L: Ja. ja. (Applaus) Paradefall für den Ausschluß einer Großzahl von Hörern bildet das Zitieren in einer Fremdsprache — wobei die Wahrscheinlichkeit groß ist, daß viele Hörer glauben, einen schweizerdeutschen Satz nicht richtig mitbekommen zu haben, weil jegliche Ankündigung oder Interpretation durch den Sprecher fehlt: L: Wür ja, ja, aso, aber miir törfe aso mit de mit öiserne Stimme de mit nie mit Franke rächne. (Gelächter). Mir sind Idealischte, und s Galt, das, a das tanked mer gaar nid.

Mundart — Standardsprache Μ: Qui s'excuse, s' accuse, Frau Lieberherr! L: Jaa, wil di bäide Herre etzt i H: Drum si d Budgets immer eso defizitäär?

285

Selbstverständlichkeit — in einem hdt. Phraseologismus vollzogen.

Ein Sprecher, dem der Beruf engen Kontakt mit der Standardsprache bringt, wird auch leicht in seine Rede Ausdrücke einflechten, die man „Pseudozitate" nennen könnte, Wortverbindungen, die wie hdt. Zitate geäußert werden, die aber individuelle Bildungen sind. D: Wie ja d Bestrebig allgemein isch, und wie si für vernünftig aagluegt wirt, sött si gläich sii im Pruef und in allen Dingen} Wo isch denn da no der Underschiid?

(2) Oft sind es weniger auffällige Phraseologismen, die einen Text als von der Hspr. beeinflußt erscheinen lassen und Gegenstand sprachkritischer Betrachtungen sind. Sie konstituieren, zusammen mit den als Übernahmen erkennbaren Lexemen, den wie man sagt „verwässerten" Stil von Texten. Argument gegen die Verwendung ist erfahrungsgemäß nur sekundär die Grammatik; meistens ist eine Bezugnahme auf eine grammatische Norm ja gar nicht mehr möglich, weil die Phraseologismen gegen keine Regel der Mda. verstoßen (ζ. B.:

In allen Dingen könnte von der Struktur her gut

zur Überzüügig choo, de Fall sii, Uuftriib gää;

ein hdt. Phraseologismus sein. Er könnte auch

an und für sich, i Sache . . . ) . Angeführt wird deshalb, die Ausdrücke gehörten nicht zum hergebrachten Wortschatz der Mundart. Die Argumentation wird aber gegenstandslos, wenn man sieht, wie im kommunikativen Kontext gerade die Konnotation „nicht-mundartlich" funktional wirksam wird.

als Anspielung auf ein literarisches Vorbild gemeint sein (der Schöpfer

aller Dinge),

ist aber

als solche nicht zu erkennen. Deshalb unsere Bezeichnung „Pseudo-Zitat": alles Phraseologische, alles, was die Wortverbindung

als

Übernahme aus der hdt. Phraseologie erkennen ließe, fehlt, aber der Zitatcharakter ist dennoch vorhanden. Ähnlich im folgenden Beispiel: L: Es Amt verwalte, das wääre nicht befriedigend. Sondern wen me in de Politik ine isch, möcht me ja öppis mittäile. Nicht befriedigend könnte in einem anderen Kontext Anspielung auf den Sprachgebrauch in Schulzeugnissen sein. Das fällt hier aber außer Betracht. Falls auf eine Quelle angespielt wird, ist sie aus diesem Kontext nicht ersichtlich, die Wortverbindung wird zum PseudoZitat. Ein Typ vollständiger Übernahme von Sätzen kommt in diesem T e x t nicht vor (wenn man von dem französischen Sprichwort Qui s'excuse, s'accuse absieht): Phraseologismen, die den verbalen Teil einer ganzen Sprechhandlung verkörpern können, in denen die Funktion des Zitierens nicht primär ist: Sprichwörter und feste Phrasen. Ζ . B. die Aufforderung Hände hochl·. In der Mundart existiert keine Entsprechung. Die Polizei, oder auch Kinder, die Polizist oder Cowboy spielen, sind auf die hdt. Form angewiesen. Eine vollständige Drohhandlung wird — mit großer

Im folgenden Beispiel philosophiert Η über die Entstehung von Kriegen: So lang me Teritoorium het, ich glaube s Teritoorium isch öppis ganz Wesentlichs, im Verhalte vom Mäntsch, so lang me Teritoorium no het, wo me no chan - in Besitz nää, dän cha me sich äbe täile. Und di maischte Chrieg entstönd wäg em Teritoorium . . . Der Phraseologismus in Besitz nää paßt in den Wortschatz der militärisch-biologischen Begriffswelt, in der der Sprecher argumentiert. Er fügt sich ein in die Reihe der zentralen Lexeme dieses Ausschnittes, die ebenfalls Abstrakte und Übernahmen aus der Standardsprache sind: Teritoorium, entstaa, wesent-

lich, Verhalte. In Besitz nehmen ist nicht un-

bedingt prägnanter als es ein einfaches Verb wie nehmen, holen wäre. Aber es hilft dem Sprecher, den parawissenschaftlichen Stil aufrechtzuerhalten, weil es die Merkmale der hdt. Herkunft (juristische, militärische Terminologie) noch aufweist. Vgl. das folgende Votum desselben Sprechers zur Frauenfrage: Und s Ziil vo dere Frauebewegig mues sii, das si sich cha uuflööse, wil si nüm nöötig isch. Und i hoff, as das glii der Fall isch. Nur also, d Schwirigkäite si

286

Kontrastive Phraseologie

natüürli scho doo, grad zum Bischpiil was täilte Hushalt aabelangt.

Hier wird ein abstraktes Thema behandelt (der Sinn der Frauenbewegungen), das nicht zu den traditionellen Gesprächsthemen des Deutschschweizers gehört und dessen Begriffsarsenal in Anlehnung an die deutsche und schriftliche Behandlung dieser Fragen übernommen wird. Es ist ein Bereich, in dem Intellektuelle nicht nur deshalb einen Vorteil haben, weil ihnen die Argumente geläufig sind, sondern auch weil ihnen der Wortschatz zugute kommt, den sie ohnehin täglich um sich haben. Was ..,. aabelangt könnte natürlich ohne weiteres vermieden werden; die Wendung ist aber ein praktisches Hilfsmittel, um das Kennwort eines Satzes zu betonen und an den Satzanfang zu stellen und sich gleichzeitig Zeit zu schaffen, den Rest des Satzes zu planen. Auch der Fall sii könnte durch ein einfaches Verb ersetzt werden. Unter Umständen müßte aber dazu der Satz umgestellt werden. Möglicherweise hat der Sprecher zu diesem Phraseologismus gegriffen, weil kein Synonym zur Verfügung stand, das an dieser Stelle im Satz ebensogut verwendbar wäre. Sein großer Wortschatz hat ihm in dem Fall geholfen — der Effekt für den Hörer ist, daß diejenige Wendung gewählt wurde, die dem Sprecher das Prestige verleiht, das einfache, ursprüngliche mundartliche Verben nicht haben. Ähnlich wird der Charakter des folgenden

Philosophie, stammen und die „Allgemeingut" geworden sind. Das heißt, sie sind nicht nur in intellektuellen oder anderen begrenzten Kreisen zu hören. So gibt denn der Phraseologismus an und für sich dem folgenden Gesprächsausschnitt keine besondere Note: L: Näi. Es isch soo, das ich an und für sich, ich han ja gsäit ghaa, ich bin i überzüügt, das e Frau jeedes ander Ressort cha mache, aber iich mach jetz das Sozialamt, han ich jetzt ää, daf ich etz läite, sit sägs Jaare, und ich ha no soo ne Huufe, ich ha no soo ne Huufe offeni Sache, e sone Huufe η i Sache, won ich no wetti verwirkliche deet ine . . .

Den Stil dieser Passage prägt in erster Linie die Zahl der Wiederholungen und anderen Fehlleistungen, die die Schwierigkeiten bei der Redeplanung deutlich machen. Der Phraseologismus an und für sich fügt sich auch gut in einen Kontext mit vielen Fachwörtern ein (worin sogar der Gebrauch eines Fachwortes kritisiert wird und sich die Sprecherin innerhalb der Prestigegruppe, der sie angehört, nochmals aufwertet): L: Aber ää Si säged jetz, eb s richtig isch, das me Fraueprobleem, ich bi an und für sich bin ich der Mäinig, das mer sötted integriert sii, aso um etz das etwas abgedroschene Wort ζ säge, integriert, das häißt äifach, das mer sötted d Fraue als, als Partnerinne vom Maa gsee und das mer nid si setted d Frauefraage looslööse. . . .

wäänt, und gschliffeni Felse. . . .

(3) Wie sich jemand im Dialog behauptet, hängt nicht nur von der Struktur und vom Inhalt seiner Argumente ab, sondern auch von jenen Elementen, mit denen er in den Ablauf des Gesprächs eingreift, mit denen er sich über die Sprechtätigkeit der Partner und seiner selbst äußert, mit denen er über die gerade verwendeten sprachlichen Mittel spricht. Die Standardsprache liefert in diesem Bereich eine große Zahl von Lexemen (wie in bereits besprochenen Beispielen die Wörter übertragen und abgedroschen) und Phraseologismen. Dem, der aktiv über sie verfügt, bringen sie unter Umständen entscheidende Vorteile.

Andererseits kommen natürlich immer wieder Phraseologismen vor, die eindeutig aus der Standardsprache, ζ. T. aus der Sprache der

Natürlich ist auch die Mundart reich an gesprächsspezifischen und metakommunikativen Phraseologismen. Doch ist gerade die Tat-

Textausschnittes

nicht nur durch den hdt.

adverbialen Phraseologismus und so fort konstituiert (sondern u. a. auch durch die Fach-

wörter anthropologisch, terinsle),

missing link, Oosch-

aber der Phraseologismus trägt zum

Eindruck bei, daß hier der informierte Zeitgenosse eine kompetente Äußerung macht: . . . und selbscht i de anthropoloogische Abstamig hemer immer no so öppis wien en Missing Link, aso es fäälends Gliid, da isch s, de Moment, wo de Mensch taatsächlich inteligent wird und aafoot, ä Ackerbau betrübe und Kultuur und Gemäinschafte und so fort. Und Si händ etz d Ooschterinsle er-

287

Mundart — Standardsprache

sache, daß man sich nicht des mundartlichen Arsenals bedient, um seine Rede zu strukturieren, ein deutliches Signal für die Wahl der Sprachform mit dem höheren Prestige.

tors (dessen, der das Recht hat, Fragen zu stellen) zu ignorieren.

Im vorliegenden Gespräch, das sich ohnehin an hdt. Formen des Diskutierens orientiert, werden auch keine der traditionellen mda. Möglichkeiten genutzt. Dafür benutzen die Sprecher die aus der Standardsprache entlehn-

D: ää, ich wäiß nid, es git es venussisches Gebröi,

ten Phraseologismen Färb bekenne, mit alem Respekt, i d Woogschale wärfe, Spaß bisiite, äinig goo, der Mäinig sii u.s.w. Zum Teil sind dies Ausdrücke, die auch in anderen Funktionen auftreten. Ob sie in redestrukturierender bzw. metasprachlicher Funktion auftreten, hängt von der Verwendung durch den Sprecher ab. Die Metapher Färb bekenne im folgenden Beispiel hat so die Funktion, jemand aufzufordern zu sprechen und dabei die Wahrheit zu sagen, weil sie in der „Normalform" (Vgl. 4.1.1.1.) auftritt, im Satz

Jetz müend Si Färb bekenne. L:

M : Herr vo Dänike, händ Si eventuell es Rezäpt vo irgendwoo us em Kosmos, öppis Spezielle ? das häißt Venak. Das cha me selber mache. Es schmückt

Ich

empfil

niemerem.

D: Näi, Spaß bisiite, zum Bischpiil es Poulet au Whisky, das cha jedermann mache, dasch ganz äifach. Ε normaals Huen nee. . . .

Mit dem (ebenfalls aus der Standardsprache stammenden) Phraseologismus s Wortgää tritt die Sprecherin im nächsten Beispiel von ihrem Recht zu sprechen zurück und schafft klare Verhältnisse: M : Cha au en Cabarettischt, cha au e Politiken lifer bruuche, und bruuched Si daas bäidi? Herr Hohler? H: ää isch daas en abschließend! Froog? M : Näi, / näi / H:

/ Dan würd i zerscht / d Frau Lieberherr lo rede, wil Si s jo a uus bäidi richte.

M: Jo

Μ : Bi Ine, Herr Hohler?

H: ää aber do jo au ke bs, ke bsundere Steligsunder-

Η: I bi - religiöös. Nume glaub i nüiit.

schiid zwüsche Maa und Frau mache, falle auch

D: Das isch herrlich.

/ d Höflichkeitsfloskle ewägg

M : Tüend Si uns daas no chli erliiütere?

M : / Absoluuti / Gliichberächtigung

D: Bekenntnis, Herr Hohler, es Bekenntnis!

L:

H: J a , etz mues mer aber, etz mues mer aber / sini / M:

s

M : Us was macht me s den?

Ich glaub, i miim Labe spillt d Religion, spillt s Religiöösi e großi Role.

gruusig.

(Lachen)

/ Ja, jetz müen Si Färb bekenne /.

Sprecher Μ und Sprecher D fordern beide dasselbe — ein Bekenntnis. Jetz müend Si Färb bekene erlaubt aber M , dieselbe Aufforderung, die D mit einem Wort ausdrückt, in einen längeren Satz zu kleiden. Schon zeitlich gibt er seiner Äußerung also mehr Gewicht. Zudem gebraucht er ein gängiges Bild, einen Phraseologismus, der bevorzugt in dieser Form der Aufforderung verwendet wird und der erst noch Anklänge an die Standardsprache zeigt — im Dialog die stärkere Form als die direkte Forderung nach einem „Bekenntnis". Der Ausdruck Spaß bisiite im folgenden Ausschnitt hilft dem Sprecher nach einem kurzen Scherz, auf den der Partner eingeht, wieder zum Ernst zurückzufinden. Er erlaubt ihm sogar, die akzeptierte Rolle des Modera-

/ Näi aso, das, di müend mer nüme ganz abschaffe /, aber jetz gib ich Ine s Wort.

H: Guet, das weer nätt vo Ine. Em, ja missionaarisch isch natüürlich. . . .

In diesem scherzhaften Kontext ist die Tatsache von Bedeutung, daß der Ausdruck öpperem s Wort gää aus dem Bereich der einstmals nur hspr. geführten offiziellen Verhandlungen, Vereinsversammlungen usw. stammt. Für die vorliegende Situation, die sich in einer Sprache abspielt, die sich von jener Verhandlungssprache unterscheidet, wobei die Gesprächspartner einen überdurchschnittlichen Wortschatz haben, ist es typisch, daß die Sprecher bei Bedarf auf Floskeln aus solchen Kontexten zurückgreifen können. Der Stilunterschied ist ihnen voll bewußt und ist hier eine Möglichkeit, Ironie anklingen zu lassen. Nicht zufällig dient gerade dieser Phraseologismus später nochmals dazu, das Gespräch zu strukturieren und gleichzeitig eine meta-

288

Kontrastive Phraseologie

kommunikative Äußerung zu machen (s Wort, wo Si vorhäär so freigäbig em Herr Hohler ggää händ): M: Named Si etz s Wort, wo Si vorhäär so freigäbig em / Herr Hohler / ggää händ, wider zrugg. L: / Tanke / Ja ich mäin, wen Si wünsched. M: Ja. L: Ja, ää, Si hend jo gfragt. . . .

Auch der Ausdruck 5 Theema wächsle wird an charakteristischer Stelle gebraucht: da, wo der Moderator einige wenige Minuten vor Schluß der Sendung einen harmonischen Abschluß sucht: M: Etz sim mer fasch äärnschthaft woorde. Mit Sändigsbewußtsii, und geniert hän mer eus ä no e bitzli. Etz wäm mer schnäll echli s Theema wächsle, o, miir händ no e bitzli Ziit, und reden echli vom Äße. S isch etz dän bald Ziit für de Sunntigsbraate. . . .

Häufig in dieser Art Gespräch sind auch die metasprachlichen Äußerungen, bei denen hdt. Phraseologismen die Argumentation erleichtern: D: . . . irgendwoo chunt men an en Aafangspunkt, wo me doch mit alem Respäkt mues säge: doo isch nun, was miir mangels eines besseren Namens vilicht Gott näned. . . .

Vgl. auch die Verwendung des Phraseologismus im übertraagene Sinn, wenn ein scherzhaft aufgeworfenes Problem „geklärt" wird: M: De Herr von Dänike het vorhääre ää das Hohe Lied des Phantasten gsunge, ää het de Phantascht Platz i de Politik? L: Aso, ich wür säge, d Phantaschte sin miir sympathisch. D: Aso gsunge han i s übrigens nid. M: ä, das isch etz bildlich gmäint gsii, aso. L: / Jaa, ich wiider / M: / im übertraagene Sinn / L: ich find, was wääri euses Läbe ooni Phantasii?

Zusammenfassend lassen sich folgende allgemeine Beobachtungen festhalten: 1. Die Sprecher, die in dieser Sendung zu Wort kommen (Intellektuelle, gewohnt im Umgang mit der Hochsprache), verwenden in dieser Situation (Gespräch mit persönlichem Anstrich über philosophisch-politische The-

men) eine Phraseologie, die sich primär an der Standardsprache orientiert. Die Übernahme von Phraseologismen aus der Standardsprache in die Mundart ermöglicht nicht nur die Benennung von Sachverhalten, die die Mundart nicht von vornherein erfaßt, sie erlaubt auch Konnotationen, die dem Sprechenden Prestige und seinen Argumenten stärkeres Gewicht verleihen, in Form von Anspielungen (direkter bis versteckter Art) auf jene Textsorten, die traditionell standardsprachlich sind, und auf deren Geltung in der Gesellschaft. Die Phraseologie ermöglicht auch die Übernahme von Formen der Argumentation, die in der Mda. (zumindest mit festen Wortverbindungen) nicht vorgesehen sind oder nicht häufig gebraucht werden. — Andererseits führt die Übernahme ohne Angleichung an das mda. System (bei Termini, Zitaten) dazu, daß sie vom Hörer in jedem Fall als reproduzierte Einheiten erkannt werden. 2. Prinzipiell eignen sich alle hdt. Phraseologismen zur Übernahme in die Mda., weil keine Rücksicht auf die mda. Grammatik genommen werden muß; es reicht, wenn sie so weit wie möglich und so weit, wie es das Sprachgefühl des Sprechers erfordert, dem System des betreffenden Dialekts angeglichen werden. 3. Die als „typisch Schweizerdeutsch" empfundenen Phraseologismen sind zum großen Teil metaphorische Phraseologismen aus der Sphäre des Landlebens und des traditionellen Brauchtums, auch wenn dies bei weitem nicht die einzigen Quellen für Phraseologismen waren. Die Erneuerung der mundartlichen Phraseologie berührt indessen primär andere Sachbereiche — solche, über die erst in jüngerer Zeit intensiv mundartlich gesprochen wird. Deshalb stellt rein quantitativ gesehen die Übernahme standardsprachlicher Phraseologismen im Gegensatz zu anderen Arten der Phraseologisation zur Zeit den wichtigsten Weg der Erneuerung des phraseologischen Bestandes der Mda. dar. 4. Dieser zur Zeit produktive Prozeß der Entlehnung standardsprachlicher Phraseologismen unterscheidet sich wesentlich von den

Kontrast zwischen verschiedenen Sprachen übrigen Typen der Phraseologisation. Wenn De Mischt isch gfüert eine Bedeutungsübertragung erfährt und nicht mehr eine konkrete bäuerliche Tätigkeit meint, sondern allgemein bedeutet: ,die Sache ist erledigt' und die Funktion der Belehrung oder Rüge erhält, dann ist dies eine „metaphorische Phraseologisation" der üblichen Art. — Wird aber der Ausdruck anderer Uuffassig sii in den Phraseologismenbestand der Mundart aufgenommen, so findet keine Bedeutungsübertragung statt. Quelle des Phraseologismus (hier die Sprache der hdt. Debatte) ist ein standardsprachlicher Funktionalstil. Wegen der Beibehaltung einzelner hdt. Elemente ist diese Herkunft auch dann noch von Bedeutung, wenn der Phraseologismus in der Mda. im Alltagsgespräch verwendet wird. 5. Im Gegensatz zu anderen Typen der Phraseologisierung betrifft dieser Vorgang nicht Einzelfälle oder kleinere Gruppen von Wortverbindungen, sondern es handelt sich um einen massenhaften Einbruch ganzer Bereiche der einen Sprachform in die Domäne der anderen. Ein derartiger Transfer ist jederzeit und von jedermann durchführbar, er braucht nicht allgemeingebräuchlich zu sein, um verstanden zu werden. Für denjenigen, dem die hochdt. Phraseologie verfügbar ist, bestehen keinerlei Schwierigkeiten der Verwendung hochdt. Phraseologismen im mundartlichen Kontext. Der Gebrauch von Phraseologismen, die als hochdt. erkennbar sind, hat denn auch in den Augen der Sprachkritiker einen Anstrich von „Faulheit", von nachlässigem Verzicht darauf, den traditionellen und „treffenden" mundartlichen Ausdruck zu suchen. Tatsächlich bietet der Transfer, in seinen verschiedenen formalen Abstufungen, dem Sprecher die verschiedensten funktionalen Chancen, die er mehr oder weniger bewußt nutzen kann.

7.2. Kontrast zwischen verschiedenen Sprachen Viele Phraseologen unterscheiden „Vergleich" und „Kontrast" zweier oder mehrerer Spra-

289

chen. „Verglichen" werden nach ihnen nur verwandte Sprachen, „kontrastiert" werden nur nicht verwandte Sprachen (RojzenzonAvaliani 1967). Die bisherige PhraseologieForschung befaßte sich freilich weit überwiegend mit dem Vergleich mehr oder weniger verwandter Sprachen (Russisch-Tschechisch; Russisch-Deutsch; Russisch-Englisch; Russisch-Französisch usw.); Studien zu nicht-verwandten Sprachen sind an einer Hand abzuzählen. Wir verzichten denn auch darauf, die genannte terminologische Unterscheidung durchzuführen und sprechen im folgenden allgemein von „kontrastiver" Phraseologie. Die wenigen Arbeiten zu nichtverwandten Sprachen werden wir nicht berücksichtigen; dies nicht nur, weil wir die entsprechenden Sprachen (ζ. B. Indonesisch) nicht kennen, sondern weil es für typologische Urteile, die nicht bloß Vermutungen sein wollen, noch zu früh ist. Die folgenden Ausführungen sollen die Möglichkeiten des Vergleichs von phraseologischem Sprachmaterial demonstrieren und gleichzeitig damit das Gebiet dieses Untersuchungsfeldes umschreiben, wobei zum vornherein die Probleme der vergleichenden Parömiologie ausgeschlossen werden. Obwohl uns die gesamte kontrastive phraseologische Literatur zur Verfügung stand, schien es uns wichtiger, einzelne ausgewählte Arbeiten ausführlicher zu behandeln, damit ein Einblick in die Arbeitsweise möglich wird. Eine vollständige Aufzählung aller sowjetischen Arbeiten zur kontrastiven Phraseologie geben die Bibliografien (I—VI), wobei vor Doubletten gewarnt sei (fast jeder Dissertation geht eine Artikelserie des gleichen Autors zum Dissertationsthema voraus). Es ist jedoch zweifellos ein Verdienst der sowjetischen Phraseologieforschung, mit diesem relativ jungen Zweig der kontrastiven Phraseologie ein Untersuchungsgebiet eröffnet zu haben, das besonders für die Sprachtypologie, aber auch für die historisch-vergleichende Sprachwissenschaft, die Übersetzungswissenschaft, den Sprachunterricht und die Wörterbucharbeit von ganz besonderem Interesse sein wird.

290

Kontrastive Phraseologie

7.2.1. Bestimmung der kontrastiven Methode

7.2.1.2. Zum Vergleich phraseologischer Systeme

7.2.1.1. Kontrast und Typologie

Es gab in der sowjetischen Phraseologie lange einen ziemlich fruchtlosen Streit darüber, ob es in den Sprachen ein phraseologisches System gebe (gleichberechtigt neben dem syntaktischen, lexikalischen bzw. semantischen System), oder ob die Phraseologismen der Lexikologie als Einheiten besonderer Bildung zugeteilt werden sollen. Heute ist man sich weitgehend einig, daß Phraseologismen „sekundär" entstandene Zeichenkomplexe darstellen, die aus den Einheiten der primären Systeme gebildet werden (Syntax, Morphologie und Lexik) und daß sie nur durch den komplexen Vergleich der sie bildenden primären Systemeinheiten erfaßt werden können, d. h. bei der Kontrastierung wird praktisch immer ein lexikalischer, ein struktur-syntaktischer (manchmal getrennt ein morphologischer) und ein struktursemantischer Aspekt (semantische Organisation) unterschieden. Wo möglich, werden diese Aspekte auch quantitativ untersucht. Die hier möglichen Beobachtungen sind folgender Art (vgl. zum folgenden Rajchstejn 1980):

Die ausführlichsten Überlegungen zur kontrastiven Methode in der Phraseologie stammen von Glazyrin (1972). Er grenzt die kontrastive Methode folgendermaßen von der typologischen ab: (a) Ziel des Kontrasts ist das Konstatieren und Charakterisieren von Fakten in rein sprachlicher Sphäre. Ziel der Typologie ist die typologische Klassifikation, die Erarbeitung bestimmter Gesetzmäßigkeiten und die Darlegung der allgemeinen strukturellen Züge der Sprachen. (b) Objekt des Kontrastes sind ein geschlossenes Material und sprachliche Einheiten gleicher Struktur. Das Material in der Typologie ist offen, und die untersuchten Einheiten sind strukturell nicht begrenzt. (c) Beim kontrastiven Vergleich spielt die Metasprache eine Hilfsrolle, in der Typologie ist die Metasprache integrierter Bestandteil. (d) Ausgangsmaterial beim Kontrast sind beliebige sprachliche Fakten, die beobachtet wurden, in der Typologie sind Ausgangsmaterial die Resultate des Kontrasts. (e) In der kontrastiven Methode dominiert die Induktion, in der typologischen die Deduktion. Die kontrastive Methode befaßt sich mit Mikrosystemen verschiedener Sprachen, so daß ihr die innersprachliche Analyse der Einheiten dieses Mikrosystems vorauszugehen hat. Konkret heißt das, daß das Untersuchungsfeld qualitativ zu umschreiben ist und quantitativ inventarisiert werden muß. Primär ist dann der Kontrast: Einheit vs. Einheit, d. h. die individuelle Analyse der Vergleichspaare unter Berücksichtigung sprachlicher und extralinguistischer Faktoren, wobei innerhalb der verglichenen Phraseologismen zunächst die Komponenten und dann die phraseologischen Einheiten als Ganze kontrastiert werden. Erst dann folgt der Vergleich der Mikrosysteme (vgl. zu Glazyrin unten 7.2.3.1.).

(1) Lexikalischer Aspekt (Komponentenbestand) Zunächst kann auf Grund von Wörterbüchern und speziellen phraseologischen Materialsammlungen untersucht werden, welche Komponenten (thematische Komponentengruppen) in den kontrastierten „Phraseologien" zweier oder mehrerer Sprachen häufig bzw. selten an Phraseologismen beteiligt sind. Rajchstejn stellt ζ. B. fest, daß im Deutschen und Russischen folgende Komponenten in 1 5 % - 2 0 % aller Phraseologismen beteiligt sind: Auge/glaz, Nase/nos, Wort/slovo, Ohr/ uxo, Herz/serdce, Tag/den', Teufel/cert (Prozente nach Frazeologiceskij Slovar' (1967), Friederich (1966) und Binovic-Grisin (1975), wie auch alle folgenden Zahlen). Nach diesen Wörtern folgen als Komponenten Bezeichnungen von Tieren, Naturerscheinungen, häuslichen Umständen u. ä., und zwar ist die Rangfolge Russisch und Deutsch gleich, d. h. die

Kontrast zwischen verschiedenen Sprachen

phraseologischen Systeme beider Sprachen operieren auf den gleichen lexikalischen Feldern, ihr „Bildmaterial" ist ähnlich. Trotzdem sind nach Rajchstejn wesentliche Unterschiede festzustellen. (a) Im Russischen sind Komponenten, die außerhalb von Phraseologismen nicht anzutreffen sind, häufiger (ca. 1000 russische gegenüber 350 deutschen Beispielen). Von diesen formal an die Phraseologismen gebundenen Elementen sind im Russischen etwa 600 Adjektive und 100 Verben (die fürs Russische charakteristischen Typen zakadycnyj drug „Busen-freund", oderzat' pobedu „einen Sieg erringen"; im Deutschen sind diese Typen — klipp und klar oder Maulaffen feilhalten — selten). (b) Die deutschen Komponenten weisen unvergleichlich mehr Nominalkomposita auf (das Russische affigiert dafür viel häufiger). So trifft man Typen wie „Kriegsfuß", „Fehdehandschuh" u. ä. noch und noch, selten aber zivaja letopis' „eine lebende Chronik" für jmd., der alle Geschehnisse kennt (leto „Jahr", pis- „schreib-"). (c) Die Aktivität der Komponenten, in Phraseologismen aufzutreten, ist 1 V2mal höher im Deutschen; im Russischen ist der Komponentenbestand vielfältiger. Grund dafür ist, nach Rajchstejn, die hohe Phraseologismusaktivität folgender deutschen Verben: sein, haben, machen, kommen, gehen, sitzen, bringen, geraten, die zusammen an 3 0 % aller deutschen Phraseologismen beteiligt sind. (d) Das heißt nun auch, daß im Deutschen die Verben in Phraseologismen in ihrer Bedeutungsfunktion relativ abstrakt und unifiziert auftreten. Das Russische kennt dafür bedeutend mehr nominale Abstrakta: dusa „Seele", sum „Lärm", sila „Kraft", vid „Aussehen", delo „Angelegenheit", slucaj „Fall". (e) Im Deutschen ist die Festigkeit des Komponentenbestandes eines Phraseologismus niedriger als im Russischen: das Deutsche weist, nach Rajchstejn, mehr Varianten auf vom Typ:

Die Karre

291

läuft nicht läuft schief steckt im Dreck hat sich verfahren

(2) Struktur-syntaktischer Aspekt Nach den Zählungen von Rajchstejn weist das Deutsche einen höheren Prozentsatz verbaler Phraseologismen auf: 7 5 % gegenüber Russisch 5 5 % . Beide Sprachen zeigen eine Vorliebe für einfache syntaktische Wortverbindungsschemata. Dreigradige Dependenzen des Typs delit' skuru neubitogo medvedja „das Fell des nicht erschlagenen Bären teilen" sind bereits selten. Ebenso zeigen Russisch und Deutsch transformationeile Restriktionen der Art *der aufgebundene Bär. Typisch fürs Deutsche sind Konstruktionen wie ist nicht umzubringen, hat nichts zu sagen gegenüber den russischen Spezialitäten wie spustja rukava (Partizipialkonstruktion), peckilavocki (ohne Konjunktion). (3) Struktur-semantischer Aspekt (semantische Organisation) Der Großteil der deutschen und russischen Phraseologie berührt die gleichen thematischen Gebiete: Bezeichnet werden mit Phraseologismen v. a. Gefühle, Affekte, Charakterzüge, Denken, Zeichen, Information, Gesellschaft, Ökonomie, Recht, Ethik (in dieser Reihenfolge), während phraseologische Bezeichnungen für Erscheinungen der Sphäre der unorganischen Natur, des Schrifttums, der Wissenschaft und Technik usw. äußerst selten sind. U. U. ist die Bildung von Phraseologismen vorzüglich in den der menschlichen Psyche nahestehenden Sphären ein sprachliches Universale. Jedenfalls bestätigen Russisch und Deutsch den inneren expressiven Charakter der Phraseologismen (vgl. oben 3.1.). Russische und deutsche Phraseologismen entstanden/entstehen da, wo der Sprecher subjektiv beteiligt ist: für Ausdrucksverstärkungen, Sterben, Vernichtung, Unglück, Glück, ErfolgMißerfolg, Erregung, Erstaunen, Zorn, Trauer, Wünsche, Angst, Liebe, Antipathie, Haß, Dummheit, Verrücktheit, Abwehr, Vernei-

292

Kontrastive Phraseologie

nung, Trunkenheit u. ä. Diese vom Großteil der Phraseologismen berührten Themata gehören zu den häufigsten und bedeutendsten im menschlichen Leben. Sie bestätigen das Synonymiegesetz von Ullman, nach dem gerade diese häufigen und relevanten Gebiete Tendenz zur Synonymbildung aufweisen. Dabei sind im einzelnen bestimmte Asymmetrien festzustellen. Phraseologismen, die eine emotionelle Reaktion auf Negatives ausdrücken, sind übervertreten (vgl. 6.4.3.). Interessant, aber nicht geklärt sind Unterschiede wie das Überwiegen deutscher Phraseologismen zum Thema ,Auslachen' gegenüber russischem Vorsprung zum Thema Unterwürfigkeit'. Rajchstejn meint, daß alle wesentlichen semantischen Charakteristiken der phraseologischen Systeme keine national-sprachliche Spezifizität aufweisen und zu zwischensprachlicher Gemeinsamkeit tendieren. Will man Zusammenhänge dieser Art nachweisen, geht es jedoch nicht an, sich nur auf Wörterbücher abzustützen, die die Umgangssprache und die Dialekte fast ganz vernachlässigen. Buch- und literatursprachliche Prozesse allerdings sind tatsächlich (schon seit dem Mittelalter) nicht mehr auf nationalem Niveau zu analysieren: Wissenschaftssprachen, Zeitungssprachen, auch etwa die Sprache der Lyrik (ζ. B. der Nachkriegslyrik) sind international. Die oben aufgezählten Unterschiede zwischen deutscher und russischer Phraseologie in bezug auf die drei genannten Aspekte haben auch Konsequenzen für den Aspekt der (4) Bildung von Phraseologismen im Deutschen und Russischen. Neue Einheiten in der Sprache werden durch neue Kombinationen oder Veränderung bestehender Einheiten im lexikalischen System, durch Umdeutung („im Semembestand") und durch Übernahme neuer materieller und semantischer Elemente aus andern Sprachen (vgl. 8.1.2.) gebildet, wobei Umdeutung und Entlehnung für die Phraseologie die Hauptrolle spielen. Dabei weisen Deutsch und Russisch Ähnlichkeiten in konkreten phraseologischen Bil-

dungscharakteristiken auf, wenn man einzelne phraseologische Makro- und Mikrobildungsmodelle vergleicht (vgl. dazu unten Glazyrin, Nevedomskaja, Mokienko). Nach Rajchstejn ist ein phraseologisches Modell eine feste Korrelation zwischen Bedeutungstypen einer phraseologischen Gruppe. D. h. die Wortverbindungen, die den Phraseologismen im gleichen Modell zu Grunde liegen, weisen einen typischen Situationsgehalt auf: ζ. B. Situationsgehalt

spezifiziert

„jemanden in eine unangenehme physische Lage bringen" „jemanden an einen unangenehmen Platz bringen"

Bedeutung des Phraseologismus „jdn. einschüchtern" Beispiel

prizat' k stene (wörtl. „an die Wand drücken")

Deutsch und Russisch zeigen hunderte solcher Bildungen der negativen physischen Einwirkung (Makromodell) mit einzelnen Spezifikationen (vgl. noch pokazat' zuby wörtl. „die Zähne zeigen", dat' po sapke wörtl. „(eins) auf die Mütze geben" bzw. dt.: jd. durch den Kakao ziehen, jd. in die Wüste schicken, etwas unter den Tisch wischen usw.). Diese Modelle zeigen die Nähe der Bildmotivationen für Phraseologismen im Deutschen und Russischen. Nicht abgeklärt ist bisher die Frage, wieweit solche Modelle, die es erlauben, lexikalisch verschieden besetzte Phraseologismen zu vergleichen, bei der eigentlichen Bildung von Phraseologismen eine Rolle spielen und wie weit hier direkte Entlehnungen oder fremdsprachliche Muster beteiligt sind. Auch hier ist die Untersuchung der Umgangssprache, aber auch der Relation Schriftsprache-Umgangssprache vorrangig (vgl. Tolstoj 1973). Die Unterschiede in der semantischen Autonomie der Komponenten der Phraseologismen (höher im Deutschen, das mehr Synonyme und Varianten aufweist) spielen auch eine Rolle bei der Bildung neuer Phraseologismen aus bereits bestehenden. Die relativ niedrige lexikalische

Kontrast zwischen verschiedenen Sprachen und eher strukturelle Funktion des deutschen Verbums im Phraseologismus verursacht ein quantitatives deutsches Übergewicht von phraseologischen Weiterentwicklungen wie in der Patsche sitzen in die Patsche bringen aus der Patsche helfen. Beim

typologischen

Vergleich

Russisch -

Deutsch ist der Unterschied von Substantiv und Verb und ihrer semantischen und strukturellen Verschiedenheiten in den beiden Sprachen zentral. Die Substantive des Deutschen tendieren zu struktur-semantischer Ganzheitlichkeit (daher die Tendenz zu Kompositionsbildungen), semantischer

zur

Metaphorisierung

Konkretheit.

Von

und

daher

zu die

Unterschiede solomennaja vdova (Adj. + Subst.) - Strohwitwe brjacanie oruziem (Subst. + Subst.) - Säbelrasseln. Metaphorisierung gegenüber Affigierung zum Ausdruck der Expressivität: dt. blaue Bohnen ( = .Gewehrkugeln') blauer Brief ( = .Kündigung') gegenüber russischen Suffixen poljusko zu pole „Feld" Gegenüber dem Russischen zeigt das deutsche Verbum weniger die Tendenz zur Konkretisierung (und damit Metaphorisierung) und Komposition. Im deutschen Satz dominiert lexikalisch das Substantiv. Die verbalen Phraseologismen sind quantitativ besser entwickelt als im Russischen, aber die Tendenz zur bloß strukturellen Funktion (Streckformen) macht die verbalen Phraseologismen gegenüber den russischen in bezug auf die innere qualitative Organisation ärmer, das deutsche phraseologische System ist damit regelmäßiger und steht in geringerem Abstand zu den nicht-phraseologischen Wortverbindungen als das Russische. Nach Rajchstejn hat die große Ähnlichkeit zwischen russischem und deutschem phraseologischem System extra- und intralinguistische Gründe. Gemeint sind die Gemeinsamkeiten in Bewußtsein, Gesellschaftsprozessen, Kultur und langzeitiger Sprachkontakt einerseits, sowie universelle Gesetze und allgemein semantische Mechanismen andererseits (russ. und dt.

293

Phraseologismen haben gemeinsame Merkmale, beide Sprachen sind typologisch verwandt). U. E. ist diese große Ähnlichkeit (die auch von anderen kontrastiven Untersuchungen gestützt wird, vgl. unten Nevedomskaja) auf das Material zurückzuführen, das für Vergleiche bisher herangezogen worden ist. Darunter befinden sich m. W. bisher keine umgangssprachlichen Texte oder Texte von Schriftstellern, die von bestimmten Dialekten geprägt sind. Von diesen Textarten gibt es praktisch auch keine Übersetzungen. Das erschwert den Vergleich. Darüberhinaus wird beim Vergleich die funktionale und textspezifisch quantitative Charakteristik vernachlässigt; es ist nicht nur relevant, ob ein bestimmter Phraseologismus direkte oder funktionale Äquivalente in der anderen Sprache hat, sondern auch, welche funktional gleichwertigen Texte gleichen Phraseologismusgebrauch aufweisen: die Phraseologie der „Neuen Zürcher Zeitung" und der „Pravda", des „Spiegel" und der „Literaturnaja Gazeta", der „Tagesschau" und des Programms „Vremja", der Herren Breschnew und Schmidt, der Schriftsteller Rasputin und Grass, Lesskov und Gotthelf sind in keiner Weise als äquivalent zu bezeichnen. Innerdeutsch werden sprachlich diese Unterschiede schon zwischen „Neues Deutschland" und „Die W e l t " deutlich. Entsprechend verschieden sind die psychisch relevanten Themen der sowjetischen und schweizerischen Hausfrau, des Arbeiters der Kirov-Fabrik in Leningrad und der Sulzer-Fabrik in Winterthur. In all diesen Fällen sind die Unterschiede eklatant. Der Eindruck, daß die phraseologischen Bestände des Deutschen und des Russischen sehr ähnlich seien (ebenso wie die des Russischen und Englischen, Französischen usw.), wird in den bisherigen Untersuchungen wohl auch dadurch erzeugt, daß von vornherein nur ideologisch gleichgerichtete Texte verglichen werden (fürs Englische häufig herangezogen „Morning Star", fürs Französische „Humanite", fürs Deutsche „Neues Deutschland" usw.) und Auflagezahlen und Bekanntheitsgrad nicht berücksichtigt werden (Dürrenmatt oder Strittmatter?). Solche Aspekte wären aber

294

Kontrastive Phraseologie

beim „phraseologischen Systemvergleich" miteinzubeziehen, und zwar schon bevor man einzelne Phraseologismen kontrastiert. 7.2.1.3. Zum Vergleich phraseologischer Einheiten Die aus lexikalischen und grammatikalischen Einheiten kombinierten, sekundär entstandenen Phraseologismen weisen beim Kontrast in den seltensten Fällen materielle Äquivalenzen auf (ζ. B. pit' brudersaft „Bruderschaft trinken"). Die meisten Paare gehören zum Typ Stroit' na peske „auf Sand bauen". Rajchstejn (1979) unterscheidet und benennt folgende Typen von Äquivalenzen: (1) Identität: igrat' rol' — eine Rolle spielen Die beiden Phraseologismen sind identisch. Die zwei russischen Komponenten werden auch außerhalb der phraseologischen Verbindung so übersetzt. Die „innere Form" ist gleichwertig. (2) Strukturelle Synonymie: namylit' golovu — jdm. den Kopf waschen namylit' „einseifen" zeigt gegenüber waschen eine lexikalische Differenz. Die Äquivalenz golova/Kopf hingegen gilt auch außerhalb der Phraseologie. (3) Ideographische Synonymie: rubit' s pleca — kein Blatt vor den nehmen

(6) Polysemie bzw. Homonymie: jazyk prilip k gortani - die Zunge klebt am Gaumen Trotz der Übersetzungspaare jazyk „Zunge", prilip „klebte an", k gortani „an den Gaumen" heißt der russische Phraseologismus „verstummte vor Erstaunen", die deutsche Verbindung bedeutet „ist sehr durstig". (7) Enantiosemie: u kogo-libo kasa ν golove — jd. hat Grütze im Kopf (russ. wörtlich „jd. hat Mus im Kopf"). Trotz der lexikalischen Entsprechung kasa „Mus, Grütze" bedeutet die russische Verbindung „jd. ist dumm", während die deutsche das Gegenteil meint. „Polyäquivalente Beziehungen" bestehen zwischen Reihen wie

(Rajchstejn)

vgl. russ. Vot tak petruska! Vot tak tak! Nu cto ty budes' delat! Vot tebe i na! Ne bylo pecali! usw. mit dt.

Was du nicht sagst! Ach so ist das! Aha! Siehst du!

Mund

Der russische Phraseologismus (wörtlich rubit' „hauen" s pleca „von der Schulter") bedeutet „offen und schroff sich aussprechen (und dies häufig unbedacht)" gegenüber der deutschen Verbindung, die die Bedeutung hat „offen seine Meinung sagen und dabei nichts beschönigen". (4) Hyper-/Hyponymie: mel'kaja ryba/rybeska — kleiner Fisch Die russische Verbindung (wörtlich melkij „klein, kleinlich", rybeska „Fischchen") gilt nur für Menschen, die deutsche auch für Angelegenheiten. (5) Stilistische Synonymie: kotnu more po koleno — weder Tod Teufel fürchten

(russ. wörtlich „wem das Meer zum Knie (reicht)")

noch

Und wie! Hab ich mir gedacht! Da hast Du' s! usw.

Quantitative Verschiedenheiten zeigen: u kogo-to Vintikov ne chvataet „jemandem reichen die Schräubchen nicht" gegenüber den zahlreicheren deutschen Möglichkeiten: er hat ein Schräubchen, Rädchen zu wenig, ihm fehlt ein Dachziegel usw. Rajchstejn kommt — mit Binovic (1975) als Materialgrundlage (aber Binovic ist nicht repräsentativ) — zu folgenden annähernden quantitativen Feststellungen: 2 7 % der deutschen Phraseologismen haben ein russisches struktursemantisches Äquivalent: davon 1 0 % volle Äquivalente des Typs igrat' rol' „eine Rolle spielen", wo im Wörterbuch die Paare rol'/Rolle, igrat'/spielen bereits bestehen.

295

Kontrast zwischen verschiedenen Sprachen 3 3 % aller deutschen Phraseologismen haben ein russisches funktional-inhaltliches Äquiva-

Je komplexer zudem die Bedeutungsverhältnisse, um so unwahrscheinlicher die Möglich-

lent (Typ rubit' s pleca — kein Blatt vor den Mund nehmen.)

keit der Äquivalenz: ζ. B. der lachende

1 8 % aller deutschen Phraseologismen werden mit einem russischen Lexem und 2 2 % mit einer freien russischen Wortverbindung übersetzt.

plexe Phraseologismen Kandidaten für Ent-

Die meisten Äquivalenzpaare zeigt die Zeitungssprache und der Wissenschaftsstil (pjataja kolonna „die fünfte Kolonne" (pjat' „fünf"); za kulisami „hinter den Kulissen"). Am wenigsten Äquivalenzen zeigen umgangssprachliche Phraseologismen. Hier differiert die Intensität der Entlehnungsprozesse und Sprachkontakte. Nationale Elemente erzeugen Nulläquivalen-

funden haben.

zen: Hinz und Kunz und Schwarzer Peter

stehen allein da. Gemeinsames Kulturgut führt zu voller Äquivalenz bludnyj syn — verlorener

Sohn-, trojanskij kon' — trojanisches gordiev uzel — gordischer Knoten.

Pferd,

Innersprachliche Faktoren haben unterschiedliche Wirkungen. Lexikalische Nekrotismen wie russ. zgi „Pfad" und deutsche Maulaffen bzs. Bockshorn führen zur Nulläquivalenz. Lexikalische Einheiten, die häufig an Phraseologismen teilnehmen, bilden entsprechend höhere Äquivalenzen (ζ. B. Körperteilbezeichnungen). Zu syntaktischen Differenzen führen Spezialitäten wie nicht ganz ohne sein,

drei Käse hoch, zu guter Letzt bzw. russ. cent svet, ot necego delat'.

Äquivalenzpaare erzeugen auch parallele Mechanismen der Phraseologisierung: große

Augen machen — delat' bol'sye glaza. Solche bildhaften Ideen zu einzelnen Themen (Modelle) bilden viele Äquivalente, ζ. B. zum Thema „sterben":

ispustit' duch — den Geist aushauchen najti poslednie upokoenie — seine letzte Ruhe finden usw. J e umgangssprachlicher der Phraseologismus, desto schwächer die Äquivalenz:

dat' duba — auf dem letzten Loch blasen. Unübersetzbar sind auch Wortspiele, euphonische Mittel u. ä., vgl. dt. klipp und klar oder russ. kocka zrenija für tocka zrenija „Gesichtspunkt", wo tocka „Punkt" und kocka „kleines Dreckhäufchen".

Dritte.

Nach Rajchstejn sind gerade semantisch komlehnungen: ζ. B. gadkij lein", verchnie

utenok

„häßliches Ent-

desjat' tyjac „die oberen Zehn-

tausend", die im Russischen Aufnahme geDaß die möglichen Äquivalenztypen nicht in erster Linie vom Verwandtschaftsgrad zweier Sprachen abhängig sind, zeigt die der Liste von Rajchstejn durchaus vergleichbare Aufstellung bei Hessky (1980) für Deutsch/Ungarisch. 7.2.1.4. Wörterbücher Vergleichend-kontrastive Phraseologie betrifft eigentlich zunächst die ein- und zweisprachigen Wörterbücher. In mehr oder weniger umfangreichem Ausmaß versuchen ihre Verfasser innersprachlich oder zwischensprachlich hinreichende Übersetzungen und Übersetzungshilfen zu geben. Die Problematik der Äquivalenz wird dabei von den meisten Wörterbüchern vernachlässigt. Im Vordergrund stehen praktische Zielstellungen. Ausnahmen sind die relativ jungen phraseologischen Wörterbücher von Kunin (1967) und Recker (1963). Kunin ( 1 9 6 7 , S. 8) unterscheidet „monoäquivalente" phraseologische Verbindungen und „selektiv äquivalente" phraseologische Verbindungen. Der erste Typ umfaßt jene Phraseologismen des Russischen, die die allein mögliche Übersetzung eines englischen Phraseologismus darstellen. Selektive Äquivalente sind Ubersetzungen mit phraseologischem Synonym. Bei Monoäquivalenten unterscheidet Kunin totale und partielle phraseologische Äquivalente. Totale Äquivalenz bedeutet Äquivalenz in der Bedeutung, im lexikalischen Bestand, in der Bildhaftigkeit, den stilistischen Weiten und in bezug auf die grammatische Struktur. Partielle Äquivalente sind äquivalent in Bedeutung und Stilistik, unterscheiden sich aber lexikalisch, grammatisch und in ihrer Bildhaftigkeit, so daß entsprechend partiell lexikalische Äquivalente und partiell grammatikalische Elemente unterschieden werden kön-

296

Kontrastive Phraseologie

nen: ζ. B. Wolf im Schafspelz — russ. volk ν ovec'ej skure — engl, a wolf in sheep's clothing: skura — clothing als partiell äquivalent, ebenso dt.-engl. Schafspelz — sheep's clothing; oder grammatisch (ζ. B. Wortstellung): Wer

zuletzt lacht, lacht am besten — engl, he laughs best who laughs last — russ. choroso smeetsja tot, kto smeetsja poslednim — franz. rira bien qui rira le dernier.

Recker (1963, S. 12) unterscheidet totale und partielle, absolute und relative Äquivalente (ohne Unterschied für Wort und Phraseologismus). Äquivalente sind total oder partiell, je nachdem, ob sie die ganze Polysemie oder nur einen Teil der übersetzen Einheit wiedergeben. Daneben sind sie absolut oder relativ in Abhängigkeit davon, ob sie in Stilistik und Semantik mit der übersetzten Einheit zusammenfallen. Das speziell für Russischlernende bestimmte kleine Wörterbuch von Skljarov-EckertEngelke (1977) unterscheidet: 1. direkte phraseologische Äquivalente

zakryt' glaza na eto - vor etwas die Augen schließen

2. indirekte phraseologische Äquivalente

bit' baklusi — Däumchen drehen, auf der faulen Haut liegen

3. direkte lexikalische Äquivalente

kozel otpuscenija — Sündenbock

4. indirekte lexikalische Äquivalente peremyvat' kostocki — (wörtl. „Knöchelchen waschen") jdn. durchhecheln 5. Umschreibungen chot' topor vesaj — (wörtl. „man könnte eine Axt aufhängen") die Luft ist hier zum

Schneiden, hier ist ein ganz schöner Mief

Dieses Wörterbuch ist auch das einzige, das die für praktische Zwecke absolut notwendigen Zusatzinformationen liefert: Erläuterung des Sinngehaltes, situative Hinweise, v. a. aber die Beschreibung der unvollständigen Paradigmen der Phraseologismen, die nicht nur innersprachlich individuell für jeden Phraseologismus relevant sind, sondern auch und vor allem zwischensprachlich zwischen übersetzter Einheit und ihren Äquivalenten zu beachten sind. Berücksichtigt wurden: die Unveränderlichkeit

bestimmter Phraseologismen, gebräuchliche Formen und weniger gebräuchliche, morphologische Paradigmaverbote (ζ. B. Imperativverbot), Komponentenfolge. Dem Charakter des Wörterbuches gemäß wurden diese Informationen nur für die übersetzten russischen Phraseologismen gegeben, die in einem Wörterbuch mit weiterer Zweckverwendung im Prinzip auch für die deutschen Entsprechungen notwendig wären. Allein aus dem dort Dargebotenen wird jedoch klar, daß Phraseologismen in speziellen Wörterbüchern behandelt werden müssen, da ihre Beschreibung von der der üblichen Lexikoneinträge in jedem Einzelfall prinzipiell abweicht. In phraseologischen Wörterbüchern wird die Situation des Wörterbuchbenutzers häufig vernachlässigt. Das Wörterbuch hat ihm nicht nur bestimmte Äquivalente und grammatische Charakteristiken vorzuschlagen, sondern auch die innere Form des betreffenden Phraseologismus zu erklären, damit er auf der Suche nach einem Äquivalent in seinem spezifischen Text die Möglichkeit hat, schöpferisch eigene Äquivalente dort einzusetzen, wo ihn die Vorschläge des Wörterbuches nicht befriedigen. Das Wörterbuch kann ja nicht alle Übersetzungsprobleme voraussehen. Vorbildlich in dieser Beziehung sind die Wörterbücher, die im theoretischen Rahmen der Beziehung zwischen Sprache und Kultur (Verescagin — Kostomarov 1976) bisher erschienen sind (v. a. Felicyna — Prochorov 1979). Die Verfasser gehen davon aus, daß in jeder Sprache die national-kulturelle Semantik der Sprache für den Ausländer zur Aneignung dieser Sprache wichtig ist. Die Wörterbücher versuchen den Ausländer mit Hilfe von Einheiten der russischen Sprache mit der sowjetischen und russischen Kultur, den Besonderheiten der gesellschaftlichen Organisation der Folklore, Kunst und Literatur bekannt zu machen. Wörter, Phraseologismen und Aphorismen sind sprachliche Träger kultureller Einheiten. Die entsprechenden Wörterbücher beschreiben die national-kulturelle Semantik dieser Einheiten, ζ. B. smotri ν koren' wörtl. „schau auf die Wurzel". Skljarov-Eckert-Engelke (1977)

Kontrast zwischen verschiedenen Sprachen

führen den Phraseologismus im Infinitiv an, mit dem Hinweis, daß er vorrangig im Infinitiv und Imperativ auftritt. Äquivalent ist den Dingen auf den Grund gehen. Eines der dortigen Textbeispiele stammt von Cechov (Rasskaz neizvestnogo celoveka): Nado smotret' ν koren' i iskat' ν kazdom javlenii pricinu vsech pricin. Man muß den Dingen auf den Grund gehen und in jeder Erscheinung die Ursache aller Ursachen suchen.

Das gleiche Beispiel führen auch Felicina — Prochorov (1979, S. 210) an unter dem Lemma im Imperativ: smotri ν koren'. Es folgen: 1. die Herkunft des Ausdrucks: Aphorismus von Koz'ma Prutkov, 1854; 2. Erklärung der mit dem Ausdruck verbundenen Einheiten. Im vorliegenden Fall machen weder smotret' „schauen" noch koren' „Wurzel" Schwierigkeiten. Erläutert werden muß Koz'ma Prutkov: Kollektivpseudonym für die russischen Schriftsteller Α. K. Tolstoj und die Brüder Α. M. und Β. M. Zemcuzinkov, die in der Literatur der 50er—60er Jahre des 19. Jh. auftreten. Koz'ma Prutkov ist die von ihnen geschaffene Gestalt eines Beamten-Dichters, der über alles von seinem bürokratischen Standpunkt aus urteilt; in seiner Gestalt werden die talentlosen, konservativen Schriftsteller parodiert. Die größte Popularität genießen auch heute noch seine kurzen und scharfsinnigen Aphorismen. 3. Semantisierung der übertragenen Bedeutung (wie bei Skljarov-Eckert-Engelke 1977): „Versuche in jeder Angelegenheit die Hauptsache zu verstehen". 4. Situative Charakteristik: Verwendet wird der Ausdruck als Aufruf zu tiefgreifender und aufmerksamer Untersuchung des Wesens einer Erscheinung. Die Zugehörigkeit des Ausdrucks zu K. Prutkov ist bekannt, deshalb wird er immer spaßhaft und ironisch geäußert. Es wird klar, daß das Verständnis der inneren Form eines Phraseologismus nicht nur aus dem Verständnis der Lexeme hervorgeht (die natürlich auch spezifisch national-kulturelle Einheiten ausdrücken können). Im obigen Beispiel ist die Kenntnis von K. Prutkov zum Ver-

297

ständnis der ironischen Stilfunktion nötig, die der Übersetzer etwa in der zitierten Textstelle mit den ironischen Mitteln des Deutschen wiedergeben sollte (sonst geht die Perspektive Cechov's zum Satz verloren). Weitere Wörterbücher dieses Typs sind in Vorbereitung, u. a. auch ein phraseologisches Wörterbuch (Felicina - Prochorov 1979, S.4). Im slavistischen Bereich sind inzwischen vorbildlich Koselev — Leonidova (1974) und Andrejcina et al. (1980) (vgl. Eismann 1978). Aus ihnen wird sich für den Ausländer ein hinreichendes Verständnis der russischen Phraseologie ergeben.

7.2.2. Kontrastiv-historischer Aspekt 7.2.2.1. Entlehnungen in der Phraseologie Nach Bloomfield (1940, S. 68) können unter dem Begriff der Entlehnung Erscheinungen in einer Sprache behandelt werden, die entweder aus Fremdsprachen oder aber aus Dialekten oder sogar aus anderen Stilschichten der gleichen Sprache übernommen werden. In der sowjetischen Phraseologie werden üblicherweise Entlehnungen aus dem Altkirchenslawischen (später Kirchenslawischen) und Entlehnungen aus Dialekten und Stilschichten im Zusammenhang mit der historischen Frage der Entstehung der russischen Literatursprache behandelt. Den phraseologischen Fragen der Entlehnungen im Russischen (aus dem Griechischen, Lateinischen, Französischen und Deutschen) ist relativ spät eine einzige Monographie gewidmet (Soloducho 1977). Soloducho versteht unter Entlehnung die Verwendung fremder (phonologischer, morphologischer, syntaktischer, lexikalischer, semantischer) sprachlicher Elemente im Russischen und darüber hinaus auch die Entlehnung fremdsprachlicher (ausländischer) Realien, Bilder und Ideen, in denen Spezialitäten fremdsprachlicher Völker ausgedrückt sind (1977, S. 6ff.), auch wenn in diesem letzten Fall in der Ausgangssprache kein sprachlich stabil fixiertes Vorbild vorhanden ist, (Typ: drakonische Gesetze, homerisches Gelächter, spartanische Erziehung; engl, guid-

298

Kontrastive Phraseologie

ing star bzw. russ. putevodnaja zvezda „Leitstern", vgl. NT, Mt. 2, 2; 2.7; 2.9; 2.16, wo der Ausdruck aber nicht vorliegt, sondern der ganze Text als Motivation gilt). Für Soloducho (1977, S. 9 ff.) ist zudem der Typ der phraseologischen „Calques" ein Sondertyp der phraseologischen Entlehnung; Calques entstehen bei totaler oder partieller Wiedergabe von Struktur und Bedeutung fremdsprachlicher (meist phraseologischer) Prototypen mit Hilfe der entlehnenden Sprache (1977, S. 16). Phraseologische Entlehnungen sind phraseologische Wendungen, die entweder auf Grund totaler oder partieller materieller Entlehnungen der Prototypen entstehen, oder mittels eigensprachlicher materieller Elemente (mit fremdsprachlicher Modellvorlage oder fremdsprachlichen Motivationsstimuli und Texten, Realien usw.) in jedem Fall neue semantische Ganzheiten (d. h. Bedeutungen phraseologischer Entlehnungen) bilden, die regulär verwendet werden (1977, S. 18). Diese Bildung einer neuen semantischen Ganzheit ist wesentlichstes Merkmal der phraseologischen Entlehnung. Insbesondere behandelt Soloducho (1) Calques aus dem Lateinischen im Englischen, Französischen und Russischen und Calques aus dem Französischen im Englischen und Russischen, (2) eigentliche Biblismen und „Mythologismen" und (3) semantische phraseologische Entlehnungen. Nicht transliterierte Entlehnungen behandelt Soloducho nicht (vgl. dazu fürs Russische Babkin 1977). Durchaus berechtigt ist die bei Soloducho durchgeführte Trennung von historisch-kontrastivem und synchron-kontrastivem Gesichtspunkt, d. h. die Trennung des Kontrastes zwischen zeitlich verschiedenen Sprachzuständen und gleichzeitigen Sprachzuständen der kontrastierten Sprachen. Das verlangt die Definition des Entlehnungsbegriffs für Phraseologismen: Entlehnung ist ein historischer Vorgang und ein historisches Faktum. Prototyp und Resultat können hier bei der Beschreibung des Lehnprozesses nicht getrennt werden. Darüber hinaus aber kann die im Phraseologismus selbst liegende Spannung zwischen Bedeutung der Komponenten außerhalb des Phraseologis-

mus und Bedeutung des ganzen Phraseologismus, die seine innere Form darstellt und seine im wesentlichen expressive Funktion ausmacht, nicht vom Gegensatz Synchronie-Diachronie getrennt werden (vgl. Larin 1974, S. 66). Am deutlichsten kommt das natürlich in den Archaismen (Popov 1976) zu Tage. Die Bestimmung des Ausgangspunktes, d. h. des Prototyps macht allerdings Schwierigkeit. Migrationen von Phraseologismen verlangen eingehende historische Biographien der einzelnen Phraseologismen in verschiedenen Sprachen und kontrastierenden Kulturkreisen: Phraseologische Entlehnungen können mündlich durch direkten Sprachkontrast über längere oder kürzere Zeit oder schriftlich durch ökonomisch-kulturelle Beziehungen entstehen. (Das Russische weist im wesentlichen folgende Epochen von Kontrasten der beiden genannten Arten auf: skandinavisch-ostslawisch in vorschriftlicher Zeit, byzantinisch, südslawisch, westslawisch der Übersetzerzeit seit dem 10. Jh., Mongolen 1 3 . - 1 5 . Jh., Handelsbeziehungen mit Deutschland seit dem 14. Jh., Griechen und Südslawen in Moskau 15. Jh., Beziehungen mit Litauen und Polen seit dem 15. Jh., Bekanntschaft mit Franzosen und Deutschen in Rußland im 18. Jh. usw., die in der historischen Lexikologie ζ. T. erforscht sind.) Phraseologische Quellen sind aber auch gemeinsame Texte, v. a. die der Bibel und kirchlichen Liturgie einerseits und andererseits die des gemeinsamen Kulturgutes der griechischen und lateinischen Antike, besonders in den ihnen zugewandten kulturhistorischen Epochen (Renaissance und Klassizismus). Oft ist es schwer auszumachen, ob die Entlehnung aus dem Original/der Originalsprache vorgenommen wurde oder den Weg über eine Mittlersprache fand. Hier und dort zeigen sich aber in den entlehnten Phraseologismen noch formale Elemente der Sprache des Prototyps: 1. Sicher festzustellen ist der Ausgangspunkt bei der Aufnahme ohne Übersetzung: im Deutschen ζ. Β. a tout prix; im Russischen bei transliteriertem/nicht transliteriertem idees fixes/ΗΑβφκκε (idefiks); faire la cour/ ep/iaKyp (ferlakur).

Kontrast zwischen verschiedenen Sprachen 2. Im entlehnten Phraseologismus erscheint eine ungewohnte präpositionale Rektion: so in okazat' vlijattie „Einfluß ausüben auf" mit der Präposition „ a u f " , wobei vlijanie < vlijat' mit Präposition υ „ i n " im 18. und 19. J h . erscheint; mit na nach französischem influence sur, in faire influence sur ( 1 8 . / 1 9 . Jh.).

299

russ. appetit prichodit i/o vremja edy (wörtl. „der Appetit kommt in der Zeit des Essens") dt. Der Appetit kommt beim Essen. franz. lune de miel russ. medovyj mesjac dt. Honigmond engl. Honey-moon

3. Im entlehnten Phraseologismus liegt ein Verstoß gegen die Norm der lexikalischen Verbindbarkeit vor: dazu gehören der Großteil der russischen Verbindungen des Typs prinjat' ucastie wörtl. „Teilnahme nehmen" = „teilnehmen", delat' cest' wörtl. „Ehre tun" = „eine Ehre antun", sdelat' scenu komu-libo wörtl. „jemandem eine Szene machen".

vielen Fällen fehlen auch mögliche Varianten

4. Bei zwei möglichen Prototypen entscheidet die Parallelität der Form:

gen werden lediglich festgestellt. Erst histori-

Vgl. in bezug aufs Englische: englisch: to lead somebody by the nose französisch: mener quelqu'un par le nez lateinisch: naribus trahere Hier ist die französische Wendung Prototyp, im folgenden hingegen die lateinische: engl, no simile runs on all fours franz. toute comparaison cloche lat. nullum simile quatuor pedibus currit. 5. Halbcalques sind leichter zu bestimmen: engl, on the qui vive franz. sur le qui-vive. Bei den Entlehnungen aus dem Lateinischen zeigen sich dann auch grammatische Besonderheiten in den Phraseologismen der entlehnenden Sprachen (und ebenso bei Entlehnungen aus dem Französischen). D. h., daß nicht nur von einem Einfluß des Lateinischen (bzw. Französischen) auf die betreffenden Sprachen gesprochen werden darf, sondern bei der Entlehnung zugleich auch der Einfluß der entlehnenden Sprache zu berücksichtigen ist. Einige Beispiele genügen hier (Das reiche Material bei Soloducho basiert hauptsächlich auf Wörterbüchern. Viele seiner Beispiele sind mit Vorsicht aufzunehmen. Sein Material ist historisch und funktional nicht gekennzeichnet): franz. l'appetit vient en mangeant

lat. pecunia non olet engl, money has no smell franz. I'argent n'a pas d'odeur Soloducho bringt seine zahlreichen Beispiele leider nicht mit den Systemzuständen in den betreffenden Sprachen in Zusammenhang. In in Entlehnung und Prototyp. Die Abweichunsche Wörterbücher zur Phraseologie (die bei Soloducho ohne Unterscheidung der Typen vom Sprichwort bis zur Streckform reicht) können gesicherte Grundlagen zum Entlehnungsvorgang und zur globalen Beurteilung ihrer Entwicklungen in den Einzelsprachen liefern. Als Beispiel für die

Entwicklungsge-

schichte einer Entlehnung kann svjataja

svja-

tych (vgl. 8.1.3.2.) dienen.

7.2.2.2. Vergleich und phraseologischer Modellbegriff Äußerst nützlich erweist sich der Modellbegriff (vgl. 3.1.) für kontrastive Untersuchungen typologischer und diachroner Art (vgl. 8.1.4.1.). Bei der Gegenüberstellung der Phraseologie zweier (oder mehrerer) Sprachen nach den Modellen, denen ihre Phraseologismen angehören, gelingt es, die ganze Komplexität des Phraseologismus gleichzeitig zu erfassen. Das phraseologische Modell besteht aus strukturell -syntaktischen und inhaltlichen Invarianten. Nicht jeder Phraseologismus gehört einem Modell an, das verbreitet ist, aber jeder Phraseologismus stellt potentiell ein Modell dar, aus dem Serien hervorgehen können (vgl. 3.1.). Der höhere Abstraktionsgrad der Modelle erlaubt die Systematisierung scheinbar individuell gebildeter phraseologischer Wortverbindungen. In der kontrastiven Phraseologie ermöglicht das Modell die Gegenüberstellung

300

Kontrastive Phraseologie

thematisch, lexematisch und syntaktisch verwandter Phraseologismen nach der inneren Form, d. h. aber auch nach der Bildhaftigkeit und damit den Vergleich der Bildhaftigkeit zweier (oder mehrerer) Sprachen. Sie gibt damit auch eine Vorstellung von den Mitteln zum Ausdruck der Expressivität in den betreffenden Sprachen und kann damit über die linguistische Phraseologie hinaus für die Stilistik, v. a. aber für die semantische Typologie (Wortfeldproblematik) nutzbar gemacht werden. Das u. E. deutlichste Beispiel (zum Vergleich Russisch-Tschechisch) liefert Mokienko (1980, S. 4 4 - 6 2 ) . Mokienko geht aus vom phraseologischen Thema „schlagen, bestrafen". Seine Arbeit zeichnet sich durch erschöpfende Behandlung des literatur- und umgangssprachlichen Materials aus. (Wobei gerade bei der Suche nach Material die Fülle u.E. dank dem Begriff des phraseologischen Modells erreicht wurde, das die Richtung zu den entsprechenden Synonymreihen wies). Die Wahl des Themas macht bereits eine syntaktische Modellbedingtheit sichtbar. Alle untersuchten Phraseologismen müssen eine verbale Komponente enthalten, und in ihr oder in den anderen Komponenten oder im ganzen Phraseologismus erscheint das Thema „schlaii

gen . Die tschechische und russische Sprach- und Kulturgeschichte entwickelte sich unter so verschiedenen Bedingungen, daß trotz der slawischen Verwandtschaftsbeziehung kein eindeutiges Resultat zu erwarten war. Mokienko weist fünf phraseologische Modelle und zwei Zusatzgruppen nach (V = Verb, S = Substantiv) mit folgender Charakterisierung der Komponenten: I. russ. dat' II tschech. dat -I- S = „schlagen" A. B.

S: deverbativ von Verben des Schlagens S: nicht von Verben des Schlagens abgeleitet 1. S: deverbativ 2. S: nicht deverbativ C. S: in übertragener Bedeutung 1. S: Speisenbezeichnungen 2. S: Schlagwerkzeugbezeichnungen 3. S: Geschirrbezeichnungen 4. S: mit Bad zu tun

II. V (kausativ) + S (oder seine Periphrase) „Schlag" Vniss.: podnesti Vtjchcch.: vlepit vsypat' vrazit vrezat' ustedrit naklast' vsolit sdelat' udelat III. V des Schlagens + Richtung des Schlagens (als S oder Präp. + S) Α. 1. S: Gesicht, Kopf, Auge, Nase, Wangen, Ohren, Hals, Nacken, Schläfen 2. S: andere Körperteile 3. S: Kleidung (nur im Tschechischen) Β. 1. Verben mit gemeinsamer Bedeutung „zusammenschlagen, brechen, vernichten" 2. V mit gemeinsamer Bedeutung „plötzlich schlagen, auffallen" 3. zerdrücken 4. V mit gemeinsamer Bed. „reiben, sauber machen, waschen" 5. V mit «« gemeinsamer Bed. „gießen, salzen

IV. V des Schlagens + Instrument des Schlagens (S oder Präp. + S) Α. 1. 2. 3. 4. 5.

S: S: S: S: S:

Β. 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.

V: V: V: V: V: V: V:

Knute, Riemen Peitsche Knebel Faust, Hand andere Instrumente, mit denen man schlagen kann (leicht) berühren plötzlich schlagen wärmen, verbrennen gehen, führen einreihen, abrasieren abmessen begrüßen, segnen

V. V des Schlagens + Art und Weise (Wort, Wortverbindung, Satz) Α. 1. 2. 3. 4. 5. Β. 1. 2. 3. 4.

V: V: V: V:

mit Adverb mit S oder Präp. + S Vergleichskonstruktion (S + „wie") mit Tautologien mit abgekürzten Sätzen schlagen (fest) reiben, kratzen schreiben andere Tätigkeiten

kak/jak

Kontrast zwischen verschiedenen Sprachen

Dazu kommen auch noch zahlreiche Phraseologismen, in denen die in den Modellen II—V obligatorischen Verben des Schlagens und dat'/dat des Modells I nicht auftreten. Dazu gehören: VI. Beschreibung der konkreten Tätigkeiten, die mit Schlägereien oder physischer Bestrafung verbunden sind. 1. die Innereien herausziehen 2. Haare abziehen

VII. Außerhalb konkreter Tätigkeiten des Schlagens; feste Wortverbindungen der Struktur V + S aus den Themenbereichen: 1. 2. 3. 4. 5. 6.

Heilen Hygiene Kleiderpflege Essen (Zubereitung) Handwerk individuelle Motivationen

(Zu diesen Modellen gibt Mokienko eine Fülle von Beispielen.) Der Vergleich Russisch-Tschechisch zeigt also eine bestimmte Stabilität in Struktur und Semantik der verglichenen Phraseologismen, die es möglich machen, einen Großteil des Materials zu Modellen zu gruppieren. Der Vergleich der nominalen und verbalen Teile zeigt assoziative und synonymische Zusammenhänge. Tschechisch und Russisch weisen also eine starke Ähnlichkeit im verglichenen phraseologischen Bedeutungsfeld auf, d. h. die Motivationen der bildhaften Ausdrücke sind in beiden Sprachen die gleichen. Die Unterschiede sind minim: das Tschechische zeigt eine reich entwickelte Kleidersynonymik (Typ III A 3), Typ IV dagegen ist im Gegensatz zum Russischen schwach entwickelt. Zur Demonstration der Nützlichkeit des phraseologischen Modellbegriffs für vergleichend-historische Arbeiten wären natürlich alle slawischen Sprachen heranzuziehen. 7.2.2.3. Der Vergleich von Lexemverbindungen Kontrastiv-vergleichend sind die Arbeiten zur altkirchenslawischen Phraseologie von Kopylenko. Die phraseologische Theorie von Kopy-

301

lenko, die alle Wortverbindungen (freie und feste) als Objekt der Phraseologie bestimmt, geht zurück auf die Beobachtung von Larin (1956, S. 218), daßbei der Verbindbarkeit von Lexemen eine ganze Reihe von Faktoren beteiligt ist, die diese Verbindbarkeit eingrenzen, und zwar sowohl für die sogenannt freien als auch für die festen Wortverbindungen (Darstellung von Kopylenko's Theorie in Häusermann 1977). Der Grund dafür, daß seine Arbeiten, die eine heute tote Sprache u. a. mit dem heutigen Russisch vergleichen, nicht in den diachronen Teil des Handbuches aufgenommen werden, liegt darin, daß die von Kopylenko angewandten Argumentationen und Untersuchungsmethoden in der vergleichend-kontrastiven Phraseologie entfernt verwandter Sprachen verwendbar wurden (Pekler 1967 s. u.) und daß die von ihm bestimmten Begriffe der zwischensprachlichen Festigkeit und Auswahlmöglichkeit (izbiratel' nost') für alle Sprachen von Bedeutung sind. Darüberhinaus besteht zwischen den von ihm verglichenen Sprachen Altkirchenslawisch einerseits und heutigem Russisch (bzw. Bulgarisch usw.) andererseits trotz ihrer nahen Verwandtschaft keine direkte genetische Beziehung. Weder Russisch noch Bulgarisch sind aus dem Altkirchenslawischen entstanden. Das Altkirchenslawische ist eine mit altsüdslawischen Morphemen und Lexemen geschaffene künstliche Buchsprache zur Übersetzung griechischer Vorlagen und hat parallel zum Russischen und Bulgarischen bis zum 18. Jh. als Buchsprache v. a. in kirchlicher Literatur existiert. Ähnliche kontrastiv-vergleichende Untersuchungen wären auch zwischen Latein und Deutsch möglich. Auch hier handelt es sich um Sprachkontakte und erst in zweiter Linie um Sprachgeschichte. Die Methoden Kopylenko's können dann natürlich auch für diachrone Schlußfolgerungen hinzugezogen werden, in ihrem Kern aber sind seine Arbeiten als synchron kontrastierende Sprachvergleiche zweier (oder mehrerer) verschiedener Sprachen anzusehen, in deren Beziehungen zueinander der Kontakt über genetische Verwandtschaft dominiert ((Alt)kirchenslawisch — Griechisch;

302

Kontrastive Phraseologie

(Alt)kirchenslawisch — Russisch) oder zum mindesten ebenbürtig ist (Altkirchenslawisch — Bulgarisch). Kopylenko weist ζ. B. nach (Kopylenko — Popova 1972, S. 92-104), 1. daß im Wortverbindungstyp Abstraktum + Verbum im Altkirchenslawisch zwischen den Substantiven und Verben eine Gruppenfestigkeit bestand, auf deren Grundlage bereits bestimmte semantische Reihen als Phrasenverbindungen fungierten; 2. daß ζ. B. die Verben des Sich-aneignens und Besitzens im Altkirchenslawisch eine entwickelte konnotative Verbindbarkeit aufweisen, die nicht mit gegenständlich-logischen Faktoren zu begründen ist; 3. daß im Altkirchenslawischen die Abstrakta (in Wortverbindung Abstraktum + Verbum) nicht so stark auf bestimmte Verben fixiert waren wie im heutigen Russisch. Zunächst untersucht Kopylenko die Verbindbarkeit der Verben prijqti „nehmen" und imeti „haben" mit abstrakten Substantiven in den altkirchenslawischen Texten; beide Verben sind mit je über 200 abstrakten Substantiven anzutreffen, imeti 550mal, prijqti 350mal. Kopylenko unterscheidet fünf Gruppen abstrakter Substantive. Sowohl prijqti „sich aneignen, nehmen" und imeti „haben" weisen in jeder Gruppe besondere Konnotationen auf: (1) Substantive: Merkmale, Eigenschaften, Qualitäten prijqti —> „sich aneignen" ν last' „Macht", blago „Gut", silu „Kraft" imeti —> „haben, besitzen" vlast' „Macht", lest' „Ehre"

(2) Substantive: Sprachliche Information prij^ti —> „annehmen mit Zustimmung" blagovestenie ben", izpoved'

„Evangelium", veru „den Glau„Bekenntnis"

imeti —» „haben, besitzen" glagol" „das Wort", ucenie „Lehre"

(3) Substantive: Zustandsbezeichnungen prijqti —» „in einen Zustand geraten, etwas wahrnehmen" strach" „Angst": „Angst bekommen" oslabu „Schwäche": „schwach werden" zelanie „Wunsch": „Wunsch verspüren"

imeti —• „etwas verspüren, sich in einem bestimmten Zustand befinden" volju „Willen": „den Willen haben" nadezdu „Hoffnung": „die Hoffnung haben" s"merenie „Frieden": „den Frieden haben"

(4) Substantive: Tätigkeiten prijqti -» „Tätigkeit vollziehen" brak" „Ehe": „ehelichen, Ehe eingehen" mysl' „Gedanke": „Gedanken vollziehen" imeti -* „vollziehen" vrazdu „Feindschaft": „feindlich sein"

(5) Substantive: nützliche oder schädliche Tätigkeiten prijqti —> „erleiden, erfahren" vred „Schaden" mucenie „ Q u a l " cbvalu „ L o b " imeti —» „erfahren, erleiden" bolezn' „Krankheit" milost' „Barmherzigkeit"

Im heutigen Russisch sind für prijqti — prittjat' die ersten beiden Gruppen aktiv, die drei anderen Gruppen werden anders ausgedrückt. Bei imeti — imet' im heutigen Russischen sind die ersten 4 Gruppen erhalten geblieben; ζ. B. prittjat' vlast', silu, prestol,

blagoslovenie

„die Macht an sich nehmen, Kraft, Thron einnehmen, Segen empfangen" prinjat' predanie „Überlieferung annehmen" prinjat' poucenie „Unterweisung annehmen" usw.

Die dargestellten Gruppen weisen auf ein intensives buchsprachliches Lehnverhältnis zwischen Altkirchenslawisch und Russisch. Die Berücksichtigung aller Lexemverbindungen ist natürlich für beschränkte Textumfänge (tote Sprachen) zu empfehlen. Die bei Häusermann (1977) diskutierten semantischen Konzeptionen von Kopylenko-Popova (1972), insbesondere die „Sememtypologie", sind jedoch mit Vorsicht zu genießen. Nichtsdestoweniger hat Kopylenko in zahlreichen Arbeiten ihren praktischen Nutzen gezeigt. Allerdings kann der Einbezug aller Wortverbindungen unter dem Gesichtspunkt der Verbindbarkeit auch ohne seine theoretische Grundlage rein materiell vorgenommen werden (vgl. unten Pekler 1967 in 7.2.3.3.).

303

Kontrast zwischen verschiedenen Sprachen

7 . 2 . 3 . Kontrastiv-synchroner

Aspekt

7.2.3.1. Vergleich eines Mikrosystems (komparative Phraseologie): Deutsch-Englisch-Schwedisch Im Mikrosystem der „komparativen Phraseologie" (vgl. 2.3.4.) findet in modellierter Form eine Grundoperation des Verstandes Ausdruck: der Vergleich. Die Operation des Vergleichs liegt jeder Vergleichskonstruktion, insbesondere aber den festgewordenen phraseologischen Vergleichskonstruktionen zu Grunde. Die Festigkeit der komparativen Phraseologismen führt Glazyrin (1972, S. 11) auf die phraseologismusbildenden Faktoren der semantischen Transformation und der wiederholten Verwendung zurück. Dadurch verblaßt in komparativen Phraseologismen das Vergleichsmoment und der vergleichende Teil bekommt verallgemeinerte (abstraktere) Bedeutung. Die Desemantisierung wird durch häufigen Gebrauch gefördert. Damit eine Vergleichskonstruktion als fest anerkannt wird, muß sie in gleicher Form und Bedeutung mehrmals belegt sein (für Glazyrin: entweder mindestens zweimal im Wörterbuch, oder mindestens dreimal in verschiedenen Texten in gleicher Position und Bedeutung). Dem Vergleich liegt also eine logische Operation zu Grunde. Für Glazyrin besteht sie aus zwei Komponenten, die fest sein müssen, um von einem komparativen Phraseologismus sprechen zu können. Hierher gehört auch die Operation der Gegenüberstellung, die zu vielen Sprichwörtern geführt hat: Besser . . . als

. . . u. ä. (ζ. B. Besser den Spatz in der Hand

als die Taube auf dem Dach). Glazyrin wählt als Grundmodell jedoch X wie Y mit Wortverbindungsstruktur. In der ganzen komparativen Wendung

On pokrasnel kak rak wörtl. „Er errötete wie ein Krebs" sind zu unterscheiden das äußere, determinierte Glied on/er; der vergleichende Phraseologismus pokrasnel kak rak bestehend aus tertium comparationis pokrasnel und dem Qualifikator kak rak.

Innerhalb des Phraseologismus können ein denotativer und konnotativer Aspekt untersucht werden, wenn sie in zwei oder mehreren Sprachen kontrastiert werden. Bei der Übersetzung sind die denotativen Elemente zu übersetzen, bei Konnotationen können Zugeständnisse gemacht werden. Zu beachten ist hierbei, daß die Expressivität des komparativen Phraseologismus nicht von seinem Komponentenbestand abhängt, sondern von der Beziehung zwischen den Komponenten und dem determinierten Glied. Das tertium comparationis ist Ausgangspunkt der Klassifikation. Meist tritt es in denotativer, nicht metaphorisierter Funktion auf. Die Funktion des Qualifikators hängt vom tertium comparationis ab: er verstärkt ein Adjektiv (semantische Tautologien: weiß wie Schnee), bei Verben verstärkt und spezifiziert er: Er aß wie ein Spatz/Pferd, also „viel/wenig". Adjektivkomposita können nicht als tertium c. erscheinen: *Er ist kreidebleich wie ein Leintuch. Die untersuchten verbalen komparativen Phraseologismen weisen eine begrenzte Teilnahme von Verben auf: meist sind es nicht-komponierte, häufige und in ihrem Wortfeld zentrale Verben, ζ. B. aus-

sehen, sich fühlen, sein, (da)sitzen, (da)stehen, (da)liegen, die 3 0 % aller verbalen komparativen Phraseologismen ausmachen. Folgende Zahlen charakterisieren das Inventar von Glazyrin:

deutsch

engl. schwed.

verbale komp. Phraseologismen

340

125

149

adjektivische komp. Phraseologismen

171

316

118

Bei der Zählung wurden Varianten

(trinken

wie ein Bürstenbinder — saufen wie ein Bürstenbinder)

einmal, Synonyme (arbeiten wie

ein Pferd — arbeiten wie ein Sklave) zweimal gezählt. In der eigentlichen kontrastiven Analyse unterscheidet Glazyrin folgende Gruppen: (1) Absolut identische komparative Phraseologismen (in Lexembestand, Struktur und Semantik)

304

Kontrastive Phraseologie dt. stumm wie ein Fisch engl, (as) mute as α fish schwed. stum som ett fisk

Variationen von Artikeln, Präpositionen, Kasus werden hier zugelassen. Ebenso lexikalische Varianten wie Bügelbrett zu engl, board in platt wie ein Bügelbrett - as flat as a board·, lexiko-morphologische Varianten wie fliegen wie die Motten ums Licht — to fly like a moth round a candle; syntaktische Varianten wie hüten wie den eigenen Augapfel — to cherish as the apple of one's eye; und schließlich Erweiterungen: davonfliegen wie ein Pfeil — to fly away like an arrow from a bow. Quantitative Charakteristik dieses Typs: verbale Äquivalente des Deutschen zum Engl. 2 0 , 9 % , zum Schwed 2 7 , 4 % ; adjektivische Äquivalente des Deutschen zum Engl. 3 9 , 2 % , zum Schwed. 2 7 , 5 % . Ein Teil der absolut identischen Verbindungen geht auf gemeinsame biblische und mythologische Quellen zurück. Die andern interpretiert Glazyrin als Folge der Gemeinsamkeit von Vorstellung und Assoziationen bei den drei Völkern. (2) Semantisch identische komparative Phraseologismen Die Denotate des Vergleichs sind total oder partiell verschieden, ihre semantische Funktion aber ist analog. Glazyrin unterscheidet drei Grade der Identität, die durch abnehmende semantische Ähnlichkeit charakterisiert sind. Beispiele: 1) lustig wie ein Spatz as cheerful as a lark glad som en spelande one 2) sich gleichen wie ein Ei dem andern to be as like as two peas att vara sä lika som tva bar 3) lügen wie der Teufel to lie like a gas meter ljuga som en häst Quantitative Charakteristik dieses Typs: verbale semantische Äquivalente des Deutschen zum Engl. 4 1 , 2 % , zum Schwed. 3 8 , 1 % ; adjektivische semantische Äquivalente des

Deutschen zum Engl. 4 9 , 1 % , zum Schwed. 49%. (3) Deskriptive Entsprechungen Zur deskriptiven Übersetzung wird immer gegriffen, wo keine Äquivalente zu finden sind und die Bildhaftigkeit des Vergleichs nicht wiedergegeben werden kann mit einer bereits vorliegenden festen Wendung: leben wie im Himmel to live a life free from cares Quantitative Charakteristik: verbale deskriptive Entsprechungen im Engl. 3 8 , 9 % , im Schwed. 3 4 , 5 % ; adjektivische deskriptive Entsprechungen im Engl. 11,7%, im Schwed. 2 3 , 5 % . Die Verteilung der obigen Typen bringt Glazyrin mit folgenden sprachlichen Erscheinungen in Zusammenhang: 1. Englisch und Schwedisch kennen wenig relative Adjektive. 2. Das Schwedische hat fast keine Adjektive, die Materialbeziehungen ausdrücken; deswegen: dastehen wie versteinert to stand like a stone wall stä som huggen i sten. 3. Absenz von Partizip II im Englischen in festen Vergleichen: sitzen wie angegossen att sitta som gjuten to fit like a glove Die abschließende quantitative Charakteristik, in der Glazyrin die Nähe der beiden verglichenen Sprachen zum Deutschen darzustellen versucht, ergibt einen höheren Koeffizienten der Äquivalenz für die adjektivischen gegenüber den verbalen Konstruktionen, und eine größere Nähe des Englischen zum Deutschen. Die Resultate sind vorläufig und wären an bedeutend erweitertem Material zu überprüfen. 7.2.3.2. Vergleich eines Mikrosystems (komparative Phraseologie): Deutsch-Russisch Mit dem Mikrosystem der komparativen Phraseologie (leben wie ein Fürst, wie ein Ölgötze

Kontrast zwischen verschiedenen Sprachen dastehen) beschäftigt sich auch die Dissertation von Ο . M . Nevedomskaja (1973). Dargestellt werden Ähnlichkeit und Verschiedenheit in strukturell-morphologischer und lexikosemantischer Hinsicht. Neben lexikographischen Quellen wurden über 1 0 0 Werke der deutschen und russischen Literatur und ihre Übersetzungen analysiert. Die Fixierung komparativer Phraseologismen in Wörterbüchern ist ein Index für die allgemeine (nicht-individuelle) Gebräuchlichkeit, die Untersuchung von Texten erlaubt die Feststellung etwaiger Varianten, und die Analyse der Übersetzungen ermöglicht nicht nur ein Urteil über das semantische Spektrum der übersetzten komparativen Phraseologismen, sondern auch über die Gebräuchlichkeit der betreffenden Übersetzungen. Nevedomskaja trennt die komparativen Phraseologismen von freien, individuellen Vergleichen v. a. auf der Grundlage ihrer stabilen Reproduktion, wobei die vom Wörterbuch fixierten Formen durch die Textbelege überprüft werden können. Drei Typen komparativer Phraseologismen (Gesamtzahl der Fälle: Dt.: 9 4 7 ; Russ.: 1914) werden unterschieden: — verbale: arbeiten

wie ein Pferd

(Dt.: 6 7 % ,

Russ.: 7 2 , 5 % ) — adjektivische:

kalt

wie

(Dt.:

Eis

26%,

Russ.: 2 4 % ) — substantivische: ein Gedächtnis ein Sieb, aber auch: Schulden

haben haben

wie wie

ein Major, ein Gesicht machen wie drei Tage Regenwetter. Im Russischen ist die Häufigkeit der komparativen Phraseologismen zweimal höher als im Deutschen.

305

A. Verbale komparative Phraseologismen (1) schwimmen wie eine bleierne Ente polzti kak cerepacha (wörtl. „kriechen wie eine Schildkröte") (2) jemanden wie Luft behandeln bojat'sja kak ognja (wörtl. „fürchten wie das Feuer") (3) sich fühlen wie ein Fisch im Wasser bojat'sja kak cert ladana (wörtl. „fürchten wie der Teufel den Weihrauch") (4) zit' kak u christa za pazuchoj (wörtl. „leben wie am Busen Christi") (5) zusammenhalten wie Pech und Schwefel (6) aussehen wie aus dem Ei gepellt stojat' kak vkopannyj (wörtl. „stehen wie eingegraben") (7) skazal kak otrubil (wörtl. „gesagt wie abgehauen") (8) aussehen als hätten die Hühner das Brot weggefressen B. Adjektivische komparative Phraseologismen (1) listig wie ein Fuchs chitryj kak lisa (wörtl. „schlau wie ein Fuchs") (2) (es ist) finster wie in einer Kuh tocno kak ν apteke (wörtl. „genau wie in der Apotheke") (3) zahllos wie Sand am Meer zdorov kak krov' s molokom (wörtl. „gesund wie Blut mit Milch") (4) mnogo kak zvezdy na nebe (wörtl. „viel wie Sterne am Himmel") (8) so sicher wie zweimal zwei vier ist C. Substantivische Phraseologismen (1) ein Gedächtnis haben wie ein Sieb golova kak reseto (wörtl. „Kopf wie ein Sieb") (2) ein Mann von Eisen (3) ein Gesicht machen wie eine Eule am Mittag (5) ein Unterschied wie Tag und Nacht (8) ein Gesicht machen wie die Katze wenns donnert

Im Deutschen wird der Großteil der komparativen Phraseologismen mit wie gebildet (seltener als, als ob, als wenn, wie wenn, gleich). Neben dem Äquivalent zu wie:kak verwendet das Russische häufiger, und mit funktional-stilistischen Unterschieden, noch

Während A. B. C. auf Grund der ersten Komponente unterschieden wurden, zeigen (1) bis (8) die Struktur der zweiten Komponente des Vergleichs (Substantiv, Substantiv in obliquem Kasus, Substantiv und nähere Bestimmungen usw.)

slovno, tocno, budto, cto, jako,

Folgende strukturelle morphologische und lexikosemantische Eigenheiten können beobachtet werden:

rovno, vrode u. ä. Folgende werden unterschieden:

aki,

ako,

Strukturtypen

306

Kontrastive Phraseologie

Α. Ähnlichkeiten (1) Die zweite Komponente des Vergleichs wird im Russischen und Deutschen nachgestellt: rot wie ein Krebs = krasnyj kak rak.

(1) gleichwertige: flink wie ein Wiesel, ein Eichhörnchen, eine Maus-, golodnyj kak volk, sobaka (wörtl. „hungrig wie ein Wolf, Hund")

(2) Für den Großteil der verbalen Vergleiche ist die Vorausstellung der zweiten Komponente möglich, bei einigen Verben im Russischen ist sie typisch, bei adjektivischen Vergleichen nur im Russischen möglich. Vgl.:

(2) ungleichwertige: reden wie ein Buch

wie ein Ölgötze dastehen·, kak svecka tajat' (wörtl. „wie eine Kerze schmelzen"); kak Mamaj prosei (wörtl. „ging vorbei wie Mamaj", d. h. „alles vernichtend"); kak krov' krasnyj (wörtl. „wie Blut rot"). (3) Genusbeschränkungen für die erste Komponente gibt es nicht: er, sie, es ist geschwätzig wie eine Elster = on, ona, ono boltliv(a) (o) kak sorocka (4) In der zweiten Komponente ist der Singular häufiger, Kongruenz aber wird berücksichtigt: Ich schwitze wie ein Affe Wir schwitzen wie die Affen Rebjata tajali kak svecki (wörtl. „Die Kinder (Burschen) schmolzen wie Kerzen") (5) Der Artikelgebrauch entspricht der Norm des Deutschen. Aber vgl. sie ist neugierig wie eine Ziege sie sind neugierig wie die Ziegen (6) In bezug auf die erste Komponente gibt es im Russischen für alle deutschen Vergleiche Entsprechungen. Am ähnlichsten sind die adjektivischen Vergleiche. B. Unterschiede Die Unterschiede sind v. a. quantitativer Art: In deutschen Wörterbüchern fand Nevedomskaja 1179 Vergleiche, in russischen 524. 196 deutsche Verben bilden 6 0 0 , 186 russische Verben 2 8 6 komparative Phraseologismen. Am produktivsten im Deutschen sind die Verben sein (in 78 Phraseologismen), aussehen (35) (da)stehen (27); im Russischen byt' „sein" (11), zit' „leben" (9), stojat' „stehen" (8). C. Synonymie, Antonymie, Polysemie Drei Synonymietypen können unterschieden werden:

wie ein Wasserfall wie aufgezogen wie ein Mühlrad umgekehrt: kak ν vodu kanul (wörtl. „wie ins Wasser versunken") und pominaj kak zvali (wörtl. etwa „denkt daran, wie man rief") bedeuten — bei ganz verschiedener innerer Form — beide soviel wie „spurlos verschwunden". (3) stilistische: reden wie aufgezogen — eine Fresse wie ein Maschinengewehr haben nuzen kak proslogodnyj sneg wörtl. „nötig wie der Schnee vom vergangenen J a h r " (literat.) — nuzen kak sobake pjataja noga wörtl. „nötig wie dem Hund ein fünftes Bein" Varianten sind in beiden Sprachen zahlreich: (1) lexikalische: blaß, bleich wie der Tod sedoj, belyj kak luna wörtl. „grau, weiß wie der Mond" (2) grammatische: (dastehen) wie der Ochs(e) am (vor dem) Berg kak (ob, v) stenu goroch „wie eine Erbse gegen die Wand" = „wirkungslos" (3) lexikogrammatische: Variationen für wie bzw. kak Bei den Antonymen zeigen Deutsch gemeinsame Züge:

Russisch

und

(a) nach der ersten Komponente: tapfer wie ein Löwe — furchtsam wie ein Hase boltat' kak soroka wörtl. „schwätzen wie eine Elster — molcat' kak ryba wörtl. „schweigen wie ein Fisch"

Kontrast zwischen verschiedenen Sprachen

(b) nach der zweiten Komponente: leben wie in Abrahams Schoß = leben wie auf einem Vulkan zit' kak u christa za pazuchoj wörtl. „leben wie an Christi Busen" — zit' kak na vulkane wörtl. „wie auf einem Vulkan leben" D. Die Wahl der Synonymiemittel bei der Übersetzung (a) Zusammengesetzte Adjektive sind im Dt. häufiger als die synonymen komparativen Phraseologismen. Vgl. 60mal schneeweiß wie Schnee.

gegenüber 6mal weiß

(b) Die anderen synonymen Mittel spielen eine weniger wichtige Rolle; ζ. B. die des Typs statuenhaft, einsiedlerisch, flammig·, und des Typs Bienenfleiß, Grabesstille-, und die metaphorischen Verben: sich schlängeln usw. (c) Die Mittel zum festen Vergleich im Russischen sind mannigfaltiger: Verb + Substantiv im Instrumental: letet' streloj „fliegen wie ein Pfeil", qualitatives Adverb auf ο + Adj.: snezno-belyj „schneeweiß"; attributiertes Substantiv: s oslinym uporstvom „mit eselhafter Dickköpfigkeit", metaphorische Verben: zmeit'sja „sich schlängeln", verbale Wortverbindungen mit metaphorischem Adverb: mertvenno belet' „tödlich weiß werden"; Akk. des Substantivs mit Praep. s: s gul'kin nos „mit kleiner Nase", usw. Die Analyse der Resultate der Themabehandlung bei Glazyrin und Nevedomskaja zeigt nur Akzentverschiebungen, im ersten Fall wird v. a. im Hinblick auf die Typologie, im zweiten Fall auf die konkrete Ubersetzungstätigkeit hin formuliert. Jedenfalls aber zeigen die Vergleiche jedesmal besondere Eigenheiten der jeweiligen Sprache, v. a. in struktureller Hinsicht. Die These von Pekler, nach der jeder neue Sprachvergleich neue Klassifikationen erzwingt (s. u. 7.2.3.3.) scheint hier bestätigt. Andererseits zeigen aber solche Arbeiten auch die Grenzen der kontrastiven Analyse: es sind keine spektakulären Erkenntnisse, v. a. bezüglich typologischer Probleme zu erwarten. Die

307

Gegenüberstellung von Mikrosystemen dieser Art hat jedoch durch die systematische Darlegung vieler einzelner Fakten einen zweifellos praktischen Wert. 7.2.3.3. Zwischensprachliche Idiomatizität Im Zentrum der kontrastiven Analyse von Russisch und Deutsch (Typ Verb + Substantiv) mit typologischer Zielsetzung stehen bei Pekler (1967) die Begriffe der Verbindbarkeit und Idiomatizität und ihre quantitative Erfaßbarkeit und Nutzbarmachung in zwischensprachlichen Vergleichen. Pekler verwendet ein gewaltiges Textkorpus von russischen Texten und entsprechenden deutschen Übersetzungen. Seine Arbeit ist in sprachtheoretischer, typologischer und übersetzungstheoretischer Hinsicht wichtig, und es ist zu bedauern, daß die Arbeit nicht gedruckt zur Verfügung steht. Seine zahlreichen Zahlenwerte können hier nicht wiedergegeben werden, und Ausschnitte davon würden einen verzerrten Eindruck von den Resultaten ergeben. Deshalb werden hier v. a. seine Ausführungen zur Quantifizierbarkeit der zwischensprachlichen Idiomatizität wiedergegeben. Verbindbarkeit von Lexemen versteht Pekler als ihre Distribution auf lexematischer Ebene (1967, S. 1); der Begriff kann aus mehreren Gründen in der Phraseologie Verwendung finden: — Auch in der lexematischen Verbindbarkeit von Lexemen ist die Divergenz zwischen inhaltlicher und formaler Struktur zu spüren. — Die Begriffe von Festigkeit und Idiomatizität sind auch innerhalb der Verbindbarkeit anwendbar. — Der Unterschied phraseologisch/nicht phraseologisch ist auch quantitativer Natur. — Nicht nur die Phraseologie (im traditionell engen Sinn), sondern die Verbindbarkeit der Lexeme überhaupt ist sprachspezifisch. Pekler wählt die häufigsten russischen Verben mit ihrer häufig entleerten Semantik als Ausgangspunkt und vergleicht sie mit allen deutschen Übersetzungen. Diese Übersetzungen können als Beschreibungsmittel für die

308

Kontrastive Phraseologie

Eigenschaften der Verben der Ausgangssprache benutzt werden (in der kontrastiven Lexikologie schon häufig angewandt, vgl. zuletzt Gak 1977).

„gewinnen" gilt als unikale Übersetzung, „einnehmen" wird 3 x gezählt bei der Berechnung des idiomatischen Potentials. Zudem ist brat' als „gewinnen" absolut idiomatisch.

Zwischen russ.-dt. sind dabei „triviale" Paare festzustellen: delat' — „machen", brat' — „nehmen", davat' — „geben" in Verbindungen wie dat' knigu „ein Buch geben", die nicht untersucht werden. Beim Vorliegen von Konnotationen lohnt sich der Vergleich: dat' boj „eine Schlacht liefern", wörtl. „geben", irrtet' pretenzii „Ansprüche erheben", wörtl. „haben", vzjat' storonu „Partei nehmen", wörtl. „die Seite nehmen".

Dabei kann nun beobachtet werden, daß die Idiomatizität (d. h. die nicht regulären Übersetzungen) umgekehrt zur Häufigkeit der Verbindungen zunehmen, d. h. die verglichenen Sprachen sind in bezug auf die häufigeren Elemente einander näher als in bezug auf die weniger verwendeten.

Im Vordergrund des Vergleichs stehen die Verben, weil die Semantik der Verbindungen des Typs V + S mit den häufigsten Verben v. a. durch das Substantiv bestimmt wird, die Verben aber nur vage die Tätigkeitsfunktion ausdrücken. Das Objekt der Tätigkeit ist spezifizierter und wird meist auch trivial übersetzt. Betrachtet man die trivialen Übersetzungspaare, fällt auf, daß irrtet' „haben", najti „finden", polucat' „erhalten" zu 5 0 % trivial übersetzt werden, vesti „führen" ζ. B. aber bereits nur zu einem Drittel. Nicht-triviale, markierte Verbalentsprechungen sind dann ein Signal für die zwischensprachliche Idiomatizität: vgl. zu najti „finden": najti sledy „Spuren finden", aber polucit' pomosc' „Hilfe finden". Ausgangspunkt der Messung der zwischensprachlichen Idiomatizität ist die Zahl der trivialen Fälle, die Zahl der nicht-regulären Entsprechungen und ihr prozentuales Verhältnis. Jedes verbale Lexem des Russischen verfügt über ein idiomatisches Potential, errechnet aus der Häufigkeit des gegebenen verbalen Lexems in den russischen Texten und der Häufigkeit der regulären Ubersetzungen. Dabei sind jedoch die Substantive miteinzubeziehen, denn es ergeben sich Fälle wie die folgenden Paare russ. brat' („nehmen")

27 X „gewinnen" 3 x „einnehmen"

wobei aber 2 7 X immer brat'/(vzjat') verch „die Oberhand gewinnen", aber brat' „einnehmen" in (brat')/vzjat' gorod („Stadt"), pozicii („Position"), krepost' („Festung").

Zwischen den verglichenen Sprachen können auch besondere Synonymie- und Polysemiebeziehungen aufgestellt werden: ζ. B. (a) delat' rasporazenie davat' ukazanie

„eine Anweisung geben"

(b) delat' doklad

„einen Vortrag halten" „Rechenschaft ablegen"

ΖΖΓ

Im ersten Fall besteht innersprachliche und zwischensprachliche Synonymie, im zweiten Fall ist die russische Verbindung zwischensprachlich polysem. Auch dieser Aspekt kann zur Bestimmung der Nähe zweier Sprachen verwendet werden. Prinzipiell sind also die Begriffe der Polysemie, Synonymie und Idiomatizität relativ in bezug auf eine andere Sprache zu sehen (auch Metasprache!), vgl. ζ. B. delat' progulku ist regulär (nicht idiomatisch) zu dt. einen Spaziergang machen, aber idiomatisch zu engl, have a walk. Dieses Verfahren kann auch bei mehreren Übersetzungssprachen innerhalb der semantischen Typologie Anwendung finden. Für die Analyse der Ausgangssprache werden solche Übersetzungsanalysen zu Bestimmungsmitteln der semantischen Nähe von Wörtern: Vgl. brat' wird übersetzt mit „abnehmen", „aufnehmen", „bekommen" usw. (brat' regulär „nehmen"), delat' mit „abgeben", „durchführen", „erfüllen" usw. [delat' regulär „machen"), polucat' mit „ablegen" „abnehmen" „aufnehmen" (polucat' regulär „erhalten"). Die Anzahl der gemeinsamen Übersetzungen ergibt das M a ß der semantischen Nähe zweier

Kontrast zwischen verschiedenen Sprachen

Wörter. Hierbei wird klar, daß verschiedene Sprachen (auch Metasprachen) verschiedene semantische Entfernungen aufzeigen, d. h. die Wörter verschieden klassifizieren. Die Methode von Pekler zeigt auch in dieser verkürzten Darstellung deutlich, wie die Analyse von Übersetzungen unter Berücksichtigung der quantitativen Verhältnisse zu einem tauglichen Instrument der typologischen Semantik werden kann.

7.2.4. Schlußbemerkungen Was die kontrastive phraseologische Forschung braucht, sind paradoxerweise praktische Arbeiten: Zu wenig Überlegungen wurden bis heute angestellt, wie sich der Sprachstudent die Phraseologie einer Fremdsprache aneignen könnte. Die Resultate der kontrastiven Untersuchungen sind in den Lehrbüchern kaum vertreten. Aber gerade ein solcher praktischer Standpunkt würde die wesentlichsten kontrastiven phraseologischen Probleme spürbar werden lassen: die Verwendung der Phraseologismen in Abhängigkeit von Textsorte und Situation, ihre stilistische Beurteilung, ihre soziale Verwendbarkeit und die Spezifik ihrer inneren Form, zu der auch national-spezifische kulturelle Einheiten gehören. Ziel des Fremdsprachenunterrichts ist es u. a. auch (wenn auch auf einer relativ „hohen Stufe"), den Gesprächspartner auf Grund seiner Sprache beurteilen zu können (Bildungsstand, soziale Schicht u. ä.), d. h. es müssen lexikographisch auch die umgangssprachlichen Phraseologismen aufgearbeitet werden. Arbeiten zur kontrastiven Phraseologie wie die oben referierten kennt die sowjetische Phraseologieforschung inzwischen in stattlicher Anzahl. Erwähnt seien u. a. Murzel' (1970), Rusakova (1970, Popovic (1967), Dolgopolov (1973), Milechina (1974). Sie unterscheiden sich prinzipiell in den von ihnen angewandten Methoden von den hier ausgewählten nicht. Bis ihre Resultate in eine phraseologische Typologie eingebaut werden können, sind noch gleichartige Untersuchungen zu vielen Sprachen durchzuführen.

309

7.3. Übersetzungsverfahren Es ist einleuchtend, daß das Inventar möglicher Übersetzungsverfahren im Bereich der Phraseologie abhängt von den oben (7.2.) beschriebenen kontrastiv-strukturellen Beziehungen der beiden Sprachen, genauer: den Äquivalenztypen und ihrer Distribution. Darüberhinaus wird die Wahl des Übersetzungsverfahrens beeinflußt vom jeweiligen Textzusammenhang. Unter Umständen kann es besser sein, einen Phraseologismus zu umschreiben, als durch einen zielsprachspezifischen Ausdruck eine dem Kontext fremde Bildlichkeit hineinzubringen. Bedeutend erschwert, wenn nicht verunmöglicht, wird eine adäquate Übersetzung, wenn der Phraseologismus nicht in normaler, sondern in modifizierter Form verwendet ist.

7.3.1. Normale Verwendung Ganz grob lassen sich drei hauptsächliche Möglichkeiten des Ubersetzens von Phraseologismen unterscheiden: ,,a) wörtliche Übersetzung, die in der Zielsprache einen bedeutungsäquivalenten Phraseologismus ergibt; b) Substitution mit einem fest zugeordneten Phraseologismus oder einer relativ sinnentsprechenden Wendung; c) nicht-phraseologische Umschreibung der ausgangssprachlichen Wendung ( . . .)" (Koller 1972, S. 120; vgl. auch Koller 1979). Wir geben einige Beispiele aus narrativen Texten: zu a) Hans Schnier, der Clown in Heinrich Bolls „Ansichten eines Clowns" hat eine Nummer „Der General" einstudiert, die er dann aber wieder fallen läßt, da er nach der Aufführung von der menschlichen Begegnung mit einer alten Generalswitwe berührt ist. Die Presse, die sich Linkspresse nennt, schrieb daraufhin, ich habe mich offenbar von der Reaktion einschüchtern lassen, die Presse, die sich Rechtspresse nennt, schrieb, ich hätte wohl eingesehen, daß

310

Kontrastive Phraseologie

ich dem Osten in die Hand spiele, und die unabhängige Presse schrieb, ich habe offensichtlich jeglicher Radikalität und dem Engagement abgeschworen. (S. 265) Whereupon the press calling itself Left Wing wrote that I had apparently been intimidated by the reactionaries, the press calling itself Right Wing wrote that I had doubtless realized I was playing into the hands of the East, and the independent press wrote that I had obviously renounced radicalism and personal involvement in any form. (S. 215) (Geringe Abweichung durch den Unterschied Singular — Plural). Anders gelagert ist der folgende Fall: In „The Labours of Hercules" von Agatha Christie wird die Geschichte eines falschen Skandals erzählt, der um Mrs. Ferrier, die Frau eines bekannten Politikers, aufgebauscht worden ist. Mrs. Ferrier had gone off with an Argentine dancer. She had been seen in Paris, doped. She had been taking drugs for years. She drank like a fish. (S. 114) Mrs. Ferrier ist mit einem argentinischen Eintänzer durchgegangen. Man hat sie in Paris ganz benebelt gesehen. Sie nahm schon seit mehreren Jahren Opiate. Sie trank wie ein Fisch. (S. 116) Auf die allgemeinen Übersetzungsmängel dieser Stelle kann im einzelnen nicht eingegangen werden. Bemerkenswert an diesem Beispiel ist, daß die wörtliche Ubersetzung des englischen Phras. (dt. wie ein Loch saufen), die von einer offensichtlichen Unkenntnis des Ausdrucks herrührt, keinen Phraseologismus ergibt, trotzdem aber, da sie nicht wörtlich interpretiert werden kann, wie ein Phraseologismus wirkt, dessen Bedeutung jedoch unklar bleibt und allenfalls allgemein als Verstärkung interpretiert werden kann. zu b) Die folgenden Beispiele sind aus Heinrich Boll „Ansichten eines Clowns": 1) Hans Schnier reflektiert über seinen Vater. Er war wirklich Millionär, das hatte Maries Vater mir genau erklärt und mir einmal vorgerechnet. Ich erinnerte mich nicht mehr genau. Er hatte überall Aktien und die ,Hände drin'. Sogar in dieser Badezeugfabrik. (S. 187)

He really was a millionaire, Marie's father had carefully explained it to me and worked it all out once when I was there. I didn't remember exactly. He had shares and ,a finger in the pie' all over the place. Even in this bath stuff factory. (S. 150) 2) Hans Schnier entdeckt in der Zeitung eine Notiz über Herbert Kalick, der schon als Mitschüler mit den Nationalsozialisten kollaborierte, nach dem Krieg aber umspurte. Ich wußte, daß er ein hohes Tier geworden war. In der Abendzeitung stand, er habe das Bundesverdienstkreuz bekommen wegen ,seiner Verdienste um die Verbreitung des demokratischen Gedankens in der Jugend'. (S. 223) I knew he had meanwhile become a big shot. It said in the paper that he had been awarded the Federal Cross of Merit for ,his services in spreading democratic ideas among the young'. (S. 181) zu c) Folgender Abschnitt aus Agatha Christies „The Labours of Hercules" zeigt deutlich, wie Phraseologismen dazu benützt werden können, die Sprechweise einer Figur zu charakterisieren. Hier sind es auch amerikanische Slangausdrücke (2,8), die dazu beitragen sollen, das Charakterbild eines großmauligen, aufschneiderischen Typs zu zeichnen. Die Umschreibung kann diese Wirkung nicht in demselben Maß wiedergeben. (1) ist übrigens — in irrtümlicher Anlehnung von Kot an dirt, falsch übersetzt. To give dirt = „alle unangenehmen Einzelheiten einer Sache mitteilen", durch den Kot ziehen = „jemanden schlecht behandeln, seinen Ruf schänden". Percy Perry, der Herausgeber eines Sensationsblattes, erwartet den Detektiv Hercule Poirot: Percy Perry, editor of the ,X-ray News', sat behind his desk smoking. He was a small man with a face like a weasel. He was saying in a soft, oily voice: „We'll give them dirt (1), all right. Lovely — lovely! Oh boy!" His second-in-command, a thin, spectacled youth, said uneasily: „You're not nervous?" „Expecting strong arm stuff (2)? Not them. Haven't got the nerve (3). Wouldn't do them any good, either. Not the way we've got it farmed out (4) — in this country and on the Continent and in America."

Übersetzungsverfahren The other said: „They must be in a pretty good stew (5). Won't they do anything?" „They'll send someone to talk pretty (6)" — A buzzer sounded. Percy Perry picked up a receiver. He said: „Who do you say? Right, send him up." He put the receiver down - grinned. „They've got that high-toned Belgian dick on to it. He's coming up to do his stuff (7). Wants to know if we'll play ball (8)." (S. 108/109) Percy Perry, der Herausgeber der ,X-Ray-News', saß rauchend an seinem Schreibtisch. Er war ein kleiner Mann mit einem Gesicht wie eine Maus. Er sagte mit einer sanften, öligen Stimme: „Wir werden uns nicht genieren, wir werden sie ordentlich durch den Kot ziehen (1). Wunderbar — wunderbar, mein Junge." Sein Adlatus, ein magerer bebrillter Jüngling, wandte besorgt ein: „Haben Sie keine Angst?" „Vor tätlichen Angriffen (2)? Das tun sie nicht. Dazu haben sie nicht den Mut (3). Es würde ihnen auch nichts helfen. Nicht wie wir die Sache aufgezogen haben (4) - hier und auf dem Kontinent und in Amerika." „Sie müssen in einer schönen Aufregung sein (5)", meinte der andere. „Werden sie denn gar nichts unternehmen?" „Sie werden jemanden zur Beschwichtigung schicken (6)." Ein Telefon klingelte. Percy Perry nahm den Hörer ab: „Wer sagen Sie? Gut, schicken Sie ihn herauf." Er legte grinsend den Hörer auf. „Sie haben den piekfeinen belgischen Spürhund engagiert. Er kommt jetzt herauf, uns etwas vorzuquatschen (7). Er will wissen, ob bei uns etwas zu erreichen ist (8)." (S. 111)

7.3.2. Sprachspiel Besondere Probleme des Übersetzens stellen sich — über die strukturellen Bedingungen hinaus —, wenn der Phraseologismus des Ausgangstextes nicht in seiner normalen lexikalisch-syntaktischen Form, sondern in irgendeiner Weise „modifiziert" (vgl. 3.2.2.) auftritt, insbesondere dann, wenn es sich um ein vom Autor intendiertes Spiel mit Sprache, ein Spiel mit den potentiellen Bedeutungsebenen des Phraseologismus handelt.

311

Wir geben einige Beispiele aus den Romanen „Die Blechtrommel" und „Hundejahre" von G. Grass. (1) Oskar beschreibt die Wohnung der Lina Greff: Diese Zierdeckchen, wappenbestickten Kissen, in Sofaecken lauernde Käthe-Kruse-Puppen, Stofftiere, wohin man auch trat, Porzellan, das nach einem Elephanten verlangte, Reiseandenken in jeder Blickrichtung, angefangenes Gehäkeltes, Gesticktes, Besticktes, Geflochtenes, Geknotetes, Geklöppeltes, und mit Mausezähnchen Umrandetes. (Blechtrommel, S. 102) Those ornamental coverlets, those cushions embroidered with coats-of-arms, those Käthe Kruse dolls lurking in sofa corners, those plush animals wheresoever one turned, that china, crying out for a bull, those ubiquitous travel souvenirs, those beginnings of knitting, crocheting, and embroidery, of plaiting, knotting, and lacework. (S. 89) Die im Englischen fast wörtliche Entsprechung

(sich wie ein Elephant im Porzellanladen benehmen - to behave like a bull in a china shop) ermöglicht eine erstaunlich adäquate Übersetzung. Das crying out setzt übrigens im englischen Text einen gewissen Akzent der Übertreibung, was aber sehr gut in diese Stelle paßt. (2) Solche Übereinstimmungen zwischen zwei Ausdrücken sind Glücksfälle. Das folgende Sprachspiel ist unmöglich nachzuvollziehen, da sich die beiden zugeordneten Phraseologismen in ihren Bildern nicht entsprechen: sich ins Fäustchen lachen to laugh up one's sleeve Eddi Amsel — mit seinen kleinen Fäusten — wurde Faustballspieler: Diese kleine weiche Faust, dieses Fäustchen, gut zum Hineinlachen, Faust, die nie auf den Tisch schlug. (Hundejahre, S. 200) That soft little fist, that fistling, good for concealing a private laugh, that fist, that never pounded a table. (S. 168) Der englische Text muß vordergründig blei-

ben, da mit fistling und concealing α private laugh keine Assoziationen an einen phraseologischen Ausdruck geweckt werden.

312

Kontrastive Phraseologie

(3) Sozusagen kapituliert hat der Übersetzer vor der Tatsache, daß es keinen entsprechenden englischen Phraseologismus gibt, bei folgendem Abschnitt: er hat ihn einfach weggelassen! (S. 85) „ M a n wird schließlich nicht müde, die Existenzberechtigung eines großen und kleinen ABC durch einen großen und kleinen Katechismus, durch ein großes und kleines Einmaleins zu belegen, und bei Staatsbesuchen spricht man, je nachdem wie groß der Aufmarsch dekorierter Diplomaten und Würdenträger ist, von einem großen oder kleinen Bahnhof." (Blechtrommel S. 97)

Gespielt wird hier mit den Wörtern groß und klein, die zunehmend abstraktere Bedeutung annehmen. Das große ABC wird noch groß geschrieben, aber das große Einmaleins hat mit groß im üblichen Sinne nicht mehr viel zu tun. Das Ganze läuft auf die Pointe hinaus, daß in der Opposition großer und kleiner Bahnhof der phraseologische Ausdruck großer Bahnhof („aufwendige Empfangsfeierlichkeiten") konkretisiert wird — als handelte es sich wirklich um eine große Bahnhofanlage. Für den Ausdruck großer Bahnhof hat nun das Englische keinen phraseologischen Ausdruck zur Verfügung, sondern nur Umschreibungen wie ceremonious reception, red carpet treatment. Damit wird wirklich eine auch nur annähernde Übersetzung dieser witzigen Stelle verunmöglicht. Hinzu kommt, daß groß und klein in der Verbindung mit Katechismus und Einmaleins nicht einfach als big und little übersetzt werden können, wie dies zur Not bei ABC möglich ist (big and little alphabet). Die englischen Entsprechungen sind Large Catechism — Small Catechism, the multiplication tables up to twenty-five — the multiplication tables up to ten. Ob es trotz dieser Schwierigkeiten zulässig ist, in einer Übersetzung eine ganze Stelle ohne Vermerk wegzulassen, sei dahingestellt. (4) Daß sich deutsche und englische Phraseologismen nicht entsprechen, kann nicht nur die Übersetzung eines einzelnen Sprachspiels verunmöglichen, sondern auch für ein ganzes Kapitel Konsequenzen haben. In „Hundejahre" ist das Kapitel „Die siebenundachtzigste wurmstichige Materniade" (S. 490—514) —

eine Persiflage des deutschen Wirtschaftswunders — durchzogen von Anspielungen auf den Ausdruck da ist der Wurm drin (vgl. 3.2.4.). Leitmotivisch kehrt auch der Satz wieder: Hört nicht auf den Wurm, im Wurm ist der Wurm!. Das Englische kennt für da ist der Wurm drin die Wendung there is something rotten in it. Die Assoziationen zwischen Mehlwurm, da ist der Wurm drin, wurmstichig, die durchs ganze Kapitel hindurch ständig hergestellt werden, sind also im Englischen nicht möglich (S. 4 0 5 - 4 2 5 ) . Im Versuch, dem Original gerecht zu werden, hat der Übersetzer wörtlich übersetzt: Don't listen to the worm. There's a worm in the worm. Der Leser mag wohl auch worm als Zeichen verstehen für den Keim der Verderbnis in einer Sache, aber es fehlt im englischen Text der motivierende Hintergrund des Idioms. (5) In Heinrich Bolls „Ansichten eines Clowns" hat der terminologische Ausdruck für das Spiel „Mensch-ärgere-dich-nicht" sogar für den ganzen Roman Leitmotivcharakter. ( . . . ) wenn ich anfange, nur an die Sache zu denken, die ich mit Marie tue, oder an Bier, fallende Blätter

im Herbst, an Mensch-ärgere-dich-nicht oder an etwas Kitschiges, vielleicht Sentimentales, fängt irgendein Fredebeul oder Sommerwild von Kunst an. (S. 120/121) ( . . .) when I begin thinking only about the thing I do with Marie, or about beer, or falling leaves in autumn, about parchesi or some corny, perhaps sentimental thing, some Fredebeul or Sommerwild brings up the subject of art. (S. 93)

Wichtig ist, daß der Ausdruck sowohl als Bezeichnung für das Spiel wie auch im wörtlichen Sinn verstanden werden kann:,Mensch, ärgere dich nicht'. Das Spiel wird so Exponent einer Lebenshaltung der Gelassenheit und des Genießens, des unseriösen Nichtstuns. Im Gegensatz dazu steht der tierische Ernst der arbeitsamen Deutschen, die auch jeweils mit einer Mischung aus „Angst" und „Wut" auf die beiden Spielenden reagieren. Für Hans Schnier ist das Spiel eine Sache, die neben heißen Bädern, Bier, Zigaretten, Kinos und Abendzeitungen zu den höchsten Gütern gehört. Immer wenn das Spiel „Mensch-ägere-dich-

Ubersetzungsverfahren

313

nicht" vorkommt, ist auch der ganze Bedeu-

Englischen als zu vorherrschend empfunden

tungsbereich dieser „Lebensphilosophie" an-

wird.

gesprochen. Die Übersetzung mit parchesi

(der

Name ist im Englischen vom altindischen Spiel „pachisi" übernommen) ist zwar die einzig korrekte und mögliche, aber es entfällt der symbolische Charakter des „Mensch-ärgeredich-nicht" völlig. (6) Nicht immer aber ist es die Sprache, die zu einer flachen Ubersetzung zwingt. An manchen Stellen, scheint uns, wäre ein dem Deutschen nahekommendes Sprachspiel möglich gewesen, wenn der Übersetzer wirklich auf den englischen Phraseologismus zurückgegriffen hätte. Oskar und sein Freund Klepp haben es sich zur Gewohnheit gemacht, nach jedem Kinobesuch die Trauer in ihren Gesichtern auf Paßfotos festzuhalten, und anschließend, bei Bier und Bratwurst, die Bilder zu zerschneiden und neu zusammenzusetzen. Wir knickten, falteten, zerschnitten mit Scheren, die wir eigens zu diesem Zweck immer bei uns trugen, die Bildchen. Wir setzten ältere und neuere Konterfeie zusammen, gaben uns einäugig, dreiäugig, beohrten uns mit Nasen, sprachen oder schwiegen mit dem rechten Ohr und boten dem Kinn die Stirn. (Blechtrommel, S. 56) We bent and folded the pictures, and cut them up with the little scissors we carried about with us for this purpose. We juxtaposed old and new pictures, made ourselves one-eyed or three-eyed, put noses on ears, made our exposed right ears into organs of speech or silence, combined chins and foreheads. (S. 52) Der 'Schluß des letzten Satzes ist dem vordergründigen Sinn nach richtig übersetzt, aber das verblüffende Spiel mit dem Phraseologismus jemandem die Stirn bieten fällt weg. Eine der englischen Entsprechungen dafür heißt to show a bold front to somebody. Damit wäre folgende Version möglich: . . . put noses on ears, made our exposed right ears into organs of speech or silence and showed our chins a bold front. front wird zwar nur noch poetisch für Stirn verwendet. Es bleibt somit zu bedenken, daß der phraseologische Sinn möglicherweise im

(7) Gelegentlich

erkennt oder versteht der

Übersetzer das Sprachspiel mit einem Phraseologismus nicht, und so übersetzt er wörtlich. Je nach Phraseologismus kann dies zu einer grotesken Gegenständlichkeit führen, wie zum Beispiel an folgender Stelle. Herbert warf sich in Schale, (. . .) bespritzte den weißen Seidenshawl, den er aus dem Freihafen hatte, mit Eau de Cologne, welches gleichfalls auf dem zollfreien Mist des Freihafens gewachsen war, und stand bald vierkant und steif unter der blauen Schirmmütze. (Blechtrommel, S. 222) He threw on his duds, (. . .) sprinkled the white scarf from the Free Port with cologne which had ripened on the duty-free dungheap of the Free Port, and soon stood there ready to go, stiff and square in his blue visor cap. (S. 185) Der Phraseologismus etwas ist nicht auf jemandes Mist gewachsen (,eine Sache, Idee stammt nicht von jemandem'), wird ungebräuchlich affirmativ verwendet, das heißt, das Eau de Cologne stammt wirklich aus dem Freihafen. Zudem ist der Ausdruck erweitert (zollfrei) und unverträglich verknüpft (Objekt: Freihafen, anstelle eines Menschen). Durch diese zusätzlichen Bedeutungsnuancen wird der wörtliche Sinn stark angesprochen, so daß man auch an einen realen Mist(haufen) auf dem Gelände des Freihafens denken kann. Im englischen Text, der nur diesen wörtlichen Sinn wiedergibt, bleibt es aber völlig uneinsichtig, warum das Eau de Cologne gerade auf einem Misthaufen gereift sein sollte. Als äquivalenter Phraseologismus käme zum Beispiel

not to be somebody's

brain wave in Frage,

hier aber für die Übersetzung nicht brauchbar. Möglich scheint am Ende nur eine sinngemäße Wiedergabe, die auf das Sprachspiel verzichtet. He threw on his duds . . . sprinkled the white silk scarf from the Free Port with cologne which he had from there, too, and soon stood there ready to go, stiff and square in his blue visor cap. Auch bei der folgenden Stelle entsteht durch die wörtliche Übersetzung ein Bild von surrealer Absurdität. Oskar wird Zeuge der Zer-

314

Kontrastive Phraseologie

Störung der polnischen Post in Danzig durch die SS-Heimwehr. Da patroullierte nur Oskar, war wehrlos und ohne Trommel dem Geschichte machenden Introitus einer viel zu frühen Morgenstunde ausgesetzt, die allenfalls Blei, aber kein Gold im Munde trug. (Blechtrommel, S. 270) Oskar patrolled alone, drumless and defenseless he faced the history-making introitus of the early, far too early hour, which carried plenty of lead, but alas, no gold in its mouth. (S. 223)

Das dem Sinn nach gleiche Sprichwort zu Morgenstund hat Gold im Mund heißt im Englischen the early bird catches the worm. Denkbar wäre somit ein Versuch, das Sprachspiel zu imitieren: Oskar patrolled alone, drumless and defenseless he faced the history-making introitus of the early, far too early hour, where the early bird was rather catching leaden bullets than worms.

(8) Interessant ist auch, daß nicht nur die Verschiedenheit der Metaphorik die Übersetzung erschwert, sondern daß auch die unterschiedliche Syntax des Deutschen und Englischen Konsequenzen für das Sprachspiel hat. Sehr deutlich wird dies bei der Ellipse. Da im englischen Phraseologismus zuerst das Verb steht, fällt nicht dieses weg, sondern der Rest des Phraseologismus. Die Ergänzung drängt sich weniger auf, scheint weniger zwingend zu sein als im Deutschen. Dies könnte damit zusammenhängen, daß das Verb in der Bedeutungshierarchie eines Satzes eine hohe Stelle einnimmt, sein Ausfall demnach stärker empfunden wird als der Ausfall der Verbergänzung. a) — das eigene Νest beschmutzen — to foul one's own nest

Revolution immer nur in der Musik und niemals das eigene Nest. (Hundejahre, S. 523) Revolutions only in music, but never want to foul their own. (S. 432) b) — jemanden auf die Schippe nehmen/laden — to pull somebody's leg An was soll ich mich? Wollen mich wohl auf die Schippe? (Hundejahre, S. 627) What am I supposed to? Are you trying to pull? (S. 518) c)

~ gegen Windmühlen kämpfen — to tilt against windmills Wollen partout die Kirche im Dorf und niemals gegen Windmühlen (Hundejahre, S. 522) Determined to let well enough alone and never to tilt against. (S. 432)

Der Ubersetzungsvergleich phraseologischer Ausdrücke macht evident, wie selten alle Bedeutungsdimensionen in der Übersetzung wiedergegeben werden können. Gerade Phraseologismen, mit ihren für jede Sprache charakteristischen expressiven, bildhaften, klanglichen Qualitäten, lassen die Problematik des Übersetzens deutlich werden. Verschärft wird die Problematik dort, wo diese Qualitäten spielerisch ausgenutzt und in der Absicht humoristischer Wirkung bewußt freigesetzt werden. Hier muß sich Übersetzen als Kunst erweisen, Kunst vor allem auch des Verstehens, denn wie die Beispiele zeigen, ist es nicht selbstverständlich, daß Sprachspiele mit Phraseologismen als solche erkannt und in ihrem Aufbau durchschaut werden. Bei aller Kunstfertigkeit wird es aber immer auch eine Frage des Zufalls bleiben, ob in der Zielsprache gerade ein Phraseologismus vorliegt, der ein identisches oder ähnliches Spiel mit der Sprache erlaubt.

8. Historische Phraseologie Da zum Problembereich der historischen Phraseologie in der sowjetischen Forschung eine Fülle von Arbeiten vorliegt, die noch nicht in einer deutschsprachigen (oder sonstigen westlichen) Zusammenfassung zugänglich sind, werden wir vor allem in 8.1.2. einige Ergebnisse dieses Forschungszweiges sichten. Im zweiten Teil wird, anhand von Material aus der deutschen Sprachgeschichte, das methodische Problem behandelt, wie sich Phraseologismen in älteren Texten auffinden und identifizieren lassen. Entsprechend der allgemein in diesem Buch vertretenen Tendenz sind wir auch für die Historiographie der Meinung, daß phraseologische Untersuchungen künftig stärker an Texten orientiert sein sollten (stärker auch, als dies in der sowjetischen Forschung bisher der Fall war), damit die Phraseologisierungsprozesse in den konkreten historischen Situationen beobachtet werden können und keine voreiligen Abstraktionen und Generalisierungen vorgenommen werden. Arbeit an Texten aber setzt voraus, daß man sich über die methodischen Probleme des Auffindens und Identifizierens von Phraseologismen im klaren ist, ein Aspekt der historischen Phraseologie, der in der sowjetischen Forschung wenig beachtet worden ist. Für eine detailliertere Darstellung historischer Phraseologisierungsprozesse in der deutschen Sprache — einschließlich jener Prozesse, die dann auch wieder zur Auflösung bzw. zum Verlorengehen von Phraseologismen führen — sei auf Burger/Linke (1982) verwiesen.

8.1. Ergebnisse und Diskussion der sowjetischen Forschung Die folgenden Ausführungen beschränken sich auf die uns am wichtigsten scheinenden

Aspekte. Sie sollen nicht als umfassender Forschungsbericht verstanden werden. Viele slawistische (russistische) Problemkreise bleiben ausgeschlossen. Unter Berücksichtigung der gesamten phraseologischen Literatur zu historischen Fragen wurde eine Auswahl mit illustrativem Charakter getroffen. Die gesamte Literatur ist angeführt in Bibliografie I—VI und Slavjanskoe Jazykoznanie (zuletzt 1980).

8.1.1. Die phraseologischen Merkmale und die Entstehung phraseologischer Wortverbindungen Jede Sprache weist Phraseologismen auf. Phraseologismen entstehen beim Gebrauch der sprachlichen Zeichen obligatorisch. Phraseologismen sind besondere sprachliche Zeichentypen, die sich im Verlauf des Gebrauchs von Sprache herausbilden. Die Bildung von Phraseologismen ist ein Universale (Rojzenzon 1973, S. 77ff.). Die phraseologischen Zeichentypen weisen besondere phraseologische Merkmale auf. Die Bildung von Phraseologismen ist damit immer auch verbunden mit der Entstehung dieser Merkmale. Zu diesen gehören u. a. die Merkmale der Festigkeit, der Idiomatizität, der Metaphorisierung und der Metonymie (vgl. 3.1.). An sie nun können Fragen nach ihrer Entstehung im sprachlichen Zeichensystem gestellt werden. Ähnliche Fragen zu ihrer Entwicklung werden auch in der historischen Wortforschung und den damit verbundenen Problemen der historischen Semantik gestellt. Die Besonderheit bei Phraseologismen liegt nun aber darin, daß die betreffenden Merkmale für eine ganze Wortverbindung untersucht werden müssen. Im Vergleich zum Wort aber stellt die Wortverbindung ein bedeutend

316

Historische Phraseologie

komplexeres Gebilde dar, sowohl in semantischer als auch in formaler Hinsicht. Die Schwierigkeiten ergeben sich gerade dadurch, daß die Merkmale auf ein ganzes Syntagma zutreffen, das im Satz auch als kommunikative Einheit auftritt und das eine dem Wort gegenüber besondere hierarchische Konstituentenstruktur aufweist, deren Beziehungen zueinander durch spezielle grammatische Zeichen ausgedrückt werden. Im Phraseologismus ist die „lexematische Auffüllung" des Syntagmas vorgegeben, und die für die Entstehung von Phraseologismen wichtigste Frage liegt darin, wie es zu dieser Auffüllung kommt, d. h. wie sich ein Syntagma zur festen Wortverbindung entwickelt, so daß sie sich im Text als besondere sprachliche Einheit erkennen läßt. Sprachliche bedeutungstragende Einheiten müssen über ein gewisses Maß von Invarianz verfügen, um die mit ihnen verbundene Bedeutung ausdrücken zu können. Das ist am leichtesten bei den Morphemen zu beobachten. Rein formal kann das Morphem als feste Verbindung von Phonemen bezeichnet werden. Mit „fest" ist gemeint, daß die Kohäsion zwischen diesen Phonemen stärker ist als zwischen Phonemen, die nicht dem gleichen Morphem angehören. (Der Begriff der Kohäsion ist der sprachtheoretischen Richtung der Glottometrie entnommen, wie auch die meisten der damit verbundenen Implikationen, wie sie im folgenden für Wortverbindungen (insbes. phraseologische) ausgeführt werden. Eine gute und lesbare Gesamtdarstellung der Glottometrie findet sich bei Janakiev (1977). Von dort übernommen ist der Begriff „Idiolekt", d. h. Sprache des individuellen Sprachträgers.) Diese Kohäsion ist zunächst eine materielle Eigenschaft und kann gemessen werden. Bei einem Morphem aus zwei Phonemen besteht die Kohäsion aus dem Produkt aus den Wahrscheinlichkeiten, mit der das erste Phonem vor dem zweiten und das zweite Phonem nach dem ersten auftritt. Mit dieser einfachen Operation kann die Glottometrie durch rein arithmetische Größen eine Morphemanalyse des Textes vornehmen. Wichtig im vorliegenden Zusammenhang ist nun, daß sich die Morpheme dadurch im Text abheben, daß die Kohäsion zwischen ihren Phonemen

höher ist als zwischen dem ganzen Morphem und seiner Umgebung. Das heißt nämlich, daß bei einer festen sprachlichen Einheit die Grenzen durch niedrige Kohäsionswerte angezeigt werden. Und dies nun wiederum heißt, daß eine feste Einheit in einem bestimmten Sinn ein unerwartetes sprachliches Ereignis im Text darstellt, denn die niedrige Kohäsion besagt nichts anderes, als daß die betreffende Einheit einen niedrigeren Wahrscheinlichkeitsgrad aufweist, nach bzw. vor einem bestimmten Element aufzutreten, als ein Element innerhalb der betreffenden Einheit. Aus dem Gesagten geht auch indirekt hervor, daß die betreffende „Überraschung" vom jeweiligen Kontext abhängt, denn die Kohäsion wird zwischen allen Elementen eines Textes errechnet. Dieses statistische Verfahren, das im Einzelfall besondere technische, aber keine prinzipiellen Schwierigkeiten stellt, führt nun nicht zufällig zur Bestimmung der bedeutungstragenden Einheiten im Text. Das Verfahren ist die Umkehrung dessen, was im Idiolekt vor sich geht, der sich durch eine bestimmte Art der Analyse von konkreten Verwendungen sprachlicher Zeichen einer bestimmten Sprache aufbaut. Damit eine Einheit als bedeutungstragend erkannt werden kann, muß sie sich vom Text abheben. Deswegen werden ζ. B. anfänglich nur einzelne Wörter gelernt. Jede Verwendung einer einmal erkannten Einheit bestärkt diese Einheit als Einheit, d. h. sie wird immer fester und, je häufiger sie verwendet wird, um so stärker wird die Kohäsion zwischen den Phonemen, aus denen diese Einheit besteht. Bis eine Kompetenz aufgebaut ist, braucht es demnach eine relativ große Anzahl von Zeichenverwendungen, damit aus ihnen die entsprechenden festen Einheiten im Idiolekt hervorgehen können. Der sprachliche Kode ordnet im Idiolekt lautliches Material nach dessen Verwendungsbereichen. Erst wenn die Verwendungsbereiche für eine betreffende feste Einheit bestimmt sind, hat diese ihre signifikative Funktion, welche aber nie endgültig fixiert wird. Jedes sprachliche Ereignis wird auf Grund der angesammelten Erfahrung im Idiolekt analysiert

317

Sowjetische Forschung

und eingeordnet, so daß mit einer Erweiterung des Verwendungsbereiches auch eine Erweiterung der Funktion vorgenommen wird. Die Berücksichtigung des Verwendungsbereiches führt zur Anordnung der betreffenden Einheit in bestimmten Reihen mit anderen Einheiten ähnlicher Verwendungsbereiche.

Solche Reihen lassen sich mit Hilfe von Wörterbüchern erstellen, die ja die Verwendungsbereiche in verkürzter Form festhalten. Berücksichtigt sind dabei: (1) (2) (3) (4) (6) (7) (8)

Die Entstehung der Festigkeit ist unmittelbar mit den Bedingungen der Kommunikation verbunden. Ohne die Konvention der Invarianz bedeutungstragender Einheiten wäre diese nicht möglich. Vom Idiolekt her gesehen ist diese Invarianz (Festigkeit, hoher Kohäsionswert) etwas Gewordenes. Sie ist entstanden aus der Hervorhebung der betreffenden Einheit im Text und ihrer mehrmaligen Verwendung. Registriert ist dann die Einheit in ihrer festen Form und in bezug auf die Verwendungsbereiche, die dazu führen, daß eine Einheit sich am Schnittpunkt assoziativer und paradigmatischer Reihen anderer Einheiten lokalisiert. So etwa für die Einheit utro „der Morgen" (Darstellung nach Piotrovskij 1979, S. 14):

Oppositionen der Antonymie das inhaltliche Umfeld die Synonymreihe und (5) metaphorische Bereiche Wortbildungsparadigma Flexionsparadigma lautliches (reimendes) Paradigma.

Hierzu könnte auch ein Paradigma der assoziierten festen Wortverbindungen wie ν odno prekrasnoe utro „eines schönen Morgens", utro zizni „Morgen des Lebens", utro vecera mudrenee „der Morgen ist klüger als der Abend" geschrieben werden, wie ein auf Wortverbindungsassoziationen gezielter Test nahelegt (Piotrovskij 1979, S. 16). Neben der Erscheinung der Invarianz ist aber komplementär auch jene der Varianz für die Kommunikation unabdingbar. Zunächst 3 usw.

2 noc „Nacht" 1

den' „Tag"

vecer „Abend"

zarja „Dämmerung" I rassvet „Morgendämmerung"

4 nacalo „Anfang"

utro (Morgen)

vesna „Frühling"

nutro „das Innere"

utra „des Morgens"

zautrenja „Matutin"

maestro „Maestro"

utru „dem Morgen"

poutru „morgens"

bystro „schnell"

utrom „durch den Morgen"

utrennij „morgendlich" utrecko „(schwdt.) Mörgeli"

6

318

Historische Phraseologie

ist dies am leichtesten in den obigen Reihen der Assoziationen und Metaphern zu beobachten. Sie können durch kein Kriterium fest abgegrenzt werden. Dann ist aber auch die Denotation des Begriffs utro nicht fest. Einzelne Sprachträger zählen die Tageszeit „11 Uhr 00" noch dazu, andere nicht mehr. Diese Diffusität ist zurückzuführen auf die unendliche Zahl möglicher Situationen, in denen die sprachlichen Einheiten verwendet werden. Die Verwendungsbereiche sind zwar begrenzt, aber diese Begrenzung ist qualitativ nicht fest und quantitativ prinzipiell unbegrenzt. Dies wird dann u. a. auch deutlich in minimalen Kontexten wie den folgenden: Aufbau, Aufsatz, draufgehen, Auflage, Aufschrei, wo das Morphem auf mehr oder weniger stark empfunden wird, was aber auf nichts anderes zurückgeführt werden kann, als auf die unterschiedliche Kohäsion zwischen auf und den nachfolgenden Morphemen, wo ζ. B. -läge stark an auf gebunden ist und sich auf damit als Einheit weniger abhebt. Diese Diffusität macht dann auch die unendliche Verbindbarkeit von gut mit nominalen Syntagmen möglich: gute Zitrone, gute Grammatik, gute alte Tante usw. Varianz und Invarianz haben quantitativen Charakter. Sie entstehen aus den Verwendungen von Kodeeinheiten und verändern sich damit kontinuierlich. Auf dieser Grundlage kann gefragt werden, was der Begriff „Phraseologisierung" in bezug auf die „Entstehung der Festigkeit" bedeutet. Mit Phraseologisierung ist die Entstehung eines Phraseologismus gemeint, d. h. die konkrete historische Produktion dieses besonderen Zeichenkomplexes. Dabei wird abzuklären sein, wie es dazu kommt, daß Wortverbindungen solche Kohäsionen aufweisen, die sie über ihre syntagmatische Konstituentenhierarchie hinaus zu relativ festen Einheiten machen, in denen die Komponenten weniger „empfunden" werden (analog zum Morphem auf oben) und die sich als Einheiten vom Kontext abheben und in den Idiolekt aufgenommen werden als ganze Einheiten. Der Gesichtspunkt beim Begriff „Phraseologisierung" ist synthetisch, die Phraseologisierung setzt sich aus Prozessen zusammen, aus

denen eine neue Einheit hervorgeht, die aus Wörtern besteht. Damit tritt der Prozeß der Phraseologisierung in Parallele zur Wortbildung, aus der ebenfalls neue Einheiten entstehen, die aber auf der Wortseite bleiben. Konkret ist also in bezug auf das Merkmal der Festigkeit zu fragen, wie sie in bezug auf Wortverbindungen zustandekommt. Die Entstehung neuer Einheiten in einer Sprache steht in einem besonderen Verhältnis zur Invarianz der bedeutungstragenden Einheiten in dieser Sprache. Wenn neue Einheiten gebildet werden, werden keine neuen Morpheme erfunden, sondern vorhandene Morpheme werden neu kombiniert oder es werden neue Morpheme aus anderen Sprachen entlehnt. Würde die Sprachgemeinschaft selbst ständig neue Morpheme erfinden, dann würde der Aufbau der Idiolekte immer weitergehen, damit aber würde die Sprache den Charakter eines leicht zu handhabenden Instrumentes zur Kommunikation verlieren. Nicht zufällig ist auch die Entlehnung fremder Einheiten aus anderen Sprachen und ihre Adaption in der eigenen Sprache üblicherweise mit Spezialgebieten aus Wissenschaft und Technik verbunden, d. h. sie gehören ohnehin zunächst in den Rahmen eines Lernprozesses. Das gilt auch für Entlehnungen, die bei der Berührung mit einer fremdsprachlichen Kultur vorgenommen werden. Sonst aber werden neue Einheiten durch Wortbildung und Phraseologisierung gebildet. In der Regel werden dazu die in der Sprache bereits zur Verfügung stehenden Einheiten verwendet. Erster Schritt auf dem Weg zur Phraseologisierung ist die Heraushebung einer Wortverbindung aus dem Text. Durch diese Heraushebung wird der Kohäsionswert der Wortverbindung zur textuellen Umgebung verkleinert, d. h. am Anfang der Entstehung eines Phraseologismus steht immer eine Wortverbindung als unerwartetes sprachliches Ereignis innerhalb eines Kontextes. In der Überraschung ist die niedrige Wahrscheinlichkeit der betreffenden Wortverbindung impliziert, die zur niedrigen Kohäsion der Wortverbindung zum Kontext führt. Die Überraschung stellt nun einen be-

Sowjetische Forschung stimmten Durchbruch der Erfahrung des Idiolekts dar, d. h. seines Wissens, in welchen Verwendungsbereichen seine Wörter auftreten, d. h. bisher aufgetreten sind. Prinzipiell sind zwei Durchbruchsweisen denkbar. Einmal kann der thematische Verwendungsbereich der Wörter durchbrochen werden, der durch den gesamten Kontext, in dem das betreffende Wort oder die betreffende Wortverbindung gebraucht wird, gebildet wird. Dann aber kann auch der syntagmatische Verwendungsbereich durchbrochen werden, d. h. die Funktion des Wortes im Syntagma, das zur festen Wortverbindung werden soll, d. h. es werden Wörter in Wortverbindungen überraschend kombiniert oder außerhalb ihres thematischen Bereichs gebraucht. Aber es ist leicht zu sehen, daß diese beiden Arten von Durchbrüchen aufs engste miteinander verbunden sind. Die Überraschung oder Durchbrechung der Erfahrung ist aber nicht so zu interpretieren, als wäre damit ein „falscher" Gebrauch oder eine „unzulässige" Kombination gegeben. Die Überraschung bezieht sich auf die Erfahrung des Idiolektes, die rein statistischen Charakter hat. Will nun der Idiolekt diese Überraschung einordnen, muß er eine Hypothese zu ihrer Funktion bilden entsprechend den Hypothesen, die zu jedem Textverständnis nötig sind. Im Gegensatz zur Wortbildung (wo ein neues Wort, d. h. eine formal noch nicht dagewesene Einheit geschaffen wird) wird bei "der Phraseologisierung zunächst ein Neologismus in der Verwendung von Wörtern geschaffen. Damit wird aber auch das ganze Syntagma, zu dem das betreffende Wort/die betreffenden Wörter gehören, „Kandidat" für den Phraseologismus, weil das Wort im Syntagma durch syntaktische Kohäsionen gebunden ist (ζ. B. im Syntagmamodell Adjektiv plus Nomen), d. h. syntagmatisch ist immer bereits ein bestimmtes Maß von Kohäsion zwischen den Komponenten einer Wortverbindung vorgegeben. Diese syntaktische Kohäsion gehört aber bereits in den zweiten Aspekt der Kohäsion, der nicht die Grenze der Wortverbindung markiert, sondern die Bindung zwischen den Komponenten. Diese Kohäsion entsteht durch die Stabilität der Verwendung der betreffenden Wortverbindung

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(die in der phraseologischen Forschung als Merkmal der Reproduzierbarkeit gesondert vom Merkmal der Festigkeit behandelt wird, u. E. aber von der als Kohäsion interpretierten Festigkeit nicht zu trennen ist, weil die Festigkeit einer bedeutungstragenden Einheit im Idiolekt durch die stabile Verwendung der betreffenden Einheiten aufgebaut wird und dadurch ihre konventionelle Invarianz erhält, vgl. 3.1.). Der Neologismus muß also durch stabile Verwendung fest werden und erst dann kann er als phraseologische Einheit in den Kode eingeordnet werden. Warum ein Neologismus zu weiterem Gebrauch kommt, ist in jedem Falle abzuklären. Bestimmte außersprachliche soziale Faktoren mögen hier Einfluß haben, ζ. B. der Bekanntheitsgrad des Autors oder des Textes, bestimmte Einstellungen zur Sprache bei Textverfassern wie ζ. B. Journalisten, die ja viele Texte am gleichen Ort für ein relativ konstantes Publikum produzieren, dann die Beliebtheit bestimmter Textsorten wie die der Satire, wie das Jargonverhalten von Halbwüchsigen u. ä. Aber auch an die „Kandidaten" müssen bestimmte Bedingungen gestellt werden: ζ. B. der Bekanntheitsgrad des Subkodes, dem die Einheiten entnommen sind. So ist u. a. zu erklären, daß der politische Subkode sich aus dem Subkode des Theaters, des Sportes, der Meteorologie bereichert. Ihre massenhafte Verbreitung und ihr häufiger Gebrauch erleichtert ihre Vermischung, wobei durch diesen Wechsel der abstraktere Subkode von den konkreteren bereichert zu werden scheint. Syntagmatisch komplexe „Kandidaten" haben die Tendenz zur Vereinfachung. Diese Vereinfachung erleichtert eine stabile Verwendung. „Autorenphraseologismen" (vgl. 2.5.1.) werden ζ. B. häufig verkürzt. (Neben dieser Tendenz der „Implikation" gibt es auch die Tendenz der Explikation, d. h. der Erweiterung zu komplexeren Einheiten, etwa die Entstehung erweiterter individueller Varianten von Phraseologismen bei Schriftstellern. Vgl. v. a. Mokienko 1980, S. 7 6 - 1 2 2 ) . Es wurde hier zu zeigen versucht, daß die Entstehung der Festigkeit einer Wortverbindung zu verbinden ist mit der Entstehung der

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Historische Phraseologie

Invarianz bedeutungstragender sprachlicher Einheiten, die aus einem bestimmten Kohäsionswert zwischen den die Einheit bildenden Komponenten und ihrer Abgrenzung vom Kontext besteht. Diese Kohäsion ist zugleich eine variable Größe. Zur Variabilität führt die Verwendung der Einheit in verschiedenen thematischen Verwendungsbereichen. Variabilität und Invarianz sind damit bei der Entstehung des Phraseologismus direkt in dialektischer Weise beteiligt. Sie werden durch die Kohäsionswerte zwischen den Wörtern im Text faßbar. Der Begriff der Kohäsion erlaubt damit zugleich auch die Vereinigung der Merkmale der Festigkeit und Reproduzierbarkeit des Phraseologismus. Im hier skizzierten Zusammenhang können nun auch die Stellenwerte der anderen in der Phraseologieforschung üblichen Merkmale bestimmt werden. Zunächst ist dabei der Begriff der „Idiomatizität" (in nicht-diachroner Hinsicht vgl. 3.1.) zu untersuchen. Wie bei den Merkmalen der Festigkeit und Reproduzierbarkeit wird das Merkmal im Zusammenhang des Phraseologisierungsprozesses, d. h. von der Entstehung der konkreten phraseologischen Wortverbindung im Text her behandelt. Das Merkmal der Idiomatizität gilt in der phraseologischen Forschung als zentral. Der Phraseologismus, so sagt man, sei in seiner Bedeutung nicht aus der Summe der Bedeutungen der Komponenten ableitbar. Die Summe der Komponentenbedeutungen ergebe nicht die Bedeutung der ganzen phraseologischen Verbindung. Was hierbei zunächst auffällt, ist der statische Gesichtspunkt, unter dem dieses Merkmal gefordert wird. Ausgegangen wird von einer Bedeutung der Komponenten und diese wird der Bedeutung des Ganzen gegenübergestellt. Nicht zufällig ist dieses Merkmal aus der lexikographischen Problematik entstanden, wo den lexikalischen Einträgen eine Bedeutung zugeschrieben werden muß und wo die Phraseologismen deswegen schwierig zu behandeln sind, weil in ihnen den Komponentenbedeutungen eine Bedeutung nur mit vielen Schwierigkeiten zugeschrieben werden kann. In der Lexikographie ist die Bedeutung aber

eine Übersetzung. Die Übersetzung besteht aus metasprachlichen Einheiten, die einer anderen Sprache angehören als die Einheiten der Lexikoneinträge, auch da, wo es sich um einsprachige Wörterbücher handelt. In diesem Sinne handelt es sich nicht um die „Bedeutungen", die im Gehirn des Sprachträgers, d. h. im Idiolekt festgelegt sind. Damit wird die Problematik der Idiomatizität eine metasprachliche Problematik, d. h. eine Problematik der Übersetzung. Die Erscheinung der Idiomatizität entsteht damit aus den deskriptiven Schwierigkeiten des Lexikographen oder Linguisten. Sie betrifft nicht mehr die Erscheinung der Objektsprache, sondern deren Übersetzungen. Die „eigentliche" Bedeutung, d. h. jene des Idiolekts, ist der Beobachtung nicht zugänglich. Was die bisherigen einschlägigen Teste beweisen (vgl. oben utro), betrifft lediglich Relationen zwischen den vom Idiolekt registrierten Einheiten nach Verwendungsbereichen und materiellen Ähnlichkeiten. Die Lexikographie bestimmt die Wörter innerhalb ihrer Syntagmen. Als Illustration ihrer Gruppierungen und Übersetzungen verwendet sie ebenfalls Syntagmen, manchmal bis zu einem ganzen Satz. Das mag für das Wort und als Illustration für seinen Verwendungsbereich genügen. Sobald aber ein ganzes Syntagma übersetzt und erklärt werden soll, ist ein bedeutend größerer Kontext zur Illustration gefordert. Verweise auf Verwendungsbereiche von Syntagmen, wie sie von Phraseologismen gebildet werden, müssen assoziative Reihen und thematische Felder berücksichtigen. Diese Art der Übersetzungen ist also bedeutend komplizierter als für Wörter, und man entgeht ihr nicht, indem man die Bedeutung der Komponenten des betreffenden Syntagmas beschreibt. Damit ist die Idiomatizität u. E. als Problem der Lexikographie für eine systematische Beschreibung der Entstehung von Phraseologismen nicht nutzbar zu machen. Das gilt ja parallel auch für die Komponenten eines Kompositums, wo richtigerweise etwa das Morphem auf in Hausaufgabe nicht etwa im Wörterbuch als eine Verwendung des Wortes auf aufgezählt wird mit der entsprechenden Be-

Sowjetische Forschung

deutung, die ebenso schwierig zu beschreiben wäre wie die Komponenten innerhalb einer durch Phraseologisierung entstandenen Einheit. Ein nach vielen Phraseologen ebenso wichtiges Merkmal von Phraseologismen ist die Metaphorisiertheit der ganzen Verbindung oder mindestens einer ihrer Komponenten. Dieses Merkmal läßt sich leicht in Zusammenhang mit der Entstehung von Festigkeit im Text und der Reproduzierbarkeit in der Verwendung in Zusammenhang bringen. Allerdings ist jedoch die Ausdrucksweise „Metaphorisiertheit der Bedeutung", wie sie die phraseologische Forschung oft aufweist, zu klären, denn oft wird sie mißverstanden, indem angenommen wird, es werde die Bedeutung eines sprachlichen Ausdrucks übertragen (vgl. 3.1.). Abgesehen davon, daß die Bedeutung nicht sichtbar ist oder aber als Ubersetzung in diesem Zusammenhang nicht gemeint sein kann, ist festzuhalten, daß im Text nicht eine Bedeutung von irgendwoher herbeigetragen wird (das müßte ja für den Hörer irgendwo sichtbar gemacht werden), sondern daß ein konkreter sprachlicher Ausdruck übertragen wird, d. h. in diesem bestimmten Text verwendet wird, wo er u. U. üblicherweise nicht aufzutreten pflegt. So läßt sich dann immer der jeweilige Verwendungsbereich beschreiben und vom Verwendungsbereich, den der Idiolekt bisher für diesen sprachlichen Ausdruck gekannt hat, unterscheiden. Von hier aber ist er dorthin übertragen. Die Möglichkeit der Metaphorisierung sprachlicher Einheiten in diesem Sinn gehört wesentlich zu den Möglichkeiten des sprachlichen Kodegebrauchs. Denn jede Einheit des Kodes muß mehrmals gebraucht werden können. Die gleiche Einheit wird so fähig, in unzähligen Texten auftreten zu können. Damit wird sie aber im eigentlichen Sinne jedesmal in eine neue Situation übertragen. Dabei allerdings müssen diese Kontexte und Situationen jeweils ähnliche Merkmale aufweisen. Aus der Summe dieser mehrmaligen und prinzipiell nie gleichen Verwendungen wird der Idiolekt aufgebaut. Der Kode legt dann den Verwendungsbereich der Einheiten fest. Wird nun dieser Verwendungsbereich durchbrochen, spricht man von einer

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Metapher. (Damit definieren wir Metapher in einem sehr weiten Sinn; „Durchbrechung der Verwendungsbereiche" gilt für syntagmatische und paradigmatische Achsen des lexikalischen Systems.) So wird im Bereich von Streichholz, Kochherd usw. die Einheit Feuer ohne Spezifizierung verwendet, im Kontext Feuer der Leidenschaft vermerkt aber der Idiolekt den neuen Verwendungsbereich, indem von einem Feuer nicht brennbarer Objekte gesprochen wird. Ausschlaggebend ist für die Metaphorisierung also wiederum der Kontext. Sein thematischer Bereich tritt bei der Metaphorisierung in Opposition zum Verwendungsbereich, den der Idiolekt bisher aus den Verwendungen der betreffenden Einheit bestimmt hat. Im Syntagma, in dem das betreffende Wort als metaphorisiert erscheint, beginnt dann dessen thematischer Bereich zu dominieren. Eine Metaphorisierung zieht weitere nach sich: so wird mit Feuer der Leidenschaft als Subjekt im Satz das nachfolgende Verbum brannte heißen. Im gesamten Text aber dominiert der thematische Bereich, dem er angehört, weiter. Das kann dazu führen, daß ganze thematische Bereiche mit anderen thematischen Bereichen metaphorisch verbunden werden, so etwa der Bereich von Licht und Schatten mit dem der Seelenzustände (vgl. auch oben Politik mit Sport/ Meteorologie/Theater). Bevorzugte „Landungsgebiete" („Bildempfänger") für Metaphern sind die abstrakten thematischen Bereiche. Man kann sagen, daß jedes Abstraktum eine Metaphorisierung nach sich zieht: Ver-

antwortung — auf sich nehmen, Entscheidung — treffen, Freude — ausdrücken, Fragen — stellen usw. Dabei handelt es sich um syntagmatische „Kongruenzbedingungen". Das Abstraktum läßt eine „konkrete" Interpretation der Ausdrücke nicht mehr zu. Die ganze konkrete Lexik erhält durch diese Erscheinung auch abstrakte Verwendungsbereiche. Eine Tendenz, die, wie eingangs bereits angetönt wurde, schon damit beginnt, daß Wörter mehrmals Verwendung finden, und die dazu führt, daß der konkrete Verwendungsbereich auch durchbrochen werden kann. Damit ist nun auch der Zusammenhang mit der Kohäsion hergestellt. Eine metaphorisierte

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Historische Phraseologie

Einheit ist in ihrem Text zunächst immer eine Überraschung. Durch häufige Weiterverwendung dieser Metapher wird sie im Ideolekt fest und schließlich gar nicht mehr als Metapher empfunden, ζ. B. etwa in den Sieg erringen. Sind alle Komponenten einer Verbindung metaphorisiert, werden sie meist als bildhaft

empfunden: jdm. den Kopf waschen, am Ball bleiben, am gleichen Strick ziehen usw. Die Wahrnehmung der Metaphorisiertheit ist aber dann auch abhängig davon, ob das „Startgebiet" („Bildspender") der metaphorisierten Einheiten noch existiert, was in ins Bockshorn jagen nicht mehr der Fall ist. Die Metaphorisierung ist damit das Mittel par excellence, mit dem die Bildung einer phraseologischen Einheit eingeleitet wird. Durch die Metaphorisierung erhält die betreffende Einheit den Überraschungsgrad im Text, der sie als Einheit von diesem abhebt. Sie ist wie die Festigkeit und Reproduzierbarkeit mit den Systemeigenschaften des sprachlichen Kode aufs engste verbunden, indem sie dessen Begrenzungen der Verwendungsbereiche durchbricht und potentiell damit ein unendliches Mittel zur Schaffung neuer Phraseologismen bietet. Von der Metaphorisierung wird meistens die Metonymie (vgl. auch 3.1.) unterschieden. Der Metaphernbegriff geht aus von der Einheit, die in den Text hineingetragen wird, während die Metonymie von der Umbenennung einer Einheit spricht. Aber die umbenannte Einheit befindet sich nur in der Intuition des Phraseologen. Diese Art von metonymischer Problematik findet sich wieder in der zahllosen Literatur zum Problem der Äquivalenz von Phraseologismus und Wort. Von einem metonymischen Gesichtspunkt aus ist es möglich,

die Einheiten dumm und nicht alle Tassen im Schrank haben miteinander zu vergleichen. dumm aber steht nicht im Text, sondern wird vom Phraseologen mit dieser Einheit verbunden, wobei nie klar wird, warum nicht andere Synonyme von dumm in die Diskussion einbezogen werden. In gleicher Weise wird dann die metonymische phraseologische Verbindung das Weiße Haus mit der metonymisierten Einheit die amerikanische Regierung vergli-

chen, wozu man aber nicht immer berechtigt ist. Die Schlagzeile Intrigen im Weißen Haus kann durchaus den Präsidenten und seine Frau betreffen, die offiziell der Regierung nicht angehören sollte. Die Intrigen des Weißen Hauses brauchen ebenfalls nicht von der Regierung, sondern können durchaus von einigen Privatsekretären dort eingeleitet worden sein usw. Das gleiche gilt auch für der Fürst der Finsternis, der auch die Namen Gottsei-

beiuns, Teufel, böser Feind, Dämon usw.

trägt. Was ist hier umbenannt worden? Wichtiger ist deswegen u. E. der zweite Teil der üblichen Metonymiedefinitionen, nach denen die umbenennenden Komponenten aus Begriffen bestehen, die dem umbenannten Begriff „nahe" stehen. Damit ist gemeint, daß der Durchbruch zwischen den Verwendungsbereichen der gleichen thematischen Reihe vor sich geht, in der sich die Einheiten durch häufige Nachbarschaft im Text aufgereiht haben. Es handelt sich also um eine Metapher; sie verläuft hier über eine bedeutend „kürzere Distanz" und durchbricht sozusagen gezwungenermaßen konkrete Verwendungsbereiche wie ζ. B. in Syntagmen, in denen unbelebte Nomina Subjekt sind: Die ganze Stadt spricht von ihm.

Die ganze Fabrik liebt ihren Direktor.

Diese Art der Betrachtungsweise ist zugegebenermaßen einseitig. Sie verzichtet auf die Möglichkeit der Beschreibung der Bedeutungsfunktionen und reduziert die mit der Phraseologisierung verbundenen Prozesse zunächst auf die materiell feststellbaren Bereiche der Verwendung sprachlicher Einheiten. Die Entstehung von Phraseologismen und ihren Merkmalen wird damit zunächst mit materiellen, zählbaren und beobachtbaren Elementen untersucht. Zuerst muß beschrieben werden, wie sich die neuen Einheiten zusammensetzen, indem bestimmt wird, aus welchem Bereich sie kommen und in welchem Bereich sie zu neuen Einheiten werden. Gefordert wären dafür Wörterbücher, in denen die Häufigkeit in Abhängigkeit vom Verwendungsbereich bestimmt würde und Assoziationswörterbücher und Synonymwörterbücher, die auf der Grundlage von Experimenten mit zahlreichen Idiolekten die thematische Nähe der Kodeeinheiten im

Sowjetische Forschung

Idiolekt auszudrücken vermögen. In dieser Hinsicht aber steht die Erforschung der Strukturierung des sprachlichen Kode noch ganz am Anfang. Die Nichtberücksichtigung der Strukturierung des Kode in Subkodes, bzw. thematische und assoziative Reihen bei der Entstehung der Phraseologismen führt dann zum Merkmal der „Nichtmodellierbarkeit" (vgl. 3.1.; 8.1.4.1.) von Phraseologismen. In atomarer Betrachtungsweise werden Phraseologismen als unikale Lexemverbindungen bezeichnet, deren Verknüpfung singulare Natur habe. Nun hat auch jede aus dem Wortbildungsprozeß hervorgehende Einheit (ζ. B. ein Kompositum) eine singuläre Verknüpfung vorzuweisen, die sie ja gerade zu einer unverwechselbaren und damit für die Kommunikation funktionellen Einheit macht. Das heißt aber hier wie dort nicht, daß der Prozeß der Bildung nicht modellierbar wäre. Die Modellierbarkeit der Bildungsprozesse führt vielmehr deswegen zu unikalen Resultaten, weil diese Prozesse für verschiedene Einheiten Geltung haben (ganz in Parallele zur Bildung von Komposita). Deswegen haben die obigen Ausführungen zu zeigen versucht, daß die sogenannten phraseologischen Merkmale der Festigkeit, Reproduzierbarkeit und der Metaphorisierung auf allgemein gültigen Struktureigenschaften des sprachlichen Kode beruhen und durch ständig angewandte Prozesse innerhalb dieser Struktur des Kode und seiner Verwendung zu Stande kommen. Die Verwendungsweisen, aus denen diese Prozesse bestehen, werden vom Idiolekt als Möglichkeiten der Verwendung sprachlicher Einheiten gelernt, indem er die Produkte dieser Prozesse analysiert, bis er selbst in der Lage ist, in gleicher Weise Einheiten zu bilden. Er beginnt mit dem Gebrauch sprachlicher Einheiten zu spielen, indem er ζ. B. anfängt, im Text Überraschungen zu schaffen. Neben den Dichtern sind es besonders Komiker und Jugendliche, die dieses Spiel ausgiebig betreiben, wobei die Lust gerade in der Durchbrechung der konventionell etablierten Verwendungsbereiche dieser Einheiten liegt. Nach dieser kurzen Skizze eines semiotischen Rah-

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mens, in dem die Phraseologisierung stattfindet, können nun konkretere Betrachtungen helfen, das Verständnis des Bildungsprozesses phraseologischer Einheiten in diachroner Sicht zu vertiefen.

8.1.2. Die Phraseologisierung und ihre Typen Mit der Phraseologisierung und den damit verbundenen Prozessen beschäftigte sich die Phraseologieforschung lange Zeit nur vereinzelt. Die bedeutendsten Beiträge stammen von L. I. Rojzenzon (1973), N. M. Sanskij (1972a), B. A. Larin (1956) und Α. M. Babkin (1970). Alle diese Autoren verweisen immer wieder auf die Parallelitäten zwischen Wortbildung und Phraseologisierung. Diese Art der Betrachtungsweise liegt auch am Anfang der Konzeption der einzigen Monografie zum Thema der Phraseologisierung, in der Ju. A. Gvozdarev (1977; vgl. auch Gvozdarev 1981) die gesamte sowjetische Forschung zu diesem Thema zusammengefaßt und eine eigene Systematisierung der Bildungsprozesse darlegt (vgl. 8.1.1.; 3.1.). Insbesondere versucht die Arbeit zu zeigen, welche Typen von „derivationellen Basen" im Russischen die Grundlage für Phraseologismen bilden. Gvozdarev unterscheidet zunächst zwei Basen: eine „motivierende Basis" (MB), d. h. die Bedeutung, die der sprachlichen Materialisierung im Phraseologismus zu Grunde liegt, und eine „derivationelle Basis" (DB), d. h. das sprachliche Material, mit dessen Hilfe die MB, d. h. die Bedeutung sprachlich materialisiert wird. Als DB kann auch Material aus Fremdsprachen Verwendung finden. Bei der Phraseologisierung werden die Elemente der DB semantisch verändert. Am Anfang der Phraseologisierung stehen semantische Prozesse, deren wichtigster die Bedeutungsübertragung ist, mittels derer eine Erscheinung nicht direkt benannt, sondern metaphorisch dargestellt wird. Gvozdarev trennt von der metaphorischen Darstellungsweise, die immer zwei Erscheinungen zum Ausdruck bringe, die metonymische Darstellungsweise, die nur eine Erscheinung darstelle, diese aber in ihren verschiedenen Aspekten. Durch diese

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Historische Phraseologie

semantischen Prozesse der Metonymie und

Gvozdarev unterscheidet fünf Typen von

Metapher erhalten die Wörter sekundäre Be-

DB:

deutung, d. h. eine Bedeutung, die an den be-

(A) Die DB besteht aus einzelnen Wörtern

treffenden Phraseologismus gebunden ist und

(B) Die D B besteht aus einer Wortverbindung

nur in dieser Einheit entsteht. Die Beziehung

(C) Die D B besteht aus einem Sprichwort

zwischen den primären Bedeutungen der Komponenten (der Bedeutungen vor den genannten semantischen Prozessen) und der Bedeutung der ganzen derivationellen Basis einerseits mit den sekundären Bedeutungen der Komponenten und der Bedeutung des Phraseologismus andererseits nennt man die „innere F o r m " des Phraseologismus. Nach Gvozdarev wird die Wahl

der D B

bestimmt durch

assoziative

Relationen unter den Wörtern und durch lautliche Beziehungen (wie gewonnen

so

zerron-

nen). Besonders häufig seien die auf dem Symbolgehalt der Wörter aufbauenden Assoziationen als Grundlage für den Phraseologismus,

wie in Meer für viel und Tropfen für wenig, woraus kaplja

ν more „Ein Tropfen ins M e e r "

= „sehr wenig". Die

semantische

Kompaktheit

wird

be-

stimmt durch die Beziehungen zwischen M B und DB, wobei nach Gvozdarev

folgende

Möglichkeiten bestehen: — M B ist eine Wortverbindung, DB besteht aus einzelnen Wörtern, wovon eines in M B vorhanden ist: MB: plochaja vrednaja usluga „schlechter, schädlicher Dienst" DB: medvez' ja usluga (wörtl.) „Bären - dienst" — M B ist ein Wort, DB besteht aus einzelnen Wörtern, wovon eines in M B vorhanden ist: MB: pobedit' „siegen" DB: oderzat' pobedu „einen Sieg erringen" — M B ist eine Wortverbindung, DB ist eine Wortverbindung, wovon eine Komponente in M B vorhanden ist: MB: slepoj celovek „blinder Mensch" DB: slepaja teterja „blindes Birkhuhn" = „dummes Huhn" (vom Menschen) Die Bestimmung der DB macht manchmal Schwierigkeiten: Die M B Angst machen hat als DB ins Bockshorn jagen, deren ursprüngliche Bedeutung nicht geklärt ist.

(D) Die D B besteht aus einem Phraseologismus anderen Typs (E) Die D B besteht aus fremdsprachlichem Material 8.1.2.1. Die DB besteht aus einzelnen Wörtern Einzelne Wörter werden durch einen Integrationsprozeß zu einem Phraseologismus. Der Integrationsprozeß hat zur Folge, daß die integrierten Wörter eine Reihe von Merkmalen bei der Integration in die phraseologische Einheit verlieren. Die neue Bedeutung entsteht entweder nur bei einer oder bei allen Komponenten des Phraseologismus: göret' zelaniem „vor Begierde brennen", kamennoe lico „steinernes Gesicht", pronzit' vzgljadom „mit dem Blick durchbohren", neben delat' iz muchi slona „aus einer Mücke einen Elefanten machen", kaplja ν more „ein Tropfen ins M e e r " = „sehr wenig", vgl. dt. das fünfte Rad am Wagen. Daneben stellt Gvozdarev den Prozeß der phraseologischen Differenzierung: die M B (meist ein Wort) wird durch eine analysierende Wortverbindung ausgedrückt, d. h. es werden Periphrasen gebildet: cernoe zoloto „das schwarze G o l d " für „ ö l " , wag roda celoveceskogo „der Feind der Menschen" für „Sat a n " (Tabuperiphrasen), ν cem mat' rodila „in dem (Anzug) die Mutter (ihn) gebar" für „nackt" (euphemistische Periphrasen), cernil'naja dusa „Tinten — seele" für „Kanzlist, Bürolist" (dysphemistische Periphrasen) usw., aber auch der Typ oderzat' pobedu „einen Sieg erringen" für „siegen". Phraseologismen, die aus einzelnen Wörtern gebildet werden, haben meist kein Pendant unter den freien Wortverbindungen, vgl. dazu noch besonders

den Typ am St. Nimmerleinstag für nie, nimmer. 8.1.2.2. Die D B besteht aus einer freien Wortverbindung Hier wirkt der nach Gvozdarev häufigste Prozeß der Phraseologisierung: die phraseologi-

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Sowjetische Forschung

sehe „Transposition". Die freie Wortverbindung wird in die neue Zeichenkategorie des Phraseologismus transponiert. Zu unterscheiden sind innersprachliche und zwischensprachliche Transposition (zur zwischensprachlichen siehe unten E), dann aber auch primäre (DB ist freie Wortverbindung) und sekundäre (DB ist eine bereits bestehende phraseologische Einheit, wozu unten 8.1.2.4.). Die primäre innersprachliche Transposition schafft den Phraseologismus durch Übertragung einer neuen phraseologischen Bedeutung auf die primäre Bedeutung. Dabei wird meist Konkretes auf Abstraktes bezogen, aus deren dialektischem Verhältnis die Bildhaftigkeit eines Ausdrucks besteht. Zu bestimmen sind hierbei die Quellen, aus denen die DB stammen. Gvozdarev unterscheidet zunächst DB aus der gesprochenen Umgangssprache anonymer Herkunft, dann DB aus der Literatur mit Autor, und DB aus der Folklore. Am zahlreichsten sind die DB aus der gesprochenen Umgangssprache mit anonymer Herkunft. Sie stammen aus folgenden Quellen (im Russischen): (1) aus traditionellem Gewerbe und Handwerk: oveinka vydelki ne stoit „das Schaffell lohnt nicht der Gerbung" = „die Sache ist nicht der Mühe wert". (2) Tierverhalten: viljat' chvostom „mit dem Schwanz wedeln" = „Ausflüchte machen". (3) Jägerei und Fischfang: zakinut' udocku „eine Angel auswerfen" = „die Fühler nach etwas ausstrecken, etwas unbemerkt in Erfahrung bringen wollen". (4) Sitten und Gebräuche: gonjat' sobak „Hunde herumjagen" = „faulenzen", zavarivat' kasu „ein Mus einbrocken", entspricht etwa dem dt. „jdm. eine Suppe einbrocken", vynesti sor iz izby „Schmutz aus der Hütte tragen" = „seine schmutzige Wäsche vor anderen Leuten waschen". (5) Aberglaube, Zauberei, Beschwörungsformeln: gadat' na bobach „auf Bohnen weissagen" = „unbegründet etwas vorschlagen".

(6) Volkstümliche Spiele: igrat' υ prjatki wie dt. „Versteck spielen", poiozit' na obe lopatki „auf beide Schulterblätter legen" = „vollkommen besiegen". (7) Militär: derzat' poroch suchim „das Pulver trocken halten" = „seinen Vorteil nicht voreilig preisgeben". (8) Seefahrt: na vsech parusach vollen Segeln".

wie dt. „mit

(9) Kartenspiel: postavit' vse na kartu wie dt. „alles auf eine Karte setzen". (10) Kunst: igrat' rol' „eine Rolle spielen", sguscat' kraski „Farben eindicken" = „dick auftragen". (11) Technik: vintika ne chvataet „ein Schräubchen fehlt" = „bei ihm ist eine Schraube locker" (12) Sport: zaprescennyj priem „verbotener Griff" = „verbotener Trick", zabivat' gol ν svoi vorota wie dt. „ein Eigentor schießen".

(13) Folklore: skazka pro belogo

bycka

„das Märchen vom weißen Stierchen" = „eine endlose Wiederholung", und aus der Literatur: na derevnju deduske (Cechov) „ins Dorf an den Großvater" = „irgendwem (von einer ungenauen Adresse)". Freie Wortverbindungen werden durch Metaphorisierung (Assoziation auf Grund der Ähnlichkeit) und Metonymisierung (Assoziation auf Grund der Nähe der Sphäre) zu Phraseologismen, Metaphorisierung liegt ζ. B. vor in plyt' po teceniju „mit dem Strom schwimmen". Als freie Wortverbindung lag noch ein fakultatives Sem „ohne besonderen Energieaufwand schwimmen" vor. Dies wurde zur Grundlage der Bedeutungsübertragung „passiv leben, handeln". Nur eine der Komponenten wurde metaphorisiert in: boltlivajasorocka „schwatzhafte Elster (vom Menschen)" für „boltlivyj celovek „schwatzhafter Mensch", der Großteil aber gehört dem Typ an, indem alle Komponenten metaphorisiert sind: lezt' von iz kozi „aus der Haut kriechen" = „aus der Haut fahren". Metonymien liegen nach Gvozdarev vor in: delat' bol'sie glaza „große Augen machen",

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Historische Phraseologie

pozimat' plecatni „mit der Achsel zucken". Metonymie und Metaphorisierung liegen gleichzeitig vor in: melkaja soska „kleiner Hakenpflug" = „armer Bauer" = „kleiner Mann". 8.1.2.3. Die DB besteht aus einem Sprichwort Sprichwörter werden nach Potebnja (1894) durch einen Kompressionsprozeß aus Fabeln gebildet. Die phraseologische Reduktion, durch die aus Sprichwörtern Phraseologismen entstehen (Redensarten), gleicht in vielem der verkürzten Verwendung von Sprichwörtern. Gvozdarev unterscheidet drei Möglichkeiten der Beziehung zwischen Sprichwort und daraus abgeleitetem Phraseologismus (Redensart): (1) Der Phraseologismus ist ein Fragment des Sprichworts und gibt dessen Sinn voll und ganz wieder:

Sobaka na sene lezit, sam ne est i skotine ne daet. —» sobaka na sene. „Der Hund liegt auf dem Heu, selbst frißt er nicht und gibt auch nicht(s) dem Vieh." —» „Ein Hund auf dem Heu" = „gönnt sich und den anderen nichts". (2) Der Phraseologismus ist Fragment des Sprichworts, gibt aber nur einen Teil seines Inhalts wieder:

starogo vorob'ja na mjakine ne provedes'. —> staryj vorobej. „Einen alten Raben verführt man nicht mit Spreu." —> „alter Rabe" = „erfahrener Mensch", vgl. dt. mit allen Wassern

gewaschen.

(3) Der Phraseologismus ist Fragment eines Sprichworts, aber mit besonderer Bedeutung:

Svoj um car' ν golove. —> bez carja ν golove. „Der eigene Verstand ist Zar im Kopf" = „intelligent" —» „ohne Zaren im Kopf" = „dumm wie Bohnenstroh". (4) Aus einem Sprichwort werden mehrere Phraseologismen gebildet:

Za dvumja zajcami pogonissja — ni odnogo ne pojmaes'. —» gonjat'sja za dvumja zajcami, ubit' dvuch zajcev. .Jagst du hinter zwei Hasen her, fängst du keinen von beiden." —» „zwei Hasen jagen" und „zwei Hasen töten" = „zwei Fliegen auf einen Streich". Das Sprichwort unterscheidet sich dadurch von

Phraseologismen anderer Art, daß es die Beziehung zwischen Begriffen darstellt, während sonstige Phraseologismen Zeichen von Begriffen sind. Der Charakter des Sprichwortes, der aus einem abstrakten Schema besteht, bleibt bei jeder Verwendung erhalten, auch wenn dabei individuelle Bedeutungen dazukommen. 8.1.2.4. Die DB besteht aus einem Phraseologismus anderen Typs Neue Phraseologismen entstehen auch durch lexikalische, semantische und lexikosemantische Veränderungen an Phraseologismen, die nicht Sprichwörter sind. (1) Lexikalische Veränderungen entstehen durch den Prozeß der lexikalischen Modernisation, bei dem ein Element des „alten" Phraseologismus erneuert wird, stilistisch unzulässige Elemente entfernt werden (Purismus) oder fremde Elemente durch heimische ersetzt werden (Russifizierung bzw. Verdeutschung). Zugleich sind hier wirksam die Bemühung um eine Erhellung der inneren Form des Phraseologismus, die Verbesserung seiner äußeren Form und um die Anpassung an soziale und territoriale Besonderheiten. (a) Die innere Form wird ζ. B. verbessert in: na vsech parusach „mit vollen Segeln" zu na vsech parach „mit Volldampf", wo ein aktiveres Wort für ein veraltetes eintritt. Das gleiche gilt für merit' na svoj arsin „mit eigenem Arschin messen" = „mit eigener Elle messen, also nur von seinem Standpunkt aus betrachten", welches zum neuen Phraseologismus merit' svoej meroj „mit dem eigenen Maßstab messen" = „nur seinen eigenen Maßstab anlegen" wird. Russifiziert wird in Ariadnina nit' „der Faden der Ariadne" zu „putevodnaja nit' „Leit — faden". Das Wort mit phraseologisch gebundener Bedeutung kann ersetzt werden: kormit' zavtrakami „mit Frühstücken abspeisen" (russ. zavtra „morgen", „zavtrak" „Frühstück") = „auf morgen vertrösten" wird zu kormit' obescanijami „mit Versprechungen abspeisen". (b) Die Form wird u. a. dadurch verbessert, daß die Bildhaftigkeit erhöht wird, wobei ein konkreteres Wort ein abstrakteres ersetzt:

Sowjetische Forschung

brat' na zametku, wörtl. „jdn. auf die Notiz nehmen" = „von jemandem Notiz nehmen" wird zu brat' na karandas „jemanden auf den Bleistift nehmen" = „von jemandem Notiz nehmen". (c) Lokal bedingte Lexik wird eingeführt: otpravit'sja ν tot svet „sich ins Jenseits begeben" heißt in einem Dorf in der Region von Rostov otpravit'sja na sestuju ulicu „sich in die sechste Straße begeben", weil dort der Friedhof hinter der fünften Straße liegt. (d) Es werden verstärkende, expressive Elemente eingeführt: drat' skuru „das Fell (jemandem) abziehen" wird zu drat' tri skury „drei Felle (jemandem) abziehen", d. h. der Phraseologismus behält seine Bedeutung, aber seine Expressivität wird verstärkt. (e) Euphonische Elemente werden eingeführt: aus ni sluchu, ni vesti „weder Gerücht noch Nachricht" = „von jemandem nichts gehört und keine Nachricht bekommen" wird ni sluchu, ni duchu „weder Gerücht, noch Geruch (wörtl.)". Als besondere Art der Entstehung von Phraseologismen aus Phraseologismen mittels lexikalischer Veränderung gilt (f) die phraseologische Kontamination. Gvozdarev unterscheidet drei Typen (wie schon Α. M. Babkin): — Der Phraseologismus entsteht aus der Verbindung von Teilen zweier Phraseologismen: zdat' u morja pogody „am Meer aufs Wetter warten" = „die Dinge auf sich zukommen lassen", iskat' vetra ν pole „den Wind auf dem Felde suchen" = „nicht wieder zu finden" kontaminieren zu zdat' vetra ν pole „den Wind auf dem Feld erwarten" = „da kannst du lange warten". — Der Phraseologismus entsteht aus der Vereinigung zweier Phraseologismen, die ein gemeinsames Element aufweisen: ujti s golovoj „mit dem Kopf sich auf den Weg machen" = „sich einer Sache ganz hingeben", ujti ν svoju skorlupu „sich in seine Schale begeben" = „sich abschließen" kontaminieren zu ujti s golovoj ν svoju skorlupu „sich mit dem Kopf in seine Schale begeben" = „sich ganz abschließen, sich ganz etwas hingeben".

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— Der Phraseologismus entsteht aus der Vereinigung eines ganzen Phraseologismus und der Komponente eines zweiten Phraseologismus: choronit' koncy „die Enden verstecken" = „die Spuren verwischen", koncy ν vodu „die Enden ins Wasser" = „die Spuren verwischen" werden kontaminiert zu choronit' koncy ν vodu „die Enden ins Wasser verwischen" = „die Spuren von etwas total verwischen, etwas vertuschen". (2) Die semantischen Veränderungen, die aus Phraseologismen zu neuen Phraseologismen führen, sind Prozesse der phraseologischen Transposition, d. h. einer innersprachlichen sekundären Transposition. So etwa die Abschiedsformel bud' zdorov „bleibt gesund" = „auf Wiedersehen". Sie entwickelt sich im Russischen in letzter Zeit zu einer Ausdrucks-

verstärkung: on taigu znaet — bud' zdorov „er kennt die Taiga — bleib gesund" (wörtl., d. h. soviel wie „sehr gut"). Eine Reihe von Ausdrücken erweitert ihre Bedeutung, zuerst auf Männer allein anwendbar, kann ζ. B. auch von Frauen gesagt werden: vol'nyj kazak „freier Kasake" = „unabhängiger selbständiger Mensch." Als Sonderfall kann man die Entwicklung von neuen Phraseologismen ohne lexikalische Veränderungen durch Enantiosemie bezeichnen: ζ. B. skatert'ju doroga „(anfänglich als Wunsch, daß) der Weg sei wie ein Tischtuch" = „gute Reise" entwickelte sich zum heutigen „hau ab, verschwinde". Wie in bud' zdorov fällt auch hier auf, daß es sich hier um Phraseologismen mit besonderer pragmatischer Funktion handelt. (3) Die lexikosemantischen Veränderungen bilden aus Phraseologismen neue Phraseologismen, indem sowohl Bedeutung wie Komponentenbestand betroffen werden. Hierher gehören zunächst Weiterentwicklungen phraseologischer Bilder: zelenyj svet „grünes Licht" steht am Anfang der Weiterbildungen: zelenaja ulica „grüne Straße" = „freie Fahrt" und zelenaja volna „grüne Welle" = „freie Bahn". Auch hier antonymische Entwicklung, wo entweder durch Einführung oder Entfernung eine

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Historische Phraseologie

neue phraseologische Wortverbindung entstehen kann: ne vsjakoe lyko ν stroku „nicht jeder Bast (paßt) in die Reihe" = „man soll nicht jeden Fehler anrechnen, nicht jedem gesprochenen Wort soll man Bedeutung beimessen" wird zu vsjakoe lyko ν stroku (komu) „(jemandem) wird jedes Wort angerechnet". Häufiger sind die auf Antonymien des Denotats und der Lexik aufbauenden Paare: s legkim serdcem „mit leichtem Herzen" = „leichten Herzens" neben s tjazelym serdcem „mit schwerem Herzen" = „schweren Herzens", zavarit' kasu „ein Mus einbrocken" = „eine Suppe einbrocken" und razchlebyvat' kasu „ein Mus aufessen" = „eine Suppe auslöffeln". Die Erweiterung der lexikosemantischen Verbindbarkeit einer Komponente, die zunächst phraseologisch gebunden war, kann gleich zu mehreren neuen Phraseologismen führen: kromesnaja t'ma „höllische Finsternis" für „Hölle" wird interpretiert als „vollkommene Dunkelheit" woraus kromesnaja temnota „undurchdringliche Dunkelheit", kromesnaja noc' „undurchdringliche Nacht", kromesnyj mrak „undurchdringliche Finsternis", kromesnaja mgla „undurchdringlicher Nebel", andererseits aber auch über „Hölle" die Phraseologismen kromesnyj ad „finstere Hölle" = „sehr schweres Leben", kromesnaja muka „unerträgliche Qual" (muka wörtl. „Qual") usw. entstehen.

phraseologische Entlehnungen aufweist, war die Einstellung zur Transliterierung negativ. Zunächst werden Transliterationen in der Literatur zur Kennzeichnung nicht ganz gebildeter Schichten (v. a. der des Handels und Gewerbes) verwendet, sonst aber bleiben auch im russischen Text des 19. Jh. comme il faut oder far niente erhalten. Immer aber sind auch Durchbrüche festzustellen: Teppa ΗΗΚΟΓΗΗΤ* für „terra incognita", oder bereits MACH HKC für „idees fixes". Zweite Etappe der zwischensprachlichen Transposition ist die Transformation: transliterierte Ausdrücke werden von der russischen Grammatik erfaßt. Die Ausdrücke verlieren ihre ursprüngliche Flexion und werden ζ. B. zu Indeklinablen: tabula rasa bleibt auch im Akkusativ tabula rasa. Oder aber es wird bereits ins russische Paradigma eingegliedert: „idees fixes" in die Pluralform ide-i fiks.

8.1.2.5. Die DB besteht aus fremdsprachlichem Material

Wichtigste Stufe ist die Translexikalisierung („Calques"): aus „pro et contra" wird za i protiv. Hierbei finden häufig grammatische und lexikalische Veränderungen statt: tuer son ennui gegenüber ubivat' tosku (son fehlt im Russ.), apres nous le deluge gegenüber posle nas (chot') potop (chotModalpartikel, neu), vivre sur un grand pied gegenüber zit' na sirokuju nogu (sirokij „breit", nicht „grand"), la plus belle moitie du genre bumain gegenüber prekrasnaja polovina roda celoveceskogo (prekrasnyj ein Wort gegenüber analytischem Komparativ im Französischen), entrer dans les affaires gegenüber vstupit' ν delo (Singular im Russischen), oder aber carte blanche gegenüber otkrytyj list (im Russischen otkrytyj „offen").

Das Russische weist eine Vielzahl von Phraseologismen auf, die auf Grund fremdsprachlichen Materials gebildet wurden. Prinzipiell sind dabei zu unterscheiden die Ausdrücke, die übersetzt wurden, von jenen, die auch im russischen Text ihre fremdsprachliche Form beibehielten.

Veränderungen der inneren Form des Phraseologismus entstehen bei Mißverständnissen: il n'est pas dans son assiette gegenüber byt' ne ν svjoej tarelke (im Russischen tarelka nur als „Teller", franz. assiette aber auch als assiette du vaisseau „Gleichgewichtslage eines Schiffes") „sich in seiner Haut nicht wohl fühlen".

Der Prozeß der zwischensprachlichen Transposition verläuft über mehrere Stufen. Es kann bei der reinen Entlehnung bleiben, bei der keine Ubersetzung stattfindet und nicht einmal transliteriert wird. Gerade im 19. Jh., das viele

Die Darstellung der Phraseologisierungsprozesse bei Ju. A. Gvozdarev gibt einen ersten guten Überblick über die von der Forschung zu beachtenden Erscheinungen. Trotzdem sind u. E. noch immer wesentliche Probleme zu

Sowjetische Forschung

lösen, deren Klärung ein beachtliches Maß an Vorarbeiten verlangt. In der Darstellung Gvozdarevs erscheint zunächst problematisch das Verhältnis von M B und DB, insbesondere die Bestimmung des Stellenwertes der M B im Phraseologisierungsprozeß: Angst machen als MB von ins Bocks-

horn jagen, siegen als MB von einen Sieg er-

ringen. Gvozdarev bestimmt die MB als Bedeutung, gleichzeitig wird aber auch gesagt, sie bestehe aus Wörtern bzw. Wortverbindungen. In der Wortbildung wird die Beziehung der Motivation zwischen den Komponenten des gleichen Wortbildungsnestes erstellt, wobei die Richtung hin zum komplexeren Wort verläuft, das dann als motiviert bezeichnet wird: laufen zu motiviertem ablaufen, Chemie zu motiviertem Chemiker. Hierbei wird der höhere Grad der Komplexität einerseits für die formalen Strukturen, anderseits aber auch für die semantische Struktur bestimmt. Bei Gvozdarev hat es nun den Anschein, daß die MB als Bedeutung mit der DB als Material verglichen wird, d. h. Einheiten verschiedener Art, die prinzipiell nicht aufeinander bezogen werden können. Die Problematik der Phraseologisierung wird so zu einer Problematik zwischen Inhaltsplan und Ausdrucksplan. Deswegen bleibt bei dieser Behandlung die gleiche Problematik bestehen, wie sie schon bei Chafe in einem anderen Rahmen dargestellt und nicht gelöst werden konnte (vgl. Sialm 1978). Auch dort gelingt es nicht, bei idiomatisierten Einheiten einen klaren Zusammenhang zwischen nicht beobachtbarer, intuitiv erfaßter semantischer Tiefenstruktur und idiomatisierter Oberflächenstruktur herzustellen. Ebenso trifft man hier erneut auf die bei der Besprechung der Idiomatizität schon festgestellten Widersprüche in dem Begriff der Bedeutung. Die Phraseologisierung ist nun aber u. E. nicht ausschließlich innerhalb der Relation Inhaltsplan — Ausdrucksplan beschreibbar, sondern nur innerhalb der Problematik der Vertextung sprachlicher Einheiten, d. h. Einheiten des sprachlichen Kode, wie sie von der Erfahrung des Idiolektes aufgereiht werden. Ein sprachlicher Ausdruck ist nur möglich und sinnvoll im Fundierungsrahmen eines Textes.

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Ein Text wird verstanden, wenn es dem Idiolekt gelingt, ihm und damit seinen Komponenten eine Zeichenfunktion zuzuschreiben, d. h. eine These über die Verteilung und Funktion seiner Komponenten zu bilden. Diese These (oder Hypothese) wird auf Grund der bisherigen Erfahrung des Idiolekts erstellt, der diese durch die Verwendungen sprachlicher Einheiten im Text aufgebaut hat. Durch diese Erfahrung (den Kode) weiß der Idiolekt auch, auf welchen außersprachlichen Bezugsrahmen des Textes er die Texteinheiten zu beziehen hat. So vermag er ζ. B. bei Wörtern zu bestimmen, in welchen thematischen Bereichen und in welcher lexikalischen und syntagmatischen Nachbarschaft sie aufzutreten pflegen. Die Erfahrung mit Texten erlaubt es dem Idiolekt, gelb in der Nachbarschaft von Gefahr und Zitrone zu unterscheiden. In gleicher Weise ist für ihn Schmidt dank seiner Texterfahrung ein hinreichender Kontext für die Interpretation von bleibt am Ball, das er im Kontext Beckenbauer aus den gleichen Gründen anders interpretiert. Prinzipiell entscheidet also der Kontext über das Vorhandensein eines Phraseologismus (v. a. vom Gesichtspunkt seiner Entstehung her). Im Kontext Schmidt wird die Verbindung am Ball bleiben nicht erwartet. Nachdem sie sich aber im politischen Kontext festgesetzt hat, wird klar, daß sie in diesen Textsorten häufiger auftritt, als dies die Erfahrungen mit anderen Textsorten erwarten lassen. Deswegen konnte bei der Diskussion um die Kohäsion gesagt werden, daß ein Morphem dann besteht, wenn die Kohäsion zwischen seinen Komponenten größer ist, als dies von der absoluten Häufigkeit der Komponenten erwartet werden kann. Im gleichen Sinne wird dann in politischen (oder vielmehr nichtsportlichen Texten) die Verbindung am Ball bleiben zu einer Einheit. Bei der Entstehung des Phraseologismus ist am Ball bleiben jedoch zunächst lediglich eine Durchbrechung der vom Text und Kode gebildeten Erwartungen. (Kontext und Distribution sind in der sowjetischen Phraseologie schon bei Amosova (1963) und Tagiev (1966) berücksichtigt worden. Allerdings werden sie weder thematisch noch pragmatisch aufgefaßt, sondern gelten für den

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Historische Phraseologie

Mikrokontext des Phraseologismus allein. Vgl. ihre Darstellung bei Häusermann 1977.) Dazu kommt aber nun auch, daß der Ausdruck Schmidt bleibt ant Ball durch die Textsorte (ζ. B. Minitext der Schlagzeile) motiviert ist. Die von der Textsorte geforderte Funktion „Aufmerksamkeit wecken" wird durch diese Durchbrechung der Erwartung erfüllt. Bei jeder Entstehung eines Phraseologismus hat der vorläufige Kandidat eben diese Funktion, wobei die pragmatische Funktion in der Abhängigkeit von der jeweiligen Textsorte (und damit auch vom jeweiligen Sender) genauer und u. U. anders spezifiziert werden muß. „Aufmerksamkeit wecken" wollen nämlich Wissenschaftler, Dichter, Schüler, Journalisten, Verkäufer oder Prediger gleichermaßen, jeder auf seine Weise. Zur Beschreibung der Entstehungsprozesse der Phraseologisierung sind demnach folgende Voraussetzungen zu fordern: die Erforschung der Texterfahrung, d. h. des Kode, die Häufigkeitsverhältnisse in speziellen Textsorten und der daran beteiligten sozialen Gruppen. Die Erfahrung von Texten kann durch Wörterbücher festgehalten werden, in denen die Einträge nicht nur begriffliche und formale Beschreibungen aufweisen, sondern wo auch Auskunft darüber gegeben wird, mit welcher Wahrscheinlichkeit die betreffende Einheit in was für Textsorten und welcher lexikalischen Nachbarschaft innerhalb dieser Textsorten erscheint. Wortfelduntersuchungen sollen das Wortfeld dann nicht nur formal oder begrifflich, sondern nach den in den Texten vorliegenden Wortfeldern der Umgebung eines Wortes behandeln. Diese Untersuchungen an Corpora großen Ausmaßes können durch gezielte Tests zu Assoziationen und synonymischen oder metaphorischen Reihen ergänzt werden. In bezug auf solche Wörterbucher zu den einzelnen funktionalen und thematischen Bereichen kann dann ein Text auf seine Kohäsionsstruktur untersucht werden, aus der die festen Wortverbindungen hervorgehen werden, aber auch Kandidaten für Phraseologismen festgestellt werden können. Es wäre falsch, diese Forderungen in der Phraseologieforschung als ganz neu zu be-

zeichnen. Die Untersuchung der Entwicklung einzelner phraseologischer Verbindungen, ihrer Herkunft und ihrer Verbreitung berücksichtigt implizit diese Faktoren. Aus historischen Wörterbüchern zur Phraseologie müßten genau die gleichen Informationen gezogen werden können, wie sie für die Entstehungsproblematik der phraseologischen Einheiten gefordert wurden. Das wird klar, wenn man die Geschichte einzelner Phraseologismen verfolgt, so wie sie in der bisherigen Phraseologieforschung dargestellt wird, und dabei auf die Faktoren acht gibt, die für ihre Entwicklung Bedeutung haben.

8.1.3. Zur Geschichte einzelner Phraseologismen Es gibt für das Russische kein historisches Wörterbuch für Phraseologismen (als kurze Skizze eines solchen Wörterbuches ist zu erwähnen: Etimologiceskij Slovar' 1979). Damit fehlt das Material für ihre historische Erforschung. Die besten Arbeiten stammen deswegen von Lexikographen, denn die Verfolgung des Schicksals einzelner Phraseologismen setzt eine große Erfahrung und vor allem eingehende Quellenkenntnisse voraus. Was das Belegmaterial und seine Darstellung betrifft, sind die Arbeiten von Α. M. Babkin vorbildlich. An ihnen läßt sich die hier zu behandelnde historische Problematik wohl am besten demonstrieren. 8.1.3.1. kisejnaja barysnja „das Fräulein aus Musselin" (das Material nach Babkin 1970) Die phraseologische Wortverbindung stammt aus der Novelle N. G. Pomjalovskijs „Mescanskoe scastie" („Bürgerliches Glück") von 1860. Heute ist sie kaum mehr in Gebrauch. Im Novellentext gilt der Ausdruck zunächst für ein einfaches Mädchen, das in einem Musselinkleid aufzutreten pflegt, und das von einer emanzipierten Dame als kisejnaja barystija bezeichnet wird, weil sie es für oberflächlich und leer hält. Warum wird nun ausgerechnet dieser Ausdruck zum Phraseologismus?

Sowjetische Forschung

Das Adjektiv kisejnyj „aus Musselin" war 1860 üblich in den Verbindungen kisejnyj rukav „Handschuh aus Musselin" und kisejtioje plat'e „Musselinkleid" u. ä. Im Kontext von barysnja „Fräulein" wechselt also das Adjektiv den thematischen Bereich, als stilistischer Effekt entsteht eine bestimmte Verächtlichkeit (für das syntaktisch dominierende „Fräulein" barysnja eine Siof/bezeichnung), was ganz der Sprechintention der emanzipierten Dame entspricht. Damit ist auch eine Durchbrechung der bisherigen Kodeverwendung bezüglich kisejnyj gegeben. Der Kontext erlaubt aber eine Interpretation, in der „das Fräulein aus Musselin" handlungsfähiges, lebendiges Wesen bleibt, mit allen dort für sie beschriebenen Eigenschaften. Der Leser (der Idiolekt) stellt zunächst lediglich die neue Verwendung von kisejnyj im Bereich von barysnja fest und bezieht ihn auf die Gestalt der betreffenden Novelle. Das Bild ist aber bereits Kandidat für einen Phraseologismus, weil die Durchbrechung die Einheit aus dem Text hervorgehoben hat. Hinzu kommt nun, daß der bekannte Autor D. I. Pisarev in einem Artikel 1865 zum Bild des Fräuleins aus Musselin Stellung nimmt. Dieser Frauentyp, schreibt er, sei sehr verbreitet und dürfe nicht nur negativ beurteilt werden. Für Pisarev ist der Ausdruck also bereits fest, er ordnet ihn durch seinen Artikel in den schon damals viel diskutierten Bereich der Rolle der Frau in der Gesellschaft ein. Der Bekanntheitsgrad des Autors und des Themenkreises verursacht nun die weite Verbreitung des Ausdrucks, der dadurch zu stabiler Verwendung gelangt. Zugleich erhält der Ausdruck bei Pisarev eine positive Interpretation, die durch spätere Autoren wie Mamin-Sibirjak und Serafimovic gestützt wird. Das „Fräulein aus Musselin", das sich nur mit nichtigen Dingen abzugeben scheint, wird in ihren Erzählungen schließlich durchaus fähig zu aufopfernden und heroischen Entschlüssen. Daneben aber existieren innerhalb dieses sozialen Themas auch durchaus negative Einstellungen zu Erscheinungen der „Fräuleins aus Musselin", insbesondere bei jenen Autoren, die sich sozio-ökonomisch engagieren und

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die den Typ als für die Gesellschaft vollkommen unnützes Wesen bezeichnen. Zusammen mit ihm wird von ihnen auch die soziale Institution der Institutstöchter abgelehnt, die solche „Fräuleins aus Musselin", die sich mit nichts Ernstem befassen, hervorbringen. Diese Einstellung nimmt mit der Verbreitung demokratischer Ideen zu. 1944 heißt es dann in der „Izvestija": my vovse ne stremilis' sdelat' nasich sovetskich devusek „kisejnymi barysnjami". Zadaca zenskich skol — sformirovat' i vospitat' smeluju trudoljubivuju patriotku, gotovuju na podvig vo imja rodiny. „Wir haben uns bemüht, keine „Fräuleins aus Musselin" aus unseren sowjetischen Mädchen zu machen. Die Aufgabe unserer Schulen ist es, eine mutige und arbeitsliebende Patriotin heranzubilden und zu erziehen, bereit zur Heldentat im Namen des Vaterlandes." 8.1.3.2. svjataja svjatych „das Allerheiligste" (sancta sanctorum) (das Material nach Babkin 1970) Der Ausdruck stammt aus dem Alten Testament und bezeichnet dort mehrere Opfer, Kultgegenstände und Kulträume, insbesondere aber den innersten Raum des heiligen Zeltes. Die Form svjataja stellt einen kirchenslawischen Nominativ Plural des Neutrums von einem Adjektiv dar, er ist homonym dem heutigen russischen Nominativ Singular Femininum des Adjektivs. Als Femininum wird er manchmal auch dekliniert, üblicherweise aber ist die Form indeklinabel und gilt als Neutrum. Phraseologismen aus dem Kirchenslawischen (besonders aus Altem und Neuem Testament) weist das Russische in großer Zahl auf. Ihre Herkunft beeinflußt ihre stilistische Funktion, die im Verlaufe der Entwicklung aber verloren geht zusammen mit der Bindung an den ursprünglichen Text. Im 19. Jh. bis zur Revolution (noch bei Lenin ist der Phraseologismus aktiv) zeigt er weite Verbreitung, in neuerer Zeit ist er kaum mehr gebräuchlich. Zur Beurteilung der Entwicklung seien zunächst folgende Verwendungen aufgeführt (verkürzt nach Α. M. Babkin): (1) komnata, kakaja-to „svjataja svjatych", kuda ja ne custvoval sebja dostojnym vchodit'.

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„. . . ein Zimmer, eine Art „Allerheiligstes" (wörtl.: „das Heiligste vom Heiligen"), in das einzutreten ich mich nicht würdig fühlte." (2) Nacal'nik „svjataja svjatych" zavoda — central'noj zavodskoj laboratorii. „Der Leiter des „Allerheiligsten" der Fabrik, des zentralen Fabriklaboratoriums." (3) Ego vnutrennij mir byl dlja nego svjatiliscem, istinnym svjataja svjatych. „Seine Innenwelt war für ihn ein Heiligtum, ein wahrhaftiges Allerheiligstes." (4) Ljudi s cinizmom vryvalis' ν samuju svjataja svjatych celoveceskich otnosenij. „Die Leute drängen sich mit Zynismus in das „Allerheiligste" der menschlichen Beziehungen." (5) Ja nakopil ν samoj svjataja svjatych moej dusi takuju bezdnu neverija . .. „Ich hatte im tiefsten Allerheiligsten eine solche Unmenge von Unglauben angesammelt . . ." (6) Gosudarstvennaja samostojatel'nost' dlja vsej burzuazii est' ideal i predel, ee svataja svjatych . . . „Die Selbständigkeit des Staates ist für die ganze Bourgeoisie ein Ideal, das Höchste, ihr Allerheiligstes . . . " (7) Pervye detskie vpecatlemja - eto svjataja svjatych celoveceskoj dusi. „Die ersten Eindrücke der Kindheit sind das Allerheiligste der menschlichen Seele." (8) . . . „sekreter otca, eta svjataja svjatych domasnego altarja. „der Sekretär (Möbelstück) des Vaters ist das Allerheiligste des Familienaltares." (9) otnosenie ego k scene bylo dlja nego ves'ma ser'eznoe; scena dlja nego byla svjataja svjatych. „Seine Beziehung zur Bühne war durch und durch ernst; die Bühne war für ihn das Allerheiligste." (10) Vasa bogataja biblioteka, zerkalo vasej dusi, ee svjataja svjatych. „Ihre reiche Bibliothek ist ein Spiegel ihrer Seele, ihr Allerheiligstes." (11) Ja popal ν samoe „svjataja svjatych" ego raboty. „Ich traf das „Allerheiligste" seiner Arbeit." Das Allerheiligste ist also, nach diesen willkürlich ausgewählten Stellen, Zimmer, Laboratorium, Möbelstück, Bibliothek, Teil einer Arbeit, die innere Welt des Menschen, kindliche Eindrücke, eine ernste Beziehung zum Theater, es liegt im Bereich der menschlichen Beziehungen und der Seele, und es ist eine politische Überzeugung. Die Entwicklung des Phraseologismus ist verknüpft mit der Verbrei-

tung in verschiedenen Verwendungsbereichen. Die Textbeispiele zeigen einige solcher Möglichkeiten. Es ist unwahrscheinlich, daß sich in allen Bereichen der Phraseologismus gleichzeitig festgesetzt hat. Allerdings erlauben auch die Materialien bei Babkin kein endgültiges Urteil, weil trotz der zahlreichen Belegstellen eine historische und thematische Anordnung fehlt. Uber Babkin (1970) hinaus lassen obige Textbeispiele einige weitere Überlegungen zu, aus denen hervorgehen sollte, in welchem Rahmen die Phraseologisierung einer Verbindung und die Entwicklung in ihren Verwendungsbereichen verfolgt werden soll. Die Kontexte von svjataja svjatych gliedern sich wie folgt: Konkret: auf den Bereich „ R a u m " bezogen: Substantive: svjatilisce „Heiligtum", komnata „Zimmer", scena „Bühne", laboratorija „Laboratorium, biblioteka „Bibliothek", mir „Welt", sekreter „Sekretär". Adjektiv: vnutrennij „innen-". Verben: vchodit' „hineingehen", vryvat'sja „eindringen", popast' „gelangen, hineinkommen, treffen". Abstrakt: dusa „Seele", detskie vpecatlenija „Eindrücke der Kindheit", celoveceskie otnosenija „menschliche Beziehungen", gosudarstvennaja samostojatel'nost' „Unabhängigkeit des Staates", rabota „Arbeit", svjataja „das Heilige". Die Beziehungen zwischen den Komponenten eines Bereiches und zwischen den Komponenten der beiden Bereiche werden nun durch folgende Wortverbindungen ausgedrückt: I (1) ν mire, ν biblioteke, ν laboratorii, ν svjatilisce, ν komnate, ν sekretere: „in der Welt, in der Bibliothek, im Laboratorium, im Heiligtum, im Zimmer, im Sekretär". (2) vnutrennij mir, vnutrennjaja komnata, vnutrennee svjatilisce, vnutrennjaja biblioteka, vnutrennjaja laboratorija. „innere Welt, inneres Zimmer, inneres Heiligtum, inneres Laboratorium, innere Bibliothek." (3) vchodit' ν biblioteku, vchodit' ν mir, popast' ν komnatu, popast' ν svjatilisce, vryvat'sja ν svjatilisce usw. „in die Bibliothek gehen, in die Welt gehen, ins Zimmer gehen, ins Heiligtum gelangen, ins Heiligtum eindringen" usw.

Sowjetische Forschung II (1) svjataja dusa, svjatye detskie vpecatlenija, svjataja gosudarstvennaja samostojatel'nost', svjatye celoveceskie otnosenija, svjataja rabota „heilige Seele, heilige Eindrücke der Kindheit, heilige Unabhängigkeit des Staates, heilige menschliche Beziehungen, heilige Arbeit". (2) dusa raboty, dusa gosudarstvennoj samostojatelnosti, dusa celoveceskich otnosenij, dusa detskich vpecatlenij, „Seele der Arbeit, Seele der Unabhängigkeit des Staates, die Seele der Eindrücke der Kindheit, die Seele der menschlichen Beziehungen". (3) rabota dusi, rabota detskich vpecatlenij, rabota gosudarstvennoj samostojatel'nosti, rabota celoveceskich otnosenij „die Tätigkeit der Seele, die Tätigkeit der Eindrücke der Kindheit, die Tätigkeit der Unabhängigkeit des Staates, die Tätigkeit der menschlichen Beziehungen". III Konkreter und abstrakter Bereich treten in Beziehung (1) ν duse, ν detskich vpecatlenijach, ν celoveceskich otnosenijach, ν gosudarstvennoj samostojatel'nosti, ν rabote „in der Seele, in den Eindrücken der Kindheit, in den menschlichen Beziehungen, in der Unabhängigkeit des Staates, in der Arbeit." (2) mir dusi, mir detskich vpecatlenij, mir celoveceskich otnosenij, mir gosudarstvennoj samostojatel'nosti, mir raboty „die Welt der Seele, die Welt der Eindrücke der Kindheit, die Welt der menschlichen Beziehungen, die Welt der Unabhängigkeit des Staates, die Welt der Arbeit" (3) svjatilisce dusi „das Heiligtum der Seele" usw. (4) vnutrennjaja dusa, vnutrennie detskie vpecatlenija, vnutrennie celoveceskije otnosenija, vnutrennjaja gosudarstvennaja samostojatel'nost' „innere Seele, innere Eindrücke der Kindheit, innere menschliche Beziehungen, innere Unabhängigkeit des Staates" (5) vryvat'sja ν dusu, vchodit' ν dusu, popast' ν dusu, vryvat'sja ν detskie vpecatlenija usw. vryvat'sja ν celoveceskije otnosenija usw. vchodit' ν gosudarstvennuju samostojatel'nost' „in die Seele eindringen, in die Seele eingehen, in die Seele gelangen, in die Eindrücke der Kindheit eindringen usw., in die menschlichen Beziehungen eindringen usw., in die Unabhängigkeit des Staates eingehen usw."

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IV Aus dem abstrakten Bereich in den konkreten übertragen, ist svjataja svjatych, dies zunächst innerhalb des religiösen Bereiches, als periphrastische Verbindung für vnutrennee svjatilisce „inneres Heiligtum", wo es anfänglich qualifizierende Funktion ausübte. Nach diesem (traditionell ausgedrückt, metonymischen) Prozeß innerhalb des gleichen Bereiches nimmt der Ausdruck auch Teil am thematischen Bereich des Raumes. Die Signifikationsfunktionen sind nun in der Einheit doppelt: einerseits besteht sie immer noch aus den ursprünglichen qualifizierenden Adjektiven, andererseits kam durch den periphrasierenden Prozeß eine denotative Funktion hinzu. Der Ausdruck qualifiziert und denotiert gleichzeitig. In seiner Eigenschaft als Glied des Raumbereiches wird auch diese Einheit fähig, innerhalb des Raumbereiches und mit Abstrakta Beziehungen einzugehen, so daß u. a. eben jene Kontexte möglich werden, die die Textbeispiele gezeigt haben: komnata — svjataja svjatych „das Zimmer - das Allerheiligste", laboratorija - svjataja svjatych „das Laboratorium — das Allerheiligste", sekreter otca — svjataja svjatych „der Sekretär des Vaters — das Allerheiligste", aber auch svjataja svjatych dusi „das Allerheiligste der Seele", svjataja svjatych raboty „das Allerheiligste der Arbeit", vnutrennij mir - svjataja svjatych „die innere Welt das Allerheiligste" usw. In allen Verbindungen bleibt die ursprünglich qualifizierende Funktion, aber auch die sekundäre denominative Funktion erhalten: in allen Fällen handelt es sich um etwas Heiliges und etwas Zentrales. Die obigen Wortverbindungen, mit denen die Wechselbeziehungen zwischen zwei verschiedenen Bereichen dargestellt werden sollten (und die bei weitem nicht alle Möglichkeiten zeigen), sind aus den textuellen Nachbarn des Phraseologismus svjataja svjatych aufgebaut. Wie stark sich Raumvorstellungen und Abstrakta gegenseitig durchdringen, zeigt ein Ausdruck wie vnutrennij mir, dessen Komponenten beide dem konkreten Bereich angehören, der aber „primär" als Abstraktum interpretiert wird, als vnutrennij mir (dusi) „innere Welt (der Seele)". Es gibt für das Russische keine Materialsammlungen, die auf Grund von Belegstellen derartige Nachbarschaften von Phraseologismen im Text in ihrem Gesamtbereich und

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Historische Phraseologie

historisch geordnet darstellen. Solange dies nicht der Fall ist, kann keine Entwicklungsgeschichte von Wörtern und Phraseologismen geschrieben werden, es bleibt bei atomaren Beobachtungen. Und man muß sich mit den Übersetzungsbemühungen der Wörterbuchverfasser begnügen, die häufig Opfer des eigenen Systematisierungswillens werden. Selbst Α. M. Babkin entgeht dem nicht ganz. Auf Grund des enzyklopädischen Faktums, daß mit svjataja svjatych nicht nur der innere Tempelraum, sondern auch die Opferspeisen gemeint sind, die nur von den Priestern gegessen werden durften, nimmt er zwei prinzipiell verschiedene Entwicklungsmöglichkeiten für svjataja svjatych an, eine im Bereich des Raumes und eine im Bereich der Objekte. Nicht nur ist es aber unwahrscheinlich, daß die den Ausdruck verwendenden Sprecher dieses Wissen besaßen, die obigen Wortverbindungen, die die Beziehungen zwischen den Raum- und Abstraktabereichen darstellen, zeigen u. E. deutlich, wie es dazukommt, daß sowohl von menschlichen Beziehungen wie von einem Zimmer gesagt werden kann, sie seien „das Allerheiligste". Einen Ansatz, in dieser Art die Entstehung von Phraseologismen innerhalb thematischer Felder zu verfolgen, stellt eine kleine historische Studie von V. P. AdrianovaPeretz (1971) dar:

8.1.3.3. polet mysli, polet uma „Gedanken-flug" Diese zwei Ausdrücke entstammen der (alt)kirchenslawischen Literatursprache, in der die frühesten Texte der altrussischen Literatur abgefaßt sind, die zum Großteil kirchlichen und patriotischen Inhalt aufweisen und Übersetzungen aus dem Griechischen darstellen. Sie basieren auf Vorstellungen, die im byzantinischen Schrifttum gängig sind und bis auf die Antike zurückgehen. So heißt es bereits in einem altkirchenslawischen Werk, das im 11. Jh. aus Bulgarien nach Rußland kam, daß das größte Wunder der Schöpfung der Verstand sei, der, ungebunden an den Körper, diesen zu verlassen vermöge und den Erdenkreis, Mond, Sonne und Sterne durcheile und

im Gebet über den Himmel hinaus sich bis zu Gott emporhebe. In diesen Vorstellungen bewegt sich der Verstand, und die Bewegungen werden meist mit Verben des Fliegens ausgedrückt: letet', priletet', proletet', v"zletet' „fliegen, hinfliegen, vorbeifliegen, emporfliegen". Dazu kommen nun Assoziationen zwischen Vogel und Verstand: jako orel „wie ein Adler" wird von „Verstand" gesagt. Und: Jakoze ptenec kryl'nym' letaniem' po vozduchu vysoko parit, takoze i blagocestivyj muz' ot zemnago k nebestiomu molitvoju prelozit'sja. „Wie der Vogel mit dem Flug der Flügel hoch durch die Luft fliegt, so versetzt sich der ehrfürchtige Mann mit dem Gebet vom Irdischen zum Himmlischen." So wird dann auch das Fliegen des Verstandes ein Zeichen der Reinheit: bestrast'nyima prelete precistyma kryloma „mit leidenschaftslosen (geläuterten) reinen Flügeln flog er herbei (von einem Heiligen)". Jahrhundertelang halten sich diese Vorstellungen dank der weiten Verbreitung kirchlicher Schriften. Die altrussische Originalliteratur (d. h. nicht Übersetzungsliteratur) nimmt die Vorstellung schon im 12. Jh. auf: letaja umom pod oblaky „indem er mit dem Verstand unter die Wolken flog" und trych mysliju parja, aki orel po vozduchu „ich flog in Gedanken wie ein Adler durch die Luft". Die Odenliteratur übernimmt die phraseologischen Wendungen im 18. Jh.: No zizn' ja oscuscaju, Nesytym nekakim letaju pareti'em ν irysoty. „Aber ich fühle das Leben, und in unersättlichem Flug fliege ich zu den Höhen" (Lomonosov). Die gleichen Wendungen werden aber auch parodiert: Rod smertnych, Pindara vysoka Stremit'sja podrazat' moj duch. Ot zapada i ot vostoka Lecu na sever i na jug I gromoglasno vosklicaju, lutie i solttce protticaju, vzletaju do predel'nych zvezd. Β odnu minutu voschiscajus'. V odnu minutu vozvrascajus' Do samych preispodnych mest. „Geschlecht der Menschen. Pindar, den hohen, bemüht sich nachzuahmen mein Geist. Von Westen und von Osten fliege ich nach Norden und nach Süden und rufe laut, zu Mond und Sonne dringe ich vor und fliege empor zu den letzten Sternen. Eine Minute lang begeistere

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Sowjetische Forschung

ich mich. In einer Minute kehre ich wieder zurück in die Unterwelt." Bei Puskin wird das Bild erneuert: Vse dumy serdca k nej letjat. „Alle Gedanken des Herzens fliegen zu ihr." Na krylach vymysla

Phraseologismen eine wichtige argumentative Rolle.

geln der Phantasie getragen, entflog der Verstand zur Heimat." Κ tebe letjat zelanija moi. „Zu dir fliegen meine Wünsche." ]a k vam lecu vospominan'em. „In der Erinnerung fliege ich zu ihnen", usw.

Etymologie und Rekonstruktion von Phraseologismen verlangen nach eingehender Berücksichtigung von Dialektmaterial. In den Arbeiten von Mokienko (1973) und Tolstoj (1973), auf die im folgenden Bezug genommen wird, werden dialektale Entwicklungen musterhaft berücksichtigt. Hierbei finden dialektale Entwicklungen bei beiden Autoren unterschiedliche Behandlungen. Bei Tolstoj verläuft die Argumentation innerhalb der Varianten eines Phraseologismus, d. h. dem Phraseologismus ist ein lexematischer Kern eigen, der materiell in allen Phraseologismusvarianten und anderen damit verbundenen Sonderentwicklungen vorhanden ist. Bei Mokienko finden v. a. Synonyme des behandelten Phraseologismus Verwendung, in denen der thematische Bereich und die syntaktischen Modelle Berücksichtigung finden. Wichtig ist hier festzuhalten, daß erstens von einem diachronen Standpunkt aus die Unterscheidung von Synonymie und Variation äußerst wichtig ist, daß zweitens diese Unterscheidungen auch für die Wörterbücher (v. a. dialektale) festgehalten werden müssen und daß erst dann eine älteste Form des Phraseologismus festgelegt werden kann (die bei weitem nicht immer die der Literatursprache ist, sondern durchaus in einer dialektalen Variante vorliegen kann).

nosimyj, Um uletal za kraj rodnoj „Auf Flü-

Diese phraseologischen Wendungen sind bis heute in Gebrauch geblieben, in der Prosa wird ihre Bildhaftigkeit nicht mehr empfunden, in der Poesie können sie immer noch neue Varianten erzeugen. Einzelne Phraseologismusentwicklungen, so kann man abschließend feststellen, können innerhalb großer thematischer Bereiche verfolgt werden. Zu berücksichtigen sind dabei außersprachliche und innersprachliche Faktoren, die eine Entwicklung verhindern oder begünstigen können. Das Beispiel kisejnaja barysnja „Fräulein aus Musselin" hat gezeigt, daß der Stellenwert des Denotats in den Werthierarchien der betreffenden Gesellschaft, der Bekanntheitsgrad eines Autors, die Aktualität, die Aktualität thematischer Bereiche, denen ein Ausdruck angehört, für die Verwendung und Entwicklung einer phraseologischen Einheit eine Rolle spielen. Das Beispiel svjataja svjatych „das Allerheiligste" zeigte die Notwendigkeit, die Beschreibung der Entwicklung von Phraseologismen innerhalb weiterer thematischer Bereiche und unter Berücksichtigung des Wortfeldes, das der Kontext bildet, vorzunehmen. Hier zeigte sich deutlich eine komplexe metaphorische Schichtung des Wortschatzes, indem der Wechsel eines Bereiches mehrere neue Verbindungen möglich macht. Aus den Ausführungen von AdrianovaPeretz wird klar, daß es Zusammenhänge zwischen Weltbild und Metaphorisierungen gibt, die die Phraseologie zu berücksichtigen hat und die sich über lange Zeit in der Sprache halten, was dazu führt, daß sie immer wieder erneuert werden können. Alle diese Faktoren spielen nun für die Etymologie und Rekonstruktion einzelner

8 . 1 . 4 . Etymologie und Rekonstruktion von Phraseologismen

8.1.4.1. bit' baklusi

„faulenzen"

Dieser Phraseologismus gehört zu den Standardbeispielen in der sowjetischen Phraseologieforschung, denn er bildet ein Musterbeispiel für die semantische Unteilbarkeit: sowohl bit' „schlagen" wie baklusi „ ? " haben nichts mit „faulenzen" zu tun (vgl. dt. „Bockshorn",,?"). Die Homonymie bzw. Polysemie von baklusi führte zu folgenden etymologischen Überlegungen: — „Holzklötzchen zubereiten für Holzgeschirr: Tassen, Löffel u. ä . " Als Motivation

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Historische Phraseologie

gilt „sich mit leichter, unbedeutender Tätigkeit befassen, die nicht besonderes Können verlangt", wofür ausführliche Beschreibungen der Löffelherstellung die Begründung darstellen. — Dann sei dieser Zweig von Heimarbeit ausgestorben, was die heutige (nicht-historische) Unmotivierbarkeit erkläre. — Sicher ist, daß man baklusi in obiger Bedeutung „Holzklötzchen" nicht abschlägt, sondern aussticht und daß eine solche Arbeit physischen Krafteinsatz erfordert und damit die Motivation für „faulenzen" entfällt. Deswegen sind zwei andere Etymologien vorgeschlagen worden : baklusa „ein Musikinstrument in der Art einer Holzschüssel, auf das man mit hölzernen Schlegeln schlägt" und — wahrscheinlicher — baklusa

als S y n o n y m v o n

bakaldika,

koldobika „Pfütze" und bit' baklusi „mit Stecken in eine Pfütze hauen und Steinchen hineinwerfen." Dies ist nun nach V. M. Mokienko (1973), dessen Ausführungen hier wiedergegeben werden, ein typischer Fall, wo bei der Etymologie mehrere Versionen mit außersprachlichem volkskundlichem Material vorgeschlagen werden. Typisch deswegen, weil hier, wie in fast allen Etymologien von Phraseologismen dieser Art, die synchronen Fragen der Phraseologie, insbesondere ihre Struktur und ihr Stellenwert im Sprachsystem und in der Diachronie nicht berücksichtigt werden, weil die üblicherweise vorhandenen Bezugsmöglichkeiten der Phraseologismen zu außersprachlichen Fakten dazu verführen, die Etymologie außersprachlich abzustützen. Das hat nach Mokienko zwei Gründe: Zunächst ist das Material (besonders die Dialekte) so wenig aufgearbeitet, daß es meist noch nicht möglich ist, analoge Bildungstypen zum Vergleich heranzuziehen, wie etwa bei Wortetymologien, wo phonetische, wortbildende, inflektionale und semantische modellhafte Analoga zur Argumentation zugezogen werden können. Dann aber liege in der Nichtberücksichtigung solcher sprachlicher Argumente auch die Vorstellung, Phraseologismen seien unikale, nicht modellierte Bildun-

gen, ihr Hauptmerkmal sei Irregularität, deren Individualität gerade ihre Spezifität ausmache. Nun wurde bereits in 8.1.1. gezeigt, daß die Bildung neuer Phraseologismen bestimmte Regelmäßigkeiten aufweist und daß Phraseologismen im Sprachsystem nicht individuell bestehen. Dazu kommt nun aber nach Mokienko auch, daß solche phraseologischen Modelle für die Untersuchung ihrer Etymologie am besten in der gesprochenen Sprache, besonders also in Dialekten gesucht werden sollen. U. E. haben solche Modelle zunächst einen heuristischen Wert: sie weisen auf bestimmte Assoziationsrelationen zwischen Wörtern hin. Als solche könnten sie, systematisch erforscht (mit Assoziationstests und Wortfelduntersuchungen zu ihrem betreffenden Kontext), durchaus die Derivationsbasen (vgl. oben 8.1.2.) bei Gvozdarev bedeutend spezifizieren. Für bit' baklusi „faulenzen", wo beide Komponenten in den Dialekten reich und mit ganz verschiedenen Bedeutungen vertreten sind, gilt es nach Mokienko folgendes Modell auf seine Produktivität zu untersuchen: Ist die Bedeutungsentwicklung „sich mit einer nützlichen wenn auch nicht besonders schweren Tätigkeit befassen"

• „faulenzen"

möglich? Geht man von den synonymen phraseologischen Modellen mit der gemeinsamen Bedeutung „faulenzen" aus, bestehen vor allem folgende Möglichkeiten: (1) „absolut nichts tun" » „faulenzen" i pal'cem ne tronut' (wörtl. „und nicht mit dem Finger anrühren") vgl. dt. keinen Finger rühren (2) „eine Pose einnehmen, in der man nichts tun kann" —* „faulenzen" lezat' na pect (wörtl.) „auf dem Ofen liegen" vgl. dt. auf der faulen Haut liegen (3) „sich mit etwas Nutzlosem und Fruchtlosem beschäftigen" —» „faulenzen" a) „schwatzen" —» „faulenzen" lit'vodu (wörtl.) „Wasser leeren" vgl. dt. Maulaffen feilhalten. b) „sich bewußt mit etwas Unnützem beschäftigen" —» „faulenzen"

Sowjetische Forschung

nosit' vodu resetom

(wörtl.) „Wasser mit dem

Netz tragen" c) „herumschlendern" —» „faulenzen"

slony slonjat' ~

„schlendern"

d) „etwas spielen, sich unterhalten" —» „faulenzen"

gonjat' mjac (wörtl.)

„dem Ball nachjagen"

Das zur Diskussion stehende Modell: „sich mit einer nützlichen Arbeit abgeben" —» „faulenzen" ist demnach unproduktiv und ohne Parallele. Die traditionelle Etymologie bit' baklusi „Holzklötzchen ab/herabschlagen" —* „faulenzen" ist damit unbegründet und unwahrscheinlich (Mokienko 1973). Die Vorschläge mit baklusa als „Musikinstrument" bzw. „Pfütze" passen jedoch scheinbar in die obigen Modelle. Vorerst hat sich damit also erst der Kreis verkleinert, in dem die Ausgangsverbindung gesucht werden kann: als entscheidendes Kriterium ist nun zusätzlich die Verbindbarkeit (Valenz) der Wortverbindungen innerhalb der obigen Modelle hinzuzuziehen, wobei sowohl syntaktische wie lexikalische Verbindbarkeit der Komponenten innerhalb der jeweiligen Verbindung berücksichtigt werden müssen: bit' „schlagen" von . Musikinstrumenten wird immer mit der Präposition ν „in, auf" verbunden: bit' ν bubny, ν barabany u. ä., bei denen keine Konnotationen wie „faulenzen" vorliegen; bit' zu baklusi „Pfütze" wird mit der Präposition po erwartet, ohne Präposition po lassen sich keine Belege finden. Syntaktisch und semantisch gerechtfertigt ist erst der Anschluß von baklusa „Holzklötzchen im Knüttel- und Knöchelspiel", wo es Verwendung findet: Ausgangsmotivation ist nun für bit' baklusi „Knöchelspiel spielen": baklusa ist in den Dialekten als Terminus dieser Spiele reich bezeugt. Und das syntaktische Modell der Bezeichnung dieser Spielarten entspricht bit' baklusi, insbesondere die Verwendung von bit'. Das Modell: „Knöchelspiel spielen" —* „faulenzen" ist gültig, weil in vielen dialektalen Texten mit dieser Spielbezeichnung auch eine Konnotation „faulenzen" gegeben ist. Darüber hinaus zeigen manche russische Dialekte Wortverbindungen des gleichen seman-

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tisch-syntaktischen Modells in der Bedeutung „faulenzen" auch für ähnliche Spiele (vgl. baklusi sbivat' in sibirischen Dialekten). Phraseologisches Material aus anderen slawischen Sprachen stützt diese Etymologie (ζ. B. bic baki im Polnischen). Die Darlegung des einschlägigen Dialektmaterials kann hier nicht gegeben werden — zu zahlreich sind die Weiterentwicklungen und Kontaminationen in der Phraseologie des Typus bit' baklusi. Nach Mokienko (1973) kann aber die diachrone Analyse von Phraseologismen nicht auf solche semantischen Modelle beschränkt werden. Nebenher müssen auch alle Quellen in Betracht gezogen werden, aus denen Phraseologismen stammen: Literatur, Entlehnungen, Caiques. Dieser Aspekt geht über die etymologischen Untersuchungen hinaus und ist vor allem ein philologisches Problem. Trotzdem ist zu beachten, daß hierbei der Autor häufig ein bekanntes, umgangssprachlich bereits existierendes semantisches Modell transformiert. Auch hier ist es demnach wichtig, das semantische Ausgangsmodell zu erstellen und innerhalb der Verbindbarkeit der Komponenten zu überprüfen; d. h. aber auch, das ganze Spektrum synonymer und struktureller Variationsmöglichkeiten des Phraseologismus besonders in den Dialekten zu berücksichtigen und mit dem volkskundlichen Material zu vergleichen. Diese Ausführungen Mokienkos (1973) zur etymologischen Problematik lassen sich gut an die Diskussion um die Entstehung phraseologischer Merkmale im Text und die Entstehung von Phraseologismen anschließen. Während das „semantische Modell", dem ein Phraseologismus angehört, aus nichts anderem als dem thematischen Bereich, dem der Phraseologismus angehört, und dem thematischen Bereich, dem die Komponenten angehören, besteht, gehört das syntaktische Modell in den Bereich der Beziehungen zwischen den Komponenten. Im ersten Fall wird der Phraseologismus auf die Wortfelder (sowohl die begrifflichen wie die textuellen) bezogen, im zweiten Fall wird er als Syntagma anderen Syntagmen, in denen entweder seine Komponenten als Lexeme auch noch erscheinen, oder in denen das gleiche syntagmatische Muster mit anderen Lexemen

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Historische Phraseologie

ausgefüllt ist, gegenübergestellt. Die Pfeile geben in schematischer Form einen Metaphorisierungsprozeß wieder, den Mokienko in diesem Zusammenhang weniger berücksichtigt. Diese Verhältnisse lassen sich nun auch umgekehrt und rein synchron formulieren: Ein Phraseologismus besteht aus Wörtern. Jedes dieser Wörter gehört einem bestimmten Bereich an. Wenn sie sich verbinden, kann man von einer Beziehung zwischen zwei Bereichen (gleicher oder verschiedener thematischer Zugehörigkeit) sprechen. Im Text wird diese Verbindung dann interpretiert in Abhängigkeit von ihrer Umgebung. Ausgehend von dem schematischen Gegensatz Lexem — Semem drückt Ν. N. Tolstoj (1973) das so aus: der Phraseologismus habe zwei Formen und eine Bedeutung, d. h. er bestehe aus: — einer lexikalischen Form (Phraseologismus als Lexemverbindung) — einer semantischen Form (Phraseologismus als Sememverbindung) — einer Bedeutung Wer dieses verkürzte Schema gebrauchen will, darf jedoch nicht vergessen, durch welche Prozesse ein Phraseologismus entsteht und in welchen Beziehungen ein Phraseologismus zu Wörtern (des Wortfeldes, des Kontextes, des Syntagmas) steht. Ν. N. Tolstoj sieht davon zunächst ab, ihm geht es darum, zu zeigen, daß diese vielschichtige Natur des Phraseologismus besondere Aufmerksamkeit bei der Rekonstruktion von Phraseologismen verlangt, die sich ganz erheblich von der Rekonstruktion von Wörtern unterscheidet.

8.1.4.2. *na c'rn" (c'rn"j') nog"t' „sehr wenig" (hier werden verkürzt die Ausführungen von Tolstoj 1973 wiedergegeben) Schon bei der Rekonstruktion von Wörtern ist man in bezug auf ihre Bedeutung auf die Intuition des Forschers angewiesen. Aber die Etymologie von einzelnen Wörtern gibt praktisch, so Ν. N. Tolstoj, nichts ab für die Rekonstruktion eines phraseologischen Prototyps. Eher umgekehrt: eine Berücksichtigung

der Phraseologismen erlaubt häufig die Klärung von Wörtern. Die heutigen slawischen Dialekte, folkloristische und alte Texte legen nun die Vermutung nahe, schon vorslawisch hätten Phraseologismen existiert. Das Vorhandensein einer Bedeutungsform, d. h. einer Sememverbindung im Phraseologismus, macht ihn überaus geeignet zur Entlehnung; wie in der Wortbildung kann hier die Lehnbildung „unbemerkt" vor sich gehen: die fremdsprachlichen Lexeme werden durch Lexeme der rezipierenden Sprache ersetzt, die Sememverbindung und die Bedeutung bleiben erhalten, d. h. entlehnt. Untersucht man nun die Zeit und den Ort der Entstehung eines Phraseologismus und seine Rekonstruierbarkeit, ist die Möglichkeit von Caiques immer im Auge zu behalten, wobei Tolstoj besondere Bedingungen formuliert, unter denen es möglich ist, bei der Rekonstruktion von Phraseologismen Caiques zu eliminieren; diese Rekonstruktionsbedingungen ergeben sich durch die besonderen Beziehungen der slawischen Einzelsprachen untereinander und mit anderen Sprachen: Im Unterschied zur Rekonstruktion des Wortes ist es nach Ν. N. Tolstoj wünschbar, — daß der Phraseologismus nicht in allen slawischen Sprachen und Dialekten bezeugt ist; am besten ist es, wenn er in archaischen und weit verstreuten slawischen Dialektgebieten auftritt. — Es ist besser, wenn er im Indogermanischen nicht vorliegt; wenn doch, dann nicht in den westindogermanischen Sprachen. — Ist er aber in allen slawischen Sprachen und im Indogermanischen (und Westindogermanischen) bezeugt, ist eher ein Calque anzunehmen (aufgrund der vielfachen, jahrhundertelangen gegenseitigen kulturellen Beziehungen). — Es ist für die Rekonstruktion besser, wenn der Phraseologismus in seinen einzelsprachlichen (oder dialektalen) Vertretungen Sonderentwicklungen und Varianten aufweist; bei allzu ähnlicher Form wären wieder Caiques anzunehmen (aus nichtslawischen Sprachen ins Slawische und dann innerhalb des Slawischen).

Sowjetische Forschung

— Es ist besser, wenn der Phraseologismus in seinen einzelnen Vertretungen jeweils besondere Bedeutungen hat. Fehlen semantische Eigenentwicklungen, ist wiederum ein Calque anzunehmen. Diese Verhältnisse sind jedenfalls solange zu beachten, bis ein bestimmter Kern von vorslawischen Phraseologismen rekonstruiert ist: der im Russischen, Serbokroatischen, Polnischen und Tschechischen vorliegende Phraseologismus ptic'e moloko ζ. B. ist nicht vorslawisch, denn nachweislich liegt auch ein altgriechisches ornithön gäla „lac gallinaceum" vor, daß über Byzanz und die lateinische Kultur in die obigen slawischen Sprachen, aber auch ins Deutsche, Neugriechische und Ungarische fand. Die besonderen Rekonstruktionsbedingungen illustriert Ν. N. Tolstoj am vorslawischen *na c'rn" (c'rn"j') nog"t', wörtlich „auf einen schwarzen Finger-Nagel" = „sehr wenig". Dieser Phraseologismus erscheint in einem russischen Dialekt als na cornyj n'ögot, auf dem weißrussischen Territorium als ni na sini nobcik, ni na nohac, in den ukrainischen Karpaten als jak za niht'om corne, jak za niht'om sine, russisch auch (Pskov) als ni na sin' nogotok, polnisch als czame za paznokciem, ani na paznokiec; kaschubisch ani za noks, co carno za nokca; tschechisch ani za nehet; slowakisch ani (ako) za nechtom und die Sprichwortvarianten kazdy ma Herne za nechtom, kazdy ma za nechtami blato; bulgarisch cernoto pod noktite und kalta pod noktite immer mit den Verben davam, razpitvam, poznavam in der Bedeutung „alles" und mit svidi mi se „mich reut" als „auch die letzte Kleinigkeit"; serbokroatisch ni koliko ispod nokta „sehr wenig" oder als Substantiv nökat „Kleinigkeit" und als Adverb cfno „wenig", dann auch als za nokat, ni nohta; slowenisch kolikov je za nohtom crnega. Der Phraseologismus *na c'rn" {c'rn")') nog"t' (oder *jako jest" za nog"tem' c'rno) ist also westslawisch, ostslawisch und südslawisch bekannt. Ziemlich alt ist die Variante mit *sin' statt crno: eine karpato-ostweißrussische und pskovsche Isoglosse mit Fortsetzung im weiß-

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russischen Norden. In der ukrainisch-slowakisch-bulgarischen Zone existieren Varianten mit *bolto (nur karpatisch und slowakisch), *brud" (polnisch), * grenz' (nur ukrainisch) und *kal' (nur bulgarisch), alle „Schmutz". Die verkürzte Form *na nog"t', *s" nog"tem', *ni na nog"t' gibt es im Polnischen, Bulg., Ukr., Kasch., Tschech., Slowak., und in serbokroatischen Dialekten. Großrussisch existiert als Derivat des Phraseologismus das Adjektiv nogtevyj „geizig". Ohne hier auf Einzelheiten einzugehen, kann in allen slawischen Sprachen für diesen Phraseologismus eine Sonderentwicklung aufgezeigt werden: eigene Varianten, besondere semantische Entwicklung, verkürzte Formen, neue Wortbildungen. Die Verteilung zeigt auch Isoglossen in weit voneinander entfernten dialektalen Arealen. Ν. N. Tolstoj zieht aus diesem Material folgende allgemeine Folgerungen: ein slawischer Phraseologismus kann als vorslawisch bezeichnet werden, wenn — er vor allem in Dialekten belegt ist. Bei literatursprachlichen Phraseologismen ist die dialektale Herkunft jeweils nachzuweisen. — Wesentlich sind Geographie und Varianten des Phraseologismus: der Phraseologismus sollte in wichtigen und archaischen Gebieten Eigenentwicklungen aufweisen. — Der Phraseologismus sollte in den westeuropäischen Sprachen wegen ihres bedeutenden kulturellen Einflusses auf die slawischen Sprachen fehlen. Wünschbar wären Parallelen in ostindogermanischen Sprachen, vor allem im Iran. Aber dann ist abzuklären, ob nicht auch andere Lehnverhältnisse bestehen, besonders wichtig sind dabei die türkischen Einflußmöglichkeiten. — Formale und semantische Varianten können über das Alter eines Phraseologismus Auskunft geben: nokat stellt ζ. B. eine relativ archaische Art der PhraseologismusVerkürzung dar, ebenso im Weißrussischen nogot'. — Archäologisches, ethnographisches, mythologisches und folkloristisches Material ist nach Möglichkeit beizuziehen.

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Historische Phraseologie

— Der Phraseologismus muß, um vorslawisch zu sein, eine gemeinsame semantische Ausgangsform aufweisen, eine gemeinsame „Sememverbindung". Mutatis mutandis gelten Tolstojs Bestimmungen auch außerhalb des Slawischen. Zu berücksichtigen ist hierbei die Geschichte der betreffenden Literatursprache, insbesondere fremdsprachlicher Einflüsse, und ihr Verhältnis zu den einzelnen Dialekten. Der Abklärung von Entlehnungen mag innerhalb der westeuropäischen Sprachen und Dialekte ein ähnlicher Stellenwert zukommen. Zugleich aber weist die Entwicklung jeder Literatursprache gegenüber den Dialekten Besonderheiten auf, die zu ganz anderen Resultaten führen müssen als die Entwicklung der Phraseologismen in Dialekten. Dabei kommt hinzu, daß das Verhältnis Literatursprache — Dialekte zu verschiedenen Zeiten verschieden sein kann und daß insbesondere heute die Richtungen der gegenseitigen Beeinflussung sich umkehren.

8.1.5. Sprachgeschichte und Phraseologie Besonderheiten phraseologischer Wortverbindungen treten auch im Zusammenhang ihrer diachronen Erforschung innerhalb der Literatur- und Sprachgeschichte zu Tage. Aufschlußreich für diesen Problemkreis sind die sogenannten festen literarischen Formeln in den altrussischen Sprachdenkmälern. Zunächst wurde die sprachliche Formelhaftigkeit in den altrussischen Heiligenleben festgestellt: aus der Biographie des Heiligen werden nur solche Züge ausgewählt, denen man feststehende Formeln zuschreiben kann. Das Leben des Heiligen wird zu einer Reihe abstrakter Charakteristiken, und die Biographie besteht aus einer Reihe feierlicher Momente im Leben des Heiligen, die mit traditonellen festen Wortformeln beschrieben werden. Im Großteil der Heiligenleben zeigt sich die Heiligkeit bereits im Kindesalter. In Heiligenleben verschiedener Epochen, Autoren und Gebiete meidet der Heilige schon als Kind Spiele, besucht fleißig den Gottesdienst, liest eifrig in den heiligen

Büchern u. ä. Hierbei gleichen sich die Texte nicht nur inhaltlich, sondern auch formal. Bestimmte Wortverbindungen wiederholen sich ständig. Das gleiche gilt u. a. auch für bestimmte Gebetstexte in und außerhalb der Liturgie, für Chroniken und Kriegsberichte. Hierbei ist es von Vorteil, terminologisch zu unterscheiden in „feste literarische Formel" und „feste Wortverbindung". Die „festen literarischen Formeln", die situativen Formeln, sind dabei relativ beständig, die „festen Wortverbindungen" variieren nach Autorengeschmack, Redaktor, Schreibschule usw. (Zum ganzen Problemkreis und zu den folgenden Beispielen vgl. Tvorogov 1964, S. 29—40). Zu den bekanntesten festen literarischen Formeln gehört die Beschreibung vom Tod und Begräbnis des Fürsten in den altrussischen Chroniken. Die Beschreibung besteht meist aus folgenden Elementen: Eintritt des Todes, Beweinen des Fürsten durch das ganze Volk, Darstellung der Begräbnisprozession und Hinweis auf den Begräbnisort. Das Element des Beweinens ist zum Beispiel in Chroniken zu finden, die zeitlich weit auseinander liegen, wobei aber verschiedene feste Wortverbindungen Verwendung fanden (in Klammern die Jahreszahl des Belegs): ... ne .. . slysati pen'ja vo placi velicc . .. (1078) „den Gesang im großen Weinen nicht hören"

.. .velik" plac' stvorisa . .. (1086)

„sie machten ein großes Weinen" (wörtl.)

.. . plakasasja .. . vsja zemlja Nov"gorod'skaja (1179)

„die ganze Erde Novgorods weinte" ... plakasasja . .. mnogo (1262) „sie weinten sehr".

... v"splakasa celoveci v" domech" svoich" (1399) „ . . . die heute in ihren Häusern weinten".

Die festen Wortverbindungen bestehen hier nicht aus Phraseologismen, sondern einfach aus sich wiederholenden Wörtern in ähnlicher semantischer Umgebung. Feste Wortverbindungen (in grammatisch fester Form) sind aber ebenso häufig anzutreffen: vgl. noch ζ. B. krov' tecase, jako reka „das Blut flöß wie ein Fluß", stuk i sum strasen byst', aki grom „Schlag und Lärm waren schrecklich wie Donner" u. ä.

Sowjetische Forschung

Solche festen Formeln sind in der altrussischen Literatur jedoch nicht an die Gattungen, sondern an die Situation gebunden, ihre Anwendung wird vom Gegenstand bestimmt, über den gesprochen wird. In der bilingualen Sprachsituation der altrussischen Literatur (Kirchenslawisch und Altrussisch) wechseln u. U. dabei im gleichen Werk auch die Sprachen, aus denen die festen Wortverbindungen stammen. Die Sprache etwa Monomachs ist dreischichtig: kirchenslawische, volkssprachliche und handelssprachliche Phraseologie wechseln je nach Gesprächsgegenstand (Archangel'skij 1950). Diese Vermischung der Sprachen und Stile ist vom mittelalterlichen Standpunkt aus durchaus angebracht (Lichacev 1979, S. 80ff.). Die ausgesprochene Formelhaftigkeit der Sprache der altrussischen Literatur darf deswegen nicht einfach als Anhäufung mechanisch angewandter Sprachschablonen verstanden werden. Sie ist von der Formelhaftigkeit etwa der Trivialliteratur des 19. und 20. Jh. zu unterscheiden. Die Wortformeln, bestimmte Situationen und sich wiederholende stilistische Verfahren werden von dem mittelalterlichen altrussischen Autor nicht mechanisch, sondern dort, wo sie die Etikette verlangt, angewendet (Lichacev 1979, S. 90). In ihnen drückt der Autor seine Vorstellung davon aus, was sich bei der Darstellung eines bestimmten Themas geziemt. Im obigen Problemkreis ist auch die bisherige sowjetische Forschung zur Phraseologie historischer Sprachdenkmäler im Russischen anzusiedeln. Sie beschäftigt sich mit einzelnen besonders verbreiteten Typen von Phraseologismen der altrussischen Sprache (Klassifikationen nach grammatischen Typen), mit der Klassifikation fester Wortverbindungen ihrer Herkunft nach (Kirchenslawisch und Griechisch, Geschäfts-Handelssprache, Volkssprache-Folklore), und mit der Verteilung dieser Typen in einzelnen Sprachdenkmälern. Anhand der Resultate dieser Forschung kann dann der Bestand der eigentlich russischen (nicht kirchenslawischen und nicht entlehnter) Phraseologie festgehalten werden, was erst die Voraussetzung zu einer historischen Phraseologie des Russischen schafft.

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Ziel der Untersuchung der Phraseologie einzelner Denkmäler ist die Charakterisierung dieser Denkmäler, v. a. in stilistischer Hinsicht. Auf diesen Wegen versucht die sowjetische Phraseologieforschung die Entwicklung zur heutigen russischen Literatursprache nachzuzeichnen. In diesem Handbuch sollen die Ergebnisse dieser recht zahlreichen Arbeiten nicht zusammengefaßt werden. Für eine systematische Darstellung der ganzen Entwicklung reichen sie noch bei weitem nicht aus. Hingegen ist es hier notwendig, auf besondere Schwierigkeiten hinzuweisen, die die Behandlung der Phraseologie innerhalb von Sprachund Literaturgeschichte stellt. Für den Phraseologen sind die altrussischen Sprachdenkmäler zunächst Quellen von Phraseologismen. Aus ihnen versucht er, ihre Form und ihre Bedeutungsfunktionen festzulegen. Benutzt er mehrere Denkmäler, kann er auch Entwicklungen in Form und Bedeutungen dieser Phraseologismen verfolgen. Prinzipiell gilt das auch für die russische Sprache des 18. und 19. Jh. Von der Behandlung der Texte als Quellen für phraseologisches Material ist nun aber die Untersuchung der Funktion der Phraseologismen in den betreffenden Texten, die man als Quellen heranzieht, nicht zu trennen. Hierin überschneiden sich sprachwissenschaftliche und literaturwissenschaftliche Problematik. Phraseologismen in Texten müssen in Abhängigkeit von der jeweiligen Textsorte und ihrer Sprache untersucht werden. Zu berücksichtigen sind dabei auch die verschiedenen Sprachschichten innerhalb ein und desselben Textes. Deswegen gehört die Unterscheidung literarischer (künstlerischer) Text — nicht künstlerischer Text zu den wichtigsten Argumenten bei der Beurteilung sich wiederholender Wortverbindungen und Wortreihen (auch die Frage der Epitheta). Alles hängt dabei davon ab, in welcher Sprache (bzw. Sprachschicht) Phraseologismen gesucht werden. In russischen Schlachtberichten wiederholt sich ζ. B. der Vergleich strely letjat kak dozd' „die Pfeile fliegen wie Regen" in fester Form. Aber so oft sich auch der Vergleich wiederholt, er hat jedesmal den Effekt einer einmaligen Erfindung. Ebenso oft kann man aber auch ein

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Historische Phraseologie

Gedicht beliebig wiederholen, der Eindruck seiner Einmaligkeit bleibt erhalten (Lichacev 1979, S. 114). Innerhalb des künstlerischen Textes ist eine solche traditionelle Formel sozusagen ein kleines Kunstwerk (Lichacev 1979, ebenda). Als solche kleine Kunstwerke sind auch die sogenannten „poetischen Phraseologismen" in den künstlerischen Texten der Neuzeit zu verstehen. Im sprachlichen Kunstwerk kommen als zusätzliche Bedeutungen nicht einfach neue metaphorische, assoziative und expressiv-emotionelle Konnotationen hinzu (solche weist auch fast jeder Typ von Gebrauchssprache auf). Das im Kunstwerk zusätzliche Bedeutungselement versucht, die emotionelle und inhaltliche Isolation des Wortes (der Wortverbindung) aufzuheben, und es (sie) in die Bedeutung des ganzen Kunstwerkes einzuordnen. Die traditionelle Festigkeit der Vergleiche, Analogien, Metaphern usw. ist in der Literatur des Altrussischen u. a. auch darauf zurückzuführen, daß die theologischen Einsichten, die ihnen zu Grunde liegen, in der Literatur immer neu erwähnt und damit bestätigt werden sollen. Die festen Epitheta des zweiten südslawischen Stils haben ζ. B. weniger die Funktion von Anschaulichkeit und Ausdruckskraft, sondern eröffnen vielmehr die idealen, „ewigen" inneren Merkmale der attribuierten Einheiten (Lichacev 1979, S. 80-111). Die Untersuchung fester Wortverbindungen im sprachlichen Kunstwerk ist deswegen auf das Verständnis des betreffenden Werkes auszurichten, wobei zur Bestimmung ihrer Funktion mehrere Gesichtspunkte von Bedeutung sind: 1. Die Untersuchung muß alle sich wiederholenden Wortverbindungen und Wortreihen berücksichtigen, die strukturellen Besonderheiten dieser festen Wortgruppen jedoch auseinanderhalten. 2. Die Wechselbeziehungen zwischen den Sprach- und Stilschichten sind darzustellen: Wann liegen Entlehnungen aus höheren bzw. niederen Sprach- und Stilschichten vor? Welche Verbindungen sind für welche Genres typisch?

3. Die Verwendung ist mit der Bedeutung des Werkes und mit dem Stil der betreffenden Epoche in Verbindung zu bringen. 4. Daraus wird deutlich, daß sich für jedes künstlerische Werk und seine literaturgeschichtliche Situation besondere Bedingungen aufzeigen lassen, die die Erklärung der Verwendung fester Wortverbindungen im Text mitbestimmen. Literaturwissenschaftliche und sprachwissenschaftliche Problematik der Phraseologie überschneiden sich dabei gerade am konkreten Beispiel. Die Charakterisierung der Wortverbindungen als phraseologisch (fest, idiomatisch, reproduziert, metaphorisiert, bildhaft, expressiv, modelliert) ist zunächst Sache der sprachwissenschaftlichen Argumentation, wobei die Bedeutungsbeschreibungen der Komponenten und der ganzen Wortverbindung die Hauptrolle spielen. Aber bereits die Bestimmung der Form der betreffenden Wortverbindung und ihre möglichen Varianten führen dabei zu literaturwissenschaftlichen Problemen: liegt ein Neologismus vor oder hat der Autor die Wortverbindung entlehnt? Entlehnungen können partielle Eigenheiten aufweisen. Muster werden variiert. Diese Fakten sind in bezug auf den Autor und das Werk zu motivieren. Besonders wichtig ist, wem der betreffende Ausdruck in den Mund gelegt wird und in welchem Genre er auftritt. Die sowjetische Forschung zur Phraseologie kennt neben Arbeiten zu altrussischen und kirchenslawischen Sprachdenkmälern eine große Anzahl von Untersuchungen zur Phraseologie einzelner Schriftsteller des 18. und 19. Jh., in denen sich zahlloses Beispielmaterial mit vielen Einzelbeobachtungen findet. Die Großzahl der Arbeiten befaßt sich mit der Bestimmung der ästhetischen Funktion der Phraseologismen im künstlerischen Text als Teiluntersuchung zum Stil des betreffenden Autors. Nach Fedorov (1973, S. 41) kranken die meisten dieser Arbeiten an der fehlenden Spezifizierung der festen Wortverbindungen: feste Redewendungen, geflügelte Wörter, Sprichwörter, Metaphern usw. werden in die

Sowjetische Forschung Phraseologie des betreffenden Stils einbezogen, ohne ihre Funktion nach den spezifischen Gruppen zu differenzieren. Dazu kommen weitere Fehlbeurteilungen. In zahlreichen Arbeiten dieses Typs werden die registrierten Phraseologismen und ihre stilistische Schattierung direkt mit der positiven Charakteristik der Personen im Kunstwerk verbunden und ohne daß der Komponentenbestand von der obligatorischen Umgebung unterschieden wird (Fedorov 1 9 7 3 , S. 41). Der Schriftsteller verwendet aber einen Phraseologismus zielgerichtet. Die Modifikationen, die Phraseologismen im künstlerischen Text gegenüber ihrer Verwendung etwa in Gebrauchstexten aufweisen, sind nicht zufällig. In Phraseologismen, in denen die innere Form noch nicht ganz verdunkelt ist, kann die in ihnen liegende Metapher durch die textuelle Umgebung erneuert sein. Es entsteht eine Opposition zwischen üblicher und künstlerischer Verwendung, eine Bedeutungsbereicherung, die der Leser wahrnimmt. So etwa bei Gogol in der „Erzählung davon, wie Ivan Ivanovic mit Ivan Nikiforovic in Streit geriet" (Beispiel aus Fedorov 1 9 7 3 , S. 45): Togda ona otbirala kljuci i ves' dom brala na svoi ruki. Eto bylo ocen' neprijamo Ivanu Nikiforovicu, odnako on, k udivleniju, slusal ee kak rebenok, i chotja inogda i pytalsja sporit', no vsegda Agafija Fedoseevna brala verch. Ja, priznajus', ne ponimaju, dlja cego eto tak ustroeno, eto zensciny chvatajut nas za nos tak ze lovko, kak budto za rucku cajnika? Iii ruki ich tak sozdany, ili ttosy nasi ni na eto bolee ne godjatsja. I nesmotrja, eto nos Ivana Nikiforovica byl neskol'ko pochoz na slivu, odnako ze ona schvatila ego za etot nos i vodila za soboju, kak sobacku. „Dann nahm sie die Schlüssel weg und nahm das ganze Haus in ihre Hände. Das war Iwan Nikiforovic sehr unangenehm, aber erstaunlicherweise gehorchte er ihr wie ein Kind, und wenn er auch hie und da versuchte zu streiten, so hatte Agafija Fedoseevna doch immer die Oberhand. Zugegeben, ich verstehe nicht, warum es so eingerichtet ist, daß uns die Frauen so gewandt an der Nase fassen, als wäre sie ein Teekrughenkel? Entweder sind ihre Hände so geschaffen, oder unsere Nasen taugen nicht zu mehr. Und obwohl die

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Nase Iwan Nikiforovics ein bißehen einer Pflaume ähnlich war, sie faßte ihn trotzdem an dieser Nase und führte ihn hinter sich her wie ein Hündchen." Der Phraseologismus vodit' za nos (kogo-libo) (wörtl.: „jemanden an der Nase führen") hat die Bedeutung „hintergehen". Gogol gibt dem Ausdruck seine Bildhaftigkeit zurück. Die Wechselwirkung zwischen dieser Wendung und dem Inhalt des Kontextes wirkt auf die Bedeutung der Wendung im Text. Jetzt wird sie zusätzlich als „seinem Willen unterwerfen, regieren" verstanden (vgl. Fedorov 1 9 7 3 , S. 45). Die in diesem Zusammenhang relevanten Faktoren der „künstlerischen Vertextung" von Phraseologismen werden besonders an der Entwicklung des Stils in den Werken Puskins deutlich (Fedorov 1 9 7 3 ; Poeticeskaja Fraseologija Puskina 1 9 6 9 ; Vinogradov 1961). Die poetische Phraseologie Puskins lehnt sich in seinen früheren Jahren an die Modelle seiner romantischen Zeitgenossen an. In der individuellen Auffüllung dieser Muster erreicht Puskin die ihm eigene Meisterschaft. Gegen Mitte der 20er Jahre des 19. J h . überwindet Puskin den Kanon der romantischen Phraseologismen und Periphrasen. Lexik und Stilistik werden einfacher, Phraseologismen aus der Umgangssprache erscheinen. Die „Demokratisierung" seines Stils zeigt sich innerhalb seines Versromans „Evgenij Onegin", der in den Jahren 1 8 2 3 — 1 8 3 0 entstand, in fortschreitendem Maße. Die Verwendung volkssprachlicher Lexik und Phraseologie wird zum Index für den Puskinschen Realismus. Mit dieser realistischen Methode seiner Wortkunst glaubt er, der „Wahrheit" näher zu kommen. Die Problematik der Verwendung von volkssprachlichen Phraseologismen im Kunstwerk besteht hier in der Frage nach der Motivation dieses Stilmittels. Im vorliegenden Fall ist sie nicht einfach in Hinblick auf die Epochen (von der Romantik zum Realismus) zu beantworten, sondern auf die Motive in der künstlerischen Biographie des Dichters (konkret: warum wurde Puskin Realist, warum entdeckte er die Volkssprache?). Diese Fragen führen über die Phraseologie hinaus.

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Historische Phraseologie

Der Sprachwissenschaftler geht üblicherweise umgekehrt vor: ihn interessieren die Werke Puskins ζ. B. als Quellenmaterial für die Volkssprache des 19. J h . Aber gerade hier muß er wissen, in welcher Absicht und wie Puskin volkssprachliche Phraseologismen verwendet. Er kann nicht einfach annehmen, Puskin übernehme die volkssprachlichen Phraseologismen in ihrer ursprünglichen Form und ihrer umgangssprachlichen Bedeutung. Neben den Wörterbüchern und publizistischen Texten, und neben den literarischen Werken „niederen Stils" (Satire, Komödie) der gleichen Epoche hat er auch zu berücksichtigen, welcher Person der betreffende Phraseologismus zugeschrieben wird und welche Konsequenzen die formalen Transformationen der Phraseologismen für ihre Bedeutung haben. Bezeichnend ist etwa folgendes Beispiel (vgl. auch Fedorov 1 9 7 3 , S. 105): Kogo ζ ljubit'? Komu ze verit'? Kto ne izmenit nam odin? Kto vse dela, vse reci merit Usluzlivo na nas arsin ? (Evgenij Onegin, Kap. IV, XXII) „Wen lieben? Wem glauben? Wo ist der, der uns nicht täuscht? Wer mißt alle Taten, alle Reden dienstfertig mit unserer Elle?" Der umgangssprachliche Phraseologismus in seiner regulären Form lautet merit' na svoj arsin „über jemanden, über etwas allein nach seinen Vorstellungen urteilen". Durch die Transformation „nach seiner eigenen Elle" (na svoj arsin) zu „nach unserer Elle" (na nas arsin) entsteht im T e x t die Bedeutung: „jemanden, etwas nicht nach seinen, sondern nach unseren Vorstellungen beurteilen", so daß die Ergänzung usluzlivo „dienstfertig" möglich wird. Die vier Zeilen gehörten zum Autorentext. Sie enthalten in den Fragen an den Leser verkürzt die Besonderheit des Puskinschen Realismus: ljubit' — verit' — ne izmenit' — „lieben" — „glauben" — „nicht täuschen" als Weg zur Wahrheit, der in der Absage an die „eigene Elle" (svoj arsin), d. h. in der Absage an das Romantische, und in der Hinwendung zum realen Maß, dem des Textes (und Dichters) liegt (nas arsin). In den zwei Zeilen,

die den umgangssprachlich bekannten Phraseologismus variieren, liegt eine „realistische" Leseanweisung vor. Die obigen Bemerkungen gelten prinzipiell für alle Untersuchungen zur Rolle der Phraseologismen in literarischen Texten. Für den Phraseologen sind individuelle Verwendungen von Phraseologismen Zeichen der Mobilität und Index für die nur bedingte Festigkeit des Phraseologismus. Zugleich zeigt das Beispiel Puskin, daß auch der Schriftsteller u. U. bei weitem nicht nur die Rolle des Schöpfers von Phraseologismen einnimmt. Bei der Rückführung Geflügelter Wörter auf bestimmte bekannte Autoren ist darauf Rücksicht zu nehmen, daß der betreffende Autor u. U. ein volkssprachlich bereits vorliegendes Modell aufgenommen hat. Vgl. ζ. B. den Ausdruck dvorjanskoe gnezdo (Babkin 1 9 7 0 , S. 121) „Adelsnest" („Das Adelsnest": Titel eines Romans von Turgenev). Mokienko ( 1 9 8 0 , S. 18) verweist mit Recht darauf, daß die zahlreichen individuellen und okkasionellen Verwendungen von Phraseologismen bei Autoren und in der Umgangssprache vom sprachwissenschaftlichen Standpunkt aus in den Bereich der Variabilität der Phraseologismen gehören (vgl. oben 3.1.; 3.2.). Die Berücksichtigung der der Textsorte und literarischen Epoche eigenen Besonderheiten der Sprachverwendung ist eine der Voraussetzungen für die Behandlung der Phraseologismen in der Sprachgeschichte. Der gegenwärtige Stand der sowjetischen Phraseologieforschung erlaubt noch nicht ein endgültiges Bild der Geschichte der Phraseologie des Russischen. Dennoch sind einige bedeutende Forschungen in dieser Richtung zu verzeichnen. Sie beschäftigen sich mit einzelnen wesentlichen Teilaspekten und Epocheabschnitten, d. h. Texten (Textsorten), die spezifisch für die russische Sprachgeschichte von Bedeutung sind. In ihnen werden die phraseologischen Erscheinungen mit anderen Fakten der russischen Sprachgeschichte in Beziehung gebracht (vor allem mit den Resultaten der weiter fortgeschrittenen historischen Lexikologie). In diesen Arbeiten finden sich viele Beobachtungen zur strukturellen und funktionalen Entwicklung

Sowjetische Forschung

einzelner Phraseologismen und Gruppen von Phraseologismen. Eine eingehende Darstellung dieser Arbeiten ist im vorliegenden Rahmen dieses Handbuches nicht möglich. Das erste Ziel all dieser Arbeiten besteht zunächst in der Bestandesaufnahme des Phraseologischen in den betreffenden Texten. Daß dabei manchmal von einer rein theoretischen Bestimmung des Phraseologismus abgewichen wird, um der Spezifik der betreffenden Textsorte gerecht zu werden, ist u. E. durchaus richtig. So läßt das begrenzte Korpus der altkirchenslawischen Sprachdenkmäler durchaus eine Behandlung aller Wortverbindungen unter dem Aspekt ihrer lexikalischen Verbindbarkeit zu (Kopylenko 1973). Die Behandlung des altrussischen Geschäftsstils etwa (Selivanov 1973) verlangt ζ. B. die Mitberücksichtigung von Formeln (vgl. oben schon Tvorogov 1964 zu Chroniken und Heiligenleben der altrussischen Literatur) und zusammengesetzten Termini, die in den Texten des Geschäftsstils als usuell feste Wortverbindungen eine wichtige Rolle spielen. Prinzipiell sind deswegen in Abhängigkeit von der literarischen Funktion des untersuchten Textes und seiner sprachgeschichtlichen Stellung auch Zitate, Geflügelte Wörter, Sprichwörter u. ä. miteinzubeziehen. In allen Arbeiten wird das gesammelte phraseologische Material nach seiner stilistischen, soziolinguistischen (Berufssprachen), territorialen (Entlehnungen, Dialekte) Herkunft gesichtet. Zur Bestimmung der behandelten Textsorten werden Vergleiche mit anderen Texten (andere literarische Gattungen, Vorlagen, andere Stilepochen usw.) angestellt. Sie erlauben dann eine sprachhistorische Charakterisierung der betreffenden Texte und eine Beurteilung des Charakters ihrer phraseologischen Objekte. In den meisten Fällen ist eine globale Bewertung des Phraseologischen nicht möglich. Die Argumentationen sind auf die phraseologischen Untergruppen zu beziehen, deren Elemente, die konkreten phraseologischen Wortverbindungen, jedesmal einer individuellen Beurteilung bedürfen. Tendenzen lassen sich erst aus der Fülle der behandelten Einzelfälle und nur mit Vorbehalten formulieren.

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Zu den wichtigsten Arbeiten gehören im Zusammenhang dieses Abschnittes diejenigen von Kopylenko ( 1 9 6 7 , 1 9 7 3 und viele andere), Lomov (1969), Selivanov (1973), AdrianovaPeretc (1966), Samojlova N. G. (1969), Kostjucuk (1964), Jancen (1970), Chazov (1975) zur altrussischen Epoche. Zur Neuzeit vor allem Fedorov (1973) und Palevskaja (1972). Unentbehrlich ist auf jeden Fall Babkin (1970). Von den Lehrbüchern zur russischen Sprachgeschichte berücksichtigt am konsequentesten phraseologisches Material Larin (1975), viele Beispiele auch in Uluchanov (1972). Die literaturwissenschaftliche Relevanz der Phraseologie zeigenauch viele Arbeiten von Vinogradov (1979, 1980), für die altrussische Zeit wichtig ist Tvorogov (1962 und 1964). Am ausführlichsten über poetische Phraseologie handelt Poeticeskaja Frazeologija Puskina (1969), nicht zuletzt deswegen, weil es ein Wörterbuch zu Puskin gibt (Slovar' 1 9 5 6 - 1 9 6 1 ) , so daß das gesamte Material berücksichtigt werden kann.

8.1.6. Schlußbemerkungen Die aufgezeigten Aspekte der Diachronie bei der Erforschung phraseologischer Wortverbindungen (ihre Entstehung, ihre historischen Entwicklungsmöglichkeiten, ihre Rekonstruktion und Etymologie, sowie ihr Zusammenhang mit der Geschichte der Sprache und ihrer Dialekte und Stile) gelten prinzipiell für alle Sprachen. Zentral ist bei der Beantwortung aller sich ergebenden Fragen der historischen Veränderungen (Verlust von Phraseologismen, Archaismen, semantische und strukturelle Veränderungen, Wechsel innerhalb der stilistischen Systeme, Neubildungen, Entlehnungen, vgl. 7.2.2.) die Bestimmung der Funktion des Phraseologismus in der Sprache, d. h. die Beantwortung der Frage: warum gebraucht der Autor/der Sprecher einen Phraseologismus? Üblicherweise werden als Funktionen des Phraseologismus seine Expressivität, seine Modalität und seine Bildhaftigkeit genannt, die im phraseologischen Ausdruck im Unterschied zur denominativen Hauptfunktion des Wortes dominieren. Dem ist sicher zuzustimmen. Ex-

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Historische Phraseologie

pressivität, Modalität und Bildhaftigkeit sind jedoch in Abhängigkeit von der entsprechenden Textsorte, der Stilschichten und der Funktion jedesmal neu zu formulieren. Das ist aus diachroner Sicht deswegen wichtig, weil Veränderungen in der phraseologischen Entwicklung (ζ. B. der Verlust bestimmter Phraseologismen, Erweiterung ihrer kontextuellen Verbindbarkeit, Wechsel ihrer Stilschicht) letztlich immer in bezug auf die Funktion des betreffenden Ausdrucks beschrieben werden müssen. Prinzipiell ist der Verlust einer sprachlichen Einheit immer mit dem Verlust der Funktion dieser Einheit zu begründen. Das gleiche gilt entsprechend auch für andere Veränderungen. Es gibt nichts Zufälliges in der diachronen Entwicklung des phraseologischen Bestandes einer Sprache. Allein die Erklärung der Gründe stellt besondere Anforderungen, die mit der Komplexität der phraseologischen Verbindung verbunden sind (morphologische, syntaktische, lexematische Besonderheiten der inneren Form, kontextuell-thematische Gebundenheit, stilistische Markiertheit, Zusammenhang mit der Wortgeschichte). Es ist möglich, daß im Phraseologismus ins Bockshorn jagen das Wort Bockshorn erhalten bleibt, obschon sein Denotat verloren gegangen ist. In der phraseologischen Wortverbindung dominiert die expressive (modale, bildhafte) Funktion. Diese Konnotation ist im ganzen Ausdruck entscheidend. Die durch den Verlust des Denotats Bockshorn entstandene Verdunkelung der inneren Form, die durch die Expressivitätsfunktion motiviert war, macht allerdings Bildungen dieses Typs zu Kandidaten für den „phraseologischen T o d " . Keinesfalls aber geht einfach, wie manchmal behauptet wird, der vom Phraseologismus bezeichnete Begriff verloren. Bezeichnend ist etwa das Beispiel ν sapogach chodit' „wird teuer verkauft", wörtl. „geht in Stiefeln" (Fedorov 1973, S. 115). Die bildhaft-expressive Funktion war dank der Konnotation von sapogi „Stiefel" als „teurer Gegenstand" möglich. Der Verlust der Konnotation von „teuer" für „Stiefel" ist dann auch zugleich Funktionsverlust für den Ausdruck. Deswegen blieb der Ausdruck in der umgangssprachlichen Stilschicht des einfachen

Volkes verhaftet und konnte diese Funktion für die Schichten, für die Stiefel nicht teuer waren, nie erfüllen. Im oben behandelten Ausdruck kisejnaja barysnja war dagegen für den Verlust der Aktualität der Verbindung der Verlust der Aktualität des Begriffs „verzärteltes Fräulein" in der Literatur und innerhalb der Bildungsund Erziehungsprobleme in der Gegenwart verantwortlich. Die Vielschichtigkeit des Phraseologismus und die individuelle lexematische Auffüllung jeder phraseologischen Wortverbindung zwingen deshalb dazu, in jedem Einzelfall die für die Geschichte des Phraseologismus relevanten Faktoren jedesmal neu zu bestimmen.

8.2. Identifikation von Phraseologismen in älteren Texten (an deutschem Material) Die Frage des Auffindens und Erkennens von phraseologischen Erscheinungen stellt sich nicht nur für ältere Texte, sondern natürlich auch für die Gegenwartssprache, jedoch in anderer Weise als für historische Sprachstufen: Wir verfügen heute über eine unabsehbare Menge von gegenwartssprachlichen Texten aus allen denkbaren Bereichen, wir verfügen ferner über eine beliebige Zahl von kompetenten Sprachteilhabern, die befragt werden können; unser Problem ist also, wie man dieser Fülle des angebotenen Untersuchungsmaterials Herr werden kann. In den ältesten Stufen der deutschsprachigen Überlieferung ist die Situation genau konträr: es liegen nur wenige Texte vor, statistische Methoden kommen nicht in Frage, Befragungen können naturgemäß nicht vorgenommen werden. In mhd. und frühnhd. Zeit verbreitert sich die Materialbasis. Aber ein Grundproblem bleibt für alle historischen Phasen unüberwindbar: Wir könnten zwar, wenn alle verfügbaren Texte untersucht wären, auflisten, welche Wortverbindungen tatsächlich vorkommen und wie häufig sie relativ zum übrigen Wortschatz im Untersuchungskorpus

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Identifikation von Phraseologismen

sind. Unbeantwortbar aber bleiben Fragen dieser Art: Welche Verbindungen sind nicht möglich? Hat ζ. B. das Verb in einer bestimmten Verbindung dieselbe Bedeutung, die es auch außerhalb der Verbindung haben kann, oder ist die Bedeutung unikal? Hier kann man nur mit Indizien-Bündeln arbeiten, die eine Vermutung in der einen oder anderen Richtung stützen, ohne daß aber ein Beweis möglich wäre. Es liegen auch im Deutschen schon ein Menge von Arbeiten zu phraseologischen Erscheinungen bei älteren Autoren vor (Walther von der Vogelweide, Freidank, Geiler von Kaisersberg, Sebastian Brant, Thomas Murner, Luther, Hans Sachs, Fischart, Moscherosch, Gryphius, Grimmelshausen, Abraham a Santa Clara u. a., vgl. Mieder 1978, Bibliographie S. 1 8 7 200). Da die Sammlungen aber i. a. ohne jede linguistische Vorüberlegungen erstellt wurden, haben sie nur sehr beschränkten Wert für systematische sprachgeschichtliche Untersuchungen. (Zudem werden meist nur die Sprichwörter, die metaphorischen und die stark idiomatischen Phraseologismen berücksichtigt.) Die Verfasser solcher Untersuchungen gehen — mehr oder weniger bewußt — von ihrer eigenen gegenwartssprachlichen Kompetenz aus und leiten daraus Vermutungen über die historischen Erscheinungen ab. Das ist zweifellos ein legitimer Weg zur Auffindung und Identifikation von Phraseologismen, ohne Unterstützung weiterer Kriterien ist er aber unsicher und u. U. irreführend. Im folgenden sollen daher Indizien entwickelt werden für das Auffinden und die Identifikation von Phraseologismen in historischen Texten, am Beispiel von Sprachstufen des Deutschen, die wir bereits auf diese Fragen hin untersucht haben: Ahd. und Frühnhd. (zum Ahd. vgl. Burger 1977). Wenn sich ein Indiz bereits in ahd. Zeit belegen läßt, geben wir ahd. Beispiele, ζ. T. ergänzt durch frühnhd. Material. Sonst beziehen wir uns nur aufs Frühnhd. Die ahd. Texte zitieren wir mit den Siglen des Ahd. Wörterbuchs und nach den dort bibliographierten gängigen Ausgaben. Die frühnhd. Quellen sind in unserem Literaturverzeichnis aufgeschlüsselt.

8.2.1. Indizien, die generell für historische Sprachstufen gelten 8.2.1.1. Die eigene Sprachkompetenz Unsere eigene Sprachkompetenz, verbunden mit metasprachlichem Wissen über die Phraseologie der heutigen Sprache, kann nicht mehr als erste Hinweise liefern: Wenn in einem historischen Text Wortverbindungen auftreten, die auch heute noch existieren und die heute als Phraseologismen zu gelten haben, wird man der Frage nachgehen, ob die Verbindung schon damals phraseologisch war oder noch als freie Wortverbindung aufgefaßt wurde. 8.2.1.2. Das Wissen über Phraseologie Unser Wissen über die heutige Phraseologie kann noch einen Schritt weiterführen: Es gibt Sachbereiche und lexikalische Bereiche, die besonders „anfällig" für Phraseologie sind, es gibt Typen von Kommunikationssituationen, in denen bestimmte Typen von Phraseologismen zu erwarten sind, und es gibt kommunikative Funktionen, die bevorzugt durch Phraseologismen realisiert werden. (1) Wir wissen, daß die Verbalisierung von Routinehandlungen des Alltags oder auch der zwischenmenschlichen Beziehungen besonders stark durch Phraseologismen sich vollzieht (Höflichkeitsformeln, Beschimpfungen etc.), oder daß die verbale Kodierung nonverbalen Verhaltens durch „Kinegramme" weitgehend phraseologisch ist. Ferner sind es ζ. B. lexikalische Bereiche wie die Wörter für Körperteile oder für Tiere, die heute besonders stark mit Phraseologismen besetzt sind. Da dies kaum sehr junge Erscheinungen sein dürften, ist es naheliegend, diesen lexikalischen Spuren nachzugehen. So wirkt es wie ein pointiertes Resümee jahrhundertelanger Traditionen metaphorischer Phraseologie, wenn Polgar in seinem „Traktat vom Herzen" schreibt, was das „Herz" alles „kann": Es ist der verschiedenartigsten Funktionen kann zum Beispiel erglühen wie ein Scheit etwas gehängt werden wie ein Überrock, sein wie eben ein solcher, laufen wie ein

fähig. Es Holz, an zerrissen gehetzter

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Historische Phraseologie

Hase, stillstehen wie die Sonne zu Gideon, überfließen wie die Milch im Kochtopf. Es steckt überhaupt voller Paradoxien. (S. 34)

Und Röhrich (1973) verzeichnet etwa unter „Maus" die folgenden Phraseologismen: Da beißt keine Maus einen Faden ab Wie eine gebadete Maus nach den Mäusen werfen Das trägt eine Maus auf dem Schwänze fort Wie die Maus im Speck sitzen Leben wie die Mäuse in der Speckseite arm wie eine Kirchenmaus Es ist eine Maus im Mehl Das ist den Mäusen gepfiffen Dem wird keine Maus Speck aus dem Arsch fressen Es ist zum Mäusemelken Mäuse merken Mäuse vormachen Aussehen wie ein Topf voll Mäuse Da möchte ich Mäuschen spielen Maus wie Mutter Es war keine Maus da Mäuse im Kopf haben Weiße Mäuse sehen Bis dahin wird noch manche Maus in ein ander Loch schlüpfen In ein Mauseloch kriechen mögen Daß dich das Mäuslein beiß

(Für etliche dieser Ausdrücke sind auch ältere Belege, bis zurück ins Frühnhd., aufgeführt.) (2) Gruß, Verabschiedung, Beileidsbezeugung, Glückwunsch u. dergl. neigen als ritualisierte Bestandteile bestimmter — in ältester Zeit vorwiegend mündlicher, später zunehmend auch schriftlicher — Situationen zur phraseologischen Verfestigung. Man wird — natürlich unter Berücksichtigung möglicher kultureller Wandlungen — zunächst, bis zum Beweis des Gegenteils, annehmen dürfen, daß ähnliche Formen auch für ältere Zeiten existiert haben. (3) Für die wichtigsten kommunikativen Funktionen von Äußerungen (im Sinne R. Jakobsons) gibt es sprachliche Ausdrucksweisen — Interjektionen oder interjektionsartige Phraseologismen (vgl. Burger 1980a) - , die z.B. die Befindlichkeit des Sprechers oder den Versuch zur Kontaktnahme mit dem Hörer auf elementare Weise versprachlichen bzw. sprach-

lich vorstrukturieren. Solche interjektionsartige Phraseologismen gibt es bereits in der ahd. Literatur: Das nur bei Otfrid belegte uuola uueitig (IV 30,9) ,oh Unglück' (zu wenag ,unglücklich, elend') gehört hierher. Mhd. ist werte, weng noch als Interjektion verbreitet. Die offenbar bereits ahd. geläufige morphologische Zusammenziehung deutet auf eine sprechsprachliche Loslösung der Interjektion vom Adj. in freiem Gebrauch. Zum Kreis solcher Formeln sind wohl auch die folgenden Ausdrücke zu rechnen: von Notker verwendetes ah ze härme ,ach leider' für ο rtefas, ah rnih ,weh mir', ah ze sere ,oh Unglück', nein ze sere,leider nein' und thia meina (mit Varianten: then meinön, bt thia meina, in thia meina usw., sämtlich bei Otfrid bezeugt). Für letztere Wendung notiert Kelle, daß es sich um „meist zur Füllung des Verses gebrauchte Ausrufe" handle. Auch das semantische Spektrum, das von der bloßen Beteuerung ,fürwahr, wahrlich' bis zum Ausdruck des Bedauerns (,leider, ach') zu reichen scheint, deutet auf hochgradige Phraseologisierung hin. Es ist also bei diesen Phraseologismen nicht immer zu entscheiden, ob es sich um echte expressive Äußerungen handelt, oder nur noch um Verstärkungsformeln, die schließlich möglicherweise nur noch zur bequemen Versfüllung dienen. Allgemein ist das Ahd. reich an Phraseologismen, die der Verstärkung einer Aussage, der Beteuerung des Wahrheitsgehaltes dienen oder die den Hörer auf die Wichtigkeit des Gesagten hinweisen wollen (Übergang zur Kontaktfunktion). Ein ganzer Teilsatz ist zu einer solchen „Beteuerungsformel" (so Büge 1908) erstarrt und entsprechend als Kurzform überliefert: so eigi ih guot ,so wahr ich Gutes haben möge' wird zu so egih kuot (Npgl 82,8) und noch deutlicher verkürzt zu segih guot (S 94,9) bei dem hilflosen, aber vielleicht um so glaubwürdigeren Schreiber des Georgsliedes (die Hs. hat shegih guot). Büge (1908) bringt am Rande auch Beispiele aus anderen ahd. (und as.) Texten. Besonders häufige Ausdrücke sind außer den oben genannten' etwa in alawar/in alawari (u. ä.), in giwissi, ana wan, ana wank, in war/in wara/zi ware (waru),

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wobei vor allem auf die satzwertigen Konstruktionen hinzuweisen ist, wie ih sagen thir (thaz/ein), thaz ist war, wizist thu (wizit ir) thaz, ih zellu thir u. ä.). 8.2.1.3. Sprachhistorische Kompetenz Schließlich besitzen wir als Sprachhistoriker eine gewisse Kompetenz ζ. B. des Ahd. oder des Frühnhd., die natürlich nichts anderes ist als Resultat häufigen Umgangs mit den Texten und den lexikographischen Handbüchern. Diese (notwendigerweise immer sehr rudimentäre) Kompetenz erlaubt Vermutungen darüber, ob eine Wortverbindung wörtlich oder im metaphorischen Sinn gemeint ist, ob Elemente einer Wortverbindung in ihrer sonst gängigen oder in einer abweichenden Bedeutung verwendet sind usw. All dies aber ergibt nicht mehr als erste Hinweise, wo man überhaupt nach Phraseologismen zu suchen hat. 8.2.1.4. Metasprachliche Hinweise im Text Gelegentlich trifft man auf den Glücksfall, daß der Autor eines Textes einen Hinweis auf den phraseologischen Charakter eines Ausdrucks gibt (nach der Art wie mart so schön sagt, oder wie es im Sprichwort heißt vgl. 1.4.2.). In ahd. Zeit ist uns dies nur bei Sprichwörtern begegnet. Notker kündigt in den folgenden Beispielen die Sprichwörter explizit an: unde ist uuarez piuurte. daz man chit, ter filo habet. ter bedarf ouh filo. (Nb 93,22) fone diu chit iz in biuurte. alter al genimet (Nc 746,20)

piuurt und man chit im ersten Beispiel (ebenso das unpersönliche iz chit im zweiten) indizieren die Berufung auf allgemeine (kollektive) Erfahrung. Ob es sich jeweils um ein originäres deutsches Sprichwort handelt, ist allerdings nur durch vergleichende Untersuchungen feststellbar, es sei denn, formale Kriterien deuteten auf heimisches Sprachgut. Als Hinweis solcher Art könnte der Stabreim dienen (ζ. B. alter al). Daß der Stabreim aber auch als ästhetisches Formelement bei übersetzten Sprichwörtern eintreten kann, zeigt die stabreimende Formu-

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lierung in der sog. „St. Galler Schularbeit", die unzweideutig auf lat. Vorlage zurückgeht: Cui deus placabilis, huic exorabilis: temo die heiligen höh sint. ter mag iiörsko gebeton.

(Der Übersetzer verwendet den Stabreim offensichtlich als Äquivalent zum lat. Binnenreim.) Notkers Übersetzung und Kommentierung von Ps. 9, Diapsalma (27,26) zeigt sehr schön Gestalt und Funktion des deutschen Sprichwortes als Bekräftigung der Übersetzung: Dum superbit impius incenditur pauper. Daz chedent sie. aber fone Gote uuirt inzündet der armo ad uirtutem. unz der argo so ubermuötesot. Des einen ual. ist des anderes knist. Fone des einen ubermuöti. diemuötet der ander.

Bemerkenswert ist zudem, daß das Sprichwort selbst noch einmal paraphrasiert wird, womit der Charakter des eigenständigen Mikro-Textes deutlich unterstrichen wird. Daß solche metasprachlichen Hinweise auch trügerisch sein können, zeigt der folgende Fall aus einem Ubersetzungstext: Bei Niklas von Wyle (1410—1478) liest man in seiner Übersetzung von Eneas Silvius Piccolomini, De duobus amantibus: . . . den sin husfröwe betrug vnd machte (als man spricht) zu ainem gehürnten hirssen (S. 22, Z. 25 f.)

Nun ist aber gerade die Frage, ob man im Deutschen damals wirklich „so sagte". Die ganze Passage ist — dem allgemeinen Übersetzungsverfahren Wyles entsprechend — eine nahezu wortgetreue Übersetzung des lat. Originals: quem uxor deciperet et, sicut nos dicimus, cornutum quasi cervum redder« (S. 32)

Nach Röhrich (1973, I, S. 435) sind sowohl die den betrogenen Ehemann verspottende Handgebärde (das Ausstrecken von zwei Fingern der geballten Hand gegen den Betroffenen) als auch die Wortverbindung, die die Gebärde und deren symbolische Bedeutung verbalisiert, schon im Altertum bekannt, wobei allerdings die Genese bis heute unklar ist. Wie weit diese Tradition zur Zeit Wyles schon ins Deutsche hineingewirkt hat, ist schwer zu bestimmen. Wohl führen Röhrich und das DW

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zwei deutsche Belege aus dem 14. Jh. zu dieser Thematik an, diese entsprechen jedoch nicht ganz dem bei Wyle formulierten Bild, sondern sprechen jeweils nur von einem Horn, das dem Betrogenen aus der Stirn wachse. Erst bei S. Brant (Das Narrenschiff, 1498) wird von einem gesprochen, dem man hörner uff die oren setzt. Von dieser Belegsituation ausgehend, ist es kaum anzunehmen, daß der Ausdruck jemand

trennt- oder Zusammenschreiben einer Wortverbindung ein gewisser Hinweis darauf, wie weit der Schreiber oder Drucker den Ausdruck als in dieser Form fest zusammengehörend empfindet. (Auch W. Fleischer, 3 1 9 7 4 , S. 34, hebt die Bedeutung der Schrifttradition in diesem Zusammenhang hervor und akzeptiert in einem gewissen Rahmen die Orthographie als ein Kriterium zur Bestimmung des Sprachverständnisses einer Epoche.)

1478 so gängig war, daß Niklas von Wyle mit Recht hätte sagen können als man spricht.

Ein klares Beispiel ist die morphologische und graphische Univerbierung von in eban —* neben (vgl. dazu 8.2.1.9.).

zu einem gehörnten

Hirschen machen um

Es dürfte wahrscheinlicher sein, daß Wyle sich hier einfach wörtlich an die lateinische Vorlage hält, und dies kann er ja auch ohne größere Schwierigkeiten, da den deutschen Lesern die Formulierung wohl nicht geläufig war, immerhin aber die Grundzüge der entsprechenden Symbolik. Ganz entwerten kann man mit diesem Einwand den metasprachlichen Hinweis im Text Wyles freilich nicht, da das Fehlen weiterer Belege hier — wie auch sonst — bloßer Zufall sein kann. Sobald es zeitgenössische Wörterbücher oder Grammatiken gibt, ist festzustellen, ob die Verfasser bestimmte Arten von Phraseologismen (ζ. B. Sprichwörter oder phraseologische Ganzheiten) terminologisch identifizieren. Daß es so etwas wie ein Bewußtsein des Sprachteilhabers für phraseologische Erscheinungen gibt, zeigen die metasprachlichen Formulierungen in Texten. Nur werden solche Hinweise zufällig und nicht allzu häufig sein. Die lexikographischen und grammatischen Werke, die Phraseologisches identifizieren, können als eine Art vorwissenschaftliche Systematisierung dieses alltagssprachlichen Bewußtseins gelten (vgl. 8.2.3.; 8.2.4.).

8.2.1.5. Graphische Indizien Getrennt- oder Zusammenschreibung von Elementen einer Wortverbindung kann ein Indiz für den Grad der Verfestigung des Ausdrucks sein. Auch wenn wir vor allem bei älteren Quellen mit Nachlässigkeiten der Schreiber bzw. Drucker rechnen müssen, ist das Ge-

In der jüngsten Sprachgeschichte können auch Abkürzungen als Indiz für Phraseologisierung gelten, vor allem für das Vorliegen phraseologischer Termini (vgl. 2.3.7.). Dabei hat die Abkürzung die Tendenz, sich gegenüber der Ausgangsformulierung zu verselbständigen. Das Endprodukt der Phraseologisierung ist dann die Abkürzung, von der man weiß, für welche Institution o. ä. sie steht, deren sprachlichen Hintergrund man aber nicht mehr kennt. Dies ist nicht nur. bei Abkürzungen fremdsprachiger Formulierungen (UNESCO) der Fall, sondern auch bei deutschsprachigen Termini (gegenwärtig wissen die meisten Leute schon nicht mehr, welche Formulierung durch KSZE abgekürzt wurde).

8.2.1.6. Formal-stilistische Indizien Bei bestimmten Gruppen von Wortverbindungen kann man aufgrund ihrer formalen Beschaffenheit annehmen, daß sie zur Phraseologisierung tendieren. Im Deutschen sind dies vor allem die Zwillingsformeln (vgl. dazu unter 2.3.6.) und die Vergleiche. Ein solcher phraseologischer Vergleich, der vom 16. bis ins 19. Jh. als gebräuchlich belegt ist, wäre ζ. B. schreien wie ein Zahnbrecher. Heute ist dieser Vergleich nur noch mundartlich üblich (nach Röhrich 1973, 1170f.), ansonsten aber aus dem Sprachgebrauch verschwunden und synchron nicht mehr direkt verständlich. Das dahinterliegende, unserer heutigen Alltagserfahrung fremde Bild ist der zum marktfahrenden Volk gehörende Zahnbrecher, der seine Künste lautstark, also eben schreiend anprei-

Identifikation von Phraseologismen

351

sen mußte, um Kunden anzulocken. Von daher

sind nur von einem Autor bezeugte Verbin-

kann man dann jegliches als übermäßig emp-

dungen, ζ. B.

fundene Geschrei mit diesem Vergleich anschaulich

illustrieren,

wie

in

Harsdörffers

Alaegre: Geld oder Blut! Philippin: O! Ich bin des Todes / wenn Ihr mich umb das Leben bringt. Alaegre: Ha / ha / du schreist wie ein Zahnbrecher / Schweig / oder ich will dich schweigen machen. (Harsdörffer, S. 352) In einigen Belegen läßt sich noch eine weitere Phraseologisierungsstufe nachweisen, welche (Verb +

umfaßt

Vergleich), so daß die Bedeutung

dann mit ,seine Geschicklichkeit selbst rühmen; laut Eigenlob aussprechen' umschrieben werden muß (vgl. auch Röhrich a . a . O . ) . Dieser Bedeutung des Phraseologismus entspricht dann auch ein abgeleitetes Lexem, das brechergeschrei

(zu wuruht

sär zi themo wipphe,sofort

„Schauspiel Teutscher Sprichwörter":

dann die gesamte Wortverbindung

bi wuruhti

Zahn-

( = ,großes, unnützes, schwin-

delhaftes Geschrei', D W , ,Zahnbrecher', Sp. 152).

s. F.) ,mit Recht'

(merito) [B 42]; auf dies Zeichen,

gleich in dem Augenblick' (Kelle) [0 IV 16,28]; in giriuno

(zu *giriuna

,Geheimnis')

[0 I

19,9; 2 7 , 2 2 ; 2 7 , 3 5 ] . Dieses letzte Zeugnis ist um so zweifelhafter, als ahd. daneben

girüni

st. N. dicht belegt ist, das sich in mhd.

geriune

fortsetzt. Erst Notker hat wara nemen/tuon, war

nemen/tuon

ins

Mhd.

das als

hinüberreicht.

Mhd. allerdings kommt war/ware

st. F. M.

auch in freier Verwendung vor, wie auch in anderen phraseologischen Verbindungen ( w a r haben

,acht haben, wahrnehmen', einem

komen

,zu Gesichte kommen').

war

Wenn in frühnhd. Zeit ein Lexem nur in einer bestimmten Wortverbindung belegt ist, so spricht wegen des breiteren Quellenmaterials schon vieles dafür, daß es sich um ein unikales Lexem handelt. Bei Hans Sachs (Der dot im Stock, ed. Wuttke, S. 2 2 4 , Z . 75) steht

8.2.1.7. Lexikalische Indizien: unikale Lexeme D a ß ein Wort nur bzw. nur noch innerhalb einer bestimmten Wortverbindung auftritt, gilt allgemein als sicherster Hinweis auf die hochgradige Phraseologisierung der entsprechenden Wortkette. Ein solcher Tatbestand ist jedoch für eine historische Sprachstufe selten mit Sicherheit nachzuweisen, da es sich immer auch um ein zufälliges Fehlen gegenteiliger Belege handeln kann. Dies gilt insbesondere für Ahd., solange noch nicht das gesamte Glossenmaterial vollständig lexikographisch aufgearbeitet vorliegt. Die folgenden Beispiele sind denn auch nur tragfähig in bezug auf den derzeit publizierten lexikalischen Bestand.

der Satz Und gaben gen holcz versengelt. Die neueren Wörterbücher, auch Röhrich und das Deutsche Rechtswörterbuch verzeichnen Fersengeld für die frühnhd. Zeit nur noch in dem Phraseologismus. Die Wendung stammt aus der Rechtssprache, wobei die Deutungen allerdings im einzelnen auseinandergehen. Im Sachsenspiegel findet sich noch die rechtssprachliche Verwendung des Ausdrucks: waz aber der wiczadele sin gewette geburt czu gebene nach windischem recht, daz ist ein versengelt, daz sin 3 Schill, adir 4, darnach des landes gewonheit ist (1381) (zit. nach DRW III/504) 8.2.1.8. Wortbildung aufgrund von Phraseologismen

Eine gewisse Wahrscheinlichkeit, daß tatsächlich ein unikales Morphem anzunehmen ist, besteht immerhin dort, wo die Verbindung bei geographisch und/oder zeitlich weit auseinanderliegenden Texten auftritt:

Ein innersprachlich-strukturelles Indiz für die Phraseologisierung einer Kette stellen Derivationen dar (vgl. Cernyseva 1 9 7 5 , S. 2 5 1 ff.).

in gimeitun für frustra u. ä. ist im Tatian, bei Otfrid und Notker belegt, und zwar jeweils nur in dieser Form. Viel schwerer zu beurteilen

(B 9) könnte noch eine zufällige Paraphrase infolge einer lexikalischen Lücke sein, wenn nicht im gleichen T e x t bereits ein vom ganzen

Die Übersetzung teil nemen für participemus

352

Historische Phraseologie

Ausdruck abgeleitetes Verbalabstraktum erschiene: teilnumft — participatione (74) ze teilnufti - ad participationem (103).

Ähnliches gilt für erst bei Notker belegtes teil haben, von dem der gleiche Autor teilhabunga ableitet. Noch deutlichere Hinweise gibt die Wortbildung für den Phraseologismus sigu neman. Wie bei teil neman existiert auch hier offenbar kein synonymes einfaches Lexem. Schon in der Isidor-Übersetzung vertritt der Ausdruck das lat. Verb, debellare: Titus debellavit Iudaeos - nam sigu in dhem Judeoliudim (27,21).

Später findet er sich bei Otfrid und Notker. Das Mhd. kennt dann die einfachen Lexeme sigen und gesigen, verwendet daneben aber auch phraseologische Verbindungen (den sie nemen/gewinnen/geben/lazen). Otfrid weist neben der gängigen Formulierung (thaz er in döde sigu nam, IV 3,23; ähnlich V 17,15 und V 16,2) eine Variante mit der Substantivform im Plural auf, ein Zeichen

sigesnemo,Sieger' (MH) sigenemo .Sieger' (N) sigenemelih .unwiderlegbar' (N) [sekundäre Ableitung von sigenemo]

Wenn hier sogar Ableitungen zweiten Grades gebildet werden, dürfte der phraseologische Charakter der Ausgangskette außer Frage stehen. 8.2.1.9. Semantische Indizien Auch semantische Besonderheiten einer Lexemverbindung können auf phraseologische Prozesse hindeuten. (1) Die Wortbedeutung, die ein Lexem innerhalb einer bestimmten Verbindung konstant aufweist, kommt in sonstigen Kontexten nur selten (oder gar nicht) vor. D. h. innerhalb des Phraseologismus haben sich Bedeutungskomponenten verfestigt, die im freien Gebrauch des Wortes nur an der Peripherie liegen. Dies ist der Fall in dem phraseologischen Modell mines / dines I . . . I dankes. Die im Ahd. vorkommenden Bedeutungen von dank lassen sich beispielsweise so anordnen:

[etym. Ausgangspunkt: * .Gesinnung']

I I wohlwollende Gesinnung, Gunst, Gnade -

V Zustimmung; Einwilligung in eine Handlung

l

i II Lob

VI Handlung, die man aus eigenem Willen tut (.freiwillig')

III Dank

VII Handlung, die man spontan tut, ohne Gegenleistung zu erwarten (,umsonst')

i

i IV Ruhm

VIII Handlung, die man ohne Grund tut

dafür, daß die Verbindung noch nicht völlig verfestigt ist: er nam in tödes riche sigi kraftliche (V 4.49).

Seit den Murbacher Hymnen sind nun eine Reihe von Ableitungen von der verbalen Kette überliefert (mit verschiedenen Abschwächungen des Fugenvokals, einmal mit einer Genitivbildung): sigenunft ,Sieg' (ΜΗ, N) siganumftlih .siegreich' (MH) [sekundäre Ableitung von sigenumft] sigenunftare .Sieger' (N)

I—V sind für die freie Verwendung des Wortes bezeugt, wobei V aber nur einmal vorkommt (Nb 6,213). Das Schwergewicht des Wortgebrauchs liegt also eindeutig bei I—IV. V bis VIII sind nun aber die Bedeutungen, die das Wort innerhalb des phraseologischen Modells aufweist. Es sei hier pauschal auf die zahlreichen Belege hingewiesen, die das Ahd. Wb. zu thanc (6) verzeichnet. Syntaktisches Indiz der Phraseologisierung ist hier die Fixierung auf adverbiellen Gebrauch (mit adverbiellem Genitiv). Das Modell kann auch zum bloßen adverbiellen Substantiv

Identifikation von Phraseologismen

gekürzt erscheinen (dankes). (Daß die Entwicklung umgekehrt verlaufen wäre — das bloße substantivische Adverb erweitert sich zu einer syntaktisch expliziten Formel —, ist wenig wahrscheinlich.) Bei der nur einmal belegten Bedeutung V, die das Bindeglied zwischen den freien und den phraseologischen Bedeutungskomponenten zu bilden scheint, ist zudem zu bemerken, daß der Ausdruck wie eine ,modernere', syntaktisch explizitere Form des Phraseologismus aussieht (adverbieller Genitiv —* Präpositionalphrase): taz er imo ondi ( . . . ) Roman ioh Italiam mit sinemo danche ze habenne. (Nb 6,2/3)

(2) Verbindungen, die in ihrer semantischen Durchschaubarkeit fluktuieren, die insbesondere zwischen konkretem und übertragenem Gebrauch schwanken, dürfen als tendenziell phraseologisch angesehen werden. anu bägu (zu bäga ,Streit, Wortwechsel, Rechtsklage') schillert bei Otfrid zwischen einer Bedeutung, die noch nahe beim semantischen Ausgangspunkt ist, und ,verblaßten' Bedeutungen (vgl. die Deutungen im Ahd. Wb.). Wenn wir aufgrund der Belege hier nicht entscheiden können, ob es sich um eine „textinterne" Phraseologisierung bei Otfrid oder um den Reflex eines historischen Prozesses handelt, so ist der geschichtliche Ablauf in anderen Fällen leicht faßbar, etwa bei der Entwicklung der nhd. Präposition neben (< in eban). Bis zum 10. Jh. ist das Adj. eban nur in freiem Gebrauch bezeugt, mit konkreten und übertragenen Bedeutungen (,eben, glatt, flach', ,gleichmütig, gelassen', ,gleich', ,gerecht', gerade' [ von der Zahl]). Im 11. Jh. findet sich dann die Verbindung in eban, einerseits noch in adverbieller Bedeutung ,nebeneinander', ,in gleicher Ebene, Linie', anderseits schon in präpositionaler Funktion wie nhd. neben. Beispiel für adverbiellen Gebrauch: nu sezzen in eban [^nebeneinander'] alle die consequentias mit fier predicationibus alsus... (Ni 570,26)

für den Übergang zum präpositionalen Gebrauch: selber Iouis sazta in in eben sinemo stuole ze

353

zeseuuvn . . . - ipse Iuppiter eum propter suum consessum . . . (Nc 844,24)

Die Schreibung in neben (Npw 134,5) zeugt schon deutlich von der hochgradigen Phraseologisierung, die die etymologische Herkunft undurchsichtig werden läßt und die schließlich zur Univerbierung führt. Ähnliches ist zu beobachten bei der Entwicklung von beide zur Partikel, die in der Korrespondenz mit inti, ioh dem nhd. sowohl - als auch nahekommt. Dieser Phraseologisierungsprozeß ist in seinen einzelnen Etappen und auf den verschieden Ebenen (morphologisch/syntaktisch/semantisch) im Ahd. Wb. exakt und vorbildlich beschrieben, so daß hier nur auf den entsprechenden Artikel verwiesen sei. Im gleichen Zusammenhang sei noch ein Fall beigezogen, an dem sich exemplarisch zeigt, welche interpretatorischen Schwierigkeiten dem Lexikographen aus Phraseologisierungsprozessen erwachsen können. Bei Otfrid findet sich die folgende Zeile: . . . maht lesan io in ahtu werk filu rehtu (IV, 5,60).

in ahtu wird von Kelle (und danach von Schützeichel) mit ,der Reihe nach' übersetzt, vom Ahd. Wb. mit ,bei richtigem Nachdenken'. Welche der Interpretationen ist adäquater? ahta bedeutet in freier Verwendung (1),Nachdenken, Überlegen', (2) .Urteil, Meinung', (3) ,Achtung, Wert*. Von (3) ist eine phraseologisch wirkende Kette in thia ahta neman ,jdm. einen Wert zuerkennen, Beachtung schenken' (so Ahd. Wb.; Kelle und Schützeichel:,achten') abgeleitet, die aber nur einmal (O III 3,16) belegt ist. Bei dem zitierten in ahtu versucht das Ahd. Wb. einer phraseologischen Deutung auszuweichen und den Ausdruck unmittelbar an Bedeutung (1) anzuschließen. Allerdings zeigt der erläuternde Zusatz „bei richtigem Nachdenken", daß eine bloß wörtliche Übersetzung dem Kontext nicht gerecht wird. Kelle hingegen, und mit ihm Schützeichel, nimmt offenbar eine phraseologische Bedeutungsverschiebung an, wobei die vorgeschlagene Interpretation aus Bedeutung (3) herleitbar wäre: ,dem Wert nach' —» ,der richtigen Ordnung nach' —» ,der Reihe nach' (über die Ableitung

354

Historische Phraseologie

ihrer Deutting machen beide Autoren keine Angaben). An einer anderen Otfrid-Stelle begegnet nun aber ein sehr ähnlicher Ausdruck: wir wizun in thia ahta alla sina slahta, fater inti muater (III, 16,57).

Kelle (und ebenso Schützeichel) übersetzt konsequent wieder mit ,der Reihe nach'. Und in diesem Fall entschließt sich auch das Ahd. Wb. zu einer ähnlichen Interpretation: ,in der gebührenden Ordnung, Reihenfolge' (abgeleitet also von Bedeutung 3). Der Grund für die unterschiedliche Bewertung der beiden ähnlich lautenden Ketten im Ahd. Wb. ist augenfällig: in thia ahta wird angeschlossen an die verbale Kette in thia ahta neman (auch graphisch sind die Belege nacheinander angeordnet). Die beiden anderen Lexikographen ziehen es vor, die beiden nominalen Ketten als synonym aufzufassen (eventuell abgeleitet von Bedeutung 3 und damit auch angeschlossen an die verbale Kette in III 3,16). Eine Bewertung der verschiedenen Deutungen ist kaum möglich, da weder die genaue Aufschlüsselung des Kontexts noch die übrigen Belege des Wortes eine sichere Zuweisung erlauben. (3) Schließlich sind solche Verbindungen mit großer Wahrscheinlichkeit phraseologisch, deren Gesamtbedeutung durch Übertragung der wörtlichen Bedeutung zustandekommt und die nur oder vorwiegend in der übertragenen Verwendung belegt sind. Hierher gehören ζ. B. Ausdrücke wie sines sindes sin, in ein hellan, oder in ... [Gen.] henti/handen stän. sind ,Weg, Zeit' ist ahd. überwiegend in phraseologische Verbindungen eingegangen. Äußerst dicht belegt, vor allem bei Otfrid, sind adverbielle Phraseologismen wie tho zi theme sinde, sar io thes sindes usw. für ,sofort'. Daneben begegnet aber auch die Verbalphrase sines sindes sin, bei der die an den etymologischen Sinn ,Weg' anknüpfende Bedeutung hinter übertragenen Verwendungen (,verflossen sein' in Anknüpfung an die Bedeutung ,Zeit', ,verloren sein') zurücktritt. Die folgenden drei Otfrid-Stellen zeigen ein stufen-

weises Verblassen der Ausgangsbedeutung und damit eine zunehmende Phraseologisierung: 1. sliumo irloset inan thes, thaz ge er sines sindes Ο III 24,104 (.seines Weges gehen, davongehen') 2. ther dag ist sines sindes Ο V 10,8 (,ist vergangen') 3. ther scaz ist sines sindes Ο V 19,60 (,ist verloren')

Das bei Notker bezeugte in ein hellan (zu hellan ,klingen, tönen', mit Dat. auch übertragen als ,übereinstimmen mit') zeigt wie nhd. im Einklang stehen mit (...) nur noch die phraseologische Bedeutung: turh taz iro site sih skeident. noh in ein nehellent (. . .) An quia distant, dissidentque mores (. . .) (Nb 267,15; ähnlich Nc 705,20).

Verbale Verbindungen mit hant sind — wie noch nhd. — sehr häufig phraseologisiert, so der Ausdruck in .. . [Gen.] henti/handen stän, wo hant die für die phraseologische Verwendung des Wortes typische Bedeutung ,Gewalt, Macht' aufweist, ζ. B. thaz steit in gotes henti Ο I 5,30.

In die Reihe solcher Phraseologismen gehören auch Verbindungen mit dem Substantiv stal (wörtlich ,Stelle'). Sie kommen nur mit Übertragung der Gesamtbedeutung vor und sind insgesamt sogar weit häufiger belegt als das Simplex. Notker und der Glossator des Psalters kennen in [...] stal in der Bedeutung ,an Stelle von', ζ. B. in Christes stal (in persona Christi), sowie (den) stal tragen ,jds. Stelle vertreten' wie in der folgenden Psalter-Glossierung: Petrus treget personam [Glosse: stal] ecclesiae. so treget iudas personam iudaici populi [Glosse: den stal iudono] (Nps 108,1).

Bei Otfrid findet sich der Phraseologismus stal geban ,abstehen von, aufhören mit etwas' (nicht jedoch das einfache Lexem!): ni gab si thoh uberal thes ruaffenes stal (III 11,20) sär gab stal thaz ist war zi rinnanne thär brunno thes bluotes (III 14,27)

Die Kombination mit den Verben ruaffen und rinnan beweist eindeutig, daß der Ausdruck nur übertragen gemeint sein kann. Das semantisch benachbarte Substantiv stat,Stätte, Stelle,

355

Identifikation von Phraseologismen

Ort, Platz' kommt noch weit häufiger in freiem (wörtlichem) Gebrauch vor als stal. Doch wird auch bei den mit diesem Wort gebildeten festen Verbindungen die wörtliche Bedeutung von der übertragenen deutlich dominiert, in stete stän heißt ,stillestehen' (konkret) oder ,festbleiben' (abstrakt), ze stete sizzen/st&n/ standen werden anscheinend nur übertragen gebraucht (.unverändert bestehen bleiben'), ebenso ze stete gesezzen wiederherstellen'. In Notkers Psalter erhält ze stete stän geradezu den Rang eines Terminus für das Unvergängliche (im zeitlichen wie im substantiellen Sinne) der ewigen Welt, wie die folgenden Belege zeigen: Timor domini sanctus permanens in seculum seculi. Truhtenes forhta ist heilig, unde iemer ze stete Stande. (18,10) Dies terr? sind unstate. uuanda eine färent hina. ändere choment, aber dies c?li stant ze stete. (88,30) Ipsi [celi] peribunt. Tu autem permanes. ( . . . ) sie zegänt. du stäst ze stete. (101,27)

(4) Das eindeutigste semantische Kriterium wäre der Befund, daß eine Wortverbindung hochgradig idiomatisiert ist, daß also die Gesamtbedeutung gar nicht mehr aus den Bedeutungen der Elemente verstehbar ist. Fürs Ahd. sind uns derartige Fälle vor allem im Bereich der Adverbien und der interjektionsartigen Phraseologismen aufgefallen; ζ. B. alia fart ,durchaus', mit themo meine ,fürwahr, wahrlich' (Otfrid). Im übrigen liegt bei den verbalen Phraseologismen des Ahd. der Schwerpunkt bei den Streckformen, und nicht bei den metaphorisch motivierten oder den unmotivierten Verbindungen (dies wohl als direkte Konsequenz des Sprachstils der lateinischen Vorlagen bzw. Vorbilder, vgl. Burger 1977, S. 23). In frühnhd. Zeit lassen sich ohne Schwierigkeiten Beispiele für diesen Typ anführen. Es sei nur erinnert an Fersengeld geben, wo das unikale Lexem die reguläre Amalgamierung einer Gesamtbedeutung verunmöglicht. (Spätestens seit Schottel finden sich in den Grammatiken auch explizite Hinweise auf die völlige Idiomatisierung von Phraseologismen (vgl. 8.2.3.2.).

8.2.1.10. Distributionelle Indizien Statistische Untersuchungen sind, wie gesagt, angesichts der Quellenlage fürs Ahd. aussichtslos und für die späteren Sprachstufen nur mehr oder weniger erfolgversprechend. Da die lexikographische Erschließung der frühnhd. Texte erst in den Anfängen steckt, ist ein statistisches Verfahren auch aus praktischen Gründen nicht durchführbar. Immerhin ergeben sich aber Hinweise aus der Distribution von Wortverbindungen in verschiedenen Texten: Wenn die gleiche Wortverbindung, in genau gleicher lexikalischer Besetzung, in Texten auftritt, die in keinem erkennbaren Abhängigkeitsverhältnis stehen, und wenn zusätzliche Kriterien aus 8.2.2. hinzukommen, deutet dies auf die Gebräuchlichkeit der Wortverbindung hin. Im Ahd. ist za leibu wesan (sin, werdan) in der Benediktinerregel, bei Otfrid und Notker belegt, desgleichen in gimeitun. zi ack(a)re gangan ,auf dem Feld arbeiten' findet sich in Glossen, bei Otfrid und Notker. Diese Wortverbindungen sind also geographisch und zeitlich weit gestreut. In frühnhd. Zeit finden sich eine ganze Reihe lexikalisch identischer Wortverbindungen mit dem zentralen Lexem Gott und vorwiegend pragmatischer Funktion sowohl im italienisch-deutschen Sprachbuch von 1424 als auch in der Decamerone-Übersetzung des Arigo: Sprachbuch

Arigo

daz euch got helff (13 v) Nun helffe mir der liebe got (530,23) gesegen euch got (89 r) das euch got gesegen (499,29) gelobt sey got (86 r) got sey gelobet (139,20-21) ir seit got wilchum seyt mir gotwilkomen (86 r) (139,38) durich gocz willen durch gots willen (59 v) (516,25) In gocz namen (87r) in dem namen gotz (31,8)

(Dabei ist das Sprachbuch wohl hinsichtlich Wortstellung und morphologischer Verschmelzung näher an der gesprochenen Umgangssprache.)

356

Historische Phraseologie

8.2.2. Indizien, die sich aus Übersetzungstexten ergeben Die zweite große Gruppe von Indizien resultiert aus der besonderen historischen Lage des jeweils untersuchten Textes und aus der Textgattung. Die ahd. Texte sind in ihrer überwiegenden Zahl Übersetzungstexte, in allen Schattierungen von der kruden Interlinearversion bis hin zu den meisterhaften Leistungen eines Notker von St. Gallen. Es ist kein Zufall, daß man versucht hat, den theoretischen Begriff der „Idiomatizität" von der Übersetzungssituation her zu definieren (vgl. 3.1.). Denn gerade Übersetzungstexte bieten zahlreiche und vergleichsweise sichere Hinweise auf das Vorliegen von Phraseologismen in der Zielsprache.

seologische Material; die Entscheidung darüber, ob eine Wortverbindüng phraseologisch ist oder nicht, ist hier aber ganz auf die unter 8.2.1. aufgeführten Kriterien angewiesen. Aus methodischen Gründen ist es vorteilhafter, von den anderen genannten Quellentypen auszugehen, da sich hier zusätzlich zu den allgemeinen Indizien noch spezifischere Hinweise auffinden lassen.

Für die frühnhd. Zeit ist das Spektrum der Textgattungen wesentlich breiter, und es verbreitert sich kontinuierlich auf dem Weg ins jüngere Nhd. Auch hier sind es zunächst Übersetzungen, die phraseologisches Material zu identifizieren erlauben. Daneben (und vor allem danach) bieten sich aber auch genuin deutsche Texte für die Untersuchung an, des narrativen wie des dramatischen Genres, daneben auch Fachprosa aller Art. Ferner gewinnt ein Quellentyp zunehmend an Bedeutung, der in sich noch vielfältig differenziert ist: die Wörterbücher (und als Sonderfall die speziell phraseologischen Wörterbücher) — als zwei- (und mehrsprachige, als einsprachigdeutsche, nach Sachgruppen geordnete oder nach dem Alphabet.

Ein genauer Vergleich von Vorlage und Übersetzung vermag zu zeigen, wie in teilweise sehr nuancierten Abweichungen von der Ausgangssprache deutliche Spuren einer eigenständigen Phraseologie der Zielsprache sichtbar werden. Dabei ist aber entscheidend wichtig, die allgemeine Übersetzungshaltung zu berücksichtigen. Die Indizien für phraseologische Phänomene verschieben sich, je nachdem ob der Übersetzer sich sklavisch an die Vorlage hält oder ob er der Vorlage gegenüber freier verfährt. Besonders beweiskräftig sind die der Vorlage am engsten verpflichteten Quellen, in ahd. Zeit etwa die Glossen und Interlinearversionen, bei denen im Normalfall eine strenge lexikalische und größtenteils auch morphologische Korrespondenz zu erwarten ist; in frühnhd. Zeit ζ. B. die „Translationen" des Niklas von Wyle, der von sich selbst sagt, er habe sich bemüht, „mich in disen translatzen by dem latin (so nechst ich mocht) beliben sin, vmb daz nützit der latinischen subtilitet durch grobe tütschung wurd geloschen, vnd wil hiermit mich gegen disen grössen maistern minen schumpfierern gnügsam verantwort han". (S. 10)

Schließlich sind, vor allem dann seit dem 17. Jh., auch die Grammatiken als wichtige Quellengattung zu berücksichtigen, insofern sie Phraseologisches nicht nur unter lexikologischen Aspekten in den Blick rücken, sondern auch Aufschluß geben können darüber, inwieweit Phraseologismen als spezielle sprachliche Erscheinungen erkannt und wie sie innerhalb der grammatischen Modelle behandelt wurden. Von jeder dieser Textarten darf man verschiedenartige Aufschlüsse im phraseologischen Bereich erwarten. Originär deutsche Texte bieten zwar das potentiell reichste phra-

Andererseits kann eine relativ freie Übersetzung ihrerseits spezifische Indizien für Phraseologismen liefern, gerade weil sie der deutschen Sprache mehr zu ihrem Eigenrecht verhilft. Albrecht von Eyb etwa charakterisiert seine Übersetzungstechnik so: „Solh baide Comedien vnd gedieht hab ich auß latein in teütsch gebracht nach meinem vermügen, nit als gar von worten zu Worten, wann das gar vnuerstentlich wire, sunder nach dem synn vnd mainung der materien, als sy am ye'rstendlichisten vnd besten lauten mügen." (Vorrede zum „Spiegel der Sitten" von 1511, Eyb, S. XVII.)

357

Identifikation von Phraseologismen

Dies Verfahren bringt es mit sich, daß der Übersetzer gelegentlich nicht nur übersetzt, sondern auch frei hinzufügt, wo es ihm zur Verdeutlichung oder Veranschaulichung nötig scheint. Und diese Stellen, die keine direkte Vorlage haben, werden mit großer Wahrscheinlichkeit den deutschen Sprachgebrauch besonders deutlich spiegeln, ζ. B. Ich gedachte in mir: ,nyme es zü dir! dißer bischof weyhet nit allwegen!' also ist es mir worden. (Menaechmi, Eyb S. 115)

(Daß es sich hier um einen eigenständigen dt. Phraseologismus handelt, wird noch durch eine Parallelstelle gestützt, wo der deutsche Ausdruck als nicht-wörtliches Äquivalent einer lat. Wortverbindung auftritt: wissestu nit, das der bischof nitt allwegen weihet? (Eyb S. 35) — an nescibas quam eius modi homini raro tempus se daret? (Bacchides 676)

Der lat. Ausdruck ist ebenfalls phraseologisch, aber im Gegensatz zum deutschen nicht metaphorisch.) Zu bedenken ist, daß auch bezüglich des Textes der Ausgangssprache zu fragen ist, ob die betreffende Wortverbindung phraseologisch ist oder nicht. Entsprechend sind natürlich die Übersetzungsfälle je anders zu beurteilen. Die Lexikographie zum klassischen Latein ist so elaboriert, daß sich i. a. genügend Hinweise finden lassen für die Entscheidung, ob ein Phraseologismus vorliegt oder nicht. Weniger gut bestellt ist es mit den mittellateinischen Quellen. Das ältere Italienisch, mit dem wir es bei den frühnhd. Übersetzungstexten häufig zu tun haben, ist lexikographisch ebenfalls hinreichend erfaßt. Da in frühnhd. Zeit verschiedenartigste Vorlagen übersetzt wurden — ζ. B. die Komödien des Plautus oder der Decamerone des Boccaccio —, wird man in diesen Texten auch die ganze Palette der Typen von Phraseologismen erwarten dürfen. Phraseologismen mit pragmatischer Funktion finden sich nicht nur in den Theater-Texten, sondern auch in den Dialog-Partien von narrativen Texten wie der Boccaccio-Übersetzung des Arigo.

Die zu berücksichtigenden strukturellen Entsprechungstypen sind im wesentlichen die folgenden: (Abkürzungen: A = Ausgangssprache Ζ = Zielsprache)

Α (1) (2) (3)



1 Wort nicht-phraseologische Wortverbindung (4a) phraseologische Wortverbindung (4 b) phraseologische Wortverbindung (5)

(6)

Ζ - * Wortverbindung —• Wortverbindung Wortverbindung, nicht Wort-für-Wort übersetzt Wortverbindung, Wort-für-Wort übersetzt Wortverbindung, nicht Wort-für-Wort übersetzt

verschiedene —• 1 Wortverbindung . Wörter oder Wortverbindungen 1 Wortverbindung —• verschiedene Wortverbindungen

8.2.2.1. Entsprechungstyp 1 Wenn der Übersetzer eine Wortverbindung ohne Vorlage hinzufügt, so kann dies ein Indiz sein, wie das oben zitierte „dißer bischof weyhet nit allwegen" (Eyb S. 115). Deutlicher gestützt wird die Phraseologizität, wenn auch Belege in anderen Texten vorliegen: Ohne Vorlage schreibt der DecameronÜbersetzer (520,2—3) in seinem also hin vnd bergen. Im gleichen Text ist mit Vorlage, aber ohne Wort-für-Wort-Entsprechung belegt hinher springen (528,28) — faccendo . .. un gran saltare. (568,28) Schließlich bezeugt das deutsch-italien. Sprachbuch: hin und her — In qua inla (Bl. 3 v)

(also mit einer anderen italienischen Entsprechung als im Decamerone) Das folgende Beispiel ist durch Kriterium 8.2.1.6. gestützt: Arigo übersetzt einfaches (bzw. verstärktes) tremare mit eitern als ein espe laub: eitern warde als ein espe laub (Arigo 530,10) tutto cominciö a tremare (Dec 570,94)

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Historische Phraseologie

von frost zittert als ein espen laube (Arigo 62,14) — forte tremando (Dec 82,24)

Dort, wo nur von zittern die Rede ist, verwendet Arigo offenbar eine gebräuchliche deutsche Verstärkungsformel, während er dort, wo das Italienische bereits einen — abweichenden — Vergleich hat —, wörtlich übersetzt: ir het gecitirt als ein gelten (Arigo 532,11) — tremavate come verga (Dec 571,111)

kriechen ό auf allen Wieren kriechen = andar su quattro ptedi, in quattro, cio e carpone ό carponi, braccioni, brancoloni, branciconi, imbrazzoni.) Im des meisters piten sere zü herczen ging (Arigo 525,14) — forte la petizion gli gravasse (Dec 564,53)

(Nach Lexer bereits mhd. belegt, dann bei Maaler 1561, Fries 1568.) Socorre — Chwm zu hilff (Sprachbuch 62 v)

8.2.2.2. Entsprechungstyp 2 Die Entsprechung 1 Wort in A — Wortverbindung in Ζ ist, für sich genommen, nicht beweiskräftig, da immer die Möglichkeit besteht, daß für den A-Ausdruck im Z-System weder ein einfaches Wort noch ein Phraseologismus vorhanden ist. Dann wäre die deutsche Wortverbindung nichts weiter als eine Paraphrase, die die Systemlücke zu überbrücken hätte. Dieser Fall liegt etwa vor bei ahd. niunta wtla für nonarn (Η XIII1) oder fona luzzilemo kascribe für a cbirographo (Η X 3). Hier deutet nichts auf eine Phraseologisierung der deutschen Wortverbindung hin. Eine Zuordnung zur Phraseologie läßt sich hingegen besser absichern, wenn Kriterium 8.2.1.10 und/oder 8.2.2.1. (5) hinzutritt: Ahd.: za leibu ist - restat (B 52) za leibu sint — residuae sunt (B 65) so scaffaniu .schwanger' — in utero habens (T 5,7) so scaffaneru — praegnante (T 5,12; ähnlich 145,13)

Frühnhd.: den leybe verloren hettest (Arigo 86,38-87,1) — saresti stato amazzato (Dec 105,60)

(Nach Lexer schon mhd. belegt, ζ. B. König Rother 123. Bei Kramer in den Zwillingsformeln Leib und Gut verlieren /Leib und Leben verlieren bezeugt.) auf allen virn (Arigo 530,26) — andando carpone (Dec 570,97)

(Nach Lexer schon mhd. belegt: er gienc üf allen vieren gelich den wilden tieren, Albrecht von Halberstadt 35,241. Maaler ρ 447ν hat alle viere / das ist / hend und fuß binden. Kramer II ρ 1194: auf vier Füssen geben ό

(Nach Lexer bereits im 14. Jh. belegt, dann in den meisten späteren Wörterbüchern.) 8.2.2.3. Entsprechungstyp 3 Wenn eine nicht-phraseologische Wortverbindung in Α durch eine Wortverbindung in Ζ wiedergegeben wird, die nicht Wort-für-Wort entsprechend ist, kann es sich um eine semantische/syntaktische Paraphrase handeln. Der Verdacht auf das Vorliegen eines Phraseologismus ergibt sich nur durch das Hinzutreten anderer Indizien, ζ. B.: Ez ist guet mit ym ze schaffen haben — Ele bon auer affar cho messo (Sprachbuch 21 r)

In der Decameron-Ubersetzung ist — ohne italien. Vorlage — belegt (Kriterien 8.2.1.10. und 8.2.2.1. (1)): mit wem du ze schaffen hast (86,9)

Ferner: auf ir speyß vnd kost (Arigo 528,24) — alle sue spese (Dec 568,81) In ogni luogo — Vm vnd vmb (Sprachbuch 3v) in qua inla — hin vnd her (Sprachbuch 3 v) Su ezo — Auff vnd nider (Sprachbuch 3 v)

(jeweils Kriterium 8.2.1.6.) der arczte in (.. .) ze hauß lüde (Arigo 520,19) avendolo (.. .) seco invitato a desinare (Dec 560,11)

(Kriterium 1.2.: sehr gebräuchlicher Alltagsvorgang) Ο mir armen mann! — Ei mihi (Eyb S. 55) ο wee, ο wee - ei mihi, ei mihi (Eyb S. 22) Wee ymmer vnd wee! - [ohne Vorlage] (Eyb S. 107) ach lieber gott - pro du immortales (Eyb S. 16)

(Kriterium 8.2.1.2.; im letzten Beispiel zeigt sich ein für A. von Eyb typisches Übersetzungs-

Identifikation von Phraseologismen

verfahren: die Substitution kultureller Elemente des antik-heidnischen Bereiches durch christliche bzw. germanisch-deutsche Vorstellungen.) von im solt rue und fride haben (Arigo 180,26) — piu briga non ti darä (Dec 197,30)

(In der Ausgabe von 1535: von jhtn fride und ruhe solt haben. Hier tritt Kriterium 8.2.1.6. ein, mit dem zusätzlichen semantischen Hinweis, daß der im Ital. negativ formulierte Satz durch die Verwendung der Zwillingsformel positiv ausgedrückt wird. Die Umstellung im Text von 1535 deutet möglicherweise daraufhin, daß zur Zeit der ersten Übersetzung die Reihenfolge noch nicht fest war, im 16. Jh. dann aber irreversibel fixiert wurde.) 8.2.2.4. Entsprechungstyp 4 Wenn die Vorlage bereits einen Phraseologismus enthält, so ergeben sich für die Beurteilung der Übersetzung verschiedene Möglichkeiten: Bei Wort-für-Wort-Wiedergabe kann es sich um eine falsche Übersetzung handeln (der Übersetzer hat nicht bemerkt, daß die Wortverbindung der Vorlage phraseologisch ist). (4 a) Eine Wort-für-Wort-Übersetzung kann — durch zufällige lexikalische und strukturelle Übereinstimmung — auch in Ζ phraseologisch sein. Ein Beispiel wäre: Su ezo — Auff vnd nider (Sprachbuch 3 v, siehe oben)

(4 b) Eine nicht-wörtliche Wiedergabe deutet daraufhin, daß der Übersetzer die Phraseologizität der Vorlage bemerkt hat und daß er ein deutsches Äquivalent zu finden sucht. Daß dieses nicht eine Paraphrase, sondern ein Phraseologismus ist, läßt sich wiederum nur durch zusätzliche Kriterien absichern: hisce ego iam sementem in ore faciam pugnosque obseram. (Plautus, Menaechmi 1012) — aber du must auch lassen vmbgan die feüst (Eyb, S. 108; in der Übersetzung sind die Konstruktionen völlig verändert)

(Schon die lat. Vorlage hat eine metaphorische, wahrscheinlich phraseologische Wortverbindung; das Bild in der dt. Übersetzung ist aber ein anderes; Kriterium 8.2.1.9.)

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8.2.2.5. Entsprechungstyp 5 Wenn verschiedene Wörter oder Wortverbindungen in Α durch dieselbe Wortverbindung in Ζ wiedergegeben werden, so ist dies für sich schon ein starkes, wenn auch nicht untrügliches Indiz für einen Phraseologismus in Z. Bei A. von Eyb finden sich die Stellen fer pedem (Men. 554) - nymme mit dir ( . . . ) die föß (Eyb S. 87) moue formicinum gradum (Men. 888) — das er mit jm neme die füß (Eyb S. 102)

Daß Eyb den deutschen Ausdruck auch dort verwendet, wo das Lat. ein ganz anderes Bild hat (888), würde an sich auf einen Phraseologismus hindeuten. Nun ist die Wortverbindung aber soweit wir sehen sonst nicht belegt. Es wäre also möglich, daß Eyb im ersten Fall eine Lehnprägung geschaffen hat, die er im zweiten Fall auch gegen die lat. Vorlage beibehält. Im folgenden Fall hingegen handelt es sich ohne Zweifel um einen Phraseologismus in Z, da das Kriterium 8.2.1.2. hinzutritt und außerdem weitere Belege in anderen zeitgenössischen Texten zu finden sind: A. v. Eyb verwendet durchgehend got grüß dich für lat. salve saluus sis / salva sis

Die Grußformel ist ferner schon mhd. bezeugt. Deutlicher phraseologisch ist der ahd. Ausdruck za leibu sin, insofern in den Belegen aus der Benediktinerregel offensichtlich keine Lehnprägung vorliegt: za leibu ist — restat (B 52) za leibu sind — residuae sunt (B 65)

In ahd. Zeit kommt es vor - aufgrund des weitgehend zufälligen Belegmaterials —, daß eine deutsche Wortverbindung zwar für verschiedene lat. Vorlagen eintritt, aber nicht im gleichen Text, sondern in räumlich und zeitlich weit auseinanderliegenden Quellen: zi ack(a)re gangart steht für fodere (Gl. I 817,50) und fodere humum (Nb 308,15) und ohne Vorlage bei Otfrid (II 22,10).

8.2.2.6. Entsprechungstyp 6 Wenn eine Wortverbindung in Α durch verschiedene Wortverbindungen in Ζ wiederge-

360

Historische Phraseologie

geben wird, so kann dies unter besonderen Bedingungen ein Indiz für Phraseologizität in Ζ sein: Es findet sich gelegentlich der Fall, daß die A-Wortverbindung einmal Wort-fiir-Wort, ein andermal

abweichend wiedergegeben

wird.

Mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit kann dann die abweichende Variante als eher dem deutschen Sprachgebrauch entsprechend angesehen werden; phraseologisch ist sie freilich nur, wenn weitere Indizien hinzutreten: jdm.

zu Füßen

fallen ist ein Kinegramm

(Kriterium 8.2.1.2.) und als solches tendenziell phraseologisch. Im ahd. Tatian ist das Kinegramm auf zwei Arten realisiert, bei gleicher lat. Vorlage: 1. fiel in sin annuzi furi sine fuozi — cecidit in faciem ante pedes eius (111,2) 2. fiel zi sinen fuozen — procidit ante pedes eius (60,8)

Die Wendung mit zi, wie sie sich ja bis heute erhalten hat, dürfte der deutschen Phraseologie entsprechen. Daß im ersten Fall ante wörtlich übersetzt ist, mag durch den in die Wendung eingeschobenen Zusatz in faciem provoziert worden sein. Ähnlich gelagert sind die folgenden Tatian-Belege, von denen wiederum der zweite den originären deutschen Wortlaut spiegeln dürfte (die heutige entsprechende Wendung enthält ebenfalls eine präpositionale Nominalphrase): slahenti iro brusti — percutientes pectora sua (210,2) sluog in sina brüst — percutiebat pectus suum (118,3). Der individuellen Übersetzungstechnik Arigos ist der Spezialfall zu verdanken, daß eine ital. Wortverbindung im gleichen deutschen Satz einmal Wort-für-Wort, einmal phraseologisch wiedergegeben wird: das wort ( . . . ) in irem munde, oder czwischen iren czennen starbe (Arigo 82,5) moriva la parola tra' denti (Dec 101,25) oder: Ir was ir czung mit fleisse gelöst worden stamelt nicht (Arigo 82,6 f.) ne balbettava la lingua (Dec 101,25) Im ersten Fall ist eine dem Italienischen entsprechende Metapher im deutschen Sprach-

gebrauch vermutlich unüblich, so daß Arigo sie durch den äquivalenten deutschen Phraseologismus wiedergibt (nach Kriterium 8.2.2.1. (4)), dann fühlt er sich aber verpflichtet, die wörtliche Übersetzung nachzuliefern. Im zweiten Fall ist die originär deutsche Wendung stärker metaphorisch als die ital. Vorlage (Kriterium 1.9.). Einen frühen Beleg dafür, daß die „bevorzugten Analysen" beim Erlernen einer Fremdsprache eine besondere Rolle spielen, liefert das ital./dte. Sprachbuch: Mete te el chapuzo - Secz dir die chapen auff (8 r) Mete te el mantello — Nim den mantel an (8v) Während das Italienische — wie auch andere romanische Sprachen — mit dem sehr allgemeinen Verb mettere eine ganze Reihe von Vorgängen abdeckt, muß das Deutsche differenzieren (auch heute: einen Hut setzt man auf, einen Mantel zieht man an usw.).

8.2.3. Indizien, die sich aus Grammatiken und Sprachlehrbüchern ergeben 8 . 2 . 3 . 1 . Zur Terminologie Wenn man die Absicht hat, sich darüber zu informieren, was im Rahmen der Sprachwissenschaft und ihrer Vorstufen eventuell schon vor der letzten Jahrhundertwende zum großen Komplex der Phraseologismen in der deutschen Sprache ausgesagt worden ist, wird man augenblicklich vor ein terminologisches Problem gestellt. Die Phraseologie als relativ junger Forschungsbereich der Linguistik verfügt über keine traditionelle Terminologie, so daß zunächst keine Fachbegriffe auf der Hand liegen, nach denen man ältere Grammatiken und Sprachlehrbücher durchforsten könnte. Lediglich die Sprichwörter bilden einen Forschungsbereich, der einerseits innerhalb der modernen Phraseologie behandelt wird, andererseits jedoch schon Generationen von Sprachgelehrten beschäftigt hat. Pilz (1978) geht denn auch davon aus, daß „die Erforschung der (deutschen) Phraseo-

Identifikation von Phraseologismen

lexeme (. . .) jahrhundertelang an die der Sprichwörter gebunden" war (S. 81) und hält sich deshalb an die Begriffe „Sprichwort" und „sprichwörtliche Redensart" als Indikatoren für eventuelle phraseologische Überlegungen in älteren sprachwissenschaftlichen Werken. (Er kann unter diesen Oberbegriffen auch einige Textstellen — beginnend mit Schottelius 1663 — zusammenstellen, ohne daß sich in diesem Zusammenhang jedoch wesentliche Gedanken zur Phraseologie in einem moderneren Verständnis aufzeigen lassen.) Blättert man nun aber in Inhaltsverzeichnissen und — so vorhanden — Sachregistern älterer Grammatiken, so finden sich dort noch einige andere Begriffe, hinter denen sich Phraseologisches vermuten läßt, wie ζ. B. „Figura" / „Idiotismus" / „Phraseologey" (!) / „Phrases" / „Red(ens)art" etc. Bei genauerer Untersuchung zeigt sich allerdings, daß diese vielversprechenden Begriffe ζ. T. ganz andere sprachliche Erscheinungen bezeichnen als solche, die wir heute als phraseologisch etikettieren würden, oder daß der Anwendungsbereich der Termini noch sehr weit gefaßt und von Autor zu Autor verschieden ist. So trägt ζ. B. ein von Johann Rudolf Sattler 1607 verfaßtes Werk (auch in Pilz' chronologischer Bibliographie aufgeführt) den Titel: „Teutsche Orthographey und Phraseologey". Das Büchlein widmet sich jedoch v. a. der Rechtschreibung und Silbentrennung nebst dem Auflisten von Synonymreihen, und selbst im 6. Kapitel: „Teutsche Phraseologey / das ist / allerhand auserlesene Teutsche w6rter / formen zu reden und schreiben / wie dieser zeit bey den Canzleyen / und sonsten gebraucht werden" findet sich nur eine Aufzählung von Adverbien, Pronomina und Konjunktionen samt Anwendungsbeispielen. Sehr unterschiedliche Bedeutung kommt auch dem Begriff „Redensart" zu. Die dazu gegebenen Definitionen umschreiben ζ. T. das, was wir heute mit dem Begriff „Syntagma" bezeichnen würden, so ζ. B. bei Pudor, Christian: Der Teutschen Sprache Grundrichtigkeit und Zierlichkeit, 1672, welcher die Termini

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„Redensart" / „Phrasis" gleichbedeutend gebraucht: Eine Phrasis ist ein kunstmißig zusammengefügter Band / einzelner Wörter / daraus keine vollkommene Rede erwichset, Egr.: Der Vater / des Vaters Haus (S. 44)

Ganz ähnlich definiert noch Adelung, Über den teutschen Styl, 1785: eine Redensart hingegen ist ein Gedanke, welcher bloß aus dem Prädikate und dem Verbindungsworte besteht. (S. 4)

Der Begriff der Figur schließlich erfährt sehr viele Ausdeutungen, angefangen mit einer Übersicht über Ableitungen und Kompositionsmöglichkeiten bei den verschiedenen Wortarten (Aichinger 1753), über die Aufteilung in „analogische Figuren" (Crasis, Syncope, Apocope etc.) und „syntaktische Figuren" (Pleonasmus, Ellipse etc.), ebenfalls bei Aichinger — ähnlich auch bei Gottsched 1767, s. u. —, bis zur Erfassung rhetorischer Kunstgriffe und Formen wie Alliteration, Wiederholung, Metapher, Tropen etc. bei Adelung, wobei noch eine Unterteilung der „Figuren" je nach kommunikativer Funktion in bezug auf den Gesprächspartner erfolgt (Figuren für die Aufmerksamkeit / Einbildungskraft / Gemütsbewegung / Witz und Scharfsinn). Eigentliche phraseologische Erscheinungen werden jedoch trotz der weiten Bedeutung des Begriffs auch hier nicht erfaßt. J. Bödiker (1746) behandelt in seinen ,Grundsäzen der Teutschen Sprache' den Begriff des „Idiotismus" bereits mit großer Ausführlichkeit und Differenzierung, wobei er darunter weniger die phraseologischen Möglichkeiten einer Sprache als vielmehr Sprachvarietäten oder -stufen versteht. Er unterscheidet: Idiotismus linguae (,langue') / Idiotismus temporis (,diachrone Sprachstufe') / Idiotismus loci (,regionale Varietät') / Idiotismus personae (,Idiolekt') / Idiotismus circumstantiae (.situationsspezifisches Sprechen'). Während also Begriffe, die wir am ehesten zum Forschungsbereich der Phraseologie in Bezug setzen würden, je nach Autor mehr oder minder ertragreich sind, haben sich die Kapitel, welche den „Zierlichkeiten der Sprache" gewidmet

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Historische Phraseologie

sind, beinahe durchwegs als für unsere Absichten am interessantesten erwiesen. Phraseologische Erscheinungen im Sprachgebrauch samt den damit verbundenen semantischen und syntaktischen Besonderheiten werden in älteren Sprachlehren weniger als Problem der Grammatik betrachtet, sondern vielmehr als ein Zeichen von Sprachkunst, rhetorischem Geschick und als Beweis für die Originalität einer Sprache oder eines einzelnen Dichters (dies oft im Vergleich zur lateinischen Sprache und Dichtkunst). Infolgedessen finden sich Überlegungen zur Phraseologie vor allem im Rahmen stilistischer Erörterungen, oft gesondert in einem Anhang an die eigentliche Sprachlehre, oder dann in den allgemein gehaltenen einführenden Kapiteln. Als ein weiterer Themenkomplex, der regelmäßig Anlaß zur Behandlung phraseologischer Phänomene gibt, erwies sich die Übersetzungsproblematik, wo also sprachliche Einheiten auf Lexem- und Syntax-Ebene angesprochen werden, die sich ζ. B. aufgrund ihrer nicht summativen Bedeutungskonstituierung nicht für wörtliche Übersetzungen eignen. Die folgende Übersicht über Gedanken und Überlegungen zur Phraseologie des Deutschen aus Grammatiken und Sprachlehrbüchern des 16.—19. Jahrhunderts hat schon aufgrund der Quellenlage lediglich exemplarischen Charakter. Auch konnte von den theoretisch verfügbaren Werken bisher nur ein Teil bearbeitet werden, so daß es hier nicht darum gehen kann, Erstbelege zu der Behandlung von Phraseologismen in der dt. Sprachforschung zu geben. Dennoch glauben wir, daß aus den folgenden Textstellen bereits deutlich wird, daß phraseologische Erscheinungen von Sprachforschern schon seit Jahrhunderten als Besonderheiten des Sprachsystems und Sprachgebrauchs erkannt und — wenn auch mit unterschiedlicher Ausführlichkeit — behandelt wurden. (U. U. würde sich das „Bild" vom „phraseologischen Bewußtsein" in der älteren Sprachwissenschaft auch noch ändern, wenn man,

unsere bisherigen Erkenntnisse berücksichtigend, vermehrt stilistische Lehrbücher als Quellen verwenden würde.) 8.2.3.2. 1 6 . - 1 8 . Jahrhundert Ein früher Hinweis auf phraseologische Wortverbindungen findet sich bereits bei Valentinus Ickelsamer in der Einführung zu seiner „Teütschen Grammatica" (Anfang 16. Jhdt.). Hier heißt es unter anderem: mein studieren / in diser sprach / ist nun nicht anders / dann das ich auff die feine / künstliche compositiones der alten teütschen wörter / Sprichwörter / unnd etliche jrer reden art und eygenschafften achtung gib / dann so Zeiten nit weniger lieblich und künstlich in diser dann in andern sprachen / erfunden werden.

Auch wenn Ickelsamers Grammatik dann im wesentlichen eine Leselehre samt Orthographie- und Trennungsregeln beinhaltet, scheint doch, daß die Sprachkunst, die Möglichkeiten des Ausdrucks und damit sprachliche Phänomene über der Lexemebene von großem Interesse für ihn sind. Schottelius stellt in seiner „Teütschen Hauptsprache" (1663) dann wohl als einer der ersten Sprachgelehrten eine umfangreichere Liste von „Sprichwörtern und sprichwortlichen Redarten" auf, ohne jedoch diese beiden Formen genauer gegeneinander abzugrenzen (vgl. auch Pilz 1978, S. 85ff.). Zum phraseologischen Bereich der Zwillingsformeln äußert er sich ganz aus rhetorisch-stilkritischem Blickwinkel (Teutsche Sprachkunst, 1641): Er befürwortet prinzipiell den „ungezwungenen" Gebrauch dieser Formen in der „freyen Rede", wobei er Luther als positives Beispiel solcher Sprachverwendung anführt, warnt aber gleichzeitig vor zu häufiger'und „affectierter" Anwendung. Im Anschluß an diese Ausführungen gibt er einige Beispiele v. a. aus Luthers Schriften (ζ. B.: Es hat Saft und Kraft / gehoben und geschoben / Raht und Taht, S. 889f.) Im Kapitel „Wie man recht verteutschen soll" (Teutsche Hauptsprache) kommt Schottelius dann nochmals auf Phraseologisches zu sprechen und betont wiederholt, daß ein „Teutscher Dolmetscher" die „Phrases und

Identifikation von Phraseologismen

Locutiones", die er in der Fremdsprache antrifft und „die doch nach ihrer eigenschaft wollauten und nach ihrer Landart und angenommenen eigenen Gebrauche angenehm und recht deutlich seyn", nicht „von Wort zu Wort" übersetzen soll (1221), „ . . . da eine jede Phrasis oder Redart änderst im Lateinischen und änderst im Teutschen lauten (muß)" (S. 1224). Er liefert dann auch seitenweise richtige Beispiele bekannter deutscher Autoren, ζ. B.: Item / in communionem periculi te non voco, wollte von Wort heißen / zu gemeinschaft der gefahr ruffe ich dich nicht; Opitius aber sagt: Ich will dich nebst mir in keine Gefahr setzen. (S. 1222)

oder auch (.. .) er solte und muste ins Gras beißen. Dieses ist gut Teutsch und jedem bekante gebräuchliche Redarten in Teutscher Sprache / wan mans aber w611te den Worten nach Lateinisch geben / wolte es ohngefehr lauten / ( . . . ) oportere ipsum in gramen mordere. Wer wolte doch auf aller Welt dieses in lateinischer Sprache verstehen? (S. 1225/6)

Auch wenn nun Schottelius in seinen theoretischen Ausführungen nicht allzu deutlich wird, geht aus seiner großen Beispielsammlung, in der auffallend viele Streckformen aufgeführt werden, hervor, daß die sprachlichen Einheiten, denen sein besonderes Anliegen gilt, im großen ganzen mit denen übereinstimmen, denen sich heute die phraseologische Forschung widmet; der Forschungsgegenstand ist also zu weiten Teilen derselbe. Leicht verblüffend in diesem Zusammenhang ist, daß das bei Schottelius besonders hervorgehobene Beispiel ins Gras beißen in der modernen Phraseologie ebenfalls zu einem der oft zitierten Standardbeispiele einer festen Wortverbindung zählt (vgl. ζ. B. Häusermann 1977, S. 12; Pilz 1978, S. 545). In einem weiteren Kapitel der „Teutschen Sprachkunst" will Schottelius dann auch die Poesietauglichkeit der deutschen Sprache unter Beweis stellen, indem er alle sprachlichen Möglichkeiten zusammenträgt, um die Bedeutungen .sterben* und ,t6dten' auszudrücken, wozu dann auch viele verschiedenartige Phraseologismen gehören, ζ. B.:

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den garaus machen die Welt segnen ins Gras beißen einem das Leben nehmen (S. 243-47)

Bei Christian Pudor „Der teutschen Sprache Grundtrichtigkeit und Zierlichkeit", 1672, ist erst der zweite Teil des Buches, welcher eben von der „Zierlichkeit der teutschen Sprache" handelt, für uns interessant. Hier wird unter anderem die „zierliche Verwechslung" der Worte behandelt, aufgeteilt nach „Verwechselung in einem gleichen Verstand" (Beispiel: „Für die Freude / kan ich setzen das Frolocken / oder Jauchzen") und „in einem ungleichen Verstand": „doch also, daß es mit dem Worte / mit dem man es verwechselt / der Meinung nach / kan verglichen werden, Egr.: Es weiß niemand wo mich der Schuch drückt, Das ist mein Unglück, mein Anliegen." (S. 74ff.) Weitere Beispiele zeigen allerdings, daß Pudor hierunter auch die Metapher faßt, ohne weiter Differenzierungen anzustellen. Ahnlich umfassend ist seine Kategorie der „zierlichen Erweiterung", worunter sowohl „Sproßlaut", Attribut-Setzung, Umschreibung etc., aber auch Zwillingsformeln fallen, die „Erweiterung durch einen Zusatz eines gleichgeltenden Selbständigen, Egr.: mit großer Pomp und Pracht; wo Freud und Wonne wohnet; verloben und versprechen" etc. (S. 87ff.) Anzumerken ist hier, daß diese „Zierlichkeiten" sehr systematisch und übersichtlich im Sinne einer Anleitung für den Leser angeführt werden, also durchaus als Anregung und weniger als Beschreibung gedacht sind, so auch noch einmal beim Kapitel: „Zierliche Zusammenziehung": In den Redensarten werden bisweilen / eine kurtze Rede zu machen / zierlich ausgelassen ( . . . ) die Geschlechtswörter ( . . . ) und das geschieht also / daß die Wörter / so dabey stehen / unverendert bleiben, Egr. neue Ärtzte müssen neue Kirchhöffe haben (S. 104)

Auch wenn diese und die folgenden Beispiele Pudors nicht ganz zu überzeugen vermögen, wäre es doch denkbar, daß der zitierten Anmerkung zur „Zierlichkeit" die Beobachtung

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Historische Phraseologie

des Artikelwegfalls im formalen Verfestigungsprozeß vieler Phraseologismen zugrundeliegt. Bei Johann Bödiker (Grundsäze der Teutschen Sprache, 1746) finden wir unter dem Oberbegriff „Phraseologie" dann eine Definition, die sich durchaus in eine heutige Umschreibung dieses Forschungsgebietes einfügen ließe (S. 445 f.). Bödiker unterteilt die „Phraseologie" zunächst in drei Teilbereiche, nämlich in „grammatica", „metaphorica" und „adagiosa", welchen er dann verschiedene Redensarten, auch „Phrases" genannt, zuordnet. Eine „Phrasis grammatica" wäre demzufolge „eine solche Redensart, in welcher die Worte dasjenige bezeichnen, welches sie zu bezeichnen erfunden sind", es bleibt „bei dem sensu litterali" (S. 446). Eine „Phrasis metaphorica" hingegen „ist eine solche Redensart, in welcher die Worte etwas anderes bezeichnen, als dasjenige, welches zu bezeichnen sie erfunden sind" (S. 446). Und eine „Phrasis adagiosa" schließlich „ist eine solche metaphorische Redensart, welche der Vsus loquendi also bestimmt hat, daß so oft sie vorkommt, nur immer einerlei dabei gedacht werden muß. Denn die metaphorischen Worte können bald dieses, bald jenes bedeuten, als, Feuer kann metaphorisch mannigfaltig gebraucht werden. Ich kann sagen, das Feuer der Liebe, das ZornFeuer, (...). Beispruch-Redensarten haben hingegen immer einen unveränderten Verstand. Sie bedeuten jedesmal eine und dieselbe Sache, als, Er hält hinter dem Berge bedeutet allemal: Er hält sich und seine Sache heimlich." (S. 446/7) In einem weiteren Kapitel beschäftigt sich Bödiker noch mit einem besonderen Bereich der Phraseologie, nämlich mit den „Sprüchen". Er unterscheidet acht Untergruppen: den Ausspruch („eine einzelne Zeile, damit man etwas vorträgt" (445)); den Lehr- oder Sittenspruch; den Kunst- oder Machtspruch; die Klugrede, den Reim-Spruch; den Sinnspruch; das Sprüchwort und schließlich den Beispruch oder die Sprüchwortart. Diese Unterteilung erfolgt nach vielfältigen inhaltlichen Kriterien, nur der Reimspruch ist durch seine äußere Form definiert. Ausführ-

licher geht Bödiker dann noch auf die Unterscheidung „Sprüchwort" — „Beispruch" ein: Dabei ich unvorgreifend diese Regeln setze: 1. Ein Sprüchwort muß einen vollkommenen Sinn haben. 2. Es muß einem Lehr-Spruch gleichen, und doch auf was anderes zielen, als die Worte klingen. 3. Es muß nothwendig ein Gleichniss haben, von natürlichen Dingen, oder menschlichen Verrichtungen. Dannenher sind die Sprüchwortsarten keine Sprüchwörter, denn sie sind nur Phrases, und haben keinen vollkommenen Sinn oder Ausspruch. (S. 457)

Die Unterscheidung von Sprichwörtern und nicht-satzwertigen Phraseologismen (mit den jeweiligen semantischen Konsequenzen) ist für die heutige Phraseologie-Forschung selbstverständlich geworden, und auch parömiologische/volkskundliche Arbeiten folgen dieser alten Tradition, indem sie Sprichwörter und „sprichwörtliche Redensarten" unterscheiden (vgl. Röhrich/Mieder 1977, passim). Die Beispiele Bödikers veranschaulichen die Aufteilung in deutlicher Weise, wie Ein Rabe hackt dem andern das Auge nicht aus (Sprichwort) gegenüber Den Mantel nach dem Wind kehren, am Hungertuche nagen etc. (sprichwörtliche Redensarten). Bei Carl Friedrich Aichinger (Versuch einer teutschen Sprachlehre, 1753/54) ist wieder der den „Zierlichkeiten" gewidmete Anhang des Werkes unter phraseologischem Blickwinkel interessant. Hier werden „idiotismi zweierley art" behandelt, wobei Aichinger unter der zweiten Art syntaktische Regeln versteht, welche sich in anderen Sprachen nicht anwenden lassen. Dies demonstriert er dann an kontrastiven deutsch-lateinischen Beispielen. Für die erste Art („Redensarten, durch die Gewohnheit eingeführt") verweist er auf Gottsched und dessen Ausführungen zu den „Kernund Gleichnißreden" (s. u.) und weiter noch auf eigene Beispiele, welche er im Kapitel „Syntax der Vorwörter/Präpositiones" aufgeführt habe. Tatsächlich behandelt Aichinger hier Phraseologismen (vor allem Streckformen) unter grammatikalischen Gesichtspunkten, nämlich in Abhängigkeit von den in den phraseologi-

Identifikation von Phraseologismen

sehen Wendungen vorhandenen Präpositionen und dem durch sie bestimmten Kasus. Er geht dabei mit großer Ausführlichkeit vor, der Anschaulichkeit halber soll hier auch ein Beispiel — die Verwendung der Präposition an — vorgestellt werden (Aichinger, S. 475ff.). Aichinger bildet verschiedene semantische Unterklassen zur Präpositionsverwendung, die allerdings nur zum Teil einleuchten wollen. Die Präposition an kann demnach stehen: „1. einen Ort bedeutend a) auf die Frage .wohin': — an den Tag kommen — ans Licht bringen (. . .) b) auf die Frage ,wo': — am Hungertuche saugen — mein Herz hängt an einem Faden ( . . . ) 2. Bei Wörtern, die eine Zeit bedeuten: — am Abend ( . . . ) 3. eine Eigenschaft oder Beschaffenheit bedeuten: — es ist kein schöner Bissen an ihr — das Brett, wo es am dünnsten ist 4. a) ein Object mit dem acc.: — an das Werk gehen ( . . . ) b) ein Object mit dem dat.: — ich habe Gefallen an dir (. . . ) 5. Einen Besitz und dessen Gegenteil: — reich an Tugend ( . . . ) 6. vermischte: a) mit dat.: — am Leben sein — er hat das Fieber am Hals (. ..) b) mit acc.: — an den Bettelstab geraten (. . .)"

Solche semantischen Klassen entwirft Aichinger für die wesentlichen Präpositionen der deutschen Sprache, wobei auf ca. 40 Seiten eine reiche Sammlung von Streckformen, „Redensarten" und sonstigen Phraseologismen zusammenkommt. Vor allem die Beispiele zu den Präpositionen in und zu sind im Hinblick auf die Entwicklungen im phraseologischen Bereich der Streckformen interessant. Um nur einige Beispiele aufzuführen: „— — — —

in Irrthum schweben in Freundschaft stehen in die Pflicht nehmen in den Gang kommen zu Schiffe gehen

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— zu Halse gehen — zu Scheitern gehen — zur Rede setzen"

Auch wenn also Aichingers Auseinandersetzung mit phraseologischen Verbindungen im Rahmen einer Lehre von den Präpositionen eher ein Kuriosum darstellt (wobei die Behandlung der Streckformen unter diesem Blickwinkel durchaus eine Berechtigung hat), so zeigt sich hier doch wiederum deutlich ein gewisses Bewußtsein von und Interesse für die phraseologischen Phänomene der deutschen Sprache. Gottsched, auf den Aichinger ja verweist, widmet in seiner „Teutschen Sprachkunst", 1762, ein Kapitel den „Kern- und Gleichnißreden, imgleichen den Sprichwörtern der deutschen Sprache". Da Pilz (1978) den Inhalt dieses Kapitels im wesentlichen schon referiert, wollen wir hier nicht näher darauf eingehen. (Gottsched definiert „Idiotismus" als die nicht Wort für Wort übersetzbaren Redensarten einer Sprache und warnt vor den lächerlichen Ergebnissen falscher Übersetzungsmethoden.) Neben diesen Überlegungen, denen eine Zusammenstellung eben solcher „Kernreden" folgt, findet sich dann allerdings in der Einleitung zur ,Sprachkunst' noch folgende kleine Anmerkung: Ζ. E. hier in Meißen sprechen viele, ich bin Willens, so wie man spricht, ich bin der Meinung, des Sinnes, des Vorhabens u.d.gl. Das alles ist nun analogisch gesprochen. Andere aber sagen: ich habs in Willens; allein so hat diese Redensart nirgends ihres gleichen. Sie ist also falsch. (S. 7)

Die Vermutung liegt nahe, daß Gottsched mit dem Begriff „analogisch" auf Bildungsmuster für Streckformen und andere Phraseologismen abzielte, leider fehlen jedoch weitere Überlegungen. Johann Jakob Bodmer (1768) ist der erste Sprachgelehrte in unserer Übersicht, der die „Idiotismen" des Deutschen unter einem stark sprachkritischen Blickwinkel bespricht. Er definiert „Idiotisme" zunächst als alles, was eine Sprache „mit einer andern nicht gemein hat", sowohl in syntaktischer als auch in semantischer Hinsicht. Daneben gibt es für ihn aber noch „eine ganz besondere Art von Idiotis-

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Historische Phraseologie

men", welchen er sehr ablehnend gegenübersteht:

Noth mit andern vertauschet werden dürfen. Den

Das sind nichts anders als die Abweichungen und

Sachen, nicht Stellung. (S. 171)

Ausnahmen von eben dieser charakteristischen Verfassung der Sprache, die ihren Ursprung von dem Eigensinne, der Laune, dem Muthwillen, der Unwissenheit, dem Zufalle haben. Die Nation, welche von diesen Zügen am meisten in ihrem Genie hat, wird von diesen elenden Idiotismen auch am meisten in ihre Sprache aufnehmen. (S. 107)

Als Exempel wählt Bodmer den Ausdruck ins Gras beißen (!), den er erklärt: Beißen bedeutete ursprünglich Niederfallen; und der Ausdruck war ganz natürlich. Da es itzt die Bedeutung verwechselt hat, so ist das ungereimteste Bild daraus entstanden. (S. 107/8)

Allerdings räumt er dann ein, daß neben diesen „verworfenen Idiotismen" noch andere existieren, „die eigentlich Translata, Metaphern, Gleichnißbilder sind." Bei diesen warnt Bodmer dann auch vor wörtlicher Übersetzung, denn „das fusus in Herba ist den Deutschen, und das die Stange halten den Lateinern gleich wunderlich, und dieses letztere ist zu unserer Zeit den Deutschen selbst seltsam genug." (S. 110) Adelung, „Über den deutschen Styl", 1785, behandelt im 5. Kapitel die „Angemessenheit des Styles", welche in der „genauesten Übereinstimmung der Ausdrücke, sowohl mit der allgemeinen Absicht der Sprache, als auch mit den jedesmahligen besonderen Absichten des Sprechenden oder Schreibenden" besteht (S. 166). Hierzu gehört dann auch die „Üblichkeit des Styles", welche „fordert", „daß man für jeden Gedanken und dessen einzelne Theile diejenigen Ausdrücke wähle, welche (. . . ) der allgemeinste und beste Gebrauch eingeführet hat." (S. 167) Dabei „erstreckt sich (das Übliche) so wohl auf einzelne Wörter, deren Gestalt und Bedeutung, als auch auf ihre Verbindung und die ganze Anordnung der einzelnen Theile des Gedanken." (S. 169)

Feind mit Tapferkeit empfangen, nicht aufnehmen, in den Stand setzen, nicht stellen; die Lage der

Indem Adelung hier ganz allgemein und nicht auf stark idiomatische Phraseologismen oder Sprichwörter beschränkt die Existenz vorgegebener Wortverbindungen in der Sprache behandelt und diese als wichtige Elemente im Sprachgebrauch darstellt, liefert er einen frühen Beitrag zur Diskussion um die Festigkeit und Reproduzierbarkeit phraseologischer Wortketten. Sprichwörtern und „Sprichwörtlichen Lehrund Weidesprüchen" gegenüber legt Adelung u. a. eine sprachkritische Haltung an den Tag, da diese „oft widrige und unedle Bilder und Anspielungen enthalten." (S. 221) Er kommt dabei auf die Inhaltsseite bestimmter Phraseologismentypen zu sprechen, die sich nicht mehr mit der „Würde" des Ausdruckes vereinbaren lassen, wobei er Argumente vorbringt, die trotz ihres stark moralisierenden Tones an heutige Diskussionen über das sprachliche Klischee und seine feste äußere Form erinnern: In den meisten liegt ein einzelner Fall zum Grunde, der sie anschaulich macht, und in so fern sind sie zum Unterrichte des großen Haufens bequem; aber eben um deswillen auch für den aufgeklärten Verstand der obern Classen unbrauchbar, der höhere Bewegungs- und Bestimmungsgründe kennet und bedarf. (S. 2 2 1 / 2 2 )

A. Wenzel (1978) kommt in ihrer Arbeit über „Stereotype in gesprochener Sprache", die sich besonders der „ausdrucksseitigen Gleichförmigkeit des Stereotyps" (S. 29) widmet, ohne jedoch von einem phraseologischen Forschungsansatz auszugehen, zu ganz ähnlichen Ergebnissen: So konnte durch den Versuch einer Klassifikation von Stereotypen die These bestätigt werden, daß die ausdrucksseitige Formelhaftigkeit von Stereotypen bei hohem Bildungsgrad in gewisser Hinsicht einer Auflösung unterliegt. (S. 99)

Besonders gehören dahin ( . . . ) der Gebrauch der so genannten verborum solemnium, d. i. solcher, zum Theil tropischer Ausdrücke, welche der Gebrauch für gewisse Begriffe gleichsam geheiligt hat, daher sie selbige sehr bestimmt bezeichnen, und nicht ohne

8.2.3.3. 19. Jahrhundert Daß mit dem Aufschwung der Sprachwissenschaft nach der Mitte des letzten Jahrhunderts

Identifikation von Phraseologismen

nicht automatisch neue Ansätze oder gründlichere Behandlung von Sprachproblemen einhergehen, wird für unseren Fall bei Wilhelm Wackernagel, „Poetik, Rhetorik und Stilistik", 1873, deutlich, dessen Überlegungen zur phraseologischen Bindung von Wortketten in zum Teil wörtlicher Anlehnung an Adelung formuliert sind: Alle Sprachen besitzen sogenannte verba oder vocabula solemnia, Redensarten, die sich für gewisse Vorstellungen festgesetzt haben und da entweder nur vorzugsweise gelten oder ganz ausschließlich und allein. ( . . . ) Immer ist es Pflicht, sie zu beobachten, jede Verletzung derselben ist eine den Leser störende und irre leitende, die Verständlichkeit schmälernde Unpäßlichkeit und Unangemessenheit. (S. 342/343)

367

bach angeführten Verben auch heute noch zu den gängigsten Streckverben gehören (vgl. Herrlitz 1973, Schmidt 1968, Heibig 1979 etc.). Diefenbach erkennt auch die Tendenz zur Verfestigung beim „Zeitwort in Redensarten" und betont gleichzeitig den großen Anteil solcher „Zusammensetzungen" im Sprachschatz: Je formelhafter solche Redensarten geworden sind, desto eher entbehren die Hauptwörter des Geschlechtswortes. ( . . . ) Daß wir nur wenige Beispiele aus zahllosen geben, ist begreiflich, weil fast kein Zeitwort ohne solche formelhafte Redensarten ist. ( . . . ) Ganz besonders sind die Mundarten überreich an Formeln. (S. 423)

gehen / kommen / stehen / machen / thun / bringen / geben / führen / halten / haben / gewinnen / nehmen / stellen / setzen / legen / schlagen / finden / suchen / leisten

Neu sind bei Diefenbachs Überlegungen auch die Begriffe „Formel" und „formelhaft", womit er offensichtlich die rein formal-äußerliche Starrheit und Fixiertheit bestimmter Phraseologismen (Streckformen) betonen möchte. „Eigentliche sprichwörtliche Redensarten" nimmt Diefenbach in seine Beispiel-Sammlung nicht auf mit der Begründung, daß sie „oft auf jetzt unverstandenen Auslassungen (beruhen) und darum die sprachliche Beobachtung leicht irre (machen)" (S. 423). Weitere vereinzelte Überlegungen, aber auch erste kleine Einzeluntersuchungen zur Phraseologie nach 1860 werden ζ. T. schon bei Pilz (1978) und, vor allem für Streckformen, bei Veronika Schmid (1968) angeführt, so daß wir unseren Überblick hier mit Ferdinand Beckers Arbeit „Der deutsche Stil" (1. Aufl. 1848, Zitate nach der 3., von Otto Lyon bearbeiteten Auflage) zu einem vorläufigen Abschluß bringen wollen. Becker beschäftigt sich in seinem Werk vor allem mit den Phraseologie-Teilbereichen der Zwillingsformeln und Streckformen, allgemeinere Gedanken zu phraseologischen Wortverbindungen sind nur sehr knapp und vereinzelt, so ζ. B.:

Obgleich die Beispiele in seiner Übersicht sehr inhomogen sind (ζ. B. zu bringen ·. etwas fertig bringen; es dahin bringen; etwas mit sich bringen; ins Gerede bringen; zu Ende bringen; ans Licht bringen; in Form bringen), ist es auffällig, wie viele Streckformen aufgeführt werden und daß auch die meisten der von Diefen-

Wir nennen ein Satzverhältnis, das so die Geltung eines Wortes angenommen hat, eine Phrase (...). Auch die deutsche Sprache hat ( . . . ) manche Phrase aufgenommen, ζ. B. gute Worte geben, Grillen fangen, mit scheelen Augen ansehen, hinters Licht führen, Glück wünschen, durch die Finger sehen, und sie hat sogar zur Bezeichnung besonderer Begriffe Phrasen aus fremden Sprachen aufgenommen,

Dagegen geht Lorenz Diefenbach in seiner „Pragmatischen deutschen Sprachlehre" bereits 1847 erstaunlich ausführlich und auch unter neuen Gesichtspunkten auf den phraseologischen Bereich der Streckformen ein. Er zeigt, daß in den Fällen, wo nicht das Verb selbst den Objektskasus bestimmt, sondern eine Verberweiterung wie „eine Partikel, oder ein Nennwort, vorzüglich Beiwort" bei der Bestimmung der Rektion mitwirkt, „die Zeitwörter dabei ihre besondere Bedeutung zu einer allgemeineren (erweitern), wie ganz besonders die Hülfszeitwörter im weitem und engerem Sinne (...), manchmal aber verlieren sie umgekehrt ihre umfassendere Bedeutung und nehmen eine besondere an" (S. 423). Diefenbach gibt dann im folgenden eine knappe Zusammenstellung der ihm auffälligsten Verwendungsweisen der nachstehenden Verben:

368

Historische Phraseologie

ζ. Β. einem den Hof machen, einem einen Besuch machen, einem einen Gefallen thun. (S. 88)

auch in bezug auf den Rhythmus von guter Wirkung. (S. 391)

Weitere Unterteilungen unternimmt Becker hier nicht, wogegen er aber die sprachliche Form und die Verwendungsweise von Streckformen erstaunlich differenziert behandelt. Er geht von der beobachteten Tatsache aus, daß die Sprache oft Redewendungen bildet, die in den Sprachvorrat aufgenommen werden, ζ. B. zu Grunde gehen, Haus halten, und stellt fest, daß es meist „verbale Begriffe" sind, „die durch solche Redeformeln (Phrasen) ausgedrückt werden" (S. 187). Was die Verwendung von Streckformen anbelangt, nimmt Becker einen deutlich stilkritischen Standpunkt ein und warnt vor falscher oder übermäßiger Anwendung solcher „Phrasen", anerkennt aber auf der anderen Seite durchaus die semantisch-syntaktische Leistung von Streckformen:

Auch die absolute Gleichsetzung von einfachem Verb und der Steckform mit entsprechendem Verbalabstraktum wird im weiteren Verlauf der Überlegungen modifiziert:

Die aus mehreren Wörtern gebildete Redeformel ist an sich weniger schön, als das Verb, ( . . . ) aber Redewendungen wie Haus halten, zu Rate ziehen, zu Grunde richten, welche in den Sprachgebrauch einmal aufgenommen sind und neben denen kein ihnen gleichbedeutendes Verb vorhanden ist, haben gleiche Rechte mit einfachen Begriffs Wörtern; und wenn ihnen auch ein gleichbedeutendes Verb zur Seite steht, ( . . . ) so bedient man sich, wenn die Tätigkeit mit besonderem Nachdruck hervorgehoben werden soll, vorzugsweise der wortreichen Redeformel. Es ist aber sehr zu tadeln, wenn man statt eines völlig gleichbedeutenden Verbs auch da, wo der Prädikatsbegriff nicht besonders hervorgehoben werden soll, eine solche Redeformel gebraucht. (S. 187/ 188)

Unsere ältere Sprache gebrauchte mit Vorliebe, und zwar nicht bloß im poetischen Stile, sondern auch in der gewöhnlichen Rede, eine gewisse Wortfülle, die oft in geradezu drastischer Weise die Begriffe zur sinnlichen Anschauung brachte. Dort können wir noch heute lernen, wie in gesunder Weise die Rede reicher zu gliedern und bunter und lebensvoller zu gestalten ist, als es die nüchterne Verstandesmäßigkeit thut. (S. 241)

Nach Becker sind auch viele der v. a. in Zeitungen verwendeten Streckformen „Modewörter", die den Ausdruck „leicht schleppend" machen, zu einer „anstößigen Anhäufung von Abstrakta führen" und der Rede einen unnatürlichen „vornehmen Schein" geben sollen. (S. 188/143) Gleichzeitig betont Becker aber, daß man die Streckform, schon aufgrund ihrer syntaktischen Form, auch gekonnt als Stilmittel einsetzen kann: Sie ist besonders dann, wenn das Prädikat als der Hauptbegriff des Satzes hervorgehoben werden soll,

Auch in der Umgangssprache kann man jedoch von solchen Auflösungen bestimmter Worte in ein Satzverhältnis Gebrauch machen. Wenn nämlich ein von dem ursprünglichen einfachen Worte verschiedener Sinn in der umschreibenden Redeformel enthalten ist, ζ. B. einen Besuch machen, was auf einen förmlichen Besuch hindeutet und sich von „besuchen" unterscheidet, das von einem weniger förmlichen Verkehr gebraucht wird. (S. 91)

Eine grundsätzlich positive Einstellung zeigt Becker den Zwillingsformeln gegenüber, die er als typisch deutschen Redeschmuck interpretiert:

Eine kleine Beispielsammlung solcher „Redeformeln" und ein Verweis auf ihre vorbildliche Verwendung durch Luther und Goethe schließen das Kapitel ab.

8.2.3.4. Zusammenfassende Überlegungen Wenn nun, wie schon eingangs betont, die vorliegende diachrone Übersicht keineswegs als repräsentativ gelten kann, so glauben wir dennoch, gewisse Schlußfolgerungen aus den vorgestellten Texten ziehen zu dürfen und damit — zumindest der Tendenz nach — einige Aussagen zur Behandlung der Phraseologie in der Sprachwissenschaft bzw. Grammatik seit dem 16. Jh. machen zu können. Phraseologisch gebundene Wortketten werden von Sprachgelehrten in diesem ganzen Zeitraum als besondere Einheiten der Sprache

Identifikation

Phraseologismen

369

erkannt und unter einer allerdings noch sehr stark wechselnden Terminologie registriert. Weiterführende theoretische Ansätze sind zunächst eher knapp oder fehlen ζ. T . auch ganz, anschauliche Beispiele werden jedoch immer gegeben.

und damit Kenntnis des „üblichen" Sprachgebrauchs wegfallen, bilden Übersetzungstexte, d. h. der Vergleich von ausgangssprachlichem und zielsprachlichem Text, oft die einzige einigermaßen verläßliche Grundlage zur Erkennung von Phraseologismen (vgl. 8.2.2.).

Diese manchmal recht umfangreichen Beispielkataloge erlauben dann nicht nur Rückschlüsse darauf, welche sprachlichen Einheiten als phraseologisch betrachtet und wo eventuell Untergruppen gebildet wurden, sondern liefern auch interessantes Material für die Erforschung der historischen Entwicklung einzelner Phraseologismen des Deutschen, bestimmter Modell- und Bildungsmuster oder ganzer Phraseologismentypen (wie ζ. B. der Streckformen).

Betont werden muß noch, daß die Behandlung von Phraseologismen im Rahmen einer Stil-Lehre und Rhetorik nicht unbedingt mit einer sprachpflegerischen und stilkritischen (Ab-)Wertung verbunden sein muß, wie es in bezug auf Streckformen und v. a. auch stark idiomatische Phraseologismen gegen Ende des 19. Jhs. üblich wird. „Stilistik" meint in unserem Fall vielmehr „Anleitung", nämlich zu „zierlicherem", lebendigerem Sprechen, unter Berücksichtigung des „üblichen" und somit richtigen Sprachgebrauchs.

Bei der Behandlung der Besonderheiten phraseologischer Verbindungen wird dann nicht nur auf die abweichende Bedeutungskonstituierung bzw. Nicht-Motiviertheit dieser Einheiten eingangen („den ungleichen Verstand"), sondern immer wieder auf die Fixierung eines Ausdrucks durch den Sprachgebrauch verwiesen. Diese eher pragmatische Größe der Sprachverwendung ist es dann sogar, welche die semantischen und morphologisch-syntaktischen Abweichungen solcher Ausdrücke akzeptabel macht, d. h. die Verwendung von Phraseologismen wird im wesentlichen als durch den Sprachgebrauch legitimiert betrachtet. Die hervorstechendsten Eigenschaften bestimmter phraseologischer Typen, ihre Bildhaftigkeit einerseits und äußere Fixiertheit andererseits bestimmen dann sehr stark die Bereiche, in deren Kontext sie behandelt werden: Neben dem Bereich der Sprichwortforschung, welchen wir bei unseren Nachforschungen bewußt unberücksichtigt ließen, sind das vor allem der Bereich der Stilistik und Rhetorik einerseits und der der Übersetzungsproblematik andererseits. (Das Eingehen auf Phraseologie im letztgenannten Kontext ist praxisbedingt und beruht wohl jeweils auf konkreten Erfahrungen. Gerade auch im Rahmen einer historischen Phraseologie des Deutschen, wo Kriterien wie Sprachkompetenz

Dies wird vor allem bei Pudor deutlich, dessen Empfehlungen an den Leser einen beinahe rezeptartigen Eindruck machen. Dadurch zeigt sich auch, daß nicht nur einzelne, auffällige phraseologische Verbindungen, sondern oft das Modellhafte, die Bildungsmuster bestimmter Phraseologismentypen in den Vordergrund des Interesses rückten. Gerade bei den Zwillingsformeln, die heute ζ. T. nur noch als sprachliche Relikte aus der älteren Rechts- und Urkundensprache betrachtenswert erscheinen, werden meist einige anschauliche Beispiele gegeben, die aber weniger Dokumentation als vielmehr Vorlage für die Kreativität des Lesers bei der Anwendung dieses Sprachschmuckmittels sein sollen. (Dem Charakter dieser Anleitungen zufolge müßte sich im 16. und 17. Jh. eine gesteigerte Produktivität dieses Phraseologismentyps nachweisen lassen, Untersuchungen an nicht-rechtssprachlichen Textsorten wären von daher interessant.) Weiter ist in unserer Übersicht auffallend, daß unter den Beispielen zu „Phrases", „Redensarten", „Idiotismen", „Sprachzierlichkeiten" und Übersetzungsproblemen stets auch Streckformen aufgeführt werden, oft sogar zum überwiegenden Teil, und es wird auch darauf verwiesen, welchen großen Anteil solche Formen am allgemeinen Sprachschatz ausmachen.

370

Historische Phraseologie

Veronika Schmidts Ansicht, daß erst „seit sieben Jahrzehnten (.. .) viele Grammatiker und Stilistiker die Streckformen (vermerken und beurteilen)" (V. Schmidt 1968, S. 102), muß von daher widersprochen werden. Und auch die Tatsache, daß im Zeitraum seit dem ausgehenden 19. Jh. Streckformen im wesentlichen „als starre und dem Charakter der deutschen Sprache fremde Bildungen behandelt wurden" (was Schmidt anschaulich dokumentiert) und auch in neueren Arbeiten differenziertere Stellungnahmen „meist nur in kurzen Bemerkungen" vorkommen (V. Schmidt 1968, S. 102), erscheint in einem anderen Licht, wenn wir wissen, daß dieselben Streckformen nicht viel früher zu den „Zierlichkeiten der Sprache" gerechnet wurden. Gerade Karl Beckers Arbeit, in der die Streckformen zwar unter stilistischem Gesichtspunkt ζ. T. kritisiert, aber auch in bezug auf ihre besondere syntaktische und semantische Leistung gewürdigt werden, ist in diesem Zusammenhang sehr erwähnenswert. Abschließend können wir also aus unserer kleinen Forschungsübersicht das Fazit ziehen, daß sich Sprachgelehrte schon seit Jahrhunderten mit phraseologischen Wortverbindungen befassen, auch wenn sich die „Phraseologie" als eigenständiger Forschungsbereich erst in den letzten Jahrzehnten herausgebildet hat. Trotz des sich immer wieder manifestierenden Interesses an phraseologischen Erscheinungen wurde also keine Forschungstradition zu diesem Gebiet gegründet, was zum größten Teil von der Unsicherheit darüber herrühren dürfte, wo genau zwischen Stilistik und Grammatik die Erforschung von Phraseologismen anzusiedeln sei. So werden Phraseologismen manchmal den verschiedensten herkömmlichen Grammatikbereichen zugeordnet, ζ. T. der Wortartenlehre (Erweiterung des Verbums/ des Nomens), oder der Syntax (Kasus-Setzung, Anwendung von Präpositionen), meist aber dann doch zur Stilistik gerechnet, wobei die traditionelle Poetik und Verslehre auch nicht ohne weiteres Raum dazu bietet. Wenn also die Überlegungen zur Phraseologie meist vereinzelt und verstreut auftreten, ist das eher auf diese — auch der modernen

Phraseologie keineswegs unbekannte — Problematik der Zuordnung phraseologischer Einheiten im traditionell vorgegebenen Gebäude von Grammatik und Stilistik zurückzuführen, als auf die oft vermutete Nicht-Beachtung dieser Erscheinungen durch die Sprachgelehrten der letzten Jahrhunderte.

8.2.4. Indizien, die sich aus Wörterbüchern ergeben 8.2.4.1. Quellen und Typen Wörterbücher eignen sich prinzipiell dann als Quellen für phraseologische Untersuchungen, wenn sie nicht nur (ein- oder zweisprachige) Wortsammlungen in Form von Einzelwortlisten bieten, sondern auch Wortverbindungen, Redewendungen oder kleine Beispielsätze zur Illustration variierender Wortbedeutung und adäquaten Wortgebrauchs anführen. Anzahl und Qualität solcher ausführlicherer Belege hängt dabei stark mit der allgemeinen Ausrichtung des entsprechenden lexikalischen Werkes zusammen und mit der ihm von seinem Verfasser zugedachten Funktion. Im folgenden wollen wir auf einige Wörterbuchgruppen näher eingehen, um die Möglichkeiten der „phraseologischen Nutzung" dieser Quellen aufzuzeigen einschließlich der Probleme, die sich dabei stellen. Dabei soll dann auch - in Anlehnung an die Ergebnisse des vorausgehenden Kapitels — untersucht werden, inwieweit in den jeweiligen Wörterbüchern, in ihrem Aufbau und in der Form ihre Einträge ein „phraseologisches Bewußtsein" der Wörterbuchautoren zum Ausdruck kommt. Für die zweisprachigen lat.-dt. Wörterbücher in frühneuhochdeutscher Zeit können wir zunächst zwei große Funktionsbereiche unterscheiden (welche sich natürlich auch ζ. T. überschneiden): Es finden sich einerseits eher pädagogisch-didaktische Werke, die zum Erlernen oder Üben der lateinischen Sprache dienen sollen, andererseits mehr theoretisch-wissenschaftliche Nachschlagewerke, die klassisches Latein vermitteln bzw. das Verständnis

Identifikation von Phraseologismen

der lateinischen Autoren und dann auch der Bibeltexte ermöglichen und erleichtern wollen. Was die formale Seite der Lemmaanordnung anbelangt, so gibt es neben den alphabetisch geordneten Wörterbüchern noch die nach Sachgruppen geordneten, eine Tradition, die auf die großen einsprachig-lateinischen Sachglossare zurückgeht. In beiden Wörterbuchgruppen finden sich bis zur Mitte des 16. Jhdts. vor allem Werke, die vom Lateinischen ausgehen und auch die deutschen Einträge oftmals mit lateinischen Interpretamenten versehen, wobei in den für den Schulgebrauch gedachten Werken noch Memorierverse zur Grammatik angehängt werden. Diese frühen nhd. Wörterbücher sind als Quellen für phraseologische Untersuchungen nur sehr beschränkt geeignet. Das Interesse ihrer Autoren zielt nicht auf eine dem deutschen zeitgenössischen Sprachgebrauch möglichst angemessene Ubersetzung des Lateinischen ab, sondern liegt eher bei sachlich-enzyklopädischen oder grammatisch-derivatorischen Fragen. Die deutschen Glossen sind nur Hilfsmittel zum Verständnis des Lateins und entsprechend knapp. Diese Grundtendenz gilt dann zunächst auch für diejenigen zweisprachigen Vokabulare, die das Deutsche als Ausgangssprache dem Lateinischen voranstellen. Erste Anfänge dieser Neuordnung finden sich bereits um die Wende vom 14. zum 15.Jhdt. (so enthält das um diese Zeit entstandene Engelhus-Glossar [Dietrich Engelhus: Vocabularius quadriidiomaticus] einen dt.-lat. Teil), und nach der Mitte des 15. Jhdts. lassen sich verschiedene umfangreichere Werke belegen, wie ζ. B. der Vocabularius incipiens teutonicum ante latinum, Peter Drach, Speyer 1483 und der Vocabularius teutonico-latinus, Conrad Zeninger, Nürnberg 1482. Die Voranstellung des Deutschen ist aber auch hier nicht als Indiz für ein vermehrtes Interesse an der deutschen Sprache zu werten, sondern entspringt v. a. der Absicht, Anfängern den Einstieg in das Erlernen der lateinischen Sprache zu erleichtern. Wenn wir also generell davon ausgehen können, daß im Zu-

371

sammenhang mit den nationalen Strömungen des europäischen Humanismus im Laufe des 15. Jhdt. die Beschäftigung mit der eigenen Muttersprache auch in Deutschland eine neue Bedeutung gewinnt (vgl. auch Grubmüller, Vorwort zu Vocab. teutonico-lat., Neudruck 1976), so finden wir auch in den Dictionarien dieser Zeit noch keinen direkten Niederschlag dieser Neuorientierung. Die deutschen Einträge sind kurz und knapp, entsprechend gering auch das phraseologische Material. Für unsere Zwecke wirklich interessante und ertragreiche Werke finden wir erst mit den Wörterbüchern von Frisius und Maaler um die Mitte des 16. Jhdts. Johannes Frisius' Werk, 1541 in Zürich in Zusammenarbeit mit Petrus Cholinus entstanden, stützt sich auf die Wörterbücher von Calepinus (Ambrogio de Calepio: Dictionarium, Reggio nell' Emilia 1502) und Robertus Stephanus (Estienne, Robert, Dictionarium Ser latinae linguae Thesaurus Paris 1531). Diese umfangreichen Dictionarien entstanden aus dem im Humanismus neu sich verstärkenden Interesse an den klassischen Autoren des römischen Altertums, deren Sprache man bewunderte und in Abgrenzung zu den spätmittelalterlichen lateinischen Wörterbüchern den Lateinschülern neu zugänglich machen wollte. (Vgl. Gilbert de Smet, Vorwort zum Neudruck Maaler, 1971). So wurden den lateinischen Lemmata oft auch Beispielbelege aus den Texten der als vorbildlich anerkannten lateinischen Autoren beigefügt. Für ihr „Dictionarium latinogermanicum" — auch „großer Fries" genannt — übernehmen Frisius/Cholinus den lateinischen Lemmabestand aus Stephanus' Dictionarium und ergänzen ihn mit ausführlichen deutschen Interpretamenten. Hier und dann auch im sogenannten „kleinen Fries", einer gekürzten Ausgabe für den Schulgebrauch, 1554, „Novum Dictionariolum Puerorum latino-germanicum et diverso Germanicolatinum", findet sich nun phraseologisch interessantes Sprachmaterial in Form von Wortgruppen und kleineren Beispielsätzen. Der deutsche Wortbestand des „großen Fries"

372

Historische Phraseologie

bildet dann die Hauptgrundlage von Josua Maalers „Die Teütsch Spraach, Dictionarium Germanicolatinum novum", Zürich 1561. Maaler hat in einer aufwendigen Umsetzarbeit das deutsche Sprachmaterial alphabetisch neu geordnet und dem Lateinischen vorangestellt und in einem gewissen Rahmen wohl auch weitere Quellen herangezogen. Im großen ganzen allerdings liegt in Maalers Dictionarium kaum phraseologisches Material vor, welches nicht auch schon in Frisius' Werk zu finden wäre. Unter dem Eintrag „Hand" finden sich bei Maaler 49 Belege, von denen 41 aus dem großen Fries stammen; sie sind ζ. T. identisch mit ihrer Vorlage, ζ. T. geringfügig gekürzt oder leicht verändert. So ζ. B.: Maaler: Die bücher sind mir nie ze Händen kommen. / Ich hab sy nie gesähen. Nunquam libri illi in manus inciderunt. Frisius: Nunquam libri illi in manus inciderunt. Cie. Sy sind mir nie zehanden kommen / Ich hab sy nie gesähen.

oder Maaler: Die Hand bieten / Behulffen seyn. Adiumento esse alieui. Frisius: Adiumento esse alieui. Cie. Einemm hilff thun / die hand bieten / helffen.

Was die Inhaltsseite anbelangt, gibt es keine Gründe, Maalers Wörterbuch dem von Frisius vorzuziehen; als ein vom Deutschen ausgehendes Nachschlagwerk, das zudem noch durch Drucksatz und graphische Darstellung sehr übersichtlich ist, ist „Die Teütsch Spraach" jedoch ein für phraseologische Untersuchungen sehr geeignetes, umfassendes und handliches Wörterbuch. Was das Verhältnis des Wörterbuch-Wortschatzes zum tatsächlichen zeitgenössischen Wortbestand und Sprachgebrauch angeht, muß man sich allerdings gerade im Rahmen phraseologischer Forschung bewußt sein, daß Maaler (über Frisius) vom lateinischen Wortbestand in Stephanus' Dictionarium abhängt, wir es also wiederum (bzw. immer noch) mit einer lexikographischen Arbeit zu tun haben, die ihren Ausgang im Sprachschatz des klassischen Lateins nimmt.

Die Vorrangstellung des Lateinischen wirkt sich auch noch in der Folgezeit bis in die Anfänge des 17. Jahrhunderts hinein auf Zusammensetzung und Umfang des lexikalisch erfaßten deutschen Wortschatzes aus. Gleichzeitig verstärkt sich aber auch das Interesse an der eigenen Nationalsprache, welche in den Bereichen der Verwaltung und auch der Literatur immer mehr Bedeutung gewinnt. Aus dieser allmählichen Umorientierung und dem damit verbundenen Erstarken der nhd. Schriftsprache resultieren die umfangreichen deutschen Wörterbücher des 17. Jahrhunderts, darunter v. a. das von Georg Henisch (unvollständig) (1616), und Kaspar Stieler (1691). Diese Wörterbücher liefern für eine Erforschung der historischen Phraseologie des Deutschen nicht nur reichhaltiges Sprachmaterial, sondern sind auch sehr wertvoll als Nachschlagewerke und Kontrollinstanzen bei der näheren Bestimmung und Beurteilung von Wortverbindungen aus deutschen Quellentexten im Hinblick auf ihre Fixiertheit oder ihre Varianten. Besonders Stielers Werk ist beeinflußt von theoretischen Vorarbeiten, die neu durch die „Fruchtbringende Gesellschaft" geleistet wurden. Diese Sprachgesellschaft, 1617 nach dem Vorbild der florentinischen Accademia della Crusca gegründet, wollte sich wie diese um Ausbildung und Pflege einer vorbildlichen Landes- und Literatursprache bemühen. So fordert Harsdörffer in einem 1648 ausgearbeiteten Wörterbuchprogramm v. a. Vollständigkeit, Verdeutlichung des richtigen Gebrauchs der Wörter durch das direkte Heranziehen literarischer Quellen und Aufzeichnung der zum jeweiligen Wortartikel gehörenden „Redarten" und „Phrases". (Vgl. auch Henne 1975, S. 17). In dieser Konzeption zeigt sich eine neue Art der Auseinandersetzung mit dem Sprachsystem und -gebrauch des Deutschen. Auch wenn auf ältere Wörterbücher als Hilfe für die Wortsammlungen zurückgegriffen wird, so geht es doch nicht mehr darum, deutsche Äquivalente zum Wortschatz klassischer Lateintexte zusammenzutragen. Dagegen werden zur Illustration der richtigen und „zierlichen"

Identifikation von Phraseologismen

373

Wortverwendung Beispiele aus deutschen Texten herangezogen. Wir können deshalb für unsere phraseologischen Untersuchungen davon ausgehen, daß es sich bei den in diesen Wörterbüchern aufgeführten Wortverbindungen und Beispielsätzen kaum mehr um ad hoc-Umschreibungen zur Verdeutlichung einer lateinischen Wortbedeutung und Begriffsverwendung handelt, sondern daß diese „Phrases" aufgenommen wurden, weil sie in ihrer Eigenschaft als feste Wortverbindungen, Metaphern, Streckformen, stark idiomatische Phraseologismen usw. den Wörterbuchverfassern im Rahmen eines vollständigen deutschen Wörterbuchs unerläßlich erschienen.

lieh früh und auch bei Wörterbuchautoren rechnen, die sich noch sehr stark am Lateinischen orientieren. So schreibt bereits Conrad Gessner, einer der Initianten von Maalers Wörterbuch, in seinem Vorwort zu eben diesem Werk, daß das Dictionarium von Frisius deshalb als Vorlage gewählt worden sei, weil es sich durch einen besonderen Reichtum an „voces ac phrases" sowohl der lateinischen als auch der deutschen Sprache auszeichne (Maaler, 3 v). Auch in einer der einleitenden Bemerkungen zu Anordnung und Aufbau des Maalerschen Wörterbuchs wird deutlich, daß es nicht nur um Einzelworteinträge, sondern ebenso um die Notierung wichtiger Wortverbindungen ging:

8.2.4.2. Das „phraseologische Bewußtsein" der Wörterbuchautoren

Nominibus frequenter sua Epitheta propria, Sc verba insuper adiecta sunt, in varium studiosorum usum. (2v)

Mit einem gewissen „phraseologischen Bewußtsein" dürfen wir allerdings schon ziem-

Die typographische Darstellung verdeutlicht dann konsequent dieses Vorgehen:

33etn(Doe)Ojofl]j. Y ( S t o f f e grftocftc C 5 d n . C r u r a c o m . pa&a. Q e e 'Btin » i t t r u m & epnrfc$ten o t c r i n e 9 ί « φ iie&en ioct{ ce tterrucft i ß , K e * p o n e r e os. © i e CSein Aufjnemmenober itrbi&tQtp. Exofläre. Cge (ft n ä t Darf ^ « u t w i ö Cßein a n m i r . V i r e s Sc c o r p u s a m i f i . Ι&αηΐη&φπ ) O i f t f r a g u s . Cftn CSetnfcfjfnen / ©Der tniepetyntn eines g e t a r n e f t t / ober J e ä j ten friegfjmaüe. Tibiale milicis. 25ei>igeJ

275

sich an Chopf lange

279

Das chasch der us em Chopf schlaa e Chraft empfange

Β d Bäärgschue aalegge und d Wand uuf marschiere 261 mit em lätze Bäi zum Bett uusgstige sii wider uf de Bäine sii uf privater Basis

2 4 5 , 2 4 6 , 2 5 2 , 253

di Kantonaali Behörde

248, 275

örm. platzt de Chrage

277

gwüssi militanti Chräis

150

es Chrottehaar im Sack haa de Container lääre

262

276 285

D

149

sich zuenemender Beliebtheit erfreue in Besitz nää

277

282

schwäär vo Begriff sii

im Beräich vo

261

276

ich dänk mer eigentlich das Dings dert ös. duregoo loo

261

262

ör. chan äim i d Chappe jodle

126, 2 8 5 , 2 8 6

muesch käi Angscht haa Angscht mache

239

C

277

an (und für) sich

262

261

sich de Buuch hebe vor Lache

261

äine umtopfe

261

262

es Buech verschluckt haa

260

äinig goo

Bröckli lache

282

Hasch en härten Abzuug! im Äimer sii

261

Da stuunsch Bouchlötz

281

ös. chunnt zur Abstimmig es Äi legge

262 262

ös. isch d Bombe

281

öppert diräkt aaspräche

281

Bodehoochsig haa

276

miner Aasicht naa

107, 2 6 3

121

ich möcht Si bitte

Es schnäggelet mi aa

282

261

Bisch hool i de Bire?

gläitendi Aarbetsziit

au deren Aasicht sii

125, 126

es büütet sich äim es Bild vo (Subst.)

286

en bunte Aabig

277

eifach zum Biischpil

125

143 279, 280

262

250

423

Schweizerdeutsche Phraseologismen Ε Efeu am Hoseträäger haa

(E)s schlaat äim um de Egge i siim Element sii

Gott säi Dank

263 262

mines Erachtens

113

Du bisch denn aber en Gschnälle

282

ich gsee s esoo

276

a ös. Erwaartige (draa-)chnüpfe es isch im Arge

239, 240

Du bisch denn aber en Gschiide

204

es hat scho wiit abegschneit

151

das gscheet örm. rächt

282

ös. chuum chöne entlasse nid erspart bliibe

279, 280

us folgendem Grund

277

sich erkäntlich zäige

275

kän Grund gsee

277

mit langjähriger Erfaarig

113

Grüezi säge

80

Entgägekomme zäige

190

Gratulier der

ich gsee scho

282

126

Ο du mini Güeti

275

190

örm. de Gumi schliiffe

124

113

112

261

Η

F Fäde zie

Hagschlosse

241

de Fall sii

Hääni gää

285

Färb bekene

sich i de Haar lige

287

Muesch nid welle amene Fels sändele is Fettnäpfli trampe

262

277

Me cha nid de Feufer und s Weggli haa find ich

125, 126

ich find

126, 129

78

örm. uf d Finger luege

262 für d Folge uufchoo

241

261

2 4 4 , 245

261 2 5 1 , 261

Es hänkt mer jetzt denn uus

248

Das haut de Stärchschti um

261

Heb di am Chopf und säg Fallobscht

im Hiiblick uf

151

i dere Hiisicht

151

erschti Hilf

240

ich hoffe

120 277

149 126

der Hoffnig Uusdruck gää

G

sich i de Hoore ligge 121, 126

es gaat i d Hose

in vollem Gang sii Gang go näschte! über wiiti Gebiet ich ha s Gfüül ich glaube

126

uf em Hund sii

220

Hünd gsee

261

under äi Huube bringe

205

ich glaub sicher

124

ich glaub, ich bi prinzipiell degäge ösm. gliich gsee

190

s fäälendi Gliid

286

262

Wotsch de Gong? 121

262

4 1 , 4 2 , 126

125, 126, 127, 129

de grooß Huufe

150

zwenig Huut am Rugge haa 124

262

262

bisch nid ganz hundert

126

Aso goopf

262

279, 280

ich glaub eifach

go scharre

277

239

alles wien es Huen laa ligge

276

220

I.J ken lidruck mache

190

sich mit örm. iiverstande erkleere 220,261

248, 249

261

im Hi(n)blick daruuf, daß

282

Ich gang devoo uus, daß . . .

262

115,116

Du hesch mi scho hei ta

262

Schmöcksch de Fridhoof?

Du gäll

wie heißt s?

Das isch de Hammer

275

d Flüügeschliiffi richte

121

de Häiland im Hosesack haa

örm. in Hammer laufe 261

flach usechoo wien en Fluugplatz, nu nid so grooß

öppis isch fuul

•Bisch e fräche Hagu

en ticke Hals mache

240

262

alläi uf wiiter Fluer

239, 250 262

Hals über Chopf dervoo springe

261

Da gumpet ja d Flöö a d Tecki

nid i Froog choo

Habasch verzelle

wie häißt s eso?

D Finger ab de Rööschti en Flaade haa

116 261

d Iiwilligung gää

153

im grooße und ganze

275

281

220

Register

424 im Grund gnoo es häisses Ise

126, 129

Musig mache

150

je nachdem

234

s Muul nid i de Chnüü haa

262

279, 2 8 0 Ν

Κ

Nacht für Nacht

neui Kapazitete

Kontakt ufnää mit örm.

me hat d Nase voll d Nase rümpfe

en Läärme mache s tägliche Labe

275

nid waar

150

ös. uf em Lade haa

e herti Nuß

150

Ε Schnure so grooß wien e Landepiste

262

244

en Lätsch mache de Latz abelaa

244, 2 7 5

262

is Leeri use rede

190

Liecht im Chäller haa Da liisch ab

Heb s Loch

126, 129, 2 4 1

Politik mache

262

111 282

279, 280

a bäide Pöörter Schnägge sueche

240, 244, 247

am Profeetebeeri blaase

121, 128

nach Löösige sueche frischi Luft

239, 245

oder (irgend) so öppis

d Pflicht uuferlegge

262

i äis Loch ine schwätze Los jetzt emaal

262

örm. i den Oore ligge

Das isch halt Pech

262

ös. gaat s Loch ab

261

126

Ρ

262

80

Es liit drin

262

me säicht in Ofe (vor . . .) Ööl am Huet haa

234

Es lauft chlämm

öppis im Ofe haa oder?

261

Lätzli aalegge

261

150

Ο

261

de längewääg

262

41

Das haut äim de Nuggi use

241

261

s Lädeli um de Egge

261

261

2 5 0 , 251

en Neger absäile

s Lache wird üüch scho vergaa

247

örm. uf de Nase umetanze

153, 2 7 7

L

Zie Läine

247

ös. an Nagel hänke

282

äim de Puggel aberutsche chöne

282

jetzt mach aber en Punkt

150

s eidgenössische Luftamt

der entschäidendi Punkt

149

örm. isch e Luus über d Läbere gchroche

261

de springendi Punkt

262

261 261

251 153

150

R Μ

örm. s Rächt ertäile

282

ire Maa staa

72

d Radiisli vo une gsee wachse

i dem M a a ß

151

Chasch mer an Ranze hange

261

sich Recheschaft gää drüber

190

es grüttlets M a a ß a im e gwüsse M a a ß

150

miiner Mäinig (naa) der Mäinig sii

mee und mee merci duu!

i d Rööre luege

i Sache

281

285

di ganz Sach

279, 280

zur Sach spräche

121

go sackgumpe

275

siini knappe föif Minuute haa De Mischt isch gfüert

262

S

190

126, 127, 190, 208

ös. uf de Märt bringe

261

281

150

d Materie beherrsche

277

e grausams Roor haa

116

e trocheni Materie

287

de Rolllade gaat äim abe

279

ich bitte si, sich ζ mälde

(ich) mein

i Riichwiiti

279

277, 287

verschidener Mäinig sii Mäld mi ab

mit alem Respäkt

129

289

262

säge mer emal cha der säge

262

190 121 126

128

261

Schweizerdeutsche Phraseologismen ich cha (nöd) säge 126 mer cha säge 126 we me so öppis cha säge 130 was chönt mer jetzt säge 126 (ich) mues säge 125, 126 wie soll ich jetzt das säge 129 so ζ säge 126 ör. am Säil abeloo 239, 246 Das säit mer äifach esoo 248 saluti salami 121 ör. in Sänket stelle 261 ös. vom Schiff uus gsee 261 Schiint nid de Fall ζ sii 115 i d Schiissi lange 262 Bisch im Schilf uufgwachse? 262 de Schirm zuetue 262 örm. uf d Schlich choo 239, 240 uf Schliichpfaade sii 262 am Schluß 279, 280 Heb de Schnabel 262 örm. en Schnägg in Sack stooße 262 d Schnauze halte 277 Jetzt isch dänn d Schnuer gschpane 261 e Schruube locker haa 239, 242, 243, 251, 254 ör. schwanger mache 261 s isch schwirig 125 Es isch d Show 261 sich en Siech aasuuffe 262 vo allne Siite 239 de Sinn nöd gsee 279, 280 im übertraagene Sinn 288 uf liislige Sole 275 Spaß bisiite 287 uf d Spitze triibe 277 Gaasch abe wien en Spöiz a de Schiibe 261 en Sprung i de Platte haa 262 en suure Stäi mache 261 en Stäi ab em Häärz haa 262 Legg en Stäi vor d Hööli 262 en Stäi vor de Hööli haa 262 en Standpunkt verträtte 277 sich us em Staub mache 248 örm. en Sträich spile 244 käi Strick verriisse 261 Da git s nöd vill ζ studiere 80 uf de Stümpe sii 262 Süeßholz rasple 262

Τ ζ aarme Tage choo 275 (ös. mache), daß es tätscht uf em Teppich bliibe 80 s Theema wächsle 288

261

Hesch en Tilt im Chaschte? 220, 260 Schmöcksch de Töff? 220 Toorfmull gfrässe haa 261 Es tötterlet äim 261 Ο du miin Trooscht 190 nid ganz bi Trooscht sii 241, 248, 249 wie de Tschingg am Waldrand staa 262 Tuet s wee bim Laufe? 107 Tüür und Toor sind ösm. uuftaa worde 203

U es überstellt äim 262 zur Überzüügig choo 277, 285 fascht umstaa 261 under Umständ 124 und soo 126, 129, 279, 280 und so fort 286 und so wiiter 126, 129 flüügendi Undertasse 283 es stinkt em Unggle 261 in Unkänntnis, daß 2 7 7 anderer Uuffassig sii 289 en Uufgaab erfüle 282 sich eren Uufgaab widme 282 es stellt äim uuf 261 Uuftriib gää 285

V Verbaarme ha mit örm. 241 heb doch Verbaarme 244 sich zur Verfüegig stelle 153 wie vergiftet 261 Es verjagt äim 261 ör. isch verschösse 262 Hesch es Vögeli da obe? 251 sich öppis voormache müese 190 zum Voorschii choo 279, 280 ich chönnt mer voorstelle 126 vüre choo 89

W (ös.) i d Waagschale werfe 275, 277, 287 waartet nur, ich will üüch leere 243, 246 wäge miine 244 wäisch 126, 127, 128 je wäisch 128 wäisch wie? 261 Aso wäisch! 121 ich wäiß 126 wäiß ich 129

Register

426 ich wäiß nid

125, 126, 130, 2 7 9 , 2 8 0

ich wäiß au nid

ja, ich wäiß (es) nid so vil ich wäiß

Wunder nää

126

Was wänd Sie mee? 121

örm. uf de Wecker gaa

261

e suuberi Weschte haa ich wetti

244

fescht uf d Zään biisse zue sii

zu däm Zwäck

dergäge Widerspruch erhebe

281

262

151

de Zwänzger isch abegheit

261

de letscht Zwick a de Gäisle haa

111

örm. s Wort gää

277

e langi Zunge haa

125

das isch glaub kän Zwiifel

287, 288

281

261

(in) Zuekum(p)ft 125, 126, 130

wett säge dal?

261

245, 252, 253

um jetz zrugg ζ choo uf das, . . .

126

275

125

wie bitte?

Ζ en schaurige Zaa druff haa

125, 126

wem mer das so säge wott

ich wett säge

190

261

s Wasser lauft äim im Muul zäme wem mer säge

126

J a , wüsse(d) Si . . .

80, 103

d Wänd uuf marschiere ja wart nume

125, 126, 128, 2 7 9 , 2 8 0

mer würd säge

246

281

80

244

ich würd säge

126

ich wäiß was

ör. um siis Wort bitte us de Wösch luege

125, 126

261

195

3. Althochdeutsche Phraseologismen in giwissi zi ack(a)re gangan ah mih

355, 3 5 9

in thia ahta neman alia fart

348

sö eigi ih guot

348 353, 3 5 4

in alawar / in alawari

348

segih guot

348

Η

348

335

ah ze harme

348

in ein hellan

354

in [Gen.] handen/henti stän

Β sluog in sina brust slahenti iro brusti

354

360 360

za leibu sin/wesan/werdan

355, 3 5 8 , 3 5 9

Μ iz chit

349

man chit

thia meina

349

348

D mines/dines/ . . . /dankes

ih sagen thir (thaz/ein)

352

so scaffaniu ah ze sere nein ze sere

in eban

3 5 0 , 353

348 348

den sic nemen/gewinnen/geben/läzen sigu neman

352

tho zi theme sinde fiel zi sinen fuozen

in giriuno

351, 355 351

sar io thes sindes

360

fiel in sin annuzi furi sine fuozi

in gimeitun

349

358

360

sines sindes sin stal geban

354 354

354

354

in [ . . . ] stal

354,355

in stete stän

355

ze stete gesezzen ze stete stän

355

355

352

427

Mittelhochdeutsche Phraseologismen — Russische Phraseologismen Τ •iLi./ teil haben/neman mit themo meine

thaz ist war

des einen val. ist des andern knist

349

in

, C 1 ->„ 351,351 355

349

war(a) 348 , ,.. war nemen/tuon 351 , . ,.„ zi ware / zi waru 348 sär zi themo wipphe 351 wizit ir thaz 349 wizist thu thaz 349 bi wuruhti 351

W Ζ

ana wan 348 ana wank 348

ih zellu thir

349

4. Mittelhochdeutsche Phraseologismen war haben 351 einem war komen

er gienc üf allen vieren geltch den wilden tieren

351

358

5. Russische, altrussische und (alt-)kirchenslawische Phraseologismen (Umschrift) A

D

kromesnyj ad 328 tocno kak ν apteke 305 appetit prichodit vo vremja edy merit' na svoj arsitt 326, 344

vstupit' ν delo 328 na derevnju deduske 325 verchnie desjat tysac 295 delat' doklad 308 skatert'ju doroga 327 zakadycnyj drug 291 dat' duba 295 ispustit' ducb 295 cernil'naja dusa 324 ostorozno, dveri sokryvajutsja

299

Β bit' baklusi 296, 3 3 5 - 3 3 7 kisejnaja barysnja 330, 331, 335, 346 prij^ti blago 302 prinjat blagoslovenie 302 prij^ti blagovestenie 302 gadat' na bobacb 325 dat' boj 308 imeti boleztt' 302 prij?ti brak 302 brjacattie oruziem 293 pit' brudersaft 294 C bez carja ν golove 326 polzti kak cerepacha 305 bojat'sja kak cert ladana 305 delat' cest' 299 imeti cest' 302 zit' kak u christa za pasuchoj 305, 307 prij^ti chvalu 302 viljat' chvostom 325

117

F ferlakur

298

G imeti glagol" 302 delat' bol'sie glaza 295, 325 zakryt' glaza na eto 296 dvorjanskoe gnezdo 344 zabivat' gol ν svoi vorota 325 golovo kak reseto 305 ujti s golovoj 327 ujti s golovoj ν svoju skorlupu 327 namylit' golovu 63, 294 kak (ob, v) stenu goroch 306 brat'/vzjat' gorod 308

428

Register

I/J idefiks 298 idei fiks 2 9 8 , 3 2 8 prij^ti izpoved' 302 jazyk prilip k gortani

294

Κ brat' na karandas 327 kaplja ν more 324 postavit' vse na kartu 325 u kogo-libo kasa ν golove 294 razchlebyvat' kasu 328 zavarit' kasu 325, 328 vol'nyj kazak 327 pjataja kolonna 295 trojanskij kon' 295 koncy ν vodu 327 choronit' koncy 327 ch'oronit' koncy ν vodu 327 smotri ν koren' 296, 297 peremyvat' kostocki 296 kozel otpuscenija 296 lezt' von iz feoz/ 325 sguscat' kraski 325 brat' krepost 308 kak krov' krasnyj 306 zdorov kak krov' s molokom 305 krov' tecase, jako reka 340 za kulisami 295 L zivaja letopis' 291 kamennoe lico 324 chitryj kak lisa 305 otkrytyj list 328 polozit' na obe lopatki 325 belyj kak luna 306 sedoj kak luna 306 vsjakoe lyko ν stroku 328 ne vsjakoe lyko ν stroku 328 Μ kak Mamaj proäel 306 ν cem mat' rodila 324 medvez' ja uslaga 324 merit' svoej meroj 326 mertvenno belet' 307 medovyj mesjac 299 kromesnaja mgla 328 imeti milost' 302 gonjat' mjac 337 ptic'e moloko 339

komu more po koleno 294 zdat' u morja pogody 327 kromeSnyj mrak 328 delat' iz muchi slona 21, 324 prij?ti mucenie 302 kromesnaja muka 328 Ν imeti nadezdu 302 Ne bylo pecali (pragm.) 294 ot necego delat' 295 Ariadnaja nit' 326 putevodnaja nit' 326 kromesnaja noc' 328 na c'rn" (c'm"j') nog"t' 338, 339 zit' na sirokuju nogu 328 s gulkin nos 307 vodit' za nos (kogo-libo) 343 N« cto ty budes' delat! 294 Ο kormit' obescanijami 326 bojat'sja kak ognja 305 prij^ti oslabu 302 ovcinka vydelki ne stoit 325 Ρ i pal'cem ne tronut' 336 na vsech parach 326 na vsech parusach 325, 326 Ne bylo pecali 294 lezat' na peci 336 pecki - lavocki 291 Stroit' na peske 294 Vot tak petruska\ 294 rubit' s pleca 294, 295 pozimat' plecami 326 oderzat pobedu 291, 324 Razve eto delaet pogodu ? 65 polet uma 334 polet mysli 302, 334 prekasnaja polovina roda celoveceskogo pominaj kak zvali (Vb) 356 polucit' pomosc' 308 derzat' poroch suchim 325 posle nas (chot') potop 328 prinjat' poucenie 302 brat' poziciju 308 prinjat' predanie 302 prinjat' prestol 302 imet' pretenzii 308 zaprescennyj priem 325

328

429

Russische Phraseologismen igrat' ν prjatki delat' progulku

kak svecka tajat' 306 cem svet 295 otpravit'sja ν tot svet 327 zelenyj svet 327 bludnyj syn 295 imeti s"rrterenie 302

325 308

R on pokrasnel kak rak 302 krasnyj kak rak 306 Razresite menja! 123 delat' rasporazenie 308 Rebjata tajali kak svecki 306 igrat' rof 2 9 4 , 3 2 5 spustja rukava 291 mel'kaja ryba/rybeska 294 molcat' kak ryba 306

Τ on taigu znaet — but' zdorov byt' ne ν svoej tarelke 328 plyt' po teceniju 325 kromesnaja temnota 328 slepaja teterja 324 kromesnaja t'ma 328 tocka zrenija 295 chot' topor vesaj 296 ubivat' tosku 328

S dat' po sapke 292 ν sapogach chodit' 346 sdelat' scenu komu-libo 299 s legkim serdcem 328 s tjazelym serdcem 328 prij^ti silu 302 prinjat' silu 302 skazal kak otrubil (Vb) 305 skazka pro belogo bycka 325 ujti ν svoju skorlupu 327 delit' skuru neubitago medvedja 291 drat' skuru 327 drat' tri skury 327 najti sledy 308 slony slonjat' 337 ni sluchu, ni duchu 327 ni sluchu, ni vesti 327 choroso smeetsja tot, kto smeetsja poslednim nuzen kak proslogodnyj sneg 306 gonjat' sobak 325 sobaka na sene 326 golodnyi kak sobaka 306 nuzen kak sobake pjataja noga 306 boltliv kak sorocka 306 boltlivaja sorocka 325 boltat' kak sorocka 306 vynesti sor iz izby 325 melkaja soska 326 sledujuscaja stancija 117 prizat' k stene 292 stojat' kak vkopannyj 305 vzjat' storonu 308 prij^ti strach" 302 letet' streloj 307 strely letjat kak dozd* 341 stuk i sum strasen byst', aki grom 340 vnutrennee svjatilisce 333 svjataja svjatycb 299, 3 3 1 - 3 3 5

327

U

296

prinjat' ucastie 299 imeti ucenie 302 zakinut' udocku 325 davat' ukazatiie 308 zelenaja ulica 3 2 7 otpravit'sja na sestuju ulicu 327 polet uma 334 najti poslednie upokoenie 295 s oslinym uporstvom 307 gadkij utenok 295 utro vecera mudrenee 317 ν odno prekasnoe Hfro 317 utro zizni 317 gordiev uzel 295

V solomennaja vdova 293 brat'/vzjat' verch (Adverb) 308 prij^ti veru 302 iskat' vetra ν pole 327 zdat' vetra ν pole 327 vintika ne chvataet 325 u kogo-to vinttkov ne chvataet 294 imeti vlast' 302 prij?ti vlast' 302 prinjat' vlast' 302 okazat' vlijanie 299 lit' vodu 336 kak ν vodu kanul 306 nosit* vodu resetom 337 imeti volju 302

Register

4 ί() golodnyj kak volk 306 volk ν ovec'ej skure 296 zelenaja volna 327 staryi vorobej 326 Vot tak tak! (Pragm.) 294 Vot tebe i na! (Pragm.) 294 wag roda celoveceskogo 324 imeti vrazdu 302 prij?ti vred 302 zit' kak na vulkane 307 Vy schodite? (Pragm.) 119, 120 Ν delal vygovor 65 pronzit' vzgljadont 324 .

Ζ za i protiv

328

gonjat'sja za dvumja zajcami, ubit' dvuch zajcev 326 brat' na zametku 327 kormit' zavtrakami 326 bud' zdorov 327 prij?ti zelanie 302 goret' zelaniem 324 cernoe zoloto 324 pokazat' zuby 292 mnogo kak zvezdy na nebe 305 putevodnaja zvezda 298

6. Französische Phraseologismen A

L

entrer dans les affaires 328 ainsi de suite 17 l'appetit vient en mangeant 299 l'argent n'a pas d'odeur 299 l'assiette du vaisseau 328 il n'est pas dans son assiette 328 l'astre du jour 17

C

laisser aller

138

Μ une confortable majorite 34 une forte majorite 34 une lune de miel 299 la plus belle moitie du genre humain Ν

carte blanche 328 toute comparaison cloche faire la cour 298

299

mener quelqu'un par le nez

299

Ρ

D

vivre sur un grand pied ä tout prix 298

dejeuner ä la fourchette 137 apres nous le deluge 328 se laver les dents 34

Q sur le qui-vive

328

299

Ε R tuer son ennui 328 qui s'excuse, s'accuse

285

Rien ne va plus! 1 1 8 , 1 1 9 Rira bien qui rira le dernier

F

S

comme il faut 328 le flambeau des nuits 17 des idees fixes 298, 328 faire influence sur 299

je ne sais quoi

137

Τ fort comme un turc

J les jeux sont faits

118, 119

V la vie est dure

54

35

296

328

431

Englische Phraseologismen - Schwedische Phraseologismen

7. Englische Phraseologismen A

L

strong arm stuff 310 to cherish as the apple of one's eye 304 to fly away like an arrow from a bow 304

as cheerful as a lark 304 to laugh up one's sleeve 311 he laughs best who laughs last to pull sb.'s leg 314 the missing link 286

Β to play ball 311 the early bird catches the worm 314 as flat as a board 304 not to be smb.'s brain wave 313 Take a break from it all 52 to behave like a bull in a china shop 311

296

Μ money has no smell 299 to fly like a moth around a candle 304 the multiplication tables up to ten 312 the multiplication tables up to twenty-five Ν

C not to have the nerve 310 to foul one's own nest 314 to lead someone by the nose

large Catechism 312 small Catechism 312 cut away from it all 52

299

Ρ D to give dirt 310 to lay sth. at sb.'s door

to be as like as two peas

304

Q

258

on the qui-vive F

299

R

to have a finger in the pie 310 to drink like a fish 36, 310 (as) mute as a fish 304 no simile runs on all fours 299 to show a bold front to sb. 313 G to lie like a gas meter 304 to get sth. farmed out 310 to fit like a glove 304 a guiding star 297, 298

there is sth. rotten in it

312

S Is this seat taken? 120 a big shot 310 to laugh up one's sleeve 311 to be in a pretty good stew 311 to stand like a stone wall 304 sb. does his stuff 311 Τ to talk pretty

Η

311

W

to be hand in glove with sb. 258 to play sth. into the hands of sb. 310 to talk through the hat 258 a honey-moon 299

George is on the wagon 213, 214, 215 to have a walk 308 to tilt at windmills 314 a wolf in sheep's clothing 296 to pull the wool over sb.'s eyes 258

8. Schwedische Phraseologismen att vara sä lika som tvä bar stum som en fisk 304 ljuga som en hast 304

304

glad som en spelande one 304 att sitta som gjuten 304 s t i som huggen i sten 304

312

4.ι2

Register

9. Autoren Adrianova-Peretz 334, 335, 345 Amosova 1, 329 Andrejcina 299 Apresjan 65 Archangel'skij 63, 67, 341 Babkin 6 3 , 6 7 , 2 9 8 , 3 2 3 , 3 2 7 , 3 3 0 - 3 3 2 , 3 3 4 , 3 4 4 , 345 Bally 1, 17 Bar-Hillel 6 4 , 6 5 Bausinger 7 Bebermeyer 46, 47, 71, 7 4 - 7 6 , 168 Bernstein 8 Betten 111 Bichel 257 Binovic-Grisin 290, 294 Bloomfield 297 Bock 213,218 Bueler 127 Büchmann 45, 46, 47 Büge 348 Buhofer 108, 134, 169, 184, 2 2 4 - 2 2 6 , 230, 260, 262 Burger, Ch. 40 Burger, Η. 1, 3, 7, 9, 22, 24, 27, 30, 34, 35, 37, 39, 41, 56, 58, 64, 66, 67, 70, 75, 76, 78, 105, 106,109,130,140,142,143,152,175,180,181, 185,195,204,218,221,225,230,238,280,315, 347, 348, 355 Bürger-Linke 315 Burk 134, 135, 136, 200

Fleischer 350 Frazeologija Poeticeskaja Puskina Friedrich 290

Gak 1, 2, 64, 174, 308 Glazyrin 2 9 0 - 2 9 2 , 303, 304, 307 Greciano 105, 106 Grubmüller 371 Gruner 220 Gülich 14, 39, 40, 124 Gvozdarev 29, 66, 3 2 3 - 3 2 9 , 336 Hain 7 Halliday 230 Häusermann 1, 21, 22, 30, 31, 35, 68, 134, 260, 262, 301, 302, 330, 363 Haymes 9 Heiz 100 Heibig 367 Henne 124, 372, 377 Herrlitz 37,367 . Hessky 295 Hindelang 112 Hirsch 114, 115 Hockett 6 Hoffmann-Klix 218 Holly 124 Hörmann 171, 179, 180, 182, 212, 2 1 4 - 2 1 6 , 218, 225 Höybye 378 Ising

Carstensen 45, 51 Cemyseva 21, 30, 35, 62, 65, 351 Chazov 295 Coseriu 34, 43 Coulmas 109 Daniels 6, 9, 12, 37 Dolgopolov 309 Dünker 56, 57 Eco 66 Ehrich-Saile 1 1 2 - 1 1 4 Ekman-Friesen 56 Engel, D. 171, 177, 178 Engel, E. 87 Engeler 113, 114 Engelkamp 214, 215 Fedorov 6 7 , 3 4 2 - 3 4 6 Felicyna-Prochorov 296, 297

345

380, 381

Jaksche 1 Janakiev 63, 316 Jancen 345 Janko-Trinickaja 5, 6, 61 Juhäsz 274 Kammerer 87 Koller 7, 41, 46, 68, 69, 71, 72, 7 4 - 7 9 , 89, 90, 94, 96, 107, 108, 110, 144, 193, 197, 204, 238, 309 Kopylenko 62, 64, 301, 302, 345 Kopylenko-Popova 65, 302 Koselev-Leonidova 297 Kostjucuk 345 Kunin 6 2 , 6 3 , 2 9 5 Van Lancker 176 Larin 66, 298, 301, 323, 345 Leisi 131

433

Autoren Leont'ev 1 7 0 - 1 7 9 , 1 8 1 - 1 8 3 Lichacev 341, 342 Löffler 134 Lomov 345 Lutz 9

Rojzenzon 61, 62, 315, 323 Rojzenzon-Avaliani 289 Rosenthal 9 Rothkegel 20, 21, 23, 181 Rusakova 309

Maas 8 Makkai 109 Mel'cuk 20, 61, 63, 65, 180 Meyer 137, 138 Mieder 9, 16, 19, 35, 36, 38, 39, 46, 347, 364 Milechina 309 Mokienko 62, 66, 67, 292, 300, 301, 319, 3 3 5 - 3 3 8 , 344 Murzel' 309

Samojlova 345 Sanskij 5, 63, 323 Scherer 225 Schmidt 37, 367, 370 Schneider 171, 175, 176, 1 8 2 , 1 8 4 , 185, 229, 274 Schröter 375 Schweizer 16, 69, 75, 77, 79, 88, 89, 1 0 1 - 1 0 3 , 196 Searle 105, 114 Seidler 87 Selivanov 345 Sialm 1 , 3 2 9 Skljarov-Eckert-Engelke 296, 297 Smelev 66 de Smet 371 Soloducho 2 9 7 - 2 9 9 Stachowiak 173 Stempel-Weber 40 Strässler 116, 153 Strübin 1 3 4 , 2 8 4

Nevedomskaja

292, 293, 3 0 5 - 3 0 7

Palevskaja 345 Partridge 17 Pausch 3 7 7 , 3 7 8 Pekler 65, 301, 302, 3 0 7 - 3 0 9 Permjakov 7, 39 Peuser 177 Piaget 2 2 6 - 2 2 9 , 2 3 3 , 2 5 0 Pilz 1, 2, 7, 10, 2 1 - 2 8 , 30, 37, 105, 109, 110, 3 6 0 - 3 6 3 , 365, 367 Piotrovskij 317 v.Polenz 3 7 , 1 1 9 Popov 298 Popovic 309 Potebnja 326 Powitz 376 Problemy 63 Püschel 130 Quasthoff

8

Rajchstejn 2 9 0 - 2 9 5 Ramge 230 Rath 124 Recker 295 Reger 107 Renckstorff 164 Riesel 106 Ris 254 Röhrich 7, 25, 36, 39, 52, 58, 59, 72, 95, 144, 348, 349, 351, 364

Tagiev 329 Telija 4 1 , 6 7 Thun 1, 2, 5, 20, 27, 28, 3 4 - 3 6 , 68, 105 Tolstoj 63, 292, 335, 3 3 8 - 3 4 0 Tvorogov 340, 345 Uluchanov

345

Verescagin-Kostomarov 296 Villiger 18 Vinogradov 1, 21, 343, 345 Weigl 177 Weinreich 1, 212 Wenzel 366 v. Wilpert 17 Wolfrum 9 Wustmann 75 £ukov

4, 62

de Gruyter Studienbuch

Reader zur sowjetischen Phraseologie Herausgegeben von Harald Jaksche, Ambros Sialm und Harald Burger Ubersetzt aus dem Russischen Oktav. VI, 149 Seiten. 1981. Kartoniert D M 2 8 , ISBN 3 11 0 0 7 6 0 9 8 Aufsätze sowjetischer Sprachwissenschaftler über Probleme der festen Wortverbindungen in deutscher Übersetzung I n h a l t : Einleitung — N. Janko-Trinickaja: Zur Phraseologizität sprachlicher Einheiten verschiedener Sprachebenen — J . J . Cernysevä: Das phraseologische System und seine semantischen Kategorien — D. N. Smelev: Der Begriff der phraseologischen Gebundenheit - V. T. Gak: Die phraseologischen Einheiten im Lichte der Asymmetrie des sprachlichen Zeichens — V. P. 2ukov: Die Methode der „phraseologischen Applikation" — V. N. Telija: Zur Variabilität von Wort und Idiom — J . A. Gvozdarev: Phrasenbildende Prozesse und damit verbundene Begriffe — Ν. A. Mescerskij: Traditionell-buchsprachliche Ausdrücke in der heutigen russischen Literatursprache (anhand der Werke V. I. Lenins).

Preisänderung vorbehalten

Walter de Gruyter

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