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German Pages 500 Year 1980
Psychologische Effekte sprachlicher Strukturkomponenten
SAMMLUNG AKADEMIE-VERLAG 48
SPRACHE
PSYCHOLOGISCHE EFFEKTE SPRACHLICHER STRUKTURKOMPONENTEN Herausgegeben und eingeleitet von Manfred Bierwisch Mit zahlreichen Abbildungen, Tabellen und Skizzen im Text
Akademie-Verlag • Berlin 1979
Erschienen im Akademie-Verlag, DDR-108 Berlin, Leipziger Straße 3-4 © 1979 Akademie-Verlag Berlin Lizenznummer: 202 • 100/138/79 Gesamtherstellung: VEB Druckerei „Thomas Müntzer", 582 Bad Langensalza Bestellnummer: 753 135 1 (7548) • LSV 0805 Printed in G D R D D R 28,— M
VORWORT
Kristallisationspunkt des vorliegenden Sammelbandes war ein Symposium zum Themeribereich Psycholinguistik auf dem IV. Kongreß der Gesellschaft für Psychologie der DDR im September 1975 in Leipzig. Probleme des Sprachverhaltens wurden dort zum ersten Mal als eigenständiger Komplex auf einem DDR-Psychologenkongreß behandelt. Diese Akzentsetzung entsprach nicht nur der internationalen Entwicklung, sondern auch dem sachlichen Gewicht, das dieser Problematik aus theoretischen und praktischen Gründen zukommt. T r a ditionsreiche Fragen wie die nach dem Verhältnis von Sprache, Denken und praktischem Handeln können in wesentlichen Aspekten durch die theoretischen Modelle und empirischen Befunde der modernen Linguistik, der kognitiven Psychologie und ihrer Verbindung in der Psycholinguistik schärfer formuliert und der Lösung näher gebracht werden. Sie bilden nach Inhalt und Methodik einen der wesentlichen Schnittpunkte von Problemen der Natur- und Gesellschaftswissenschaften. Der vorliegende Band stellt einige Ansätze und Ergebnisse vor, die in den vergangenen Jahren auf diesem Gebiet in der Forschung der DDR gewonnen worden sind. Es entspricht dem Entwicklungsstand dieser Ansätze, daß dabei noch kein ausgewogenes, systematisch konzipiertes Bild entsteht, sondern äußerlich bedingte Zufälligkeiten erkennbar bleiben. Die Beiträge 1, 3, 4, 5, 7 und 10 sind - zum Teil wesentlich überarbeitete Fassungen der für das oben genannte Symposium vorbereiteten Arbeiten. Der Beitrag 2 ist eine stark erweiterte Fassung eines Referats, das auf einer Sommerschule der Sektion Allgemeine Psychologie der Gesellschaft für Psychologie gehalten wurde. Die Beiträge 6, 8 und 9 sind aus Untersuchungen im V
früheren Laboratorium für Sprachpathologie der Akademie der Wissenschaften der DDR hervorgegangen und speziell für den vorliegenden Band verfaßt. Inhaltlich befassen sich die Beiträge 2 bis 6 mit unterschiedlichen Aspekten des Zusammenhangs von Sprache und Gedächtnis, die Beiträge 7 bis 10 behandeln Probleme, die sich auf die syntaktische, phonologisch/phonetische und graphemische Ebene der Sprache beziehen. Mit dieser inhaltlichen Gliederung überlappt eine Aufteilung unter methodischem Gesichtspunkt: Die Beiträge 2 bis 5 sind experimentalpsychologisch orientiert, während die Beiträge 6 bis 10 neuropsychologische Untersuchungen an Aphatikern vorstellen. Die hier zusammengefaßten Arbeiten berichten über Grundlagenforschungen. Ihre Bedeutung für die wissenschaftliche Entwicklung und für praktische Aufgabenstellungen hängt eng mit der Rolle zusammen, die der Rahmenthematik insgesamt zukommt, muß aber im einzelnen gesondert verfolgt werden. Die hohe Spezialisierung der verschiedenen Fragestellungen, die in diesem Band aufgegriffen werden, führt nicht nur zu den bereits erwähnten Ungleichmäßig keiten im Gesamtbild, sondern auch zu Ergebnissen, die eben durch diese Spezialisierung interessant werden. Es bleibt zu hoffen, daß das zusammenfassende Thema der Psycholinguistik, nämlich die Interdependenz sprachlicher Strukturbildungen und kognitiver Prozesse, hinreichend deutlich wird. Mein besonderer Dank gilt Herrn Professor Friedhart Klix und Herrn Professor Egon Weigl, die auf verschiedene Weise Entscheidendes dafür getan haben, daß das Entstehen dieses Bandes möglich wurde. Berlin, im Dezember 1976
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Manfred Bierwisch
INHALT
Manfred Bierwisch Strukturen und Prozesse im Sprachverhalten. Einleitende Bemerkungen Liter aturver ze ichnis Manfred Bierwisch Sprache und Gedächtnis: Ergebnisse und Probleme 1. Aspekte der Thematik 2. Einige Prinzipien der Struktur natür licher Sprachen 3. Sprachstruktur und Satzgedächtnis 4. Struktur bildungsprozesse im Satzgedächtnis 5. Spracherwerb als Gedächt nisbildung 6. Ausblick 7. Anmerkungen 8. Literaturverzeichnis Friedhart Klix - Fridrich Kukla - Rosemarie Kühn Zur Frage der Unterscheidbarkeit von Klassen semantischer Relationen im menschlichen Gedächtnis 1. Einführung 2. Problem 3. Fragestellung 4. Methodik 5. Ergebnisse und Interpretation 6. Schlußbemerkungen 7. Zusammenfassung 8. Anmerkungen 9. Literaturverzeichnis Joachim Hoffmann Klassifizierung und Übertragbarkeit semantischer Relationen im menschlichen Gedächtnis 1. Eine psychologische Interpretation semantischer Relationen 2. Die Merkmalscharakteristik semantischer Relationen 3. Klassifizierung semantischer Relationen 4. Wirkung semantischer Relationen auf die Reproduktion von Wortlisten 5. Experiment 1 6. Experiment 2 7. Experiment 3 8. Experiment 4 9. Experiment 5 10. Struktur der Informationsverarbeitung zur Reproduktion semantisch organisierter Begriffslisten 11. Anmerkungen 12. Literaturverzeichnis
Joachim Hoffmann - Friedhart Klix ?jur Prozeßcharakteristik der Bedeutungserkennung über sprachlichen Reizen 191 1. Informationsgehalt sprachlicher Reize 2. Zum Begriff der semantischen Information, ihrer Übertragung und zu einigen Aspekten des Verstehens von Bedeutung 3. Der Satz-Bild-Vergleich als Methode 4. Zur zweifachen Repräsentation von Satzbedeutungen 5. Zur Charakteristik von Zuordnungsprozessen im Gedächtnis 6. Aktivierung anschaulicher Merkmalskonfigurationen durch sprachliche Reize 7. Prozesse der Satzverarbeitung 8. Zusammenfassung 9. Anmerkungen 10. Literaturverzeichnis Egon Weigl Neurolinguistische Untersuchungen zum semantischen Gedächtnis 269 Einleitung 1. Experimentelle Voraussetzungen der Deblockierungsversuche 2. Fragestellungen 3. Experimentelle Ergebnisse der Deblockierungsversuche 4. Das Sprachverhalten der Patienten bei den Benennungsversuchen 5. Diskussion: Modellvorstellungen 6. Vergleich: Normales Benennen abgebildeter Objekte und Deblockierung amnestisch-aphatischer Störungen der Bildbenennung 7. Zusammenfassung 8. Anmerkungen 9. Literaturverzeichnis Irina Weigl Interdependenz neuropsychologischer und psycholinguistischer Faktoren in der Aphasie . . . 1. Ausgangsposition 2. Versuchsbeschreibung 3. Ergebnisse der Untersuchung von Reproduktionsleistungen 4. Diskussion 5. Anmerkungen 6. Literaturverzeichnis Wolfgang Ulrich Wurzel - Renate Böttcher Konsonantenkluster: Phonologische Komplexität und aphasische Störungen
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1. Problemstellung 2. Die Versuche 3. Ergebnisse und Auswertung 4. Fazit 5. Anmerkungen 6. Literaturverzeichnis Renate Böttcher Sprachliche Strukturfaktoren und aphasische Störungen 1. Problemstellung 2. Der semantisch-syntaktische Status 3. Phonologische Faktoren 4. Morphologische Faktoren 5. Graphemische Faktoren 6. Schlußfolgerungen 7. Anmerkungen 8. Literaturverzeichnis
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Erika Metze - K. M. Steingart Wechselbeziehungen im Funktionssystem der Sprache
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Literaturverzeichnis Verzeichnis der Autoren dieses Bandes
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Manfred Bierwisch STRUKTUREN UND PROZESSE IM SPRACHVERHALTEN Einleitende Bemerkungen
Die im vorliegenden Band zusammengestellten Arbeiten sind sehr verschiedenartig.im Charakter, in der Methodik, in ihren spezifischen Fragestellungen. Gemeinsam ist ihnen, daß sie Resultate psychischer Prozesse analysieren, die wesentlich durch Komponenten der Sprachstruktur determiniert sind. Sie lassen sich damit in den nicht sehr scharf umschriebenen Bereich der Sprachpsychologie oder - mit dem seit den 50er Jahren üblich gewordenen Terminus der Psycholinguistik einordnen. Ist mit dieser Einordnung so etwas wie ein innerer Zusammenhang, ein Rahmen für die unterschiedlichen Befunde und Vorgehensweisen angegeben? Es scheint mir sinnvoll, diese Frage in der Form einiger Bemerkungen zur Struktur und zum Entwicklungsgang dieser Bindestrich-Disziplin zu beantworten. Für die Behandlung der Problemklassen, die den Bereich der Psycholinguistik ausmachen, ist der Umstand entscheidend, daß an ihr zwei Disziplinen b e teiligt sind, Psychologie und Linguistik - in jüngster Zeit unterstützt durch Methoden und Modellvorstellungen aus dem Bereich der künstlichen Intelligenz -, deren wechselnde Anteile den sich wandelnden Charakter des Gebiets prägen. Ich mache dies deutlich, indem ich, stark vereinfachend, einmal den psychologischen, einmal den linguistischen Aspekt der Problematik skizziere. 1. Äußeres und inneres Verhalten höherer Organismen, insbesondere des Menschen, gliedert sich für die Psychologie in komplex zusammenwirkende Prozesse und Mechanismen auf, die durch entsprechende Teiltheorien analysiert und erklärt werden. Fortbewegung, Handeln, Wahrnehmen, Klassifizie1
ren, Problemlösen, Lernen und Erinnern (d. h. Ausbildung und Aktivierung von Gedächtnisbesitz) sind Gegenstandsbereiche solcher Teilgebiete der Psychologie. Sie bilden inhaltlich aufeinander aufbauende Stufen und einander determinierende Zusammenhänge: Klassifizierung setzt Wahrnehmen voraus, steuert es aber auch, Problemlösen involviert Klassifizieren, Gedächtnis wird in jedem dieser Prozesse aktiviert und gegebenenfalls neu ausgebildet, äußeres Verhalten wird von innerem kontrolliert, inneres Verhalten von äußerem ausgelöst, usw. Psychische Abläufe werden so durch zusammenwirkende Komponenten erklärbar, deren Aktivierung die affektive, motivationale Seite des Verhaltens ausmacht. Nun schließen alle Analysen und Modellansätze in den einzelnen Teilbereichen stets einen Struktur- und einen Prozeßaspekt ein. Der erste faßt die Gesetzmäßigkeiten und Regeln zusammen, die die Strukturen bilden, auf die sich das Verhalten stützt oder bezieht, der zweite macht die Charakteristik der Abläufe aus, in denen sich das Verhalten vollzieht. Merkmalskonfigurationen z. B. bilden den Strukturaspekt des Klassifizierens, die Strategien und Prozesse ihrer Auffindung oder Abprüfung den Prozeßaspekt. Dabei können gleiche Strukturen in verschiedenen Verhaltensabläufen auftreten, etwa beim Identifizieren und beim Zeichnen des gleichen Musters, und es können sich bestimmte Teilprozesse auf wechselnde Strukturen beziehen, so z.B. beim Klassifizieren v e r schieden strukturierter Objekte. Jeder empirische Analysenansatz enthält deshalb stets Vorüberlegungen zu beiden Aspekten. In die Wahl des Untersuchungsmaterials gehen insbesondere Annahmen über die Struktur ein, in der Festlegung der Experimentanforderung und der Interpretation der Resultate dominieren Annahmen über die ProzelScomponenten der studierten Verhaltenskomponente. Die Beziehung zwischen beiden Aspekten liegt auf der Hand, keiner läßt sich aus dem Zusammenhang psychologischer Problemstellung ausschließen, auch wenn sie nicht immer das gleiche Gewicht haben. Ich betone an dieser Stelle die Unterscheidung beider Aspekte, weil sich mit ihr zwei Eigentümlichkeiten in der Analyse des Sprachverhaltens verbinden. Die erste ist in der Sache selbst begründet. Was oben für das Zusammenwirken der Verhaltenskomponenten allgemein gesagt wurde, gilt ganz besonders für die verschiedenen Modalitäten des Sprachverhaltens: Sie ve -binden 2
äußeres Verhalten - in Form der Signalproduktion, die auf die Umwelt einwirkt mit innerem Verhalten. Dieses wiederung verbindet Wahrnehmen, Klassifizieren, Gedächtnisaktivierung, Denk- oder Problemlösungsprozesse in speziellen Integrationsformen, die das Produzieren, das Perzipieren und das Weiterverarbeiten sprachlicher Ausdrücke und den Erwerb neuen sprachlichen Gedächtnisbesitzes ausmachen. Das einigende Band dieser verschiedenen Teilprozesse oder Prozeßkomponenten ist die Sprache, die gesprochen und verstanden wird, ihre Struktur, die mit ihren Einheiten und Regeln die unterschiedlichen Prozesse bestimmt. Will man also die Zusammenfassung der verschiedenen angedeuteten Prozesse und Leistungen zu einem einheitlichen, wenn auch komplexen Bereich im Rahmen der kognitiven Psychologie nicht zu einer bloß äußerlichen Definitionsfrage machen, dann muß die Struktur, die das Verhalten determiniert, hier in besonderem Maße als konstitutiv für den Erscheinungsbereich angesehen werden. (Es ist möglich, daß Ähnliches auch für andere Bereiche gilt, daß z. B. von Klassifizieren nur in bezug auf eine bestimmte, wenn auch sehr allgemeine Klasse von Strukturen gesprochen werden kann. Es trifft aber jedenfalls und besonders augenfällig auf den Bereich des Sprachverhaltens zu.) Damit ist selbstverständlich nicht gesagt, daß die Sprachstruktur ein Phänomen außerhalb aller anderen verhaltensrelevanten Strukturbildungen ist. Ich führe zur Illustration drei "übergreifende" Strukturprinzipien an: (a) Sprachliche Ausdrücke beruhen auf (akustisch oder optisch realisierten) perzipierbaren Mustern, die durch invariante klassifizierende Merkmale zu bestimmen sind. Dies ist ein generelles Prinzip der Mustererkennung, also des klassifizierenden Wahrnehmens. Die Spezifik liegt zunächst nur in der Art der sprachlichen Muster. (b) Sprachliche Ausdrücke sind hierarchisch organisierte Sequenzen strukturbildender Grundeinheiten (etwas vereinfacht: hierarchische Verknüpfung von Wörtern zu Wortgruppen und Sätzen). Die hierarchische Gliederung von Verhaltensfolgen ist wiederum ein generelles Prinzip kognitiver und praktischer Verhaltensmuster (vgl. etwa Lashley 1951, Bernstejn 1966, Miller, Galanter, Pribram 1960). Die Spezifik liegt auch hier in der Art sprachlicher Hierarchiebildung.
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(c) Entscheidend ist, daß in der Sprache perzeptive Muster in systematischer Weise mit Bedeutungen belegt sind. Auch dies, nämlich die Bindung konstanter Klassifikationsmuster an fixierte Bedeuttingen (das heißt: an die interne Repräsentation von Verhaltensantworten) ist ein grundlegendes P r i n zip kognitiver Strukturbildungen. Es ist konstitutiv für alle Klassifikationsleistungen (vgl. Klix 1971, Kap. 8). Die Spezifik liegt darin, daß in der Sprache Bedeutungen nicht mit der Struktur von Objekten und Zusammenhängen im primären Verhaltensumfeld, sondern mit Symbolen verbunden werden, die erst innerhalb der Sprache einen Sinn erhalten. Oder anders ausgedrückt, daß die verhaltensrelevante Bedeutung primärer Klassifikationsleistungen zugleich zur Bedeutung von Zeichenstrukturen werden kann. Was die Sprachstruktur zu einem Bereich sui generis macht, ist aber nicht nur das, was in Bezug auf jedes derartige Strukturprinzip als die jeweils r e l a tive Spezifik auszumachen ist, sondern vor allem auch die besondere Integration dieser Prinzipien, die als Ganzes erst die systematische Symbolisierung komplexer Bedeutungen durch gesprochene oder geschriebene Ausdrücke und das Verstehen dieser Ausdrücke determiniert. Ich komme auf dieses "Integrationsprinzip der Sprachstruktur" unten zurück. Die zweite Eigentümlichkeit, die beim Strukturaspekt des Sprachverhaltens zu vermerken ist, hat eher akzidentiellen Charakter. Für die Entwicklungsphasen der Psvcholinguistik ist sie jedoch folgenreich. Es liegt in der gegenseitigen Abhängigkeit von Prozeß- und Strukturaspekt des Verhaltens begründet, daß psychologische Analysen immer auch Ansätze zu Strukturtheorien enthalten. In der Regel werden sie innerhalb der Psychologie und als Teil von Unentwickelt. Beispiele liegen auf der Hand, von der Charakterisierung optischer Muster und Skalen im Bereich der Wahrnehmung und den "Gestaltgesetzen" der Gestaltpsychologie bis zur Spezifizierung von Begriffsstrukturen und Problemräumen - um einige herauszugreifen. Im Bereich der Sprache nun ist aus historischen und praktischen Gründen eine eigene Disziplin mit der Charakterisierung des Strukturaspekts befaßt: die Linguistik. Das ist in dieser Ausprägung ein Einzelfall. Drei verschiedene Konstellationen haben sich daraus zu v e r schiedenen Zeiten ergeben.
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(a) Die (stets unerläßlichen) Annahmen über den Strukturaspekt in psychologischen Analysen des Sprachverhaltens werden unabhängig von der Linguistik, "Psychologieintern" entwickelt. Sie sind denn zumeist von autonomen Annahmen über den Prozeßaspekt dominiert und häufig entsprechend verkürzt. Drastische Beispiele sind die Analysen zum sogenannten "verbalen Lernen" und die behavioristische Sprachpsychologie, aber auch, mit grundsätzlich anderem, unverkürztem Problembewußtsein, die Untersuchungen von Vygotski und Piaget. (Ursache dieser Situation ist nicht nur psychologischer Lokalpatriotismus, sondern auch Unergiebigkeit linguistischer Theorienansätze.) (b) Psychologisch aufschlußreiche Strukturmodelle werden aus der Linguistik übernommen und mit psychologischen Prozeßannahmen verbunden. (Ob die Strukturannahme dabei "psychologieextern" sind, hängt vom Charakter der Linguistik ab, der in Abschnitt 2 erörtert wird.) Exemplarisch für diese Situation ist die Sturm-und-Drang-Phase der Psycholinguistik, markiert durch die Arbeiten Millers Anfang der 60er Jahre. (c) Strukturannahmen werden als psychologische Problemstellung, aber mit dem Instrumentarium der Linguistik, also "interdisziplinär" entwickelt. In diesem Sinn waren zahlreiche Arbeiten von Wundt und Bühler zugleich psychologisch und linguistisch orientiert. Mit anderem methodischem und theoretischem Hintergrund fällt ein großer Teil der psycholinguistischen Arbeiten der 70er Jahre in diese Kategorie. Mit der Vereinfachung, die ein solches Schema an sich hat, läßt sich die Beziehung zwischen Psychologie und Linguistik aus der Sicht der Psychologie als ein Gang von (c) über (a) und (b) zurück nach (c) beschreiben, aber mit dem Ertrag, der sich aus der Entwicklung in Psychologie und Linguistik ergibt, Abgesehen von der idealtypischen Verzeichnung besagt dieses Schema aber noch nichts über die Substanz der Zusammenhänge. Ich kehre zu diesem Punkt nach der Skizzierung des linguistischen Aspekts der Sache zurück. 2. Aus der Mannigfaltigkeit von Aspekten, die der natürlichen Sprache abzugewinnen sind, vergegenständlicht die Linguistik, wie bereits festgestellt, vorab den ihrer Struktur. Für die weiteren Bemerkungen beschränke ich mich auf die deskriptive und die theoretische Linguistik und lasse Bereiche wie 5
Sprachgeschichte, Dialektologie, Typologie außer Betracht. Zum einen setzen diese bestimmte Befunde der deskriptiven und der theoretischen Linguistik immer schon voraus, zum anderen berühren sie unsere Problematik nur indirekt. Die deskriptive Linguistik analysiert die Struktur der Ausdrücke j e weils einzelner Sprachen, bestimmt die ihnen zugrundeliegenden Elemente und Bildungsregeln. Die theoretische Linguistik charakterisiert die allgemeinen Prinzipien, denen die Einheiten und Regeln der Einzelsprachen unterliegen. Es ist klar, daß jede der beiden Disziplinen auf die andere angewiesen ist: Aussagen Uber allgemeine Prinzipien sind nur sinnvoll, sofern sie bei der Analyse von Einzelsprachen Uberprüft werden können, Einzelanalysen setzen Besehreibungsmittel und Analysekriterien voraus, die sinnvoll gewählt, das heißt aus Annahmen Uber die allgemeinen Strukturprinzipien abgeleitet werden müssen. Etwas konkreter: Versteht man unter einer Grammatik die Gesamtheit der Elemente und Regeln, die den Ausdrücken einer Sprache zugrundeliegen, dann befaßt sich die deskriptive Linguistik mit der Ermittlung der Grammatiken einzelner Sprache, die theoretische Linguistik mit der Bestimmung des allgemeinen Aufbaus beliebiger Grammatiken. Deskriptive und theoretische Linguistik sind mithin zwei Seiten der gleichen Sache, die aber auf verschiedene Weise mit der Psychologie verbunden sind. Ich verdeutliche das zunächst unter linguistischem Gesichtspunkt, wobei die Verbindung in Form einerseits der externen, andererseits der internen Rechtfertigung einer Grammatik erscheint. Um die Struktur der Ausdrücke einer Sprache in einer Grammatik erfassen zu können, müssen zunächst strukturell relevante Eigenschaften sprachlicher Äußerungen bestimmt werden. Zur Verdeutlichung dieses nur scheinbar trivialen Schritts gebe ich drei einfache Beispiele an. (a) Für die phonetische Struktur des Deutschen ist unter anderem folgendes festzustellen: (1)
(a) Streit_
(b) streiten
(2)
(a) Leid
(b) leiden
Die beiden hervorgehobenen Segmente in (1) entsprechen sich, ebenso die in (2); in der akustischen Realisierung stimmen die beiden Segmente in (a) überein, die in (b) jedoch nicht. (Wortpaare wie ' T a j - tajen', 'Lob - loben', 6
'Haus - hausen* zeigen, daß (2) ein Beispiel für eine allgemeinere Regel ist, derzufolge stimmlose mit stimmhaften Realisierungen eines Segments wechseln. ) (b) Vergleicht man die beiden folgenden Sätze, so zeigt sich, daß innerhalb des im übrigen parallelen Aufbaus nicht nur das Wort 'versprach' durch 'empfahl' ersetzt ist, sondern auch die Beziehungen zwischen den identischen Einheiten wechseln: (3) Hans versprach seiner Frau, länger zu bleiben. (4) Hans empfahl seiner Frau, länger zu bleiben. In (3) ist 'länger bleiben' auf Hans bezogen, in (4) auf seine Frau. (Die Feststellung betrifft einen verdeckten Zug der syntaktischen Organisation der Sätze, der mit den ausgetauschten Wörtern zusammenhängt. Die Betrachtung anderer Sätze belegt, daß sich diese Feststellung auf bestimmte Klassen von Wörtern und syntaktischen Strukturen ausdehnen läßt.) (c) Inbezug auf die semantische Struktur (die Bedeutung) der Wörter 'stehen' und 'liegen' sind unter anderem folgende Feststellungen relevant: (5) (6) (7)
(a) Die Stange liegt daneben.
(b) Die Stange steht daneben.
(a) ?Der Teller liegt daneben. (b) Der Teller steht daneben. (a) Die Brille liegt daneben. (b) ?Die Brille steht daneben. Beide Sätze in (5) haben eine verschiedene, aber sinnvolle Bedeutung. In
(6) und (7) ist jeweils der mit Fragezeichen markierte Satz semantisch defekt. (Die verglichenen Wörter legen die horizontale bzw. vertikale Lage bestimmter bevorzugter Achsen der Objekte fest, auf die sie sich beziehen. 'Die Milch liegt daneben' ist deshalb sinnlos, 'Die Milch steht daneben' kann sich nur auf ein Gefäß mit Milch beziehen. Weitere Fälle zeigen, daß mit 'liegen' und 'stehen' ein kompliziertes Bedingungsgefüge für die betroffenen Objektklassen verbunden ist.) (a) bis (c) sind typische Fälle deskriptiver Primärfeststellungen, an die sich die in Klammern angegebenen ersten Verallgemeinerungsschritte anschließen. Entscheidend ist, daß die Primärfeststellungen Verhaltensmuster von Personen fixieren, die die analysierte Sprache beherrschen. Diese Verhaltensmuster können unter verschiedenen Anforderungen geprüft werden, sie haben aber grundsätzlich den Charakter psychologischer Befunde, ver7
gleichbar den Diskrimationsurteilen für Farbwerte oder optische Muster wie im Fall (a) und (b) oder der unterschiedlichen Verhaltensantwort auf bekannte und unbekannte Objekte im Fall (c). Daß linguistische Analysen weithin ohne strenge Operationalisierung hinreichend abgesichert werden können, ändert daran nichts. Entsprechende Tests müssen prinzipiell angebbar sein und sind für weniger offensichtliche Fälle als die angeführten Beispiele auch notwendig. Man sieht: Die Linguistik gehört bezüglich ihrer Beobachtungsgrundlage, die die externe Rechtfertigung für die Annahmen über die Grammatik einer Sprache bildet, ins Gebiet der Psychologie. Nun machen Fakten wie die an (1) bis (7) illustrierten noch keine Grammatik aus. Die in einer Grammatik enthaltenen Generalisierungen, ja bereits die Entscheidung darüber, welche Fakten strukturell relevant sind, hängen von allgemeinen Annahmen über die strukturellen Zusammenhänge in sprachlichen Ausdrücken ab. Dabei sind mit den extern gesicherten Befunden im allgemeinen mehrere Annahmen verträglich. Nehmen wir die im Beispiel (a) angeführten Feststellungen. Eine grammatische Beschreibung dieses Strukturaspekts kann in mehreren Richtungen systematisiert werden: (I) Formen wie die in (1) und (2) angeführten werden als solche in das System der bedeutungsgebundenen Grundeinheiten aufgenommen, wobei dann 'Leid' und 'leiden' (unbeschadet der orthographischen Gleichheit) in den markierten Segmenten unterschieden sind, wie es die phonetischen Muster verlangen. (II) Formen wie 'leiden' werden als Verknüpfungen zweier Elemente 'leid' + 'en' analysiert, wobei das erste als Lautmuster angesehen wird, das in zwei systematischen Varianten auftritt, mit stimmhaftem d, wenn das Element 'en' angehängt wird, sonst mit stimmlosem t. Akzeptiert man die Variante (II), weil sie bestimmte interne Zusammenhänge der Sprachstruktur systematisch erfaßt, dann muß die Variation von d/t (und entsprechend g/k, b / p usw. wegen der parallelen Fälle) entsprechend berücksichtigt werden. Das kann wiederum auf verschiedene Weise geschehen. (Ha) Das Muster mit dem stimmhaften Segment wird als grundlegend gewählt, und die Stimmlosigkeit in 'Leid' wird durch eine (ziemlich generell faßbare) Varianteribildungs-Regel bewirkt, die d in_t umwandelt, wenn keine vokalische Endung folgt. 8
(IIb) Das Grundelement enthält keine Festlegung des fraglichen Segments, diese Festlegung geschieht erst in Abhängigkeit von den verschiedenen Verbindungen, in die das Grundelement 'leid' eingeht. Die mit der Variante (Ha) verbundenen Annahmen Uber Form und Funktion der Grammatik sind in der theoretischen Linguistik systematisiert und zu einem komplexen System von Bedingungen über grammatische Einheiten und Regeln ausgebaut worden (vgl. Wurzel 1970, für die hier erörterten Beispiele) weil sie die weitestgehenden Generalisierungen über die Sprachstruktur ausdrücken. Was ich am Beispiel der phonetischen Muster erörtert habe, ließe sich analog im Bereich syntaktischer Strukturbildungen und semantischer Zusammenhänge illustrieren. In der Syntax ist etwa zu entscheiden, ob eine Grammatik Sätze wie (8)
(a) Hans hilft ihr.
(b) Ihr hilft Hans.
(c) Hilft ihr Hans?
als unabhängige Satzmuster oder als bedingte Varianten eines Grundmusters behandeln soll, wobei die Variation durch Regeln eines bestimmten, komplexen Typs bewirkt wird. Jede derartige Entscheidung bestimmt die in einer deskriptiven Grammatik zu machenden Aussagen über die Struktur der Ausdrücke einer Sprache mit. Der Gesichtspunkt, an dem sich diese Entscheidungen orientieren, ist der der möglichen Verallgemeinerungen von Einzelfakten, ihrer Erklärung durch generelle Prinzipien. Dieser Gesichtspunkt macht die in der theoretischen Linguistik zu liefernde interne Rechtfertigung einer Grammatik aus. In dem Maß, in dem die theoretische Linguistik eine empirische Disziplin ist, muß sich der Gesichtspunkt der Generalisierung am Gegenstandsbereich orientieren, und er besagt dann: Eine Grammatik muß so aufgebaut sein, daß sie gerade die Generalisierungen erfaßt, die in der Sprachkenntnis enthalten sind, die dem Organismus als Grundlage des Sprachverhaltens zu Gebote steht. Noch einfacher: Die Grammatik soll die Sprachstruktur so charakterisieren, wie sie als Ergebnis des Spracherwerbs im Organismus repräsentiert ist. Die Generalisierungskriterien müssen deshalb Prinzipien widerspiegeln, die das Resultat des Spracherwerbsprozesses determinieren. Auf eine kurze Form gebracht: Was ich oben das "Integrationsprinzip der Sprachstruktur" genannt habe, wird zum eigentlichen Inhalt der theoretischen Linguistik. 9
Wie die externe ist somit auch die interne Begründung einer Grammatik wenn auch auf indirektere Weise - psychologischer Natur. Wundt und vor allem Bühler haben die Sprachtheorie in diesem Sinn mit der Psychologie verbunden, Chomsky hat den Zusammenhang zur Grundlage einer mit strengen formalen Mitteln betriebenen Theoriebildung gemacht (vgl. insbesondere Chomsky 1965, Kap. 1). Man macht sich nun leicht klar, daß den beiden Verankerungen der Linguistik in der Psychologie zwei Arten der Bezugnahme entsprechen, die psychologische Problemstellungen mit der deskriptiven und der theoretischen Linguistik verbinden. Zum einen gehen in alle psychologischen Fragestellungen zum Sprachverhalten Annahmen über Befunde ein, wie eine deskriptive Grammatik sie enthält. Dies unter anderem deshalb, weil empirische Analysen immer auf einzelsprachliche Gegebenheiten bezogen sein müssen. Zum anderen richten sich psychologische Analysen immer mehr oder weniger auch auf die generellen Prinzipien der Sprachstruktur und ihre Effekte in verschiedenen Verhaltensablaufen. Damit rd das Verhältnis allgemeiner Strukturprinzipien der Sprache zu den von ihnen bedingten Prozessen zum Thema probandum. 3.
Die wechselnden Beziehungen zwischen Psychologie und Linguistik
lassen sich nun etwas besser fassen. Die relative Separierung, die mit methodologischer Präzisierung, aber zum Teil auch inhaltlicher Verengung in beiden Disziplinen verbunden war, wurde in den 50er Jahren durch die bewußte Zusammenführung von Psychologie und Linguistik aufgehoben. Bestimmend waren dafür Entwicklungen auf beiden Seiten. Die Linguistik hatte erstens die eben skizzierte Verankerung ihres Gegenstands im Bereich der Psychologie deutlich gemacht und die Sprachstruktur damit als ein komplexes kognitives Gebilde ins Blickfeld gerückt. Zweitens und vor allem aber waren empirisch begründete und formal präzisierte Modellansätze entwickelt worden, die dieses Gebilde in Form kohärenter Regelsysteme zu erfassen gestatten. Die Psychologie wiederum hatte begonnen, komplexe geistige Leistungen wie Begriffsbildung und Problemlösen mit Hilfe empirisch motivierter formaler Modelle zu analysieren. Dabei zeigte sich, daß inneres Verhalten in 10
seinen Struktur - und Prozeßaspekten systematisch erfaßbar ist, wenn geeignete Darstellungsmittel entwickelt werden. Die formalen Grammatiken der Linguistik boten sich so als elaborierte Modelle dieser Art für einen zugleich zentralen und verzweigten Bereich-kognitiver Leistungen an. Die Leitidee der auf dieser Grundlage eingeleiteten psycholinguistischen Experimente war zunächst, die psychische Realität linguistischer Grammatiken, genauer: die Verhaltensrelevanz ihrer Regeln und Einheiten zu verifizieren. Die Konkretisierung dieser Grundidee beruhte jedoch zunächst auf einem zwar fruchtbaren, aber problematischen Mißverständnis, veranlaßt durch das suggestive Konzept des Regelsystems. Eine linguistische Grammatik wird als ein Regelsystem formuliert, das die unbegrenzte Menge möglicher komplexer Ausdrücke einer Sprache charakterisiert, technisch gesprochen: erzeugt. Die generellen Eigenschaften solcher Grammatiken - die zulässigen Typen von Regeln und Operationen, deren Anwendungsbedingungen und Interaktion - entsprechen den allgemeinen P r i n z i pien der Strukturbildung in natürlichen Sprachen. Pate gestanden haben bei dieser Modellierung der Sprachstruktur Kalkül-, Automaten- und Algorithmentheorie. Eine entscheidende Rolle spielen algorithmische Modelle auch in der kognitiven Psychologie, deren Denkweise durch die Entwicklung der künstlichen Intelligenz, der Computersimulation geistiger Prozesse nicht unwesentlich mitbestimmt wird. Die durch einen Algorithmus determinierten Operationsfolgen werden dabei zum Darstellungsmittel interner Verhaltensabläufe, R e geln erscheinen als Abbildung einzelner Schritte in diesen Prozessen. In diese Denkweise fügen sich algorithmisch formulierte Grammatiken wie von selbst ein. Die Regeln, die die Struktur eines Satzes erzeugen, stellen sich als Operationen bei der Kodierung oder Dekodierung einer Äußerung dar. Aus einer linguistischen Grammatik ergeben sich bei dieser Interpretation sogleich Prädiktionen, die experimentalpsychologisch geprüft werden können. Die Zahl der Regeln, die für die Erzeugung eines Satzes notwendig sind, muß mit entsprechenden Kontrollvariablen korrelieren, etwa der Latenzzeit beim Verstehen eines Satzes oder der Fehlerquote beim Reproduzieren. E r g e b nisse, die den gesamten Ansatz und damit zugleich linguistische und psycholl
logische Detailannahmen zu bestätigen schienen, waren das erste, stimulierende Resultat dieser Etappe, das sich freilich sehr bald als trügerisch herausstellte. Der "kumulative Effekt" - je mehr Regeln, desto längere Latenzzeit bzw. desto schlechtere Behaltensleistung - ließ sich als generelles Prinzip sprachlicher Prozesse nicht aufrechterhalten. Das Problem, das in diesem Mißerfolg zum Vorschein kommt, ist grundsätzlicher Art. Linguistische Grammatiken sind, wie Chomsky mehrfach betont hat, Hypothesen über die Sprachstruktur, nicht über sprachliche Prozesse. Sie charakterisieren in abstrakter, idealisierter Form die (implizite) Kenntnis, die sprachliches Verhalten ermöglicht, nicht die Mechanismen und Abläufe, in denen es sich realisiert. Nachdem sieh die auf dem soeben angedeuteten Weg hergestellte Verbindung von Linguistik und Psychologie als kurzschlüssig erwiesen hat, bleibt die Aufgabe, Modelle zu entwickeln und zu prüfen, die das Zusammenwirken der Grammatik mit den verschiedenen Mechanismen der Produktion, Perzeption, Speicherung und Weiterverarbeitung sprachlicher Äußerungen erfassen. Die Art, in der diese Prozesse auf grammatische Regeln Bezug nehmen, ist unterschiedlich und hängt von zahlreichen Faktoren ab, deren Aufklärung kaum begonnen hat. Ein andersartiges Problem in der kurzen Geschichte der Psycholinguistik entspringt aus der Tatsache, daß die aufschlußreichsten Ergebnisse der theoretischen Linguistik zunächst die Organisation der formalen Seite, also der phonetischen und syntaktischen Struktur sprachlicher Ausdrücke betrafen, während die Analyse der Bedeutung, also der semantischen Struktur, erst zu ausschnitthaften Ansätzen ähnlicher Art geführt hat. Das liegt nicht nur daran, daß das linguistische Interesse sich lange Zeit auf syntaktische, morphologische und phonologische Probleme konzentriert hat, sondern auch an der außerordentlichen Kompliziertheit semantischer Erscheinungen. Gerade sie aber spielen in nahezu allen sprachlichen Prozessen eine dominierende Rolle und bilden überdies den Kern traditioneller sprachspychologischer Fragen wie der nach dem Zusammenhang von Sprache und Denken, Sprache und Gedächtnis oder der Rolle der Sprache im Erkenntnisprozeß.
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Zwei eng miteinander verbundene Aspekte sind in diesem komplizierten Gebiet zu klären: die semantischen Zusammenhänge zwischen den lexikalischen Grundeinheiten - etwas vereinfacht: die Beziehungen zwischen den Wörtern im Gedächtnis - und die semantischen Beziehungen, die diese Grundeinheiten bei der Bildung komplexer Ausdrücke eingehen, d.h. die Bedeutungsbeziehungen in Sätzen und Texten. Den Schwerpunkt der linguistischen Bemühungen hat in den letzten zwei Jahrzehnten der zweite Aspekt gebildet, während psychologische Fragestellungen fast immer ebensosehr oder stärker am ersten Aspekt orientiert sind, denn er hängt direkt mit der Struktur und Funktionsweise des fixierten sprachlichen Gedächtnisbesitzes zusammen. In die Lücke, die hier in der Ausformulierung linguistischer Modellansätze besteht, sind seit Ende der 60er Jahre zunehmend Modellbildungen aus dem Bereich der künstlichen Intelligenz eingesprungen. (Quillian 1968, Anderson and Bower 1973 sind Beispiele dafür.) Sie repräsentieren konzeptuelle Einheiten und semantische Relationen zwischen ihnen in Form sogenannter semantischer Netze. Gemeinsam ist den verschiedenen Vorschlägen dieser Art, daß sie eine plausible Grundlage für die Analyse verbal vermittelter Gedächtnisleistungen wie Suche, Aktivierung, Zuordnung entsprechender Einheiten bilden, die einen wichtigen Bereich sprachpsychologischer Fragestellungen ausmachen. Der systematische Zusammenhang der semantischen mit den syntaktischen, morphologischen und phonetischen Eigenschaften der lexikalischen Einheiten, der in der grammatischen Analyse eine dominierende Rolle spielt, tritt dabei in den Hintergrund. Ich habe zwei für die Entwicklung der Psycholinguistik charakteristische Schwierigkeiten skizziert: Regelsysteme für die syntaktische Strukturbildung, die die Linguistik entwickelt hat, lassen sich, wenn überhaupt, nur unter noch ungeklärten Vermittlungen in Prozeßmodelle des Sprachverhaltens einbeziehen. Darstellungen der semantischen Strukturbildung, die für sprachpsychologische Analysen unerläßlich sind, sind innerhalb der Linguistik nur partiell und schon gar nicht im Hinblick auf die zu analysierenden Prozesse ausgearbeitet. Mit diesen Fragestellungen ist, ein wenig vergröbert, die Situation gekennzeichnet, die Anfang der 70er Jahre allgemein ins Bewußtsein getreten war und die E r wartung beendete, daß die Grundprobleme der Sprachpsychologie gelöst sein würden, wenn linguistische Grammatikmodelle in die kognitive Psychologie 13
integriert sind. Zwei nicht streng voneinander getrennte Reaktionen auf diese Situation sind erkennbar: (a) Die Verbindung psychologischer und linguistischer Fragestellungen und Theoriebildungen ist ein verfehlter, mindestens aber verfrühter Versuch, der zugunsten der eigenständigen Klärimg der jeweils spezifischen Probleme a u f gegeben werden muß. (b) Die Lösung der zentralen sprachpsychologischen Probleme verlangt, unbeschadet verschiedener Zugangsweisen, eine systematische Verbindung psychologischer und linguistischer Analysen, die die Vermittlung der jeweils speziellen Gesichtspunkte und Ergebnisse in die Theoriebildung einbezieht. Tendenzen, die der Reaktion (a) entsprechen, finden sich sowohl in der Linguistik wie in der Psychologie. In der Linguistik sind für sie vor allem die Ansätze charakteristisch, die die Syntax und besonders die Semantik natürlicher Sprachen konsequent mit den Mitteln komplexer künstlicher Logiksprachen zu rekonstruieren bestrebt sind. Großen Einfluß haben hier die Arbeiten von Montague (1974) gewonnen. Die größere formale Strenge, die auf diesem Weg für semantische Analysen erreicht wird, ist verbunden mit vollständiger Trennung der Theoriebildung von Problemen der psychologischen Interpretation der theoretischen Konstrukte. Im Hintergrund der Grundkonzepte sind allerdings auch hier Annahmen über die psychologische Basis erforderlich: Logische Prädikate und Funktoren müssen psychologisch annehmbaren D i s kriminationen und Operationen entsprechen, damit eine aus ihnen aufgebaute Sprache "lernbar" ist. (Vgl. Cresswell 1973, Kap. 4, für eine kurze E r ö r t e rung dieses Problems.) In der Psychologie finden sich Tendenzen der Abkehr von linguistischen Modellen vornehmlich im Zusammenhang mit dem Einfluß alternativer Modelle aus dem Bereich der künstlichen Intelligenz. Diese Modelle decken wesentliche Teile des Bereichs ab, den auch die Linguistik erfaßt, nämlich die syntaktische und die semantische Struktur natürlicher Sprachen. Sie stellen ihn aber zugleich in einer Form dar, die direkt bestimmte Prozeßabläufe in dem durch diese Strukturen definierten Raum determinieren. Sie füllen d e m nach nicht nur, wie bereits erwähnt, eine Lücke für bestimmte Aspekte der Bedeutungsstruktur aus, sondern verbinden zugleich den Struktur- und P r o 14
zeßaspekt des Sprachverhaltens im Modellansatz. Dabei ist allerdings zu bedenken, daß die Konzepte der künstlichen Intelligenz insgesamt die Gefahr jenes Mißverständnisses enthalten, dem der erste Ansatz der Psycholinguistik unterlag: Regeln werden auch hier, wie sich allenthalben zeigen läßt, zugleich als Determinanten der Struktur und der Prozesse betrachtet. Je mehr Computersimulationen den verschiedenen Aspekten des tatsächlichen Sprachverhaltens angenähert werden, desto deutlicher kommt dieses Problem zum Vor schein. (Als Beispiel vergleiche man das unten durch (9) bis (12) illustrierte Problem.) Es liegt nach dem Gesagten auf der Hand, daß ich die oben als (b) formulierte Tendenz für die angemessenere halte, deren Ziel eine sorgfältige Integration, nicht eine Separierung linguistischer und psychologischer Analysen ist. Die Instrumentarien der logischen Semantik und der künstlichen Intelligenz können für diesen Prozeß von großem Nutzen sein, wenn sie zur Verdeutlichung der Probleme, nicht zu deren Abkapselung benutzt werden. Die Art der anstehenden Fragen soll an einem Beispiel aus dem noch wenig analysierten Bereich der spontanen Sprachproduktion belegt werden. Wie bei allen "Black-Box-Problemen" geben Störungen im Funktionsablauf besonders deutliche Anhaltspunkte für die inneren Zusammenhänge. Spontane Versprecher sind solche Funktionsstörungen. Sie geben u.a. Hinweise auf die Interaktion von Struktur- und Prozeßaspekten. Die Beispiele (9) und (10) zeigen dies für die syntaktische Organisation. (9)
. . . daß er sich Zweifeln nicht ausgesehen gesetzt hat. setzt sehen
(10)
. . . die ein neues Tanztheater entstehen läßt, oder entstanden hat lassen, hat entstehen lassen.
Der Fall (9) zeigt ein (häufiges) Phänomen, das in einer Störung in der linearen Realisierung einer syntaktischen Struktur besteht. Es setzt die durch grammatische Regeln determinierte Struktur voraus, läßt sich aber nicht durch eine falsche Operation dieser Regeln erklären. Der nur scheinbar ganz ähnliche Fall (10) dagegen enthält eine defekte komplexe Verbgruppe, die durch zwei genau fixierbare Verletzungen grammatischer Regeln, nicht
15
durch eine defekte Linearisierung einer syntaktisch korrekten Struktur zustandekommt. Die Beispiele (11.) und (12) sind Indizien für Struktur und Wirkungsweise der lexikalischen Organisation. Fall (11) belegt einen der häufigsten Fälle einer irrtümlichen Wortwahl, eines 'Selektionsfehlers': Anstelle einer intendierten Einheit wird ihr semantischer Gegenpol aktualisiert. (11)
Im Süden noch Frost, sonst mehrere Grade unter Null. Uber
(12)
Als Patentrezept bietet sich ab . . . an
Während Fälle vom Typ (11) durch semantische Netzstrukturen gut erklärt werden können und damit zugleich eine Bestätigung für die in ihnen enthaltenen Annahmen sind, gilt das für (12) wieder nur scheinbar. Die konzeptuelle Einheit, die hier semantisch zu repräsentieren ist, ist (sich) anbieten, der jedoch kein abbieten gegenübersteht. Der Selektionsfehler bezieht sich hier auf einen semantisch suspendierten Bestandteil in der grammatischen'Realisierung der fraglichen Bedeutungseinheit. Dieser Bestandteil allerdings unterliegt dem gleichen Fehlertyp wie (11): an ist polar zu ab wie über zu unter. Mit anderen Worten: Fälle wie (12) zeigen, daß die Aktivierungs- und Selektionsprozesse im lexikalischen Gedächtnis nicht nur die eigentliche semantische Vernetzung, sondern die gesamte syntaktische und morphologische Struktur der Einheiten zur Grundlage haben. Wie Strukturen und Prozesse im semantischen und syntaktischen Bereich zusammenwirken, ist mit diesen Bemerkungen, die überdies auf den phonetischen Bereich ausgedehnt werden müßten, nicht einmal angedeutet. (Provisorische Überlegungen dazu habe ich in Bierwisch 1970 und in diesem Band angestellt. ) Sie zeigen aber an einem sehr kleinen Ausschnitt, daß Erklärungsansätze weder auf die linguistische Strukturcharakterisierung noch auf die psychologische Bestimmung der involvierten Prozesse verzichten können. Und sie machen deutlich, daß ein Modell, das diese Integration leistet, nicht hinter der nächsten Ecke zu finden sein wird.
16
4.
Die Schritt für Schritt voranzubringende Durchdringung von Psycho-
logie und Linguistik, für die ich hier plädiere, ist in zahlreichen Arbeiten e r kennbar, wie in Abschnitt 1 bereits erwähnt. (Miller und Johnson-Laird 1976, ist das jüngste, gewichtige Beispiel,) Außer den Problemen, die den konkreten Fakten der zuletzt erörterten Art abzulesen sind, sprechen für diese Entwicklung auch generelle Gründe, von denen bereits die Rede war, und die noch einmal unter anderem Blickwinkel rekapituliert seien. Annahmen der deskriptiven und theoretischen Linguistik lassen sich, wie wir gesehen haben, im allgemeinen nicht direkt in experimentalpsychologische Variablen überführen und so bestätigen oder zurückweisen. Dennoch bleibt die Rechtfertigung grammatischer Einzelbeschreibungen und ihrer generellen Züge an die Notwendigkeit der psychologischen Interpretierbarkeit gebunden, denn für die Wahl zwischen verschiedenen Möglichkeiten, sprachliche Strukturbefunde zu systematisieren, ist die Möglichkeit entscheidend, linguistische Annahmen in die psychologische Theoriebildurig zu integrieren. Artifizielle oder praktizistische Kriterien wären die Alternative. Daß die Sprache ein gesellschaftliches Phänomen ist, daß die Einzelsprachen von der Geschichte, der Struktur und den Kommunikationsbedürfnissen ihrer Sprachgemeinschaften geformt werden, wird mit dieser psychologischen Fundierung nicht abgeschwächt oder vergessen, sondern verdeutlicht: Die spezifisch menschliche, d.h. gesellschaftliche Art interindividueller Beziehungen hängt damit zusammen, daß die psychische Ausstattung der Menschen sprachlich strukturierte Kommunikationsprozesse ermöglicht und damit ihren Rahmen präformiert. Psychologische Analysen sprachgebundener Prozesse, das ist das Pendant zum eben Gesagten, involvieren fast stets nicht nur die Struktur sprachlicher Ausdrücke als entscheidende Determinanten. Daß linguistische Befunde für Modellansätze und experimentelle Fragestellungen dennoch unerläßlich sind, hat aber nicht nur den einfachen Grund, daß das Verstehen von Sätzen oder das Behalten von Wörtern eben an Sätze und Wörter gebunden ist, sondern berührt ein tieferliegendes Problem. Es hängt mit dem zusammen, was ich das "Integrationsprinzip der Sprachstruktur" genannt habe. In gewissem Verständnis gleiche Leistungen, etwa das Fixieren und Operieren mit Gedächtnis17
besitz oder das Erfassen von Invarianten und Regeln im Reizangebot, können unterschiedliche Charakteristiken aufweisen, wenn sie sich auf unterschiedliche Domänen beziehen, insbesondere also wenn sie sprachlicher oder aber nichtsprachlicher Natur sind. So hat z.B. Paivio in einer Reihe von Arbeiten verschiedene Eigenschaften für das Behalten sensorischer und sprachlicher Einheiten und Muster wahrscheinlich gemacht und auf ihrer Grundlage ein sensorisches und ein symbolisches Gedächtnis unterschieden. Es scheint, daß in letzterem u. a. die sequentielle Organisation eine wichtigere Rolle spielt als im auditiven und visuellen Gedächtnis. (Paivio, Philipchalk, Rowe 1975.) Ähnliche Beobachtungen beziehen sich auf andere Erscheinungen: "Natürliche Begriffe" scheinen in einem ausgezeichneten Sinn mit der Bindung an sprachliche Symbole zu koinzidieren (Rosch 1973), und die Reaktion auf Sprachlaute weist vermutlich von Anfang an spezifische Charakteristika auf (vgl. u. a. Metze und Steingart, in diesem Band). Die mit diesen und zahlreichen anderer Befunden zu begründende Überlegung bedarf kritischer Analyse, trifft aber einen zentralen Punkt: Die in gewissem Sinn generellen Mechanismen des inneren (und des äußeren) Verhaltens sind offenbar nicht indifferent gegenüber der Domäne, deren Struktur- und Funktionszusammenhänge sie realisieren, und die Struktur der natürlichen Sprache integriert einen komplexen Bereich dieser Art innerhalb des Gebiets kognitiver Leistungen des Menschen. Die Grundlagen dieser Integration wären so gesehen die Basis der spezifisch menschlichen, nämlich der sprachlich geprägten und eben dadurch gesellschaftlichen Erkenntnis- und Kommunikationsprozesse. Unabhängig davon, welche Form diese Überlegung bei ihrer Konkretisierung und empirischen Überprüfung annimmt, sind der Zusammenhang von Sprache und Denken und die gesellschaftliche Vermittlung beider theoretisch nur klärbar, wenn die Psychologie der Sprache als psychologische und linguistische Problemstellung behandelt wird. 5.
Die bisher relativ global erörterte Problematik der Psycholinguistik
und ihrer Entwicklungsphasen differenziert sich beträchtlich, wenn man Aufgliederungen in Teilgebiete betrachtet, die durch speziellere Gegenstandsbereiche, Methodik und vorgegebene Teildisziplinen innerhalb der Psychologie 18
und der Linguistik auf zum Teil verwickelte Weise bestimmt sind. Eine ganze Reihe verschiedener Ordnungsgesichtspunkte lassen sich dabei angeben, die teils auf Strukturen, teils auf Prozeßkomponenten, teils auf beides Bezug nehmen. Ich nenne ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit die folgenden: - Für die Analyse relevante Ebenen der Sprachstruktur: Phonetik und Phonologie, Morphologie, Syntax, Semantik. - Durch bestimmte Anforderungen zu prüfende Prozeßkomponenten: Wahrnehmen, Klassifizieren, Behalten, Reproduzieren, etc. - Integrierte Funktionsmechanismen des Sprachverhaltens: Sprachproduktion und Sprachverstehen und deren Derivate wie Lesen, Sprechen, Schreiben etc. - Normales und gestörtes Sprachverhalten, Pathologie und Erwerb sprachlicher Leistungen. Diese sehr unterschiedlichen Gesichtspunkte bilden Kreuz- und Unterklassifizierungen spezieller Fragestellungen. Sie sind mit unterschiedlichen methodischen Instrumentarien verbunden, die wiederum verschiedene Aspekte der Thematik hervortreten lassen. Ein Versuch, die Zusammenhänge zwischen diesen Facetten zu systematisieren, ist wenig sinnvoll, nicht nur wegen der Weitläufigkeit, sondern auch wegen der Uneinheitlichkeit, die ein solches Bild ergeben würde aufgrund der zahlreichen wissenschaftsgeschichtlich bedingten Besonderheiten, die dabei zu berücksichtigen wären. Ich beschränke mich deshalb auf drei Bemerkungen, die den Zusammenhang von Gegenstand und Methodik in der Psycholinguistik betreffen. (a) Zunächst gilt ziemlich uneingeschränkt, daß es keinen speziellen Methodenkanon der Psycholinguistik gibt. Die experimentelle Psycholinguistik bedient sich der klassischen Paradigmen der Experimentalpsychologie, von der Psychoakustik bis zur experimentellen Gedächtnispsychologie, die genetische Psycholinguistik - d. h. das Studium des Spracherwerbs - baut auf den Verfahren der Entwicklungspsychologie auf. Dabei haben sich gegenstandsbedingte Akzentuierungen und in einigen Fällen charakteristische Neubewertungen der mit bestimmten Paradigmen verbundenen Annahmen ergeben. Ein charakteristisches Beispiel ist die Umorientierung der Gedächtnispsychologie. Daß das Studium reiner Assoziationsbildung zugunsten der Analyse struk19
turbildender Prinzipien und Regeln aufgegeben wurde, geschah wesentlich unter dem Einfluß von Fragestellungen, die an sprachlichen Gedächtnisleistungen orientiert waren. (Kintsch 1974 gibt eine prägnante Darstellung dieser Entwicklung.) Tradierte Fragestellungen und ihre experimentelle Operationalisierung nahmen hier, wie in anderen Fällen, einen neuen Charakter an durch die Betrachtung komplexer, regeldeterminierter Strukturen, die im Sprachverhalten exemplarisch zu fassen sind. (b) Strenggenommen gehören in den methodischen Kanon der Experimentalpsychologie auch die Mittel zur Absicherung linguistischer Primärdaten, wie bereits in Abschnitt 2 erwähnt. Ich greife diesen Punkt noch einmal auf, um zwei Verdeutlichungen vorzunehmen. Zunächst: Die Entscheidung, ob z.B. zwei verschiedene Ausdrücke die gleiche Bedeutung haben, zwei Lautfolgen mit dem gleichen Segment beginnen, eine Äußerung grammatisch korrekt oder unkorrekt oder in bestimmter Weise mehrdeutig ist, liefert empirische Aussagen über die sprachliche Struktur der geprüften Ausdrücke, ist aber zugleich das Resultat eines bestimmten Prozesses. Dieser Prozeß stellt eine eigene kognitive Leistung dar, die von denen der spontanen Sprachproduktion und -perzeption wohlunterschieden ist. Die involvierte Leistung ist eine klassifizierende Bewertung bezüglich vorweg fixierter spezieller Strukture ige nschaften. Die Bezugnahme auf die Sprachstruktur hat in diesem Prozeß offensichtlich einen anderen Charakter als beim Produzieren oder Interpretieren sprachlicher Äußerungen. Und zweitens: Die geprüften Struktureigenschaften sind notwendigerweise oft sehr komplex und deshalb nur innerhalb eines sehr spezifischen vororientierenden Bezugsrahmens bewertbar. Prägnanzphänomene, Toleranzverschiebungen und ähnliche Erscheinungen müssen deshalb in Rechnung gestellt werden. Eine Versuchsperson kann mithin sehr wohl z.B. eine Konstruktion als ungrammatisch bewerten, sie aber gleichwohl spontan produzieren (ohne sich dabei im oben illustrierten Sinn versprochen zu haben). Die Unterscheidung von Struktur und Prozeß im Sprachverhalten zeigt sich hier von ihrer methodischen Seite. (c) Einen besonderen Zugriff zum Gegenstand der Psycholinguistik stellt inhaltlich und methodisch die Neuropsychologie dar, die vor allem durch die Aphasieforschung von Beginn an auf die Berücksichtigung sprachlicher Phäno20
mene verwiesen war. Daß Störungen einer normalen Leistung Aufschluß über ihre Funktionsweise geben, habe ich bereits erwähnt. In diesem Sinn machen die verschiedenen Aphasiesyndrome bestimmte Verhaltensabläufe aufgrund ihrer Desintegration zugänglich. Auch hier hat die Entwicklung der Psycholinguistik das Methodenrepertoire der Neuropsychologie im Prinzip nicht verändert. Wohl aber haben linguistische Konzepte die Fragestellungen deutlich präzisiert und bereichert. (Wurzel und Böttcher geben in diesem Band ein aufschlußreiches Beispiel aus dem Bereich der Lautstruktur.) Die spezielle und in gewissem Sinn invariante Rolle sprachlicher Strukturbedingungen bei Störungen unterschiedlicher Art eröffnet dabei einen spezifischen methodischen Zugang zum Verhältnis von Struktur- und Prozeßkomponenten. Zu den konstitutiven Fragestellungen der Neuropsychologie gehört die nach der Beziehung zwischen Verhaltensleistungen und ihrem neurologischen Substrat, faßbar aufgrund der anatomischen und histologischen Bestimmung der Quelle der Störung. Wegen dieses Zusammenhangs ist seit .einiger Zeit der Terminus "Neurolinguistik" für Analysen in Umlauf gekommen, die vor allem aufgrund aphasiologischer Befunde nach der neurologischen Basis sprachlicher Leistungen fragen. Dieser Name gibt leicht Veranlassung zu einem Mißverständnis. Die zur Verfügung stehenden Methoden und die Erscheinungen, die mit ihrer Hilfe analysiert werden können, sind nicht linguistischer, sondern psycholinguistischer Natur. Neurologisch bestimmt werden die Grundlagen des Sprachverhaltens, und nur durch das Verhalten vermittelt die in ihm wirksamen Bedingungen der Sprachstruktur. Wenn dieser Umstand aber berücksichtigt wird, dann ist das, was man etwas umständlich "Neuropsycholinguistik" nennen müßte, methodisch in der Tat ein (partieller) Zugang auch zu den neuralen, das heißt biologischen Grundlagen der Sprachfähigkeit. 6. Der Versuch, die konstituierenden Faktoren, die Entwicklungsetappen und -tendenzen und die verschiedenen Verzweigungen der Psycholinguistik zu kennzeichnen, dürfte bei aller Unvollständigkeit die Leitfragen deutlich gemacht haben, durch die sich das Gebiet umgreifen läßt, nämlich: - Wie werden sprachliche Strukturbildungen in den verschiedenen Prozessen des inneren (und äußeren) Verhaltens des Menschen wirksam? 21
- Wie werden die Strukturkenntnisse und Prozeßkomponenten, auf denen dieses Verhalten beruht, erworben oder ausgebildet? Diese Leitfragen weisen dieses Gebiet als einen genuinen, ja sogar zentralen Komplex der Psychologie kognitiver Prozesse aus. Seine Spezifik liegt in der Bindung der involvierten Prozesse an die Sprachstruktur und noch etwas spezieller in den Besonderheiten, die diese dabei annehmen. Wegen der vielfältigen Verzahnung des Sprachverhaltens mit anderen kognitiven Prozessen ist es zumindest zur Zeit, möglicherweise aber überhaupt, kaum sinnvoll, nach einer strikten Umgrenzung der Psycholinguistik zu suchen. Bis zur Formulierung kohärenter Modelle, die die verwickelten Zusammenhänge einsichtig machen und befriedigend erklären, ist noch ein beträchtlicher Weg zurückzulegen. Die Richtung des Weges ist durch die Entwicklung der beiden letzten Jahrzehnte jedoch deutlicher geworden. Ich will abschließend versuchen, einige allgemeinere Befunde zu formulieren, die durch die nachfolgenden Arbeiten belegt werden und die zu dieser Entwicklung beitragen, ohne daß ich damit etwa die "Quintessenz" der verschiedenen Untersuchungen oder gar eine Einordnung aller Resultate anzugeben beabsichtige. (a) Die Ausdrücke einer Sprache sind komplex strukturierte Gebilde in folgendem Sinn: Mehrere Struktur ebenen, die im allgemeinen nicht isomorph, sondern auf unterschiedliche Weise strukturiert sind, bestimmen die Eigenschaften sprachlicher Ausdrücke. Zu unterscheiden sind mindestens (i) die phonetische (bzw. die graphische) Struktur, (ii) die morphologische Struktur, (iii) die syntaktische und (iv) die semantische Struktur. Diese Ebenen überlagern sich in der Weise, daß sie von (i) bis (iv) zunehmend mehr Abstand, d.h. mehr Vermittlungsstufen gegenüber dem Eingabe-bzw. Ausgabesignal der Perzeptions- oder Produktionsprozesse aufweisen. Ich will den Zusammenhang dieser Strukturebenen in einem sprachlichen Ausdruck die "vertikale Integration" der Sprachstruktur nennen. Innerhalb jeder Strukturebene sind die Elemente und Komplexe, die auf ihr vorkommen, in spezifischer Weise mit anderen Elementen und Komplexen verbunden. Diese Zusammenhänge will ich die "horizontale Integration" nennen. In ihr sind zwei grundsätzlich verschiedene Arten von Zusammenhängen zu unterscheiden, (i) die aktuelle und (ii) die virtuelle horizontale Integration. In der Linguistik werden 22
die entsprechenden Beziehungen unter bestimmten einschränkenden Bedingungen syntagmatische und paradigmatische Relationen genannt. Einfachstes Beispiel für diese Unterscheidung ist die aktuelle Beziehung zwischen d und u auf der phonetischen Ebene des Ausdrucks du und die virtuelle Beziehung zwischen u und a auf der phonetischen Ebene des gleichen Ausdrucks (mit der zugleich eine virtuelle Beziehung zwischen den Morphemen du und da auf der morphologischen Ebene und der entsprechenden Bedeutungen auf der semantischen Ebene korrespondiert). Die Grammatik einer Sprache definiert die Gesamtheit der Zusammenhänge, die die horizontale und vertikale Integration der Struktur der Ausdrücke einer Sprache ausmacht. Sprachverstehen läßt sich auf dieser Grundlage als ein Prozeß bestimmen, der ein Signal bezüglich der vertikalen und horizontalen Integration des mit diesem Signal realisierten Ausdrucks interpretiert; entsprechend ist Sprachproduktion die Erzeugung eines Signals, dem die vertikal und die horizontal integrierte Struktur eines Ausdrucks zugrundeliegt. Diese theoretischen Rahmenbestimmungen lassen sehr verschiedene Spezifizierungen zu, von denen jetzt einige erörtert werden sollen. (b) Bezüglich der vertikalen Integration ist zunächst durch unterschiedliche Analysen belegbar, daß die linguistisch begründeten Struktur ebenen bei der Verarbeitung sprachlicher Äußerungen tatsächlich identifiziert werden. (Vgl. Bierwisch, in diesem Band, für eine Erörterung einiger einschlägiger E r gebnisse. ) Damit ist nicht notwendig die Annahme verbunden, daß immer alle Einheiten und Beziehungen auf allen Ebenen realisiert werden, wohl aber daß das unter entsprechenden Bedingungen möglich ist. Spezieller ist die Feststellung, daß die vertikale Integration sich auch durchsetzt, wenn bestimmte Strukturaspekte trivial oder überflüssig sind. Aufschlußreich ist dafür die Verarbeitung isolierter Wörter. Die Ergebnisse von Irina Weigl, Böttcher sowie Wurzel und Böttcher zeigen, daß die syntaktische Klassifizierung der lexikalischen Einheiten für die Perzeption und Reproduktion kontrollierbare Effekte (in Form unterschiedlicher Affizierung durch aphatische Störung) auch dann hat, wenn die Einheiten gar nicht syntaktisch verknüpft sind, die syntaktische Klassifizierung also nicht aktuell zum Tragen kommt. Mit anderen Worten, die Prozesse der Perzeption und Produktion sprachlicher Aus23
drücke involvieren bei der vertikalen Integration ihrer Struktur auch Eigenschaften, die für die aktuelle horizontale Integration irrelevant sein können. (c) Eine weitere in diesen Zusammenhang gehörende Spezifizierung wäre die naheliegende Annahme, daß die Identifizierung der Strukturebenen in einer Folge von Umkodierungen geschieht, die bei der Perzeption von (i) nach (iv) und bei der Produktion umgekehrt durchlaufen wird. Diese Annahme ist aber offenbar nicht allgemein zutreffend. Vielmehr kann bereits die phonetische bzw. graphische Dekodierung von morphologischen oder syntaktischen Strukturbedingungen abhängig sein, wie z . B . die von Böttcher gefundene Tatsache zeigt, daß die morphologische Struktur und die syntaktische Klassenzugehörigkeit einen deutlicheren Effekt für die Leseleistung haben als die Wortlänge oder die Großschreibung. Mit anderen Worten, es zeigt sich eine gewisse Dominanz der "höheren" über die "niedrigeren" Strukturebenen auch in der Perzeption, eine Feststellung, mit der auch die Tatsache übereinstimmt, daß Wurzel und Böttcher in den Faktoren, die das expressive Lesen beeinflussen, neben der phonetischen Komplexität ein zusätzliches Inkrement fanden, das aus der Wortklassenzugehörigkeit der dargebotenen Einheiten stammt. Was damit durch (aphatisch gestörte) Prozesse der Perzeption und Reproduktion von Wörtern belegt wird, nämlich daß die Identifizierung der niedrigeren Strukturebenen Vorgriffe auf die höheren einschließen kann, ist an sich nicht neu, verstärkt aber eine wichtige Bedingung für die Konzipierung eines Sprachperzeptionsmodells. (d) Die strukturellen Bedingungen, deren Rolle in (b) und (c) betrachtet wurde, können einen außerordentlich spezifischen Charakter haben, genauer: bestimmte Strukturmerkmale haben in verschiedenen Prozessen konstant den gleichen Effekt. Eine durch verschiedene Untersuchungen relativ abgesicherte Feststellung betrifft die Rolle der syntaktischen Kategorisierung lexikalischer Einheiten. Treten in der Perzeption oder Produktion Fehler auf, dann zeigt sich zunächst eine starke Tendenz zur Beibehaltung der Klassenzugehörigkeit bei falscher Identifizierung der Elemente. Das gilt ebenso für Fehler, die aphatischen Beeinträchtigungen entspringen (so in den Ergebnissen von Irina Weigl) wie für solche, die Folge spontaner Versprecher der oben erörterten Art sind. Spezieller zeigt sich bei aphatischen Störungen eine cha24
rakteristische Rangfolge der Störanfälligkeit von Substantiven über Adjektive und Verben zu Präpositionen und anderen grammatischen Funktionswörtern, wobei letztere die stärkste Beeinträchtigung zeigen. Schwieriger zu belegen, dafür aber um so aufschlußreicher ist der gleiche Effekt, wenn die syntaktischen Einheiten horizontal integriert sind. Irina Weigls Befunde weisen nicht nur auf die Rolle syntaktischer Komplexbildung überhaupt hin, sondern auf eine Abstufung zwischen nominalen und verbalen Syntagmen, die der eben e r wähnten Rangreihe parallel ist. Unvermutet setzt diese sich sogar in verschiedenen Aphasietypen durch. Zusammengefaßt: Bei der strukturellen Integration sprachlicher Ausdrücke können abhebbare Strukturmerkmale spezifische Einflüsse auf die Verarbeitungsprozesse haben. (e) Die unter (b) bis (d) betrachteten Befunde betreffen Erscheinungen der vertikalen und Ausschnitte der aktuell horizontalen Strukturintegration, also der Zusammenhänge innerhalb eines Ausdrucks. Das Verstehen und das gezielte Produzieren eines sprachlichen Ausdrucks hängt aber entscheidend ab von der Identifizierung seiner virtuellen semantischen Bezüge, seines semantischen Stellenwerts innerhalb des Systems möglicher Ausdrücke. Für die lexikalischen Einheiten müssen diese Bezüge Strukturzusammenhänge im Gedächtnis bilden. Die Untersuchungen von Egon Weigl, von Klix, Kukla und Kühn und von Hoffmann zeigen auf ganz verschiedene Weise, daß die Aktivierung von Gedächtnisbesitz durch diese Bezüge determiniert ist. Grundlage von Weigls Analysen ist die von ihm schon früher "belegte Möglichkeit, hirnpathologisch bedingte Störungen in der Verfügung über Wortkenntnisse unter bestimmten, experimentell kontrollierbaren Bedingungen zeitweilig zu deblockieren. Diese Deblockierung des Zugriffs zu sprachlichen Einheiten ist nun beeinflußbar durch die semantischen Beziehungen, in denen sie stehen. Weigl zeigt das u . a . anhand mehrdeutiger Wörter, indem jeweils eine ihrer Bedeutungen selektiv aktiviert wird. Die Untersuchung von Klix, Kukla und Kühn geht gewissermaßen umgekehrt vor: Sie setzt normales Sprachverstehen voraus und prüft eine zusätzliche Leistung, nämlich die Lösung einfacher sprachlicher Analogieprobleme. Die Anforderung, analoge Beziehungen für jeweils zwei Paare lexikalischer Einheiten aufzufinden, erlaubt dabei, v e r schiedene Typen semantischer Bezüge zu unterscheiden, die bei Variationen 25
in der Anforderung unterschiedliche Veränderungen in den durchschnittlichen Prozeßzeiten determinieren. Hoffmann schließlich benutzt das klassische Paradigma des Listenlernens aus der Gedächtnispsychologie, um die Wirkung semantischer Zusammenhänge zu studieren. Die Elemente einer Liste sind im Sinne der unter (a) eingeführten Terminologie - in der Liste aktuell horizontal integriert. Die Beziehungen in der Liste sind jedoch nicht semantischer oder sonstwie sprachlicher Natur, sondern willkürlich gesetzt. Hoffmann kann zeigen, daß die arbiträre Listenstruktur im Gedächtnis modifiziert wird auf Grund virtueller semantischer Bezüge zwischen den Einheiten. Zusammengefaßt: Sprachliche Bedeutungsstrukturen interagieren auf spezifische Weise mit verschiedenen Prozessen der Aktivierung von Gedächtnisbesitz. Linguistisch und psychologisch gleichermaßen wichtig ist dabei die Tatsache, daß die semantischen Relationen eine Faktoren- oder Komponentenstruktur der lexikalischen Einheiten bedingen. Das berechtigt zu der Annahme, daß Strukturen und Prozesse den Charakter dieser Komponenten zu bestimmen erlauben müssen, oder anders herum: daß sie von ihm aus zu erklären sind. Die erörterten Befunde geben Anhaltspunkte für die Annäherung an dieses noch ziemlich entfernte Ziel. (f) Strukturkomponenten sprachlicher Ausdrücke von der phonetischen Ebene bis hin zur semantischen Vernetzung der Wörter bilden derf Hintergrund der unter (b) bis (e) erwähnten Erscheinungen. An sie ist schließlich der Komplex von Prozessen gebunden, der sprachliche Äußerungen auf die Objekte und Sachverhalte der Umwelt bezieht, über die gesprochen wird. Den ganz unterschiedlichen Modalitäten der Umwelterfahrung entsprechend müssen dabei Prozeßkomponenten sehr verschiedener Art ins Spiel kommen: anschaulich wahrnehmbare Gegebenheiten setzen andere Bedingungen als unanschauliche, real gegebene andere als fiktive Situationen. Allen gemeinsam ist die Tatsache, daß interne Repräsentationen der sprachlich ausgedrückten Sachverhalte unter Vermittlung des jeweiligen Gedächtnisbesitzes gebildet werden müssen. Die Untersuchung von Klix und Hoffmann analysiert einen wohlumschriebenen Ausschnitt aus diesem Komplex von Prozessen. Das experimentelle Paradigma des Satz-Bild-Vergleichs, bei dem die Latenzzeit für die Prüfung der Übereinstimmung von Bild und sprachlicher Aussage ge26
messen wird, erlaubt bestimmte Faktoren und Bedingungen dieser Prozesse zu isolieren. Vorausgesetzt wird die Annahme, daß eine anforderungsgemäße interne Repräsentation der Satzbedeutung erzeugt wird als Ergebnis von Prozessen, in die die zuvor erörterten Bedingungen eingehen. Gefragt wird nach der Repräsentationsform des zu vergleichenden Bildes im Gedächtnis und dem Charakter der Vergleichsoperationen« Die Ergebnisse zeigen, daß je nach der Struktur der sprachlichen Aussage nicht nur verschiedene Operationsschritte, sondern offenbar auch verschiedene Modalitäten der Bildrepräsentation im Gedächtnis angenommen werden müssen. Die auch durch andere Untersuchungen gestützte Unterscheidung einer anschaulichen und einer begrifflich-semantischen Repräsentation von Gedächtnisbesitz ist dabei ein Angelpunkt in der Erklärung der ermittelten Befunde. Ihre Verzweigungen führen zu detaillierteren Annahmen über Teilprozesse, die sprachliche Strukturen mit außersprachlichen Wahrnehmungskomplexen und allgemeiner mit der gedächtnismäßigen Repräsentation der Umwelt verbinden. Einsichten in diese Zusammenhänge können im weiteren ein deutlicheres Licht auch auf die hier zunächst ausgesparte Frage werfen, wie die Wahrnehmung und Analyse sprach licher Äußerungen, also das Sprachverstehen im engeren Sinn, sowie die Produktion sprachlicher Äußerungen ihrerseits durch die Bezugsetzung zur Umwelterfahrung beeinflußt werden. • Mit den Bemerkungen unter (a) bis (f) habe ich versch-' denartige Befunde zum Teil vergröbernd aneinandergerückt. Die sowoh .
; Ii che wie metho-
dische Unterschiedlichkeit der einzelnen Arbeiten und ihrer Ergebnisse soll damit nicht vergessen gemacht werden. Sie bieten kein kohärentes Bild psycholinguistischer Problemstellungen. Wichtige Themen werden nicht berührt, latente Zusammenhänge bedürfen weiterer Ausarbeitung. Die notwendige Auffächerung der Details und die äußerlich bedingten Disproportionen sollten dennoch einen gemeinsamen Angelpunkt der Beiträge erkennbar werden lassen: Die Wechselwirkung sprachlicher Strukturen und kognitiver Prozesse, die sich als das durchgängige Thema probandum der Psycholinguistik festhalten läßt.
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Literaturverzeichnis
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Manfred Bierwisch SPRACHE UND GEDÄCHTNIS: ERGEBNISSE UND PROBLEME
1.
Aspekte der Thematik
Natürliche Sprache und menschliches Gedächtnis sind zwei gleichermaßen umfangreiche, komplexe und verzweigte Gegenstandsbereiche. Ihre Zusammenhänge und wechselweisen Determinationen zu erfassen und aufzuklären, ist eine dementsprechend komplizierte und in dem nachfolgend versuchten Überblick nur sehr unvollständig beschreibbare Aufgabenstellung. Dabei ist der Zusammenhang von Sprache und Gedächtnis nicht eine Problematik, die zur Analyse der beiden Bereiche nur nachträglich hinzukommt. Es ist vielmehr bereits bei ganz intuitivem Verständnis von Sprache und Gedächtnis offensichtlich, daß die Wechselwirkungen und Abhängigkeiten für jeden der beiden Bereiche konstitutiv sind. Etwas vereinfacht ausgedrückt: Ohfie Gedächtnis ist Sprache nicht möglich, und die Sprache ist eine unabdingbare Voraussetzung der für den Menschen charakteristischen komplexen Gedächtnisleistungen und kognitiven Prozesse.
1.1.
Linguistik, Psycholinguistik, Gedächtnis Psychologie
Zu dem ins Auge gefaßten Problemkomplex gibt es natürlicherweise zwei Zugänge. Den einen bilden die Linguistik, die Gesetzmäßigkeiten der Struktur natürlicher Sprachen zu formulieren versucht, und die Psycholinguistik, die die durch diese Strukturen determinierten Prozesse des Sprachverhaltens analysiert. Den anderen Zugang bildet die Lern- und Gedächtnispsychologie, 29
die allgemeine Eigenschaften und Gesetzmäßigkeiten der Bildung und Funktionsweise von Gedächtnisbesitz zu ermitteln trachtet. Hier ist nun zunächst zu konstatieren, daß sich die von diesen beiden Zugängen aus eingeschlagenen Wege keineswegs ohne weiteres in der Analyse der wechselweisen Bedingtheit von Gedächtnis und Sprache begegnen. E r s t in allerjüngster Zeit haben sich Ansätze zu einer dem gemeinsamen Gegenstand entsprechenden Integration der beiden Zugangswege ergeben. Charakteristisch für diese Entwicklung sind insbesondere die Arbeiten von Kintsch (1972, 1974) und Anderson and Bower (1973). Die Faktoren, die dabei zu überwinden waren oder sind, hängen auch mit der Problematik selbst zusammen und sollen sogleich kurz gekennzeichnet werden. Die natürliche Sprache als das entscheidende Medium zum Ausdruck und zum Austausch von Gedanken gesellschaftlich kooperierender Menschen läßt sich als ein außerordentlich kompliziertes System von Strukturen charakterisieren, die aus verschiedenen Klassen von Grundelementen nach spezifischen Regeln zu bilden sind und das Produzieren und Verstehen normaler Äußerungen determinieren. Dabei sind die Grundelemente ebenso wichtig wie die Regeln für die Bildung komplexer Strukturen. Das gilt insbesondere für die Wörter und ihre Verknüpfung zu Sätzen, wobei sich die Verknüpfung aus mehreren, noch zu belegenden Gründen nicht auf die sequentielle Aneinanderreihung reduzieren läßt. Die Einheiten und Regeln einer Sprache müssen gelernt und im Gedächtnis fixiert werden. Für diese (zum großen Teil implizite) Kenntnis hat N. Chomsky (1965) den Terminus "Sprachkompetenz" geprägt. Die Linguistik befaßt sich, so gesehen, mit der Struktur eines bestimmten Anteils des Gedächtnisbesitzes. Ihre Befunde sind deshalb zugleich Bedingungen für die Gedächtnispsychologie, wie diese umgekehrt in gewissem Sinn zur Entscheidung über linguistische Hypothesen beitragen kann. Ich werde das in Abschnitt 2 präzisieren. Geht man vom Aspekt der Sprachstruktur über zur Betrachtung der sprachlichen Prozesse und Verhaltensabläufe, so sind zunächst zwei Problemkomplexe zu unterscheiden, die auf jeweils spezifische Weise Gedächtnisprobleme involvieren. Der erste Komplex ist der der Sprachproduktion und Sprachperzeption. Er betrifft die Aktivierung, das Wirksamwerden der im Gedächtnis 30
fixierten Sprachkenntnis beim Hervorbringen und Verstehen sprachlicher Äußerungen, also die Mechanismen des Zusammenwirkens von Langzeitgedächtnis und operativem oder Kurzzeitgedächtnis. In diesen Prozessen werden nicht nur bereits erworbene Gedächtnisstrukturen aktiviert, sondern im allgemeinen auf ihrer Grundlage neue Strukturen erzeugt, die ihrerseits zur Bildung von Langzeitgedächtnisbesitz führen können. Der zweite Pröblemkomplex ist der des Spracherwerbs. E r betrifft die im natürlichen Entwicklungsprozeß vor sich gehende Aneignung der Sprachkenntnis, also den Aufbau von Gedächtnis besitz sowie die Entwicklung der entsprechenden Produktions- und Perzeptionsmechanismen. Dieser Prozeß unterscheidet sich grundlegend von den in der klassischen Lern- und Gedächtnispsychologie untersuchten Lernvorgängen. Auch das wird noch genauer zu belegen sein. Die experimentelle Psycholinguistik hat sich zwar in verschiedenen Zusammenhängen der charakteristischen Paradigmen der Gedächtnisuntersuchung, wie Wiedererkennen und Reproduzieren gelernter Ereignisse, bedient. Gedächtnisleistungen in dem von der klassischen Gedächtnispsychologie verfolgten Sinn sind dabei jedoch kaum studiert worden, und das, obwohl für beide Themenkomplexe der Psycholinguistik - Spracherwerb und Sprachverwendung und in gewissem Sinn auch für die Linguistik Gedächtnisprobleme beinahe allgegenwärtig sind. Der Grund dafür liegt in der Art der gedächtnispsychologischen Fragestellungen. Ausgangspunkt der wissenschaftlichen Gedächtnisanalyse war die Annahme, daß sich Struktur und Funktionsweise des Gedächtnisses herleiten lassen aus der Bildung von Assoziationen zwischen (relativ zur jeweiligen Betrachtungsebene) elementaren Einheiten. Assoziationen sind dabei Verknüpfungen zwischen Gedächtnisspuren, die durch räum-zeitliche Kontiguität der Ereignisse im E r fahrungsbereich des Organismus entstehen. Erworbene Reiz-Reaktions-Verknüpfungen erscheinen dabei als die elementarste Form dieses Zusammenhangs. Dieser Ansatz gilt zunächst auch für die Untersuchungen des verbalen Lernens, die sich mit dem Behalten von Paaren, Listen und Folgen isolierter Wörter befassen. Ein neues Moment trat zu der damit abgesteckten Fragestellung hinzu, als ausgehend von Ergebnissen von Bousfield (1953) die Rolle bestimmter Struktur 31
zusammenhänge in den zu behaltenden Listen erkannt und untersucht wurde. Es zeigte sich, daß z.B. Elemente gleicher Kategorien (etwa Namen von Ländern oder Vögeln oder Krankheiten) beim Reproduzieren zu Gruppen zusammengefaßt werden und daß sich dadurch die Reproduktionsquote gegenüber unstrukturierten Listen erhöht. Ähnliche organisierende Faktoren zeigten sich beim Behalten von Sequenzen von Ereignissen und Wörtern, wenn aus Teilfolgen auf Grund bestimmter Regelhaftigkeiten sogenannte Chunks (Miller, 1956) gebildet werden können. Entscheidend für Erscheinungen dieser Art ist das Zusammenspiel bereits im Gedächtnis fixierter Eigenschaften der Grundeinheiten mit der neuen Information über ihre Zugehörigkeit zu dargebotenen Listen oder Sequenzen s b wie die Wirkung strukturbildender Regeln, die dieses Zusammenspiel in vielen Fällen organisieren. Zusammenfassende Überblicke mit entsprechenden Modellvorstellungen von Mandler (1972) und Bower (1972) machen deutlich, wie die reine Assoziationsbildung durch diese Faktoren organisierend überlagert wird. Die rein assoziationistische Ausgangsposition der Gedächtnispsychologie wird damit verlassen zugunsten der Einbeziehung der Wirkung, die der bereits organisierte Gedächtnisbesitz und bestimmte strukturbildende R e geln für die Gedächtnisfunktion haben. Die Fragestellungen der Gedächtnispsychologie kommen damit der Problematik der Psycholinguistik offensichtlich näher, unterscheiden sich von ihr aber noch immer in wesentlichen Punkten: (a) Sprache bzw. sprachliche Elemente werden nicht in ihrer Funktion als Ausdruck zusammenhängender Gedanken, also propositionaler Strukturen, analysiert, sondern als Elemente im Grunde außersprachlicher Behaltensleistungen. (b) Entsprechend werden Wörter als isolierte Einheiten betrachtet, deren semantische und syntaktische Eigenschaften zwar in der Organisation der Listen und Folgen wirksam werden, aber für deren Zusammenhang nicht konstitutiv sind. (c) Die Regeln, nach denen Listen und Sequenzen organisiert sind, müssen der jeweiligen Aufgabe entsprechend als anwendbar ausfindig gemacht oder gegebenenfalls neu ausgebildet werden; sie stehen allgemein nicht automatisch 32
zu Gebote wie die der syntaktischen und semantischen Verknüpfung von E l e menten in komplexen sprachlichen Strukturen. Einfach zusammengefaßt: Eine Versuchsperson, die eine Wortliste erinnert und dabei nach geeigneten, ihr erst zu entnehmenden Kriterien organisiert, vollzieht ganz andere Prozesse als jemand, der einen zusammenhängenden Satz versteht und behält. Der Effekt der damit angedeuteten Unterschiede ist in mehreren genau auf dieses Problem gerichteten Experimenten belegt worden. So konnten z.B. Marks und Miller (1964) signifikante Unterschiede in der Behaltensleistung bei folgenden Typen von Wortfolgen zeigen: (1) Normale Sätze:
Laute Parties wecken schlafende Nachbarn.
(2) Unnormale Sätze:
Laute Blitze senden sorgfältige Fluten.
(3) Anagramm von (1):
Nachbarn schlafende laute wecken Parties.
(4) Anagramm von (2):
Fluten sorgfältige laute senden Blitze.
Nach fünf Wiederholungen wurden normale Sätze fast fehlerfrei reproduziert, anormale nur zu 50 %, die Anagramme vom Typ (3) zu 35 % und die Wortlisten vom Typ (4) zu weniger als 15 %. Ohne auf Einzelheiten des Verlaufs einzugehen, kann man hier die entscheidende Rolle primär syntaktischer und semantischer Strukturbildung in Wortfolgen konstatieren.
1. 2.
Semantisches und episodisches Gedächtnis
Die unterschiedlichen Aspekte, von denen Gedächtnispsychologie und Psycholinguistik ausgehen, lassen sich noch etwas verdeutlichen mit Hilfe der von Tulving (1972) vorgeschlagenen Unterscheidung von episodischem und semantischem Gedächtnis. Tulving charakterisiert sie folgendermaßen: "Episodic memory receives and stores information about temporally dated episodes or events, and temporal-spatial relations among these events. A perceptual event can be stored in the episodic system solely in terms of its perceptible properties or attributes, and it is always stored in terms of its autobiographical reference to the already existing contents of the episodic memory store. ( . . . ) Semantic memory is the memory necessary for the use of language. It 33
is a mental thesaurus, organized knowledge a person possesses about words and other verbal symbols, their meaning and referents, about relations among them, and about rules, formulas, and algorithms for the manipulation of these symbols, concepts, and relations. Semantic memory does not register percepti properties as inputs, but rather cognitive referents of input signals" (S. 385386). Die Erinnerung, daß ich gestern mit meinem Bruder telephoniert habe, daß ich vorige Woche ein versalzenes Steak gegessen habe, daß mir eben eine Liste mit lauter Adjektiven, unter ihnen das Wort lang, präsentiert worden ist, sind typische Fälle episodischen Gedächtnisbesitzes; daß Telephone auf der Basis von Schwachstrom arbeiten, daß NaCl die chemische Formel für Kochsalz ist und daß lang sich zu kurz genau so verhält wie breit zu schmal, sind Beispiele für semantischen Gedächtnisbesitz. Die damit angedeutete Distinktion zweier Gedächtnissysteme ist zunächst keine theoretische Klassifikation, sondern eine heuristische Kennzeichnung bestimmter Erscheinungen und F r a gestellungen. Weder die genauere Abgrenzung noch die offensichtlich notwendigen Formen des Zusammenwirkens beider Systeme lassen sich auf dieser Stufe kennzeichnen. Tulving charakterisiert allerdings kurz einige typische Unterschiede in der Wirkungsweise beider Systeme, insbesondere in den B e haltens- und Vergessenseigenschaften, den Suchprozessen und den möglichen Operationen mit dem Gedächtnisbesitz. Für den Zusammenhang von Sprache und Gedächtnis ist nun festzuhalten, daß die Psycholinguistik, soweit sie Gedächtnisprobleme behandelt, thematisch völlig auf das semantische Gedächtnis orientiert ist und Wirkungen des episodischen Gedächtnisses nur als Begleiterscheinungen berücksichtigt. Das zentrale Thema der Gedächtnispsychologie dagegen ist das episodische Gedächtnis und - im Blick auf die oben e r örterte Erweiterung der Fragestellung - seine Interaktion mit den Wirkungen des semantischen Gedächtnisses. Für die Beziehung von Sprache und Gedächtnis ist schließlich das Verhältnis zwischen semantischem Gedächtnis und Sprachkenntnis in dem in 1.2. angedeuteten Sinn von Sprachkompetenz zu klären. Wegen der verschiedenen Zusammenhänge, aus denen die beiden Begriffsbildungen stammen, ve: steht sich dieses Verhältnis nicht von selbst. Gehören zu den Regeln, Formel-1 und Algo34
rithmen für das Manipulieren von Symbolen, Begriffen und Relationen, die Tulving für das semantische Gedächtnis annimmt, auch syntaktische, morphologische und phonologische Regeln einer gegebenen Sprache? Dies ist, wie noch zu zeigen sein wird, keine bloß definitorische Frage, sondern auch eine nach Grundlage und Funktionsweise der verschiedenen Regeln. Bejaht man diese Frage, wird die Sprachkompetenz insgesamt ein Teil des semantischen Gedächtnisses. Andererseits ist offensichtlich, daß die Sprachkompetenz insofern höchstens ein Teilsystem des semantischen Gedächtnisses ist, als dieses einen großen Bestand an gespeicherter Information umfaßt, der nicht zur Sprachkenntnis gehört, auch oder gerade wenn er auf sprachlichem Weg e r worben wird. Das Wissen über die Arbeitsweise von Telephonen oder die chemische Natur von Kochsalz sind Beispiele dafür, während etwa die Kenntnis proportionaler Bedeutungsbeziehungen vom Typ lang zu kurz wie breit zu schmal zum semantischen Aspekt der Sprachkompetenz gehört. Die Grenze ist auch hier nicht im vorhinein klar, doch ist die Unterscheidung für zahlreiche Fragestellungen sinnvoll oder sogar notwendig.
1.3.
Fragestellungen
Der Versuch, die verschiedenen Aspekte des Zusammenhangs von Sprache und Gedächtnis von den Ansatzpunkten der Psycholinguistik und der Gedächtnispsychologie her zu sondieren, hat uns zu folgendem vorläufigen Bild geführt: Die Aufnahme und Speicherung von Information aus der natürlichen und sozialen Umwelt und ihre Bereitstellung für die Planung und Kontrolle des Verhaltens wird durch zwei zunächst heuristisch unterschiedene Gedächtnissysteme gewährleistet: das episodische Gedächtnis speichert perzipierbare Eigenschaften von Erfahrungsabläufen und organisiert sie auf Grund raum-zeitlicher Kontiguität im biographischen Erfahrungsbereich. Das semantische Gedächtnis fixiert von der lokalisierten Erfahrung ablösbare Merkmals strukturen und Zusammenhänge und organisiert sie auf Grund abstrakterer, komple 35
xer Relationen, Muster und Regeln. Entscheidend für diese Organisations form ist die Bindung der Elemente und Komplexe an sprachliche Symbole. Die Wirkungsweise und die Inhalte des episodischen Gedächtnisses werden auf charakteristische Weise durch die Strukturzusammenhänge und Regeln des semantischen Gedächtnisses beeinflußt. Eine Voraussetzung des semantischen Gedächtnisses bildet die Sprachkompetenz im eigentlichen Sinn, die Kenntnis der Einheiten, Muster und Regeln einer gegebenen Sprache. Ob die Sprachkenntnis ein echtes Teilsystem im semantischen Gedächtnis bildet, hängt vom Charakter und Status ab, den die syntaktischen, morphologischen und phonologischen Regeln haben, und von ihrer Funktion für das semantische Gedächtnis. Das ist eine empirisch zu klärende Frage. * Ich komme auf eine ihrer Seiten in Abschnitt 4.3. zurück. Aus der Identifizierung dieser Aspekte unseres Problemzusammenhangs ergeben sich nun eine Reihe von Fragestellungen, von denen ich die folgenden herausgreifen und in den weiteren Abschnitten betrachten will. (i) Was läßt sich, insbesondere auf Grund linguistischer Analyse, über die Strukturprinzipien der Sprachkenntnis aussagen? Insofern die Sprachkenntnis eine organisierende Bedingung (wenn nicht ein Teilsystem) des semantischen Gedächtnisses ist, ergeben sich aus solchen Aussagen mögliche Folgerungen für die Organisations - und Arbeitsweise des Langzeitgedächtnisses im allgemeinen und umgekehrt aus diesen Rahmenbedingungen für die linguistische Theoriebildung. (Abschnitt 2. ) (ii) Welche Rolle spielen die verschiedenen Aspekte der Sprachstruktur bei der Aufnahme und Fixierung sprachlich kodierter Information ins semantische Langzeitgedächtnis? Dabei geht es insbesondere um die experimentalpsychologische Klärung der Wirkung gegebener Satz- und Wortstrukturen bei der Bildung und Auffindung von Gedächtnisinhalten. (Abschnitt 3 und 4. ) (iii) Schließlich sollen einige Anhaltspunkte dafür erörtert werden, wie Sprachkenntnis als Gedächtnisbesitz erworben wird, wie also im Spracherwerb bestimmte Bedingungen für Aufbau und Wirkungsweise des semantischen Gedächtnisses ausgebildet werden. (Abschnitt 5. ) Obgleich in allen drei Bereichen Probleme der Lautstruktur und der morphologischen Ausprägung natürlicher Sprachen auf unterschiedliche Weise eine 36
Rolle spielen, werde ich diese Seite im Folgenden weitgehend vernachlässigen und mich auf Probleme der syntaktischen und semantischen Struktur beschränken.
2.
Einige Prinzipien der Struktur natürlicher Sprachen
Dieser Abschnitt verfolgt drei Ziele: Die Erörterung und Motivierung der Strukturprinzipien der natürlichen Sprache soll zugleich benutzt werden, um einerseits Einzelheiten der Strukturebenen sprachlicher Ausdrücke und grammatischer Regeln zu veranschaulichen, auf die in den folgenden Abschnitten Bezug genommen werden kann, und andererseits ihren Zusammenhang mit Gegebenheiten der Gedächtnisstruktur zu erörtern. Es versteht sich von selbst, daß all das nur in Umrissen geschehen kann. Ich beginne mit einigen elementaren, aber wichtigen Feststellungen.
2.1.
Sätze als erzeugbare strukturierte Einheiten
Normales Sprachverhalten beruht auf mehr oder weniger komplexen, zusammenhängenden Sätzen oder Satzfolgen. Sätze lassen sich im ersten Zugriff als Folgen von Wörtern bestimmen, die durch Akzent- und Intonationsmuster gegliedert sind und sich dadurch bereits von bloßen Wortlisten abheben. Wörter ihrerseits lassen sich auf dieser Stufe beschreiben als Folgen von phonetischen Segmenten, die durch Bündel phonetischer Merkmale charakterisiert sind. Entscheidend ist nun, daß Sätze Strukturkomplexe bilden, die sich nicht auf die Sequenz von Wörtern reduzieren lassen. Bereits ganz einfache Beispiele zeigen das:
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(5)
(a) Hans sieht sie
(b) sie sieht Hans
(c) sieht Hans sie ?
(6) (a) Hans glaubt ihm (b) ihm glaubt Hans (c) glaubt Hans ihm? Die Reihenfolgeänderungen von (a) zu (b) und (c) sind in (5) und (6) völlig parallel. Sie haben im Fall (c) auch für (5) und (6) den gleichen Effekt: aus der Behauptung wird eine Frage. Anders für (b): Während in (5 b) Aktor und Objekt gegenüber (5 a) vertauscht sind, tritt in (6 b) diese Änderung nicht ein. Jenseits ihres parallelen linearen Aufbaus müssen die beiden (b)-Sätze, und folglich in latenter Form auch die (a)-Sätze, eine unterschiedliche Gesamtstruktur aufweisen, die von Sprechern des Deutschen entsprechend realisiert 2
wird. Wir halten fest: Sätze sind Komplexe mit bekannten, auf Grund der Sprachkenntnis direkt zugänglichen Eigenschaften, die sich nicht auf ihre Zerlegving in Wörter und deren wahrnehmbare Reihenfolge beschränken. Ebenso offensichtlich wie die oben belegte Tatsache, daß Sätze und ihre Eigenschaften in gewissem Sinn bekannt sind, ist nun andererseits, daß zwar die Wörter, aber im allgemeinen nicht die Sätze als solche im Langzeitgedächtnis eines Sprechers fixiert sein können: Von festen Formeln und besonders gelernten Texten abgesehen, sind Sätze stets neu zu bilden. Also muß beim Hervorbringen und Verstehen von Sätzen deren Gesamtstruktur zunächst auf Grund der in ihnen enthaltenen Wörter und entsprechender Regeln im Kurzzeitgedächtnis erzeugt werden. Das heißt aber, daß die Strukturbildungsprinzipien natürlicher Sprachen nicht nur den Bedingungen des Langzeitgedächtnisses unterliegen, sondern auch der Wirkungsweise des Kurzzeitgedächtnisses. Das damit umschriebene Verhältnis von gespeicherten und erzeugbaren sprachlichen Strukturen läßt sich stark vereinfacht so zusammenfassen: Wörter müssen nur aktualisiert, Sätze müssen erzeugt werden. Und anders herum: Man identifiziert neue (also nicht erworbene) Wörter als unbekannt, nicht 3
aber neue (jedoch erzeugbare) Sätze. Es darf zweifellos angenommen werden, daß die Erzeugbarkeit der Gesamtstruktur wesentliche Ursache für die unterschiedliche Behaltensleistung ist, die Marks und Miller im oben erwähnten Experiment für verschiedene Wortfolgen gefunden haben. Was bisher global als Gesamtstruktur von Sätzen bezeichnet wurde, ist etwas näher zu bestimmen als syntaktisch strukturierter Bedeutungskomplex. Etwas präziser: 38
Ein Satz besitzt eine semantische Struktur, die sich aus der Bedeutung seiner lexikalischen Einheiten und den zwischen diesen bestehenden syntaktischen Beziehungen ergibt. Oder anders herum: Eine kognitive Struktur wird zur Bedeutung eines Satzes, sofern sie sich aufgliedert in die Bedeutung seiner lexikalischen Einheiten und die durch seine syntaktische Struktur vermittelten Beziehungen zwischen ihnen. Die Prinzipien dieser Strukturbildung sind nun zu kennzeichnen. Zwei fundamentale Eigenschaften natürlicher Sprachen bestehen (a) in der hierarchischen Struktur komplexer Gebilde und (b) in der Existenz von Operationen, die an diese Hierarchiebildung gebunden sind. Für die syntaktische Seite sind diese Eigenschaften im Anschluß an verschiedene Traditionslinien vor allem von N. Chomsky (1957, 1965) in der Konzeption der generativen Transformationsgrammatik präzis formuliert worden.
2.2.
Hierarchiebildung
Das Prinzip der Hierarchiebildung läßt sich zunächst am Beispiel folgendermaßen beschreiben: Die Wörter werden entsprechend ihrer Verknüpfbarkeit verschiedenen Klassen oder Kategorien wie Verb, Nomen, Adjektiv, Präposition, Artikel usw. zugeordnet. Die klassifizierten Wörter werden schrittweise zu größeren Komplexen zusammengefaßt, die wiederum bestimmten syntaktischen Kategorien zugeordnet sind. Diese kategorisierte Gruppierung kann durch Baumgraphen - oder äquivalent durch indizierte KlammerausdrUcke wiedergegeben werden, etwa:
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(7)
SATZ
ART
N
PP NP ART
Der Student
der das
besorgt
wohnt
auf
dem
N Lande
Die in einer gegebenen Sprache möglichen Strukturen dieser Art bilden eine im Prinzip nicht begrenzte Klasse, die sich durch ein Regelsystem, eine Phrasenstrukturgrammatik (oder verschiedene äquivalente Mechanismen, vgl. Chomsky, 1963) charakterisieren läßt. Die implizite Kenntnis eines solchen Regelsystems bildet demnach einen Teil der Sprachkompetenz. Hierarchiebildungen sind kein Spezifikum der Sprachstruktur, sie sind ausführlich belegt in vielen Bereichen komplexerer Verhaltensorganisation. Sie wurden durch verschiedenartige Experimentergebnisse insbesondere auch als Prinzip der Gedächtnis Strukturbildung ausgewiesen. Hierher gehören u. a. die in 1. 3. erwähnten Erscheinungen der Gruppen- und Chunkbildungen. Gegenüber dieser sehr allgemeinen Wirkungsweise der hierarchischen Gruppierung, die zweifellos als eine Art Ökonomieprinzip zu deuten ist, sind für sprachliche Konstituentenhierarchien des illustrierten Typs einige Spezifika zu kennzeichnen. 1. Die Konstituenten bilden nicht nur Gruppierungen ansonsten isolierter Elemente, sondern echte Einheiten der Hierarchie, denen als Ganzes jeweils spezifische Eigenschaften zukommen, von denen folgende genannt seien: (i) Bestimmte Konstituenten sind als Ganze durch elementare Formative gleichen syntaktischen Rangs ersetzbar. In (7) etwa Der Student, der das besorgt durch er, auf dem Lande durch dort, (ii) Konstituenten determinieren den Geltungsbereich zusammengehöriger morphologischer Markierungen. Verein-
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fachtes Beispiel: Die unmittelbaren Bestandteile einer NP (Nominalphrase) im Deutschen weisen gleiche Kasus-, Genus- und Numerusbestimmungen auf, also z.B. das kleine Land vs. des kleinen Landes vs. dem kleinen Lande usw. (iii) Konstituentenzusammenhänge determinieren Teilkomplexe der semantischen Struktur eines Satzes. Beispiel (7) veranschaulicht das unmittelbar, obgleich die Beziehungen, wie noch erörtert wird, nicht immer so einfach sind. 2. Die Hierarchiebildung kann rekursiv sein, d. h. eine Konstituente kann eine andere gleichen Typs als direkt oder indirekt untergeordneten Teil enthalten, also ein Satz einen Satz, eine NP eine NP usw., wie (7) zeigt. E r s t diese Tatsache ermöglicht die Bildung beliebig komplexer Strukturen auf Grund eines begrenzten, im Gedächtnis fixierten Regelsystems. Obgleich Hierarchiebildung, wie gesagt, als allgemeines Prinzip der Gedächtnisstruktur vielfältig belegt ist, sind auch eine Reihe von Experimenten mit dem Ziel gemacht worden, speziell die gedächtnismäßige Realität sprachlicher Konstituentenhierarchien nachzuweisen. So ließ Johnson (1965) dargebotene Sätze Wort für Wort reproduzieren und ermittelte die Häufigkeit, mit der auf ein richtig reproduziertes Wort ein unkorrektes folgte. Er fand, daß die Fehlerhäufigkeit signifikant mit der Hierarchiestufe des entsprechenden Konstituenteneinschnitts korreliert. In einem Satz wie (7) müßte demnach der Übergang von besorgt zu wohnt eine größere Fehlerrate als der von wohnt zu auf zeigen. Dennoch gibt Johnsons Fehlerrate nur bedingt über die Konstituentenhierarchie Aufschluß, da in sie mehrere andere Bedingungen eingehen und den Reflex der Konstituentenstruktur deutlich überlagern können. Eine Variable ist die Größe der Klasse, zu der ein Wort gehört, mit der natürlicherweise die Fehlerwahrscheinlichkeit wächst: Die Anzahl der Verben, die statt wohnt gewählt werden können, ist um zwei Zehnerpotenzen größer als «
die Zahl der Präpositionen, die statt auf möglich sind. Eine zweite Variable ist die semantische Bindung. In einem Satz wie Der Arzt untersuchte Schüler, Arbeiter, Hausfrauen und Polizisten garantiert die semantische Beziehung zwischen Arzt und untersuchen eine vergleichsweise niedrige Fehlerrate, obwohl hier der tiefste Konstituentenschnitt liegt. Dies widerspricht nicht der oben getroffenen Feststellung, daß Konstituenten Einheiten der semantischen 41
Struktur konstituieren. Nur bestehen semantische Beziehungen nicht nur innerhalb, sondern notwendig auch zwischen Konstituenten, und gelegentlich können die letzteren für Behaltensanforderungen prävalent sein. Die aussagestärkste experimentelle Belegung der psychologischen Realität der Konstituentenstruktur sind deshalb die genau an dieser Variablen orientierten Substitutions-, Weglaß- und Ergänzungstests, die in der Linguistik seit langem, wenn auch mit geringem methodischen Aufwand angewendet werden. Ihre strengere Operationalisierung würde etwa in der Anforderung bestehen, daß in (7) die kleinste Teilkette, die das Wort Land enthält, durch dort ersetzt wird, so daß wieder ein sinnvoller Satz entsteht. Es ist klar, daß dieses Experiment die Konstituente auf dem Lande auszeichnet. Durch entsprechende Anforderungen läßt sich - beinahe trivialerweise - die gesamte Konstituentenstruktur jedes Satzes auf ihre gedächtnismäßige Repräsentation 4 prüfen. Damit ist die Tatsache der spezifisch sprachlichen Konstituentenbildung aufweisbar, allerdings nicht die Funktion dieses Prinzips in der Organisierung des Gedächtnisses.
2.3.
Strukturabhängige Operationen
Das zweite Prinzip, das der strukturabhängigen Operationen, ist direkt durch die Hierarchiebildung bedingt und damit zugleich eine zusätzliche Begründung für sie. Ich illustriere es zunächst an zwei Beispielen. Nebensätze sind im Deutschen unter anderem dadurch gekennzeichnet, daß in ihnen die mit der Personalendung versehene Form des Verbs nicht wie im Hauptsatz an der zweiten Stelle, sondern am Satzende steht: Hans sieht sie vs, (weil) Hans sie sieht, Hans denkt über etwas nach vs. (weil) Hans über etwas nachdenkt. Der intuitiv einsichtige Zusammenhang zwischen beiden Satzformen ergibt sich systematisch durch eine strukturabhängige Operation, die das Verb aus der Endstellung des Nebensatzes an die entsprechende Stelle im Hauptsatz permutiert. Daß der Zusammenhang vom Nebensatü ausgehend zu erzeugen ist und nicht umgekehrt, hat zahlreiche Gründe, unter ihnen die 42
Tatsache, daß Verben mit trennbaren Präfixen wie nachdenken, die eine lexikalische Einheit bilden, im Nebensatz zusammenhängend, im Hauptsatz aber getrennt in denkt . . . nach auftreten. (Für weitere Details vgl. Bierwisch (1963) sowie auch unten Abschnitt 5. 6.) Die fragliche Operation ist struktur abhängig, da das Verb nicht einfach hinter das erste Wort wie in der ungrammatischen Wortfolge (9), sondern hinter das als Konstituente zu identifizierende erste Satzglied wie in (10) zu stellen ist, gleichgültig wie komplex dieses ist: (8) (weil) Hans und seine Frau erst darüber nachdenken wollen. (9) *Hans wollen und seine Frau erst darüber nachdenken. (10) Hans und seine Frau wollen erst darüber nachdenken. Beim zweiten Beispiel, der Extraposition eingebetteter Sätze, zeigt sich zugleich, daß verschiedene Hierarchiestufen die wiederholte Anwendung der gleichen Operation determinieren können. In (11) sind die Stufen 0, 1 und 2 der ineinander verschachtelten Sätze durch Klammerindizes markiert. (11) (Der Stuhl (der an der Tür (die klemmtjg steht)^ wackelt)^ (12) (Der Stuhl wackelt (der an der Tür steht (die k l e m m t ^ ) ^ (13) (Der Stuhl wackelt (der an der Tür steht (die k l e m m t ) ^ ^ (14) (Der Stuhl (der an der Tür steht (die k l e m m t ) ^ wackelt) Q (15)*(Der Stuhl (der an der Tür steht) 1 wackelt (die klemmt) 2 ) 0 (16)*(Der Stuhl wackelt (die klemmt) 2 (der an der Tür steht) 1 ) Q In (12) ist der gesamte Satz 1 ans Ende von 0 versetzt, in (13) auch noch 2 ans Ende von 1. In (14) ist nur 2 ans Ende von 1 gestellt. Unmöglich sind (15), wo 2 ans Ende von 0 gebracht ist, nicht aber 1, und (16), wo zuerst 2 und dann dahinter 1 extraponiert wurde. Die Extrapositionsregel muß also einen eingebetteten Satz und den ihm direkt übergeordneten identifizieren und dann den e r s t e ren ans Ende des letzteren stellen. Dies kann dann zieharmonikaartig auf al5 len Hierarchiestufen geschehen. Was zunächst wie ein zufälliges Nebeneinander der Sätze vom Typ (11) bis (14) und der Defekte des Typs (15) und (16) erscheint, wird durch das zyklische Operieren der strukturabhängigen Extrapositionsregel zu einem systematischen Strukturzusammenhang. Etwas allgemeiner ist eine strukturabhängige Operation bestimmt durch zweierlei: Einen Strukturindex, der bestimmte Eigenschaften einer Klasse 43
möglicher Konstituentenhierarchien kennzeichnet, und eine Strukturveränderung, die die an den so gekennzeichneten Stammbäumen vorzunehmenden Modifikationen - Permutationen, Eliminierungen, Adjunktionen - bestimmt. Strukturindex und Strukturveränderung zusammen machen eine grammatische Transformation aus. Anders als das Prinzip der Hierarchiebildung ist das der Strukturoperationen nicht bereits gut belegt als Wirkungsweise der Gedächtnisorganisation. Deshalb ist ein Experiment von Riegle (1969) von Belang, das genau diese Frage betrifft. Riegle nahm eine Transformation an, deren Strukturveränderung zwei unter einem Knoten zusammengefaßte Konstituenten vertauscht und deren Strukturindex diesen dominierenden Knoten benennt. Angewendet wurde diese Transformation auf eine Buchstabenfolge, der die in (16 a) dargestellte Struktur unterstellt wurde. Da sie 7 verzweigende Knoten enthält, ergeben sich sieben Transformationen der von Riegle angenommenen Art, die einfach durch die Knotennummer identifiziert werden. Ihr Resultat ist unter (16 b) angegeben. (b) 1: 2: 3: 4: 5: 6: 7:
DFZHMKWR FDHZMKWR FDZHMWKR FDMZHKWR FDZHMRKW FDKWRZHM ZHMKWRFD
Den Versuchspersonen waren weder die Struktur (16 a) noch die Regeln b e kannt. Dargeboten wurden ihnen die Ausgangsbuchstabenfolge und eine Zahl, die laut Instruktion eine Permutation benennt, mit deren vermutetem Effekt zu entworten war. Anschließend wurde die korrekt per mutierte Folge geboten. Riegle wählte nun drei Darbietungsvarianten der Ausgangsfolge: 1. ungegliedert, 2. im Sinn der Struktur gegliedert in Gruppen zu 2 3 3 Buchstaben, 3. entgegen der Struktur in 3 3 2 Gruppen gegliedert. Die Gruppierung wurde in einer Serie durch Spatium zwischen den Buchstaben realisiert, in einer zweiten Serie durch entsprechend gruppiertes Vorlesen der ungruppierten Folge. (Opti44
sehe und akustische Gruppierung ergaben keinen Unterschied im Resultat.) Die Hypothese war, daß richtige Gruppierung das Finden der Regeln erleichtert, falsche Gruppierung es erschwert. Nach neun Durchgängen konnten V e r suchspersonen mit der Bedingung 2 (richtige Gruppierung) im Durchschnitt 6,4 der 7 Regeln korrekt anwenden, die mit der Bedingung 3 (falsche Gruppierung) nur 2,5, die mit der Bedingung 1 (ungruppiert) 3,9. Es ist demnach anzunehmen, daß für die Buchstabenfolge eine hierarchische Gedächtnisstruktur ausgebildet wird und daß die auf ihr operierenden Regeln um so schneller e r lernt werden, je besser diese Struktur erfaßt werden kann. Experimente wie dieses zeigen, daß strukturabhängige Regeln erworben und befolgt werden können, sie sagen aber nichts über die Rolle solcher R e geln in der Sprachstruktur und deren Repräsentation im Gedächtnis. Hinweise auf die spezifische Wirkung grammatischer Transformationen finden sich aber bei bestimmten aphatischen Störungen: Bei Behinderung einer Sprachfunktion, z.B. des Nachsprechens von Sätzen, kann deren Deblockierung unter bestimmten Bedingungen bewirkt werden durch Präsentierung eines Satzes auf einer nicht gestörten Funktion, etwa der des Abschreibens. Diese Deblockierung kann sich nun auf transformationell korrelierte Sätze ausdehnen. Vgl. dazu Weigl und Bierwisch (1970). Ehe ich die Rolle von Transformationen in allgemeinem Zusammenhang weiter verfolge, sollen einige Bemerkungen über die involvierten sprachlichen Strukturebenen eingeschoben werden.
2. 4.
Syntaktische Strukturebenen
Ein Satz, verstanden als spezifisch organisierte Folge von Wörtern, ist wie oben dargestellt - die Sequenz der Endknoten eines syntaktischen Strukturbaums, der durch ein System von Phrasenstrukturregeln erzeugt werden kann. Dabei ist es möglich, daß die gleiche Wortfolge alternativ auf zwei (oder mehr) verschiedene Arten strukturiert werden kann. Der Satz ist dann mehrdeutig. (17) ist ein Beispiel dafür, wie die verschiedenen Klammerungen andeuten:*' 45
(17)
(a) (Er versuchte zum zweiten Mal (ins Haus zu kommen)) (b) (Er versuchte (zum zweiten Mal ins Haus zu kommen))
Die Wortfolge mit der Konstituentenhierarchie soll Oberflächenstruktur eines Satzes heißen. Sie steht auf Grund der in 2.3. erörterten Transformationen in Beziehung zu anderen Strukturen. Da bei der Äußerung eines Satzes nur eine Wortfolge realisiert wird, haben diese transformationeil verbundenen Strukturen einen gewissermaßen virtuellen Status, sie sind, bezogen auf die realisierte Oberflächenstruktur, latent. Von diesen latenten Strukturen läßt sich nach systematischen Kriterien jeweils eine auszeichnen als die sogenannte Tiefenstruktur eines Satzes. Sie wird einerseits durch eine unterschiedliche Anzahl von Transformationsschritten mit verschiedenen Oberflächenstrukturen v e r bunden. Andererseits sind vor allem die in ihr enthaltenen syntaktischen Einheiten und Beziehungen wesentlich für die semantische Struktur eines Satzes. Bei der Erörterung der Transformation, die die Verbstellung im Hauptsatz erzeugt, wurde das bereits angedeutet, und es gilt ebenso für die diskutierte E xtrapositionsr ege 1: (18) Hans fiel dabei das Wort ein, das er gesucht hatte. (19) (weil) Hans dabei das Wort, das er gesucht hatte, einfiel. Die Nebensatzform mit eingeschachteltem Relativsatz (19) steht der Tiefenstruktur näher als der Hauptsatz (18). Und in (19) bilden die Wortform einfiel und die Konstituente das Wort, das er gesucht hatte, die jeweils eine semantische Einheit bilden, auch eine syntaktische Konstituente, nicht aber in (18). Etwas vergröbert: Transformationen zerstören semantisch relevante Zusammenhänge der Hierarchiebildung zugunsten bestimmter Eigenschaften der Oberflächenstruktur. Ein Teil der so erzeugten Oberflächeneigenschaften - aber keineswegs alle - sind übrigens offenbar bedingt durch die Wirkungsweise des Operationsgedächtnisses. Es ist intuitiv erfaßbar, aber auch durch experimentelle Befunde z.B. von Fodor und Garrett (1967) belegt, daß mehrfach verschachtelte Sätze wie (11) für Produktions- und Perzeptionsprozesse eine hohe Komplexität aufweisen. Die Extrapositionsregel ermöglicht nun, ihnen eine Oberflächenstruktur zuzuordnen, die diese Verarbeitungskomplexität nicht aufweist. Die in einer gegebenen Sprache geltenden Transformationen sind demnach wenig 46
stens zum Teil motiviert durch das Zusammenspiel von Langzeit- und Kurzzeitgedächtnis. Für die syntaktische Struktur natürlicher Sprachen ergeben sich damit zwei durch Transformationen aufeinander bezogene Strukturebenen. Dieses Bild soll durch drei Bemerkungen noch etwas verdeutlicht werden. (i) Tiefen- und Oberflächenstrukturen sind Gebilde der gleichen Art, nämlich Hierarchien von gruppierten und syntaktisch klassifizierten Konstituenten, darstellbar durch Strukturbäume. In einfachen Fällen, bei identischer T r a n s formation, können beide praktisch identisch sein. Das gilt etwa in Fällen wie Hans kommt. Im allgemeinen aber sind Tiefenstrukturen abstrakte Gebilde, deren Endkette keinen aktuell äußerbaren Satz bilden muß. (ii) Sätze mit identischer oder sehr ähnlicher Oberflächenstruktur können auf sehr unterschiedliche Tiefenstrukturen zurückgehen. Dadurch können u. a. syntaktisch bedingte Mehrdeutigkeiten entstehen und erklärt werden, die nicht, wie in (17), durch Unterschiede der Oberflächenstruktur auflösbar sind: (20) (a) Die Musik wurde von Peter Kreuder abgeschrieben. (b) Peter Kreuder schrieb die Musik (von X) ab. (c) (Y) schrieb die Musik von Peter Kreuder ab. (20 b) und (20 c) sind jeweils eindeutige Realisierungen der beiden in der Oberflächenstruktur von (20 a) zusammenfallenden Tiefenstrukturen. (iii) Durch Einbeziehung der Transformationen ändert sich die Rolle der hierarchiebildenden Phrasenstrukturregeln. Sie erzeugen nun nicht direkt Oberflächenstrukturen, sondern die invarianten Tiefenstrukturen, die jeweils einer Familie transformationsverbundener Oberflächenformen zugrunde liegen. Es läßt sich zeigen, daß auf diese Weise nicht nur syntaktisch und semantisch relevante Zusammenhänge zwischen Sätzen ausgedrückt werden können, sondern daß das erforderliche Regelsystem zugleich einfacher ist als eines, das alle verschiedenen Oberflächenformen gesondert durch Phrasenstrukturregeln erzeugt. Einfachheit kann dabei zunächst einfach durch die Zahl der zur Erzeugung einer Klasse von Strukturen benötigten Regeln bestimmt werden. Ich komme auf diesen folgenreichen Aspekt in 2. 6. zurück.
47
2. 5,
Die semantische Struktur von Wörtern und Sätzen
Die im Rahmen der syntaktischen Struktur dargelegten Prinzipien der Strukturbildung gelten im Prinzip in gleicher Weise für die semantische Struktur von Sätzen und ihre Beziehung auf deren syntaktische Form. Zu erläutern sind, in groben Zügen, zwei Aspekte: Die Struktur der Bedeutung lexikalischer Einheiten und die Art ihrer Verknüpfung zu Satzbedeutungen. Lexikalische Einheiten sind, soweit sie konkrete Sachverhalte und Objekte bezeichnen, zunächst als Ganzes auf bestimmte Muster des sensorischen oder motorischen Gedächtnisses bezogen: Lärm, Ball und Schritt etwa können in diesem Sinn bestimmte Inhalte des akustischen, optischen und motorischen Gedächtnisses anregen. So wesentlich diese Tatsache für die Konstituierung des Realitätsbezugs sprachlicher Äußerungen ist, sie kommt selbst bei den Bezeichnungen konkreter Gegebenheiten nicht immer ins Spiel, und sie gilt für eine große Klasse von Einheiten gar nicht: überzeugen, Antrieb, Verlust etwa sind nicht durch anschauliche Faktoren gekennzeichnet, sondern durch abstrakte Relationen und Bewertungen, die nur indirekt auf Wahrnehmungen beziehbar sind. Wichtig für die BedeutungsCharakterisierung ist deshalb die Tatsache, daß lexikalische Einheiten durch semantische Komponenten, elementare oder komplexe abstrakte Merkmale, bestimmbar sind. Solche Komponenten fixieren diejenigen Eigenschaften und Relationen der durch sie klassifizierten Objekte und Sachverhalte, die ihre eigentlich sprachliche Repräsentation im Gedächtnis garantieren. Der damit angedeutete Unterschied entspricht unterscheidbaren Gedächtnisformen, die ins besondere bei hirnpathologischen Störungen getrennt wirksan werden können: Von der Beeinträchtigung des Wortbedeutungsverständnisses (sensorische Aphasie) ist zumeist die Störung des Objekterfassens (Agnosie) deutlich zu unterscheiden. Instruktiv sind in dieser Hinsicht Versuchsreihen, die Böttcher (in Vorbereitung) bei Patienten mit u.a. schwerer Störung des semantischen Verständnisses isoliert gebotener Wörter durchgeführt hat. Wurden diesen Patienten drei Bilder vorgelegt, aus denen jeweils eins entsprechend dem anschließend vorgesprochenen Wort auszuwählen war, so stieg die sonst schwer beeinträchtigte Verstehensleistung auf annähernd 100 %. In einer weiteren Versuchsreihe wurden die drei vorge48
legten Bilder aus semantisch nahe verwandten Kategorien gewählt, etwa Koffer, Tasche und Netz oder Schaf, Kuh und Schwein. Die Zuordnung des Wortes verschlechterte sich dabei drastisch auf den Stand des Verstehens ohne Bildvorlage. Das gleiche trat in einer Versuchsreihe ein, in der die Namen der Objekte phonologisch ähnlich waren, etwa Rauch, Schlauch, Strauch. Wurde dagegen nicht die Zuordnung eines Wortes, sondern eines Bildes verlangt, so war die Leistung unter beiden Bedingungen - semantische und phonologische Ähnlichkeit - 100 %, obwohl die kritischen Bilder äußerlich verschiedene Objekte zeigten. Das heißt, bei gleichen Anforderungen war die Identifizierung der sprachlichen Bedeutung, aber nicht die Objekterfassung gestört. Derartig pathologisches Auseinandertreten beider Gedächtnisleistungen heißt nicht, daß sie im Normalfall-nicht eng zusammenwirken. Der automatische Rückgriff auf anschauliche Eigenschaften ist typisch für viele Fälle von metaphorischem Sprachgebrauch: Eine Verbindung wie eine müde Tagung wird nicht auf Grund der unten unter (23) angegebenen semantischen Komponenten von müde, sondern an Hand begleitender Erscheinungen wie herabgesetzte Aktivität, Trägheit usw. gebildet und interpretiert. Ohne die Zusammenhänge und Unterschiede zwischen den angedeuteten Gedächtnisbereichen auch nur für annähernd geklärt zu halten, wende ich mich nun der linguistisch zu bestimmenden Komponentenstruktur zu. Komponenten lassen sich generell durch eine Klassifikationsbedingung zusammen mit Variablen für die Repräsentation der Träger der Eigenschaften, Relationen und Prozesse angeben. Beispiele sind etwa (ROT X), (SCHLAFEN X), (TUN XY), (BEWIRKEN X Y), wobei ROT, TUN usw. nicht Wörter sind, sondern Klassifikationsbedingungen. Die Bedeutungsstruktur lexikalischer Einheiten besteht nun aus mehr oder weniger komplexen Verknüpfungen und Verschachtelungen von Komponenten, wobei - zusammen mit konjunktiver und disjunktiver Verbindung - die Hierarchiebildung eine entscheidende Rolle spielt. Die folgenden Beispiele illustrieren das. Dabei geben indizierte Klammern die Verschachtelung der Komponenten an. (21)
wecken (in Sätzen wie M䣮subjekt w e c ^ ^ r ^ z Qbjckt^ ^ (BEWIRKEN Xg 2(WERDEN 3(NICHT 4(SCHLAFEN X q ) ^ ) ^ 49
(23)
müde (z.B. in Fritz g ist müde) ^BEDÜRFEN X g ^SCHLAFEN X g ) ^
(24)
überzeugen (z. B. in Hans^ überzeugt Fritz^ davon, daß . . . p) ^(BEWIRKEN X g g (WERDEN g(GLAUBEN X 0 X p j g ) ^
Die Beispiele sind in vielerlei Hinsicht vereinfacht, sie zeigen aber hinlänglich, wie durch Hierarchiebildung aus einfacheren komplexe Komponenten ent7 stehen.
Auf Grund der Gemeinsamkeiten und Differenzen in der Komponen-
tenstruktur lassen sich Beziehungen zwischen den lexikalischen Einheiten herstellen, die als Netzstruktur repräsentiert werden können; die lexikalischen Einheiten bilden dabei Knoten, die verschiedenen, durch die Komponentenstruktur ihrer Bedeutung festgelegten Beziehungen die Kanten des Netzes. Bei dieser Darstellungsweise ist die Bedeutung eines Wortes gerade durch seine Stellung innerhalb dieses Netzes bestimmt. Die Einzelheiten der auf Grund der Komponenten zu definierenden Relationen und ihrer Darstellung können hier nicht erörtert werden. Interessant ist jedoch, daßH. Clark (1970) die typischen Erscheinungen freier Wortassoziation auf der Grundlage solcher Komponentenbeziehungen interpretieren konnte: Von der dekodierten Bedeutungsstruktur des Stimulusworts wird durch Veränderung eines möglichst geringen Teils der Komponentenstruktur zu einem im Netz benachbarten Knoten übergegangen und das dort plazierte Wort als Antwort kodiert. In der skizzierten Komponentenstruktur der Wortbedeutung steckt zugleich der Ansatz für ihre Verbindung im Rahmen syntaktischer Konstruktionen. Gemeint sind die Variablen, die in den Komponenten auftreten und die innerhalb der Bedeutungsstruktur lexikalischer Einheiten mit Indizes versehen sind, die auf syntaktische Funktionen verweisen. Diese Funktionen - in den Beispielen (21) bis (24) sind das S, O und P für Subjekt, Objekt und Präpositionalergänzung - beziehen sich auf Konstituenten-Konfigurationen der syntaktischen Tiefenstruktur, in die ein Wort eingeführt werden kann. XQ besagt in diesem Sinn, daß an dieser Stelle die Bedeutungsstruktur einzusetzen ist, die dem Objekt des betreffenden Verbs zugeordnet ist. Für Xg ist entsprechend die semantische Struktur des Subjekts zu substituieren. Diese Substitutionsoperation legt den semantischen Effekt der entsprechenden syntaktischen Ver50
kniipfungen fest. Sind Subjekt oder Objekt selbst syntaktisch komplex, so ist deren Bedeutungsstruktur zuvor durch analoge Substitutionen innerhalb dieser Konstituenten zu erzeugen. Angewendet auf alle indizierten Variablen ergibt diese schrittweise Substitution die zusammenhängende Bedeutungsstruktur eines ganzen Satzes wie auch aller seiner Tiefenstrukturkonstituenten. Das Ergebnis ist eine komplexe semantische Komponentenstruktur, die die Struktur eines Sachverhalts oder Vorgangs, der beteiligten Objekte und ihrer B e ziehungen repräsentiert, soweit sie durch den gegebenen Satz erfaßt und wiedergegeben werden. Auf der Grundlage der so charakterisierten semantischen Repräsentationen lassen sich verschiedene semantische Eigenschaften und Relationen von Sätzen definieren. So sind zwei Sätze S^ und Sg bedeutungsgleich oder synonym genau dann, wenn sie die gleiche Bedeutungsstruktur haben. Das kann auch für Sätze mit ver schiedenen Tiefenstrukturen gelten: Hans wachte allmählich auf und Hans wurde allmählich wach sind ein Beispiel dafür. Ein Satz S j enthält semantisch einen Satz S2, wenn die semantische Repräsentation von Sg Teil der Repräsentation von S j ist. So enthält Hans weckte Fritz semantisch den Satz Fritz wurde wach. Weiterhin können zwei Sätze mit verschiedenen semantischen Repräsentationen semantisch äquivalent sein, wenn entsprechende Äquivalenzbeziehungen für semantische Komponenten festgelegt werden. So sind etwa Hans ist größer als Fritz und Fritz ist kleiner als Hans äquivalent auf Grund einer Äquivalenzrelation folgender Art: (GRÖSSER X Y)=(KLEINER Y X). Auf den Unterschied von Synonymie und semantischer Äquivalenz und einige Folgen aus diesem Unterschied komme ich in 3. 3. und 3. 4. zurück. Die damit umrissene Form der Wortbedeutungen und ihrer Verknüpfung zur Bedeutung von Sätzen ist in verschiedenen Konzeptionen detaillierter entwickelt worden. Die hier gegebene Darstellung folgt in groben Zügen den A r beiten von Katz (1966, 1972), Bierwisch (1970) und Kintsch (1972, 1974). Sie soll mit drei allgemeineren Bemerkungen abgeschlossen werden. (i) Aus der syntaktisch gesteuerten Kombination von Wort- zu Satzbedeutungen ergibt sich unmittelbar, daß die Bedeutungsstrukturen von Lexikoneinheiten und von syntaktischen Verbindungen Gebilde gleicher Art, nämlich 51
Hierarchien semantischer Komponenten sind. Der Unterschied ist im wesentlichen der, daß die Bedeutungen lexikalischer Einheiten freie Variable enthalten, die in der Bedeutung syntaktischer Verbindungen schrittweise durch eingebettete Komponentenstrukturen belegt werden: wecken hat zwei freie, syntaktisch indizierte Variable, von denen in den Freund wecken eine durch die Bedeutung von den Freund belegt ist, und in (daß) die Kinder den Freund g wecken sind beide Variable durch semantische Teilstrukturen belegt. (ii) Hierarchiebildung und strukturabhängige Operationen sind Grundprinzipien auch der semantischen Strukturbildung: Die Komponentenverknüpfung sowohl in Wort- wie Satzbedeutungen folgt dem Hierarchieprinzip. Semantische Strukturen lassen sich deshalb ebenso wie syntaktische Strukturen durch Baumdiagramme .darstellen. Und strukturabhängige Operationen sind die Grundlage für die Verknüpfung der Wort- zu Satzbedeutungen, wobei die oben umschriebene Einsetzung von Teilstrukturen für indizierte Variable sowohl auf syntaktische wie auf semantische Hierarchiezusammenhänge Bezug nimmt. Die Indizes wie Objekt, Subjekt usw. sind syntaktische, die Variablen selbst semantische Bedingungen der Operation; die Operation selbst besteht in der Einsetzung einer Struktur in eine andere. Vergleicht man synonyme Sätze wie Hans weckt Fritz und Hans macht Fritz wach, so ist die Parallelität strukturabhängiger Operationen in Syntax und Semantik noch an der Form der Sätze ablesbar. Auch ohne auf Einzelheiten einzugehen, läßt sich feststellen: Was im ersten Fall durch die Variablen einer Lexikoneinheit, nämlich wecken, gebunden wird, verteilt sich im zweiten auf die Variablen von wach und machen. (iii) Semantische Komponenten, die zwei Variable enthalten, reflektieren eine Relation zwischen den betreffenden Individuen bzw. Sachverhalten und erfassen damit Situationszusammenhänge, die im Fall syntaktisch indizierter Variabler zugleich zu semantisch interpretierten Relationen im Satzzusammenhang werden. Die wichtigsten dieser zugleich syntaktisch und semantisch wirksamen Relationen sind von Fillmore (1968) und anderen Autoren als Kasusrelationen klassifiziert worden. So ist etwa die erste Variable in der komplexen Komponente (BEWIRKEN X Y) der Aktor des durch die Komponente klassifizierten Vorgangs, genauer, X steht in der Relation Aktor 52
zu Y. Bestimmte Konfigurationen semantischer Komponenten spiegeln damit definierbare Rollenstrukturen innerhalb eines klassifizierten Sachverhalts, und die verschiedenen begrifflichen Strukturen, die den Vinterschiedlichen Sachverhalten zugeordnet werden, lassen sich, wie Klix (1975) gezeigt hat, auf dieser Grundlage ihrerseits klassifizieren.
2. 6.
Die psychologische Begründung der Sprachstruktur
Die phonetische Struktur beiseite lassend, haben wir für natürliche Sprachen drei Strukturebenen charakterisiert: die syntaktische Oberflächenstruktur, die syntaktische Tiefenstruktur und die semantische Struktur (die ihrerseits auf sensorische und motorische Gedächtnisstrukturen bezogen ist). Dabei wurden zwei Grundprinzipien der Strukturbildung - Hierarchiebildung und strukturabhängige Operationen - als konstitutiv betrachtet. Es ist offensichtlich, daß diese Ebenen und die Prinzipien ihrer Strukturierung nicht einfach den sprachlichen Äußerungen oder dem beobachtbaren Sprachverhalten entnommen werden können. Die Strukturebenen und -prinzipien sind vielmehr theoretische Annahmen, auf Grund deren empirische Befunde analysiert und experimentelle Untersuchungen angelegt und interpretiert werden können. Sie müssen deshalb als Annahmen gerechtfertigt und begründet werden. Diese Begründung betrifft unmittelbar auch den Zusammenhang von Sprache und Gedächtnis und soll deshalb in Umrissen diskutiert werden. Zunächst sei darauf hingewiesen, daß keine der illustrierten Annahmen von vornherein selbstverständlich ist. Eine drastische, aber keineswegs fiktive Alternative zum Prinzip der Hierarchiebildung zum Beispiel ist das der rein linearen Verknüpfung von Grundeinheiten. Die Annahme bildet die Grundlage der behavioristischen Theorie von Erwerb und Gebrauch der Sprache und wird von Autoren wie Staats (1971) in einer lerntheoretischen Formulierung bis heute vertreten. Das Bilden komplexer Äußerungen erscheint dabei als Wirkung von Reiz-Reaktionsmustern, wo ein Wort der Stimulus für das Auslösen des nächsten ist. Diese Art der Strukturbildung ist formal durch 53
eine Markov-Quelle (oder äquivalent einen strikt endlichen Automaten) erfaßbar. Eine weniger drastische Alternative ist die Beschränkung auf Konstituentenhierarchien, ohne die Möglichkeit von Transformationen, also auch ohne die Unterscheidung von Tiefen- und Oberflächenstruktur. Die Syntax einer Sprache kann dann durch eine Phrasenstrukturgrammatik erfaßt werden, die allerdings alle Sätze unbeschadet ihrer transformationellen Verwandtschaft separat erzeugt. Entscheidend ist, daß solche - und viele andere Alternativen - zumindest formal durchgehalten werden können, solange man sich auf Sätze mit festgelegter maximaler Länge beschränkt - eine empirisch immer einzuhaltende Bedingung. Die Annahme prinzipiell stärkerer Mechanismen, mehrerer Strukturebenen und abstrakter Entitäten muß also entsprechend begründet werden. Der entscheidende Punkt der Begründving wurde bereits erwähnt: Die größere Ökonomie oder Einfachheit der Beschreibung, die durch die stärkeren Mechanismen erreicht wird. Dieser Gesichtspunkt ist nun noch etwas schärfer zu fassen. In Rede steht hier nicht ein willkürliches Prinzip formaler Einfachheit, sondern ein empirischer Zusammenhang. Die Einfachheit der Charakterisierung sprachlicher Strukturen und ihrer Repräsentation im Gedächtnis soll so genau wie möglich der Art der Einfachheit entsprechen, die durch die Arbeitsweise des Gedächtnisses selbst determiniert wird. Wenn wir also eine Lautfolge nicht einfach durch eine Verkettung von Wörtern charakterisieren, sondern ihr die viel komplexere Repräsentation mehrerer, durch strukturabhängige Operationen miteinander verbundener Hierarchien zuordnen, dann muß diese Charakterisierung im Hinblick auf die Verarbeitung der Lautfolge und ihre Repräsentation im Gedächtnis die einfachere sein, sie muß den Mechanismus der Sprachproduktion und -perzeption und ihren Gedächtnisgrundlagen angemessener sein als die unstrukturierte Wortfolge. Es liegt auf der Hand, daß dabei nicht einzelne, isolierte Sätze, sondern Klassen systematisch zusammengehöriger Ausdrücke in Betracht zu ziehen sind. Überlegungen dieser Art liegen mehr oder weniger explizit nicht nur der linguistischen und psycholinguistischen Theoriebildung zugrunde, sondern allen Fragestellungen im Bereich der kognitiven Psychologie. Für die Linguistik sind ihre Konsequenzen am klarsten formuliert worden von N. Chomsky (1965), 54
der auf ihrer Grundlage eine erklärende Theorie der bloßen Beschreibung sprachlicher Fakten gegenüberstellt. In einer erklärenden Theorie müssen die postulierten Strukturen und Regeln einerseits (extern) durch die direkt beobachtbaren Fakten, andererseits (intern) durch generelle Strukturprinzipien gerechtfertigt werden können. Und diese Prinzipien müssen die Art spiegeln, in der sprachliche Strukturen und die ihnen zugrunde liegenden Kenntnisse und Prozesse im Gedächtnis organisiert werden. Methodologisch gesehen entspricht diese Feststellung der allgemeinen Tatsache, daß wissenschaftliche Beschreibungen durch die beobachtbaren Sachverhalte allein unterbestimmt sind, so daß die Theoriebildung zusätzliche Erklärungsprinzipien erfordert, die im Bereich der kognitiven Psychologie wesentlich als Annahmen über die Funktionsweise psychischer Mechanismen, insbesondere auch des Gedächtnisses, zu fassen sind. Im Bereich sprachlicher Erscheinungen heißt das, daß die angenommenen Funktionsprinzipien zusammen mit den Gegebenheiten der Umwelt den Verlauf und das Resultat des Spracherwerbs, also die Struktur des entstehenden Gedächtnisbesitzes, determinieren müssen. Nur soweit sie sich als Erklärungsgrundlage in diesem Rahmen bewährt, ist die Einfachheit, die sich z . B . aus dem Prinzip grammatischer Transformationen und aus entsprechenden abstrakten Strukturebenen für die Sprachstruktur ergibt, empirisch von Belang und mehr als formale Eleganz. Und erst auf diesem Hintergrund gewinnen experimentelle Untersuchungen zur Gültigkeit der Annahmen über Hierarchiebildung oder Transformationsoperationen ihre eigentliche Aussagekraft. Der Zusammenhang von Sprache und Gedächtnis ist damit auf sehr grundsätzliche Art hergestellt. Einerseits können nur solche Annahmen über allgemeine Züge der Sprachstruktur als inhaltlich begründet gelten, die mit unabhängigen Einsichten in die Funktionsweise des Gedächtnisses in Einklang sind. Andererseits können die komplexen, reich strukturierten Erscheinungen sprachlicher Leistungen zu Bestätigungen, Modifizierungen oder Spezifizierungen von Hypothesen über Prinzipien der Gedächtnisbildung führen. E t was einfacher gesagt: Weil die Sprache an Gedächtnis gebunden ist, betreffen Erklärungsgrundlagen der Sprache immer auch bestimmte Gedächtnisleistungen. 55
Der letztgenannte Punkt ist besonders dann von Interesse, wenn man in Betracht zieht, daß die allgemeinen Strukturprinzipien zu spezifischen Konsequenzen für detailliertere Annahmen führen müssen, z. B. bezüglich syntaktischer Kategorien, semantischer Komponenten, syntaktischer und s e m a n tischer Relationen oder Limitierungen strukturabhängiger Operationen, und wenn weiterhin begründete und nicht triviale Alternativen für speziellere P r i n zipien der sprachlichen Strukturbildung formuliert werden. Solche Alternativen haben sich in den letzten Jahren mehrfach ergeben, so z . B . bezüglich der genaueren Fixierung des Status der syntaktischen Tiefenstruktur als Vermittlung zwischen Semantik und Oberflächenform von Sätzen. Für Einzelheiten, auf die hier nicht eingegangen werden kann, vgl. etwa N. Chomsky (1972).
3.
Sprachstruktur und Satzgedächtnis
Die Frage, die in diesem Abschnitt behandelt werden soll, betrifft die Rolle der verschiedenen Strukturebenen beim Behalten und Reproduzieren sprachlicher Information. Gemeint ist hier nicht die Aneignung von Sprachkenntnis, sondern deren Funktion bei der Informationsaufnahme. Diese Frage wird psycholinguistisch zumeist unter dem Gesichtspunkt der psychologischen R e a lität jeweils bestimmter Aspekte der Sprachstruktur und gedächtnispsychologisch unter dem Gesichtspunkt der Organisation von Gedächtnisbesitz gestellt. Beide Gesichtspunkte hängen eng zusammen und sollen hier auch nicht separat diskutiert werden.
56
3.1.
Vorüberlegungen zur Analyse des Satzgedächtnisses
Sollen die klassischen Paradigmen der Gedächtnispsychologie - Wiedererkennung und Reproduzieren erlernten Materials - auf Sätze angewendet werden, so ist es zweckmäßig, vom besonderen Status von Sätzen als Gedächtniseinheiten auszugehen. Die Anfänge der experimentellen Gedächtnispsychologie konzentrierten sich auf das Memorieren von Listen und Folgen unbekannter Einheiten, in der Regel sinnloser Silben. Der geprüfte Gedächtnisbesitz gehörte - nach Tulvings Einteilung - ausschließlich zum episodischen Gedächtnis. Die Modifikation im verbalen Lernen bestand im Benutzen bereits bekannter, sinnvoller Einheiten. Bei den Wortlisten und Wortfolgen sind die Elemente bereits Bestandteile des semantischen Gedächtnisses, zum episodischen Gedächtnis gehört nur die Tatsache ihres Vorkommens in einer bestimmten Liste und ihre relative Plazierung in ihr. Die Bedingungen des episodischen und des semantischen Gedächtnisses wirken also zusammen. Kintsch (1974) hat ein allgemeines Modell zur Beschreibung dieses Zusammenwirkens angegeben. Sätze bilden nun als Einheiten einen dritten Typ: Sie sind im allgemeinen weder bereits Gedächtnisbesitz wie Wörter, noch unbekannt wie sinnlose Silben. Wichtig ist dabei, daß sie Einheiten sind und nicht Listen von Wörtern. Sie sind jedoch, wie in 2.1. erörtert wurde, nicht abrufbare, sondern zu erzeugende Einheiten. Fixiert werden sie zunächst als episodischer Gedächtnisbesitz. Zum semantischen Gedächtnis gehören lediglich ihre Bestandteile und g Strukturprinzipien. Das Einprägen von Sätzen bzw. Satzlisten beruht anders als das Lernen von Folgen sinnloser Silben - auf dem Zusammenspiel von episodischem und semantischem Gedächtnis. Doch unterscheidet sich dieses Zusammenspiel grundsätzlich von dem beim Lernen von Wortlisten. Zu fragen ist also nach der Art dieses Zusammenwirkens, und spezieller nach der Wirkung der im vorigen Abschnitt behandelten Aspekte der Sprachstruktur. Diese Frage ist in geeignete, experimentell untersuchbare Teilfragen aufzugliedern. Ein Satz ist eine Einheit auf Grund seiner syntaktischen Organisation und seiner von ihr determinierten Bedeutungsstruktur. Die syntaktische Organi57
Bation weist wiederum zwei Strukturebenen auf: die Oberflächenstruktur, die durch phonologische (bzw. graphemische) Regeln mit der phonetischen (oder graphischen) Realisation des Satzes und so schließlich mit der Signalstruktur verbunden ist, und die Tiefenstruktur, deren abstrakte syntaktische Relationen die semantischen Zusammenhänge im Satz vermitteln. Zu prüfen ist nun, welche dieser drei Strukturebenen die Repräsentation von Sätzen im Gedächtnis determiniert. Das ist möglich, da alle drei Ebenen in kontrollierbarer Weise relativ zueinander variieren können. Mit diesen Überlegungen ist der Rahmen abgesteckt, in dem sich die experimentelle Untersuchung des Satzgedächtnisses im wesentlichen bewegt. Präzisierungen werden im folgenden angegeben. Es liegt auf der Hand, daß mit der Auswirkung auf die Gedächtnisfixierung keineswegs alle Funktionen sprachlicher Strukturbildung erfaßt sind: Phonologische oder syntaktische Eigenschaften können sehr wohl im Perzeptions- oder Produktionsprozeß entscheidende Funktionen haben und also indirekt die Gedächtnisbildung beeinflussen, ohne in Gedächtnisexperimenten faßbar zu sein.
3. 2.
Tiefenstruktur und Oberflächenstruktur
Äußerungen werden im Normalfall wegen ihrer Bedeutimg, nicht wegen der sie tragenden Lautfolge produziert und perzipiert. Im Hinblick auf ihre syntaktische Struktur legt das die Vermutung nahe, daß die für die semantische Struktur relevante Tiefenstruktur eine stabilere Gedächtnisrepräsentation er>fährt als die Oberflächenstruktur, von der die phonetische Realisation abhängt. Diese Hypothese wurde in verschiedenen Experimenten untersucht. Einen relativ einfachen Zugang bildet die Prüfung der Konfusionsrate bei Wiedererkennungsleistungen. Experimente dieser Art hat u.a. Anderson (berichtet in Anderson and Bower 1973, S. 228 ff.) vorgenommen. Innerhalb einer Liste von 60 Sätzen wurde den Probanden ein Satz vom Typ (25) geboten, und 10 Minuten später wurden sie aufgefordert, unter den vier Sätzen (25) bis (28) den gehörten Satz zu identifizieren. 58
(25) (26) (27) (28)
The The The The
boy was hit by the girl. girl hit the boy. boy hit the girl. girl was hit by the boy.
50, 7 % 25
%
12, 5 % 11, 8 %
Von diesen vier Sätzen haben (25) und (26) eine, (27) und (28) eine andere jeweils gemeinsame Tiefenstruktur. In der Oberflächenform weicht (26) am stärksten vom Originalsatz ab. (25) und (27) haben die Reihenfolge der No,minalgruppen gemeinsam, (25) und (28) die Passivform. Die angegebenen Prozentzahlen zeigen, wie häufig die vier Satztypen bei der Wiedererkennung gewählt wurden. Wesentlich ist dabei der falsche Alarm bei (26), der trotz der am stärksten vom Original abweichenden Oberflächenform dieses Satzes einen genauso großen Anteil avismacht wie der falsche Alarm bei den beiden anderen Nichtoriginalsätzen zusammen. Die Annahme, daß die Tiefenstrukturinformation relevanter für die Gedächtnisleistung ist als die Oberflächenform, wird durch die Resultate bestätigt. Ähnliche Ergebnisse hatte bereits Sachs (1967) gefunden. In ihrem Experiment war der Testsatz nicht in eine Liste, sondern in eine zusammenhängende Satzfolge eingebettet. Die Darbietung der Folge wurde an bestimmter Stelle unterbrochen und ein Satz geboten, der entweder (a) mit dem Restsatz identisch war oder (b) von seiner Oberflächenform durch die Aktiv-Passivtransformation oder (c) durch eine andere, weniger einschneidende Transformation abwich oder (d) eine andere Tiefenstruktur (und damit zugleich eine andere Bedeutung) hatte. Die Probanden hatten zu entscheiden, ob sie den eingeschobenen Satz zuvor gehört hatten. Sie entdeckten Abweichungen mit über 90 %, wenn der Vergleichssatz unmittelbar nach dem Original geboten wurde. Wenn beide durch einmal 80, einmal 160 Silben intervenierenden Textes getrennt waren, wurden Aktiv-Passiv-Veränderungen mit wenig mehr als Zufallshäufigkeit, nämlich 60 % entdeckt, schwächere Oberflächenveränderungen gar nicht. Dagegen wurden Tiefenstrukturveränderungen weiterhin mit 80 % erkannt. Es zeigt sich, daß das Gedächtnis für Eigenschaften der Oberflächenstruktur nur kurzfristig anhält, während das für semantisch relevante Tiefenstruktureigenschaften über die Zeit und interferierende Informationen hinweg relativ stabil ist.
59
Diese Annahme hatte Miller schon früher auf Grund anderer Befunde f o r muliert und weiterhin angenommen, daß syntaktische Information über einen Satz in Form seiner Tiefenstruktur plus einer Markierung der angewandten Transformationen gespeichert wird. Dabei wäre dann die Tiefenstruktur ein stabiler, die Transformationsmarkierung ein labiler Zug der Gedächtnisfixierung. Von dieser Vermutung gingen Savin und Perschonok (1965) in einem interessanten Experiment aus, in dem den Probanden ein Satz und anschließend acht isolierte Wörter geboten wurden mit der Aufforderung, den Satz und soviel wie möglich von den Einzelwörtern zu reproduzieren. Die Testsätze waren so konstruiert, daß sie sich in der Zahl der involvierten Transformationen u n t e r schieden (und damit in der mutmaßlich für die Speicherung der T r a n s f o r m a tionsmarkierungen verbrauchten Gedächtniskapazität). Die Experimentannahme, daß transformationell komplexe Sätze die Reproduktion einer geringeren Zahl zusätzlicher Wörter erlauben als transformationell einfachere Sätze, wurde eindrucksvoll bestätigt. Später zeigte sich jedoch,, daß das Experiment, das p r i m ä r auf die Untersuchung der transformationellen Komplexität und nur indirekt auf die des Satzgedächtnisses gerichtet war, die entscheidende Annahme, daß Transformationen Gedächtniskapazität besetzen, nicht stützt. In einer Wiederholung des Experiments, in der die Probanden die isolierten Wörter nicht nach, sondern vor dem gelernten Satz zu reproduzieren hatten, fand Epstein (1969), daß die Korrelation zwischen der Zahl der T r a n s f o r m a tionen und der Zahl der reproduzierten Wörter verschwand, ein mit der Hypothese nicht vereinbarer Befund. Nimmt man also im Sinn der Experimentergebnisse von Anderson, Sachs u. a. an, daß Oberflächenstrukturen im Satzgedächtnis nicht fixiert werden, sondern auf Anforderung von der Tiefenstruktur ausgehend neu erzeugt w e r den, dann muß das flüchtige, aber in Grenzen doch mögliche Behalten spezieller Eigenschaften der Oberflächenstruktur anders erklärt werden als durch Fixierung von Transformationsangaben. Es liegt nahe, daß das akustische Kurzzeitgedächtnis dabei eine wesentliche Rolle spielt. Auf seinen Inhalt ist die Oberflächenstruktur direkt bezogen. Dennoch ist damit nicht alles e r faßt. In einer sehr differenzierten Untersuchung des Gedächtniseffekts der Aktiv-Passiv-Distinktion konnten Anderson and Bower (1973, S. 224-228) 60
zeigen, daß dabei die Einbettung eines Satzes einmal in eine Liste von Sätzen, einmal in eine zusammenhängende Geschichte einen bestimmten Einfluß hat: Bei Satzlisten spielte die Oberflächeneigenschaft eine größere Rolle als bei zusammenhängenden Texten gleicher Länge. Ausgewertet wurde in diesem Experiment die Reaktionszeit für die wahr/falsch-Bewertung eines Kontrollsatzes, der mit dem Textsatz bezüglich der Aktiv-Passivform einmal übereinstimmte, einmal nicht. Etwas vereinfacht scheint das zu bedeuten, daß bei isolierten Sätzen mehr Aufmerksamkeit auf äußere Eigenschaften der Sätze verwendet wird, was entsprechende Gedächtnisrelikte erzeugt. Eine weniger an spezielle Anforderungen gebundene Stütze für die Gedächtnisfixierung der Ober fläche nstruktur dürfte die eigenständige Organisation der Lautstruktur durch Ordnungsmuster wie Reim und Metrik oder der O b e r flächenstruktur durch syntaktische und lexikalische Parallelismen sein, wie sie in der Poesie, aber auch in Slogans und anderen Formen gebundener Rede auftreten. Auch wer Brechts Gedicht "Auf einen chinesischen Teewurzellöwen" nicht kennt, wird beim Wiedererkennen oder Reproduzieren (29) nicht mit der vergleichsweise amorphen Variante (30) konfundieren: (29)
Die Schlechten fürchten deine Klaue. Die Guten freuen sich deiner Grazie.
(30)
Deine Klaue wird von den Schlechten gefürchtet. Die Guten freuen sich deiner Grazie.
E s scheint, daß Faktoren dieser Art im Satzgedächtnis nicht experimentell untersucht wurden, möglicherweise weil ihr Ergebnis auf der Hand liegt. Dennoch könnte an ihnen eine interessante Fragestellung geprüft werden, nämlich ob und wie regelhafte Muster der formalen Seite, insbesondere der phonologischen und der syntaktischen Oberflächenstruktur von Sätzen im Gedächtnis fixiert werden und ihrerseits die Bedeutungsstruktur organisieren. Dies wäre ein (nicht nur für die Wirkung von Gedichten wichtiger) Sonderfall, in dem die sonst beobachtete Richtung der Abhängigkeit zwischen verschiedenen Strukturierungsebenen umgekehrt wäre. Jenseits solcher Spezialbedingungen aber ist die Tiefenstruktur - unbeschadet beiläufiger Anteile der Oberflächenstruktur - die stabilere Repräsentationsform im Satzgedächtnis. Verschiedene Experimente haben das außer für das 61
Wiedererkennen auch für das Reproduzieren von Sätzen gezeigt. Erwähnt sei hier eine Untersuchung von Blumenthal und Boakes (1967), die von folgender Überlegung ausgeht: Ein Wort ist als Auslöser (cue) für das Reproduzieren eines Satzes um so wirksamer, je höher es in der syntaktischen Konstituentenhierarchie steht, je "weiter" gewissermaßen sein Geltungsbereich ist. Diese Stellung in der syntaktischen Hierarchie kann durch Transformationen zwischen Tiefen- und Oberflächenstruktur verschoben werden. So bilden tailors bzw. hand in (31) und (32) in der Oberfläche gleichermaßen Teilkonstituenten der Verbgruppe, in der jeweiligen Tiefenstruktur, die unter (b) angegeben ist, gehört dagegen nur hand als Teil zur Verbgruppe, während tailors höher steht und Subjekt des Satzes ist. (31)
(a) Gloves were made by tailors. (b) ((tailors)jjp ((made)^. (gloves)jj p )y p )g Auslöser: tailors (weiter Geltungsbereich)
(32)
(a) Gloves werde made by hand. (b) ((someone) N p ((made) y (gloves) N p (by h a n d ) p p ) v p ) s Auslöser: hand (enger Geltungsbereich)
Geht das Reproduzieren von Sätzen von der Tiefenstruktur aus, dann muß nach der Ausgangsannahme tailors ein effektiverer Auslöser für (31) sein als hand für (32). Das Experiment bestätigte diese Annahme für eine ganze Reihe verschiedener Paare von Satzstrukturen. Auf Grund aller einschlägigen Untersuchungen läßt sich resümierend f e s t stellen, daß das Satzgedächtnis nicht oberflächenorientiert ist, daß die O b e r flächenstruktur mithin vornehmlich die Prozesse der Produktion und P e r z e p tion von Sätzen vermittelt. Zu fragen bleibt, ob das Satzgedächtnis im s t r e n geren Sinn tiefenstrukturorientiert ist.
3.3.
Semantische Struktur und Tiefenstruktur
Die Frage stellt sich aus zwei Gründen. E r s t e n s lassen alle Resultate, die für den Vorrang der Tiefenstruktur sprechen, auch eine Interpretation zu62
gunsten der semantischen Struktur zu: Aktiv- und Passivsätze z. B. haben nicht nur die gleiche Tiefenstruktur, sondern auch die gleiche Bedeutung, eine Feststellung, die sich aus prinzipiellen Gründen auf alle Sätze mit gleicher Tiefenstruktur ausdehnen läßt. Und auch Tiefenstrukturunterschiede der von Blumenthal und Boakes benutzten Art sind auf parallele Differenzen in der Hierarchie der semantischen Komponenten projizierbar: Die Bedeutung von tailors hat semantisch einen höheren Rang in (31) als die von hand in (32). Und zweitens legt die Feststellung, daß Äußerungen wegen ihrer Bedeutung gemacht werden, allgemein den weiteren Schritt nahe, daß die gesamte syntaktische Organisation, nicht nur die Oberflächenstruktur, für das Satzgedächtnis nicht relevant ist, soweit sie nicht in die semantische Struktur selbst eingeht. Zahlreiche Autoren, so z.B. Fillenbaum (1973) in einem detaillierten Überblick über Analysen zum Satzgedächtnis, vertreten in diesem Sinn die Auffassung, daß Sätze für das Gedächtnis komplexe semantische, nicht syntaktische Einheiten sind, deren syntaktische Organisation für die Perzeptionsprozesse, nicht für die Speicherung relevant ist. Diese Annahme läßt sich auf verschiedene Weise prüfen. Die direkteste beruht auf der Tatsache, daß zwar gleiche Tiefenstrukturen die gleiche semantische Repräsentation determinieren, daß aber die gleiche semantische Struktur auf verschiedene Tiefenstrukturen projiziert werden kann, indem verschiedene Lexika Iis ierungen benutzt werden. Die Tür ist offen vs. Die Tür ist nicht geschlossen ist ein Beispiel dafür: Die syntaktisch separate Negation des zweiten Satzes ist im ersten in der Bedeutung von offen inkorporiert. ^ Bei Satzpaaren dieser Art hat Fillenbaum (1966) die gleichen Wiedererkennungskonfusionen festgestellt, wie sie am Beispiel (25) bis (28) für Aktiv-Passiv Formen konstatiert wurden. Diese Feststellung aufgreifend, hat Anderson in den in Anderson and Bower (1973) berichteten Experimenten weitere Typen synonymer oder semantisch äquivalenter, aber syntaktisch unterschiedlicher Sätze untersucht, so etwa die folgenden Paare: (33)
(a) The boy gave money to the girl. (b) The girl received money from the boy.
(34)
(a) The blonde is the mother of that baby boy. (b) The blonde gave birth to that baby boy.
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(35)
(a) The garage is newer than the theatre» (b) The theatre is older than the garage.
Die Konfusion innerhalb dieser Paare war durchweg größer als die mit oberflächlich ähnlichen, aber semantisch unterschiedenen Sätzen. Beispiele wie die unter (35) zeigen, daß dabei die semantische Äquivalenz, nicht die Identität der semantischen Repräsentation ausschlaggebend ist. Denn einander entsprechende Sätze mit antonymen Adjektiven wie alt v s . neu, groß vs. klein usw. sind nicht einfach semantisch identisch, sie sind nur durch Äquivalenzbeziehungen miteinander verbunden, wie in Abschnitt 2. 5. bereits e r wähnt. Daß die mit der Herstellung dieser Äquivalenz verbundene semantische Umkodierung einen eigenen Schritt in der Bildung der Gedächtnisrepräsentation darstellt, ergibt sich aus Untersuchungen von H. Clark (1969), in denen den Probanden eine Behauptung und eine Frage geboten und die Reaktionszeit für die richtige Antwort gemessen wurde. Behauptung (36) (37)
Frage
Antwortzeit in Sekunden
Who is b e s t ?
0.61
(b)
Who is worst?
0.68
(a) Pete is worse than John.
Who is b e s t ?
1.00
(b)
Who is worst?
0.62
(a) John is better than Pete.
Die Antwortzeit hängt signifikant davon ab, ob die Frage die gleiche oder die inverse semantische Relation enthält wie die Behauptung. Der Unterschied zwischen (36) und (37) zeigt außerdem, daß die durch die Frage geforderte Umkodierung der Behauptung in der Richtung worse - better in (37 a) mehr Zeit verbraucht als die umgekehrte in (36 b). Dieser zusätzliche Effekt e r gibt sich aus der Asymmetrie der einander entsprechenden inversen Relationen. Der Übergang vom sogenannten markierten Glied eines Antonymenpaars zum unmarkierten ist einfacher als der umgekehrte. ^
Diese hier am soge-
nannten Zwei-Term-Problem illustrierten Erscheinungen konnte Clark analog auch am komplizierteren D r e i - T e r m - P r o b l e m nachweisen, dessen Ausgangs behauptung aus zwei Sätzen der Art John is better than Pete and Pete is better than Dick, besteht.
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Die Experimente Clarks verlangen (a) die Repräsentation der semantischen Struktur der Eingabesätze im Gedächtnis, (b) unmittelbar anschließend die Ermittlung der durch die Frage geforderten Information, also einen Suchprozeß im Gedächtnis, und (c) gegebenenfalls eine Umkodierung der semantischen Repräsentation. Die Notwendigkeit des letzten Schrittes zeigt, daß die semantische Struktur offensichtlich zunächst in der durch die Tiefenstruktur d e t e r minierten Weise repräsentiert ist. Vergleicht man diesen Befund mit den Konfusions-Tests von Anderson, besonders bei Sätzen wie (35), so liegt folgende Schlußfolgerung nahe: Die primäre, durch die lexikalischen Einheiten und ihre Tiefenstrukturrelationen erzeugte semantische Repräsentation, die zunächst nur auf Grund entsprechender Anforderungen umkodiert wird, löst sich im weiteren Verlauf auf Grund gedächtnisinterner Prozesse von der syntaktischen Struktur und nimmt eine für alle semantisch äquivalenten Formulierungen gleichermaßen zugängliche Form an. Die zeitlichen Grenzen für diesen Prozeß sind näherungsweise bestimmbar: Die Antwortzeiten in Clarks Experimenten überschreiten 8 Sekunden nicht, in Andersons Experimenten liegen 10 Minuten zwischen dem Listenerwerb und der Darbietung der Kontrollsätze. Mit anderen Worten, die Prozesse im Satzgedächtnis involvieren im Übergangsbereich zwischen Kurz- und Langzeitgedächtnis eine fortschreitende Lösung nicht nur von der Oberflächenstruktur, sondern auch von der Bindung an lexikalische und syntaktische Faktoren der Tiefenstruktur.
3.4.
Semantische Struktur und Situationsstruktur
Im Satzgedächtnis wird diesen Überlegungen zufolge nicht nur die syntaktische zugunsten der semantischen Repräsentation aufgegeben, sondern diese u n t e r liegt überdies bestimmten Umkodierungen. Noch einen Schritt weiter in dieser Richtung geht die Annahme, daß Sätze gar nicht als sprachliche Einheiten b e halten werden, sondern nur als Ausgangspunkt für den Aufbau einer e n t s p r e chenden Situationsdarstellung im Gedächtnis dienen. Diese "Situationsstruktur" könnte dann gegebenenfalls mehr Information enthalten, als die rein linguisti65
sehe Charakterisierung der Eingabesätze bereitstellt. Diese Annahme haben u . a . Bransdord, Barcley und Franks (1971) formuliert und durch mehrere Experimente zu bestätigen versucht. Ihre Untersuchungen gehen von der Voraussage aus, daß Erkennungs- und Reproduktionskonfusionen auch bei Sätzen auftreten, die verschiedene semantische Strukturen aufweisen, aber zu gleichen Situationsstrukturen führen. Betrachtet wurden zu diesem Zweck unter anderem Satzpaare folgender Art: (38) Three turtles rested beside a floating log, and a fish swam beneath them. (39) Three turtles rested on a floating log, and a fish swam beneath them. Ersetzt man in diesen Sätzen das Pronomen them durch it, das die Position des Fischs nicht auf die Schildkröten, sondern auf den Baumstamm bezieht, so ergeben sich zwei Sätze (38') und (39'), die sich syntaktisch und semantisch von den Originalen völlig parallel unterscheiden. Während sich aber (39) und (39') auf die gleiche Situation beziehen, so daß (39') über die Situationsstruktur aus (39) gefolgert werden kann, gilt das für (38) und (38') nicht. Nach der Ausgangshypothese muß beim Wiedererkennen demnach (39') mit (39) leichter verwechselt werden als (38') mit (38). Geboten wurden in der Lernphase Listen, die Sätze vom Typ (38) und (39) enthielten: nach einer Pause von 3 Minuten wurden den Probanden Listen vorgelegt, die die Originals ätze und die erläuterten Modifikationen enthielten. Die Sätze waren als alt oder neu mit je 5 Sicherheitsgraden zu bewerten. Die Ergebnisse bestätigen die Hypothese signifikant:
Original und Abwandlung situationsgleich
Original
Abwandlung
1.40
1.43
2.22
-0.19
Original und Abwandlung situationsverschieden
Mittlere Erkennungsleistung an Hand einer Schätzskala von -5 bis +5 In einem mit anderen Versuchspersonen durchgeführten Reproduktionsexperiment zeigten Sätze vom Typ (39) nur 57 % korrekte Pronomini , Sätze vom Typ (38) dagegen 76 %. 66
Im Prinzip in die gleiche Richtung, wenngleich auf ganz anderem Weg, weisen Untersuchungen von Kintsch (1974 a) zur Gedächtnisrepräsentation zusammenhängender Texte. Verglichen wurden in dem hier einschlägigen Experiment kurze Paragraphen folgender Form: (41) A carelessly discarded burning cigarette startet a fire. The fire destroyed many acres of virgin forest. (42) A burning cigarette was carelessly discarded. The fire destroyed many acres of virgin forest. Der entscheidende Punkt ist die Teilaussage, daß die brennende Zigarette das Feuer verursacht hat. Sie ist in der semantischen Struktur von (41), nicht aber in der von (42) explizit enthalten. Aus der Situationsstruktur von (41) und (42) muß sie sich jedoch gleichermaßen ergeben, wenn (42) nicht als zusammenhanglose Folge von zwei Sätzen aufgefaßt wird. Die Versuchspersonen wurden deshalb im Anschluß an jeden Paragraphen aufgefordert, über die Wahrheit des Satzes The burning cigarette caused the fire zu entscheiden. (Um eine echte Entscheidung zu bedingen, wechselten Paragraphen, in bezug auf die der Satz zutrifft, mit solchen, auf die er nicht zutrifft.) Es zeigte sich, daß die Probanden die Frage in allen Fällen richtig beantworteten, jedoch mit signifikant verschiedener mittlerer Reaktionszeit: 3, 8 Sekunden bei expliziten, 4, 2 bei impliziten Texten. Wie bei H. Clarks Zwei-Term-Pröblem dürfte die längere Reaktionszeit auf eine zusätzliche Operation im Gedächtnis zurückgehen, nur ist hier nicht eine semantische Struktur in eine äquivalente andere Struktur umzukodieren, sondern aus der - möglicherweise noch un-
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vollständigen - Situationsstruktur die fragliche Teilaussage zu gewinnen. Daraus folgt zugleich die Annahme, daß nach Aufbau der Situationsstruktur und dem Schwinden der syntaktischen Anteile im Gedächtnis die Reaktionszeitdifferenzen aufgehoben sind. Eine Wiederholung des Experiments, bei dem die Fragen erst nach 20 Minuten Ablenkungszeit präsentiert wurden, bestätigte diese Annahme: Die Reaktionszeit betrug nun für explizite und implizite Texte gleichermaßen 4,1 Sekunden. Die Wiedererkennungskonfusion im Experiment von Bransford et al. erlaubt es, den Zeitraum noch etwas enger zu fassen: Darbietungszeit plus Pause liegen dort im Bereich von 6 Minuten.
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Es läßt sich demnach resümieren: Die charakteristische Gedächtnisrepräsentation von Sätzen geschieht in Form von Situationsstrukturen, die auf Grund der semantischen Struktur von Sätzen gebildet werden. Alle nicht in die Situationsstruktur eingehenden Faktoren verschwinden aus dem Gedächtnis, wenn nicht besondere Bedingungen dem entgegenwirken.
3. 5.
Situationsstruktur: Möglichkeiten der Präzisierung
Die im vorigen Abschnitt beiläufig und rein intuitiv eingeführten Situationsstrukturen sollen noch etwas verdeutlicht werden. Sie wurden in Abschnitt 2 nicht erörtert, weil sie sich nicht durch die Analyse der Sprachstruktur bestimmen lassen, wenngleich für bestimmte Aspekte der semantischen Interpretation der Rückgriff auf Zusammenhänge vom Charakter der Situationsstrukturen notwendig zu sein scheint. So hat Lang (1975) bei der Analyse koordinativer Strukturen gezeigt, daß für die verknüpften Glieder solcher Konstruktionen eine "gemeinsame Einordnungsinstanz" erzeugbar sein muß, die selbst nicht Teil der semantischen Repräsentation ist. Der abweichende Charakter von Sätzen wie Der Löwe ist großmütig und gelb oder Hans schläft schon und sieben ist eine Primzahl ergibt sich aus verschiedenartigen Verletzungen dieser Bedingung. Die Kriterien, die diese Einordnungsinstanzen erfüllen müssen, und die Konsequenzen, die sie für die semantische Interpretation von Sätzen haben, hat Lang im einzelnen bestimmt. Sie hängen außer von der semantischen Repräsentation der koordinierten Terme vom Situationszusammenhang und den allgemeinen Kenntnissen ab, über die der Sprecher bzw. Hörer verfügt. Gewisse Annahmen über den Charakter und die Funktion von Situationsstrukturen lassen sich nun unter anderem auch aus den Experimenten der zuletzt vorgestellten Art gewinnen. Zunächst ist wichtig, daß der Terminus Situationsstruktur nicht auf sensorische Gedächtnisinhalte, also "anschauliche" Vorstellungen verweisen soll. Obwohl nicht notwendig an bestimmte sprachliche Einheiten oder Strukturen 68
gebunden, sind die Situationsstrukturen prinzipiell vom gleichen Charakter wie semantische Strukturen, also in dem in 2. 5. skizzierten ¡-¡inn abstrakt. Ihre Projektion auf anschauliche Gedächtnisinhalte ist damit nicht ausgeschlos' ¿r, betrifft aber nur eine Teilklasse möglicher Situationsstrukturen. Für die formale Charakterisierung kommen zwei Möglichkeiten in Betracht, (a) Eine Situationsstruktur wird aufgefaßt als eine Klasse äquivalenter Satzbedeutungen, wobei eine sinnvoll verallgemeinerte logische Äquivalei ..elation, die auf beliebige semantische Strukturen anwendbar ist, zugrunde gelegt werden müßte, (b) Eine Situationsstruktur wird dargestellt durch ein Modell, auf das gerade die zu einer Äquivalenzklasse im Sinn von (a) gehörenden semantischen Strukturen zutreffen. Dabei ist "Modell" im Sinn der mathematischen Logik zu verstehen als eine Menge von Objekten mit gewissen Eigenschaften und Relationen, in bezug auf die eine gegebene Menge von Aussagen wahr ist. Vgl. etwa Tarski (1935). Für bestimmte logische Systeme hat Hintikka (1969) gezeigt, wie mittels sogenannter "Model sets" die durch (a) und (b) angedeuteten Darstellungsformen aufeinander bezogen werden können. Etwas vereinfacht gesagt ist ein Model set die vollständige Menge aller Aussagen, die mit einem gegebenen Modell im Sinn (b) verträglich sind, wenn man dabei ein bestimmtes Beschreibungssystem voraussetzt. Ein Model set ist auf Grund festgelegter Regeln konstruierbar. Sehen wir die Menge möglicher semantischer Strukturen als ein solches Beschreibungssystem an, dann sind Model sets systematische Vervollständigungen der unter (a) angenommenen Klassen äquivalenter Strukturen. Als Modelle sowohl wie als (mehr oder weniger vollständige) Model sets sind Situationsstrukturen nicht mehr generell durch hierarchische Strukturen repräsentierbar. Statt der Baumstruktur der semantischen Repräsentation von Sätzen ergeben sich jetzt allgemeinere Netz- oder Graphenstrukturen, 13 von denen Baumstrukturen ein Spezialfall sind. Damit hängt weiterhin die Tatsache zusammen, daß Situationsstrukturen keine Abgrenzung zwischen einzelnen Sätzen enthalten, falls sie auf mehreren Eingabesätzen beruhen. Mit anderen Worten: Während semantische Strukturen an Sätze und deren syntaktische Organisation gebunden sind, wer-
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den Situationsstrukturen gegebenenfalls auf der Grundlage von Texten organisiert, ohne Sätze als separate Einheiten zu respektieren. Für den letzten Punkt sprechen unter anderem Experimente von Bransford und Franks (1972), bei denen mehrere Sätze geboten wurden, die einen zusammenhängenden Sachverhalt beschreiben. Bei der Wiedererkennung zeigte sich, daß die Versuchspersonen die verschiedenen möglichen Aufgliederungen der Gesamtbeschreibung in Einzelsätzen nicht vom Original unterscheiden. Auf anderem Wege die gleiche Schlußfolgerung ergeben Kintschs Resultate mit impliziten Texten wie (42), wo nicht die Bedeutung der einzelnen Sätze, sondern die auf ihrer Grundlage konstruierte gemeinsame Situationsstruktur 14 die Bewertung der später erfragten Aussage determiniert. Alle diese Bemerkungen zur Situationsstruktur sind sehr provisorisch, sie geben eher die Richtung für notwendige Klärungen an, als daß sie den Charakter gesicherter Annahmen hätten. Mit diesem Vorbehalt gestatten sie die folgende Fortführung der resümierenden Überlegungen am Ende des vorigen Abschnitts: Satzbedeutungen führen im Gedächtnis zur Konstruktion von Situationsstrukturen, in die sie (direkt oder in entsprechend umkodierter Form) integriert werden. Idealtypische Situationsstrukturen wären Model sets, die auf Grund der semantischen Struktur der Eingabesätze konstruiert werden. Die Regeln für die Konstruktion solcher Strukturen sind formal bestimmbar als geeignete Erweiterungen der von Hintikka angegebenen Konstruktionsregeln für Model sets. Bei ihrer Anwendung wird nicht nur die semantische Struktur der Eingabesätze, sondern auch bereits vorhandener Gedächtnisbesitz berücksichtigt, so daß die resultierende Situationsstruktur Aussagen ermöglichen kann, die die Eingabesätze selbst nicht enthalten. Kintschs Experiment mit impliziten Texten illustriert diesen Effekt. Dabei ist anzunehmen, daß Situationsstrukturen im allgemeinen die idealtypische Vollständigkeit nicht besitzen. Im einfachsten Grenzfall fällt die Situationsstruktur mit der semantischen Repräsentation des Satzes zusammen.
70
4.
Strukturbildungsprozesse im Satzgedächtnis
Die Fragen und Experimente, die im vorigen Abschnitt behandelt wurden, b e ziehen sich primär auf die Strukturen, die bei der Verarbeitung von Sätzen im Gedächtnis identifiziert werden können. Im folgenden sollen die dabei stets involvierten Prozesse ihres Aufbaus und ihrer Umformung, der dynamische Aspekt des Satzgedächtnisses, betrachtet und etwas verdeutlicht werden.
4.1.
Verstehen und Behalten von Sätzen
Die Strukturebenen, die ich erörtert und, soweit möglich, durch charakteristische Experimentergebnisse belegt habe, lassen sich funktionell zunächst in zwei komplexe Prozesse des Sprachverstehens einordnen. (a) Ausgehend von der phonetischen (oder graphischen) Struktur eines Satzes, die im akustischen (bzw. optischen) Kurzzeitgedächtnis fixiert wird, wird über die syntaktische Oberflächen- und Tiefenstruktur die semantische Repräsentation ermittelt und eine entsprechende Situationsstruktur aufgebaut. (b) Diesem Prozeß des Aufbaus von Strukturen folgt ein Abklingen der Gedächtnisfixierung, wobei den Situationsstrukturen die höchste Wahrscheinlichkeit für die Fixierung im (episodischen) Langzeitgedächtnis zukommt. Der unter (a) genannte Prozeß hängt entscheidend von der Kenntnis der grammatischen Regeln einer gegebenen Sprache ab. Zu ihnen gehören grundsätzlich auch die Lexikoneinheiten, durch die Wortformen, d.h. phonologische (bzw. graphemische) Teilfolgen als syntaktische Einheiten identifiziert tmd auf semantische Teilstrukturen abgebildet werden. Insgesamt legen die Regeln der Grammatik fest, wie die verschiedenen Strukturebenen möglicher Sätze aufgebaut und aufeinander bezogen sind. Im Rahmen des hier betrachteten Prozesses operieren sie allerdings nicht in einzelnen, zeitlich aufeinanderfolgenden Schritten, sondern in Form komplexer Perzeptionsstrategien, die den Effekt bestimmter Gruppen von Regeln funktional zusammenfassen. Solche 71
Perzeptionsstrategien hat zuerst Bever (1970) näher betrachtet und empirisch belegt. Die Möglichkeit, sie systematisch als Wirkungsweise grammatischer Kenntnis im Sprachperzeptionsprozeß darzustellen, habe ich in Bierwisch (1975) diskutiert. Weiterhin wird der Prozeß (a) nicht notwendig von unten nach oben durchlaufen, wenn die phonetische Struktur als untere und die Situationsstruktur als höchste Stufe betrachtet wird. Umgekehrte Determinationen sind charakteristisch und durch verschiedenartige Experimente belegt. Vgl. Bever (1970) und Bierwisch (1975) für entsprechende Überblicke. Mit anderen Worten: Die Organisation niedrigerer Strukturen auf Grund von Vorgaben durch oder Vorgriffen auf höhere Stufen wirkt sich, wie in anderen Perzeptionsprozessen, auch im Satzverständnis aus. Obwohl dabei der semantischen bzw. der Situationsstruktur eine besondere Rolle zukommt, muß jedoch die Ermittlung der syntaktischen Struktur als r e l a tiv autonomer Prozeß angesehen werden: F o r s t e r und Olbrei (1973) fanden in einer Reihe von Experimenten, daß die Reaktionszeit für die Entscheidung darüber, ob eine Wortfolge ein sinnvoller Satz ist, auch bei kritisch v a r i i e r e n den semantischen Eigenschaften konstant mit bestimmten syntaktischen Variablen korreliert ist„ In einem dieser Experimente wurden z . B . die Aktiv und Passivform von jeweils zwei Typen von Sätzen einander gegenübergestellt, und zwar von solchen, bei denen Subjekt und Objekt reversibel sind wie in (43 a), und von solchen, bei denen das semantisch nicht möglich ist, wie in (43 b). (43)
(a) Four women touched the girl. (b) Four women touched the skirt.
Die resultierenden vier Typen von Wortfolgen, vermischt mit ungrammatischen Ablenkungssätzen, waren mit einem Knopfdruck zu beantworten, wenn sie einen sinnvollen Satz bildeten, andernfalls war keine Reaktion verlangt. Relevante Reaktionszeitdifferenzen ergaben sich nur in bezug auf die Aktiv-PassivDistinktion, während der semantische Unterschied zwischen (43 a) und (43 b) ohne Effekt blieb. Dieser keineswegs selbstverständliche Befund zeigt deutlich, daß die Ermittlung der syntaktischen Struktur einen relativ eigenständigen Anteil am Verstehensprozeß hat. 72
Der Prozeß (a) des Strukturaufbaus läßt sich unter verschiedenen Bedingungen näher analysieren. Eine besonders aufschlußreiche Möglichkeit bietet die Verarbeitung mehrdeutiger Sätze. Normalerweise werden Mehrdeutigkeiten auf Grund des Situations- oder Kontextzusammenhangs unbemerkt eliminiert. Es zeigt sich aber in Experimenten, bei denen unvollständige Sätze zu ergänzen sind, daß auch unbemerkte Mehrdeutigkeiten die Verarbeitung komplizieren (Mehler, Carey und Bever 1970). Es ist demnach anzunehmen, daß zumindest unter bestimmten Bedingungen auch die später nicht fixierten Strukturmöglichkeiten eines Satzes ermittelt, aber bereits in der Verarbeitungsphase wieder vinterdrückt werden. Diese Annahme konnten Lackner und Garret (1972) in einem Experiment stützen, das auf der gleichzeitigen dichotischen Darbietung eines doppeldeutigen Satzes über das eine und eines Kontextsatzes über das andere Ohr beruhte. Dabei wurde der Kontextsatz so variiert, daß e r einmal zur einen, einmal zur anderen Interpretation des doppeldeutigen Satzes paßte und einmal neutral gegenüber beiden war: (44)
(a) The corrupt pólice can't stop drinking.
(doppeldeutig)
(b) The pólice is still drinking.
(Kontext 1)
(c) The pólice persecutes alcoholism.
(Kontext 2)
(d) The pólice is not successful.
(Neutraler Kontext)
Der Kontextsatz wurde um 5 bis 10 db schwächer geboten als der kritische Satz, die Probanden wurden instruiert, auf den kritischen Satz zu achten und ihn unmittelbar nach der Darbietung zu paraphrasieren. Befragungen nach dem Experiment ergaben, daß die Probanden die Kontextsätze nicht als zugehörige Information erfaßt hatten. Dennoch war der Einfluß auf die Auswahl der Interpretation des kritischen Satzes offensichtlich: Die Paraphrasen k o r r e l i e r t e n signifikant mit den Kontextsätzen. Das Ergebnis wurde separat für Mehrdeutigkeiten ermittelt, die in der Tiefenstruktur begründet sind (wie in (44 a)), die auf der Oberflächenstruktur beruhen und die lexikalischen U r sprung haben. Die Strukturerzeugung im Kurzzeitgedächtnis berücksichtigt also auch solche Eigenschaften, die mit dem eigentlichen Resultat des V e r stehensprozesses nicht verträglich sind. Die Einzelheiten dieses P r o z e s s e s bedürfen weiterer Analyse.
73
Im Gesamtzusammenhang der Zuordnung der Struktur des Eingabesignals zur semantischen Repräsentation bzw. der zu ihr gehörenden Situationsstruktur haben die verschiedenen Strukturebenen eines Satzes und die ihnen zugrunde liegenden Regeln zwei generelle Funktionen: Einmal ordnen sie die lineare Struktur des Eingabesignals der in gewissem Sinn simultanen, hierarchisch organisierten Bedeutungsstruktur zu, sie kodieren semantische Zusammenhänge in zeitlich organisierte Signalstrukturen (bzw. umgekehrt). Zum anderen fassen sie die strukturelle Information des Eingabesignals zu Kodierungsblöcken, den von Miller (1956) beschriebenen "chunks" zusammen, die den Verarbeitungs- und Behaltensbedingungen des Kurzzeitgedächtnisses entsprechen. Die Erfüllung dieser zweiten Punktion ist eine entscheidende Bedingung für die Form, in der die Regeln einer natürlichen Sprache die Erfüllung der ersten Funktion ermöglichen. Auf diesem Zusammenhang beruht u. a. die in 2.6. erörterte Bedingtheit der Sprachstruktur durch die Funktionsweise des Gedächtnisses. In Abschnitt 5 komme ich auf diesen Zusammenhang unter ontogenetischem Aspekt zurück.
4.2.
Gedächtnisstrukturen bei der Produktion von Sätzen
Wiedererkennen und Reproduzieren sind entscheidende Indizien für Gedächtnisbildung. Bezogen auf das Satzgedächtnis beruhen diese Leistungen, wie früher erwähnt, wesentlich auf einem Wiedererzeugen der entsprechenden Laut- oder Buchstabenfolgen auf Grund abstrakterer Strukturen. Die meisten der einschlägigen Experimente gehen von dieser Hypothese aus und bestätigen sie. In einem nicht trivialen Sinn haben Wiedererkennung und Reproduktion von Sätzen damit bestimmte Prozeßkomponenten mit der Sprachproduktion gemeinsam. Ferner haben in dem Maß, in dem der in 4 . 1 . diskutierte Prozeß (a) der Strukturerzeugung nicht einfach "von unten nach oben" verläuft, auch Satzverstehen und Wiedererkennen gemeinsame Prozeßkomponenten: Das akustische Ereignis wird partiell auf Grund seiner entweder bereits gespeicherten oder aber antizipierten Bedeutung strukturiert. 74
Die Verzahnung von Erkennung, Wiedererkennung, Reproduktion und Produktion von Sätzen darf aber die Unterschiede in den Prozessen und den involvierten Gedächtnisleistungen nicht vergessen lassen. Das gilt insbesondere für die Erscheinungen eigentlicher Sprachproduktion, deren Prozeßkomponenten provisorisch folgendermaßen zu kennzeichnen sind. Als Ergebnis verschiedenartiger kognitiver Prozesse wird im operativen Gedächtnis eine Situationsstruktur erzeugt, auf Grund deren in dem in Abschnitt 2. 5. beschriebenen Netz lexikalischer Einheiten entsprechende Elemente angeregt und selektiert werden. Die an Hand ihrer semantischen Struktur selektierten Einheiten führen zur Lexika Iis ierung einer zu der im Aufbau begriffenen Situationsstruktur passenden semantischen Repräsentation, das heißt zu deren Belegung mit syntaktisch verknüpfbaren Wortmarken, womit zugleich eine syntaktische Tiefenstruktur induziert wird. Diese ist - vermittelt über syntaktische Transformationszusammenhänge - die Grundlage einer Oberflächenstruktur, deren phonetische Interpretation den Artikulationsapparat steuert. Die für die Sprachproduktion charakteristischen Komponenten in diesem hypothetischen Gesamtprozeß sind aus verschiedenen Gründen experimentell schwierig zu manipulieren und deshalb bisher wenig untersucht worden. Anhaltspunkte für das Auftreten entsprechender Strukturbildungen im Gedächtnis ergeben sich aber aus der Analyse sprachlicher Fehlleistungen, deren methodologischer Aspekt u . a . in Fromkin (1971) und Bierwisch (1970 a, 1975) erörtert wird. Ich will einige dieser Anhaltspunkte durch Vertreter typischer Fehlerklassen belegen. Die Aktivierung und Ausdifferenzierung von Lexikoneinheiten im semantischen Gedächtnis ist eine zentrale Prozeßkomponente in der Sprachproduktion, durch die die verschiedenen Gedächtnissysteme - Lang- und Kurzzeitgedächtnis, aber auch semantisches und episodisches Gedächtnis - aufeinander ein15 wirken. Verschiedenartige Störungen dieses Prozesses lassen seine Wirkungsweise etwas näher erkennen. Der in gewissem Sinn einfachste Defekt besteht in der Selektion einer falschen, semantisch nahe verwandten Einheit: (45) (a) Das geht alles halb so langsam (statt: . . . halb so schnell). (b) Das ist aber nicht so peripher (statt: . . . nicht so zentral). (c) Ich hab das nicht mitgebracht (statt: . . . nicht mitgekriegt).
75
Das Auftreten von Antonymen wie in (45) (a) und (b) ist dabei besonders häufig. Fast durchweg aber ergeben sich semantisch bedingte Fehler dieser Art durch die unwillkürliche Konfusion einzelner semantischer Komponenten. Dabei können gelegentlich kompliziertere Vermittlungen im Spiel sein wie in (46)
Die hatte so Grützen im Kopf - eh Graupen im Kopf.
wo außer der direkten semantischen Beziehung Grütze /Graupen zwei m e t a phorische, idiomatische Wendungen (Grütze im Kopf haben für 'intelligent sein' und Graupen im Kopf haben für 'ungerechtfertigte Ansprüche oder E r wartungen haben') kollidieren, vermittelt überdies durch die phonologische Strukturähnlichkeit. Seltener bedingt auch phonologische Ähnlichkeit allein einen Selektionsfehler: (47)
Sie wollten das tabu verschieben. ( . . . partout verschieben.)
Semantische Selektionsfehler können sich an verschiedenen Stellen eines Satzes beeinflussen; mit anderen Worten: Die Verteilung der Komponenten der semantischen Struktur auf die Lexikoneinheiten induziert Selektionsfehler: (48)
E s gibt überhaupt keinen Grund, an der mangelnden Bereitschaft der Eltern zu zweifeln. (statt: . . . an mangelnde Bereitschaft der Eltern zu glauben. oder: . . . an der vorhandenen Bereitschaft der Eltern zu zweifeln.)
Ein anderer Effekt gestörter Selektion von Lexikoneinheiten ist das Auftreten von zwei 'richtigen' (in der Regel synonymen) Einheiten statt einer falschen wie in den vorigen Beispielen: (49)
Sonst wären sie nie fertig gekommen, (aus: . . . fertig geworden und zu Ende gekommen)
(50)
Das hängt mit der Fragestellung etwas zu tun, (hat . . . etwas zu tun und hängt
zusammen)
Solche Kontaminationen sind ziemlich häufig, sie haben zumeist notwendige Defekte in der syntaktischen Struktur des Satzes zur Folge. Sie müssen sich jedoch nicht über mehrere Wörter verteilen, sondern können sich auch innerhalb eines Wortes niederschlagen: (51)
Da weiß man natürlich ne Messe, (aus: Menge und Masse)
(52)
Das dürfte fast alles zustimmen, (aus: stimmen und zutreffen)
76
Die bisher illustrierten Erscheinungen sind falsche Lexikalisierungen einer jeweils bestimmbaren semantischen Repräsentation, die gegebenenfalls syntaktische Defekte nach sich ziehen. Interessant sind nun solche Kontaminationen, bei denen zwei Einheiten konfundiert werden, die an sich semantisch nicht äquivalent sind, aber auf eine gemeinsame Situationsstruktur bezogen werden können: (53)
'Lexikon' ist ein Terminus, der sich eingebildet hat.
(54)
Die Musik ist uns mit der Muttermilch eingesogen worden.
(aus: eingebürgert und herausgebildet) (aus: ist uns . . . eingeflößt worden und haben wir . . . eingesogen) Anders als stimmen und zutreffen sind die Einheiten eingebürgert und h e r ausgebildet nicht synonym, ihre Konkurrenz ergibt sich e r s t in bezug auf b e stimmte Situationsstrukturen. Fehler wie diese können als indirekte Evidenz dafür gelten, wie eine Situationsstruktur lexikalische Einheiten anregt und damit zugleich zur Ausbildung der eigentlichen semantischen Repräsentation eines Satzes führt. Trifft diese Analyse zu, denn zeigen Fälle wie (53) und (54), daß sich auch im Sprachproduktionsprozeß hinter (oder "über") der s e mantischen Struktur eines Satzes eine Situationsstruktur identifizieren läßt und daß sich die Unterscheidung bestätigt, die sich auf ganz anderem Wege auf Grund von Gedächtnisexperimenten ergeben hatte. Die Analyse der unwillkürlichen Kontamination nicht-synonymer Einheiten könnte dann weiteren Aufschluß geben über den Charakter von Situationsstrukturen und über die Logik, der sie gehorchen. Daß Kontaminationen (nicht aber einfache Selektionsfehler) zumeist gewisse syntaktische Defekte im Gefolge haben, wurde bereits erwähnt. Das zeigt, daß der Aufbau der syntaktischen Relationen mit der semantischen Strukturbildung Hand in Hand geht, so daß bei einer Kontamination insbesondere zwei syntaktische Konstruktionen ineinandergeschoben werden. E s handelt sich also um syntaktische Defekte, deren Quelle in oder sogar vor der semantischen Strukturbildung liegt, Ihnen stehen im engeren Sinn syntaktische Fehler gegenüber, das heißt Sätze, bei deren Produktion eine korrekt lexikalisierte semantische Struktur in eine defekte Oberflächenform überführt wird. 77
(55)
Zwei Fliegen werden versucht, mit einer Klappe zu schlagen.
(56)
Da kann man doch auch nicht von jedem mit sich Schlitten fahren lassen.
Dieser weniger häufige Fehlertyp stammt aus falscher Anwendung der syn16 taktischen Operationen, die Tiefen- auf Oberflächenstrukturen beziehen. Im hier verfolgten Zusammenhang kann aus ihm auf die Ausbildung einer (wohlgeformten) Tiefenstruktur im Gedächtnis und Interferenzen in den nachfolgenden Operationen über dieser Struktur geschlossen werden. Den Charakter solcher Interferenzen habe ich in Bierwisch (1975) etwas näher analysiert. Schließlich sei ein Fehlertyp angeführt, bei dem die semantische und syntaktische Strukturbildung korrekt verlaufen ist und nur die sequentielle Realisierung der Oberflächenstruktur gestört ist. Eine häufige Erscheinungsform ist die Vertauschung entweder phonologiseher oder elementarer syntaktischer Einheiten: (57) Wenn begründeter Bedacht versteht . . . ( . . . Verdacht besteht) (58) Ansonsten macht die Spaß Fahrt. ( . . . Fahrt Spaß.) (59) Das Wättchen blendet sich. Solche Störungen in der linearen Organisation von Äußerungen setzen eine korrekte intern repräsentierte Oberflächenstruktur voraus, auf deren Hintergrund sie erst verständlich werden. Insgesamt erlaubt der (durchaus unvollständige) Durchgang durch Typen von Störungen im Sprachproduktionsprozeß die Schlußfolgerung, daß die Komponenten dieses Prozesses prinzipiell die gleichen Strukturbildungen im Gedächtnis involvieren wie die Phasen der Perzeption und des Behaltens von Sätzen. Die Arten der Fehler zeigen die relative Autonomie einerseits der semantischen Strukturbildung, deren Störung aber automatische Folgen für die resultierende syntaktische Struktur haben kann, andererseits der Erzeugung und schließlich der linearen Realisierung der Oberflächenstruktur.
78
4. 3.
Prozesse, Strukturen, Regeln
Ein Versuch, die beschriebenen Prozesse und die in ihrem Verlauf auftretenden Strukturen auf zugrunde liegenden Mechanismen zu beziehen, kann an programmatische Darlegungen von Lashley (1951) anknüpfen. Die Organisation sprachlicher Äußerungen - wie komplexer Verhaltensmuster überhaupt - beruht danach auf zwei zusammenwirkenden Mechanismen. (i) Aktivierung ("Priming") der Einheiten, die in einen Satz eingehen: "There are indications that, prior to the internal or overt enunciation of the sentence, an aggregate of word units is partially activated or readied." Selektionsfehler und Kontaminationen entspringen in diesem Aktivierungsprozeß. (ii) Determinierung und Abarbeitung einer serialen Ordnung über den aktivierten Einheiten auf Grund syntaktischer Muster, wobei "syntax is not inherent in the words employed or in the idea to be expressed. It is a generalized pattern imposed upon the specific acts as they occur". Reihenfolgefehler wie (57) bis (59) entspringen in diesem Serialisierungsprozeß. Die syntaktischen Muster, in die die aktivierten Einheiten integriert werden, sind die Oberflächenstrukturen, die auf Grund der Formations - und Transformationsregeln den auszudrückenden Ideen, d.h. den semantischen oder Situationsstrukturen zugeordnet sind. Aktivierung und Serialisierung sind für sprachliche Äußerungen mithin vermittelt durch die Gesamtheit der 17 Strukturen, die wir früher identifiziert haben. Als generelle Mechanismen betreffen Aktivierung und seriale Strukturbildung sowohl Sprachproduktion wie Sprachperzeption, nur steht die lineare Organisation im letzteren Fall am Anfang des Prozesses und wird durch das perzipierte Signal induziert, während sie im Sprachproduktionsprozeß ohne externe Vorgabe intern zu erzeugen ist. (Für Unterschiede im Aktivierungsprozeß vgl. Anmerkung 15.) Die beiden Mechanismen (i) und (ii) bilden die Basis für den Prozeß der Strukturerzeugung, den ich in 4.1. für das Sprachverstehen unter (a) zusammengefaßt habe; das Abklingen der Aktivierung oder aber die Gedächtnisfixierung der integrierten Strukturen bildet den ebenfalls dort umschriebenen Prozeß (b). Bezieht man die Gesichtspunkte, die durch die Prozesse (a) und (b) und die Mechanismen (i) und (ii) bestimmt sind, aufeinander, so ergibt sich 79
als Grundtendenz, daß vor allem die mit der Wirkung des Serialisierungsmechanismus verbundenen Aspekte der Satzstruktur nicht im Langzeitgedächtnis fixiert werden. Dies wäre eine auf die Mechanismen der Strukturbildung gestützte Formulierung des Befundes, daß das Satzgedächtnis im Prinzip nicht syntaktischen Charakter hat. E s liegt nun auf der Hand, daß die Mechanismen (i) und (ii) wesentlich determiniert werden durch die jeweilige Sprachkenntnis, und zwar so,
daß
der Aktivierungsprozeß vor allem das Netzwerk lexikalischer Einheiten v o r aussetzt, der Linearisierungsprozeß die grammatischen Regeln und die durch sie erzeugbaren Muster. Mit dieser Zuordnung komme ich noch einmal auf das in Abschnitt 1 angeschnittene Problem zurück, welchen Status grammatische Regeln als Gedächtnisbesitz haben. Einerseits ist der Unterschied zwischen lexikalischen Einheiten und grammatischen Regeln unmittelbar einsichtig und für ihre Funktionsweise gravierend: Wörter können an Hand ihrer phonologischen Form benannt, die mit ihnen verbundenen Begriffe als solche bewußt gemacht und vielfach auch auf anschauliche Vorstellungen bezogen werden. Entsprechend deutlich scheint der Sinn, wenn von der Aktivierung solcher Einheiten gesprochen wird. Auf R e geln trifft all das nicht zu: Nur Linguisten können Regeln wie Verb-Umstellung, Nebensatz-Extraposition usw. benennen; der normale Sprecher hat keinen bewußten Zugriff zu den syntaktischen Regeln, die er befolgt, und der 18
Bezug auf anschauliche Vorstellungen scheidet ohnehin aus.
Eine Regel
kann demnach auch nicht im gleichen Sinn aktiviert werden wie eine Gedächtniseinheit. Andererseits werden Regeln und lexikalische Einheiten durch wesentliche Gemeinsamkeiten zusammengehalten. Rein formal erscheinen Lexikoneinheiten in der theoretischen linguistischen Beschreibung einfach als ein spezieller Typ von Regeln, der durch bestimmte formale Eigenschaften ausgezeichnet ist und die Zuordnung zwischen phonologischen, syntaktischen und semantischen Merkmalen oder Teilstrukturen determiniert (vgl. N. Chomsky 1965, Katz 1972). Über diese formale Seite hinaus aber hat die Bedeutung bestimmter Wörter selbst den Charakter von Operationen oder semantischen Regeln, und zwar nicht nur in jenem allgemeinen Sinn, in dem man jeden B e 80
griff als eine Regel für die Klassifizierung von Objekten auffassen kann. Deutliche Beispiele für das hier Gemeinte sind Wörter wie auch, höchstens, noch, sogar, aber, oder, die nicht Objekte oder Eigenschaften und Relationen von Objekten kennzeichnen, sondern Verknüpfungen zwischen oder Operationen über semantische Strukturen determinieren. Um das an einem Fall zu illustrieren: (60)
(a) Hans schläft.
(b) Hans schläft fest.
(61)
(a) Hans schläft.
(b) Hans schläft auch.
Während fest in (60 b) nur eine zusätzliche Qualifikation zu schlafen angibt, bewirkt das auch in (61 b) eine ganz andere Veränderung gegenüber (61 a): Es bezieht die Aussage Hans schläft auf eine Voraussetzung, die wiederge18a geben werden kann durch Jemand anders schläft. Die Bedeutungen lexikalischer Einheiten bilden demnach ein Spektrum von potentiell anschaulichen Begriffen (Tisch, grün, schlafen) über abstrakte Konzepte (Sinn, konkret, b e wirken) zu Operatoren und semantischen Regeln (alle, auch, nicht, sogar). Die letzteren sind keineswegs schwerer verständlich, aber ihre Bedeutung kann, wie die Funktion syntaktischer oder phonologischer Regeln, nur als Operation an anderen Einheiten oder Strukturen erfaßt werden. Damit kommt schließlich auch ein entsprechend modifizierter Sinn von "Aktivierung lexikalischer Einheiten" zum Vorschein, der prinzipiell auch auf Regeln beziehbar sein muß. Auf Grund dieser Feststellung läßt sich dann sagen, daß der Linearisierungsprozeß die Aktivierung von Regeln (bzw. aus diesen gebildeten Strategien) voraussetzt, die e r s t die für die Linearisierung notwendigen syntaktischen (und phonetischen) Muster determinieren. Auf Grund dieser Überlegungen ist die Distinktion zwischen Einheiten und Regeln prinzipiell zu r e lativieren zu einer Unterscheidung verschiedenartiger Abhängigkeiten innerhalb eines Gedächtnissystems, in dem zusammen mit den Einheiten auch die Regeln fixiert sind, die auf den Einheiten operieren, in dem die Einheiten nur durch die Regeln voll bestimmt sind und schließlich Einheiten selbst Regeln sein können. Einheiten u n d Regeln werden in Abhängigkeit voneinander aktiviert, so daß im operativen Gedächtnis komplexe Strukturen gebildet werden können, die eine syntaktisch organisierte phonetische Struktur aufweisen, die
81
wiederum durch den Linearisierungsmechanismus auf die Zeitkoordinate des Verhaltensablaufs projiziert wird. Soll für die Gedächtnisgrundlage des so umschriebenen Gesamtsystems der Terminus "semantisches Gedächtnis" in dem von Tulving (1972) vorgeschlagenen Sinn beibehalten werden, so muß er in der Tat die Gesamtheit der grammatischen Regeln umfassen. Eine alternative Vorstellung wäre die, das Gesamtsystem als ein System von genauer zu charakterisierenden Subsystemen aufzufassen, womit dann auch die Dichotomie von semantischem und episodischem Gedächtnis relativiert würde. Denn was ich ohne formale Abgrenzung als Satzgedächtnis bezeichnet habe, erscheint unter diesem Blickwinkel als ein Bereich, der durch Zusammenwirken der für das episodische Gedächtnis und das Sprachgedächtnis kennzeichnenden Faktoren bestimmt ist. Aber statt terminologischer Vorschläge ging es hier um die Verdeutlichung der Problemstellungen, bei deren Entwicklung und Klärung Psycholinguistik und Gedächtnispsychologie zusammenwirken müssen.
5.
Spracherwerb als Gedächtnisbildung
Gedächtnis ist das Ergebnis von Lernprozessen. Auf die Sprachkenntnis bezogen heißt das, daß der Spracherwerb ein zentrales Thema des Zusammenhangs von Sprache und Gedächtnis ist. Zwar macht der üblich gewordene Terminus "Spracherwerb" von vornherein deutlich, daß es sich hier um einen sehr komplexen Prozeß handelt, der als Lernen im engeren, lerntheoretischen Sinn nicht erfaßt werden kann. Dennoch handelt es sich bei der Aneignung einer Sprache zweifelsfrei um typische Prozesse der Gedächtnisbildung, also im weiteren Sinn um Lernvorgänge. Und da die Art des Lernens untrennbar verknüpft ist mit dem Charakter des resultierenden Gedächtnis besitzes, gibt gerade die Analyse des Spracherwerbs Aufschluß über wesentliche Züge der Sprachkenntnis als Gedächtnisbesitz - und darüber hinaus über 82
den Aufbau komplexer Gedächtnisfunktionen insgesamt. Ohne das Gesamtge biet der mit diesem Problemkomplex befaßten genetischen Psycholinguistik erfassen zu wollen, werde ich deshalb einige Grundzüge und charakteristische Einzelprobleme des Spracherwerbs darstellen. (Vollständigere Überblicke geben etwa Slobin (1971) und Brown (1973).)
5.1.
Determinanten des Spracherwerbs
Es geht in diesem Abschnitt um den Aufbau der Gedächtnisstrukturen, die die in den Abschnitten 3 und 4 behandelte Verarbeitung sprachlicher Information ermöglichen. Dieser Prozeß der "Versprachlichung" spielt sich in der Auseinandersetzung mit der sozialen Umgebung ab und reicht bei normalen Kindern in seinen Grundzügen etwa bis zum 5. Lebensjahr, womit nachfolgende Ergänzungen, Differenzierungen und Umstrukturierungen des erworbenen Gedächtnisbesitzes jedoch nur relativ abgegrenzt sein sollen (vgl. besonders Abschnitt 5. 6.). Zwei Extreme in der Auffassung dieses Prozesses sind denkbar. (a) Sprachliche Äußerungen werden als Ganzes zusammen mit den Kennzeichen der Situation, in der sie vorkommen, im episodischen Gedächtnis gespeichert, und aus der Akkumulation dieser Eintragungen werden nachträglich die zugrunde liegenden Einheiten, Strukturen und Regeln extrahiert und als Sprachkenntnis fixiert. (b) Sprachliche Äußerungen werden sofort auf zunächst hypothetische Einheiten und Regeln reduziert, die, wenn sie sich beim Verstehen und Produzieren neuer Äußerungen bewähren, im Gedächtnis fixiert werden. Beide Auffassungen führen bei strenger Interpretation zu Aporien, die hier nicht im einezlnen dargelegt werden müssen. (Es sei nur vermerkt, daß die behavioristische Vorstellung von Spracherwerb einen qualifizierten Spezialfall von Typ (a) bildet.) Ein fruchtbareres Konzept ergibt sich aus einer Kombination beider:
83
(c) Die Akkumulation hypothetisch (oder partiell) analysierter Komplexe von Äußerungs- und Situationsmerkmalen im Gedächtnis bildet die Basis, auf Grund deren angemessenere (generellere) Regeln und Einheiten extrahiert und, wenn sie sich bewähren, fixiert werden. Sowohl die hypothetische Voranalyse (in (a) und (c)) wie die Extraktion von Generalisierungen (in (b) und (c)) verlangen nun gewisse im Organismus v o r gegebene Prinzipien, durch die sie möglich werden. Sie lassen sich im Sinn einer Vororientierung folgendermaßen charakterisieren: 1. Die Grundlage müssen generelle Mechanismen der Gedächtnisfunktion bilden, zu denen die früher e r ö r t e r t e n Prozesse der Aktivierung und Linearisierung von Gedächtnisstrukturen gehören. 2. Spezieller müssen für die Situationsanalyse die allgemeinen Grundlagen kognitiver Strukturbildung zur Verfügung stehen, also insbesondere die E x t r a k tion perzeptiver Merkmale aus dem Reizangebot und ihre Einordnung in entsprechende Bezugssysteme, die Aussonderung verhaltensrelevanter Objektklassen und deren Fixierung durch Merkmalscharakteristiken im Gedächtnis, sowie die Ausbildung von motorischen Operationen mit Objekten und von kognitiven Operationen über deren Merkmalsdarstellung. (Für einen umfassenden Überblick vgl. Klix 1971 und 1975.) 3. Schließlich muß die Analyse sprachlicher Äußerungen und ihre Beziehung auf Situationsstrukturen sich auf generelle Prinzipien der Sprachstruktur, das heißt auf Ebenen der Strukturierung, Typen möglicher Einheiten und Regeln stützen, um hypothetisch Strukturen und Regeln im sprachlichen E r f a h r u n g s angebot identifizieren und speichern zu können. Diese drei Determinanten (zusammen mit der sensorischen und motorischen Grundausstattung des Organismus, den Grundlagen emotionaler Bewertungen und Einstellungen sowie des praktischen und kommunikativen Sozialbezugs) ermöglichen und präformieren das Resultat des Spracherwerbs, d.h. das System sprachlicher Kenntnisse und die spezifischen Prozesse ihrer Anwendung. Die dritte dieser Determinanten soll noch etwas erläutert werden. Der Spracherwerb besteht in der Aneignung einer jeweils bestimmten, in der sozialen Umgebung gesprochenen Einzelsprache. Jede Einzelsprache b e ruht auf einem speziellen Regelsystem, das jedoch generelle, allen Sprachen 84
gemeinsame Züge aufweist, die zusammengenommen die Klasse möglicher natürlicher Sprachen definieren. In Abschnitt 2 wurden solche Grundzüge am Beispiel des Deutschen erläutert. In einer gegebenen Sprache lassen sich damit universelle von partikulären, nur für diese Sprache geltenden Faktoren unterscheiden. Diese Unterscheidung ist nicht willkürlich festzulegen, sondern empirisch zu ermitteln. Die universellen Eigenschaften natürlicher Sprachen sind notwendig relativ abstrakter Natur, sie sind jedoch spezifisch genug, um eine Vielzahl denkbarer Regelsysteme von der Klasse der möglichen G r a m m a tiken natürlicher Sprachen auszuschließen. In dem bereits in Abschnitt 2. 6. e r ö r t e r t e n Sinn sind nun die tatsächlich universellen Eigenschaften natürlicher Sprachen mit den unter 3. genannten Vorgaben für den Spracherwerb in V e r bindung zu bringen: Natürliche Sprachen liegen im Bereich der durch die linguistischen Universalien determinierten Systeme, weil sie von dem mit eben diesen Vorgaben ausgestatteten Organismus ermittelt, angeeignet und angewendet werden. Oder korrekter als empirische Hypothese formuliert: Was auf Grund linguistischer Analysen als universelle Eigenschaft natürlicher Sprachen postuliert werden kann, ist zugleich eine Annahme über die Gedächtnisausstattung, die den Spracherwerb steuert. Die soeben behauptete Verbindung ist allerdings um eine Stufe zu direkt gefaßt. Linguistische Analysen - und damit auch die durch sie zu gewinnenden Universalien - beziehen sich auf fertig ausgebaute sprachliche Kenntnissysteme, nicht deren Vor - und Übergangsformen, die im Spracherwerb auftreten. Sie beschreiben damit gewissermaßen Grundzüge der Zielstruktur des P r o z e s s e s , nicht die Etappen seines Verlaufs. Oder anders ausgedrückt: Linguistisch ermittelte Universalien beziehen sich direkt auf die Grundlagen des Spracherwerbs nur, wenn man ein Momentmodell des Spracherwerbs zugrunde legt, das die Aneignung der Sprache als einen einzigen Schritt b e handelt. Die Notwendigkeit und die Grenzen eines solchen Momentmodells diskutiert N. Chomsky (1965). Die Analyse und Erklärung des realen V e r laufs muß jedoch die Annahmen über Universalien der Sprache auflösen in Vorgaben für Teilprozesse und die mit ihnen verbundenen Übergangsstufen der Sprachkenntnis. Insbesondere die für die Extrahierung sprachlicher R e geln entscheidenden Generalisierungen und die dafür nötigen (impliziten) 85
Hypothesen sind dabei zu relativieren auf den jeweils erreichten Stand der Sprachkenntnis. Die gemäß 3. vorauszusetzenden Prinzipien der Sprachstruktur gehen dann über in ein auf den jeweiligen Entwicklungsstand bezogenes System von Prinzipien, die aufeinander aufbauen. Zu fragen ist schließlich, ob diese Prinzipien zu den unter 2. genannten Grundlagen kognitiver Strukturbildung hinzutreten oder bereits in ihnen enthalten bzw. aus ihnen ableitbar sind. Außer einer trivialen Antwort, die das Problem lediglich durch Definition löst, sind verschiedene Möglichkeiten denkbar. Die Frage sollte hier nur formuliert, aber nicht beantwortet werden. Anzunehmen ist aber in jedem Fall die Existenz von Prinzipien, die den Spracherwerb vorstrukturieren und damit erst möglich machen. Auf dem damit-skizzierten Hintergrund, der weiterhin in den allgemeinen Rahmen der Entwicklungspsychologie einzubetten wäre, sind nun noch vier für den Spracherwerb wichtige Grundüberlegungen zu formulieren. (i) Wenn ein Kind beginnt, Wörter und Sätze zu verstehen und zu bilden, also die Zuordnung bestimmter Lautmuster zu Objekten, Sachverhalten und Handlungen zu erschließen, sind gewisse kognitive Strukturen, die den zu benennenden Sachverhalten entsprechen, bereits ausgebildet. Nur was kognitiv erfaßt und im Gedächtnis fixiert ist, kann sprachlichen Ausdrücken zugeordnet werden. (Das gilt mutatis mutandis auch für die Lautformen: Nur bis zu einem gewissen Grad vorbereitete Lautmuster können zur Belegung kognitiver Strukturen dienen.) Das heißt nicht, daß die mit einem Ausdruck belegte kognitive Struktur identisch ist mit der durch den entsprechenden Ausdruck belegten Struktur der Erwachsenen. (ii) Begriffe und semantische Beziehungen zwischen ihnen werden jedoch nicht als fertige Gedächtnismuster nur nachträglich mit Wortmarken und deren syntaktischer Verknüpfung belegt. Vielmehr werden unter dem Einfluß der sprachlichen Fixierung die kognitiven Strukturen differenziert und angereichert und durch systematische Modifikationen den semantischen Strukturen der Erwachsenensprache angenähert. (Entsprechendes gilt für die syntaktische und phonologische Struktur, allerdings unter Berücksichtigung der j e weils ebenenspezifischen Strukturprinzipien.)
86
(iii) Aus dem Gesagten ergibt sich, daß der Spracherwerb keineswegs in einfacher
nitatio.. der Erwachsenensprache besteht. E r folgt vielmehr einer
chi.rakteriE'ischen Selektion der aufgenommenen und verarbeiteten Informatior and besteht
der Rekonstruktion der angebotenen sprachlichen Strukturen
mit eignen Mitteln, nicht in deren bloßer Nachahmung: Ein Dreijähriger, der hochezal und liegerecht anstelle von senkrecht und horizontal bildet, oder über Monate trotz Korrektur bei der Form antgewortet bleibt (indem er antworten regulär als Präfixverb wie anreden klassifiziert), macht solche keineswegs arbiträren Eigenschöpfungen deutlich. (iv) Sprachliche Kenntnisse werden nicht in Form isolierter Elemente erworben und gespeichert, sondern in Zusammenhängen, in denen sie sich wechselweise bedingen und durch bestimmte Regeln organisiert sind. Sie bilden zu jedem Zeitpunkt des Erwerbsprozesses Systeme von Gedächtnisstrukturen, nicht einfach Anhäufungen von Einzelheiten, wenngleich diese Systeme zunächst rudimentär sind und auch keineswegs einfache Teilsysteme der entstehenden Erwachsenensprachkenntnis sein müssen. Diese allgemeinen Überlegungen sind im folgenden durch ausgewählte systematische Befunde auszufüllen und zu belegen. Die Trennung in Probleme des Erwerbs von Wortbedeutungen und von syntaktischen Regeln hat dabei nur relativen Charakter, wie sich nach den Darlegungen in Abschnitt 4 . 3 . von selbst versteht.
5. 2.
Aufbau und Fixierung von Wortschatzkenntnis
Relativ gut bekannt ist die quantitative Seite der Akkumulation lexikalischer Einheiten, die um den 12. Lebensmonat beginnt und, mit beträchtlicher interindividueller Variation, am Ende des 3. Jahres bei etwa 900 Einheiten liegt. Wichtiger, aber schwerer zu beantworten ist die Frage, wie die Bedeutung dieser Einheiten organisiert und gespeichert wird. Aufschluß über die Anfänge dieses Prozesses vermittelt zunächst die Auswertung der Einzelbeobachtungen aus der sogenannten Diarienliteratur. Eine 87
systematische Zusammenstellung, wie sie E . Clark (1973) gibt, führt als erstes auf die charakteristische Erscheinung der Übergeneralisierung ("overextension") und den Prozeß ihrer schrittweisen Einschränkung. In den Grundzügen spielt sich dabei folgender Prozeß ab: In einem primären Zuordnungsakt wird ein identifiziertes (und gedächtnismäßig fixiertes) Objekt mit einer Lautform belegt, die dem Sprachangebot der Umgebung nachgebildet ist. So wird etwa eine Katze als tee (adaptiert aus deren Eigennamen Timmy) benannt. Dieser Ausdruck wird in der Folge auf andere Objekte, etwa der Reihe nach auf Hunde, Kühe und Schafe, schließlich auf Pferde bezogen. Die Bedeutung von tee kann damit für diese Etappe approximativ bestimmt werden als (VIERFÜSSLER X), ein relativ komplexes, perzeptiv begründetes Merkmal, 19 das die so gebildete Klasse von Objekten zusammenfaßt. Hier einige weitere typische Beispiele nach E. Clark (1973): (62)
Wortform
Erster Bezug
(a)
sch
Eisenbahngeräusch alle bewegten Maschinen
Erweiterungen
(b)
bird
Spatzen
Kühe Hunde Katzen
(c)
pin
Nadel
Krümel Raupe
(d)
bébé
eigenes Spiegelbild eigene Photographie
jedes Tier in Bewegung
alle Photographien alle Bilder alle Bücher mit Bildern Bücher überhaupt Die relevanten Merkmale lassen sich, wie E . Clark zeigt, in der Regel ziemlich eindeutig auf perzeptive Grunddimensionen, insbesondere Form, Größe, Bewegung, Geräusch und gelegentlich Geschmack zurückführen. (Farbe spielt in dieser Anfangsphase noch keine klassifikationsrelevante Rolle. ) Die anschließende Einschränkung der Anwendungsdomäne geht Hand in Hand mit der Einführung neuer Einheiten, die spezifizierte Teilbereiche der Domäne abdecken. So folgte bei dem serbischen Kind, von dem Das Beispiel (62 d) stammt, auf bébé das Wort deda (für Großvater), zuerst angewendet auf eine Photographie des Großvaters und dann generalisiert auf alle Photos und damit den Bereich von bébé einschränkend. Durch ka'ta (für karta) wurden im 88
nächsten Schritt noch spezieller Bilder von Landschaften aus dem Bereich Photo ausgesondert. Schließlich wurde durch kiga (aus kniga) für alle Bücher der Anwendungsbereich von bébé auf das eigene Spiegelbild und Kinder auf 20
Photos eingeschränkt. Derartige etappenweise Einschränkungen, die vielfach belegt sind, führen zu folgenden Annahmen: Die Bedeutung von Wörtern wird innerhalb aufeinander bezogener Teilsysteme (sogenannter semantischer Felder) organisiert. Neu hinzutretende Einheiten sind im Rahmen einer vorgegebenen Domäne durch speziellere Merkmale ausgezeichnet (die ihrerseits entsprechende Spezialisierungen in den bereits fixierten Einheiten bedingen können). Und allgemeiner: Der Aufbau der semantischen Komponentenstruktur von Wörtern vollzieht sich als stufenweise Ausdifferenzierung im Rahmen semantischer Bereiche und führt so sukzessiv zur Ausbildung der Gedächtnisstruktur, die dem erwachsenen Sprachgebrauch zugrunde liegt. Bezieht man diese Annahmen auf semantische Gruppen von Wörtern, deren relative semantische Komplexität bekannt ist, so ergibt sich folgende Hypothese: Die volle Kenntnis der Bedeutung komplexer strukturierter Einheiten wird später erworben als die der weniger speziellen, einfacheren Einheiten. Diese Hypothese hat E . Clark (1972) überprüft an Hand des Systems der Dimensionsadjektive wie hoch, lang, breit usw. und der Raum-Zeit-Relationen wie vor, über, früher. Beide Systeme sind polar strukturiert, das heißt, es gibt zu jeder Einheit ein polares Antonym: groß/klein, lang/kurz, vor/hinter usw. Jedes Paar dieser Art bezieht sich auf eine Dimension, die durch entsprechende semantische Komponenten spezifiziert ist. In diesen Dimensionscharakteristiken liegt die unterschiedliche Komplexität der Wortpaare: lang und kurz z.B. verlangen, daß die Ausdehnung sich auf genau eine Achse bezieht und daß dies die Hauptachse des Objekts ist; hoch und niedrig verlangen ebenfalls eine Achse, die aber zugleich vertikal ist; groß und klein dagegen lassen Zahl und Lage der Achsen offen. (Für Einzelheiten vgl. Bierwisch 1967.) Für die entsprechenden englischen Adjektive ergeben sich auf Grund der notwendigen Komponenten folgende relativen Komplexitätsbeziehungen: (63) big ist einfacher als tali, high, long long ist einfacher als wide, thick, deep
89
Das Verfahren in E. Clarks Experiment war ein Wortspiel, in dem die Kinder jeweils mit dem Antonym des vom Versuchsleiter genannten Worts zu antworten hatten. Die Antworten wurden eingeteilt in korrekte (z. B. low zu high), semantisch angemessene (z.B. little zu high) und falsche oder keine Reaktion. Die mittlere Prozentzahl für korrekte und angemessene Antworten ergaben folgende Verteilung: (64)
(65)
semantisch angemessene Antworten in Prozent: big tall long high old thick wide 97 89 88 71 68 45 27 korrekte Antworten in Prozent:
deep 21
big
tall
long
old
high
thick
deep
wide
95
61
60
54
42
23
14
9
Die Analyse der Fehler, die in die semantisch angemessenen Antworten eingehen, zeigen vorwiegend Vereinfachungen der Dimensionsspezifizierung unter Beibehaltung der jeweils allgemeineren Merkmale, das heißt es wurden weniger spezielle Einheiten wie big als Antwort auf speziellere Wörter wie short, thin, low, young angegeben. Die Untersuchung wurde für drei Altersgruppen von I. 4, 0 bis 4, 5, n . 4, 6 bis 4,11 und HI. 5, 0 bis 5, 5 Jahren getrennt ausgewertet, wobei sich folgende Aufteilung der Antworten zeigt: (66) Altersgruppe semantisch angemessen korrekt I 48 % 32 % II 58 % 36 % III 78 % 62 % Diese - und die parallelen Ergebnisse für die Raum-Zeit-Relationen - bestätigen die Ausgangshypothese. Sie zeigen insbesondere, daß die schrittweise Differenzierung nicht nur beim Erwerb neuer Wörter, sondern auch für die Repräsentation der Bedeutung bereits im Gedächtnis vorhandener Wörter gilt. E.V. Clark (1973) und Baron (1973) belegen diese Feststellung mit einer Reihe weiterer Untersuchungsergebnisse aus verschiedenen semantischen Bereichen. So werden, um zwei weitere Beispiele zu nennen, Adjektive für Objektqualitäten wie bright, hard, warm, cold erst nach dem 7. Lebensjahr in ihrer Anwendung auf Charaktereigenschaften von Personen verstanden, und Verwandtschaftsbezeichnungen wie Bruder, Schwester usw. entwickeln sich von einfachen Klassifikationen (Bruder als Synonym für Junge) mit etwa 4 Jahren über relationale zu reziprok relationalen Termen mit etwa 10 Jahren. Alle 90
diese Prozesse lassen sich als systematische Integrierung semantischer Komponenten in die entsprechenden Strukturen des semantischen Gedächtnisses b e schreiben.
5. 3.
Strategien der Merkmalszuordnung
Der Aufbau von Wortbedeutungen durch Zuordnung semantischer Komponenten zu lexikalischen Einheiten im Rahmen semantischer Felder hat zwei eng zusammenhängende Voraussetzungen: 1. die Verfügung über semantische Komponenten, die die verschiedenen Bereiche strukturieren, unü 2. Strategien, die die Zuordnung dieser Komponenten zu den jeweiligen lexikalischen Einheiten ermöglichen. Die e r s t e dieser Voraussetzungen betrifft die perzeptiven Grundlagen für das Zustandekommen sprachlicher Bedeutungen im Gedächtnis. Bereits die ersten, mit Beispielen wie sch, bird, pin in (62) illustrierten Ansätze zu Wortbedeutungen beruhen nicht nur auf der Identifizierung von Objekten, sondern auch auf der Aussonderung invarianter Komponenten, die relativ komplexe perzeptive Muster reproduzierbar kodieren. Damit die semantische Struktur von Wörtern wie hoch, lang, dick usw. differenziert werden kann, muß nicht nur das System der sensorischen und motorischen Raumorientierung, sondern auch die Bewertung der Achsensysteme von Objekten in bezug auf dieses System ausgebildet und nach relevanten Komponenten gegliedert sein, mit anderen Worten, die organismisch bedingte perzeptive Raumorientierung muß auf ein sprachlich gegliedertes Raumsystem bezogen werden (H. Clark 1973). Und die volle Erfassung von Verwandtschaftsbezeichnungen verlangt semantische Komponenten, die relationale Kennzeichnungen auf der Grundlage von Relationssystemen mit Inversenbildung sind. Beispiele wie diese sollen a n deuten, daß Bedeutungskomponenten Codierungen spezifischer perzeptiver und kognitiver Muster und Operationen und damit an deren organismische Grundlagen und deren Entwicklung gebunden sind. Das bedeutet zugleich, daß s e m a n 91
tische Komponenten entsprechend unterschiedlichen Charakters zu unterscheiden sein müssen. Ein Aspekt dieser noch kaum behandelten Problematik spiegelt sich in den jetzt zu erörternden Strategien der Merkmalszuordnung wider. Diese zweite der oben genannten Voraussetzungen betrifft die Aufgabe, s e mantische Komponenten mit Lautformen zu verbinden. Man kann sie durch zwei spiegelbildlich zueinander formulierte Fragen kennzeichnen: .
Mit welcher Lautstruktur ist eine Klassifizierung auszudrücken? Welche Klassifizierung wird durch eine Lautstruktur ausgedrückt? Spracherwerb ist zu einem wesentlichen Teil die fortwährende Lösung die-
ses Problems auf Grund von Umwelt- und Kommunikationserfahrungen. E s lassen sich nun bestimmte Verfahren oder Strategien ausmachen, die bei der Lösung dieses Problems befolgt und deren Ergebnisse im semantischen Gedächtnis fixiert werden - bis zur eventuellen Korrektur durch neue, differenzierte Lösungen oder auch durch korrigierende Eingriffe durch Kommunikationspartner. Die elementarste Strategie, die die Identifizierung der ersten Wortbedeutungen, ihre Generalisierung und Einschränkung determiniert, formuliert E. Clark (1974) folgendermaßen: (67)
Greife die perzeptiv am meisten hervorspringende Eigenschaft heraus und nimm (solange nichts dagegen spricht) an, daß das fragliche Wort auf sie verweist.
Diese Strategie setzt voraus, daß das Kind Objekte, Eigenschaften und Prozesse in der Umwelt zu identifizieren in der Lage ist und von der impliziten Hypothese ausgeht, daß ein Wort auf ein identifizierbares, perzeptiv hervorspringendes Charakteristikum des anvisierten Objekts verweist. Die Übergeneralisierungen lassen jedoch weitere Strategien erkennen, von denen eine durch die folgende Regel beschrieben werden kann: (68)
Wenn X charakteristischer Teil von Y ist, wird auf Y mit dem Wort verwiesen, das gemäß (67) bereits für X gilt.
Beispiele für diese Strategie sind etwa dzin-dzin, das von der Bezeichnung für Zug übertragen wird auf 'Reise mit dem Zug', und noch deutlicher jener Schritt in der Ausdehnung von bébé, der dieses Wort nach der Generali-
02
sierung auf alle Bilder überträgt auf Bilderbücher und Bücher Uberhaupt (für 21 die Bilder als charakteristischer Teil den Ubergang vermitteln). Eine Stufe spezieller sind Strategien, die E. Clark (1973 a) in einer Untersuchung des Erwerbs der Bedeutung von Präpositionen für Ortsbeziehungen isolieren konnte. Die bei der Reaktion auf Instruktionen der Art Tue X in/auf/ unter Y in verschiedenen Altersgruppen festzustellenden Fehler ergeben ein systematisches Muster, das aus den beiden folgenden Annahmen abgeleitet werden kann: 1. Eine Präposition P, deren Bedeutung noch nicht (voll) spezifiziert ist, wird in einer Verbindung P - NP in Abhängigkeit von den Eigenschaften des durch NP benannten Objekts Y interpretiert. 2. Diese Interpretation geschieht auf Grund der beiden folgenden geordneten Regeln: (69) (a) X in Y, wenn Y ein Behälter ist. (b) X auf Y, wenn Y eine horizontale Oberfläche hat. Die beiden Regeln bilden eine Strategie, die X jeweils in die naheliegendste, unmarkierte Beziehung zu Y setzt, bezogen auf die Eigenschaften von Y. Aus ihr folgt zugleich die Voraussage, daß in, auf, unter (bzw. in, on, under) in dieser Reihenfolge erworben werden, da die Regel, die für in zutreffend ist, den Vorrang vor der für auf hat, und in der Strategie keine Vorgaben enthalten sind, die für unter zutreffen. Eine Aufforderung wie Put the dog under the Y wird demnach am längsten fehlerhaft ausgeführt, und zwar wird under vornehmlich als in interpretiert, wenn Y z.B. ein Wagen ist, und als on wenn Y ein Tisch ist. Die Differenzierung zwischen in und on wird durch die Einschränkung der Regel (69 a) auf in, unabhängig von der Beschaffenheit von Y erworben; entsprechend wird (69 b) in der Folge auf on eingeschränkt. Ähnliche Strategien lassen sich für die Abhängigkeiten und die schrittweise Differenzierung zwischen den im vorigen Abschnitt erörterten Dimensionsadjektiven formulieren, die die Art der Ausdehnung von der Form und Lage der fraglichen Objekte abhängig machen und die für groß geltenden Bedingungen als den generellsten Fall behandeln. Besonders charakteristisch tritt das allgemeine Prinzip, den unmarkierten Fall zu bevorzugen, bei der Differenzierung der Glieder eines polaren Gegensatzes wie lang vs. kurz usw. in E r 93
scheinung. In einer Reihe von Untersuchungen fanden Donaldson und Wales (1970), daß Kinder von etwa 3, 5 Jahren polare Terme konfundieren, spezieller: daß less auf gleiche Weise interpretiert wird wie more. Beide werden als Graduierung des Betrags oder der Menge verstanden, und zwar zunächst generell als großer (oder größerer) Betrag. Erst in einer weiteren Etappe wird die unmarkierte Interpretation 'größerer Betrag' auf more eingeschränkt. ^ Die Differenzierungsschritte bei polaren Antonymen hat E. Clark (1971) systematisch analysiert für die zeitliche Relation 'bevor' und 'nachdem'. Die beiden Konjunktionen before und after beziehen die in zwei Sätzen beschriebenen Ereignisse zeitlich aufeinander. Berücksichtigt man dabei zugleich die Reihenfolge der verknüpften Sätze, so kann die gleiche Ereignisfolge mit ihrer Hilfe in vier Formen ausgedrückt werden, wobei in je zwei Fällen die Satzfolge (SF) der Ereignisfolge (EF) entspricht, in zwei Fällen aber invers zu ihr ist: (70)
Before he patted the dog, he jumped the gate.
(SF t EF)
(71) (72)
He jumped the gate before he patted the dog. After he jumped the gate, he patted the dog.
(SF = EF) (SF = EF)
(73) He patted the dog after he jumped the gate. (SF ^ EF) Kinder in vier Altersgruppen von 3 bis 5 Jahren wurden in Einzelversuchen aufgefordert, Sätze dieser Art mit Spielzeugfiguren auszuführen. Zugrunde gelegt wurden die beiden folgenden Annahmen: Erstens, before ist der positive, unmarkierte Term des antonymen Paars, seine Bedeutung wird also früher erworben als die von after, und zweitens, die Interpretation beginnt mit der folgenden Strategie: (74) Die Satzfolge entspricht der Ereignisfolge. Bezeichnet man die vorangestellten Konjunktionen in (70) und (72) mit before^ und a f t e r d i e nachgestellten in (71) und (73) mit before^ und afterg, so ergibt sich aus diesen Annahmen die folgende Fehlervoraussage für das Experiment: after^ bedingt die meisten, before„ die wenigsten Fehler, before^ und after j liegen dazwischen. Bei der Auswertung ließen sich drei Verstehensstadien auf Grund der auftretenden Fehlermuster unterscheiden, die sich wie folgt auf die Altersgruppen verteilen: 94
(75)
Stadium
Altersgruppe 3,2
3,8
4,3
4,11
A B C
9 0 0
7 3 0
3 4 3
2 3 5
Dabei entspricht A der uneingeschränkten Befolgung der Strategie (74), C der im wesentlichen korrekten Interpretation der Präpositionen, und B bildet ein (noch aufzugliederndes) Zwischenstadium. Bezogen auf diese Stadien verteilten sich die Prozentzahlen der Irrtümer folgendermaßen: Stadium
N
beforej
beforeg
afterj
after 2
A B1 B2 C
21 7 3 8
80 4 25 9
4 4 8 0
10 0 75 0
83 89 92 6
Die Ergebnisse bestätigen eindeutig die gemachten Annahmen. Die Aufspaltung des Stadiums B in B1 und B2 weist darüber hinaus auf zwei verschiedene Übergangsstufen hin: B1 entspricht der Anwendung der Strategie (74) auf after bei korrekter Interpretation von before, in B2 ist die Strategie (74) auch für after aufgegeben und dieses erhält die gleiche Bedeutung wie das (unmarkierte) before. Daher die besonders hohe Fehlerzahl bei after j , das sonst der Strategie (74) entspricht, B1 und B2 könnten zwei aufeinanderfolgende. Etappen bei der Einschränkung der Strategie (74) sein, oder aber - wahrscheinlicher - zwei unterschiedliche Verfahren der Einschränkung. Im letzteren Fall würde das auf individuelle Varianten in den befolgten Strategien hinweisen, die sonst weitgehend interindividuelle Konstanz aufweisen. Die Strategien, für die hier einige Beispiele dargestellt wurden, zerlegen die Zuordnung zwischen Laut- und Bedeutungsstrukturen und deren Fixierung im Gedächtnis in eine Folge von Teilschritten und Modifikationen, wobei ein vollständigeres Bild weiterhin das Zusammenwirken verschiedener Strategien und die Interdependenz der resultierenden Züge der Gedächtnisstruktur be rücksichtigen müßte. Die einzelnen Strategien beruhen auf relativ elementaren
95
kognitiven Operationen und Strukturen, die der Ausbildung der entsprechenden sprachlichen Leistungen vorausgehen müssen. Ihre Grundlagen dürften einen wichtigen Teil der in 5.1. erörterten organismischen Voraussetzungen des Spracherwerbs ausmachen. Verschiedene Typen semantischer Komponenten sind dabei mit unterschiedlichen Arten von Strategien verbunden. Ihre generelle Wirkungsweise kann, mit einiger Vorsicht, als Ausgang vom normalen, unmarkierten, allgemeinen Fall mit nachfolgender Einschränkung für speziellere Bedingungen gekennzeichnet werden. Der Vollständigkeit halber sei e r wähnt, daß ähnliche Strategien auch die Auswahl und Differenzierung der Merkmale der Lautformen der Wörter bestimmen. So hat Svachkin (1948) an r u s s i schen Kindern gezeigt, daß die Folge, in der phonologische Diskriminationen erworben werden, weitgehend dem Markiertheitsgrad der relevanten Merkmale entspricht: Grundmerkmale werden eher unterschieden als speziellere, der neutrale Wert eines Merkmals wird vor dem markierten produziert. Soweit diese Interpretation der noch sehr ausschnitthaften Analysen des Wortschatzerwerbs zutrifft, erscheint das Wortgedächtnis von seiner Entstehung her als die Kodierung von perzeptiven bzw. motorischen Mustern und kognitiven Operationen, die den Bezug von Lautstrukturen auf entsprechende Objekte und Sachverhalte in realen oder fiktiven Situationen determinieren. Die in Abschnitt 2. 5. skizzierten Verschachtelungen semantischer Komponenten werden damit zu fixierten hierarchischen Plänen entsprechender kognitiver Operationen; die Differenzierung von Wortbedeutungen ist entsprechend als Spezialisierung und Anreicherung dieser Operationsmuster zu interpretieren.
5. 4.
Ausbildung syntaktischer Strukturen und Regeln
Wörter fungieren nicht als isolierte Einheiten, sie sind von Anfang an durch ihren Stellenwert in komplexeren semantisch-syntaktischen Zusammenhängen determiniert. Eine Strategie wie (74), die sich auf die Ereignisfolge in komplexen Sätzen bezieht, baut ausdrücklich auf dieser Tatsache auf, die aber bereits für viel elementarere Aspekte der Sprachstruktur gilt: Nur in bezug auf die96
syntaktische Realisierung semantischer Strukturen werden z. B. die Wörter syntaktischen Wortklassen zugewiesen und den damit verbundenen morphologischen Kennzeichnungen zugänglich. (Daß Glück ein Nomen, müde ein Adjektiv ist oder daß die Negation im Finnischen als Verb erscheint, ergibt sich erst im Rahmen syntaktischer Konstruktionen.) Ohne der Vielzahl der Untersuchungen zum Syntaxerwerb Rechnung tragen zu können, werde ich deshalb Grundzüge dieses Prozesses skizzieren und mit einigen Einzelergebnissen belegen. Zunächst gilt auch für syntaktische Zusammenhänge, daß nur das ausgedrückt oder verstanden werden kann, was als kognitive Struktur bereits ausgebildet ist. Das heißt hier, in kognitiven Strukturen, die als einfache Situationsstrukturen im früher erörterten Sinn zu betrachten sein dürften, müssen Relationen zwischen lexikalisierbaren Teilstrukturen identifiziert werden, die dann syntaktischen Beziehungen zwischen den lexikalischen Einheiten zugeordnet werden können. Primäre (in der weiteren Entwicklung zu differenzierende) kognitive Relationen im hier relevanten Sinn sind insbesondere die zwischen einer Handlung und ihrem Träger (die Aktor-Relation), einer Handlung und dem Objekt, auf die sie gerichtet ist, einem Objekt und seiner räumlichen Plazierung, einem Objekt und seinem Besitzer. Diese Relationen sind grundlegend, insofern sie dem anfänglichen Orientierungsbereich des Kleinkindes angehören, ihn mitbestimmen: Die sprachlich artikulierten Wahrnehmungen, Wünsche und Handlungen von Kindern sind zunächst auf Handlungen von Personen, Aktionen an Objekten, das Auftauchen und Verschwinden, die Lokalisation und Zugehörigkeit von Gegenständen gerichtet (Bloom 1973, S. 132). Die syntaktischen Beziehungen, die diesen kognitiven Relationen zunächst zugeordnet sind (ohne ihnen in einfacher, umkehrbar eindeutiger Weise zu entsprechen) sind die in der Konstituentenhierarchie begründeten Relationen zwischen Subjekt und Verb, Verb und Objekt, Verb und Adverb. Das Zuordnungspröblem, das zuerst für einfache Situationsstrukturen und primäre syntaktische Konstruktionen gelöst werden muß, wird wiederum auf Grund elementarer Strategien bewältigt. Charakteristische Beispiele hat Bever (1970) untersucht und in den in Abschnitt 4.1. erwähnten Perzeptions97
Strategien formuliert. Eins dieser Beispiele ist die folgende Strategie: (77)
Eine zusammenhängende NP - V - NP-Folge entspricht der Struktur Aktor - Aktion - Objekt.
In Satzverständnisexperimenten fand Bever unter anderem, daß englischsprachige Kinder im Alter von 3 Jahren dieser Strategie folgend dazu tendieren, Passivsätze als Aktivsätze zu interpretieren, also (78 a) wie (78 b) zu verstehen. (78)
(a) The tiger is chased by the alligator. (b) The tiger chases the alligator.
Mit anderen Worten, die Organisation der syntaktischen Faktoren, deren Wirkung Forster und Olbrei (1973) an Sätzen des Typs (43) und ihrer Passivform zeigen konnten, steht im Alter von drei Jahren noch nicht zur Korrektur gegenüber der unmittelbar an den kognitiven Relationen orientierten Strategie (77) zur Verfügung. In der Funktionsweise entspricht das genau der Übergeneralisierung im Bereich der Wortbedeutung. Dennoch setzt eine Strategie wie (77) bereits die vorangehende Fixierung bestimmter syntaktischer Kenntnisse voraus, die zum Teil universeller Natur sind - so das Prinzip der syntaktischen Relationsbildung überhaupt zum 23 Teil einzelsprachlichen Charakter haben. Die Ausbildung dieser Kenntnisse beginnt bereits mit der vom 12. bis etwa zum 18. Monat reichenden Phase der sogenannten Einwortsätze. Auf Grund systematischer Analysen von Äußerungen aus dieser Phase im Zusammenhang mit dem jeweiligen Situations- und Handlungskontext hat Bloom (1973) die folgenden Annahmen wahrscheinlich gemacht: 1. Entgegen der weit verbreiteten Auffassung sind Einwortäußerungen nicht "unentfaltete Sätze", die einen Sachverhalt in einem Wort zusammendrängen, sondern Verweise auf einen herausgehobenen Bestandteil eines Situations oder Handlungszusammenhangs. Das Herausgreifen und Benennen folgt im wesentlichen der oben erörterten Strategie (67). Außer Objekten und P e r sonen, die vornehmlich an Hand perzeptiver Komponenten klassifiziert werden, können auch Prozesse, Funktionen und Handlungen herausgelöst werden. Alle-alle oder auf (letzteres generalisiert auf jeden Öffnungsvorgan ;) sind Beispiele, deren Bedeutung weniger auf perzeptiven, als auf funktic aalen 98
Komponenten beruht. Einwort-Äußerungen enthalten mithin noch keine latente syntaktische Gliederung, sondern fixieren Ausschnitte aus Situationen. 2. Den Übergang zu syntaktischen Verknüpfungen bildet das Nebeneinanderstellen von zwei oder mehr Einwort-Äußerungen, die auf Grund ihrer separaten Intonation noch deutlich als isolierte Einheiten erkennbar sind. Bloom hält es für möglich, dabei zwei Etappen zu unterscheiden: (a) Die Abfolge der Einzeläußerungen wird durch den Handlungsablauf organisiert, der Zusammenhang ergibt sich aus dem sukzessiven Auftreten der benannten Objekte im Handlungsvollzug; (b) zwei (oder auch mehr) an einem Vorgang oder Zustand beteiligte Faktoren werden unabhängig von der Zeitgliederung des Situationsablaufs benannt, gewissermaßen simultan präsent gehalten. Mit dieser Etappe beginnt sich die unmittelbare Kopplung von Wahrnehmung oder Handlung und sprachlicher Äußerung zu lockern, der Zusammenhang zwischen den Einheiten wird mit sprachlichen Mitteln hergestellt. Dies geschieht schrittweise in der Phase der Zwei- und Mehrwortsätze (die auch intonatorisch als solche erkennbar sind) etwa vom 18. Monat an. In einer ausführlichen Entwicklungsstudie an drei Kindern konnte Bloom (1970) zeigen, daß die Organisation der Zwei- und Dreiwortsätze bereits auf Grund aller oben genannten Grundrelationen (Aktor, Objekt, Lokalisierung, Besitz) ge24 schieht. Das gilt durchaus auch angesichts der Tatsache, daß die volle Ausdifferenzierung der syntaktischen Oberflächenstrukturen noch nicht vollzogen ist. So fand Bloom etwa, daß einer Verbindung wie mommy sock einmal die Relation Aktor - Objekt ('Die Mutter (soll) mit der Socke etwas tun'), ein andermal die Relation der Zugehörigkeit ('Mutters Socke') zugrunde liegt. Statt den von Bloom vorgeschlagenen Regeln, nach denen solche Relationen syntaktisch realisiert werden, hier weiter nachzugehen, will ich eine typische Erscheinung der gleichen Entwicklungsphase bei deutschsprachigen Kindern erörtern.
99
5. 5.
Anfänge der Konatituentenstruktur
Charakteristisch für die Etappe der Zwei- und Dreiwortsätze im Deutschen sind Konstruktionen folgender Form: (79)
Zweiwortsätze: (a) Aktor -Aktion = N - V : Thomas gucken (b) Aktion-Objekt = N - V : Bleistift holen
(80)
Dreiwortsätze: Aktor-Aktion-Objekt =
(b) N - V - N : Mami kocht Breichen Das Problem, um das es geht, ist die Verbstellung, genauer die Stellung des Objekts (und anderer Modifikationen) vor dem Verb und die daraus resultierende Verbendstellung. Roeper (1973) berichtet aus der Beobachtung von drei Kindern z. B. folgende typische Verteilung der einschlägigen Satzmuster: Ulrike
Angela
= Subjekt-Verb = Verb-Subjekt
16 1
16 1
N-V
= Objekt-Verb
16
35
42
V -N
= Verb-Objekt
13
3
14 15
(81) N-V V - N
Georg 39 4
= Subj-Obj-Verb 4 4 3 = Subj -Verb-Ob j 6 13 N -V -N Die wenigen Verb-Subjekt-Fälle wie etwa zumachen Dieter können sehr • N - N -V
wahrscheinlich als Übergangserscheinungen von der Etappe (b) der Nebeneinanderstellung von Einwortäußerungen zu eigentlichen Zweiwortsätzen gelten, so daß die Stellung N - V für eigentliche Aktor-Aktion-Konstruktionen durchgehend gilt. Die gleiche Übergangsstufe dürfte auch für einen Teil (aber sicher nicht alle) der Verb-Objekt-Fälle wie angucken Omnibus gelten. Es ergibt sich damit die Frage nach der Herkunft der Folge Objekt-Verb, die in Zweiwortsätzen die Verb-Objekt-Folge überwiegt, und in Dreiwortsätzen etwa die Hälfte ausmacht. (Auf die Rolle der Subjekt-Verb-Objekt-Folge gehe ich im nächsten Abschnitt ein.) Diese Frage ist aus zwei Gründen relevant: Erstens ergibt sich die Objekt-Verb-Folge nicht aus der kognitiven Relation zwischen Aktion und Objekt. In Zwei- und Dreiwortsätzen englischsprachiger 100
Kinder ist sie praktisch ausgeschlossen (vgl. etwa Bloom 1970). Sie muß also auf die Spezifik der deutschen Syntax zurückgehen. Zweitens aber haben einfache Aussage- (und Imperativ-)Sätze auch im Deutschen das Objekt und andere Ergänzungen hinter dem Verb: Dieter holt den Stift oder Laß das! Sätze wie ich nicht spielen oder das auch nicht malt können also nicht direkte Imitation von Äußerungen Erwachsener sein, sie gehören nicht nur kaum zum Sprachangebot, sondern werden sogar vielfach ausdrücklich korrigiert ( . . . ja, das malt auch nicht). Wie in Abschnitt 2 gezeigt wurde, ist die Verbendstellung im Deutschen kennzeichnend für untergeordnete Sätze, die in diesem Punkt direkt die TiefenstnukturOrdnung reflektieren. Daraus ließe sich schließen, daß Kinder bei der syntaktischen Realisierung von Wortverknüpfungen eine Strategie befolgen, die entweder die Tiefenstruktur mit der Oberflächenform identifiziert, oder die Nebensätze als primär behandelt. Beides führt zu Paradoxien: Komplexe Sätze, und damit Nebensätze, werden in dieser Phase weder als solche gebildet noch verstanden, können also kaum Ansatzpunkt einer generalisierenden Strategie sein. Und Tiefenstruktureigenschaften müssen indirekt erschlossen werden, sie werden gerade bezüglich der Reihenfolge nicht unmittelbar realisiert - außer eben in Nebensätzen. Die Paradoxien lösen sich jedoch auf, wenn man berücksichtigt, daß erstens Nebensätze ganz generell eine größere Invarianz der grammatischen Struktur aufweisen als Hauptsätze und zweitens auch Hauptsätze das Verb am Satzende haben, wenn sie Hilfs- oder Modalverben enthalten. Der erste Punkt folgt aus einem allgemeinen Strukturprinzip natürlicher Sprachen, für das Ross (1973) die folgende Formulierung vorgeschlagen hat: (82)
Es gibt keine syntaktischen Veränderungen, die nur auf Nebensätze, wohl aber solche, die nur auf Hauptsätze anzuwenden sind. Syntaktische Beziehungen können deshalb in Nebensätzen auch dann direkter erfaßt werden, wenn deren Status als Teil eines komplexen Satzes nicht realisiert wird. Der zweite Punkt ergibt sich aus der (nur für Hauptsätze geltenden) VerbstellungsregeL im Deutschen, die jeweils nur die finite Verbform umstellt:
101
(83)
(a) (daß) Thomas das Auto sieht.
O Thomas sieht das Auto.
(b) (daß) Thomas das Auto gesehen hat. Thomas hat das Auto gesehen. (c) (daß) Thomas das Auto gesehen haben m u ß . = i > Thomas muß das Auto gesehen haben. Die Folge Objekt-Verb tritt also auch in vielen Hauptsätzen direkt in E r 25 scheinung. Damit ist die Basis für eine Strategie gegeben, die die Verbendstellung zunächst als den neutral-invarianten Fall generalisiert, in dem der Ausdruck für eine Aktion (oder einen Zustand) der Benennung der Aktanten, d.h. der Träger und der von Zustand oder Aktion Betroffenen, nachfolgt. T r e ten zwei Aktanten auf, so gilt weiterhin, daß der Aktor dem Objekt vorangeht: (84) (a) Die Aktanten gehen der Aktion voraus. (b) Der Aktor (= das Subjekt) bildet den Satzanfang. Der Teil (84 b) dieser Strategie ist erst für Dreiwortsätze relevant und schafft die Ansätze einer Rangreihe oder Hierarchie der Ergänzungen zum Verb. Das strukturelle Resultat der beiden Teilstrategien läßt sich durch die folgende rudimentäre Konstituentengrammatik ausdrücken: (85) (a) SATZ * N VP (b) VP » (N) V Sie erzeugt, ergänzt durch die entsprechenden Lexikönregeln, Strukturen folgender Art: (86) (a) SATZ (b) SATZ (c) SATZ N V N V I Thomas gucken 0 Auto holen Ulrike Roller fahre Verschiedene Details in dieser Grammatik sind spekulativ und können allenfalls indirekt gerechtfertigt werden (so etwa die Annahme einer eigenen Prädikatskonstituente VP). Sie charakterisieren aber im Prinzip den Rahmen, innerhalb dessen die syntaktische Klassifizierung lexikalischer Einheiten und die syntaktische Realisierung semantischer Relationen sich etablieren kann und der durch Einbeziehung weiterer Einheiten modifiziert und ergänzt wird. Anders ausgedrückt: Strukturen wie die in (86) bilden die Grundlage dafür, daß generelle Strategien wie (84) zur Herausbildung autonomer syntaktischer Rela102
tionen führen, die zur systematischen Realisierung unterschiedlicher kognitiver Beziehungen dienen können. Dabei ist - wie bei den meisten Annahmen zu den frühen Phasen des Spracherwerbs - generell zu berücksichtigen, daß die Analyse der Sprachproduktion keinen direkten Aufschluß über die Entwicklung des Sprachverstehens gibt. Allerdings haben vergleichende Untersuchungen von Sprachproduktion und Sprachverstehen keinen Anhaltspunkt für Unterschiede der zugrunde liegenden Sprach kenntnis ergeben (vgl. u.a. Slobin 1971), was aber keineswegs ausschließt, daß Kinder (wie Erwachsene) mehr verstehen als sie produzieren.
5.6.
Der Erwerb von syntaktischen Transformationen
Die weitere Differenzierung der Konstituentenstruktur geht Hand in Hand mit dem Erwerb von Transformationen, die die Realisierung der semantisch relevanten Grundrelationen in den verschiedenen Oberflächenstrukturen determinieren. Ich illustriere diesen komplizierten Prozeß an zwei Beispielen. Für das erste Beispiel greife ich noch einmal das Problem der Verbstellung im Deutschen auf. Die Daten in (81) zeigen, daß Dreiwortsätze etwa zur Hälfte mit Verbzweitstellung, zur Hälfte mit Verbendstellung gebildet werden und daß bereits bei Zweiwortsätzen die Stellung des Objekts vor dem Verb nicht durchgängig ist. Bezogen auf die erörterten Gegebenheiten im Sprachangebot erscheint das beinahe selbstverständlich: Sowie ein Kind syntaktische Einheiten identifizieren und den Zusammenhang von mehr als zwei dieser Einheiten in Sätzen der Erwachsenensprache zu interpretieren beginnt, präsentieren sich ihm außer Folgen der Form N - X - V auch solche des Typs N - V - X als Realisierung der gleichen kognitiven Relation zwischen V und X. Die Speicherung von Vertretern beider Typen im episodischen Gedächtnis erlaubt die Bildung einer Zusatzstrategie zu (84), die zunächst rein fakultativen Charakter hat, zugleich aber die durch (84 a) ausgedrückte unbedingte Verbendstellung entsprechend einschränkt. Als fakultative Strategie, die (84) nachgeordnet ist, besagt sie folgendes: 103
(87) Das Verb steht alternativ vor dem Objekt (und anderen Modifikationen). Andere Formulierungen der Strategie sind denkbar; wichtig ist der Effekt der Alternation in der Verbstellung. Wird dieser Effekt auf der Grundlage der Strategie (84) bzw. der ihr entsprechenden Konstituentenstrukturgramma tik (85) syntaktisch stabilisiert, so entspricht er der folgenden Transformationsregel: (88)
Eine Struktur N - X - V kann fakultativ als N - V - X realisiert werden, formal: [-SATZ
WC 1
V
P
X
2
1
"
3
"
2
3
Die Formulierung dieser Regel ist wiederum in den Einzelheiten spekulativ, zeigt aber die Entstehung des Prinzips alternativer Oberflächenrealisierung auf Grund strukturabhängiger Operationen. In der Folge wird (88) eingeschränkt 1. auf das Verb, das die Personalendung trägt, und 2. auf die Anwendung im Hauptsatz. Sie ist dann nicht mehr fakultativ, sondern unter den angegebenen Bedingungen obligatorisch. Roeper (1973) führt ein interessantes Argument zur Stützung dieser Analyse an. Englische Kinder bilden in der Phase des E r werbs von Fragesätzen, die außer der Voranstellung des Frageworts eine Inversion von Verb und Subjekt verlangen, häufig Sätze der Form Why he can go outside? anstelle des korrekten Why can he go outside? Würden deutschsprachige Kinder in der entsprechenden Phase ebenfalls eine Subjekt-Verb Inversion zu erwerben haben, wären Fehler des gleichen Typs zu erwarten. Mit zwei oder drei Ausnahmen fand Roeper bei der Untersuchung von 75 Kindern von 4 bis 7 Jahren keinen Fehler dieser Art (Warum er spielt Fußball? statt Warum spielt er Fußball?). Diese Tatsache ist voraussagbar, wenn man annimmt, daß das Spezifikum dieser Sätze lediglich die Voranstellung des Frageworts ist, während die Verbstellung sich automatisch auf Grund der bereits erworbenen (unwesentlich generalisierten) Transformation (88) e r gibt. Mit anderen Worten, die in den nachfolgenden Phasen beobachtbare Interaktion anderer Transformationen mit der Verbstellungsregel liefert indirekte Evidenz für den vorangehenden Erwerb dieser Transformation. Während die Verbumstellung im Deutschen eine sehr frühe Transformation darstellt, bezieht sich das zweite Beispiel auf relativ späte Differenzierungen 104
in der syntaktischen Kenntnis. Es gehört zu einer Untersuchung von C. Chomsky (1969), die sich mit Prozessen des Syntaxerwerbs im Alter von 5 bis 10 Jahren befaßt und dabei unter anderem Infinitivkonstruktionen folgender Art untersucht hat. (89)
(a) Bozo teils Donald to lie down.
(b) Bozo promises Donald to lie down. Wesentlich für diese Konstruktionen ist die Identifizierung des Subjekts des zweiten Verbs: in (89 a) betrifft das Hinlegen Donald, in (89 b) dagegen Bozo. Etwas formaler: die beiden Sätze müssen auf Tiefenstrukturen folgender Art bezogen werden: (90)
(a)
down (b)
lie
down
Für die große Mehrzahl aller englischen Verben, die eine Infinitivergänzung haben können, gilt nun das folgende "Prinzip der minimalen Distanz (Rosenbaum 1967): (91)
Das Tiefenstruktur-Subjekt eines Infinitiv-Verbs ist identisch mit der nächststehenden NP des übergeordneten Satzes.
Entfernung ist dabei definiert durch die Zahl der intervenierenden Knoten. Für eine kleine Zahl spezieller Verben, zu denen promise gehört, gilt jedoch nicht das Prinzip (91), sondern die folgende Bedingung: (92)
Für Verben der promise -Klasse ist das Subjekt des Infinitivs mit dem Tiefenstruktur-Subjekt des übergeordneten Satzes identisch. 105
Ausgehend von der Hypothese, daß zunächst (91) als Strategie für die Interpretation aller Infinitivkonstruktionen generalisiert wird, prüfte C. Chomsky bei 40 Kindern das Verständnis von vier Satzpaaren des Typs (89), die als R o l lenspiel mit Spielzeugfiguren auszuführen waren, und fand dabei folgende Fehlertypen: (93)
Interpretation der Testkonstruktionen mit teil und promise Gruppe nach Fehlertyp
teil
promise
Anzahl der Kinder
I n in IV
korrekt gemischt korrekt korrekt
falsch gemischt gemischt korrekt
10 4 5 21
Gruppe I befolgt durchgehend Strategie (91), Gruppe IV hat die durch (92) angegebene Differenzierung erworben, II und in ergeben sich aus verschiedenen Übergangsstrategien. Das Alter, in dem dieser Analyse zufolge die B e dingung (92) erworben wird, variiert von 5 bis zu etwa 8 Jahren. Daß es sich dabei um ein rein syntaktisches Phänomen handelt, wurde gesichert, indem zunächst bei allen Kindern das semantische Verständnis von promise geprüft wurde. Mit ander< n Worten, außer der Bedeutung eines Wortes müssen seine verschiedenen syntaktischen Funktionen differenziert und gespeichert werden, was in einem sehr speziellen Bereich die Auffassung von Lashley (1951) bestätigt, daß "syntax is not inherent in the words employed or the idea to be expressed. It is a generalized pattern imposed upon the specific acts as they occur". Das syntaktische Muster, das in diesem Fall erforderlich ist, ist bestimmt durch die Transformation, die (89 b) auf (90 b) bezieht. (Vgl. dazu auch Anmerkung 17.) C. Chomskys Ergebnisse schließen natürlich nicht aus, daß Kinder der Gruppen I bis III Sätze vom T y p (89 b) außerhalb der durch die Experimentanforderung gesetzten Bedingung richtig verstehen, indem sie andere, situationsbezogene Strategien befolgen. Sie zeigen aber, daß beim Versagen solcher Anhaltspunkte die korrekte syntaktische Interpretation nicht zur Verfügung steht und durch die Generalisierung der Strategie (91) ersetzt wird. Die beiden erörterten Beispiele aus sehr verschiedenen Phasen des Spracherwerbs zeigen den Verlauf der Aneignung jeweils einer herausgelösten trans-
106
formationeilen Beziehung. Um das Bild wenigstens andeutungsweise zu v e r vollständigen, müßte die Beeinflussung bereits fixierter durch neu hinzutretende Regeln, das heißt der Erwerb eines komplexen Systems voneinander abhängiger Regeln analysiert werden. Der größte T e i l dieses außerordentlich komplizierten Prozesses spielt sich im Zeitraum zwischen 1, 6 und 4 Jahren ab. Soweit er prinzipiell in der hier diskutierten Weise erklärt werden kann, nämlich durch generalisierende Strategien, die episodischen Gedächtnisbesitz und aktuelle Information selektiv auswerten und damit zu grammatischen R e geln führen, die durch neue Strategien und neue Regeln eingeschränkt und differenziert werden, hängt alles von der Verfügung über geeignete Strategien, ihrer Interaktion und den Strukturen und Regeln ab, zu denen sie führen können. Außer den allgemeinen Voraussetzungen kognitiver Strukturbildung sind vor allem hier die in 5 . 1 . erörterten spezifischen Grundlagen des Spracherwerbs anzunehmen, die die Sprachstruktur mit den Bedingungen der Gedächtnisbildung verbinden. Anders herum: Natürliche Sprachen sind notwendigerweise so beschaffen, daß sie durch das Ensemble verfügbarer Strategien für das Gedächtnis erschlossen werden können. Erwähnt sei noch, daß in den Zusammenhang des Syntaxerwerbs auch die Aneignung der morphologischen Regeln gehört, die durch Wortbildungs- und Flexionsformen gewissermaßen Wortschatz und Syntax verbinden. Slobin (1971) hat eine Reihe von Strategien zusammengestellt, die bei der Analyse dieser Prozesse gefunden worden sind. Übergeneralisierung der normalen, unmarkierten Kategorien ist auch hier ein dominantes Prinzip: Formen wie 26 gestreitet statt gestritten, klingte statt klang sind typische Fälle. Der E r werb morphologischer Regeln ist mit dem der syntaktischen Muster eng v e r bunden, weil die Flexionsformen bzw. die durch sie ausgedrückten semantischsyntaktischen Merkmale meist durch Rektions- und Kongruenzbeziehungen gebunden sind. So wird im Deutschen z . B . die Beziehung zwischen Subjekt und finitem Verb im Satz oder zwischen Artikel, adjektivischem Attribut und Substantiv in einer NP durch die Übereinstimmung in festgelegten morphologischen Kategorien gekennzeichnet. Die Distinktion von Formen wie male vs. malst, gebe vs. gibst usw. muß deshalb 27 mit dem Auftreten von ich bzw. du in Subjektfunktion verbunden werden. Entscheidend ist das Zusammenspiel syn107
taktischer und morphologischer Regeln für den Erwerb der Artikel- und Pronominalformen und ihrer charakteristischen syntaktischen und semantischen Funktion. Das Ineinandergreifen verschiedener Strategien wäre hier exemplarisch zu zeigen.
5. 7.
Spracherwerb und Kurzzeitgedächtnis
Ähnlich wie die steigende Anzahl der erworbenen Wörter als quantitativer Indikator für den Wortschatzerwerb betrachtet werden kann, bietet sich die wachsende mittlere Länge der Äußerungen, ausgedrückt in der Zahl der Wörter pro Satz, als quantitatives Kriterium für den Entwicklungsstand der syntaktischen Seite des Spracherwerbs an. Es liegt nahe, die mittlere Länge der Äußerungen als Folge der zunehmenden Kapazität des Kurzzeitgedächtnisses anzusehen. In der Tat sind die unentfalteten syntaktischen Muster der frühen Phasen der Sprachentwicklung häufig auf die Begrenztheit des Kurzzeitgedächtnisses zurückgeführt worden. Diese Auffassung hat Olson (1973) einer kritischen Analyse unterzogen. Seine Überlegungen beruhen auf zwei Feststellungen. Die erste betrifft das wohlbekannte Resultat von Miller (1956), nach dem die durchschnittliche Kapazität des Kurzzeitgedächtnisses fünf bis sieben unabhängige Einheiten beträgt, wobei aber entscheidend ist, daß diese Einheiten Zusammenfassungen, d. h. Umkodierungen, von Gruppen elementarer Items sein können. Das heißt, daß durch effektive Kodierungssysteme die Kapazität des Kurzzeitgedächtnisses, bezogen auf diese Grundelemente, e r heblich gesteigert wird. Zu Wörtern zusammengefaßte Buchstabenfolgen sind das anschaulichste Beispiel dafür. Die zweite Feststellung betrifft Ergebnisse verschiedener Autoren, die zeigen, daß bezogen auf visuell kodierte Information das Kurzzeitgedächtnis von Kindern keineswegs eine gleich starke Begrenztheit zeigt wie etwa bei verbalen Informationen. So legte z . B . Hoffmann (1971) Probanden verschiedener Altersstufen Serien von Bildern aus populären Zeitschriften vor und 108
ließ anschließend aus Paaren von Bildern dasjenige identifizieren, das unter den zuvor gezeigten war. D r e i - bis neunjährige Kinder und Erwachsene zeigten dabei sehr schwache oder gar keine Unterschiede. Als Ursache für die B e grenztheit des Kurzzeitgedächtnisses erscheint damit nicht die Verarbeitungs kapazität an sich, sondern vor allem die Fähigkeit effektiver Kodierung der zu behaltenden Information. Befunde dieser Art gewinnen besonders an Plausibilität, wenn man Bruners (1966) Auffassung folgt, daß die dominante Form interner Repräsentationen von enaktiver über ikonische zu symbolischer Kodierung fortschreitet, wobei motorische Akte, visuelle Vorstellungen und Sprache die jeweils typischen Formen der drei Modalitäten sind. Wesentlich ist im vorliegenden Zusammenhang aber nur, daß bei Beginn des Spracherwerbs die internen Repräsentationen nichtverbal sind. Die Schlußfolgerung, die Olson aus diesen Feststellungen zieht, ist die, daß nicht (oder zumindest nicht allein) ein Zuwachs an Gedächtniskapazität die Basis für den Erwerb komplexerer syntaktischer Strukturen ist, sondern umgekehrt, der Erwerb syntaktischer Muster und Regeln das ermöglicht, was als Anstieg der Kurzzeitgedächtniskapazität erscheint. E r s t die Kenntnis und Beherrschung der komplexen sprachlichen Codierungseinheiten und -regeln gibt den Verarbeitungsmechanismen des Kurzzeitgedächtnisses die Möglichkeit zur Organisation und Kontrolle der Strukturen, die zur Perzeption und Produktion entfalteterer sprachlicher Äußerungen nötig sind. Genau in diesem Sinn war in Abschnitt 4. 3. bereits von den syntaktischen R e geln als Grundlage für den Mechanismus der syntaktischen Organisation die Rede, wie er von Lashley (1951) und in ganz ähnlichem Sinn auch von B e r n stejn (1966) anvisiert wird. Damit ist nicht gesagt, daß nicht auch die Leistungsfähigkeit des Kurzzeitgedächtnisses an sich einer Entwicklung unterliegt, wohl aber, daß kein einfacher, linearer Zusammenhang zwischen einer solchen denkbaren Entwicklung und der mittleren Satzlänge besteht, daß hier vielmehr die Intervention der j e weils erworbenen Sprachkenntnis eine entscheidende Rolle spielt. Dabei sind keineswegs nur die syntaktischen Regeln von Belang, sondern selbstverständlich auch die lexikalischen Einheiten. Als feste Kodierungen von Komplexen
109
elementarer Merkmale und Beziehungen tragen sie zur Effektivität der s p r a c h lichen Strukturbildung ebenso wie die syntaktischen Regeln bei. Die von Olson (1973) erörterte Auffassung läßt sich verdeutlichen durch die Gegenüberstellung von Kindersprache und Aphasie. Die Einschränkungen gegenüber den sprachlichen Leistungen des normalen Erwachsenen beruhen im Fall aphatischer Störungen p r i m ä r auf der Störung der Aktivierung und der Organisationsmechanismen bei zumeist erhaltener Sprachkenntnis (vgl. Weigl and Bierwisch 1970). In den frühen Phasen der Kindersprache beruhen die Einschränkungen dagegen bei normaler Funktion der Aktivierungs-, Organisations- und Kontrollmechanismen auf der noch unausgebildeten Kenntnis sprachlicher Regeln und Einheiten. Die oft konstatierten Parallelen in E r s c h e i nungen der Kindersprache und der Aphasie entspringen nach dieser Vorstellung zwei ganz verschiedenen, aber voneinander abhängigen Faktoren der Sprachverwendungsprozesse. Wenn sich diese noch bestätigungsbedürftigen Annahmen zum Verhältnis von Kurz- und Langzeitgedächtnis in der Ontogenese (und der Pathologie) der Sprache als zutreffend erweisen, dann heißt das, daß mit dem Aufbau des sprachlichen Langzeitgedächtnisbesitzes zugleich die Funktionsweise des Kurzzeitgedächtnisses auf eine neue Grundlage gestellt wird.
6.
Ausblicke
Ein Versuch, die erörterten Annahmen und Ergebnisse zum sprachlichen Aspekt des Gedächtnisses und zur Gedächtnisgrundlage der Sprache zum Schluß in einem zusammenfassenden Modell festzuhalten, würde entweder zu Trivialitäten führen oder aber über den Rahmen dieses Überblicks weit hinausgehen. Ich diskutiere statt dessen abschließend einige allgemeinere Fragen und kennzeichne offene oder nicht e r ö r t e r t e Probleme.
110
6.1.
Kognitive Prozesse, Sprache, Handeln
Das Produzieren wie auch das Verstehen sprachlicher Äußerungen ist im Normaliall ein intentionaler Prozeß, der eine motivationale Grundlage hat und zielorientiert ist. Mit anderen Worten, Aufbau und Aktivierung von sprachlichem Gedächtnisbesitz geschieht im Rahmen sinnvoller sprachlicher Handlungen. Diese allgemeine Feststellung, die eine der Grundlagen einer nicht mechanisch verkürzten Analyse sprachlicher Prozesse bildet, läßt sich an Hand der oben e r ö r t e r t e n Befunde zum Spracherwerb in einigen Punkten konkretisieren. Die von Bloom (1973) vorgeschlagene Auffassung des Übergangs von E i n wortäußerungen zu gegliederten elementaren Sätzen beruht auf dem unmittelbaren Zusammenhang von motorischen, kognitiven und sprachlichen Leistungen: Die syntaktische Organisation von Äußerungen wird vorbereitet im Ablauf nichtsprachlicher Handlungen. Ebenso knüpft ein wesentlicher Teil der S t r a tegien zur Ermittlung der Wortbedeutungen an perzeptive und motorische Muster an. Die kognitive Organisation motorischer Aktivitäten und perzeptiver Bedingungen (mit den an sie gebundenen Zielen und Motiven) leitet die Bildung 28
sprachlicher Strukturen ein.
Die Ableitung grammatischer Regeln und Mu-
ster aus kognitiven Strukturen, die ihrerseits zunächst mit praktischen Handlungen und Wahrnehmungsstrukturen verbunden sind, erinnert deutlich an die von Galperin (1967) entwickelte Konzeption, derzufolge sich geistige Operationen stufenweise als Interiorisierung praktischer Handlungen herausbilden. Allerdings dürfen die zu erwerbenden sprachlichen Regeln und Strukturen nicht einfach mit geistigen Operationen gleichgesetzt werden, wie Galperin sie s t u diert, Die sprachliche Formulierung praktischer Handlungen fungiert dort als eine Stufe der Interiorisierung. Die sprachlichen Mittel werden also für den Vollzug verallgemeinerter geistiger Handlungen der von Galperin untersuchten Art bereits vorausgesetzt, und gerade um den Aufbau dieser Mittel geht es im Spracherwerb. Diese Verdeutlichung hängt mit einem zweiten Punkt zusammen. Der Aufbau sprachlicher Strukturen läßt sich nicht einfach auf den Effekt b e reits etablierter kognitiver Prozesse und Strukturen reduzieren. Vielmehr sind dabei, wie sich besonders an syntaktischen Regeln und Mustern zeigen läßt, spezifisch sprachliche Bedingungen beteiligt, und zwar sowohl universelle 111
Eigenschaften der Sprachstruktur (wie z . B . das Prinzip (82), das die größere Invarianz von Nebensätzen garantiert) als auch einzelsprachliche Faktoren (z.B. die Effekte der Verbumstellungstransformation im Deutschen). Systematische Unterschiede in den ersten Satzmustern von Kindern in verschiedenen Sprachumgebungen (Objekt-Verb-Folge im Deutschen, Verb-Objekt-Folge im Englischen) dürften sonst nicht auftreten. Die Erfassung und Fixierung g r a m matischer Muster muß demnach ein relativ autonomer Faktor beim Erwerb sprachlicher Kenntnisse sein. Damit ist der Zusammenhang sprachlicher Strukturen mit kognitiven (sowie motorischen und perzeptiven) Voraussetzungen keineswegs zurückgenommen, sondern p r ä z i s i e r t : Die Sprache ist eine charakteristische Kodierung kognitiver Strukturen, die eine spezielle, für, die Ontogenese wesentliche Grundlage hat. Diese Feststellungen entsprechen auch den grundsätzlichen Überlegungen von Bruner (1966), der auf der Grundlage zahlreicher Befunde zur kognitiven Entwicklung drei Formen interner Repräsentation unterscheidet: die (vorwiegend motorische Muster fixierende) enaktive, die (hauptsächlich visuell-anschauliche) ikonische, und die (primär sprachliche) symbolische Repräsentationsform. Wie oben bereits erwähnt, ordnet Bruner die Ausbildung dieser Kodierungsformen in dieser Reihenfolge dem Prozeß der Ontogenese kognitiver Leistungen zu, wobei die symbolische Repräsentationsform als die zuletzt auftretende die beiden anderen voraussetzt. Darüber hinaus entwickelt sich jede dieser Repräsentationsformen auf Grund eigener, interner Grundlagen des Organismus. Mit anderen Worten: Die Entwicklung sprachlicher Repräsentationen setzt nicht nur motorische und ikonische Gedächtnisinhalte voraus, sondern auch spezifische Bedingungen der Sprachstrukturbildung. Einmal etabliert, wirken sprachliche Strukturen auf die Organisation p e r zeptiver Prozesse und praktischer Handlungen zurück, für deren Planung sie ein effektives Medium darstellen. Experimentelle Ergebnisse zu dieser Seite des Zusammenhangs von Sprache, kognitiven Strukturen und Handlungsplänen bilden einen umfangreichen Untersuchungsgegenstand für sich.
112
6. 2.
Der Status von Einheiten, Regeln und Strategien
Die sprachlichen Strukturen, deren Repräsentation im Gedächtnis ich unter verschiedenen Gesichtspunkten erörtert habe, werden als solche zunächst in der Linguistik analysiert und in einem theoretischen Rahmen beschrieben. Diese Beschreibung hat die Form eines Systems von Regeln und Einheiten, das nach bestimmten generellen Prinzipien aufgebaut ist. Diese Prinzipien müssen, wie ich an mehreren Stellen erläutert habe, unter anderem Bedingungen der Funktionsweise des Gedächtnisses widerspiegeln. Die Erfüllung dieser Forderung, die für die theoretische Linguistik und die Gedächtnis Psychologie gleichermaßen bedeutsam ist, wirft eine Reihe verwickelter F r a gen auf, die ich an drei miteinander verbundenen Problemen illustrieren will. Das erste läßt sich am einfachsten an Hand sogenannter Redudanzregeln entwickeln, obwohl es keineswegs nur für sie gilt. Es sei A eine semantische Komponente, die, wo immer sie auftritt, in der gleichen Weise mit der Komponente B verknüpft ist. (Als triviales Beispiel kann man sich A als die Komponente (TIER X), B als (LEBEWESEN X) vorstellen.) Wenn eine Sprache nun n Lexikoneinheiten mit der Komponente A besitzt, so muß entweder jede von ihnen in ihrer Repräsentation auch die Komponente B enthalten, oder es muß eine Redundanzregel geben, die bei der Einsetzung einer dieser Einheiten in einen Satz automatisch die Komponente B hinzufügt. Diese eine Regel e r laubt dann, n Einzelvorkommen von B im Lexikon einzusparen. Bei der Vielzahl von Fällen, in denen solche Redundanzen auftreten, vermehren sich die Einsparungen entsprechend. Wichtiger ist aber noch, daß die angenommene Regel einen generellen Zusammenhang ausdrückt, der automatisch auch für etwa neu ins Lexikon aufzunehmende Einheiten (in unserem Beispiel: für neue Tierbezeichnungen) gilt. Redundanzregeln dieser Art, wie sie N. Chomsky (1965) für syntaktische und Katz (1966) für semantische Merkmale formuliert haben, setzen demnach relevante sprachliche Zusammenhänge in eine Vereinfachung des Beschreibungsaufwands um, der offensichtlich einem wesentlichen Zusammenhang im Gedächtnis entspricht. Sie erfüllt damit durchaus die in 2. 6. erörterte Bedingung der psychologisch motivierten Einfachheit. 113
Nun führt die skizzierte Prozedur aber zu einem Paradoxon, wenn man die Funktionsweise des Sprachgedächtnisses in geläufiger Weise durch ein Computermodell wiedergibt. Die Entlastung der Lexikoneinheiten entspricht einer Einsparung an Langzeitspeicherraum, die dafür notwendige Anwendung der Redundanzregel einer Operation im Kurzzeitspeicher. Je größer die Zahl der Redundanzregeln, desto umfangreicher werden die mit jedem Abruf einer Lexikoneinheit notwendig verbundenen Zusatzoperationen. Angesichts der Annahmen, die über die Kapazität des Langzeitgedächtnisses einerseits und die Begrenztheit des Kurzzeitgedächtnisses andererseits gemacht werden müssen, ergäbe sich hier sehr rasch ein widersinniges Bild. Denn was in bezug auf Redundanzregeln für syntaktische und semantische Merkmale gesagt wurde, gilt gleichermaßen für phonologische und morphologische Regeln. Eine einfache aktualisierte Wortform wie riet oder kam wäre damit bereits das E r gebnis einer komplizierten Folge von grammatischen Operationen. Die Speicherung fertiger Wortformen mit allen Redundanzen müßte demgegenüber als realistischeres Modell der Sprachkenntnis erscheinen. Ich habe das Problem formuliert, nicht um zu zeigen, daß die linguistisch begründeten Regeln unter psychologischem Gesichtspunkt Fiktionen sind, sondern um die Bedingungen zu kennzeichnen, die bei der Konstruktion psychologischer Modelle der Sprachkenntnis zu berücksichtigen sind. Grammatische Regeln können dabei nicht einfach als aktuelle Operationen im Sinn einer Computer Simulation interpretiert werden. In welcher Weise sie die Struktur und Funktionsweise des sprachlichen Gedächtnisses determinieren, ist damit jedoch noch keineswegs gesagt. Mit diesem Problem ist nicht nur eine linguistische Bedingung für die Entwicklung von Gedächtnismodellen angedeutet, sondern auch umgekehrt ein spezieller Fall der bereits früher erörterten Bewertung linguistischer Beschreibungssysteme unter dem Gesichtspunkt von Annahmen über die Funktionsweise des Gedächtnisses. Ein ähnliches Problem stellt die Frage dar, auf welche Weise die interne semantische Struktur lexikalischer Einheiten bei deren Auftreten in aktualisierten Sätzen wirksam wird, genauer: ob die lexikalischen Einheiten in ihre Komponenten aufgelöst oder als Ganzheiten verarbeitet werden. Kintsch (1974) ist dieser Frage in einer Reihe von Experimenten nachgegangen. Dabei zeigte 114
sich einerseits, daß die freie Reproduktionsrate sonst gleich strukturierter Sätze nicht in Abhängigkeit von der internen Komplexität in ihnen enthaltener Wörter variiert. Semantisch mehr oder weniger komplexe Wörter werden also gleichermaßen als Einheiten behandelt. Andererseits erwiesen sich aber Wörter, deren Bedeutung als Teilstruktur in der Bedeutung eines im Satz auftretendes Wortes enthalten war (z. B. believe als Teilstruktur von convince = 'cause to believe'), als effektive Reize für ausgelöstes Reproduzieren. Das heißt, daß lexikalische Einheiten auf Grund ihrer Komponentenstruktur zerlegt werden, wenn entsprechende Anforderungen gesetzt werden, sonst aber als Ganzheiten behandelt werden. Dieses Ergebnis hat unmittelbaren Bezug zu dem zuerst erörterten Problem, wenn man, wie es Kintsch getan hat, Fälle einbezieht, bei denen die komplexen Wörter durch systematische Regeln aus den einfachen abzuleiten sind, also etwa das abstrakte Nomen ability aus 29 dem Adjektiv able. Kintschs Befunde besagen dann, daß eine durch die Regeln determinierte Struktur stets in ihrer strukturellen Gliederung zugänglich ist, daß diese aber nur nach Maßgabe jeweiliger Anforderungen aktualisiert wird. Ein abermals modifiziertes Problem ähnlicher Art ergibt sich schließlich für das Verhältnis von Regeln und Strategien. Zu letzteren hatte ich bereits in Anmerkung 21 bemerkt, daß sie nicht nur die natürlichen Generalisierungen im Spracherwerb erzeugen, sondern - mit entsprechenden Einschränkungen auch weiterhin für die Prozesse der Sprachverwendung zur Verfügung stehen. Sie funktionieren dann auf dem Hintergrund der inzwischen differenzierten Sprachkenntnis, das heißt sie fassen abkürzend komplexere Folgen eigentlicher grammatischer Regeln zusammen (vgl. Abschnitt 4.1.). Es scheint nun, wie ich in Bierwisch (1975) für syntaktische Strategien wahrscheinlich zu machen versucht habe, daß auch hier die einzelnen Operationen, die den grammatischen Regeln entsprechen, unter entsprechenden Anforderungen (bei besonders komplexen oder durch eine abkürzende Strategie nicht erfaßbaren Sätzen etwa) aktualisiert und als solche wirksam werden können, andernfalls aber latent bleiben. Insgesamt illustrieren diese drei Punkte - sehr spekulativ - folgendes: Linguistisch ermittelbare Einheiten und Regeln strukturieren Inhalt und Funk115
tionen des sprachlichen Gedächtnisses, ohne die aktuellen Prozesse und involvierten Strukturen jeweils vollständig zu determinieren. Unter entsprechenden Bedingungen werden sie als aktualisierte Einheiten und Operationen wirksam, andernfalls bleiben sie in genauer zu bestimmender Weise "latent". Mit dieser Unterscheidung von aktualisierter und latenter Wirkungsweise, von der nicht einmal klar ist, ob sie für alle Bereiche in der gleichen Weise expliziert werden kann, ist ein Problem formuliert, nicht eine Lösung. Für die Beziehung zwischen Sprache und Gedächtnis scheint mir die Konkretisierung dieses Problems entscheidend.
6. 3.
Operationen im semantischen und episodischen Gedächtnis
Obwohl ich unter mehreren Gesichtspunkten die Beziehung zwischen Sprache und kognitiven Prozessen und Strukturen erörtert habe, ist eine Seite dieser Beziehung weitgehend ausgespart geblieben, nämlich die Operationen über oder mit dem sprachlich vermittelten Bestand von Kenntnissen, die die Beantwortung von Fragen, die Lösung von (sprachlich formulierten) Problemen, generell: die Erzeugung neuer Information auf Grund vorhandener Kenntnisse ermöglichen. Die Trennung dieser Prozesse von denen der spontanen, zielorientierten Sprachproduktion und des vollen Sprachverstehens kann immer nur relativen Charakter haben: Die Sprachproduktion beginnt (oder besser: ist durchsetzt) mit der Erzeugung des gedanklichen Inhalts einer Äußerung, was normalerweise die Einbeziehung ganzer Teilsysteme von episodischem und semantischem Gedächtnisbesitz involviert; ebenso verlangt das Verstehen und sinngemäße Interpretieren einer Äußerung die Herstellung von Beziehungen zu und an Hand von vorhandenem Gedächtnisbesitz. Bei der Konstruktion von Frage-Antwort-Systemen, die Gedächtnisleistungen in Modellen simulieren, werden deshalb die Ein- und Ausgabeprozesse (die Perzeption und Produktion von Äußerungen) in unmittelbaren Zusammenhang mit der Repräsentation des
116
Daten- oder Kenntnissystems und den Such- und Deduktionsprozessen in diesem System gebracht. Diese Prozesse, die den Zusammenhang zwischen Sprache und Denken im eigentlichen Sinn ausmachen, hängen ganz entscheidend von der Repräsentationsform sprachlich vermittelter Gedächtnisinhalte ab, und zwar von episodischem Gedächtnisbesitz ebenso wie von den Sprachkenntnissen im engeren Sinn. Die linguistische und gedächtnispsychologische Aufklärung dieser Repräsentationsformen, die das Thema des vorliegenden Überblicks ist, schafft demnach wesentliche Voraussetzungen auch für die Analyse dieser Prozesse. Umgekehrt ergeben sich aus deren Klärung aber ganz offensichtlich auch entscheidende Anhaltspunkte für die Bestimmung der Form, in der sprachliche Informationen im Gedächtnis repräsentiert werden. Die Untersuchungen von H. Clark (1969) zu den Zwei- und Drei-Term-Problemen (vgl. Abschnitt 3.3.) sind ein charakteristisches Beispiel für eine ganze Reihe experimenteller Paradigmen, die Annahmen über die Repräsentationsform im Gedächtnis und den Charakter von Deduktions- und Suchprozessen verbinden und durch die Kontrolle der Reaktionszeiten oder Fehler bei der Beantwortung von Fragen Aufschluß über die Interaktion beider Faktoren zu gewinnen versuchen. Die dabei geprüften Gedächtnisstrukturen können sowohl dem semantischen wie dem episodischen Gedächtnis angehören. Typisch für den ersten Bereich sind Untersuchungen von Collins und Quillian (1969), bei denen u.a. Sätze der Form Eine Ente ist ein Vogel/kein Vogel/ein Tier/kein Tier auf ihre Wahrheit zu überprüfen waren. Zum zweiten Bereich gehört in gewissem Sinn das in 3.4. dargestellte Experiment von Kintsch (1974 a), bei dem ein auf eine beschrie30 bene Situation bezogener Satz zu prüfen war. Bei Untersuchungen dieser Art steht durchaus noch die Repräsentationsform im Vordergrund, die Operationen beschränken sich auf Suchprozesse, während die interne Gewinnung neuer Kenntnisse keine Rolle spielt. Für die Weiterführung von Überlegungen zu den oben erörterten Situationsstrukturen als Repräsentation von Gedächtnisbesitz dürften aber gerade auch die Prozesse der Ableitung neuer Kenntnisse, die nur als Möglichkeit, nicht aber bereits realisiert im Kenntnisbestand stecken, wichtige Anhaltspunkte liefern. Denn nach den in 3.4. und 3. 5. angestellten Überlegungen müssen 117
Situationsstrukturen weitgehend die Basis darstellen, auf der sich die hier anvisierten Denkoperationen abspielen. Deren Effizienz oder Schwierigkeit muß mithin auch mit der Repräsentationsweise von Situationsstrukturen zusammenhängen und, zumindest indirekt, die in 3. 5. in Erwägung gezogene Alternative von Modellen und Model sets zu bewerten gestatten. Es ist klar, daß die Fragen und Fakten, die dabei zu berücksichtigen sind, den hier ge steckten Rahmen bei weitem überschreiten. Der Zusammenhang des Problems Sprache und Gedächtnis mit der Untersuchung von Problemlösungsprozessen, also dem traditionellen Gebiet der Denkpsychologie, sollte nur gekennzeichnet werden, um eine der offenen Seiten der hier behandelten Thematik deutlicher zu machen.
6.4.
Methodologische Bemerkungen
Die in Abschnitt 1 erwähnten Entwicklungen innerhalb der klassischen Gedächtnispsychologie bilden die Brücke zu den für die Analyse des Satzgedächtnisses charakteristischen Fragestellungen. Die Rolle der organisierenden Funktion der Sprachkenntnis für die Erzeugung und Fixierung von Gedächtnisrepräsentationen tritt dabei als dominierendes Element in den Vordergrund. Auch wo die Untersuchungen sich im Rahmen der überlieferten experimentellen P a r a digmen abspielen, ändert sich dabei ihr Inhalt entscheidend. Diese Tendenz weiterführend habe ich in den Überblick ausdrücklich den ontogenetischen Aspekt einbezogen, der nicht nur die Wirkungsweise der Sprachkenntnis bei der Organisation von Gedächtnisbesitz betrifft, sondern den Aufbau dieser Strukturen selbst thematisiert. Die Abhängigkeit des Gedächtnisbesitzes von den Prozessen und Voraussetzungen seines Erwerbs scheint mir diesen Schritt nicht nur zu rechtfertigen, sondern zu verlangen. Die drastische Veränderung - oder Erweiterung - des Themas "Gedächtnis", die damit verbunden ist, entspricht der allgemeinen Entwicklung dieses Gebiets. Ein programmatischer Ansatz wie der von Anderson and Bower (1973) ist eins von mehreren verschiedenartigen Beispielen für diese Entwicklung. 118
Schließlich hat die Analyse des Zusammenhangs von Sprache und Gedächtnis nicht nur Konsequenzen für Inhalte und Methoden der Gedächtnisforschung, sondern auch für die Entscheidung über Hypothesen und Ergebnisse der theoretischen Linguistik. Ich bin auf diesen Aspekt in verschiedenen Zusammenhängen eingegangen. Wenn die Linguistik nicht lediglich elegante Beschreibungsmittel bereitstellen, sondern reale Zusammenhänge erklären will, müssen ihre Annahmen und Resultate sich bei der Analyse der Struktur und der P r o zesse des menschlichen Gedächtnisses verifizieren oder widerlegen lassen, allgemeiner: sich als fruchtbar erweisen.
7.
Anmerkungen
1
Die Einordnung der Sprachkompetenz in das semantische Gedächtnis führt auf jeden Fall zu einem terminologischen Mißklang, da nicht nur syntaktische, sondern auch phonologische Einheiten und Regeln damit in den Bereich der Semantik zu geraten scheinen. Unter dem Gesichtspunkt linguistischer Systematik ist das ein Unding. Das Dilemma e r gibt sich aus dem verschiedenen Kontext, in dem der Terminus Semantik zur Abgrenzung verwendet wird. Obwohl sich dieses Problem durch geeignete Umbenennung beheben ließe, will ich hier keine a r b i t r ä r e Lösung vorschlagen, sondern nur auf die involvierten Schwierigkeiten hinweisen.
2
Von Eigenschaften dieser Struktur wird übrigens in nicht trivialer Weise - besonders bei komplexeren Sätzen - auch das soeben erwähnte Akzent- und Intonationsmuster bestimmt. Vgl. dazu etwa Bierwisch (1966, 1968).
3
Spätestens hier erweist sich der Begriff "Wort" allerdings als zu ungenau. Wörter müssen nicht notwendig elementare und als solche bereits erworbene Einheiten sein. Bildungen wie Nichtbeachterin wird als neues, aber nicht im hier gemeinten Sinn als unbekanntes Wort identifiziert. Der Grund ist offensichtlich: Es gibt nicht nur Satz-, sondern auch (mit diesen verwandte) Wortbildungsregeln. Umgekehrt gilt für sogenannte Idiome wie zur Strecke bringen, daß sie wie "Wörter" nur dann nicht unbekannt sind, wenn sie nicht neu sind. Um Mißverständnisse zu v e r meiden, werde ich, wenn nötig, der linguistischen Terminologie folgend, deshalb nicht von Wörtern, sondern von Lexikoneinheiten sprechen. Zur Strecke bringen ist dann wie lang oder aufhören eine Lexikoneinheit, nicht aber Nichtbeachterin. 119
4
Auf die Tatsache, daß es sich bei linguistischen Tests dieser Art um Experimente im strengen Sinn handelt, hat nachdrücklich bereits §cerba (1931) hingewiesen: Ein Test der genannten Art überprüft eine Hypothese z. B. Uber bestimmte intern repräsentierte Konstituentenbeziehungen an entsprechenden Verhaltenskonsequenzen der Versuchspersonen.
5
Im Zusammenhang mit weiteren Erscheinungen ließe sich zeigen, daß die mehrfache Anwendung einer Regel nicht beliebig auf verschiedenen Hierarchiestufen vor sich geht, sondern durch das generelle Prinzip der zyklischen Operationsweise "von unten nach oben" determiniert ist, d. h. daß die Regelanwendung von den in der Hierarchie am tiefsten stehenden Sätzen aufwärts zum umfassenden Hauptsatz fortschreitet. Zur genaueren Charakterisierung dieses Prinzips vgl. N. Chomsky (1965). Die Zusammenhänge zwischen (11) bis (14) ergeben damit folgendes S che ma:
(ID
(12) Daß (11) die Ausgangsstruktur ist, ist wiederum durch verschiedene Gründe zu rechtfertigen. Ich komme in 2. 4. kurz darauf zurück, 6
Solche Unterschiede können auf Grund bestimmter Regeln durch Intonation und Pausen angezeigt werden. Vgl. dazu Anmerkung 2. Konstituentengrenzen müssen aber nicht in der Intonation realisiert werden. Sie sind dann nur Teil der internen Repräsentation des Satzes, nicht des Signals.
7
Eine der Vereinfachungen besteht darin, daß nicht angegeben ist, daß SCHLAFEN sich nur auf Lebewesen beziehen kann, so daß nur Lebewesen müde sein, aufwachen oder geweckt werden können, daß GLAUBEN eine Beziehung zwischen Menschen und Sachverhalten ist, so daß nur Menschen überzeugt werden können, usw. Eine andere Vereinfachung liegt in den Komponenten selbst. Die für die sogenannten kausativen Verben wie wekken (= wach machen), vergrößern (= größer machen) usw. charakteristische Komponente (BEWIRKEN X Y) ist selbst komplexer Natur. Sie ist, wie u.a. Fillmore (1973) gezeigt hat, folgendermaßen zusammengesetzt: ((TUNX Z) & (URSACHE Z Y)), d.h. X tut etwas, was die Ursache für das Ereignis Y ist. Was X z. B. im Fall von wecken tut, ist durch die Wortbedeutung nicht festgelegt, es muß nur die Ursache dafür sein, daß der Schlafende wach wird. Ähnlich ist (WERDEN X), das Eintreten des Zustandes X, genauer zu bestimmen als (ÜBERGANG (NICHT X) X), wobei das Bestehen eines Zustands aus dem Bereich (NICHT X) Voraussetzung dafür ist, daß X als neuer Zustand eintreten kann. Detaillierungen dieser Art beeinflussen nicht das hier zu illustrierende Prinzip der Komponentenstruktur der Bedeutung.
8
Mit dieser Spezifizierung der Variablen ist noch nicht automatisch der Bezug zu einem bestimmten einzelnen Sachverhalt gegeben. Diese B e ziehung, die sogenannte Referenzzuordnung, verlangt einen zusätzlichen Schritt, der nur unter bestimmten Bedingungen, insbesondere bei der Verwendung von Eigennamen, mit der syntaktischen Verknüpfung zusam-
120
mengeht: Lenin verfaßte die Aprilthesen beschreibt einen bestimmten Sachverhalt, Die Konferenz ist eröffnet dagegen verschiedene E r e i g nisse, je nachdem, wann und wo der Satz geäußert wird. 9
Natürlich ist es eine Vereinfachung, Wort und Satz als Einheiten des semantischen bzw. des episodischen Gedächtnisses zu klassifizieren. Wie in Anmerkung 3 erwähnt, können einerseits Wörter neu erzeugt werden, andererseits syntaktische Verbindungen aber auch zum lexikalischen Wissen gehören. In Abschnitt 2. 5. haben wir überdies f e s t gestellt, daß Sätze und lexikalische Einheiten semantisch insofern gleichartig sind, als beide gleichermaßen durch Komponentenstrukturen charakterisiert werden. Dennoch ist es eine sinnvolle und notwendige Voraussetzung für die folgenden Überlegungen, daß für repräsentative Teilklassen von Wörtern und Sätzen die genannte Zuordnung gesichert werden kann, das heißt insbesondere, daß Experimente sich auf Sätze beziehen, die nicht bereits Gedächtniseinheiten sind.
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Dieser syntaktische Unterschied führt bei Interaktion mit anderen, für die Negation sensiblen Einheiten wie können, müssen usw. zu semantischen Unterschieden, nicht aber bei negationsindifferenten Einheiten mit gleicher Bedeutung wie möglicherweise, notwendigerweise. Man vergleiche die folgenden Beziehungen: Die Tür ist möglicherweise offen, = Die Tür kann offen sein. = Die Tür ist möglicherweise nicht geschlossen. 4 die Tür kann nicht geschlossen sein. = Die Tür muß offen sein. Fakten wie diese zeigen die syntaktische Bedingtheit der semantischen Strukturbildung und damit den relativ autonomen Charakter der syntaktischen Struktur.
11
Der Unterschied zwischen markierten und unmarkierten (neutralen) Gliedern einer Opposition spielt eine durchgängige Rolle in der Struktur natürlicher Sprachen und dürfte auf eine noch nicht hinreichend untersuchte Weise einem Grundprinzip kognitiver Strukturbildung entspringen. In den hier betrachteten Adjektivpaaren drückt es sich unter anderem in einem weiteren Anwendungsbereich des unmarkierten ("positiven") Glieds aus. Man vergleiche etwa: Hans ist halb so groß wie Fritz, vs. F r i t z ist halb so klein wie Hans. Hans ist 1, 50 m groß. vs. Hans ist 1, 50 m klein. Eine genauere Analyse der mit solchen Adjektivpaaren verbundenen semantischen Probleme findet sich in Bierwisch (1967).
12
Kintsch führt die Zeitdifferenz auf die Wirkung der im Kurzzeitgedächtnis noch vorhandenen syntaktischen (Oberflächen-)Struktur zurück, die die Entscheidung der Frage bei expliziten Sätzen leichter macht als bei impliziten'. Das widerspricht der hier gegebenen Interpretation nicht nur nicht, sondern ist in ihr eingeschlossen. Entscheidend ist, daß beim impliziten Text die zur Verifizierung der Frage notwendige semantische Struktur e r s t abgeleitet werden muß, was nur auf Grund der Situationsstruktur möglich ist. 121
13
Zur Form von Netzstrukturen gelangen auf etwas anderem Weg auch Anderson and Bower (1973) bei der Charakterisierung dessen, was sie mit einem nicht sehr glücklichen Terminus "assoziatives Gedächtnis" (human associative memory) nennen. E s handelt sich dabei sinngemäß ebenfalls um die Repräsentation von Situationsstrukturen im hier intendierten Sinn.
14
Kintsch spricht deshalb von einer "Textbasis" (text base) als der Form, in der Texte im Gedächtnis repräsentiert werden, wobei e r allerdings keinen Unterschied macht zwischen semantischer Struktur im eigentlichen Sinn und dem, was ich Situationsstruktur genannt habe.
15
So allgemein formuliert gilt das auch für den Sprachperzeptionsprozeß. Eine genauere Bestimmung muß jedoch mindestens zwei charakteristische Unterschiede berücksichtigen. (a) In der Sprachproduktion geschieht die Aktivierung auf Grund der semantischen Seite der Lexikoneinheiten, in der Sprachperzeption geht sie p r i m ä r von der phonologischen Struktur aus. Die beiden Prozesse sind keineswegs symmetrisch. Die in (45) bis (59) illustrierten Fehlertypen sind typisch für die Sprachproduktion, ihre scheinbare E n t s p r e chung in der Sprachperzeption, die das folgende Beispiel illustriert, hat einen ganz anderen Charakter. A sagt: Da müssen Hunderttausende drinstecken. B versteht: Da muß 'n Hunderttausender drinstecken. (b) Das externe Signal, von dem das lexikalische Gedächtnis in der P e r zeption angeregt wird, führt leichter zur Aktivierung einer bestimmten Einheit als die Anregung auf Grund einer internen Situationsstruktur. Das typische Phänomen der Wortfindungsschwierigkeit macht das intuitiv deutlich. Der wenig durchschaute Unterschied zwischen sogenannter aktiver und passiver Sprachbeherrschung dürfte hier eine seiner Quellen haben.
16
Sätze wie (56) demonstrieren übrigens die interessante Tatsache, daß nicht alle wohlgeformten Tiefenstrukturen auf eine korrekte Oberflächenstruktur abgebildet werden können: Während für (55) unter anderem die korrekte Realisierung (55') existiert, kann (56) nur mit einer lexikalischen Abwandlung in Ordnung gebracht werden: (55') E s wird versucht, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. (56') Da kann man doch auch nicht zulassen, daß jeder mit einem Schlitten fährt. Die Existenz solcher "toten Winkel" im System einer natürlichen Sprache ergibt sich aus der Kombination bestimmter syntaktischer P r o z e s se, die jeder für sich genommen einfachere korrekte Konstruktionen erzeugen.
17
Da für Lashleys Fragestellung Syntax untrennbar mit der serialen O r ganisation von Einheiten in komplexen Mustern verbunden ist, stehen für ihn syntaktische Strukturen und "auszudrückende Ideen" einander gegenüber. Die linguistische Analyse semantischer Zusammenhänge zeigt außer diesem Unterschied jedoch auch die wesentliche Gemeinsamkeit, daß beide, Ideen wie syntaktische Muster, hierarchisch o r -
122
ganisierte Komplexe elementarer Einheiten sind, die durch die in 2.3. e r ö r t e r t e n strukturabhängigen Operationen aufeinander bezogen sind. Die Feststellung, daß Wörtern kein (seriales) syntaktisches Muster inhärent ist, muß auf diesem Hintergrund modifiziert werden zu der Feststellung, daß Wörter ein Netz möglicher syntaktischer Relationen determinieren, deren lineare Realisierung durch die syntaktischen Regeln spezifiziert wird. Die in 2. 5. diskutierte semantische V e r knüpfung von Wörtern auf Grund syntaktisch interpretierter Variabler in ihren Bedeutungen legt genau dieses Netz von Relationen fest. Die Organisation eines serialen syntaktischen Musters für eine gegebene "Idee" hört e r s t auf diesem Hintergrund auf, ein Mysterium zu sein. 18
Das gleiche gilt e r s t recht für phonologische Regeln wie etwa die Auslautverhärtung, auf Grund deren der auslautende Konsonant in Hund stimmlos, nicht wie in Hunde stimmhaft gesprochen wird, oder die Akzentverschiebungsregel, die die Betonung von Musik vs. Mtisiker v s . musikälisch regelt. Und es gilt auch für die Semantik: Die Regel, die z . B . die unterschiedliche Art der Bedeutung von Hans läutet vs. Das Telephon läutet determiniert, kann ein normaler Sprecher nicht explizit angeben. Natürlich realisiert aber jeder Sprecher und Hörer den Effekt dieser Regeln. E r erkennt etwa sofort das Wort Musiker als unkorrekt betont.
18a
Das gilt wiederum nur, wenn das auch in (61 b) betont ist. Liegt der Hauptakzent des Satzes nämlich auf schläft, wird dem Satz eine Voraussetzung zugeordnet, die durch Hans tut etwas anderes (etwa: Hans liegt im Bett) auszudrücken wäre. Der Unterschied ergibt sich aus dem Geltungsbereich, auf den das auch bezogen wird. Der ist syntaktisch b e stimmt und schlägt sich in der Plazierung des Hauptakzents nieder ein Zusammenhang, der die Komplexität der Beziehung zwischen s e m a n tischer und Oberflächenstruktur auch in scheinbar einfachen Sätzen v e r anschaulicht. Diese Geltungsbereichbestimmung vorausgesetzt, läßt sich die Bedeutung von auch stark vereinfacht durch folgende Regel a n geben: ( — (AUCH X) — ) - ( — X - - - ) / ( - - Y - - - ) & (X Y) wobei X den Geltungsbereich des semantischen Operators AUCH symbolisiert und der Schrägstrich eine semantische Struktur mit ihren V o r a u s setzungen verbindet. Die Berücksichtigung solcher Regeln dürfte ü b r i gens eine wesentliche Rolle für die Beziehung zwischen semantischen und Situationsstrukturen spielen. - Die Einsicht in den operativen Charakter von Wörtern wie nicht, und, oder, alle usw. ist in der formalen Logik prinzipiell vorbereitet worden, sie ist nur auf die wesentlich komplizierteren Operatoren auszudehnen, die in der Semantik natürlicher Sprachen auftreten. Einen Ansatz dazu macht z . B . Horn (1969) am Beispiel von even und only im Englischen und sehr ausführlich Lang (1975) für die koordinativen Konjunktionen im Deutschen.
19
Die in der Literatur festgehaltenen Fälle lassen im allgemeinen offen, ob die Übergeneralisierung eines Wortes generell gilt oder in Situationskontexten variiert. Im letzteren Fall wäre zu folgern, daß es neben dem
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dominanten Merkmal bedingt wirksame Nebenmerkmale gibt, die nur unter bestimmten Voraussetzungen (etwa der gleichzeitigen Präsenz einer Katze und eines anderen Tiers in unserem Beispiel) relevant werden. Das Problem ist wichtig, im Augenblick jedoch nicht beantwortbar. 20
21
Mit dem nötigen Vorbehalt wäre also die Bedeutung von bébé in der Phase der maximalen Generalisierung zu repräsentieren als (X IST ABBILD VON Y), wobei Y etwas Beliebiges ist, nach den beschriebenenen Einschränkungen dann als (X ABBILDUNG VON (KIND)). (Zum Mechanismus der Ausdehnung auf Bücher s. Abschnitt 5. 3. ) Die Strategie (68) umschreibt ein noch undifferenziertes Prinzip, das offensichtlich in verschiedenen Spezialisierungen die Struktur des Erwachsenenwortschatzes durchzieht. Die Verwendung eines Wortes wie Buch in folgenden Sätzen deutet dieses Prinzip an: (i) Dieses Buch ist zu groß für die Tasche. (Konkretes Objekt, das eine bestimmte, optisch fixierte Information trägt. ) (ii) Dieses Buch ist beim Verlag vergriffen. (Abstraktes Objekt = Klasse konkreter Objekte des Typs (i).) (iii) Dieses Buch ist auch für Laien verständlich. (Abstraktes Objekt = die im konkreten Objekt fixierte Information. ) Man vergleiche auch unsinnige Sätze des Typs (iv), die auf der Vermischung sole' er Übertragungen beruhen (und damit überdies die Bedingung der gf meinsamen Einordnungsinstanz für die koordinierten Teile verletzen) : (iv) Das Schachspiel wurde in Indien erfunden und ist aus Elfenbein geschnitzt. Ohne die noch weitgehend unanalysierten Einzelheiten der hier wirksamen Regeln näher anzugeben, kann man doch festhalten, daß ihr Ansatzpunkt in einem Prinzip der in (68) formulierten Art liegt. Dieses spezifizierte Fortbestehen primärer Strategien gilt übrigens für alle in diesem Abschnitt diskutierten Beispiele.
22
Zur Unmarkiertheit des positiven Terms in polaren Antonymenpaaren vgl. Anmerkung 11.
23
So ist die Strategie (77) abhängig von Bedingungen der Wortfolge, die in der Grammatik des Englischen, aber z.B. nicht der des Deutschen gelten, wie noch zu zeigen ist. (77) ist deshalb nicht unverändert auf beliebige Sprachen anwendbar.
24
Damit muß die Vorstellung aufgegeben werden, die zuerst von Braine (1963) vornehmlich auf Grund von Oberflächenerscheinungen formuliert und später mehrfach aufgegriffen wurde, derzufolge Zweiwortsätze durch das Schema P - X (oder X - P) zu erklären sind, wobei P ein "Pivot" oder Schaltwort ist, nämlich ein Wort aus einer begrenzten Klasse wie it, there, no, und X ein Wort der "offenen Klasse" wie daddy, car usw.
25
Da Sätze mit modalem Charakter in der Kindersprache eine große Rolle spielen und da weiterhin grammatische Elemente wie Artikel, Präposi-
124
tionen und Hilfsverben in der Phase der Zwei- und Dreiwortsätze noch nicht realisiert werden, könnte man Sätze wie Thomas Auto haben als reduzierte Form etwa von Thomas will das Auto haben zu erklären v e r suchen. Für vielfach belegte Sätze mit nichtmodalem Charakter wie das auch nicht malt ist diese Erklärung jedoch nicht anwendbar. Die im folgenden vorgeschlagene Analyse, die die vonRoeper (1972) angenommene Auffassung leicht modifiziert, scheint deshalb angemessener. 26
Die Tatsache, daß in vielen Sprachen regelmäßige Formen (etwa die schwachen Verben des Deutschen wie zeigen, zeigte, gezeigt) einer geringeren aber häufig auftretenden Anzahl von Wörtern mit unregelmäßigen oder "starken" Bildungsweisen (etwa streiten, stritt, gestritten) gegenüberstehen, macht das Bild der Generalisierungen hier oft besonders kompliziert: Die häufigen starken Formen werden zunächst als fertige Wörter gespeichert, dann aber vielfach übergeneralisierten "schwachen" Regeln unterworfen. "Richtige" Formen sind in diesem Bereich deshalb oft Vorläufer von "falschen", die erst in einem weiteren Schritt eliminiert werden. Vgl. zu diesem Prozeß Slobin (1971 a).
27
Bei zusammengesetzten Sätzen, insbesondere beim Auftreten von Relativsätzen, bilden Rektions- und Kongruenzbeziehungen oft mehrstufige Verzahnungen, wie das folgende Beispiel zeigt: Ich brauche Schnallen für die Jacke, die hierzu paßt/passen. Mit der Verbform passen bezieht sich der ganze Relativsatz auf SchnalIpn, mit der Form paßt dagegen auf die Jacke. Vermittelt wird die Kongruenz durch das mehrdeutige Relativpronomen die.
28
Ich spreche hier nicht von der phonologischen Seite der Sprache, deren motorische und perzeptive Grundlage offensichtlich ist, obgleich auch ihr Aufbau, wie oben erwähnt, von spezifischen, keineswegs trivialen Strategien determiniert wird. In Rede stehen hier primär die syntaktischen und semantischen Strukturen, die auf die phonologische Struktur abzubilden sind.
29
Der Charakter der hier einschlägigen Regeln ist allerdings aus linguistischen Gründen umstritten. Während Lakoff (1970) syntaktische T r a n s formationen nicht mir für die Ableitung von Nomina wie ability postuliert, sondern auch kausative Verben wie convince auf die gleiche zugrunde liegende Struktur wie cause to believe bezieht, beschränkt Chomsky (1972) den Zusammenhang hier auf partielle Gemeinsamkeiten der entsprechenden Lexikoneinheiten. Tatsächlich zielte Kintschs Untersuchung auf die Entscheidung dieser hier nicht im einzelnen darstellbaren linguistischen Alternative. Allerdings sind Kintschs Resultate bereits von der experimentellen Fragestellung her mit jeder der beiden linguistischen Analysen kompatibel, da diese sich nur in Annahmen Uber die Art, nicht über die Tatsache der Beziehung zwischen den fraglichen Wortpaaren unterscheiden, und dieser Unterschied enthält keinerlei Voraussagen über Effekte beim Reproduzieren dargebotener Sätze. Dieser Umstand zeigt die Schwierigkeit, linguistische Annahmen und experimentalpsychologische Paradigmen in relevanter Weise aufeinander zu beziehen. 125
30
8.
Wegen der in 3.4. erörterten zusätzlichen Gesichtspunkte des Experiments richtet sich die Fragestellung mehr auf den Prozeß der Gedächtnisbildung als auf die Suche im Gedächtnisbesitz. Untersuchungen zu Operationen über dem episodischen Gedächtnis, die den Aspekt der Gedächtnisbildung ausklammern wollen, müssen zunächst die Schwierigkeit überwinden, daß episodischer Gedächtnisbesitz wesentlich stärkere individuelle Unterschiede aufweist als semantischer Gedächtnisbesitz. Während für die Frage Ist eine Ente ein Vogel? praktisch alle Versuchspersonen die gleiche Voraussetzung mitbringen, gilt das für episodische Fragen wie Ist Lenin in Moskau gestorben? oder Ist das Plakat am Eingang farbig? aus verschiedenartigen Gründen nicht.
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130
Friedhart Klix, Friedrich Kukla, Rosemarie Kühn ZUR FRAGE DER UNTERSCHEIDBARKEIT VON KLASSEN SEMANTISCHER RELATIONEN IM MENSCHLICHEN GEDÄCHTNIS
1.
Einführung
Ausgang der Untersuchung ist die Vorstellung, daß die Struktur des semantischen Gedächtnisses des Menschen durch Beziehungen zwischen langzeitig fixierten Bedeutungsträgern bestimmt ist. Unser Ziel ist es, diese sprachlichsemantischen Relationen als Widerspieglungsleistungen zu analysieren. Durch die Separierung von Klassen semantischer Relationen sollen erste Hinweise über die reale Organisation des semantischen Gedächtnisses erhalten werden. Da Leistungen der Sprachperzeption und -Produktion unter Ausnutzung der semantischen Strukturierung zustande kommen, kann mit der Klassifikation semantischer Relationen auch zum Verständnis dieser Leistungen beigetragen werden. Ausgangspunkt ist dabei die kognitive Funktion der Sprache.
2.
Problem
E s werden zwei Klassen semantischer Relationen nach ihren kognitiven Eigenschaften unterschieden: 1. Relationen der Ordnungsbildung innerhalb begrifflicher Strukturen und 2. Relationen zwischen Begriffsstrukturen. Innerhalb
von Begriffsstrukturen erfolgt die Ordnungsbildung nach
Merkmalen und durch Beziehungen zwischen ihnen. Relationen in hierarchischen Begriffsstrukturen setzen auch in ihrer Benennung Merkmale untereinander und Merkmale zu Begriffen in Beziehung. Zum Beispiel die Relation 131
der begrifflichen Über-Unterordnung durch "ist ein", die Qualitätsrelation durch "ist" für die charakteristischen Merkmale eines Begriffs, die Komparativrelation durch "ist mehr als" und die Kontrastrelation durch "ist Gegenteil von". Relationen z w i s c h e n
Begriffsstrukturen spiegeln Ereignisse im Ge-
dächtnis wider. Sie beruhen auf dem Zusammenhang von Situation und Handlung und umfassen z.B. die Relation zwischen Aktor und Aktion (Handlungsträger relation), die Relationen zwischen einer Handlung und ihrem Objekt, ihrer Zielsetzung und ihrem Instrument. Hier wird die Annahme zugrunde gelegt, daß zwischenbegriffliche Relationen durch ihre Eigenschaft, Ereignisse abzubilden, die p r i m ä r e n
Bedeu-
tungseinheiten des'Gedächtnisses bilden. Die ursprünglich durch Wahrnehmung und Handlung gebundenen Beziehungen zwischen Begriffsstrukturen bilden danach auch in den Relationen ihrer sprachlichen Benennungen Grundeinheiten des Langzeitgedächtnisses - seine semantischen Kerne. Die Relationen innerhalb von Begriffsstrukturen sind ihnen gegenüber s e k u n d ä r ,
d. h.
nach Merkmalen, Merkmalseigenschaften und -beziehungen abgeleitete Ordnungsstrukturen von Begriffen. Sie sind erst das Ergebnis von internen Operationen über begrifflichen Gedächtniseintragungen. *
3.
Fragestellung
Der experimentelle Zugang zur Unterscheidung der beiden Klassen sprachlich-semantischer Relationen bestand darin, die Leistungen bei kognitiven Anforderungen zu vergleichen, denen diese Relationen zugrunde lagen. Als Anforderungstyp wurden sprachliche Analogieprobleme auf Wortebene gewählt. Ihre allgemeine Form ist: a : b = c : d, d.h. es verhält sich die B e deutung des Wortes a zu der von b wie die von c zu der von d. Die Lösung des Analogieproblems verlangt die Erfassung der zwischen je 2 Worten bestehenden bedeutungsmäßigen Beziehungen und eine Entscheidung über die Kongruenz dieser Relationen. Der Untersuchungsansatz geht davon aus, daß 132
die Anforderungsbewältigung unterschiedlich für Analogien nach beiden Klassen semantischer Relationen erfolgt: Für die als semantische Kerne des Langzeitgedächtnisses fixierten zwischenbegrifflichen Relationen wird ein geringer e r kognitiver Aufwand erwartet, da hier die den Analogien zugrunde gelegten Relationen auch die der Bedeutungserkennung primär zugrunde liegenden sind. Im Vergleich dazu wird ein größerer Aufwand für die nach Merkmalen abgeleiteten Relationen innerhalb begrifflicher Strukturen erwartet.
4.
Methodik
Als Versuchsmaterial diente eine Menge von 70 Worten (Substantive, Verben, Adjektive). Sie wurden nach Clusterungen durch Versuchspersonen entsprechend ihrer inhaltlichen Zusammengehörigkeit ("so daß damit ein erfahrungsTabelle I: Wortmaterial nach Orientierungsbereichen Bereiche
Verben
Wortklassen Nomen
Adjektive
I
behandeln klagen
Patient Arzt Bett Behandlungsraum Arznei Gesundheit Augenspiegel Herzpatient Augenarzt
hilfreich krank abweisend gesund aufopferungsvoll siechend
n
erziehen gehorchen spielen
Kind Eltern
liebevoll lebhaft wild 0
*
HI
lernen unterrichten
Lehrer Schüler
streng fleißig 0
IV
festnehmen stehlen
Dieb Polizist
wachsam geschickt 133
mäßig zusammengehöriger Sachverhalt als Geschichte beschrieben werden kann") 4 unterscheidbaren Orientierungsbereichen (OB) zugeordnet (vgl. Tab. I). Die semantischen Relationen zwischen den Worten eines OB wurden empirisch bestimmt: Versuchspersonen (Vpn) gruppierten eine (vorausgewählte) Menge von Paarkombinationen der Worte eines Bereiches nach der bedeutungsmäßigen Beziehung zwischen den Worten eines Paares, unabhängig von ihrer Bereichszugehörigkeit ("Wortpaare zusammenordnen, deren Worte in gleicher bedeutungsmäßiger Beziehung stehen"). Hierbei wurden 9 Gruppen von Wortpaaren gebildet und damit 9 Relationstypen unterschieden. Die v e r bale Umschreibung dieser Gruppen durch die Vpn und inhaltliche Ähnlichkeiten zu den in der Literatur (Fillmore 1968, Rumelhart 1972) dargestellten R e lationen legen als Benennung der Relationstypen die in Tab. II dargestellte nahe. Tabelle II: Relationen mit Beispielen 1. Handlungsträger
HT
Lehrer : unterrichten Arzt : behandeln
2. Objekt
Obj
erziehen : Kind behandeln : Patient
3. Qualität
Qual
Patient : krank Schüler : fleißig
4. Locativ 5. Instrument
Loc Instr
Kind : Spielzimmer einbrechen : Dietrich untersuchen : Augenspiegel
6. Finalität
Fin
behandeln : Gesundheit
7. Kontrast
Kontr
krank : gesund fleißig : faul
8. Komparativ
Komp
krank : siechend
9. Über-Unterordnung
Ü
Arzt : Augenarzt Lehrer : Klassenlehrer
Eine Netzdarstellung der Begriffe eines OB, als Repräsentationsform b e deutungsmäßiger Beziehungen zwischen Worten, ergibt sich dadurch, daß in verschiedenen Wortpaaren identische Worte enthalten sind (vgl. Abb. 1). Mit den empirisch bestimmten Relationen zwischen Worten sind zwar nicht alle bedeutungsmäßigen Beziehungen zwischen ihnen erfaßt, jedoch dominante, die
134
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\ ler ' 1. Lehrer: unterrichten » Schüler: (lernen)/Arzt: (behandeln) 2. Lehren Klassenlehrer=Schuler: (Berufsschüler)/Arzt: (Augenarzt) zwischen innerhalb
Abb. 2 Netzdarstellung mit Relationen zwischen und innerhalb von Begriffsstrukturen in einem Orientierungsbereich (Abkürzungen s. Tab. II) 135
Orientierungabereich
I 0bj
>
v ^
^
Abmo
>
Orientierungsbereich
HT
1
JT
( A r z t y J H b e h a n d e l n y
°
>
b j
>
f Qua/ X
< >< > Orientierungabereich (Po/izist
yJ^I^festnehmen
y
Abb. 3 Netze der Orientierungsbereiche - vereinfacht (Abkürzungen s . Tab. II) 136
>
y
x
Orientierungsbereich
< x X
M
auch ohne Kontext erkannt wurden. Entsprechend den vorgegebenen Wortpaaren wurden dabei sowohl Relationen innerhalb als auch zwischen Begriffsstrukturen realisiert (vgl. Abb. 2) und können den Analogien zugrunde gelegt werden. Die Zuordnung der 9 Relationstypen zu den 2 unterschiedenen Klassen semantischer Relationen ist in Tab. in dargestellt. Identische Relationstypen gibt es dabei - nach den Wortpaarklassifikationen der Vpn - innerhalb eines Bereiches und in verschiedenen Bereichen (vgl. Abb. 3). Tabelle HI: Zwei Klassen semantischer Relationen mit Beispielen 1. Relationen zwischen Begriffsstrukturen Handlungsträger — Arzt : behandeln Lehrer : unterrichten Objekt
—
behandeln : Patient unterrichten : Schüler
Instrument
—
behandeln : Arznei unterrichten : Lehrmittel
Finalität
—
behandeln : Gesundheit unterrichten : Bildung
Lokation
—
Arzt : Behandlungsraum Schüler : Klassenraum
2. Relationen innerhalb von Begriffsstrukturen Über-Unterordnung
—
Arzt : Augenarzt Lehrer : Klassenlehrer
Qualität
—
Patient : krank Schüler : fleißir
Kontrast
—
krank : gesur . fleißig : faul
Komparativ
—
krank : siec lend streng : autoritär
In der Untersuchung wurde die Wirkung von 2 experimentell gesetzten Bedingungsvariationen auf die Bewältigung der Analogieanforderungen nach inner- und zwischenbegrifflichen Relationen geprüft (vgl. Tab. IV): 1. die Orientierungsbereichsabhängigkeit: Analogien konnten innerhalb eines oder zwischen verschiedenen Bereichen bestehen, 2. die Anforderungsbedingungen: In Serie A sollten die Vpn entscheiden, ob die in Analogie gesetzten Wortpaare hinsichtlich der zwischen ihnen be137
Tabelle IV: Versuchsplan Orientierungsbereiche - Analogien innerhalb OB Serie A 4 x 10 = 40
s-, 0)
zwischen OB Serie B
Serie A
Serie B
4 x 10 = 40
4 x 10 x 3 =
4 x 10 x 3 = 120 Meßwerte
5 x 10 x 3 = 150
5x10x3 = 150
BS
- Begriffsstrukturen
OB Serie A
- Orientierungsbereiche
Serie B
- Lösen offener Analogien
120
- Akzeptierung geschlossener Analogien
stehenden semantischen Beziehung als analog akzeptierbar sind (a : b = c : d richtig/falsch) = Analogieakzeptierung. In Serie B war die zwischen zwei Worten a und b bestehende Relation bei Vorgabe des dritten Wottes c durch Finden eines vierten d analog zwischen c und d zu bilden (a : b = c : ?) = Analogiebildung. Die Aufgaben wurden den Vpn über einen Projektor geboten, und sie hatten nach entsprechender Instruktion der Serien mit "richtig" oder "falsch" bzw. dem vierten Wort d zu reagieren. Als Parameter der Anforderungsbewältigung dienten Fehler und Zeiten von der Darbietung der Aufgabe bis zur geforderten sprachlichen Reaktion. In die Auswertung gingen nur die Zeiten richtiger Reaktionen ein, singulare Extremwerte wurden ausgeschlossen.
5.
Ergebnisse und Interpretation
Die Ergebnisse belegen systematische Leistungsunterschiede und bedingungsabhängige Leistungsänderungen für Analogien nach beiden Klassen semantischer Relationen. 138
5.1. Werden in einem ersten Auswertungs- Us] schritt Fehler und Zeiten über die experimentellen Bedingungsvariationen hinweg zusammengefaßt, ergeben sich unterschiedliche Werte für die einzelnen Relationsklassen (vgl. Abb. 4). Im Mittel werden Analogien nach zwischenbegrifflichen Re-
10 5 2
1
zwischen BS innerhalb von BS
Abb. 4 Mittlerer Zeitaufwand für Analogien (Akzeptierung und Begriffsstrukturen. Der geringere Zeitauf- Lösung) nach Relationen zwischen und innerhalb von B e wand ist signifikant auf dem 5%-Niveau. griffsstrukturen (BS) Damit ist global bestätigt, daß der kognilationen um 1, 7 Sek. schneller beantwortet
als solche nach Relationen innerhalb von
tive Aufwand für sprachliche Analogieaufgaben nach zwischenbegrifflichen R e lationen geringer ist als der für die nach Merkmalen (sekundär) abgeleiteten Relationen innerhalb begrifflicher Strukturen. 5.2. Der Wechsel des Orientierungsbereichs bei den in Analogie gesetzten Wortpaaren wirkt sich unterschiedlich für beide Klassen semantischer R e l a tionen aus (vgl. Abb. 5): Für Analogien nach zwischenbegrifflichen Relationen zeigt sich eine auf dem 5%-Niveau signifikante Aufwandsänderung von im Mittel 2, 3 Sek. Eine gegensätzliche, aber nur geringfügige (0, 4 Sek.) und s t a t i stisch nicht signifikante Wirkung ergab sich für Analogien nach innerbegrifflichen Relationen. Dieses Ergebnis besagt, daß der kognitive Aufwand für Analogien nach zwischenbegrifflichen Relationen abhängt von der inhaltlichen Zusammengehörigkeit der in Analogie gesetzten Begriffspaare und daß e r davon unabhängig ist für Analogien nach innerbegrifflichen Relationen. Der Unterschied wird zurückgeführt auf die unterschiedlichen kognitiven Eigenschaften beider Relationsklassen: Als Abbilder situativer Ereignisse werden zwischenbegriffliche Relationen einer Analogie leichter erfaßt und gebildet, wenn sie selbst inhaltlich nach der Erfahrung zusammenhängen. Die zusätzliche Vernetzung von Begriffen eines inhaltlich zusammengehörenden B e r e i ches bewirkt hier die Senkung des kognitiven Aufwandes evtl. durch ihre sprachlich geschlossene Anregung im Gedächtnis. Wird jedoch in einer Ana139
ffsJ,
zwischen Begriffsstrukturen
its]
8
8
5
5
2
2 10B
20B
Innerhalb von Begriffsstrukturen
logie der Orientierungsbereich gewechselt, erhöht sich der Aufwand zur Anforderungsbewältigung, denn dann sind 2 unab-
10B
20B
Abb. 5 Mittlerer Zeitaufwand für Analogien (Akzeptierung und Lösung) zwischen und innerhalb von Orientierungsbereichen (OB)
hängige Ereignisse zu erfassen. Bemerkenswert ist hier, daß für die eine Situation als Einheit auszeichnende LokationsRelation der Wechsel des
Orientierungsbereichs (und damit des Ortes) die größte Aufwandserhöhung um 5, 8 Sek. - bewirkte. Das semantische Gedächtnis scheint damit in der Ebene elementarer zwischenbegrifflicher Relationen nach erfahrungsmäßigen inhaltlichen Zusammengehörigkeiten der Begriffe organisiert zu sein. Nicht so für die nach Merkmalen von Begriffsstrukturen abgeleiteten Beziehungen innerhalb hierarchischer Begriffsstrukturen. Der Aufwand für die Operationen zur Gewinnung innerbegrifflicher Relationen ist unabhängig von der inhaltlichen Zusammengehörigkeit der Begriffe in Orientierungsbereichen. Das eben spricht für den abgeleiteten Charakter dieser Strukturbildung. 5. 3. Die Änderung der Anforderung von der Akzeptierung geschlossener Analogien (A) zur Analogiebildung mit Wortfindung (B) erhöht in jedem Fall den kognitiven Aufwand zur Anforderungsbewältigung - jedoch unterschiedlich für beide Klassen semantischer Relationen (vgl. Abb. 6). Der für die Analogiebildung mit Wortfindung gegenüber der Analogieprüfung zusätzlich notwendige Zeitaufwand beträgt für zwischenbegriffliche Relationen im Mittel 4, 3 Sek. und für innerbegriffliche Relationen 7 Sek. Für Analogiebildungen nach zwischenbegrifflichen Relationen ist der für die Wortfindung zusätzlich benötigte Zeitaufwand damit um 2, 7 Sek. geringer als für solche nach innerbegrifflichen Relationen (vgl. Abb. 7). Die u n t e r s c h i e d l i c h e
Wirkung der An-
forderungsvariation auf den Zeitbedarf bei beiden Klassen semantischer Rela140
tionen ist statistisch gesichert. Werden die Zeiten in den beiden Serien A/B unterschiedlicher Anforderungsbedingungen auf den gleichen Mittelwert normiert, unterscheiden sich beide Relations klassen augenfälliger (Abb. 8): Der r e l a t i v e Aufwand für die Anforde-
zwischen BS
innerhalb von BS
Ms7
10
10
Serien:
I
m
A
B
B
Abb. 6 Mittlerer Zeitaufwand für Analogieakzeptierung (A) und Analogielösung (B) nach Relationen zwischen und innerhalb von Begriffsstrukturen (BS)
rung der Analogiebildung mit Wortfindung erhöht sich (nicht signifikant) bei Analogien nach Relationen innerhalb von Begriffsstrukturen und verringert sich signifikant für solche nach Relationen zwischen Begriffsstrukturen. Der geringere Zeitaufwand für die Wortfindung zur Herstellung analoger zwischenbegrifflicher Relationen wird darauf zurückgeführt, daß diese als elementare Bedeutungseinheiten auch in der sprachlichen Belegung durch Wortverbindungen Grundeinheiten des Langzeitgedächtnisses bilden und sprachlich als Einheiten anregbar sind. Die leichtere Wortverfügbarkeit für zwischenbegriffliche Relationen entspricht dabei dem häufigen Gebrauch dieser Wortverbindungen in der Kommunikation zur sprachlichen Darstellung von ,K innerhalb BS_
1,0.
A
Seriem
Abb. 7 Zeitzuwachs für Analogielösung mit Wortfindung d (B) gegenüber Analogieakzeptierung (A) nach Relationen zwischen und innerhalb von Begriffsstrukturen (TBS)
t norm
B
« auf gleichen Mittelwert in den
Serien A,B normierter
Zeitaufwand
Abb. 8 Relative Änderung des Zeitaufwandes für Analogieakzeptierung (A) gegenüber Analogielösung (B) nach Relationen zwischen und innerhalb von Begriffsstrukturen (BS) 141
Ereignissen. Während zwischeribegriffliche Relationen sprachlich als E r eignisabbilder im Gedächtnis direkt gebunden sind, müssen die zur Herstellung innerbegrifflicher Relationen notwendigen Operationen demgegenüber im Lösungsprozeß erst vollzogen werden und gestalten die Analogiebildung danach aufwendiger. Aufwandsdifferenzen für Relationstypen in den beiden Klassen semantischer Relationen sprechen für diese Interpretation: Von den innerbegrifflichen Relationen erfordern die Komparativ- und Kontrastrelationen den größten kognitiven Aufwand, da bei ihnen zur Relationsher Stellung Beziehungen zwischen Merkmalen gebildet und hierbei Richtungsmarkierungen beachtet werden müssen. Das sind gegenüber der Merkmals Zuordnung und Enthaltenseins prüfung bei der Relation Qualität und der der begrifflichen Überordnung zusätzliche Operationen. Den geringsten Aufwand erfordern zwischenbegriffliche Relationen, die obligatorisch für Ereignisdarstellungen sind. So weist bemerkenswerterweise die maximal vom Orientierungsbereich abhängige Lokationsrelation den minimalen Aufwandszuwachs für die Wortfindung zur Analogiebildung gegenüber der Analogieakzeptierung auf. Die für Ereignisdarstellungen mehr fakultativen Relationen, wie Instrument, zeigen hingegen einen höheren Aufwands Zuwachs in der Klasse zwischenbegrifflicher Relationen. Während Aufwandsdifferenzen zwischen innerbe griff liehen Relationen auf unterschiedlich komplizierte Operationen zur Relationsbildung zurückgeführt werden, werden solche für zwischenbegriffliche Relationen mit einem unterschiedlichen Aufwand beim Aufsuchen von Ereignissen und Aktivierungsunterschiede begründet.
6.
Schlußbemerkungen
Die Untersuchungsergebnisse belegen die psychologische Unterscheidbarkeit beider Klassen sprachlich-semantischer Relationen im menschlichen Gedächtnis. Es wurde wahrscheinlich gemacht, daß zwischenbegriffliche Relationen primäre Strukturbildungen im semantischen Gedächtnis darstellen und seine funktionellen Bedeutungseinheiten im Gedächtnis abgebildete Ereignisse sind. 142
Die Ordnungsbildung in begrifflichen Strukturen ist sekundär abgeleitet. Diese Unterscheidung erfolgte anhand*von L e i s t u n g s r e s u l t a t e n bei kognitiven Anforderungen nach diesen Relationen. Wie die primäre gegenüber der sekundären Strukturbildung in der Bewältigung der experimentellen Anforderung wirkt und die Unterschiede im kognitiven Aufwand bedingt, konnte nur hypothetisch angedeutet werden. Notwendig ist hierfür eine Prozeßanalyse der Anforderungsbewältigung zur experimentellen Zerlegung dessen, was den kognitiven Aufwand ausmacht. Das ist eine zukünftige Aufgabe.
7.
Zusammenfassung
Die experimentelle Untersuchung verfolgte das Ziel, sprachlich-semantische Relationen im menschlichen Gedächtnis als Widerspiegelungsleistungen zu analysieren. Hypothetisch wurden zwei Klassen von Beziehungen zwischen Bedeutungseintragungen eingeführt und unterschieden: 1. Relationen der Ordnungsbildung innerhalb begrifflicher Strukturen (abgeleitet nach Merkmalen von Begriffen) und 2. Relationen zwischen Begriffsstrukturen (als Ereignis abbilder). Im Experiment wurden beide Klassen semantischer Relationen durch Leistungen von Vpn bei kognitiven Anforderungen unterschieden, denen diese Relationen zugrunde lagen. Sprachliche Analogieaufgaben der allgemeinen Form a : b = c : d zeigten unterschiedliche Fehler und Lösungszeiten für beide Relationsklassen und unterschiedliche Wirkungen experimentell gesetzter Bedingungsvariationen auf sie. Die Ergebnisse werden in ihrer Bedeutung für Annahmen über die Organisationsstruktur des semantischen Gedächtnisses diskutiert. Es wurde wahrscheinlich gemacht, daß zwischenbegriffliche Relationen primäre Strukturbildungen im Gedächtnis darstellen, während innerbegriffliche Relationen abgeleiteten, möglicherweise prozeduralen Charakter tragen.
143
8.
Anmerkungen
1
Dabei wird sich wahrscheinlich zeigen, daß in Fällen hoher Gebrauchshäufigkeit von Begriffen auch solche Relationen listenartig fixiert sein können. Dies würde das hier angenommene Prinzip nicht außer Kraft setzen.
9.
Literatur
Fillmore, C. J . , The case for case. In: Back, E . , & R. Harms (eds. ), Universals in linguistic theory. New York 1968. Rumelhart, D . E . , et al., A process model for long-term-memory. In: Tulving, E . , and W. Donaldson (eds. ), Organization of Memory. New York und London 1972.
144
Joachim Hoff mann KLASSIFIZIERUNG UND ÜBERTRAGBARKEIT SEMANTISCHER RELATIONEN IM MENSCHLICHEN GEDÄCHTNIS1
Die auf die Experimente von Ebbinghaus (1885) zurückgehende experimentelle Gedächtnispsychologie stellte in ihren Anfängen die Neubildung und den Zerfall von Gedächtnisbesitz in den Mittelpunkt ihrer Bemühungen. Da dies auf der Grundlage assoziationstheoretischer Vorstellungen erfolgte, suchten die Experimentatoren nach den Gesetzen der Bildung und des Zerfalls von Assoziationen zwischen den zu erlernenden Einheiten. Unter einer Assoziation wurde dabei eine gedachte Verbindung zwischen im Gedächtnis gespeicherten "seelischen Gebilden" verstanden, die die wechselseitige Reproduktion dieser Gebilde bewirkt (Ebbinghaus 1905, S. 635). Die Zuspitzung der Fragestellung erforderte im Experiment die Verwendung eines Materials, von dem angenommen werden konnte, daß zwischen den verwendeten Einheiten vor dem Experiment noch keine Assoziationen im Gedächtnis bestehen. Die Wahl fiel auf sinnlose Silben, einfache Konsonant-Vokal-Konsonant-Trigramme, die so gewählt sind, daß sie keinen Gedächtnisbesitz bei den Vpn anregen und in eben diesem Sinne sinnlos sind. Die mit diesem sinnlosen Material oftmals in so ausgeklügelt sinnvoller Weise durchgeführten Experimente haben eine große Anzahl wesentlicher Resultate erbracht und das Verständnis der menschlichen Gedächtnistätigkeit entscheidend gefördert. Seien es die von Ebbinghaus (1885) . aufgestellten Gesetzmäßigkeiten des Vergessens, die von Jost untersuchte Abhängigkeit der Wiederholungswirkung vom Alter des Gedächtnisbesitzes oder der von Müller und Schumann (1894) untersuchte Einfluß der zeitlichen Gliederung einer Serie auf Gruppenbildungen im Gedächtnis - all' dies sind wesent-
145
liehe Aussagen der experimentellen Gedächtnispsychologie und bis heute Bestandteile gedächtnispsychologischer Theorienbildung. Wenn auf der einen Seite die Beschränkung auf die Verwendung sinnlosen Versuchsmaterials zur Aufdeckung wichtiger Mechanismen der Gedächtnistätigkeit führte, so versperrte sie auf der anderen Seite den Blick auf die O r ganisation des Gedächtnisses als Speicher unseres Wissens über die uns umgebende objektive Realität und auf die in dieser Organisation ablaufenden Prozesse zur Wiedergewinnung von Informationen. Aber gerade in der Speicherung und Organisation von Informationen Uber Eigenschaften, Strukturen und Zusammenhänge der objektiven Realität muß die wesentliche Funktion des menschlichen Gedächtnisses gesehen werden (Klix 1971). Betrachtet man das Gedächtnis als funktionelles System zur Bewahrung und Wiedergewinnung aufgenommener Informationen, so sind zur Erschließung seiner Funktionsweise Experimente durchzuführen, die diese funktionellen Leistungen ansprechen. Hierfür ist jedoch die Verarbeitung und Speicherung bedeutungshaltiger Reize charakteristisch, d.h. von Reizen, die schon bestehenden Gedächtnisbesitz anregen und in diesem Sinne Bedeutung tragen. Gedächtnisleistungen über bedeutungshaltigem Material schließen damit die Anregung und Modifikation bestehender Gedächtnisstrukturen auf der Grundlage der Verarbeitung aufgenommener Informationen ein. Erst in diesem Zugang erschließt sich die volle LeistungsCharakteristik menschlicher Gedächtnismechanismen. Für die experimentelle Realisierung dieses Zugangs ist es unabdingbar, die Bedeutungshaltigkeit der zu verarbeitenden Reize so zu spezifizieren, daß sie als experimentelle Variable kontrolliert ins Spiel gebracht werden kann. Der Bedeutungsgehalt eines Reizes ist nach unserer Auffassung durch diejenigen Gedächtnisstrukturen gegeben, die im Resultat der Verarbeitung des Reizes aktiviert werden (Klix 1971, 1976). Die Forderung nach Differenzierung der Bedeutungshaltigkeit eines Reizes mündet damit in die Forderung nach der Differenzierung von aktivierbaren Gedächtnisstrukturen. Die Grundlage für den Aufbau und die Differenzierung von Gedächtnisstrukturen bilden "semantische Relationen". Im folgenden soll der Begriff der "semantischen Relation" als konstitutiver Begriff zur Bestimmung von Gedächtnisstrukturen aus psychologischer Sicht untersucht und in seiner Wirkung auf Gedächtnisleistungen behandelt 146
werden. Dabei versuchen wir zunächst eine psychologische Interpretation semantischer Relationen zu geben, indem wir semantische Relationen als Resultat psychischer, speziell kognitiver Prozesse betrachten. Die Abschnitte 2 und 3 behandeln wesentliche Schlußfolgerungen einer solchen Betrachtungsweise. Semantische Relationen werden als durch Merkmale charakterisierbare und damit als klassifizierbare Gedächtnisinhalte betrachtet. Die Abschnitte 4 bis 9 dienen dann der Darstellung experimenteller Untersuchungen zum Nachweis der psychologischen Realität der Klassenbildung über semantischen Relationen als kognitive Grundlage der Übertragbarkeit semantischer Organisationsstrukturen. Dabei werden auch Alternativen zur Bestimmung der Informationsverarbeitungsprozesse diskutiert, die der semantischen Strukturbildung zugrunde liegen. Der Abschnitt 10 enthält in zusammenfassender Sicht einen modellhaften Überblick über die von uns angenommene Prozeßcharakteristik.
1.
Eine psychologische Interpretation semantischer Relationen
Schon bei einfachsten Anforderungen an das menschliche Gedächtnis können Phänomene beobachtet werden, die auf eine Strukturierung des Gedächtnisbesitzes hindeuten. Wir meinen damit Phänomene, die zeigen, daß Gedächtnisinhalte nicht unabhängig voneinander, sondern in wohlgeordneten Relationen zueinander gespeichert werden, in Relationen, die in ihrer Gesamtheit die Struktur des Gedächtnisbesitzes bilden (Klix/Krause 1969). Hinweise auf solche Strukturierungen erhält man beispielsweise schon dann, wenn Vpn aufgefordert werden, zu einem vorgegebenen Begriff andere Begriffe frei zu assoziieren, d. h. auf einen vorgegebenen Begriff mit anderen beliebigen Begriffen so schnell als möglich zu reagieren. Führt man solche Versuche durch, so finden sich weitgehende Übereinstimmungen in den Reaktionen der Vpn. Auf den Begriff 'Adler' reagieren viele der Vpn mit 'Vogel', auf den Begriff 'Stiel' mit 'Besen' und auf 'blau' mit 'Himmel', um nur einige Beispiele zu nennen (Hörmann 1967). Diese sogenannten "freien", aber doch so offensichtlich gebundenen Reaktionen deuten darauf hin, daß bevorzugte Relationen zwi147
sehen den Gedächtnisinhalten bestehen, die durch Begriffe wie 'Adler - Vogel', 'Stiel - Besen' und 'blau - Himmel' angeregt werden. Dabei wird deutlich, daß die so verbundenen Gedächtnisinhalte auch realen Objekten oder Erscheinungen entsprechen, die objektiv in bestimmter, aber in jeweils unterschiedlicher Beziehung zueinander stehen. 'Adler' und 'Vogel' stehen zueinander in der Beziehung einer Teilmenge zu einer Übermenge von Lebewesen, 'Stiel' und 'Besen' stehen zueinander in der Beziehung eines Teils zu einem Ganzen und 'blau' und 'Himmel' schließlich in der Beziehung einer Eigenschaft zu einem Objekt. Auf der Grundlage unserer Auffassung vom Gedächtnis als funktionelles System zur Bewahrung und Wiedergewinnung von Informationen über die uns umgebende objektive Realität betrachten wir die nachgewiesenen Relationen zwischen Gedächtnisinhalten als Widerspiegelung von objektiv realen Struktur zusammenhängen, über die in der Vergangenheit des Individuums Informationen gewonnen worden sind. Es sind damit gespeicherte E r gebnisse informationsverarbeitender Prozesse. Auf diese Art und Weise entstandene Beziehungen zwischen Gedächtnisinhalten wollen wir semantische Relationen nennen. Semantische Relationen sind damit Beziehungen zwischen Gedächtnisinhalten, die im Resultat informationsverarbeitender Prozesse objektiv reale Strukturzusammenhänge widerspiegeln und speichern. Die so gegebene psychologische Bestimmung semantischer Relationen als im Gedächtnis gespeicherte Resultate von Prozessen der Struktur er kennung hat wenigstens zwei wesentliche Konsequenzen für die weitere Betrachtung semantischer Relationen als Gegenstand experimentalpsychologischer Forschung. a) Im menschlichen Gedächtnis existieren so viele semantische Relationen zwischen Gedächtnisinhalten, wie objektiv reale Beziehungen zwischen Objekten und Erscheinungen im Resultat von Informationsverarbeitungsprozessen erkannt worden sind; aber auch nur diese semantischen Relationen existieren im Gedächtnis. Einen Überblick über die mögliche Vielfalt semantischer R e lationen gewinnt man daher durch eine Zusammenstellung kognitiver Leistungen menschlicher Informationsverarbeitung, angefangen bei der einfachen Diskrimination unterschiedlicher Merkmalsausprägungen über Begriffsbil148
dungsvorgänge bis hin zu komplexen Leistungen der Erkennung von Zusammenhängen auf der Grundlage von Regelsystemen. Verständlicherweise kann ein solcher Überblick hier nicht gegeben werden (siehe dafür Klix 1971, Lindsay/Norman 1972). Zwei Beispiele sollen jedoch die Vielgestaltigkeit kognitiver Grundlagen semantischer Relationen verdeutlichen. Der einfache Vorgang der objektgebundenen Wahrnehmung einer Eigenschaft erzeugt beispielsweise die semantische Relation zwischen den Gedächtnisinhalten 'Tomate' und 'rot', während ein komplizierter Erkenntnisvorgang notwendig ist, um den Zusammenhang zwischen 'Eiweißstruktur' und 'Erbanlage' im menschlichen Gedächtnis als semantische Relation zu fixieren. Zwischen beiden angedeuteten Extremen erstreckt sich eine große Menge von erkennbaren Beziehungen, die in ihrer Speicherung zur Bildung semantischer Relationen führen können. Die Frage, wie in unserem Gedächtnis trotz dieser Vielfalt semantischer Relationen geordnete Strukturen aufgebaut werden können, soll im Abschnitt 3 aufgegriffen werden. b) Die zweite wesentliche Folgerung aus der oben gegebenen Begriffsbestimmung betrifft die Charakteristik der semantischen Relationen als Gedächtnisbesitz. Wenn semantische Relationen Widerspiegelungen objektiv realer Zusammenhänge darstellen, dann müssen sie für die widergespiegelten realen Zusammenhänge charakteristisch sein. Das heißt, die Verbindung zwischen den Gedächtnisinhalten müssen noch die Information, die zu ihrer Entstehung geführt hat, beinhalten. Oder anders: Unterschiedliche objektive Beziehungen müssen zu verschiedenartigen Verbindungen führen, um aus der Art der s e mantischen Relation die Ursache ihrer Entstehung ablesen zu können. Daraus leitet sich zwingend ab, daß semantische Relationen keine unteilbaren psychischen Sachverhalte darstellen können. Sie müssen in sich strukturiert sein, um sie anhand der Verschiedenartigkeit ihrer Strukturierung differenzieren zu können. Die naheliegendste Annahme besteht in der Differenzierung semantischer Relationen nach charakteristischen Merkmalen. Da zu wenig über die neurophysiologische Charakteristik von Gedächtnisverbindungen bekannt ist, müssen die Merkmale auf der Ebene psychischer Prozesse charakterisiert werden. Wir meinen damit Merkmale, die der Identifizierung semantischer 149
Relationen dienen. Um dies am Beispiel zu erläutern: Die Identifizierung der Beziehung zwischen einem Oberbegriff und einem Unterbegriff (Vogel-Adler) sollte die Prüfung anderer Merkmale erfordern als die Identifizierung der Relation eines Teils zum Ganzen (Stiel-Besen). Diese unterschiedliche abzuprüfende Merkmalsstruktur sollte auch der Differenzierung semantischer R e lationen als Gedächtnisinhalte zugrunde liegen. Wir können nun den verfolgten Gedanken zusammenfassend formulieren: Wenn semantische Relationen die Information über den Ursprung ihrer Entstehung im Sinne einer Widerspiegelung objektiv-realer Zusammenhänge beinhalten, müssen sie differenzierbar sein. Die Differenzierung ergibt sich aus der unterschiedlichen Merkmalsstruktur semantischer Relationen. Die Merkmalsstruktur einer semantischen Relation läßt sich über die zu ihrer Identifikation notwendigen Merkmale in ihrer spezifischen Verknüpfung erfassen. Unterschiedliche semantische Relationen sollten aufgrund unterschiedlicher Merkmalsstruktur verschiedenartige Identifikationsprozesse erfordern.
2.
Die Merkmalscharakteristik semantischer Relationen
Der Gedanke, Gedächtnisinhalte als Bündel voneinander differenzierbarer Merkmale zu charakterisieren, ist in psychologischen Arbeiten zur Charakteristik von Gedächtnisbesitz schon oft nahegelegt worden. Underwood, Ham und Ekstrand (1962) konnten in Paarassoziationsversuchen überzeugend belegen, daß nicht die Gesamtheit der wahrnehmbaren Merkmale der zu verbindenden Einheiten im Gedächtnis fixiert wird, sondern nur ein Teil der angebotenen Merkmalscharakteristik funktionell wirksam wird. Nur zwischen Teilen der vorhandenen und wahrnehmbaren Merkmals Charakteristiken wird im Gedächtnis die zu erlerndende Verbindung aufgebaut. Daß so kodierte Merkmale als unabhängige Gedächtniselemente gespeichert sind, belegt die Tatsache, daß sie unabhängig voneinander reproduziert werden können. Untersuchungen zum Phänomen des "Auf der Zunge Liegens" haben dies gezeigt (Brown/McNeill 1966, Blake 1973, siehe auch Schulter 1975). Ge150
meint ist der Zustand, in dem man einen gesuchten Begriff, von dem man s i cher weiß, daß er im Gedächtnis gespeichert ist, doch nicht reproduzieren kann. Der gesuchte Begriff liegt einem, wie man sagt, auf der Zunge. In diesem Zustand kann man oft beobachten, daß, wenn auch nicht das gesuchte Wort, so doch einzelne seiner Merkmale richtig angegeben werden können. Unabhängig von der Reproduktion des Ganzen sind also einzelne Merkmale reproduzierbar, ein überzeugender Hinweis auf die Existenz von Kodierungsmerkmalen zur Charakteristik von Gedächtnisinhalten (siehe auch Underwood 1969). Überträgt man nun das Konzept der Kodierungsmerkmale auf die Speicherung semantischer Relationen, so kann angenommen werden, daß bei der Erkennung einer objektiv-realen Beziehung ein charakteristischer Teil der Merkmale diesem Beziehung kodierungswirksam, d. h. im Gedächtnis gespeichert wird. Diese, die objektive Beziehung charakterisierenden Merkmale, sind dann als die Merkmale der im Gedächtnis gespeicherten semantischen Relation anzunehmen. Das nochmalige Auftreten der gleichen Merkmalskonfiguration führt dann zur Wiedererkennung der spezifischen Relation. Die wahrgenommenen Merkmale einer Beziehung zwischen Objekten oder Ereignissen stimmen mit der im Gedächtnis gespeicherten Merkmalscharakteristik überein. Die im Gedächtnis gespeicherte Merkmals Charakteristik einer semantischen Relation dient damit der Identifikation dieser Relation in der objektiven Realität. Aus dieser Betrachtungsweise lassen sich experimentell überprüfbare Hypothesen ableiten. Die Zeit zur Identifikation semantischer Relationen sollte nach unseren Annahmen von der Abzahl der abzuprüfenden Merkmale abhängig sein. Semantische Relationen mit unterschiedlicher Merkmalscharakteristik sollten auch einen unterschiedlichen Zeitaufwand zu ihrer Identifikation beanspruchen. E r s t e Daten zur Unterstützung dieser Hypothesen sind in Experimenten zum sogenannten "Satz-Bild-Vergleich" gewonnen worden. Den Vpn wird simultan ein Satz und ein Bild geboten. Der zumeist sehr einfach gehaltene Satz beinhaltet eine Aussage über in der Regel eine Beziehung zwischen konstant gehaltenen Elementen des zugleich gebotenen Bildes. Die Vpn hat zu entscheiden, ob die Elemente des Bildes tatsächlich in der im Satz ausgedrückten Beziehung zueinander stehen. Die inhaltliche Aussage des Satzes muß in Bezug auf die Eigenschaften des Bildes verifiziert werden. Gemessen wird die Zeit, die die
151
Vpn für die notwendige Entscheidung beanspruchen. Wenn unter sonst gleichen Bedingungen die Vpn für die Verifikation unterschiedlicher Relationen unterschiedliche Prozeßzeiten beanspruchen, dann sollten diese Unterschiede auf die unterschiedliche Merkmalskomplexität der semantischen Relationen zurückgeführt werden können. Tatsächlich sind solche Unterschiede in einer Reihe von Experimenten beobachtet worden. In Untersuchungen von Chase und Clark (1972) hatten die Vpn Sätze wie 'Das Kreuz ist iiber dem Stern' bzw. ' . . . unter dem Stern' in bezug auf Bilder zu verifizieren, die Stern und Kreuz in unterschiedlicher Anordnung zeigten ( £ , * ). Unter sonst gleichen Bedingungen benötigten die Vpn zur Verifikation der im Satz ausgedrückten Relation 'über' stets weniger Zeit als zur Verifikation der Relation 'unter'. In einer Übersicht von Clark, Carpenter und Just (1973) werden weitere Befunde zusammengetragen, die in die gleiche Richtung weisen. So wird die Relation 'X länger Y' schneller verarbeitet als die Relation 'X kürzer Y', 'größer' schneller als 'kleiner' und 'tiefer' schneller als 'flacher'. Interessant ist nun die Tatsache, daß von den verwendeten Antonympaaren stets der unmarkierte Term (lang, groß, tief) schneller verarbeitet wird als der markierte Term. Psycholinguistische Untersuchungen legen nun aber gerade nahe, den markierten Termen eine komplexere Merkmalscharakteristik zuzuschreiben als den unmarkierten Termen (E. Clark 1971, Bierwisch 1975). Die erhöhte Verarbeitungszeit von Komparativrelationen, die auf der Grundlage markierter Adjektive gebildet sind, kann damit, ganz im Sinne unserer Hypothese, auf die Merkmalscharakteristik der Relationen zurückgeführt werden. Dabei bestehen zunächst erst vage Vorstellungen über die Art der Merkmale und die Prozesse ihrer Abarbeitung; es verbleibt als Aufgabe, sie psychologisch stringent zu fassen. Dennoch bleibt festzuhalten, daß diejenigen Relationen, die aufgrund psycholinguistischer Analysen als komplexere psychische Sachverhalte erscheinen, auch diejenigen sind, die in Verifikationsexperimenten die relativ höheren Prozeßzeiten beanspruchen. Läßt sich das Konzept der Merkmals Charakteristik semantischer Relationen auch über den Bereich der bisher diskutierten anschaulichen Relationen hinaus plausibel machen? Nehmen wir als Beispiel eine zunächst sehr abstrakt erscheinende semantische Relation, die Relation des Verursachens. 152
Gemeint sind Beziehungen, die zwischen Begriffen wie 'Brennglas' und ' F e u e r ' 'Nagel' und 'Reifenpanne' o . a . im Gedächtnis fixiert sein können und wobei das eine in der Beziehung der Ursache zur Wirkung mit dem anderen steht. Welches sind nun die Merkmale, die einen Sachverhalt 'X' als Ursache eines anderen Sachverhaltes 'Y' e r k e n n e n
lassen? Mit der Beantwortung dieser
Frage werden jene Merkmale erschlossen, die "Verursachungsrelationen" als Gedächtnisbesitz kennzeichnen. Duncker ist schon 1935 in sorgfältigen Analysen produktiver Denkvorgänge dieser Frage nachgegangen. Als wesentliche Merkmale nennt e r die raumzeitliche Koinzidenz zweier Ereignisse und etwas genauer: Übereinstimmungen in der Struktur von räum-zeitlichen Änderungen beider Ereignisse (Duncker 1935). Der Zusammenhang zwischen dem Drehen des Schalters und dem Leuchten der Lampe läßt das eine als zwingende U r s a che des anderen erscheinen, auch ohne jede Einsicht in die dabei ablaufenden elektrophysikalischen Vorgänge, ebenso wie die Übereinstimmung zwischen dem Rhythmus einer Handbewegung und dem Rhythmus von Klopfgeräuschen die Handbewegung als Ursache der Klopfgeräusche erkennen läßt. Sicher sind die genannten Merkmale nicht notwendige Merkmale zur Erkennung einer U r sache-Folge-Beziehung, aber wie die Beispiele zeigen, hinreichende Merkmale, um den zwingenden Eindruck einer Verursachungsbeziehung hervorzurufen. Gezeigt werden sollte, daß für einfache wie für komplexe semantische Beziehungen Merkmalscharakteristiken angegeben werden können, die die Spezifik der semantischen Beziehungen ausdrücken. Wenn auch die psychologisch stringente Merkmals Charakteristik semantischer Relationen noch Untersuchungen vorbehalten bleiben muß, so konnte doch wahrscheinlich gemacht werden, daß die Abarbeitung semantischer Relationen im Gedächtnis einer Merkmalsprüfung im Sinne einer Identifikationsprozedur entspricht.
153
3.
Die Klassifizierung semantischer Relationen
Wir haben semantische Relationen als Gedächtnisrepräsentationen konkreter Beziehungen zwischen Objekten, Erscheinungen der objektiven Realität gekennzeichnet. Sie fixieren nach unserer Auffassung Resultate informationsverarbeitender Prozesse beim Erkennen der entsprechenden Beziehungen. Diese Resultate sind als Merkmalssätze zu kennzeichnen, die die Spezifik der semantischen Relation bestimmen und ihrer Identifikation dienen. Semantische R e l a tionen sind damit auf der Grundlage ihrer Merkmalsspezifik differenzierbare Gedächtnisinhalte. Damit ist nun aber, wie Klix (1976) ausführlich begründet, eine wesentliche Basis für die Steigerung kognitiver Leistungsfähigkeit gegeben. Da also semantische Relationen durch Merkmalssätze differenzierbare Gedächtniseinheiten sind, lassen sich kognitive Prozesse auf diese Einheiten selbst wieder anwenden. Auf das im Gedächtnis gespeicherte Resultat kognitiver Prozesse lassen sich erneut kognitive Prozesse der Klassifikation und Transformation anwenden. Kognitive Prozesse der Klassenbildung sind im Rahmen der experimentellen Begriffsbildungsforschung umfassend untersucht worden. Unter Begriffen werden dabei Ordnungen von Objektmengen nach deren Merkmalen verstanden. Jeder Begriff ist dabei bestimmt durch die zur Ordnung herangezogenen und damit relevanten Merkmale und die Art ihrer Verknüpfung, kurz durch die Begriffsstruktur, durch die konkrete Teilmenge der zum Begriff gehörenden Objekte, den Begriffsinhalt und schließlich durch seine Bedeutung, verbunden mit der unterschiedlichen Art und Weise des Verhaltens gegenüber den zum Begriff gehörenden Objekten (Klix 1967, 1971). Wendet man die gegebene definitorischen Bestimmungsstücke auf die Klassifizierung von semantischen R e l a tionen an, dann werden Klassenbildungen über semantischen Relationen betrachtet, die durch eine angebbare Menge semantischer Relationen, durch eine klassenspezifische Merkmals Charakteristik und durch eine einheitliche V e r haltenstendenz auf die gesamte Klasse der Relationen gekennzeichnet sind. B e i spiele für eine zunächst intuitive Klassifizierung semantischer Relationen finden sich beliebig viele. Relationen wie 'auf', 'unter', 'hinter', 'zwischen' usw.
154
lassen sich beispielsweise als Lokalrelationen zusammenfassen. Trotz unterschiedlicher spezifischer Merkmalscharakteristik beziehen sie sich alle auf räumliche Relationen zwischen zwei oder mehreren Objekten. Der Merkmalscharakteristik aller dieser Relationen ist gemeinsam, daß sie durch Merkmale der räumlichen Lagebeziehung von Objekten charakterisiert sind. Oder nehmen wir ein anderes Beispiel. Die Beziehungen zwischen Begriffen wie 'Fichte' und 'Baum', 'Vogel' und ' T i e r ' , ' B i e r ' und 'Getränk' usw. haben gemeinsam, daß der jeweils erstgenannte Begriff in seiner Merkmalscharakteristik die Merkmale des zweiten Begriffs enthält, vermehrt um einige spezifische Merkmale. E s handelt sich dabei in allen Fällen um die Beziehung zwischen einem Oberund einem Unterbegriff im Rahmen eines hierarchisch organisierten Begriffssystems. Oder betrachten wir, um ein letztes Beispiel zu nehmen, die B e z i e hungen zwischen Begriffen wie 'schreiben' und 'Federhalter', 'schneiden' und 'Messer', 'putzen' und 'Lappen' usw. Auch ohne im einzelnen die Merkmalscharakteristik angeben zu können, läßt sich doch ableiten, daß das allen R e l a tionen Gemeinsame in einer Übereinstimmung von Merkmalen der Tätigkeit und Merkmalen der Objekte besteht, so daß die Objekte als Instrumente der Tätigkeiten fungieren. Die Klasse der Instrumentrelationen ist damit abgegrenzt. Ohne weitere Beispiele zu nennen, wollen wir nun auf einige Konsequenzen und Probleme der Klassifikation semantischer Relationen eingehen: a) Die Klassifikation semantischer Relationen darf nicht mit den schon sehr frühen Bemühungen zur Klassifikation von Assoziationen verwchselt werden (Wundt 1893). Später sind noch oft Versuche zur Klassifikation von Assoziationen unternommen worden (vgl. Süllwold 1964). In jedem Falle handelt es sich jedoch um eine Klassifikation von Ursachen der Entstehung von Assoziationen. Nicht die Assoziation als Gedächtniselement ist Klassifikation Objekt, sondern das objektive reale Ereignis, das zur Ausbildung der Assoziation führte. Unsere Klassifikationsbemühungen beziehen sich auf die semantischen Relationen, als im Gedächtnis existierende Verbindungen zwischen Gedächtnisinhalten. Die Merkmalsdifferenzierung dieser Verbindungen ist kognitive Grundlage für ihre Klassifikation.
155
b) Die Klassifizierung semantischer Relationen erschließt die Möglichkeit der Bildung von Begriffssystemen. Damit ist die Bildung von Relationen zwischen Klassen von Relationen gemeint, die relationale Verknüpfung von Relationsbegriffen (siehe auch Klix 1976). So kann ein solches Begriffssystem über Relationen hierarchisch organisiert werden. Klassen von Relationen werden in übergeordneten Klassen zusammengefaßt und diese wiederum auf höherer Ebene zu allgemeineren Klassen usw. Die Bildung eines Begriffs auf jeweils höherer Ebene ist dabei verbunden mit dem Verlust differenzierender Merkmale. Collins und Quillian (1972) haben die psychologische Realität solcher hierarchischen Begriffssysteme über Objektmengen im menschlichen Gedächtnis wahrscheinlich gemacht. Es liegt nahe, ein solches Organisation prinzip auch für die Klassifizierung von semantischen Relationen anzunehmen. Die Abbildung 1 demonstriert an einem hypothetischen Beispiel den Charakter einer solchen hierarchischen Gliederung über Zeitrelationen. |
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Abb. 1 Beispiel einer hierarchischen Klassifizierung von Relationen Die psychologische Wirkung einer solchen Struktur kann in vielerlei Hinsicht konsequenzreich diskutiert werden. Sind semantische Relationen tatsächlich zu einer solchen hierarchischen Struktur zusammengefaßt, wie in Abbildung 1 angedeutet, dann ließe sich beispielsweise die Verarbeitung einer s e mantischen Relation als hierarchisch organisierter Prozeß der.Merkmalsabarbeitung vermuten, in dem schrittweise die Klassenzugehörigkeit der konkre-
156
ten Relation eingeschränkt wird. Die Einschränkung erfolgt bis zu dem Differenzierungsgrad, der für das aktuelle Verständnis ausreichend erscheint, so daß flexible, an aktuelle Bedingungen anpaßbare Stufen semantischer Informationsverarbeitung daraus resultieren würden. Es entfiele damit die Notwendigkeit, die Vielfalt semantischer Relationen als Individualitäten zu verarbeiten und zu speichern. Aktuell zu verarbeitende Relationen können als Element einer Relationsklasse gespeichert werden, und zwar auf der Abstraktionsebene, die den Verarbeitungsanforderungen entspricht. c) In den bisher vorliegenden Modellüberlegungen zur Verarbeitung und Repräsentation semantischer (sprachlicher) Informationen ist eine Klassifizierung semantischer Relationen zumeist undiskutiert aufgenommen worden, d. h. ohne die psychologische Realität der verwendeten Relationsklassen zu diskutieren. So unterscheiden Collins und Quillian 5 Klassen von semantischen Relationen zur Repräsentation begrifflicher Informationen (Collins/Loftus 1975). Rumelhart/Lindsay/Norman (1972) geben eine beliebig erweiterbare Anzahl von 12 Relationsklassen an und Schank und Rieger (1974) verwenden in ihrem System 16 Klassen von Grundrelationen, die durch Modifikatoren noch verändert werden können. Die Beispiele ließen sich erweitern. Wir wollen hier festhalten, daß uns die psychologische Realität der Klassifizierung von Relationen als zu untersuchendes Problem interessiert. Die Suche nach Wirkungsmechanismen solcher Klassifikationen, nach der Art der Klassifikationen und ihrer psychologischen Charakteristik stehen dabei im Vordergrund (siehe auch Klix/Kukla/Kühn 1975 und in diesem Band). Die nun zu schildernden Experimente sind als ein Beitrag zum Nachweis der psychologischen Realität der Klassifikation semantischer Relationen geplant und durchgeführt worden. Anhand ihrer Wirkungen in Reproduktionsprozessen sollen Klassifikationen belegt werden. Einleitend werden wir kurz die Wirksamkeit semantischer Relationen bei der Reproduktion von Gedächtnisbesitz behandeln. Es kann gezeigt werden, daß der Prozeß der Reproduktion von Gedächtnisbesitz durch die semantischen Relationen zwischen den zu reproduzierenden Einheiten organisiert wird. Die weiteren Experimente dienen dann der Induktion spezifischer semantischer Organisationsstrukturen im Reproduktionsprozeß und dem Nachweis ihrer Über157
tragbarkeit auf nachfolgende Reproduktionsprozesse. Die Übertragbarkeit semantischer Organisationsstrukturen zwischen unterschiedlichen Gedächtnisinhalten werten wir als Unterstützung unserer Annahme von der Klassifikation semantischer Relationen, da die Grundlage für die Übertragung in der Identität, in der gemeinsamen Klassenzugehörigkeit der semantischen Relationen zwischen unterschiedlichen Gedächtnisinhalten angenommen werden muß. Weitere Experimente dienen dann dazu, den Mechanismus der Übertragung von semantischen Organisationsstrukturen zu differenzieren.
4.
Die Wirkung semantischer Relationen auf die Reproduktion von Wortlisten
Durch semantische Relationen wechselseitig verbundene Gedächtnisinhalte unterstützen sich gegenseitig in ihrer Reproduktion. Die Anregung des einen Inhalts wirkt als Zugang zur Reproduktion des anderen Inhalts. Durch vielfältige Methoden des verbalen Lernens läßt sich dieser Effekt beobachten und gezielt zur Wirkung bringen (Bourne, Ekstrand, Dominowski 1971). Eine der erfolgreich verwendeten Methoden ist die Methode der freien Reproduktion von Wortlisten. Den Vpn wird eine Liste von Worten der natürlichen Sprache angeboten. Die Worte dienen als sprachliche Reize zur Anregung derjenigen Begriffe im Gedächtnis, die durch sie bezeichnet werden. Wir werden in diesem Sinne im folgenden auch stets von Begriffslisten sprechen. Nach Darbietung der ausgewählten Liste sind die Vpn aufgefordert, so viele der Begriffe wie möglich aus dem Gedächtnis in beliebiger Reihenfolge zu reproduzieren (zu Varianten der Methode siehe Tulving 1968). Im Resultat solcher Untersuchungen zeigen sich zunächst bekannte und zu erwartende Effekte: Die randständigen Elemente der Liste werden mit größerer Wahrscheinlichkeit reproduziert als die mittleren Elemente, und die Darbietungsordnung schlägt sich teilweise in der Reproduktionsfolge nieder. Neben diesen Faktoren der primären Organisation, wie Tulving (1968) sie nennt, lassen sich nun auch Faktoren einer sekundären Organisation des Reproduktionsprozesses erkennen. Selbst wenn Listen so ausgewählt werden, daß zwischen den verwendeten Begriffen 158
nach Ansicht der Experimentatoren keine semantischen Relationen existieren, zeigen sich doch im individuellen Reproduktionsprozeß Gruppenbildungen, die nicht durch Nachbarschaftsbeziehungen in der Darbietungsordnung verursacht sind (Martin, Noreen 1974). Die im individuellen Gedächtnis offensichtlich doch semantisch verbundenen Begriffe werden auch zusammenhängend und unabhängig von der DarbietungsOrdnung reproduziert. Durch eine gezielte Zusammenstellung der Begriffsliste in der Weise, daß ausgewählte semantische Relationen zwischen den Begriffen realisiert werden, läßt sich die Wirksamkeit semantischer Relationen auf den Reproduktionsprozeß nun kontrolliert verfolgen. Als ein Beispiel für viele soll erläuternd eine Untersuchung von Kintsch (1972) kurz dargestellt werden. Kintsch bot seinen Vpn eine Liste von 16 Wörtern. Die Liste war begrifflich untergliedert. Sie enthielt 4 Früchtenamen, 4 Berufsbezeichnungen, 4 Vornamen und 4 Tierarten. Daß diese begriffliche Zusammengehörigkeit auch psychologische Realität im Gedächtnis der Vpn darstellte, zeigt die Tatsache, daß die begrifflich zusammengehörigen Elemente auch zusammenhängend reproduziert wurden. Der Effekt wurde deutlicher, je länger und je häufiger die Liste dargeboten wurde und je enger benachbart die begrifflich zusammengehörigen Worte in der Darbietungsfolge waren. Die unabhängig von der DarbietungsOrdnung realisierten Nachbars chaftsbeziehungen im Reproduktionsprozeß gestatten also Rückschlüsse auf die Existenz und die Organisation von semantischen Relationen im Gedächtnis. In unseren Untersuchungen haben wir uns dieser Schlußweise bedient. Ihre nähere Interpretation werden wir mit der Interpretation unserer Resultate verbinden.
5.
Experiment 1: Die Induktion unterschiedlicher Organisationsstrukturen bei der freien Reproduktion von Wortlisten
Die Wirksamkeit semantischer Relationen bei der Reproduktion von Gedächtnisbesitz läßt sich also, wie eben geschildert, experimentell untersuchen. Ihr Einfluß auf die Reproduktion schlägt sich meßbar in der Reproduktionsfolge nieder. Durch semantische Relationen verbundene Begriffe werden unabhängig 159
von der Nachbarschaft ihrer Darbietung zusammenhängend reproduziert. In der Mehrzahl der in der Literatur beschriebenen Untersuchungen ist die begriffliche Zusammengehörigkeit als semantische Beziehung zur Wirkung gebracht worden (vgl. Hoffmann 1975). In dem vorliegenden Experiment ging es darum, durch Variation der Darbietungsfolge die Organisation des Reproduktionsprozesses nach unterschiedlichen semantischen Beziehungen zwischen den Begriffen zu induzieren. Dazu war es notwendig, eine Liste von Begriffen zu finden, die eine zweifache Gliederung nach semantischer Zusammengehörigkeit erlauben sollte. Wir wählten 4 Städtenamen, 4 Flußnamen, 4 Seenamen und 4 Namen von Landschaftsgebieten mit jeweils einem Vertreter aus der UdSSR, aus der DDR, aus der VR Ungarn und aus der BRD. Damit ergeben sich zwei Möglichkeiten der semantischen Gruppierung (siehe Tabelle 1). Tabelle 1 Liste der im Experiment verwendeten Begriffe
Stadt Fluß See Gebiet
UDSSR
DDR
VRU
BRD
Kiew Dnepr
Dresden Spree
Szeged
Hamburg
Donau
Baikal
Müritz
Balaton
Rhein Ammersee
Taiga
Harz
Puszta
Taunus
Einmal läßt sich die Liste nach der begrifflich-kategorialen Zusammengehörigkeit von Städten, Flüssen, usw. ordnen. Zum anderen lassen sich Relationen der Lokalisation als Ordnungskriterium heranziehen, die dann Kiew, Dnepr, Baikal und Taiga zusammenführen und von Dresden, Spree, Müritz, Harz usw. trennen. Wir haben damit eine Liste von Begriffen und zwei Möglichkeiten ihrer semantischen Organisation. Welche dieser beiden Möglichkeiten tatsächlich im Reproduktionsprozeß zur Wirkung kommt, sollte nach den Ergebnissen von Kintsch (1972) u.a. durch die Darbietungsordnung der Begriffe mit beeinflußt werden. Dementsprechend wurde einer Versuchsgruppe 1 (VG 1) die Liste in begrifflich kategorialer Blockordnung geboten (nach Tabelle 1 zeilenweise bei Permutation der Landeszugehörigkeiten,) und einer VG 2 in lokalisationaler Blockordnung (nach Tabelle 1 spaltenweise bei Permutation 160
der begrifflichen Zugehörigkeit). Die Darbietungs zeit je Begriff betrug 2, 5 Sek. Zwischen den Darbietungen wurde eine Pause von 0, 5 Sek. eingehalten. Nach der Darbietung der gesamten Liste und einer weiteren Pause von etwa 20 Sek. war die Vpn aufgefordert, so viele Begriffe der Liste wie möglich in beliebiger Reihenfolge zu reproduzieren. Ergebnisse Die Abbildung 2 zeigt die durchschnittliche Anzahl der richtig reproduzierten Begriffe. Die mit der Variation der DarbietungsOrdnung angezielte unterschiedliche semantische Organisation des Reproduktionsprozesses zeigt keinen Einfluß auf die Reproduktionsleistung. Ermittelt man jedoch die relative Anzahl der unmittelbar benachbart reproduzierten Begriffe, die - aus einer Kategorie stammen (2 Städte, 2 Flüsse usw.),
f?H
12 11 10
YG1 (KAT)
VG2 (LOK)
Abb. 2 Durchschnittliche Anzahl reproduzierter Begriffe bei Variation der Darbietungsordnung
- aus einer Lokalisation stammen (UdSSR, DDR, usw.), - die Darbietungs Ordnung wiederholen, so zeigt sich der erwartete deutliche Einfluß der Darbietungs Ordnung auf die Organisation des Reproduktionsprozesses (Abb. 3).
Die lokalisationale Blockordnung führt gegenüber der kategorialen Blockordnvuig zu einem signifikanten Ansteigen von lokalisationalen Paaren in der Reproduktionsfolge (U = 19, p < 0, 01), und umgekehrt reproduziert die VG 1 signifikant mehr kategoriale Paare als die VG 2 (U = 19, 5, p < 0, 01). Daß dies nicht einfach auf eine Reproduktion der Darbietungsordnung zurückzuführen ist, zeigt der Vergleich zur relativen Häufigkeit, mit der Darbietungspaare identisch reproduziert werden. Bei gleicher Reproduktionsleistung zeigt sich also eine unterschiedliche Reproduktionsstruktur. Wird durch die kategoriale Blockordnung die begrifflich-kategoriale Zusammengehörigkeit betont, bestimmen diese semantischen Relationen den Reproduktionsprozeß. Die semantischen Lokalisationsrelationen werden bestimmend 161
über der gleichen Menge von Begriffen, wenn sie durch die Blockdarbietung hervorgehoben werden. Interpretation Das erhaltene Resultat kann in enger Beziehung zu Befunden von Thomson/Tulving (1970), Tulving/Thomson (1973) und Tulving (1974) gesehen werden. Die genannten Autoren untersuchten ebenfalls Reproduktions- und Wiedererkennungsprozesse über Begriffslisten. VG1 (KAT)
VG2 (LOK)
Jeder Begriff der zu erlernenden Liste wurde in der Lernphase gemeinsam mit einem Zusatzbegriff geboten. D.h. die zu erlernenden
Abb. 3 Relative Häufigkeit von Reproduktionspaaren bei Variation der Darbietungs Ordnung
Begriffe wurden in einem spezifischen, durch den Zusatzbegriff gegebenen, Kontext dargeboten. Die Resultate weisen nun aus, daß Reproduktion und Wiedererkennung nur dann
erfolgreich verlaufen, wenn sie im Kontext der Lernphase organisiert werden können. Bei Veränderung des Kontextes werden noch nicht einmal solche Begriffe als zur Liste gehörend wiedererkannt, die im Kontext der Lernphase mühelos reproduziert werden konnten (Tulving, Wisemann 1975, Watkins, Tulving 1975). Die Autoren sehen darin einen Beleg für eine kontextspezifische Kodierung der dargebotenen Begriffe. Nur die im Kontext der Lernphase "angeregten" semantischen Relationen zwischen den Begriffen werden erlernt und als Elemente der Liste gespeichert. Werden die gleichen Begriffe in anderem Kontext geboten, dann werden andere semantische Beziehungen im Gedächtnis aktiviert, die mit dem Erlernten nur teilweise oder gar nicht übereinstimmen. Dies führt dann zwangsweise zu schlechteren Reproduktions- und Wiedererkennungsleistungen. Übertragen wir diesen, hier nur sehr global referierten Grundgedanken auf unsere Versuchsbedingungen: Durch die Variation der Darbietungsordnung erscheinen die verwendeten Begriffe in jeweils unterschiedlichem
162
Kontext. Zum Beispiel wird der Begriff 'Spree' einmal im Kontext von 'Dnepr' und 'Donau' geboten, zum anderen im Kontext von 'Dresden' und 'Müritz'. Kontextspezifische Kodierung heißt nun, daß 'Spree' im ersten Fall in semantischer Verbindung zu anderen Flüssen, im anderen Fall in Verbindung mit anderen Begriffen der gleichen geographischen Lokalisation kodiert wird. Die Worte der Liste erlangen im Kontext ihrer Darbietung eine unterschiedliche Bedeutung, indem Sinne, daß unterschiedliche Gedächtnisstrukturen "angeregt" werden. Das heißt nun aber nichts anderes als die Anregung verschiedener semantischer Relationen aus der Menge der im Gedächtnis gespeicherten Gesamtheit semantischer Relationen zwischen den verwendeten Begriffen. Eine unterschiedliche semantische Organisation des Gedächtnisbesitzes über ein und derselben Liste von Begriffen ist die Folge. Dies drückt sich in den Reproduktionsfolgen aus. B i s zu diesem Punkt verwenden wir in unserer Argumentation die Wirkung von semantischen Relationen zwischen benachbart dargebotenen Begriffen, ohne darauf einzugehen, daß nach unserer Auffassung diese Relationen gemeinsame Merkmale aufweisen und damit einer Relationsklasse angehören. Die Beziehungen zwischen 'Dnepr' und 'Spree' oder 'Kiew' und 'Szeged' haben ja real und objektiv Gemeinsamkeiten. Die Begriffe sind durch eine Reihe gemeinsamer und eine Reihe differenzierender Merkmale ausgewiesen. Sie sind damit in ihrer Beziehung jeweils zueinander als Elemente ein und desselben Oberbegriffs bestimmt. Das gleiche läßt sich für die lokalisationalen Relationen zeigen. Tatsächlich benötigen wir diese Betrachtungen zur Klassifikation der ins Spiel gebrachten semantischen Relationen nicht zur Interpretation unserer Resultate. Wir vermuten jedoch, daß nicht allein singuläre semantische Relationen zwischen benachbart dargebotenen Begriffen die Organisation des Reproduktionsprozesses bestimmen, sondern vielmehr, daß auf Grund der Klassifizierbarkeit der angeregten semantischen Relationen die Organisationsstruktur generalisierend einer R e la t i ons k l a s s e folgt. Dies ist jedoch zu belegen.
163
6.
Experiment 2: Die Übertragbarkeit semantischer Organisations strukturen
Sollte die Organisation des Reproduktionsprozesses tatsächlich auf der Nutzung einer Relationsklasse beruhen, dann sollte sich ein solches Organisationsprinzip auf die Organisation einer nachfolgenden Liste übertragen lassen, wenn zwischen den dort verwendeten Begriffen Relationen der gleichen Klasse existieren. Umgekehrt beinhaltet der Nachweis der Übertragbarkeit semantischer Organisationsstrukturen eine Unterstützung unserer These der Bildung und Nutzung von Klassenbildungen über Relationen. Für das Experiment war damit eine zweite Liste gefordert, auf die die im Experiment 1 induzierten Organisationsstrukturen übertragbar waren. Semantische Gruppierungen nach begrifflich-kategor ialer und lokalisationaler Zusammengehörigkeit mußte also möglich sein. Es wurde die in Tabelle 2 dargestellte Liste verwendet. Tabelle 2 Liste der im Experiment verwendeten Begriffe
Stadt Fluß Gebiet Wahrzeichen
CSSR
Frankreich
England
16) Brno
9) Lyon
5) Cambridge
8) Moldau 1) Seine 12) Themse 4) Tatra 7) Normandie 15) Schottland 14) Hradschin 11) Louvre 2) Tower
USA 3) Washington 10) Missouri 13) Texas 6) Broadway
Die Darbietung dieser Liste erfolgte ungeordnet, d.h. durch die Darbietungsordnung wurde weder die begrifflich-kategoriale noch die lokalisationale Ordenbarkeit betont. Die Zahlen in Tabelle 2 geben die Positionen der Begriffe in der Darbietungsfolge an. Elemente einer Zeile bzw. einer Spalte werden in keinem Fall benachbart geboten. Im Versuchsablauf erhalten die Versuchsgruppen (VG) des Experiments 1 die zweite Liste in der geschilderten Ordnung mit der Aufforderung dargeboten, sie anschließend frei zu reproduzieren. Einer Kontrollgruppe (KG) wird allein die zweite Liste geboten, so daß der folgende Versuchsplan entsteht (siehe auch Hoffmann 1975):
164
1. Liste Lok. VG 1 VG 2 KG
15
2. Liste Kat.
ungeordnet
15
15 15 20
Sollte die während des Einprägens und Reproduzierens der ersten Liste aufgebaute Organisationsstruktur auf die Reproduktion der zweiten Liste übertragen werden, dann müßte sich dies in einer veränderten Reproduktionsstruktur der zweiten Liste gegenüber der KG niederschlagen. Uns interessieren also die Veränderungen der Reproduktionsstruktur in den Versuchsgruppen gegenüber der KG. Ergebnisse Die Abbildung 4 zeigt die relative Häufigkeit von Darbietungspaaren, kategorialen und lokalisationalen Paaren in den Reproduktionsfolgen der zweiten Liste für die beiden Versuchsgruppen im Vergleich zur Kontrollgruppe. Ist mit der ersten Liste eine begrifflich-kategoriale Organisationsstruktur angeregt worden (VG 1), dann führt dies bei der Reproduktion der zweiten Liste gegenüber der KG zu einem schwachen Anstieg der kategorialen Paare (U = 145, 5, p < 0,10) und zu einem starken Abfall der lokalisationalen Paare (U = 87, p < 0, 025). Im erwarteten Sinne wirkt die vorherige Induktion einer lokalisationalen Organisationsstruktur (VG 2) umgekehrt: Gegenüber der KG führt sie zu einem Anstieg der lokalisationalen Paare (U = 130, p < 0,10) und zu einem Abfall der kategorialen Paare (U = 123, 5 p < 0,10) in der Reproduktionsfolge.
Abb. 4 Relative Häufigkeit von Reproduktionspaaren im Vergleich zur Kontrollgruppe bei unterschiedlichen Vorbedingungen 165
Die mit der ersten Liste realisierte Organisationsstruktur wird gegenüber der KG auch im verstärkten Maße zur Organisation des Reproduktionsprozess e s der zweiten Liste eingesetzt. Die Übertragbarkeit von semantischen Organisationsstrukturen für die Speicherung und Wiedergewinnung von Begriffslisten ist damit belegt. Grundlage dieser Übertragung ist das Erkennen von Gemeinsamkeiten zwischen den zur Wirkung gebrachten semantischen Relationen, kurz, die Organisation des Reproduktionsprozesses nach einer Relationsklasse. Interpretation Die Interpretation der erhaltenen Befunde soll in der Gegenüberstellung zweier konkurrierender theoretischer Grundannahmen erfolgen. Die eine hier zu behandelnde Grundannahme geht davon aus, daß die Speicherung aktueller Informationen im semantischen Gedächtnis erfolgt. Das semantische Gedächtnis wird dabei als Wissensspeicher verstanden, in dem Begriffe als Knoten und Relationen als Kanten zwischen den Knoten r e p r ä s e n tiert sind. Knoten und Kanten enthalten spezifische Informationen und sind klassifizierbar. Aktuelle Informationen regen Teile eines solchen semantischen Netzes an. Eine Liste von Worten regt beispielsweise die entsprechenden Begriffe (Knoten) und die gespeicherten Relationen zwischen ihnen an. So angeregte Teile des semantischen Netzes werden markiert und sind auf der Grundlage einer solchen Markierung als situationsgebundene Informationen reproduzierbar (Collins, Quillian 1972, Anderson, Bower 1973, Bower 1972, Collins, Loftus 1975). Die Anregung oder auch Bahnung von Relationen im semantischen Netz kann generalisierend erfolgen. Durch die aktuelle A n r e gung einer spezifischen Relation zwischen zwei Begriffen kann es zur Bahnung aller Relationen (Kanten) im Netz kommen, die zur gleichen Relationsklasse gehören (Collins, Loftus 1975). Bahnung heißt hier, daß aus dem gesamten semantischen Netz eine Teilstruktur herausgelöst wird, die aus den markierten Knoten und den gebahnten Verbindungen zwischen ihnen besteht und die im Reproduktionsprozeß vorrangig und schneller abgesucht werden kann als andere Strukturanteile des semantischen Netzes.
166
Die Erklärung unserer Befunde auf der Grundlage dieser hier nur grob referierten Grundgedanken ist offensichtlich. Durch die DarbietungsOrdnung der ersten Liste werden unterschiedliche Relationen zwischen den Begriffen der ersten Liste angeregt, innerhalb einer Versuchsgruppe jedoch immer der gleiche Typ von Relation. Im Resultat der Klassifizierung der Relationen erfolgt eine generalisierende Bahnung der Relationsklasse im semantischen Netz. Einmal werden begriffliche Ordnungsstrukturen als gebahnte Teilstruktur hervorgehoben, zum anderen lokalisationale Ordnungsstrukturen. Unter diesen Bedingungen erfolgt die Aufnahme und Verarbeitung der zweiten Liste. Konsequent spielen die gebahnten Relationen eine gegenüber der KG verstärkte Rolle im Reproduktionsprozeß. Wesentlich für diesen Interpretationsansatz ist im Sinne unserer hier geführten Diskussion die Annahme einer generalisierenden Bahnung einer Relationsklasse. Eine Annahme, die die psychologische Realität der Klassifizierung semantischer Relationen voraussetzt. Ein zweiter Interpretationsansatz geht davon aus, daß die Kodierung und Speicherung aktueller Information nicht im semantischen Gedächtnis erfolgt, sondern in einem gesonderten Gedächtnissystem, dem episodischen Gedächtnis (Tulving 1972, Kintsch 1974, Atkinson, Juola 1974). Eine differenzierte Ausarbeitung dieses Gedankens hat Kintsch (1974) vorgenommen, der wir im Überblick folgen wollen. Bei der Aufnahme aktueller Information erfolgt ein unmittelbarer Kontakt zum "Wissen" um die angebotene Information im semantischen Gedächtnis. Dieses Wissen umfaßt die begriffliche Repräsentation der aktuellen Information und die Menge aller semantischen Relationen, die zum entsprechenden Begriff gespeichert sind. Jedoch nur ein Teil dieses "Wissens" wird zur Kodierung der Information verwendet. Welcher Teil dies ist, hängt vom aktuellen Kontext ab, oder anders, vom aktuellen Gedächtnisinhalt in einem aktiven Teil des episodischen Gedächtnisses. Die so kodierte Information wird in den aktiven Teil des episodischen Gedächtnisses aufgenommen. Über der Menge der im aktiven Teil des episodischen Gedächtnisses vorliegenden Information werden nun Organisationsprozesse realisiert. Die vorliegenden Informationen werden verglichen, Gemeinsamkeiten werden festgestellt, Klassifizierungen werden vorgenommen usw., kurz, die Informationen wer167
den strukturiert und neu aufzunehmende Information entsprechend den aktuell relevanten Struktureigenschaften kodiert und in die teilweise ausgearbeitete Struktur integriert. Dazu gehören auch charakteristische Situationsmerkmale, die den situativen Bezug der gespeicherten Information sichern. Wir wollen annehmen, daß zu dieser Art von Information auch eine Charakteristik der durchgeführten Organisationsprozesse gehört, eine Kennzeichnung der kognitiven Operationen, die zur Strukturierung des Materials realisiert wurden. Die Grundgedanken sind nun für eine Interpretation unserer Übertragungseffekte ausreichend skizziert. Die Blockdarbietung der ersten Liste führt nach dem geschilderten Mechanismus zu einer sehr akzentuierten Strukturierung im aktiven Teil des episodischen Gedächtnisses. Die Identität der zur Organisation verwendeten semantischen Relationen macht zudem eine einfache Kennzeichnung der realisierten Organisationsprozesse möglich. Bei VG 1 ist die Organisation nach der Klasse der begrifflich-kategorialen Zusammengehörigkeit kennzeichnend, bei VG 2 nach der Klasse lokalisationaler Beziehungen. Diese Organisationsprinzipien werden als erfolgreich im episodischen Gedächtnis gespeichert und bei unveränderten situativen Bedingungen auf die Organisation der zweiten Liste übertragen. Grundlage für diesen Prozeß ist wieder die psychologische Realität der Klassifikation von semantischen Relationen. Erst nach Identifikation der gemeinsamen Klassenzugehörigkeit von Relationen wie sie zwischen 'Dnepr' - 'Spree' und 'Balaton' - 'Miiritz' bestehen, läßt sich ein gemeinsames und damit übertragbares Strukturierungsprinzip formulieren. Beiden Erklärungsansätzen ist gemeinsam, daß sie unsere Annahme von der Klassifikation semantischer Relationen stutzen, diese Annahme jedoch in einer unterschiedlichen Prozeßcharakteristik zur Wirkung bringen. Der wesentliche Unterschied liegt dabei weniger in der Trennung vom episodischen und semantischen Gedächtnis. Die Tatsache, daß in einem Ansatz Strukturierung durch autonome Prozesse der Bahnung im ausgebildeten semantischen Netz erklärt wird, während im anderen Falle das semantische Netz allein als Datenbasis für kontrollierte Organisationsprozesse fungiert, scheint uns wesentlicher. Beiden Ansätzen genügen jedoch unsere Daten. Einer Entscheidung müssen weitere differenzierende Experimente vorangehen.
168
7.
Experiment 3: Die Differenzierung von Übertragungseffekten semantischer Organisationsstrukturen
2
Das Experiment 3 wurde durchgeführt, um die Übertragung semantischer Organisationsprozesse unter unterschiedlichen Bedingungen zu differenzieren. Im Experiment 2 waren die Bedingungen so gewählt, daß durch die Darbietungsordnung der zweiten Liste keine spezifische Reproduktionsstruktur nahegelegt wurde. Die zweite Liste wurde ungeordnet dargeboten. Die über der ersten Liste erworbene Reproduktionsstruktur konnte damit "ungebrochen" auf die zweite Liste übertragen werden. Mit der Aufhebung dieser Konstellation e r geben sich die beiden folgenden prinzipiellen Möglichkeiten: a) Die mit der Darbietungsordnung der zweiten Liste angeregte semantische Organisationsstruktur entspricht im Typ der genutzten semantischen Relation der Reproduktionsstruktur der ersten Liste. Unter der Annahme autonomer Bahnungsprozesse im semantischen Netz sollte dies zu einem deutlichen positiven Transfer führen. Entspricht doch unter dieser Bedingung die Darbietungsordnung der zweiten Liste genau den durch die Bahnung hervorgehobenen Teilstrukturen des semantischen Netzes. Ein geringerer Effekt ist unter der Annahme kontrollierter Organisationsprozesse zu erwarten. b) Mit der Darbietungsordnung der zweiten Liste wird eine andere semantische Organisationsstruktur angeregt als die bereits Uber der ersten Liste erworbene. Unter der "Bahnungshypothese" ist eine starke Verringerung des Transfers zu erwarten, wenn nicht sogar aufgrund von Interferenzen zwischen vorhandenen und neu angeregten "Bahnungen" im semantischen Netz negativer Transfer auftritt. Bei einer Kontrolle der Organisationsprozesse sollte eine Umorientierung auf eine neu angeregte Organisationsstruktur leichter fallen. Diesen Grundgedanken folgend, wählten wir für unser Experiment den folgenden Versuchsplan:
169
Darbietungsordnung erste Liste
Darbietungsordnung zweite Liste
VG 1 VG 2
lokalisational kategorial
lokalisational
VG 3
lokalisational
VG 4
kategorial
lokalisational kategorial kategorial
Anzahl der Vpn 14 14 14 14
Die VGn 1 und 4 entsprechen dem erläuterten Bedingungsgefüge a); die Gruppen 2 und 3 dem Bedingungsgefüge b). Die Tabellen 3 und 4 zeigen die verwendeten Begriffslisten A und B. Die zeilenweise Darbietung entspricht jeweils der kategorialen Blockordnung; die spaltenweise Darbietung der lokalisationalen Blockordnung. Tabelle 3 Liste der im Experiment verwendeten Begriffe
Stadt Fluß Gebiet Wahrzeichen
USA
UdSSR
England
Österreich
Chicago
Leningrad
Liverpool
Mississippi Florida Broadway
Dnepr Taiga Kreml
Themse Wales Tower
Innsbruck Inn Tirol Prater
Tabelle 4 Liste der im Experiment verwendeten Begriffe
Stadt Fluß Gebiet Wahrzeichen
CSSR
Frankreich
VAR
Italien
Brno Moldau Böhmen Hradschin
Lyon Seine
Suez Nil
Venedig Po
Normandie Eiffelturm
Sahara Pyramide
Sizilien Kollosseum
Beide Listen werden balanciert als erste und zweite Liste verwendet. Bis auf eine Erhöhung der Darbietungszeit von 2, 5 auf 3, 0 Sek/Begriff wurde die Versuchsdurchführung des Experiments 2 wiederholt (Henkel 1975, Birth, Henkel, Hoffmann 1975).
170
Ergebnisse Bei der Darstellung der Ergebnisse beschränken wir uns auf die Analyse von Transfereffekten (zu weitergehenden Ausführungen siehe Henkel 1975). Als Indikator für den Organisationsgrad der Reproduktionsprozesse diente uns wieder die relative Häufigkeit von zusammenhängenden Reproduktionen spezifisch semantisch verbundener Begriffe. Die Abbildung 5 zeigt uns zunächst die Wirkung der Blockordnung auf die Reproduktion der ersten Liste. Das Resultat ist deutlich. Dort, wo durch die Blockdarbietung die
n%
lokalisationalen Relationen zwi-
90
schen den Begriffen hervorgehoben werden, dominieren auch
80
lokalisationale Nachbarschaften
70
in der Reproduktion und umge-
60
kehrt. Dabei wird die weitaus stärkere Organisationswirksamkeit der lokalisationalen Relationen deutlich. Ihre Betonung führt zu einem wesentlich stärkeren
o Darb. * Lok. • Kaf.
1. LISTE
SO 40 SO
Effekt in der Reproduktionsfolge
20
als die Betonung der kategori-
10
alen Gliederung. Wir werden auf diese ungleiche Organisationswirksamkeit der Relationen noch zurückkommen. Wie wirkt nun diese nachgewiesenermaßen so aufgebaute O r -
VG1 (LOK)
VG2 (KAT)
VG3 (LOK)
VGU (KAT)
Abb. 5 Wirkung der Darbietungsordnung auf die relative Häufigkeit von Reproduktionspaaren
ganisationsstruktur auf die Reproduktion der zweiten Liste, die ja hier nun selbst eine Organisationsstruktur anregt? Eine Aussage ist wieder nur im Vergleich zu einer Kontrollgruppe möglich, die ohne jede spezifische V o r e r fahrung die zweite Liste zu reproduzieren hat. Diese Kontrollbedingung e r füllen unsere VGn in Bezug auf die Reproduktion der ersten Liste, so daß ohne zusätzliche Kontrollgruppe die notwendige Kontrolle der T r a n s f e r e f f e k 171
erete Litte
zweite Liste
te realisiert werden konnte. Die folgende Abbildung 6 zeigt die dazu notwendig durchzuführenden Vergleichsprozeduren über den Reproduktionsfolgen.
Die Leistungen über der ersten Liste bei kategorialer Blockordnung dienen als Kontrollvergleich für die Vergleiche Leistungen über der zweiten Liste bei kategorialer Blockordnung und Abb. 6 entsprechend für die lokalisationale Darstellung der Vergleichsprozeduren zwischen den erhaltenen Datengruppen Blockordnung. (In die Berechnung der realen Kontrolldaten geht jeweils noch eine zusätzliche Versuchsgruppe ein, auf deren Darstellung wir hier aus Aufwandsgründen verzichtet haben (siehe Henkel 1975.) Uns interessiert zunächst, wie sich die zur Wirkung gebrachten semantischen Beziehungen in den Nachbarschaftsbeziehungen der Reproduktionsfolgen unter den verschiedenen Bedingungen ausdrücken. Die Abbildungen 7 bis 9 n°/o 60
versuchen einen ersten Überblick zu geben.
2.LISTE (KAT.) LOK-KAT
50
* KAT-KAT
UO
•KAT-KAT
30
% LOK-KAT ° LOK-KAT
20
oKAT-KAT
10 KG (KAT)
_L V&„
Abb. 7 Die Reproduktionsstruktur einer kategorial geordneten Liste bei unterschiedlichen Vorbedingungen 172
Die Abbildung 7 zeigt, wie die Reproduktion einer- kategorial geordneten Liste im Vergleich zur unbeeinflußten Kontrollbedingung durch einen vorhergehenden lokalisational bzw. kategorial organisierten Re Produktionsprozeß beeinflußt wird. Unerwarteterweise senkt der vorhergehende kategorial organisierte Reproduktionsprozeß die Rolle der kategorialen Relation für die Reproduktion einer doch kategorial gegliedert dargebotenen Liste. Das heißt, dort
wo deutlicher positiver Transfer zu erwarten gewesen wäre, tritt deutlich negativer Transfer auf. In der Tendenz gleich, wenngleich
90
70
auch für die Wirkung der lokalisa-
SO
die Reproduktion der zweiten Liste
50
(lok. -kat.). Auch hier wird der An-
40
teil lokalisationaler Paare in der
SO
Reproduktionsfolge gegenüber der Kontrollbedingung verringert. Ein anderes Bild zeigt sich,
-* LOK-LOK -* KAT-LOK
80
schwächer ausgeprägt, gilt dies tionalen Reproduktionsstruktur auf
2. LISTE (LOK)
-o LOK-LOK -o KAT-LOK
20
10
LOK-LOK * KAT-LOK
wenn der Einfluß auf die ReproKG (LOK)
duktion einer lokalisational gegliederten zweiten Liste untersucht wird (Abb. 8). Die Auswirkungen vorher ausgebildeter Reproduktionsstrukturen sind
Abb. 8 Die Reproduktionsstruktur einer lokalisational geordneten Liste bei unterschiedlichen Vorbedingungen
insgesamt so gering, daß die
n%
Feststellung fehlender Trans-
60
fereffekte angemessen erscheint. Die Abbildung 9 wiederholt
SO
noch einmal zum Vergleich die
40
Ergebnisse des Experiments 2.
30
Bei der Reproduktion einer ungeordneten zweiten Liste zeigt sich deutlicher Transfer vorher erworbener Organisationsstrukturen. In der Zusammenfassung er geben sich also unter den v e r schiedenen Bedingungen positive, negative und keine Transfereffekte.
VG'n
2.USTE (UNG) oDarb. *Lok. * L0K.-UNG. »Kat. *:
tym.-UNG.
20
• LOKrUNG. o LOK.- UNG. ° KAT-UNG.
10 _L
J
KG VG'n (UNG.) Abb. 9 Die Reproduktionsstruktur einer ungeordneten Liste unter unterschiedlichen Vorbedingungen (vgl. Abb. 4) 173
Ein verwirrendes Bild, das
An% +15
* ZÎ ° J. • 1. LISTE KAT. LIS
jedoch in der systematischen
L K
Zuordnung der unterschiedli-
+ 10
chen Transfereffekte auf die einzelnen Bedingungen Regel-
+ S
haftigkeiten erkennen läßt
0
(siehe Abb. 10).
-s
Die Abbildung 10 beschreibt das Ausmaß und die Richtung
-10
von Veränderungen in der O r -
-15 UNG.
KAT.
_L LOK. 2.LISTE
ganisation des ReproduktionsProzesses aufgrund vorher erworbener Organisationsstruk-
^kb io Transfereffekte bei Variation der DarbietungsordnunE von erster und zweiter Liste &
turen im Vergleich zur unbeeinflußten Kontrollbedingung. ... ... . . . , „ Ein positiver Wert zeigt, daß
die mit der ersten Liste angeregte semantische Relation verstärkt zur Wirkung kommt, im Sinne eines positiven Transfers einer Organisationsstruktur. Entsprechend weisen negative Werte auf negativen Transfer hin. Diese so v e r dichtete Darstellung macht nun die folgenden Zusammenhänge deutlich: a) Die lokalisationale Organisationsstruktur wird stärker auf nachfolgende Reproduktionsprozesse übertragen als die kategoriale Struktur. Da wir zeigen konnten, daß bei unserem Material die lokalisationale Organisationsstruktur auch die stärker ausgeprägte ist, läßt sich plausibel verallgemeinern: J e s t ä r ker der Ausprägungsgrad einer Reproduktionsstruktur ist, desto eher wird sie auf nachfolgende Reproduktionsprozesse übertragen. b) Wir finden den stärksten Einfluß ausgebildeter Organisationsstrukturen auf die Reproduktion der ungeordneten Liste und den schwächsten Einfluß auf die Reproduktion der lokal geordneten Liste. Wieder läßt sich verallgemeinernd vermuten, daß ein Reproduktionsprozeß umso stärker durch vorhergehende Organisationsstrukturen beeinflußt wird, je geringer das zu reproduzierende Material wirksam gegliedert ist.
174
c) Mit den beschriebenen Zusammenhängen lassen sich vier der sechs R e sultate erklären. Für die negativen Transfereffekte bei kategorial geordneter zweiter Liste muß ein zusätzlicher Mechanismus angenommen werden. In der Literatur zu Transfereffekten im verbalen Lernen wird wiederholt auf die Wirkung unterschiedlicher Listendifferenzierung hingewiesen (vgl. Postman, Underwood 1973). Je höher die Ähnlichkeit zweier unterschiedlicher B e g r i f f s listen ist, desto s t ä r k e r ist ihre Reproduktion gegenseitig gestört. In unseren Versuchen sind e r s t e und zweite Liste aus dem gleichen Orientierungsbereich gewählt und in dieser Hinsicht einander ähnlich. Diese Ähnlichkeit kann durch unterschiedliche Organisationsstrukturen über den Listen reduziert werden. Wir vermuten nun, daß unter Bedingungen, in denen die unter a) und b) genannten Faktoren zum Transfer von Organisationsstrukturen nicht ausgeprägt sind, Mechanismen einer kontrollierten Listendifferenzierung über eine gezielte u n t e r s c h i e d l i c h e
Organisation beider Listen wirksam werden.
Die zweite Liste wird kontrolliert anders organisiert als die e r s t e Liste, um beide Listen im Gedächtnis b e s s e r differenzieren zu können. Dies führt dann zwangsweise im Erscheinungsbild zu negativem T r a n s f e r . Dieser Mechanismus sollte nur dann zur Wirkung kommen, wenn die Organisation des zu r e produzierenden Materials nicht stärker ist als die zu übertragende Organisationsstrüktur, aber auch nicht zu schwach, um durch die schon ausgebildete Organisationsstruktur überprägt zu werden. Kurz, wenn die zu übertragende Organisationsstruktur und die aktuell angeregte Organisationsstruktur als nebeneinanderstehende Möglichkeiten der Strukturierung des Reproduktionsprozesses deutlich werden und damit eine Art Organisationskonflikt entsteht, der dann im Sinne unserer Differenzierungshypothese entschieden wird. Die mit der Differenzierungshypothese gemachte Annahme weist deutlich auf kontrollierte Organisationsprozesse hin, die kognitiver Einsicht zugänglich sind und Entscheidungsprozesse ermöglichen. Im Rahmen autonomer Bahnungsprozesse im semantischen Netz läßt sich eine solche Differenzierungshypothese nicht konstruieren. Die beiden letzten zu schildernden Experimente dienten der Überprüfung unserer Differenzierungshypothese und damit der Stützung der Annahme kon-
175
trollierter Organisationsprozesse bei der Organisation des Reproduktionsprozesses über Begriffslisten avif der Grundlage von Klassen semantischer Relationen.
8.
Experiment 4: Die Übertragung von Organisationsstrukturen zwischen unterschiedlichen Begriffssystemen
Greifen wir noch einmal ein Ergebnis heraus, das unseres Erachtens am deutlichsten für eine Differenzierung der Listen durch kontrolliert unterschiedliche Organisationsstrukturen spricht; den ausgeprägten negativen Transfer bei kategorialer Gliederung beider Listen. Ohne die Annahme der Differenzierungshypothese wäre gerade hier positiver Transfer zu erwarten gewesen, da die DarbietungsOrdnung der zweiten Liste in diesem Fall.der schon ausgebildeten kategorialen Organisationsstruktur entspricht. Zur Interpretation des Resultats hatten wir argumentiert, daß die Tendenz einer unterschiedlichen Organisation beider Listen wirksam wird, um sie im Gedächtnis besser voneinander differenzieren zu können. Diese Tendenz sollte wegfallen, wenn die beiden Listen schon aufgrund der in ihnen verwendeten Begriffe gut differenziert werden können. Eine kategoriale Organisationsstruktur, die über einem Begriffsbereich A ausgebildet wurde, sollte dann auf die Reproduktion einer kategorial geordneten Liste eines semantisch anderen Begriffsbereiches B deutlich übertragen werden. Der Überprüfung dieser Konsequenz der Differenzierungshypothese dient unser Experiment 4. Um die Vergleichbarkeit mit den durchgeführten Experimenten zu erhalten, verwendeten wir als zweite Liste die bekannten Listen A und B des Experimentes 3 (siehe Tabellen 3 und 4). Variiert wurde wieder ihre Darbietungsordnung. Sie wurden ungeordnet, kategorial geordnet und lokalisational geordnet dargeboten. Aus einem völlig anderen semantischen Bereich wurde die erste Liste gewählt, mit der die zu übertragende Organisationsstruktur ausgebildet werden sollte. Wir wählten je 4 Begriffe für Getränke, Bäume, Werkzeuge und Kleidungsstücke, die in dieser kategorialen Ordnung dargeboten werden (siehe Tab. 5). 176
Tabelle 5 Liste der im Experiment verwendeten Begriffe Getränke
Bäume
Werkzeuge
Kleidungsstücke
Kaffee
Linde
Hammer
Mantel
Tee Bier
Kastanie Birke
Säge Zange
Hut Schal
Wein
Pappel
Feile
Hose
Erste und zweite Liste unterscheiden sich damit deutlich durch die Wahl unterschiedlicher Begriffsbereiche. Eine zusätzliche Differenzierung durch unterschiedliche Organisationsstrukturen ist hier nicht notwendig. In der kritischen Bedingung, in der beide Listen kategorial gegliedert angeboten werden, sollte also anstelle des oben beschriebenen negativen Transfers, positiver Transfer zu beobachten sein. Ergebnisse Die Abbildung 11 zeigt das Ergebnis im Vergleich zu den Resultaten des Experiments 3. Wieder sind die reinen Transfereffekte im Vergleich zur Kontrollbedingung aufgezeigt. (Als Kontrolle dienen uns die jeweils unbeeinflußten Reproduktionsstrukturen über den entsprechenden ersten Listen im Experiment 3.) Der erwartete Effekt wird deutlich realisiert. Wir werten dies im Sinne der oben geführten Diskussion als starke Unterstützung der Differenzierungshypothese und damit als Unterstützung für die Annahme kon-
A mit Wechsel • ohne Wechsel dessemant. Bereichs, 1. LISTE (KAT.)
AnVo +20 +15 +10 +5 0 -5 -10
UNS.
KAT.
_L
LOK. 2.USTE
Abb. 11 Transfereffekte bei identischen und semantisch unterschiedlichen Begriffsbereichen
177
trollierter Organisationsprozesse gegenüber autonomen Bahnungsprozessen im semantischen Metz. Interpretation Die Interpretation des Resultats ist im Grunde durch die ausführ liehe Begründung der zu erwartenden Effekte schon vorweggenommen. Wir wollen hier jedoch auf einen Aspekt des Resultats hinweisen, der unseres Erachtens noch verstärkend die psychologische Realität der Klassenbildung über semantischen Relationen unterstreicht. Es konnte gezeigt werden, daß erworbene Organisationsstrukturen über einer Begriffsmenge auf der Grundlage spezifischer semantischer Relationen zwischen den Begriffen übertragen werden auf die Reproduktion einer Begriffsmenge in einem semantisch völlig anderem Bereich. Eine solche Übertragung setzt aber voraus, daß die Relationen, die solche Begriffspaare wie 'Spree-Dnepr', 'Kiew-Szeged', 'Linde-Birke', 'BierTee' usw. verbinden, in ihrer Zusammengehörigkeit wirksam werden als R e präsentanten einer Relationsklasse und nicht als singulare .Relationen zwischen Begriffen. Die gemeinsamen Merkmale dieser Relationen, die darin bestehen, daß die verbundenen Begriffe einen Teil gemeinsamer Eigenschaften besitzen, der sie als Elemente eines Oberbegriffs auszeichnet, können als psychologische Grundlage ihrer Übertragbarkeit innerhalb von Organisationsstrukturen bei der Reproduktion von Begriffsmengen angesehen werden. Diese gemeinsame Charakteristik von Relationen zwischen Begriffen aus unterschiedlichen Bereichen und mit unterschiedlicher Merkmalsspezifik ist die Grundlage ihrer Klassifikation. Die Klassifizierung von semantischen Relationen zeigt ihre Wirkung in der Übertragung von semantischen Organisationsstrukturen im Gedächtnis. Bei der Interpretation dieser Übertragungseffekte haben wir in Bezug zur Literatur zwei mögliche Übertragungsmechanismen diskutiert. Ein Mechanismus beruhte auf der Bahnung von Relationsklassen im angenommenen semantischen Netz. Ein zweiter Mechanismus ging von der Annahme kontrollierter Organisationsprozesse über der aktuell gebotenen Begriffsmenge aus, für die die im semantischen Gedächtnis gespeicherten Relationen lediglich als Datenbasis dienten. Die Resultate der letzten Experimente unterstützen die Annahme kontrollierter Organisationsprozesse. Das nächste Experiment greift
178
beide Alternativen noch einmal auf, um zusätzliche Entscheidungshinweise zu liefern.
9.
Experiment 5: Der retroaktive Einfluß von semantischen Organisation strukturen auf die Reproduktion von Begriffen
In den bis jetzt geschilderten Experimenten wurde gezeigt, daß über einer ersten Begriffsmenge erworbene semantische Organisationsstrukturen die Reproduktion über einer nachfolgenden Begriffsmenge im Vergleich zu Kontrollbedingungen beeinflußte. Wir wollen nun prüfen, inwieweit beim sukzessiven Erwerb zweier Listen die Reproduktionsstruktur der zweiten Liste die wiederholte Reproduktion der ersten Liste beeinflußt. Im Versuch wurden die Bedingungen des Experimentes 3 wiederholt; wieder werden 4 Versuchsgruppen (VGn) unter den folgenden Bedingungen untersucht: Darbietungs Ordnung
VG VG VG VG
I 2 3 4
Darbietungs Ordnung
erste Liste
zweite Liste
lokalisational kategorial lokalisational kategorial
lokalisational lokalisational kategorial kategorial
Im Unterschied hatten die Vpn jedoch nach der Reproduktion der zweiten Liste die erste Liste erneut und ohne nochmalige Darbietung aus dem Gedächtnis zu reproduzieren. Gefragt wurde nach der Veränderung, die die wiederholte Reproduktion der ersten Liste durch die dazwischen gelagerte Reproduktion der zweiten Liste erfahren würde. Auf der Grundlage der beiden zur Alternative stehenden Übertragungsmechanismen ergeben sich bezüglich der zu erwartenden Effekte unterschiedliche Vorhersagen. a) Unter der Annahme einer autonomen Bahnimg von Relationsklassen im semantischen Netz wäre zu erwarten, daß beim Wechsel der Organisationsstrukturen zwischen erster und zweiter Liste (VGn 2 und 3) die ursprüngliche Reproduktionsstruktur über der ersten Liste bei ihrer wiederholten Reproduk-
179
tion verändert wird. Die dazwischen liegenden Organisationsprozesse mußten zur Bahnung einer anderen Relationsklasse führen und dabei ursprüngliche Bahnungen auslöschen oder doch wenigstens überlagern. Haben die erste und die zweite Liste identische Organisationsstrukturen, dann sollte auch bei wiederholter Reproduktion der ersten Liste ihre ursprüngliche Organisation erhalten bleiben. b) Unter der Annahme einer kontrollierten Organisation der Listen müssen wir davon ausgehen, daß zu jeder erlernten und reproduzierten Liste auch das Organisationsprinzip dieser Liste im Gedächtnis gespeichert wird. Dieses O r ganisationsprinzip bezeichnet die Relationsklasse, nach der eine effektive Organisation der Liste realisiert werden kann. Unter dieser Annahme ist kein wesentlicher Einfluß der Reproduktion der zweiten Liste auf die wiederholte Reproduktion der ersten Liste zu erwarten. Bei Aufforderung der wiederholten Reproduktion der ersten Liste wird das verwendete Organisationsprinzip erinnert und bei der Reproduktion zur Anwendung gebracht, unabhängig von der Organisationsstruktur der zweiten Liste. 2. LISTE
VG1 (LOK)
V02 (KAT)
VG2 (LOK)
VGU (KAT)
Abb. 12 Reproduktionsstrukturen von Listen unterschiedlicher Darbietungsordnung
180
Die unterschiedlichen Prädiktionen sollten es gestatten, am E r gebnis die beiden Alternativen zu entscheiden. Ergebnisse Wir wollen die Wirkung der Reproduktionsstruktur der zweiten Liste auf die wiederholte Reproduktion der ersten Liste untersuchen. Die genaue Kennzeichnung der zur Wirkung zu bringenden Bedingung ist dafür Voraussetzung. Die Abbildung 12 verdeutlicht die Reproduktionsstruktur über der zweiten Liste unter den verschiedenen Bedingungen.
Zum Teil durch die oben diskutierten Transferwirkungen etwas verändert (siehe Bedingung kat. -kat.), zeigt sich doch im ganzen das erwartete Bild. Die Nachbarschaftsbeziehungen in der Reproduktionsfolge folgen den durch die DarbietungsOrdnung betonten semantischen Relationen. Daraus ergeben sich deutlich unterschiedliche Organisationsstrukturen, die mm in ihrer Wirkung auf die wiederholte Reproduktion der ersten Liste geprüft werden sollen.
1. LISTE
Rh 12
10
1. Reprod.
2. Reprod.
Abb. 13 Relative Häufigkeit richtig reproduzierter Begriffe bei erster und wiederholter Reproduktion.
In der Abbildung 13 ist die relative Häufigkeit richtig reproduzierter Begriffe für die erste und wiederholte Reproduktion der ersten Liste in Abhängigkeit von den Versuchsbedingvingen aufgetragen. n%
1. LISTE (KAT)
70
-
n% 70
60
-
60
SO
-
50
40
.LOK • KAT Î KAT. * LOKg
30 20 „ 10
o.
o
o LOK
-
_L
1. Reprod.
¿.Reprod. a)
1. LISTE (LOK)
40 30
20 10
1. Reprod.
_L
b)
2. Reprod.
Abb. 14 Reproduktionsstrukturen für die erste und zweite Reproduktion einer Liste bei unterschiedlichen zwischenzeitlichen Reproduktionsprozessen a) für die Reproduktion einer kategorial geordneten Liste, b) für eine lokalisational geordnete Liste. 181
Es zeigt sich, daß Darbietung und Reproduktion der zweiten Liste unter allen 4 Versuchsbedingungen die Behaltensleistung über der ersten Liste in gleichem Ausmaß verringert (für alle Bedingung t = 2, 9, p < 0, 05). Unabhängig vom Verhältnis der Organisationsstrukturen beider Listen untereinander wird ein gleicher Betrag an retroaktiver Hemmung realisiert. Mit der Abbildung 14 wird dargestellt, inwieweit die Reproduktion der zweiten Liste die Organisationsstruktur des Reproduktionsprozesses über der ersten Liste verändert. Die Abbildungen stellen die relative Häufigkeit der Paarbildungen in der Reproduktionsfolge für die wiederholte Reproduktion im Vergleich zur ersten Reproduktion und in Abhängigkeit von der Gliederungsstruktur der zweiten Liste zusammen. Die Abbildung 14 a realisiert dies für die kategorial geordnete Liste, die Abbildung 14 b für die lokalisational geordnete Liste. Keine der beobachteten geringfügigen Veränderungen läßt sich statistisch sichern (für alle Vergleiche t » 1, 64, p > 0, 05). Interpretation Die Resultate besagen also im wesentlichen, daß trotz geringerer Reproduktionsleistung die Reproduktionsstruktur unverändert beibehalten wird. In der Tendenz zeigt sich lediglich eine leichte Verringerung der dominierenden semantischen Paarbildungen im Sinne einer Auflockerung der Wirkung der dominierenden semantischen Relationsklasse und eine konstante Verringerung der Reproduktion von Darbietungspaaren, die auf den Verlust kurzzeitigen Behaltens der Darbietungs Ordnung zurückzuführen ist. Aber auch in diesen nur tendenziellen Änderungen zeigt sich keine unterschiedliche Wirkung der verschiedenen Organisationsstrukturen über der zweiten Liste. Die Tatsache, daß durch dazwischenliegende Reproduktionsprozesse die Reproduktionsstruktur einer Liste nicht wesentlich verändert wird, deckt sich mit unserer Annahme von kontrollierten Organisationsprozessen auf der Grundlage von Relationsklassen, wobei die zur Organisation verwendete Relationsklasse im Sinne eines Organisationsprinzips gespeichert und immer wieder zur Wirkung gebracht werden kann. Damit scheinen nun in relativ geschlossener Form Aussagen zur Struktur der Informationsprozesse und ihrer kogni-
182
tiven Grundlagen möglich zu sein, die. der semantischen Strukturierung und Organisation von Begriffslisten zugrunde liegen.
10.
Die Struktur der Informationsverarbeitung zur Reproduktion semantisch organisierter Begriffslisten
In das mit Abbildung 15 vorliegende Gerüst zur Differenzierung der Informationsverarbeitungsprozesse und der daran beteiligten Komponenten bei der Reproduktion semantisch organisierter Begriffslisten gehen viele Diskussionen und Anregungen ein, die mit ähnlichen Vorstellungen verbunden in der Literatur vorgestellt worden sind (Kintsch 1972, Schulter 1975, Shiffrin, Geisler 1973, Atkinson, Juola 1974, Atkinson, Herrmann, Wescourt 1974).
Organisation»-
Informationsausgabe
1
;
Reproduktionsmechanismen
und
und
Kontniltechniken
O
Suchprozeduren
Abb. 15 Zur Differenzierung von Prozeßkomponenten bei der Speicherung und Reproduktion semantisch organisierbarer Begriffslisten Es kann hier keine vollständige Diskussion der in das Schema aufgenommenen Wechselwirkungen und Beziehungen geführt werden. Wir wollen lediglich versuchen, die im Rahmen der Erklärung unserer Befunde wichtigen Beziehungen zusammenfassend zu erläutern. Insgesamt werden fünf Funktionseinheiten gesehen:
183
1. Der durch die peripheren Rezeptorsysteme vermittelte Sinne seindruck wird in einer ersten Funktionseinheit, dem sensorischen Speicher, einer Merkmaisanalyse unterworfen. Resultat dieser Merkmalsanalyse ist eine strukturierte Merkmalsbeschreibung als Voraussetzung der Zuordnung des aktuellen Reizgefüges zum Gedächtnisbesitz (Schiffrin, Geisler 1973). 2. Eine zweite Funktionseinheit dient als Speicher des zeit- und ortsunabhängigen Wissens um Eigenschaften und Zusammenhänge der objektiven Realität. Dieses Wissen entsteht durch Abstraktion und Verallgemeinerung aus der Summe der anschaulich gegebenen Erfahrungen. Dazu gehören auch Kenntnisse über allgemeine Zusammenhangsstrukturen und Funktionsprinzipien der objektiven Realität und des eigenen Verhaltens in ihr, die in Form von Kontrollprozessen die aktuelle Informationsverarbeitung beeinflussen. Diese Funktionseinheit soll als semantisches Gedächtnis bezeichnet werden. 3. Die dritte Funktionseinheit dient der Speicherung der zeit- und ortsgebundenen anschaulichen Erfahrungen, d. h. der Speicherung von Informationen darüber, wann, wo welche Sachverhalte in welcher Relation zueinander aufgetreten sind. Dies soll als episodisches Gedächtnis bezeichnet werden. 4. Die vierte Funktionseinheit bezeichnet einen aktiven Teil des Gedächtnisses, in dem aktuelle Informationen gespeichert u n d manipuliert werden. Da die Speicherkapazität dieser Funktionseinheit als begrenzt angesehen werden kann, sprechen wir von einem operativen Kurzzeitgedächtnis. Die Aufgabe des operativen Kurzzeitgedächtnisses besteht in der Kodierung und O r ganisation der aktuell aufgenommenen Informationen. 5. Die letzte Funktionseinheit bezieht sich auf Reproduktionsmechanismen, die der Wiedergewinnung von Informationen aus dem Gedächtnis dienen. Diese Mechanismen sind den Speicherstrukturen in den Gedächtniseinheiten angepaßt und werden durch Kontrollprozesse vom Gedächtnis aus direkt gesteuert. Im Zusammenwirken der Funktionseinheiten bei der Aufnahme und Verarbeitung von Informationen wird das Resultat der im sensorischen Speicher erzeugten strukturierten Merkmalsbeschreibung auf zweierlei Weise an das "Gedächtnis" weitergegeben. Einmal an das semantische Gedächtnis in der Zuordnung der Merkmalsstruktur zum gespeicherten "Wissen" über diese Merkmalsstruktur. Resultat 184
ist die Erfassung der Bedeutung des vorliegenden Reizes und seine semantische Kodierung in die auch Elemente des episodischen Gedächtnisses eingehen können. Zum zweiten wird die erzeugte Merkmalsstruktur direkt an das operative Kurzzeitgedächtnis gegeben und dort mit der semantischen Kodierung zusammengeführt. Da das operative Kurzzeitgedächtnis in seiner Aufnahmekapazität begrenzt ist, können in ihm nur über einen relativ kurzen Zeitraum hinweg aufgenommene Informationen integriert werden. Die Integration erfolgt über die Organisation der Beziehungen, die zwischen den im operativen Kurzzeitgedächtnis in sensorischer und semantischer Kodierung gleichzeitig vorliegenden Informationen bestehen, zu einer Struktur. Dabei können aktiv zusätzliche Informationen aus dem semantischen und episodischen Gedächtnis zur Strukturbildung herangezogen werden. Die Organisationsprozesse werden durch Strategien und Techniken der Strukturbildung kontrolliert, die als Erfahrungsbesitz im semantischen Gedächtnis gespeichert sind und Wissen um Organisationsstrukturen und Organisationsmöglichkeiten in der objektiven Realität repräsentieren. Durch neu aufzunehmende Information können Teile der aktuellen Information aus dem operativen Kurzzeitgedächtnis in das episodische Gedächtnis gedrängt werden. Dies wird vor allem Informationen mit geringem Integrationsgrad, d.h. mit geringen Verbindungen zu den gleichzeitig im operativen Kurzzeitgedächtnis vorliegenden Informationen, treffen. Die Reproduktion aus dem operativen Kurzzeitgedächtnis erfolgt unmittelbar und vollständig und entspricht in der Reproduktionsfolge der aufgebauten Organisationsstruktur. Die Wiedergewinnung von Informationen aus dem episodischen und semantischen Gedächtnis erfordert zusätzlichen Wiedergewinnungsaufwand im Sinne von Suchprozeduren über den avisgebildeten Gedächtnisstrukturen, die wiederum von verfestigten Techniken der Informationswiedergewinnung kontrolliert werden. Damit liegt eine heuristische Skizze des Zusammenwirkens verschiedener Funktionseinheiten vor, die wir nun zusammenfassend zur Interpretation unserer Befunde anwenden wollen. Während der Lernphase werden die einzelnen Worte sukzessiv den Vpn visuell dargeboten. Die Merkmalsanalyse im sensorischen Speicher führt zu einer graphemischen Kodierung, d.h. zu einer strukturierten Merkmalsbe185
Schreibung der gebotenen Schwarz-Weiß-Muster. Über die Mechanismen (1) (siehe Abb. 15) wird im semantischen Gedächtnis der Kontakt zum "Wissen" über die angebotene graphemische Struktur hergestellt. Die graphemische Struktur wird dem durch sie bezeichneten Begriff zugeordnet. Ein T e i l der im semantischen Gedächtnis gespeicherten begrifflichen Information wird so in die Kodierung aufgenommen. Über (2) gelangt die graphemische Kodierungsstruktur direkt und über (3) die semantische Kodierungsstruktur in das operative Kurzzeitgedächtnis. Im Kurzzeitgedächtnis werden über den aktuell gleichzeitig vorliegenden Informationen Organisationsprozesse wirksam, die an s e mantischen, an graphemischen oder auch an beiden Kodierungsformen angreifen und über die Mechanismen (3) und (4) auch zusätzliche Informationen aus dem semantischen oder episodischen Gedächtnis heranziehen. Ziel dieser O r ganisationsprozesse ist es, die aktuelle Information ausgebildeten Organisationsstrukturen anzupassen, sie in diese zu integrieren. Je wahrscheinlicher also Elemente einer schon vorhandenen Organisationsstruktur gleichzeitig im operativen Kurzzeitgedächtnis gespeichert sind, desto wahrscheinlicher wird diese Organisationsstruktur zur Gliederung der vorliegenden Information genutzt und auf die semantische Kodierung neu aufgenommener Informationen angewendet. Da gerade mit der Variation der Darbietungsfolge die im Kurzzeitgedächtnis gleichzeitig vorliegenden Elemente in ihrer Zusammensetzung verändert werden, liefert der beschriebene Mechanismus eine Erklärung für die beobachteten unterschiedlichen Organisationsstrukturen in Abhängigkeit von der Darbietungsordnung (Experimente 1 und 5). Die verwendeten Organisationsstrukturen beruhen auf der Identität der verwendeten semantischen Relationen zwischen benachbarten Begriffen, auf ihrer gemeinsamen Zugehörigkeit zu einer Relationsklasse. Dieses Organisationsprinzip wird als Resultat der Kontrollprozesse (5) im Kurzzeitgedächtnis als gleichberechtigte Information gespeichert. Steht diese Information zum Zeitpunkt der Aufnahme einer zweiten Liste noch zur Verfügung, werden O r ganisation und semantische Kodierung davon zunächst beeinflußt. Dies führt zu den Erscheinungen der Übertragung von semantischen Organisationsstrukturen (Experiment 2). Bei der weiteren Informationsaufnahme wirken jedoch zunehmend die aktuellen Beziehungen zwischen den im Kurzzeitgedächtnis 186
gleichzeitig gespeicherten Begriffen. Zeigen diese Beziehungen eine deutliche Strukturierung, wird das übernommene Organisationsprinzip durch die aktuelle Struktur verdrängt oder es wird im Konflikt zwischen beiden O r g a n i s a t i o n strukturen f ü r eine der möglichen entschieden. Die Entscheidung hängt dabei von der Differenzierbarkeit der beiden zu strukturierenden Begriffsmengen ab (Experimente 3 und 4). In der Reproduktionsphase wird zunächst die im operativen Kurzzeitgedächtnis vorliegende Begriffsmenge entsprechend der über ihr realisierten Struktur reproduziert. Darüber hinaus werden schon in das episodische Gedächtnis gedrängte Begriffe in der dort gespeicherten Organisationsstruktur reproduziert. Eine solche, auch langzeitige Speicherung einmal erworbener Organisationsstrukturen ist die Grundlage für die relative Unbeeinflußbarkeit von Reproduktionsstrukturen durch dazwischenliegende, anders organisierte, Reproduktionsprozesse. So bieten die in Abbildung 15 zusammengefaßten V o r stellungen einen Rahmen, in dem Erklärungsansätze zur Interpretation unserer und anderer Ergebnisse integriert werden können (vgl. z . B . Kintsch 1974, Atkinson, Juola 1974). Diesen Rahmen weiter auszufüllen durch Aufklärung der angedeuteten Mechanismen, die die Funktionseinheiten miteinander v e r binden, durch eine genauere Analyse der möglichen Organisationsformen über semantisch verbundenen Begriffen oder durch Differenzierung der R e p r ä s e n tationsformen von Informationen im semantischen und episodischen Gedächtnis, bleibt als Aufgabe für weitere Untersuchungen. Uns kam es darauf an, mit dem Nachweis der Übertragbarkeit semantischer Organisationsstrukturen Aussagen zur psychologischen Realität der Klassifizierung semantischer Relationen zu gewinnen, indem wir die Wirksamkeit dieser Klassenbildungen bei der Reproduktion von Begriffen zeigten. Der Nachweis des Effektes führte zu s p e ziellen Untersuchungen zur Klärung seiner Entstehung. Im Endresultat konnten nicht nur Aussagen zur Klassifizierung von semantischen Relationen, sondern auch Aussagen zur Differenzierung derjenigen Mechanismen gemacht werden, die die Klassifizierung von Relationen als kognitive Grundlage in der Informationsverarbeitung zur Wirkung bringen.
187
11.
Anmerkungen
1
Die vorliegenden Untersuchungen und Überlegungen sind im Rahmen einer Arbeitsgruppe unter Leitung von F. Klix entstanden. Ihm und P. Metzler, F, Kukla und K. Birth gilt mein herzlicher Dank für vielfältige Anregungen und Unterstützung bei.der Durchführung und Wertung der Versuche.
2
Die Experimente 3 und 4 sind gemeinsam mit K. Birth vorbereitet und in der Durchführung von ihm angeleitet worden. Frau Henkel übernahm die Durchführung und wesentliche Teile der Auswertung der Experimente,
12.
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189
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Joachim Hoffmann und Friedhart Klix ZUR PROZESSCHARA KTERISTIK DER BEDEUTUNGSERKENNUNG ÜBER SPRACHLICHEN REIZEN
1.
Der Informationsgehalt sprachlicher Reize
Die Lautformen einer natürlichen Sprache stellen im psychophysikalischen Sinne Reize dar, die in ihrer physikalischen Struktur T r ä g e r von Informationen sind. Die Lautsequenz wird als Modulation der Atemluft von einem Sprecher gebildet. Die Schwingungen der Stimmlippen, die Resonanzräume der oberen Luftröhre und des Kehlkopfes wirken als Modulatoren der Atemluft, die das Sprachsignal formen. Die der Lautbildung zugrunde liegenden Muskelkoordinationen werden vom kompliziertesten Steuerinstrument erzeugt, das Evolution und soziale Geschichte ausgebildet haben, dem menschlichen Zentralnervensystem. E s e r wirbt die Fähigkeit zur normierten Lautbildung in mehreren Jahren intensiven sensomotorischen Trainings. Dabei entspricht der Lautbildungsvorgang einem Umkodierungsprozeß. Wenn man prüft, was dabei umkodiert wird, stößt man auf unterschiedliche Quellen der Herkunft der kodierten Information: Die eine Quelle ist die konkrete Wahrnehmungssituation des Sprechers. E r kann momentane Sinneseindrücke wie: "Da brennt ein Haus" in eben diesen Satz überführen und dabei die sensorischen Impressionen in dem normierten Schallmuster dieses Satzes ausdrücken oder übersetzen. Eine andere Quelle ist das Gedächtnis des Sprechers. "Gestern brannte dort ein Haus" ist kein Sinneseindruck, sondern eine Erinnerung, ist Gedächtnisinhalt. In dieser Funktion ist der Satz aber immer noch einer perzeptiven Situation verbunden. Der gestrige Vorgang kann noch in vielen anschaulichen Einzelheiten vorgestellt werden. Die Anschaulichkeit des Erlebnisses muß dabei in irgendeiner Form bei der Informationsspeicherung erhalten bleiben. 191
Danach scheint eine Spurenbildung im Gedächtnis zu bestehen, die der Dekodierungsspezifik der Rezeptorsysteme treu bleibt. Aber das ist nicht der einzige Weg, über den Gedächtnisinhalte in sprachliche Lautformen umgesetzt werden. Es gibt in Gedächtnisstrukturen begriffliche Repräsentationen abstrakter, nicht anschaulicher Art, die als Resultat der V e r a r b e i t u n g sensorischer Eindrücke entstanden sind, und die in Lautmustern eine gleichermaßen materialisierte Form gewinnen können. Ein Satz wie: "Die Menge der natürlichen Zahlen ist unendlich groß" hat keine anschauliche Repräsentation im Gedächtnis; eine unendliche Größe kann niemals wahrgenommen werden, und was die natürlichen Zahlen anlangt, so sind es kaum mehr als hundert Dinge, die von der Wahrnehmung her unterscheidbar sind. Die Unanschaulichkeit zahlreicher Begriffe braucht aber gar nicht in abstrakten mathematischen Konstruktionen gesucht zu werden. Aussagen wie: Herr X ist kein Lehrer oder Begriffe wie ein Werkzeug, ein Möbel, eine Hoffnung usf. haben keine unmittelbar anschauliche Repräsentation. Die Aussage, daß jemand kein Lehrer ist, schließt bestimmte Merkmale aus, läßt aber, außer daß Herr X eine Person männlichen Geschlechts ist, keine Veranschaulichung an Hand spezifischer Merkmale zu. Ähnlich ist es mit Oberbegriffen. Ein Werkzeug, ein Möbel usf. haben keine invarianten Merkmale wie die anschaulichen Beispielfälle Tisch, Stuhl, Sofa usf. Für die Beschreibung innerer Zustände gilt größtenteils das gleiche. Offensichtlich gibt es Begriffsbildungen, die aus den perzeptiv gegebenen Elementarmerkmalen anschaulicher Begriffe a b g e le i t e t sind. Im ersten Falle sprechen wir von P r i m ä r - im zweiten Falle von Sekundärbegriffen. Es ist klar, daß beide Klassen von Begriffen gleichermaßen eine informationelle Basis für die Formung sprachlicher Ausdrücke bilden. Im weiteren wird sich jedoch die Annahme begründen lassen, daß es sich um zwei verschiedene Repräsentationsformen von Gedächtnisinhalten handelt. Wir werden dies aus der unterschiedlichen Funktion dieser Formen bei der Bedeutungserkennung ableiten. Natürlich existieren die Begriffe im Gedächtnis nicht isoliert voneinander. Die phänomenologisch zwischen ihnen bestehenden Zusammenhänge müssen auch eine gedächtnispsychologische Realität haben. Teils mag es sich dabei um feste Eintragungen, teils auch um operativ herstellbare Zusammenhänge 192
handeln. So ist es beispielsweise kaum vorstellbar, daß zu jedem Primärbegriff alle möglichen Oberbegriffe explizit im Gedächtnis gespeichert sind; es kann kaum angenommen werden, daß alle Ergebnisse des Vergleichens begrifflicher Eigenschaften wie z.B. Größer-Kleiner-, oder Mehr-Weniger-Verhältnisse im Gedächtnis fixiert sind. Die viel rationellere Variante wäre die, daß solche Beziehungen zwischen Begriffen e r s c h l i e ß b a r sind oder auf analoge Weise ermittelt bzw. abgeleitet werden. Gleichwohl scheint auch der Fall fester Eintragungen von Beziehungen zwischen Begriffen im Gedächtnis zu bestehen. Durch welche Eigenschaften Rechenbrett und Rechnen zusammengehören, kann nicht abgeleitet, es muß erfahren, gesehen und erlernt, also als Zusammenhang im Gedächtnis gespeichert werden. So scheinen die Begriffe und ihre Zusammenhänge im menschlichen Langzeitgedächtnis in verschiedenen Ebenen organisiert und durch verschiedene Funktionsprinzipien untereinander vernetzt zu sein. Ob dies verifiziert werden kann, ist allemal eine experimentelle und keine Frage der Spekulation. Als eine spezielle Klasse langzeitiger Gedächtniseintragungen können die mit der Sprachbeherrschung verbundenen lexemischen Eintragungen und die zugehörigen operativen oder grammatischen Strukturen angesehen werden. Auch hier scheinen stationäre Strukturbildungen auf der einen und operative Strukturerzeugungen auf der anderen Seite zwei Arten der organismischen und dabei spezifisch menschlichen - Informationsspeicherung zu verkörpern. Das ist eine vorläufige und hypothetische Klassifizierung gewisser struktureller und funktioneller Eigenschaften des menschlichen Langzeitgedächtnisses; eine grobe Unterteilung, der gewiß noch wenig Aussagekraft zukommt. Die Frage ist nur, ob sie beim Verstehen bestimmter psychischer Phänomene bzw. - was wenigstens ebenso wichtig ist - beim Begreifen experimenteller Ergebnisse einen heuristischen Wert hat. Dies eben soll in gewisser Hinsicht durch die weiteren Darlegungen belegt werden. Wir gingen von bestimmten Aspekten der Sprachproduktion aus; von der Aussage, daß die sensomotorische Ausformung sprechmotorischer Schallmuster als ein Umkodierungsvorgang aufgefaßt werden kann. Die Kodierungsschritte sind danach hypothetisch einigermaßen bestimmbar. Wir setzen eine Sprechintention, eine Art Motiv für die Akzentuierung eines semantischen Kerns des 193
Mitzuteilenden voraus. Dies dürfte im Gedächtnis der Anregung einer bestimmten begrifflichen Konfiguration entsprechen. Die weitere Ausarbeitung zu einer Feingliederung begrifflicher Strukturen und Relationen geschieht durch Prozesse und nach Regeln, die weitgehend unbekannt sind. Jedoch, einmal ausdifferenziert als begriffliche Netzstruktur im Langzeitgedächtnis, müssen den so präsenten Merkmalssätzen Lexeme, sprachlich lexikalische Eintragungen zugeordnet werden können. Soweit dies der Fall ist, sind begrifflich-operative und sprachliche Aspekte des Denkens untrennbar. Eine solche begrifflich-lexikalische Konfiguration bildet die informationelle Basis der Sprachproduktion. Ihre Umsetzung in eine lineare Sequenz von Worten erfolgt nach Regeln der Grammatik, deren Eingreifen in die begrifflich-lexikalische Konfiguration im wesentlichen unbekannt ist. Auf alle Fälle erzeugen die hierarchischen grammatischen Strukturbildungen Bindungen zwischen Teilgliedern einer Sequenz, die sich teilweise überlappen oder einschließen können (vgl. Bierwisch in diesem Band). Durch diese ganz verschiedenartig bedingten Klammerungen einer Wortsequenz werden mehrdimensionale Informationsmuster in einer eindimensionalen Sequenz bewahrt. Raum - zeitliche Abhängigkeiten, motivational zusammenhängende Teilstrukturen, Zwecke, modal abhängige Aussagen u.v.a. finden in grammatischen Klammerungen ihren Niederschlag. Bei der Aufnahme sprachlich vermittelter Information muß nun von der eindimensionalen Sequenz sprachlicher Reize ausgehend der Zugang zur informationellen Basis zurückgewonnen werden. Dies setzt voraus, daß der sprachverstehende Hörer über Gedächtniseigenschaften verfügt, die eine Rekonstruktion
der in der Lautsequenz enthaltenen Information ermög-
licht. Letzteres ist nur denkbar, wenn der Zuhörer über interne Informationen zur Dekodierung von Lautsequenzen, d.h. über spezifische Prozeduren der Bedeutungserkennung verfügt. Man kann aus heuristischen Gründen davon ausgehen, daß der Prozeß des Sprachverstehens symmetrisch zu dem der Sprachproduktion verläuft. Damit ist gemeint, daß die Stationen des Sprachverstehens die Stadien der Sprachformierung in umgekehrter Richtung und Funktion durchlaufen. Natürlich ist das zunächst nicht mehr als eine Hilfsvorstellung, durch die eine gewisse Aufgliederung der Gesamtproblematik erreicht werden kann. Über ihren Wert 194
müssen die daraus ableitbaren Arbeitshypothesen und die Fruchtbarkeit der damit zusammenhängenden Erklärungsansätze entscheiden. Die folgenden Abschnitte verfolgen das Ziel, e r s t e in dieser Richtung gegangene Schritte zu dokumentieren. Zuvor scheint es notwendig, den mit der Sprachkommunikation verbundenen Sachverhalt der semantischen Information und ihrer Übertragung zu präzisieren.
2.
Zum Begriff der semantischen Information, ihrer Übertragung und zu einigen Aspekten des Verstehens von Bedeutung
Wir gehen davon aus, daß die primären begrifflichen Strukturen in der Wechselwirkung zwischen Organismus und Umgebung gebildet werden. Aus dem durch die sensomotorische Verhaltenssteuerung zugänglichen Informationsfluß werden die invarianten, für Verhaltensentscheidungen wesentlichen und tigen
gleichwer-
Umgebungseigenschaften ausgefiltert und im Gedächtnis fixiert. Diese
Umgebungswirkungen, durch Rezeptoren in Wahrnehmungstatbestände umgesetzt, heißen Merkmale. Die Verknüpfung relevanter und für Verhaltensentscheidungen äquivalenter Merkmale heißt Begriffsstruktur. Begriffsstrukturen lassen sich als Entscheidungsbäume darstellen (vgl. Klix 1971, Hoffmann 1973). In der Tat gibt es Gründe für die Annahme, daß die Zuordnung von Objekten zu Klassen durch solche Entscheidungsstrukturen im Gedächtnis r e a l i s i e r t wird. Zu jeder Begriffsstruktur gehört also e i n e
Menge
von Objekten, die
den jeweiligen Begriffsinhalt ausmacht. Die Erkennung eines Objekts als einem Begriff zugehörig ("Das ist eine Lerche, " . . . ein Mensch, . . . ein Löwe usf.) ist also eine Gedächtnisleistung. Begriffliches Erkennen aber existiert nicht isoliert, sondern ist durch Strukturbildungen im Gedächtnis mit anderen Begriffen, insonderheit aber mit begriffsadäquaten Verhaltensantworten und - e i n stellungen verbunden. Die durch Wahrnehmung vermittelte Anregung einer B e griffsstruktur samt der durch diese wieder vermittelten weiteren Gedächtnis195
inhalte (zu denen auch mögliche Verhaltensantworten gehören können) - dieses Gedächtnispendant eines Begriffs nennen wir dessen Bedeutung. Auf einer bestimmten Stufe gesellschaftlicher Entwicklung, verbunden mit der Ausbildung der natürlichen Sprache, werden Begriffsstrukturen benannt; akustische oder visuelle Symbole sind ihnen zugeordnet. Es sind aufwendige Lernprozesse erforderlich, durch die den Begriffsstrukturen und damit auch den Begriffsinhalten Symbole oder Zeichen gemäß einer sozialen und gesellschaftlichen Konvention zugeordnet werden. Sobald man erkennt, daß die Repräsentation jedes Zeichens auf zweifache Weise erfolgt, wird unmittelbar einleuchtend, daß auch die Zuordnung eine doppelte ist: Zum einen erfolgt sie zu objektivrealen Eigenschaften in der Umgebung (die in der Regel den Inhalt eines Begriffs konstituieren) zum anderen zum Klangmuster eines gesprochenen Lautes oder einer Lautfolge bzw. zum Konturverlauf eines Schriftbildes. In diesem Sinne bezeichnen Worte Begriffsinhalte (Dingmengen, zu denen im Grenzfall ein eindeutiges Objekt, ja, auch gar keines gehören kann). Diese Zuordnung ist im Rahmen einer Sprachgemeinschaft einigermaßen konstant. Nun werden die Zeichen als physikalische Objekte ebenso wahrgenommen wie die Dingeigenschaften selbst. Das heißt, sie werden von Rezeptoren aufgenommen und als Wahrnehmungsgegebenheiten wirksam. Sofern dem aufgenommenen Zeichen ein begrifflich kodiertes Gedächtnisbild entspricht und sofern diese Gedächtnisrepräsentation des Zeichens mit jener Begriffsstruktur assoziiert ist, der das Zeichen vereinbarungsgemäß zugehört, kann das Zeichen die gleiche Begriffsstruktur im Gedächtnis anregen wie ein Element des Begriffsinhalts selbst. Eben dadurch gewinnt das Zeichen eine Bedeutung; es wird durch diese Konnexion zum Semem, zu einer sprachlichen Bedeutungseinheit. Genau genommen ist dies die denotative, einen Begriffsinhalt wie eine Begriffsstruktur benennende Zeichenfunktion. Über die Anregung einer Begriffsstruktur gewinnt die lexikalische Gedächtniseintragung jedoch auch Zugang zu jenen Gedächtniseintragungen, die weitläufiger mit den Begriffsmerkmalen verbunden sind, also auch zu den Verhaltenseinstellungen. Diese Repräsentation eines Zeichens in einer Gedächtnisstruktur ist seine Bedeutung für den Rezipienten, mit allen individuellen Spezifika, die der Bedeutungsbegriff auch umfaßt. Insonderheit ist damit natürlich die Bedeutung von Worten 196
externe
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semantische
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Belegungen
interne
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{: Mengen perzipierbarer Objekteigenschaften, in die Zustände der Informationsquelle eingehen. R: Rezeptoren, auf die die informationstragenden Quelleneigenschaften als Reize treffen. D: Dekodierving der rezipierten Information. : subjektive Repräsentation von Objektmerkmalen: allgemeiner Fall ist die begriffliche Merkmalsstruktur. B ist eine Belegungsfunktion, durch die perzipierbaren Quelleneigenschaften Zeichen ö". aus einem Repertoire £ zugeordnet werden. D„ ist die perzeptive Dekodierungsfunktion der Zeichen, die als MerkmalsstruKtur A B H «
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Ö > 325
8.
Anmerkungen
1
Die beiden psychologischen Studien "Über Grundstrukturen und Funktionsprinzipien kognitiver Prozesse (Aspekte eines Zugangs zu Analyse und Synthese geistiger Leistungen)" und "Strukturelle und funktionelle Komponenten des menschlichen Gedächtnisses" von F. Klix (1976) sind erst nach Fertigstellung meines vorliegenden Beitrags erschienen. Sie enthalten neben der Mitteilung neuester experimenteller Untersuchungen auf dem Gebiet der Erforschung des menschlichen Gedächtnisses grundsätzliche theoretische Überlegungen zur Struktur und Funktion des Individualgedächtnisses (zum Unterschied vom Artgedächtnis) sowie Hinweise auf einschlägige Literatur der letzten Jahre. Da es sich bei den genannten Arbeiten um das Studium normaler psychologischer Gedächtnisvorgänge handelt, bietet sich ein Vergleich mit den in der vorliegenden Untersuchung mitgeteilten Ergebnissen und Hypothesen klinisch-neuropsychologischer Art an. Das gleiche gilt auch für die grundlegende Studie "Sprache und Gedächtnis: Ergebnisse und Probleme" von M. Bierwisch (1975), in der Probleme des semantischen Gedächtnisses in psycholinguistischer Sicht diskutiert werden.
2
In unseren Experimenten berücksichtigten wir die linksseitige Hemianopsie der Patientin Ni., indem wir die vorgelegten Abbildungen von der Kranken stets ins intakte Blickfeld rücken ließen. Die von ihr infolge ihrer leichten Bildagnosie in der Vorkontrolle nicht ohne weiteres e r kannten Bilder wurden im Hauptversuch nicht verwendet. Es wurden ausschließlich leicht erkennbare, graphisch klar wiedergegebene, meist farbige Reproduktion gebräuchlicher Objekte (z.B. Gießkanne, Stuhl, Pflaster), Pflanzen (z. B. Stiefmütterchen, Blumenkohl), Tiere (z.B. Löwe, Zebra) und menschliche Figuren (z. B. Briefträger, Radfahrer) verwendet (etwa 150 Abbildungen).
3
4
Es muß betont werden, daß von den Patienten nicht verlangt wird - und auf Grund ihrer Störungen aphasischer Art auch nicht verlangt werden kann -, bewußte Klassifizierungen von kritischem Wort und Bezugswort im Sinne der Nebenordnung oder Überordnung vorzunehmen. Vielmehr werden die genannten Interrelationen "von selbst", d.h. ohne Zutun des Patienten im LZG wirksam.
5
Vgl. dazu auch die Homonymversuche bei Cohen et al. (1975, S. H - 6 f f . ) .
6
Wir müssen es uns an dieser Stelle versagen, auf die Nachkontrolle, die wir in den meisten Fällen der Versuchsreihe eines Versuchstages unmittelbar oder zu einem späteren Zeitpunkt folgen ließen, einzugehen. Aus den quantitativen Ergebnissen dieser Kontrollen geht hervor, daß sich die Nachwirkungen der Deblockierungseffekte nicht nur an ein und demselben Tag, sondern auch noch nach mehreren Tagen, ja sogar nach Wochen und Monaten feststellen ließen. Beim Vergleich der Vorlage neuer
326
und bereits deblockierter Abbildungen zeigte sich dieser Effekt mit besonderer Deutlichkeit: Die Patienten konnten die neuen Abbildungen nicht benennen, in zahlreichen Fällen jedoch jene, deren Benennung ihnen beim Deblockierungsversuch gelungen war. 7
In einer Anzahl von Fällen kam es vor, daß aus einer Reihe von BezugsWörtern, die im Vorlauf geboten wurden, außer dem kritischen Wort nicht nur ein, sondern mehrere Bezugswörter verwendet wurden. Der Einfachheit halber zählen wir jedoch auch solche Mehrfachbenennungen nur als "Doppelbenennungen".
8
Die Werte der D . ^ - R a t e n finden sich für Variante I in der Rubrik 1. Bei den Varianten II und IV bezieht sich der Vergleich auf die D j ^ - R a t e n , wie sie in der Rubrik 2 in Klammern angegeben sind, d.h. auf die Anzahl der Benennungen durch das kritische Wort sowohl isoliert als auch bei Doppelbenennungen. Bei der Variante m wurde die Anzahl der Benennungen zum Vergleich herangezogen, bei denen eines des beiden Synonyme oder beide verwendet wurden (Rubrik 1). Wir können hier nicht auf eine qualitative Analyse des jeweiligen Versagens der Patientin bei der Verwendung von Homonymen in einer der beiden Bedeutungen eingehen. Jedenfalls lassen sich diese nicht durch zufällige, fluktuierende Benennungsstörungen erklären, da die Patientin auch bei wiederholten Darbietungen dieselben unterschiedlichen Reaktionen zeigte, ferner waren diese Unterschiede auch nicht durch Wortfrequenzwirkungen bestimmt (siehe die obigen Beispiele).
9
10 11
Diese unter meiner Anleitung durchgeführte Versuchsserie wurde bereits a.O. mitgeteilt (s. Böttcher et aL 1969). Im Falle des genannten Pat. Schw. konnten wir folgende interessante Feststellung machen: In einem Versuch wurde nach einem Vorlauf, in dem anstelle des KW Muschel nur das Hyperonym Weichtier neben den neutralen Wörtern vorkam, die Abbildung der Muschel prompt mit Weichtier bezeichnet. Gelegentlich einer Nachkontrolle mit derselben Abbildung, die nach 2 Jahren erfolgte, sagte der Patient wiederum zu seinem eigenen Bedauern "Weichtier", ohne daß es ihm gelang, die korrekte Benennung zu finden. Die Deblockierung des Hyperonyms hatte demnach den Zeitraum von 2 Jahren überdauert.
12
Ein Versuch, den Prozeß der Wortfindung auf eine Folge von semiautonomen Verarbeitungsprozessen neurolinguistischer Art zurückzuführen, findet sich bei Green (1970). Da das Schema dieses Autors jedoch außer dem Objektbenennen auch noch andere Formen der Wortfindung umfaßt (z. B. Wortfindung auf Grund der Beschreibung eines Objekts durch den VI. oder bei Ergänzung eines fehlenden Namens im Satz usw.), trägt es naturge«mäß einen viel allgemeineren Charakter als das von uns vorgeschlagene Modell.
13
Eine gewisse Komplizierung des beschriebenen D-Prozesses kann dadurch eintreten, daß der Vorlauf in bestimmten Fällen (z. B. bei Patienten mit auditiven Wartverständnisstörungen) nicht akustisch, sondern optisch ge327
14
15
16
geben werden muß, d.h. dem Pat. werden die Wörter nicht vom VI vorgesprochen, sondern schriftlich vorgelegt. Dies bedeutet, daß graphemische anstelle von phonetischen Wortstrukturen dargeboten werden. Diese Schwierigkeit läßt sich dadurch überbrücken, daß die betreffenden Patienten, (sofern keine expressive Alexie vorliegt) angeleitet werden, die Vorlaufwörter laut zu lesen (z. B. Pat. Br.). Auf diese Weise werden die graphemischen in phonetische Wortstrukturen transkodiert, so daß der beschriebene D-Prozeß in analoger Weise wie bei akustischer Exponierung ablaufen kann. Wenn hier von der Speicherung von Lautstrukturen die Rede ist, so wird dabei von der Tatsache abstrahiert, daß auch diese Strukturen zu ihrer genaueren Bestimmung einer morphologisch-syntaktischen Verarbeitung bedürfen, die sich ihrerseits in engstem Konnex mit der semantischen Dekodierung im LZSp abspielt. Ich möchte hier die Frage offen lassen, ob Bedeutungsstrukturen, die so unterschiedlichen Gegebenheiten wie Objekt und Wort entsprechen, im LZG "gemeinsam" oder "getrennt" kodiert sind; im letztgenannten Fall, d.h. bei kanalspezifischer Kodierung, wäre ein zusätzliches Zur-DeckungBringen dieser inhaltlich identischen Bedeutungsstrukturen erforderlich (zum Problem der "feldabhängigen" Kodierung vgl. auch Oerter 1974, S. 345 und 405). Man könnte an dieser Stelle einwenden, daß es im Grunde genügen müßte, dem Patienten lediglich das betreffende Wort vorzusprechen, um es bei der nachfolgenden Bildvorlage zur Benennung verwenden zu können. Sofern keine Bildagnosie besteht und keine schwere aphasisch-motorischen bzw. -sensorischen Störungen vorliegen, die ein Nachsprechen ausschließen, kann ein solches "Vorsagen" tatsächlich zu einem, wenn auch meist höchst kurzzeitigen Erfolg führen (s. Luria 1973, S. 156). Zum Unterschied davon handelt es sich, wie bemerkt, bei unseren Deblockierungsversuchen um Prozesse, die auf unwissentlicher Ebene verlaufen, um Vorgänge, bei denen das LZG ohne willkürliches Zutun des Patienten angesprochen wird. Der spezielle Charakter dieser Form von Abrufungen zeigt sich vor allem darin, daß die Deblockierung auch ohne die Vorgabe des kritischen Wortes möglich ist, und daß gesteuerte Deviationen und Doppelbenennungen produzierbar sind.
17
Wir wollen hier auf die kortikale Lokalisation dieser Störungen nicht eingehen; es handelt sich hierbei vorwiegend um Schädigungen bestimmter Abschnitte des Temporallappens.
18
Bei sinnfreier Reproduktion des gehörten oder gelesenen Wortes (z.B. bei auditiven Wortverständnisstörungen sensorisch-aphasischer Art oder bei rezeptiven Alexien) pflegt es nicht zu Fehlleistungen dieser Art zu kommen. Goodglass et al. (1966) ebenso wie Weigl (1975) fanden, daß die Operation der Sprachproduktion überraschend unabhängig von dem Verstehen sein kann, selbst wenn es sich um ein und dieselbe lexikalische Einheit handelt.
328
19
Zweifellos sind nicht alle Fehlleistungen dieser Art in diesem Sinne zu deuten. Es gibt auch Verwechslungen auf Grund phonologischer oder graphemischer Ähnlichkeiten oder Perseverationen bzw. konnotative Assoziationen, die für bestimmte Fehlleistungen verantwortlich gemacht werden können.
20
Auch Cohen und Mitarbeiter (1975) ebenso wie Benson und Geschwind (1967), Wiegel-Crump und Koenigsknecht (1973) u.a. sind sich darin einig, daß es sich bei den aphasisch bedingten Wortfindungsstörungen "eher um eine Störung der Abrufungsprozesse h a n d e l t . . . , denn um einen Verlust von Wörtern" (Cohen et al. 1975, S. VII-1). Diese Annahme wird auch durch die experimentellen Ergebnisse der letztgenannten Autoren bestätigt, deren Patienten bei der nochmaligen Vorlage zuvor nicht genannter Abbildungen imstande waren, die betreffenden Benennungswörter bei der Vorgabe eines verbalen Kontextes zum größten Teil zu finden. Die Patienten konnten z. B. bei Darbietung der Abbildung eines Schrankes und gleichzeitiger Exponierung des unvollständigen Satzes "Häng doch den Mantel in den . . . " das Wort Schrank finden. Bei einem Nachtest stellten die Autoren fest, daß bei neuerlicher Vorlage der betreffenden Abbildung (ohne Satz) signifikante Posteffekte auftraten. In ihrer Untersuchung "The Naming Process and its Impairment. A Multidisciplinary Approach" führt Tsvetkova (1975) die Bildbenennungsstörungen semantisch-amnestischer und akustisch-mnestischer Aphatiker auf Beeinträchtigungen der Differenzierung auf optisch-gnostischer Basis zurück. Die unpräzisen Informationen bei der Wahrnehmung optisch abgebildeter Objekte ziehen, nach Meinung der Verf., die Abrufung ganzer, im entsprechenden semantischen Feld konnektierter Wortreihen nach sich (semantische Verbalparaphasien beim Benennen). Obwohl die Mitwirkung optisch-gnostischer Differenzierungsstörungen in unseren Fällen, vor allem bei der Pat. Ni. (s.S. 273), nicht auszuschließen ist, dürfte diese Erklärung für die von uns betonte Blockierung der Konnexionen zwischen Bedeutungsstruktur und Lautstruktur nur partielle Gültigkeit haben. Angefangen von der "sensorischen Basis" (Tsvetkova 1975) bis zur Realisierung des verbo-motorischen Kommandos von seiten des Effektors kann der Transkodierungsprozeß von der Bedeutungsstruktur zur Lautstruktur in Abhängigkeit von der kortikalen Lokalisierung der Schädigung in vielfältiger Weise gestört werden (s. Weigl 1975).
21
In diesem Zusammenhang sind die Feststellungen von Goodglass et al. (1966) in bezug auf die Unterschiede zwischen dem Verstehen und der Verbalisierung von Objektbezeichnungen von besonderem Interesse. Die Autoren fanden, daß diese Bezeichnungen, unabhängig vom Aphasietyp, die leichteste Kategorie für das Verstehen, hingegen die schwierigste Kategorie für das Benennen darstellen. Dabei erweist sich die Funktion des Sprachverstehens überraschend unabhängig von der Sprachproduktion, selbst wenn es sich um ein und dieselbe lexikalische Einheit handelt. Nach Ansicht der Verfasser liegen diesen beiden Funktionen unterschiedliche Prozesse und dementsprechend auch verschiedenartige kortikale Lokalisationen zugrunde.
329
9.
Literaturverzeichnis
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330
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331
Irina Weigl INTERDE PENDENZ NEUROPSYCHOLOGISCHER UND PSYCHOLINGUISTISCHER FAKTOREN IN DER APHASIE
Zu dem von uns experimentell untersuchten Problemkomplex der Wirksamkeit syntaktischer und implizit auch semantischer Regeln im Falle zentralbedingter Sprachstörungen gibt es zwei Zugänge: Den einen bildet die logic,
Neuropsycho-
die Aussagen über die Mechanismen der gestörten und intakten Sprach-
funktionen machen kann, den anderen vermag die P s y c h o l i n g u i s t i k
an-
zubieten, die Elemente, Relationen, Strukturprinzipien und Beschreibungen kognitiver Vorgänge untersucht, die in sprachlichen Prozessen wirksam werden. Die Erörterung des komplexen Zusammenwirkens neuropsychologischer und psycholinguistischer Faktoren bei aphasischen Störungen stellt das Anliegen der folgenden Ausführungen dar, in denen über die von uns durchgeführten experimentellen Untersuchungen der Reproduktion vorgegebener syntaktischer Strukturen und deren lexikalischer Grundelemente bei Aphatikern berichtet wird. Die neuropsychologischen Ausgangspunkte unserer Experimente sind drei selektiv gestörte reproduktive Sprachfuriktionen: Nachsprechen, expressives Lesen (Lautlesen) und Diktatschreiben, Den psycholinguistischen Ausgangspunkt der Experimente bildet die selektiv beeinträchtigte Reproduktion bestimmter syntaktischer Strukturen und ihrer konstitutiven, lexikalischen E l e mente,
333
1.
Ausgangspositionen
Wir gehen von folgenden Voraussetzungen aus: a) Die von uns untersuchten reproduktiven Funktionen des Nachsprechens, Lautlesens und Diktatschreibens beinhalten bestimmte Komponenten der Sprachperzeption und der Sprachproduktion; sie beruhen auf Transkodierungsprozessen (E. Weigl 1972, 1974, 1976, E . Weiglund Fradis 1976). Beim Nachsprechen handelt es sich um die Umsetzung verbo-auditiv perzipierter phonetischer in die entsprechenden verbo-motorischen, artikulatorischen Strukturen; beim Lautlesen wird eine verbo-optisch perzipierte graphemische in eine korrespondierende verbo-motorische, phonetische Struktur, hingegen beim Diktatschreiben eine verbo-auditiv perzipierte phonetische in eine grapho-motorische bzw. graphemische Struktur umgesetzt. Beim Nachsprechen erfolgt die Transkodierung innerhalb des lautsprachlichen Systems, während beim Lautlesen und beim Diktatschreiben ein Systemwechsel vor sich geht: beim Lautlesen findet eine Umschaltung vom schriftsprachlichen in das lautsprachliche System statt, beim Diktatschreiben vollzieht sich eine umgekehrte Transkodierung vom lautsprachlichen in das schriftsprachliche System. Schematisch lassen sich diese Transkodierungsvorgänge in folgender Weise darstellen*: Fig. 1 Transkodierungsvorgänge bei den reproduktiven Funktionen
Input
Output
334
Nachsprechen
Lautlesen
Diktats chreiben
verbo-auditiv
verbo-optisch
verbo-auditiv
(phonetisch)
(graphemisch)
(phonetisch)
verbo-motorisch
verbo-motoris eh
grapho-motorisch
(phonetischartikulator is eh)
(phonetischartikulatorisch)
(graphemisch)
Wie aus Fig. 1 hervorgeht, haben Nachsprechen und Diktatschreiben einen gemeinsamen verbo-auditiven (phonetischen) Input, Nachsprechen und LautieBen einen gemeinsamen verbo-motorischen (phonetisch-artikulatorischen) Output. Graphisch lassen sich die Verbindungen zwischen diesen drei Funktionen im Hinblick auf ihre gemeinsamen Input- bzw. Outputkomponenten wie folgt darstellen: Fig. 2 Graphische Darstellung der Transkodierungsvorgänge bei den reproduktiven Funktionen Input
Output grapho-motor is ch (graphemisch)
verbo-auditiv (phonetisch) verbo-motorisch (phonetisch) verbo-optisch (graphemisch) b) Die Reproduktion vorgegebener isolierter lexikalischer Einheiten ebenso wie syntaktischer Strukturen, die sich aus solchen Einheiten zusammensetzen, beruht auf der Mitwirkung bestimmter Gedächtnismechanismen. Bereits die Wahrnehmung eines vorgesprochenen bzw. schriftlich gebotenen Wortes muß zu dessen phonologiseher bzw. graphemischer Analyse und seiner semantischen Dekodierung an die entsprechende langzeitgespeicherte Einheit appellieren, um auf diese Weise über das Wortverständnis zur sinngemäßen verbomotorischen bzw. grapho-motorischen Wiedergabe zu gelangen (vgl. E. Weigl im vorliegenden Band). Mit anderen Worten, die Wortreproduktion im Sinne eines auf Wortverständnis basierenden Nachvollzugs setzt das Vorhandensein eines intakten Speichers lexikalischer Einheiten voraus.
335
Die Reproduktion von Sätzen - sofern sie nicht in einem mechanischen Aneinanderreihen der einzelnen Wörter besteht - erfordert vom Patienten über das Verstehen und den Nachvollzug der vorgegebenen lexikalischen Einheiten hinaus die Wahrnehmung und das sinngemäße Erfassen der semantisch-syntaktischen Satzstruktur. Da es jedoch zum Unterschied von der Speicherung des Lexikons kein "Satzlexikon" geben kann, d.h. keine gedächtnismäßige Fixierung sämtlicher bekannter und möglicher Sätze, muß sich die mnestische Beteiligung bei der korrekten Wiedergabe der perzipierten syntaktischen Struktur auf zusätzliche Mechanismen stützen. Vor allem scheint uns hierbei der Appell an das der betreffenden natürlichen Sprache immanente, gespeicherte System syntaktischer Regeln eine wichtige Rolle zu spielen. Der sinngemäße Nachvollzug eines vorgesprochenen Satzes wird demnach nicht nur durch die Reaktivierung der implizierten lexikalischen Einheiten im Langzeitspeicher bestimmt, sondern vornehmlich durch die mit Hilfe entsprechender Strategien realisierte Wirksamkeit mnestisch fixierter syntaktischer Regeln. Dies bedeutet, daß für die korrekte Satzwiedergabe ein intaktes syntaktisches Regelsystem eine wichtige, wenn auch nicht ausreichende Bedingung darstellt. c) Bei der Analyse und Interpretation unserer Versuchsergebnisse gingen wir im Sinne der vorangegangenen Ausführungen einerseits von den Leistungen der Patienten im Rahmen der drei genannten Sprachfunktionen und andererseits von den Leistungen dieser Kranken auf lexikalischer, vor allem aber auf syntaktischer Ebene aus. Dabei kam es uns darauf an, die Beziehungen zwischen gestörten Transkodierungsprozessen und beeinträchtigten psycholinguistischen (einschließlich kognitiven und mnestischen) Vorgängen zu studieren.
336
2.
Versuchsbeschreibung
2.1.
Versuchspersonen
Das Experiment -wurde mit 12 Aphatikern durchgeführt. Die Kranken wurden vor dem Versuch durchweg einer klinisch-neurologischen Untersuchung sowie einer aphasiologischen Prüfung unter besonderer Berücksichtigung der psycholinguistischen Problemstellung des nachfolgenden Experiments unterzogen. Bei 10 Kranken handelt es sich um vaskuläre, bei 2 Patienten um postoperatorische Fälle. Nach der klassischen Einteilung befanden sich unter den 12 Kranken 5 Patienten mit motorischer, 5 Patienten mit sensorischer (davon 3 rein sensorisch und 2 vorwiegend sensorisch mit motorischen Elementen) und 2 Patienten mit gemischter Aphasie. Auf Grund unserer Zielstellung wurden bei der Auswahl von vornherein solche Patienten ausgeschlossen, bei denen die reproduktiven Leistungen bei den 3 Sprachmodalitäten (Nachsprechen, Lautlesen, Diktatschreiben) völlig aufgehoben waren. Die von uns ausgewählten 12 Kranken hatten zumindest bei einer oder zwei bzw. drei der genannten reproduktiven Funktionen partielle, d.h. selektive Störungen.
2.2.
Versuchsdurchführung
Die Versuchsreihen bestanden aus der Vorgabe von 40 Substantiven / S / (mit Artikeln), 40 Verben / V / (mit Personalpronomen, dritte Person maskulin), 20 Präpositionen / P / und 20 Konjunktionen / K / (s. Fig. 3, S. 340 f.). 2 Die Patienten wurden im Einzelversuch aufgefordert, diese lexikalischen Einheiten isoliert nachzusprechen, laut zu lesen und nach Diktat zu schreiben (in getrennten Reihen). In gleicher Weise wurde auch mit den syntaktischen Strukturen (je 20), die sich aus den zuerst isoliert gebotenen Einzelwörtern zusammensetzten, v e r fahren. 337
Es wurden dabei folgende Formen syntaktischer Strukturen verwendet: a) 20 syntaktische Strukturen, zusammengesetzt aus Substantiv (mit Artikel), Präposition und Substantiv (mit Artikel). Wir bezeichnen sie in den folgenden Ausführungen mit S
P /\ S. Diese 20 syntaktischen Strukturen stel-
len folgende Typen von Nominalphrasen mit Präpositionalphrasen dar: NP
N Geschenk Beispiele von S
P ^ S:
Der Garten neben dem Haus Das Hotel gegenüber dem Bahnhof Der Besuch bei der Schwester usw. b) 20 syntaktische Strukturen, bestehend aus Verb (mit Pronomen), Konjunktion und Verb (mit Pronomen). Wir bezeichnen sie in den weiteren Ausführungen mit V /\ K /v V. Davon waren 12 syntaktische Strukturen vom Typ Satz mit einem eingebetteten Nebensatz: S
5 syntaktische Strukturen vom Typ koordinierte Sätze S^ NP er
V prüft
Adv" dann
S V NP kauft er
3 syntaktische Strukturen vom Typ Sätze mit koordinierten Verben S
338
Beispiele von V A K A V : Er klopft, bevor er öffnet Er friert, deshalb heizt er Er ruht, während er liest usw. Die Patienten hatten außerdem in gesonderten Versuchsreihen folgende syntaktische Strukturen nachzusprechen, zu lesen und nach Diktat zu schreiben: a^) 20 aus Präposition und Substantiv bestehende Syntagmen; wir bezeichnen sie mit P a s . Alle waren einfache Präpositionalphrasen vom Typ: PP P für
NP Art das
N Geschenk
Beispiele von S a
P:
Neben dem Haus Gegenüber dem Bahnhof Bei der Schwester b^) 20 syntaktische Strukturen bestehend aus Konjunktion und Verb - wir bezeichnen sie mit K A V. Es waren 12 einfache Nebensätze vom Typ: S K ob
NP er
V kann
5 einfache Hauptsätze vom Typ: S Adv dann
V kauft
NP er
3 Konstruktionen aus Konjunktion und Verb vom Typ: VP K und
V trinkt
Beispiele von K ^ V : Bevor er öffnet. Deshalb heizt er. Während er liest usw.
339
Fig. 3 Versuchsplan (demonstriert an Beispielen) Rubrik
Items geprüft bei 3 Sprachmodalitäten (Nachsprechen, Lesen, Diktat)
1
Substantive isoliert S
2
Präpositionen isoliert P
3
1
Anzahl der Items (bezogen auf je eine Sprachmodalität) Sj=40
1
Satzkonstituenten
P,=20
Syntaktische Strukturen (Sg /V P j /V S3)
2=20
Sg=40 Pg=20
5
Verben isoliert V
1
6
Konjunktionen isoliert
7
Satzkonstituenten V2)
8
Syntaktische Strukturen (VgA K g ^ V g )
V x =40
20 Anfangssubst. 20 Endsubst. 20 Anfangsverb 20 Endverb
Kj=20
V20
V
2=20
V 3 =40 K 3 =20
340
20 Endsubst.
Pj=20
S
4
20 Anfangssubst.
20 Anfangsverb 20 Endverb
Beispiele
die Reise Anfangssubstantiv S 1
die Welt Endsubstantiv S 1 um P
1
um P
2
die Reise (Anfangssubstantiv)
um
S
P
3
3
er bleibt (Anfangsverb) V 1
die Welt (Endsubstantiv) S 3 er muß (Endverb) V 1
weil Kl weil K
er bleibt (Anfangsverb) V 3
die Welt S 2
2
weil
er muß V 2 er muß (Endverb) V 3
341
Da wir uns in der vorliegenden Untersuchving nur auf die vier lexikalischen Grundelemente Substantive, Verben, Präpositionen und Konjunktionen sowie auf die syntaktischen Strukturen als Ganze konzentrieren wollten, haben wir bei der nachfolgenden Auswertung und Interpretation der Versuchsresultate die Artikel \ind Pronomen nicht gesondert berücksichtigt, d.h. daß wir bei den korrekten ebenso wie bei den Fehlleistungen der Patienten die Auslassungen, Substitutionen, falschen Verwendungen usw. der Artikel und Pronomen (z.B. eine Reise statt die Reise, es bleibt statt er bleibt usw.) vernachlässigten. Die Versuchsreihen wurden in verschiedenen Zeitabständen durchgeführt (mindestens 3 Tage Intervall zwischen den Versuchsreihen). Übungseffekte wurden durch experimentell abgesicherte Verfahren (Alternierung der Reihen von Einzelwörtern, von syntaktischen Strukturen und von Sprachmodalitäten) vermieden. Ein- und dasselbe Substantiv wird isoliert (Sj) bzw. in einer syntaktischen Struktur, bestehend aus Präposition und Substantiv (Sg) und in einer aus Anfangssubstantiv, Präposition und Endsubstantiv zusammengesetzten syntaktischen Struktur nachgesprochen, gelesen und nach Diktat geschrieben (Sg). Das gleiche gilt auch für die Verben: ein und dasselbe Verb wird isoliert (V j) bzw. in syntaktischen Strukturen, die sich entweder nur aus Konjunktion und Verb (Vg) oder aus Anfangsverb, Konjunktion und Endverb zusammensetzen (Vg), dargeboten. Ein und dieselbe Präposition bzw. Konjunktion wird ebenfalls isoliert bzw. in syntaktischen Strukturen geboten (Pj, Pg, Pg bzw. Kj, Kg, Kg). In Fig. 3 wird der Versuchsplan an einem konkreten Beispiel demonstriert. Auf jeden Patienten entfielen: 120 isolierte lexikalische Einheiten je Sprachmodalität (Nachsprachen, Lautlesen, Diktatschreiben usw.) 360 isolierte lexikalische Einheiten insgesamt (bei den 3 Sprachmodalitäten) 80 syntaktische Strukturen je Sprachmodalität 240 syntaktische Strukturen insgesamt (bei den 3 Sprachmodalitäten) 342
11520 Wörter insgesamt (Einzelwörter und Satzwörter) 600 Versuche je Patient 7200 Versuche bei sämtlichen Patienten.
3.
Ergebnisse der Untersuchung von Reproduktionsleistungen auf psycholinguistischer und neuropsychologischer Ebene
3.1.
Psycholinguistische Ebenen
3.1.1. Lexikalische Einheiten: Substantive, Verben, Präpositionen, Konjunktionen Bei der Zusammenstellung unserer Ergebnisse sind wir von der von den Aphasiologen und Psycholinguisten bevorzugten Zuordnung der lexikalischen Einheiten einerseits zur lexikalischen Hauptkategorie (in unserer Untersuchung sind es die Substantive und Verben), andererseits zur lexikalischen Nebenkategorie (zu den Funktionswörtern: Präpositionen und Konjunktionen) ausgegangen. 3.1.1.1. Bewertung der Leistungen Die Leistungen der Patienten wurden in folgender Weise klassifiziert: Positive Leistungen, d.h. Fälle, in denen die betreffenden Einheiten völlig korrekt reproduziert wurden; negative Leistungen, d.h? Ausbleiben der Antworten von Seiten der Patienten; inadäquate Leistungen; diese teilen wir wie folgt ein: a) Substitutionen. Ein Wort wird vom Patienten durch ein anderes ersetzt und dadurch die Wortbedeutung verändert. Zum Beispiel: Statt Fluß wird See gelesen oder statt um wird für nachgesprochen. Im syntaktischen Kontext können durch die Substitutionen die semantische und die syntaktische Ebene unabhängig voneinander oder gemeinsam gestört sein. 343
- Semantische Fehlleistungen« Beispiele: Statt die Blumen in der Vase wird die Rosen in der Vase, oder statt er ißt und trinkt, er ißt oder trinkt gelesen, geschrieben oder nachgesprochen. Da die syntaktische Konstruktion mit dem vorgegebenen Muster übereinstimmt, - wird durch die Substitutionen nur die Bedeutung der betreffenden Wörter beeinträchtigt. - Syntaktische Störungen infolge lexikalischer Substitutionen. Beispiel: Statt er fragt, obwohl er weiß - er fragt, trotz er weiß. Der Sinn bleibt erhalten, es wird aber z. B. gegen eine syntaktische Regel wie: nach trotz folgt immer ein Substantiv und kein Verb, verstoßen, wodurch eine in der deutschen Sprache nicht verwendbare Konstruktion entsteht. - Semantisch-syntaktische Störungen. Zum Beispiel: Statt er klopft, bevor er öffnet - er klopft, sondern er öffnet. Die Bedeutung des Satzes ist verändert, und gleichzeitig bleibt die syntaktische Regel: sondern wird immer mit nicht verwendet (nicht . . . , sondern), unbeachtet; dadurch entsteht eine inadäquate syntaktische Konstruktion. b) Omissionen. Innerhalb der syntaktischen Strukturen können ein oder mehrere Wörter ausgelassen werden. Zum Beispiel: Statt er bleibt, weil er muß wird er b l e i b t . . . er muß, statt die Laterne an der Ecke wird die . . . der Ecke gelesen usw. Die Omissionen verursachen im syntaktischen Kontext Störungen semantischer und syntaktischer Art, das Fehlen von einem oder zwei Wörtern beeinträchtigt beide Ebenen gleichzeitig. Sofern die isoliert gebotenen Wörter von den Patienten überhaupt nicht r e produziert werden, sprechen wir von negativen Leistungen, d.h. völliges Ausbleiben jeglicher Antwort (Fig. 4). Die Omissionen einzelner Wörter im Kontext haben wir gesondert ausgewertet (Fig. 4). c) Morphologische Fehler. Falsche Flexions- oder Artikelformen usw. Zum Beispiel: Statt er hofft, daß er singt schreibt ein Patient nach Diktat: er hofft, daß singen, oder statt der Dank für das Geschenk spricht ein Patient nach: Oer Dank für den Geschenk usw. d) Phonemische bzw. graphemische Fehler. Die phonologische bzw. graphemische Struktur der Wörter kann von den Aphatikern infolge des Bestehens 344
von Literal (Buchstaben-)-paraphasien, -paralexien- oder -paragraphien v e r ändert werden. Zum Beispiel: Statt Garten wird Baten, statt neben wird negen nachgesprochen, statt Laterne wird Larter nach Diktat geschrieben usw. e) Nichtspezifische Leistungen. Diese liegen in den Fällen vor, in denen die Reaktion des Patienten keinen Bezug zum angebotenen Stimulus hat. Zum Beispiel liest ein Patient statt damit er kommt lediglich ich. Die von uns vorgenommene Einteilung der inadäquaten Leistungen nähert sich der von Alajouanine et al. (1964) und Tissot (1966). Diese Autoren unterscheiden 2 Typen von Paraphasien: 1. phonemische, d.h. Veränderungen der phonemischen Wortstruktur, 2. semantische, d.h. Substitutionen (s.o.). Ähnliche Einteilungen finden sich auch bei Goldstein (1948). 3 . 1 . 1 . 2 . Globale Ergebnisse bei der Reproduktion lexikalischer Einheiten In Fig. 4 werden auf Grund der dargelegten Bewertungskriterien der Leistungen die globalen Ergebnisse bei der Reproduktion aller lexikalischen Einheiten unabhängig davon, ob sie als Einzelwörter oder als syntaktische Grundelemente geboten wurden, bei den drei geprüften Sprachmodalitäten zusammengefaßt. Positive Leistungen:
3 Aus Fig. 4 ist ersichtlich, daß bei den Substantiven die signifikant größte Anzahl von positiven Leistungen bei allen 3 Sprachmodalitäten registriert wurde. Eine geringere Anzahl von korrekten Leistungen ist bei den Präpositionen und Konjunktionen zu verzeichnen. Zur Bewertung des Verbs gegenüber den lexikalischen Einheiten der Nebenkategorie (Präpositionen und Konjunktionen) müssen noch zusätzliche Faktoren berücksichtigt werden, auf die wir später eingehen. Inadäquate Leistungen: Substitutionen und Omissionen finden sich häufiger bei den Präpositionen und Konjunktionen als bei den Substantiven und Verben (die Unterschiede sind signifikant).
345
Fig. 4 Globale prozentuelle Antworthäufigkeiten der Patienten beim Nachsprechen, Konjunktionen Leistungen der
Patienten Positive
Sprachmodalitäten
Negative und nicht spezifische
S V P K n= n= n= n= 1200 1200 720 720
S V P K n= n= n= n= 1200 1200 720 720
Substitionen S V P K n= n= n= n= 1200 1200 720 720
Nachsprechen
82
76
72
62
3
1
3
2
2
5
14
21
Lautlesen
79
65
61
55
3
7
7
7
7 14
17
22
Diktatschreiben
56
34
42
30
6
19
8
17
6
30
28
13
Legende: S V P K
: Substantive : Verben : Präpositionen : Konjunktionen Die Häufigkeit der phonemischen bzw. graphemischen Fehlleistungen bei
der Reproduktion der Wörter steht in umgekehrtem Verhältnis zu der Häufigkeit der Substitutionen; es treten in dieser Hinsicht signifikant mehr Fehler bei den Substantiven und Verben als bei den Präpositionen und Konjunktionen auf. Hinsichtlich der negativen und nicht spezifischen Leistungen ebenso wie der morphologischen Entstellungen der Wörter zeigen sich keine durchgehenden signifikanten Unterschiede zwischen den einzelnen Wortkategorien. Zusammengefaßt stellt sich das Verhältnis zwischen den 4 Wortklassen bezogen auf die 3 Sprachmodalitäten folgendermaßen dar:
346
Lautlesen und Diktatschreiben bei allen Substantiven, Verben, Präpositionen,
Phonemischgraphemisch
Omissionen
Morphologische
S V P n= n= n= 1200 1200 720
K n= 720
S V P n= n= n= 1200 1200 720
K n= 720
P S V n= n= n= 1200 1200 720
2
3
8
11
9
10
3
4
2
5
-
-
2
3
13
11
7
6
2
5
2
5
-
-
2
4
6
9
23
22
12
14
7
8
2
2
K n= 720
Positive Leistungen: S > V > P > K beim Nachsprechen und Lautlesen S > V < P > K beim Diktatschreiben Substitutionen und Omissionen:
S
"
V
P = K
Vergleiche zwischen isoliert und im Kontext gebotenen lexikalischen Einheiten (positive Leistungen, Substitutionen und Omissionen)
Für die Analyse der semantisch-syntaktischen aphasischen Störungen betrachten wir lediglich die positiven Leistungen sowie die Substitutionen und Omissionen als aussagekräftig. Die Analyse der einzelnen morphologischen Fehler würde uns von unserem Anliegen entfernen, das gleiche gilt für die phonemisch-graphemischen Fehlleistungen, die keinen direkten Zusammenhang mit den syntaktischen Faktoren haben, sondern auf Schwierigkeiten der Realisierung phonologiseher bzw. 4 graphemischer Strukturen zurückzuführen sind. 347
In den weiteren Ausführungen beziehen wir uns auf die Anzahl der korrekten Realisierungen (positive Leistungen) bei der lexikalischen Hauptkategorie und der lexikalischen Nebenkategorie (Funktionswörter) wie auch auf die Substitutionen und Omissionen. Positive Leistungen (Fig. 5) a) Vergleich zwischen den lexikalischen Einheiten der Hauptkategorie und denen der Nebenkategorie bei isolierter und kontextgebundener Darbietung. Bei isolierter Darbietung werden die Substantive und Verben besser r e produziert als die Präpositionen und Konjunktionen (signifikante Unterschiede beim Gesamtergebnis). Bei kontextgebundener Darbietung werden ebenfalls die Substantive und Verben in signifikanter Weise besser realisiert als die Präpositionen und Konjunktionen. Fig. 5 Prozentuale Werte der positiven Leistungen bei den lexikalischen Einheiten der Haupt- und Nebenkategorie isoliert und im syntaktischen Kontext Funktionen
Sj Vj
Sg Vg
P j Kj
Pg Kg
Nachsprechen
85
74
84
48
Lautlesen
74
73
64
57
Diktatschreiben
45
42
40
28
Gesamtergebnis bei den 3 Funktionen
68
63
62
44
Legende: Sj V^: lexikalische Hauptkategorie (Substantive und Verben) isoliert S V : lexikalische Hauptkategorie (Substantive und Verben) 3 3 im Kontext P K : lexikalische Nebenkategorie (Präpositionen und Konjunktionen) 1 1 isoliert P K : lexikalische Nebenkategorie (Präpositionen und Konjunktionen) 3 3 im Kontext
348
b) Vergleich zwischen der isolierten und der kontextgebundenen Reproduktion lexikalischer Einheiten der Hauptkategorie; Vergleich zwischen der Reproduktion der isolierten und der kontextgebundenen lexikalischen Einheiten der Nebenkategorie. Substantive und Verben werden bei isolierter Darbietung in geringem Maße besser als im Kontext wiedergegeben. Bei den Präpositionen und Konjunktionen ist die Anzahl der korrekten Leistungen signifikant größer bei isolierter als bei kontextgebundener Darbietung, und zwar auf allen 3 Kanälen (Fig. 5). 5 Substitutionen und Omissionen (Fig. 6) a) Vergleich zwischen den lexikalischen Einheiten der Hauptkategorie und denen der Nebenkategorie bei isolierter und kontextgebundener Darbietung. Bei isolierter Darbietung treten mehr Substitutionen und Omissionen bei den Wörtern der Nebenkategorie auf als bei denen der Hauptkategorie. Die Unterschiede sind signifikant. Bei kontextgebundener Reproduktion der lexikalischen Einheiten der Haupt und Nebenkategorie besteht der gleiche Unterschied. Fig. 6 Prozentuale Werte der Substitutionen und Omissionen bei den lexikalischen Einheiten der Haupt- und Nebenkategorie isoliert und im syntaktischen Kontext Funktionen Nachsprechen Lautlesen Diktats chreiben Gesamtergebnis bei den 3 Funktionen
S
1 V1
S
3
12
16 18 12
3V3
P
l*i
P
S*3
10
47
16
27
37
12
41
51
13
26
45
Legende: S^V^: lexikalische Hauptkategorie (Substantive und Verben) isoliert S„V„: lexikalische Hauptkategorie (Substantive und Verben) im Kontext P j K j : lexikalische Nebenkategorie (Präpositionen und Konjunktionen) isoliert PgKg: lexikalische Nebenkategorie (Präpositionen und Konjunktioneil) im Kontext 349
b) Vergleich zwischen der isolierten und der kontextgebundenen Reproduktion lexikalischer Einheiten der Hauptkategorie. Vergleich zwischen der isolierten und der kontextgebundenen Reproduktion lexikalischer Einheiten der Nebenkategorie: Bei Substantiven und Verben ergibt sich kein einheitliches Bild in bezug auf die Substitutionen und Omissionen isoliert und im Kontext; lediglich beim Nachsprechen sind signifikant mehr Substitutionen und Omissionen im Kontext feststellbar als bei der isolierten Darbietung, beim Diktatschreiben zeichnet sich eine ähnliche Tendenz ab. Bei den Präpositionen und Konjunktionen sind die Unterschiede durchweg signifikant: Im Kontext sind die Substitutionen und Omissionen erheblich zahlreicher als bei der isolierten Darbietung (Fig. 6). Zusammengefaßt ergibt sich bezüglich der lexikalischen Einheiten folgendes Bild: Positive Leistungen
S
3V3>P3K3
Substitutionen und Omissionen S
1V1
X
Ln < X
Ln < X
Nachsprechen
SV
P K , SAVAS, SV, P K , VA K A V SAVAS
Lautlesen
SV, PK, SA P A S , VA K A V
SV, PK, SAVAS, VA K A V
Diktatschreiben
SV, PK, S A P A S,
SV, PK, SAVAS,
VA
KAV
Legende Ln: Leistungsniveau X Durchschnittswert In Fig. 17 haben wir eine Gruppierung, ausgehend von der bei den einzelnen Patienten nachweisbaren Selektivität der Störungen ihrer Reproduktionsleistungen in neuropsycholQgischer und psycholinguistischer Hinsioht vorgenommen. 365
Fig. 17 Das Leistungsniveau auf lexikalischer und syntaktischer Ebene bei Gruppen von Patienten beim Nachsprechen, Lesen und Diktatschreiben a) Pat. 4, 5, 12: g m m
Nachsprechen
Pat. 1 , 4 , 8 , 9 , 1 0 , 1 1 : ms s s s s
Lautlesen
Pat. 8, 9, 11: s s s
Diktatschreiben
b) Pat. 11, 10: s Pat. 2, 3, 6, 7: s g m m Pat. 1 , 2 , 3 , 6 , 4 , 1 0 : ms gmg s c) Pat. 12, 10: m s d) Pat. 8, 1, 2, 11: s m s s Pat. 5 m
e) Pat. 3: g Pat. 12: m Pat. 5, 7: m m
f) Pat. 9: s
366
Nachsprachen
SV
Lautlesen
PK
Diktatschreiben
SA P A S VA K A V
Diktatschreiben
Nachsprechen
Lautlesen
Nachsprechen Lautlesen Diktatschreiben
Nachsprechen
VAKAV
Legende zu Fig. 17 SV:
Substantive und Verben
PK:
Präpositionen und Konjunktionen
SPS V KV
syntaktische Strukturen
m: s: g:
motorische Aphasie sensorische Aphasie gemischte Aphasie Leistungsniveau über den Durchschnittswert Leistungsniveau unter den Durchschnittswert
Aus der Fig. 17 kann man folgendes entnehmen: a) Bei einigen Patienten liegt das Leistungsniveau der positiven Leistungen auf einem oder auf zwei Kanälen, alle positiven Leistungen unter oder Uber dem Durchschnittswert (a, b). Bei einer Reihe Patienten figuriert auf einem Kanal das Leistungsniveau der positiven Leistungen der lexikalischen Hauptkategorie Uber, hingegen das Niveau der anderen linguistischen Ebenen unter dem Durchschnittswert (c). Es gibt einige Fälle, bei denen auf einem Kanal das Leistungsniveau der lexikalischen Haupt- und Neberikategorien Uber und die der syntaktischen Strukturen unter dem Durchschnittswert rangiert (d). Schließlich liegt bei einigen Patienten das Leistungsniveau der lexikalischen Haupt- und Nebenkategorien und einer der beiden syntaktischen Strukturen über und das der zweiten syntaktischen Struktur unter dem Durchschnittswert ( e , f). E s gibt lediglich zwei Fälle (Pat. 6 und 7), bei denen sich beim Nachsprechen die positiven Leistungen in bezug auf eine syntaktische Struktur über und alle anderen Leistungen unter dem Durchschnittswert befinden. Dies erklärt sich dadurch, daß die positiven Leistungen bei den lexikalischen Einheiten durch die große Anzahl phonemischer und graphemischer Fehlleistungen sehr stark verringert waren. Eine syntaktische Struktur haben wir jedoch auch dann positiv bewertet, wenn z. B. anstelle von "der Dank für das Geschenk" literalparaphasisch "der Pank für das Geschent" nachgesprochen wurde. Auf diese Weise registrierten wir hierbei eine größere Anzahl positiver Leistungen als bei den lexikalischen Einheiten.
367
b) E s ergeben sich keine Unterschiede zwischen den Patienten mit sensorischer, motorischer oder gemischter Aphasie in bezug auf eine vermutlich einheitliche linguistische und neuropsychologische Selektivität der Störungen. Wie aus Fig. 17 ersichtlich, kommen alle oben genannten Varianten im Falle der 3 Aphasietypen vor; d. h. die von uns auf Grund der aphasiologischen Untersuchungen vorgenommenen Gruppierungen der Patienten gemäß der klassischen Einteilung in motorische, sensorische und gemischte Aphasie stimmen nicht mit den Gruppierungen überein, die sich aus unseren Versuchen ergeben. Wir haben weiterhin auf der Grundlage des Leistungsniveaus eine Analyse der Realisierung der syntaktischen Strukturen vorgenommen mit dem Ergebnis, daß bei 11 von 12 Patienten mindestens auf einem Kanal Leistungen auf syntaktischer Ebene gleich dem Durchschnittswert oder über diesen hinaus zu verzeichnen waren. In Fig. 18 wird das syntaktische Leistungsniveau, das gleich dem Durchschnittswert (s. Fig. 13) oder höher als dieser war, bei einzelnen Patienten auf den unterschiedlichen Kanälen dargestellt. Aus Fig. 18 ist ersichtlich, daß solche Werte bei 11 Patienten auf einem oder zwei, in einem Fall sogar auf allen drei Kanälen (Pat. 9) festgestellt wurden. Zusammengefaßt: Die neuropsychologische und psycholinguistische Selektivität der Störungen drückt sich in der partiellen Beeinträchtigung der r e p r o duktiven Funktionen und der lexikalischen Einheiten sowie der syntaktischen Strukturen aus. E s besteht, wie bemerkt, keine Übereinstimmung zwischen dem Zusammenspiel dieser beiden Ebenen und der Aphasieform (sensorisch, motorisch, gemischt).
368
Fig. 18 Das Leistungsniveau auf syntaktischer Ebene bei einzelnen Patienten Anzahl der Sprachmodalitäten
S A P A S - positive Leistungen
VA
LautDiktatNachsprechen lesen schreiben LnS 45% L n é 55% Ln=£20%
LautDiktatNachsprechen lesen schreiben L n à 3 2 % Ln&12% L n ä l 2 %
Eine
Pat. 3 Pat. 6
Zwei
Drei
Pat. 4 Pat. 12 Pat. 5
Pat.
9
KAV
Pat. 1 Pat. 10 Pat. 4 Pat. 12
Pat. 1 Pat. 10
Pat. 8 Pat. 11
Pat. 5 Pat. 8 Pat. 11 Pat. 7
Pat.
Pat.
9
- positive Leistungen
9
Pat. 4 Pat. 12 Pat. 5 Pat. 7
Pat. 4 Pat. 12 Pat. 8 Pat. 11
Pat. 8 Pat. 11
Pat.
Pat.
9
9
Legende Ln = Leistungsniveau
3. 2. 3. Qualitative Analyse der selektiven Störungen und Beispiele a)Die geringe Prozentzahl der positiven reproduktiven Leistungen bei einem einzigen von den 12 Patienten benötigt folgende gesonderte Interpretation: Pat. 2 (We) hatte eine schwere sensorische Aphasie (verbo-auditive und verbomotorische Störungen) und eine ausgeprägte rezeptive und expressive Alexie. Auf Grund ihrer selektiven Sprachverständnisstörungen reproduzierte die Pat. We im Vergleich zu den angebotenen Stimuli inadäquate Syntagmen; dennoch läßt ein Teil der inadäquaten Leistungen die Fähigkeit der Patientin erkennen, syntaktische Strukturen auf der Grundlage der Wirksamkeit syntaktischer und semantischer Regeln zu bilden.
369
Beispiele von Nachsprechleistungen der Pat. We Vorgesprochen:
Von der Patientin nachgesprochen:
E r fragt, obwohl er weiß
Er weiß aber fragt
E r klopft, bevor er öffnet
Er klopft aber öffnet
E r sagt, ob er kann
E r sagt oder er kann
Die Brücke über dem Fluß
Die Brücke über See
Der Rasen zwischen den Häusern
Der Rasen und Häuser
Beim Lesen läßt die Patientin oft bei einer Reihe von Syntagmen Teile aus, die sie nicht erfassen und verarbeiten kann. In anderen Fällen identifiziert sie auf Grund ihrer rezeptiven alexischen Störungen selektiver Art nur ein Wort oder ein Segment eines Wortes. Auf dieser Basis substituiert sie das entsprechende Wort und assoziiert weiter frei. Dabei entstehen syntaktische Strukturen, die zwar total entfernt von dem angebotenen Modell, aber dennoch vom Standpunkt der Anwendung der semantischen und syntaktischen Regeln annehmbar bzw. korrekt sind. Beispiele von Leseleistungen der Pat. We Schriftlich vorgelegt:
Von der Patientin gelesen:
Das Hotel gegenüber dem Bahnhof
Der Kellner trägt Teller
Die Reise um die Welt
Der Reis schmeckt gut
Der Besuch bei der Schwester
Bruder und Schwester
Bei dem ersten vorgelegten Syntagma: Das Hotel gegenüber dem Bahnhof
er-
faßt die Patientin des Wort Hotel, substituiert es durch das semantisch verwandte Wort Kellner und liest den Satz Der Kellner trägt Teller - syntaktisch und semantisch vollkommen korrekt, aber ohne Bezug zum ursprünglichen Stimulus. Im zweiteh Fall identifiziert die Patientin das Segment Rei, liest auf dieser Grundlage Reis und konstruiert frei weiter den korrekten Satz: Der Reis schmeckt gut. Beim dritten Beispiel, wahrscheinlich auf Grund der Identifizierung des Wortes Schwester wird aus dem Langzeitspeicher das Wort Bruder (der auch eine gewisse phonologische Ähnlichkeit mit Besuch hat) abgerufen und auf diese Weise frei, aber korrekt Bruder und Schwester konstruiert. 370
Diese gesonderte Analyse soll den indirekten Nachweis erbringen, daß auch dann, wenn bei der Pat. 2 die meisten reproduzierten syntaktischen Strukturen mit der gebotenen Vorlage in keinem objektiven Zusammenhang stehen, die Art, wie sie konstruiert sind, dennoch die Wirksamkeit syntaktischer-semantischer Regeln demonstriert. b) Die nachfolgenden Beispiele sollen veranschaulichen, wie vielschichtig das Problem der neuropsychologischen und psycholinguistischen Selektivität der Störungen bei der Reproduktion syntaktischer Strukturen ist. 7 Beispiele von dargebotenen Vorlagen und reproduktiven Leistungen: Er läuft, ohne zu stürzen Pat. 8: Nachsprechen: Er läuft oder er stürzen Lautlesen:
korrekt
Diktatschreiben: Der Kampf gegen den Hunger Pat. 7: Nachsprechen: Hunger Lautlesen: Kampf . . . Hunger D ikta ts ehr e ibe n:
Er geht, dennoch schimpft er Pat. 1: Nachsprechen: Er geht sondern schimpft Lautlesen: korrekt Diktats ehr e ibe n:
371
Die Brücke über dem Fluß
Pat. 2: Nachsprechen:Die Brücke über See Lautlesen:
Die Büsten hängen
Diktatschreiben: Das erste Beispiel: Bei der Pat. 8 (sensorische Aphasie) war die auditive Inputkomponente, das Wort- und Satzverständnis partiell gestört; daraus resultieren die lexikalischen und syntaktischen Fehlleistungen beim Nachsprechen und Diktatschreiben. Hingegen ermöglichte der intakte verbo-optische Input, daß beim Lautlesen korrekte Leistungen sowohl in lexikalischer als auch syntaktischer Hinsicht erbracht werden konnten. Das nächste Beispiel zeigt, daß Pat. 7 auf Grund seiner schweren motorischen Aphasie erhebliche Schwierigkeiten in bezug auf die Outputkomponente des Nachsprechens und Lautlesens bzw. bei der verbo-motorischen Realisierung der syntaktischen Struktur hatte. Besonders aufschlußreich ist sein Verhalten beim Diktatschreiben: Er schreibt zuerst Kampfe . . . Hunger (für ihn sind dies die "Säulen" der Konstruktion) und fügt nach langem Suchen und Überlegen das Wort gegen zwischen den beiden hinzu, um zum Schluß den Artikel die vor das Wort Kampfe zu setzen. Wenn man dies mit den Leistungen auf den beiden anderen Kanälen vergleicht, sieht man, daß, wenn er beim Diktat nach einem langen Prozeß zum (graphischen) Produzieren von gegen gekommen ist, ihm dies bei den anderen Funktionen nicht gelingt: er spricht nach Hunger und liest: Ampf . . . Hunger. Diese Diktatleistung erweist die Möglichkeit des Patienten, die syntaktische Struktur nachzuvollziehen, obwohl er infolge seiner phonetisch-artikulatorischen Beeinträchtigungen diese Struktur nur bruchstückhaft nachsprechen und lautlesen konnte. Bei dem weiteren Beispiel zeigt sich auch bei der Patientin 1 (motorisch), daß die Möglichkeit des syntaktischen Nachvollzugs vorhanden ist: Der Satz
372
wurde korrekt laut gelesen; beim Nachsprechen ist die Leistung "syntaktisch erkennbar"
M). Interessant scheint uns die Reproduktion beim Diktatschrei-
ben: Aus dem Satz er geht, dennoch schimpft e r sind von den beiden Verben nur noch einige Phonemreste übriggeblieben: "h" von geht, "sch" von schimpft, das Komma als orthographisches Merkmal des Satzes ist auch da, ein Platz ist f r e i für die Teile der fehlenden Verben und für die Konjunktion. Dies be deutet: Etwas ist dennoch vorhanden und zwar das graphische Schema des Satzes. Trotz dieser "Satzscherben" kann man eine gewisse innere R e p r ä s e n t a tion des Satzes noch erkennen, obwohl seine grapho-motorische Realisierung bei fragmentarischen Andeutungen steckenblieb. Das letzte Beispiel zeigt ebenfalls bei der Patientin 2 (sensorisch) die F ä higkeit, beim Lautlesen syntaktisch erkennbare Leistungen zu produzieren, im Gegensatz zu den Leistungen auf den anderen beiden Kanälen.
4. Diskussion
Unsere Ergebnisse zeigen die neuropsychologische und psycholinguistische Vielschichtigkeit und Komplexität der den reproduktiven Leistungen zugrunde liegenden Prozesse. Einerseits sind es die linguistischen Strukturen, die unterschiedlich verarbeitet werden, andererseits sind die Transkodierungsprozesse verschiedenartig gestört, und vor allem ist das gesamte Bild u n s e r e s Resultats durch die mannigfaltigen Verflechtungen zwischen diesen v e r s c h i e denen Faktoren geprägt. E s stellt sich die Frage, ob über die nahezu v e r w i r rende Vielfalt von Erscheinungen hinaus sich bestimmte Gesetzmäßigkeiten bzw. Regularitäten herauskristallisieren. Aus systematischen Gründen lösen wir zunächst in der nachfolgenden Diskussion aus dieser Vernetzung bestimmte Aspekte psycholinguistischer und neuropsychologischer Art heraus, um zum Schluß deren untrennbare Interdependenz aufzuzeigen.
373
4.1.
Psycholinguistische Aspekte
4.1.1.
Reproduktion lexikalischer Einheiten
In der Aphasieforschung wie auch in psycholinguistischen Arbeiten gibt es eine Reihe Untersuchungen und Feststellungen über das unterschiedliche Verhalten der Patienten gegenüber den verschiedenen Wortkategorien. Auf dieses unterschiedliche Verhalten wiesen bereits die Klassiker der Aphasieforschung vor mehr als 100 Jahren hin. So schreibt Wer nicke (1874), daß Arnold Pick bei der Erforschung des von ihm "Agrammatismus" genannten Syndroms eine Sprachstörung beschrieben hat, "bei der nur die wesentlichen Teile des Satzes ohne Bindewörter, Beziehungswörter und ohne Flexionen gebraucht werden" (S. 554). Damit meint Wernicke die Verwendung von nicht flektierten Substantiven und nichtkonjugierten Verben und die Auslassungen von Konjunktionen, Präpositionen, Artikel usw. im Falle von Agrammatismus. Auf A. Picks Konzeption über den Agrammatismus aufbauend, die er in seinem späteren Werk "Die agrammatischen Sprachstörungen. Studien zur psychologischen Grundlegung der Aphasie lehre11 (1913) auf breiter neurologischer und linguistischer Ebene dargelegt hat, untermauerten bedeutende medizinische Hirnforscher wie Goldstein (1913, 1948), Isserlin (1922) u.a. ihre Auffassungen über agrammatische Störungen. Den scharfen Blick dieser und anderer Aphasiologen entging nicht, daß von den Störungen des Wottverständnisses und der Wortproduktion nicht alle Wortkategorien in gleicher Weise betroffen sind. "Angesichts dieser die Natur der Wörter betreffenden grundlegenden Differenzen", schreibt Pick (ib.), "erscheint schon von vornherein die B e rechtigung fraglich, alle Wörter als etwas Einheitliches, Gleichmäßiges, dem zerstörenden Einfluß der Krankheiten gegenüber anzusehen. " (S. 167). Bei der Analyse der Schwierigkeiten, die die Aphatiker bei der Verwendung der verschiedenen Wortklassen in ihrer Spontansprache aufweisen, gelangt Pick zu der Einteilung in a) benennende und demonstrierende Wörter, die einzelnen Vorstellungen oder deren Teilen entsprechen, und b) untergeordnete, verhältnisbezeichnende Wörter, die Beziehungen (auch zeitliche) der Vorstellung untereinander oder Beziehungen zum Sprecher herstellen (ib.). 374
Diese von Pick entwickelte Einteilung wurde bis in die neuere Zeit von v e r schiedenen Autoren berücksichtigt und durch unterschiedliche Klassifizierungsbezeichnungen der beiden linguistischen Wortkategorien bereichert. Wir geben nachfolgend einige Beispiele: Pick (1913)
Benennende, demonstrierende Wörter
Untergeordnete, Verhältnis bezeichnende Wörter
Vendries (1939)
Volle Wörter (mots pleines)
Leere Wörter (mots vides)
Giraud (1954)
Kräftige Wörter (mots forts)
Nützliche Wörter (mots utiles)
Zipf (1956)
Begriffliche Wörter
Artikulatorische Wörter
Jakobson (1964)
Unabhängige Wörter
Abhängige Wörter
Miller (1965)
Wörter mit größerem Informationsgehalt, weniger kontextabhängig
Wörter mit schwächerem Informationsgehalt, kontextabhängige Funktionswörter (functional words)
Marshall und Wörter der grammatischen Newcombe (1966) Hauptkategorie (major grammatical class)
Funktionswörter
Kreindler (1968)
Vorstellbare, begriffliche Wörter
Operationelle, relationale Wörter
Weigl, E . , und Bierwisch (1970)
Semantisch stark determinierte Wörter (lexikalische Hauptkategorie)
Semantisch schwach determinierte, kontextabhängige Wörter (lexikalische Nebenkategorie)
Eine besonders instruktive, allgemeine Charakterisierung der "Funktionswörter" als geschlossene Klasse findet sich bei Goodglass (1968), der folgende Tatsachen hervorhebt: - die hohe Frequenz der Verwendung dieser Wörter, - ihre phonetisch relativ leichte Realisierbarkeit (meist sind sie einsilbig), - ihre begrenzte Anzahl (z. B. im Vergleich zu den Substantiven), die dennoch ausreicht, um sie bei der Bildung einer unbegrenzten Menge von Sätzen in effizienter Weise einsetzen zu können. 375
Systematische Untersuchungen über das unterschiedliche Verhalten der Aphatiker gegenüber den zwei Wortklassen wurden meistens auf dem Gebiet der Alexie bei der Vorlage von isolierten Wörtern durchgeführt. M. Marshall und Newcombe (1966) und M. Marshall, Newcombe und J . C . Marshall (1969) konnten nachweisen, daß im Falle eines Patienten (Kriegs-Hirnschuflverletzung) mit weitgehend restituierter, ursprünglich totaler Aphasie, jedoch ausgeprägt weiterbestehender Alexie und Agraphie, die alexischen Fehlleistungen beim Lautlesen von etwa 1000 Wörtern hauptsächlich die Kategorie der Funktionswörter und in weitaus geringerem Maße die der Substantive, Adjektive und Verben betrafen. R. Böttcher (1973 und in diesem Band) kam auf Grund der Untersuchung von Alexiefällen zu dem Ergebnis, daß das Lautlesen dieser Kranken eindeutig von der Zugehörigkeit der vorgelegten Wörter zu der lexikalischen Haupt- bzw. Nebenkategorie bestimmt war, wobei die Substantive signifikant besser als die "Funktionswörter" gelesen wurden. Über das unterschiedliche Verhalten der Patienten mit Alexie gegenüber den isoliert dargebotenen lexikalischen Einheiten der zwei verschiedenen Wortklassen berichten auch Böttcher, Metze und I. Weigl (1969) sowie E. Weigl und Bierwisch (1970), Böttcher (in diesem Band) u . a . Dies läßt sich auch auf Grund der Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung, die Uber die Lexie hinaus auch das Nachsprechen und das Diktatschreiben einbezogen hat, nachweisen. Da die Präpositionen und der größte Teil der Konjunktionen eine extrem einfache phonologische und graphemische Struktur besitzen, wäre zu erwarten gewesen, daß die Realisierung dieser Wörter in unseren Versüchen weniger Schwierigkeiten bereitet als die Reproduktion der lexikalischen Einheiten, die komplizierter auszusprechen oder zu schreiben sind und einen längeren Zeitaufwand erfordern. Das Nachsprechen, das Lautlesen oder das Diktatschreiben eines Wortes wie "an" z. B. muß erwartungsgemäß leichter sein als eines Wortes wie "Fahrstuhl" oder "klopft". Dieser Umstand kommt tatsächlich in den in Fig. 4 (s.S. 346) zusammengestellten Ergebnissen zum Ausdruck, indem durch die relativ große Häufigkeit der phonemisch-graphemischen und morphologischen Fehlleistungen die Anzahl der positiven Leistungen bei den Substantiven und vor allem bei den Verben mehr oder minder 376
stark verringert wird. Auf diese Weise kommt es insofern zu einer Verzerrung des Verhältnisses zwischen der Reproduktion der lexikalischen Einheiten der Haupt- und Nebenkategorie, als der semantisch-syntaktische Aspekt dieser Leistungen - ein Hauptthema der vorliegenden Arbeit - nicht voll sichtbar zu werden vermag. Daher ist es erforderlich, bei der Identifizierung der unterschiedlichen Störanfälligkeit der beiden Wortkategorien von den phonetischgraphemischen und morphologischen Faktoren zu abstrahieren. In diesem Sinne wird die Benachteiligung der Präpositionen und Konjunktionen gegenüber den Substantiven und Verben aus dem Vergleich der Anzahl der Substitutionen und Omissionen viel deutlicher als aus dem Vergleich der positiven Leistungen (dies muß auch im Hinblick auf die errechneten Durchschnittswerte der positiven Leistungen berücksichtigt werden. S. Fig. 13). Die Begründung für die relativ stärkere Position der Wörter der lexikalischen Hauptkategorie sehen die meisten Autoren in der ausgeprägteren Anschaulichkeit bzw. dem semantisch-begrifflich höheren Determiniertheits grad, in der geringeren Kontextabhängigkeit der Substantive, Verben, Adjektive bzw. Adverben. Demgegenüber wird in bezug auf die "kleinen" Wörter, deren fehlende Anschaulichkeit, ihr geringer semantisch-begrifflicher Bestimmtheitsgrad sop wie ihre große Kontextabhängigkeit hervorgehoben. So einleuchtend diese Charakterisierungen der beiden Kategorien auf den ersten Blick sein mögen, halten einige von ihnen dennoch einer tiefergehenden linguistischen Kritik nicht stand. Es ist keineswegs ausgemacht, daß Substantive und Verben mit abstrakterem Inhalt (z.B. Verzierung oder andauern) semantisch determinierter sind als etwa die Funktionswörter neben, und, kann, ist, ich usw. Ein wesentlich stichhaltigerer Unterschied dürfte in der Abhängigkeit bzw. Unabhängigkeit vom Kontext, in der Selbständigkeit bzw. Unselbständigkeit eines Wortes begründet sein, Eigenschaften, die vor allem von Jakobson (1964) hervorgehoben wurden und zu der Bezeichnung "Funktionswörter" bzw. "operationelle", "relationale" Wörter usw. geführt haben. Bereits in früheren Arbeiten haben wir auf der Grundlage von Experimenten bei deutsch- und rumänischsprachigen Aphatikern die linguistische Auffassung von der Bedeutung der Kontextabhängigkeit der Funktionswörter zum 377
Unterschied von der relativen Kontextunabhängigkeit der lexikalischen Hauptkategorie aufzeigen können. (Mihäilescu, I. Weigl, E . Weigl, Kreindler 1972, I. Weigl und Mihäilescu 1973, 1974, Kreindler, Mihäilescu, I. Weigl 1974). Aus diesen Untersuchungen ergaben sich folgende wesentliche Feststellungen: a) Die Benachteiligung der Einheiten der lexikalischen Nebenkategorie (Präpositionen und Konjunktionen) auf allen drei untersuchten Kanälen (Nachsprechen, Lautlesen, Diktatschreiben) zugunsten der Einheiten der lexikalischen Hauptkategorie (Substantive und Verben). b) Mit der Darbietung der Wörter im syntaktischen Kontext sinken bei den Präpositionen und Konjunktionen die positiven Leistungen und erhöhen sich die Substitutionen und Omissionen, während bei den Substantiven und Verben die Einbettung in den Kontext keinen wesentlichen Einfluß auf die Leistungen ausübt. In der vorliegenden Arbeit haben sich diese Ergebnisse in bezug auf die drei untersuchten reproduktiven Funktionen in vollem Umfang bestätigt so daß es sich erübrigt, darauf in unserer Diskussion gesondert einzugehen. Darüber hinaus untersuchten wir jedoch die Frage des Einflusses der syntaktischen Grundelemente, der syntaktischen Integrationsprozesse und der Wirksamkeit syntaktischer Regeln auf die Reproduktion unterschiedlich strukturierter Syntagmen bei unseren Aphatikern. Die Ergebnisse dieser Untersuchungen sollen nachfolgend erörtert werden.
4.1.2.
Reproduktion syntaktischer Strukturen
Die Leistungen der Patienten beim Nachsprechen, Lautlesen und Diktatschreiben von Sätzen lassen das Bestehen von Wechselwirkungen zwischen den syntaktischen Strukturen und deren Grundelementen erkennen. Dabei gehen wir davon aus, daß diese Grundelemente, die einzelnen Wörter, nicht lediglich linear miteinander verkettet sind, sondern hierarchisch gegliederte syntaktische Komplexe, Konstituenten, bilden.
378
a) B e i der erschwerten Verarbeitung der syntaktischen Strukturen SA PA S und V A K A V spielt, wie wir gezeigt haben, die Reproduktion der Wörter der lexikalischen Nebenkategorie eine entscheidende Rolle im Vergleich zu denen der Hauptkategorie: Der größte T e i l der Substitutionen und Omissionen entfällt dabei auf die Präpositionen und Konjunktionen (Fig. 10, S. 357). B e i der Interpretation dieser statistisch abgesicherten Feststellung können wir vorläufig nur bestimmte hypothetische Vorstellungen entwickeln. In linguistischer Hinsicht erfüllen die lexikalischen Einheiten der Nebenkategorie im Falle isolierter Darbietung die Funktion von Repräsentanten b e stimmter Wortklassen, wie Präpositionen, Konjunktionen usw., während sie bei kontextualer Einbettung der Aufgabe, syntaktisch relevante Verbindungen herzustellen, gerecht werden müssen. B e i der Reproduktion isoliert gebotener Präpositionen und Konjunktionen handelt es sich vermutlich vor allem um die Anwendung grammatisch-klassifikatorischer Regeln, indem bei Vorgabe des Wortes im Langzeitspeicher dessen Zuordnimg zu der betreffenden Wortkategorie im engeren (z. B . Präpositionen) oder weiteren Sinne (Nebenkategorie) erfolgt. Aus unseren Ergebnissen geht hervor, daß es bei diesen Zuordnungen zu Fehlselektionen (Substitutionen) innerhalb ein und derselben Wortklasse bzw. innerhalb der gesamten Kategorie der Funktionswörter kommen kann, (z. B . die Präpositionen an statt der Präposition für). Demgegenüber scheint die Annahme vertretbar, daß die Reaktivierung eines Funktionswortes im Kontext unter qualitativ anderen Bedingungen vor sich geht. Wie bemerkt, erfordert das sinngemäße Nachsprechen, Lautlesen bzw. Diktatschreiben vorgegebener syntaktischer Strukturen mehr als die sukzessive Abrufung langzeitgespeicherter lexikalischer Einheiten. Vielmehr setzt ein syntaktischer Nachvollzug das Wirksamwerden der betreffenden semantischsyntaktischen Regeln voraus, die dem Aufbau des betreffenden Syntagmas oder Satzes zugrundeliegen (z. B . Subordination, Koordination). Die syntaktische Regeldeterminiertheit der Funktionswörter ist hierbei unvergleichlich zwingender als die der Wörter der Hauptkategorie. Sobald der semantische Kontext und die syntaktische Struktur sinngemäß erfaßt sind, können zwar beim Nachvollzug mehr oder minder adäquate Substitutionen der betreffenden 379
Substantive oder Verben zulässig sein (z.B. Globus statt Erde, Lampe statt Laterne, trinkt statt ißt usw.), während die Wahl der Funktionswörter durch den syntaktisch-semantischen Zusammenhang weitgehend festgelegt ist und kaum willkürliche Abweichungen erlaubt (z. B. erfolgen die Substitutionen von an statt für in Der Dank für das Geschenk oder von ob statt wenn in er fällt, wenn er rennt zwar innerhalb derselben Wortklasse, sind jedoch grammatisch nicht akzeptabel). Auf diese Weise wird die Abrufung des betreffenden Funktionswortes im Kontext durch eine zusätzliche grammatische Bedingung erschwert. Diese Erschwerung könnte folgenden scheinbaren Widerspruch erklären. Da sich die Funktionswörter durch besonders starke Kontextgebundenheit auszeichnen, hätte man von der Einbettung dieser Wörter in syntaktische Strukturen einen Fazilitierungseffekt erwarten sollen. Paradoxerweise ist nun, wie gezeigt wurde, das Gegenteil der Fall: Die isolierten Funktionswörter werden aus dem LZG leichter als die kontextgebundenen abgerufen. In diesem Sinne scheint uns die Annahme berechtigt, daß der genannte Fazilitierungseffekt zumindest teilweise durch die Abhängigkeit der Reaktivierung der Funktionswörter von der Wirksamkeit der entsprechenden grammatischen Regeln Uberspielt wird, da diese Wirksamkeit den Einsatz zusätzlicher Operationen erfordert. Diese zusätzliche grammatische Funktion der Einheiten der Nebenkategorie wird auch von Bierwisch (1975) besonders hervorgehoben: "Ihre Bedeutung kann, wie die Funktion syntaktischer und phonologischer Regeln, nur als Operation an anderen Einheiten oder Strukturen erfaßt werden . . . Einheiten und Regeln werden in Abhängigkeit voneinander aktiviert" (S. 124). b) In den bisherigen Ausführungen haben wir den Einfluß der Präpositionen und Konjunktionen auf die syntaktischen Fehlleistungen aufgezeigt. Aus unseren Ergebnissen geht jedoch nicht nur hervor, daß nicht lediglich das Vorkommen der Einheiten der Nebenkategorie für die fehlerhafte Realisierung syntaktischer Strukturen verantwortlich zu machen ist, vielmehr spielen die integrativen Prozeßzusammenhänge bei der Satzreproduktion eine bedeutende Rolle. Auf Grund dieser Prozesse werden die Wörter entsprechend ihrer Verknüpfbarkeit schrittweise zu größeren Komplexen, bestimmten syntaktischen Struk-
380
turen zusammengefaßt (in unserem Falle zu Hauptsätzen, Nebensätzen, Nominalphrasen, Präpositionalphrasen). Wir versuchten, dieser Frage im Zusammenhang mit integrativen syntaktischen Prozessen bei den von uns gebotenen Wörtern und Syntagmen nachzugehen, indem wir einen Vergleich zwischen isolierten, losen und in einen Kontext integrierten Konstituenten durchführten. Weiterhin hatten wir auf Grund unserer Versuchsbedingungen (Darbietung syntaktischer Strukturen mit gleicher Wortzahl: S A P A S bzw. VA KAV) die Möglichkeit, bei konstant gehaltener Anzahl der syntaktischen Grundelemente (Wörter) die Auswirkung unterschiedlicher syntaktischer Komplexität auf die Reproduktionsleistungen zu studieren. Wie aus Fig. 8 und 9 ersichtlich, war die Häufigkeit der positiven Leistungen signifikant größer bei den Syntagmen PA S bzw. K A V , wenn diese isoliert geboten, als wenn sie in eine komplexere Struktur integriert waren (SA PA S bzw. VA KAV). Obwohl z . B . die Syntagmen für das Geschenk oder wenn er rennt bei isolierter Darbietung identisch sind mit den entsprechenden Teilkonstruktionen in der Dank für das Geschenk bzw. er fällt, wenn er rennt, stehen sie in den letztgenannten Fällen unter zusätzlichen syntaktischen Bedingungen. Nicht die interne Struktur eines Syntagmas, sondern seine Einbettung in einen übergeordneten Zusammenhang erhöht hierbei die Verarbeitungsschwierigkeiten in bezug auf die zweite Konstituente. Diese Komplexität läßt sich keineswegs durch eine bloße additive Erhöhung der Anzahl der Wörter e r k l ä ren. Dies geht schon daraus hervor, daß die syntaktischen Strukturen K A V gleiche Ergebnisse wie bei S A PA S liefern, obwohl hierbei die Wortzahl unterschiedlich ist (KAV unterscheidet sich in bezug auf die positiven Leistungen nicht signifikant von S A PA S) (S. Fig. 8). Diese Resultate belegen eindeutig die entscheidende Rolle der syntaktischen Komplexität. Die Integrierung der Konstituenten in komplexere syntaktische Gebilde fordert eine Reihe zusätzlicher struktur abhängiger Operationen (s. Bierwisch 1975); auf diese Weise werden diese Konstituenten nachweislich störanfälliger. In unserem Falle bedeutet syntaktische Integration, daß beim Nachvollzug syntaktische Strukturen, die einfacheren Verknüpfungsregeln unterliegen - S A P bzw. KAV -, in komplexere Strukturen eingegliedert wer381
den (z. B . Einbettung eines Nebensatzes wenn er rennt in den Hauptsatz er fällt, wenn er rennt). Daß die Anzahl der Wörter nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit der Komplexität der syntaktischen Strukturen steht, beweist uns auch die Analyse der unterschiedlichen Leistungen bei syntaktischen Strukturen mit gleicher Wortzahl: - Auf allen Kanälen sind die positiven Leistungen signifikant höher und die Anzahl der inadäquaten Leistungen signifikant niedriger bei den Syntagmen S A P A S im Vergleich zu VA K A V (s. Fig. 8). Dies legt die Annahme nahe, daß dieses Ergebnis möglicherweise auf die größere syntaktische Komplexität der Struktur VA K A V zurückzuführen ist ( z . B . ein Hauptsatz mit eingebettetem Nebensatz gegenüber einer Nominalphrase mit Präpositionalphrase). - Ein Vergleich zwischen den drei verschiedenen Varianten von VA K A V ( s . S . 338) Versuchsbeschreibung) zeigt, daß bei allen Sätzen mit koordinierten Verben signifikant mehr positive Leistungen als bei den anderen Sätzen zu verzeichnen waren. Während z. B. bei dem Satz er ißt und trinkt 21 positive Leistungen registriert wurden, kamen bei e r läuft, ohne zu stürzen nur 5 und bei den Sätzen er klopft, bevor er öffnet und bei e r geht, dennoch schimpft er lediglich 8 positive Leistungen vor. M. a . W . , es zeigt sich auf Grund der erhöhten Fehlerhäufigkeit, daß der Nachvollzug von syntaktisch komplizierteren Sätzen, die komplexere syntaktische Operationen erfordern, den Patienten beträchtlich größere Schwierigkeiten bereitet als der Nachvollzug relativ weniger komplizierter Satzkonstruktionen. Darin und nicht in der größeren Anzahl von Wörtern ist somit die Erklärung der unterschiedlichen Reproduktionsleistungen bei den Syntagmen zu suchen. Wir können diese Feststellung noch mit zwei weiteren instruktiven Beispielen aus anderen von uns durchgeführten Untersuchungen demonstrieren. B e i einer Patientin (Pat. 1 aus der Versuchsgruppe der vorliegenden Arbeit) entwickelten wir ein experimentelles Rehabilitationsprogramm. Im Rahmen dieses Programmes wurden 25 Sätze, alle vom Typ Subjekt-Prädikat-Objekt (z. B. Die Frau kauft einen Mantel) von uns "deblockiert", d.h. durch ein bestimmtes Verfahren (s. dazu E . Weigl in diesem Band) haben wir die motorisch aphasische Patientin befähigt, diese Sätze zu reproduzieren; auf Grund dieser 382
Methode gelang es schließlich, sogar bestimmte syntaktische Operationen mit diesen Sätzen bzw. das Erzeugen von Sätzen ähnlicher Strukturen (Transformationen) zu ermöglichen. Hingegen war es uns nur mit Hilfe langwieriger und komplizierter Verfahren und zudem erst zum Abschluß des gesamten Programms möglich, einen Satz gleicher Länge wie der des angeführten Beispiels, aber mit einer wesentlich komplexeren syntaktischen Struktur zu deblockieren: z.B. den Satz Er wird bald da sein (s. I. Weigl 1975, 1978, Bierwisch und I. Weigl 1976). Ein weiteres Beispiel: der Satz ich esse Brot, Butter, Ei, Käse, Wurst und Marmelade konnte von der gleichen Patientin ohne Schwierigkeiten reproduziert werden, während ein Satz mit nur 5 Wörtern er hat es auch nicht infolge seiner syntaktisch-semantischen Kompliziertheit erst am Ende der Durchführung des Rehabilitierungsprogramms von der Patientin auf Grund der Deblockierung r e produziert werden konnte. Abschließend können wir zu diesem Abschnitt feststellen, daß die syntaktischen Fehlleistungen der von uns untersuchten Patienten in entscheidendem Maße von dem Schwierigkeitsgrad der syntaktischen Integration abhängen. Bei 11 von den 12 untersuchten Patienten liegt die Anzahl der positiven Leistungen bei den syntaktischen Strukturen mindestens im Rahmen einer der 3 Sprachmodalitäten, in einer Reihe von Fällen sogar bei 2 Modalitäten (nur bei einem Patienten bei 3 Modalitäten) über dem Durchschnittswert; mit anderen Worten, die mehr oder minder schweren Beeinträchtigungen, die sich in bestimmten Fällen, z . B . beim Diktatschreiben, im Hinblick auf die syntaktische Ebene nachweisen ließen, traten bei demselben Kranken beim Nachsprechen und/oder beim Lautlesen nicht auf. Solange jedoch die Regelwirksamkeit zumindest auf einem Kanal in einer signifikanten Anzahl von Fällen möglich ist, kann von einem generellen "Regelverlust" nicht die Rede sein (s. dazu auch Wiegel-Crump 1975). Selbst in den Fällen, in denen die Patienten nicht über die Produktion inadäquater Leistungen hinauskommen, läßt sich das Weiterbestehen der Wirksamkeit des gespeicherten syntaktischen Regelsystems aufzeigen, solange aus den, wenn auch mangelhaften mündlichen oder schriftlichen Wiedergaben ein syntaktischer Zusammenhang ersichtlich ist. Unsere qualitativen Feststellungen haben 383
ergeben, daß es sich in der Mehrzahl der Fälle von inadäquaten Leistungen (syntaktisch erkennbar) um solche Reproduktionsvorgänge handelt. Die vorangehenden Feststellungen scheinen uns im Hinblick auf das Problem des expressiven Agrammatismus von Bedeutung. Es zeigt sich, daß sich die gestörten Reproduktionsleistungen unserer Patienten auf der Ebene syntaktischer Strukturen nicht durch einen "Verlust" des ontogenetisch e r worbenen und gespeicherten Regelsystems, nicht durch die Aufhebung der Sprachkompetenz erklären lassen, sondern nur durch die Beeinträchtigung der Wirksamkeit dieses Regelsystems unter bestimmten Bedingungen (vgl. E. Weigl und Bierwisch, 1972). Dies gilt für sämtliche der von uns untersuchten Patienten, auch für die Kranken mit motorischer Aphasie, deren Spontansprache gewöhnlich durch expressiven Agrammatismus charakterisiert wird. Die Tatsache, daß wir in Fällen von schwerer Broca-Aphasie auf reproduktiver Ebene das Fehlen agrammatischer Störungen dieses Typs nachweisen konnten, legt die Notwendigkeit einer Revidierung der herkömmliehen Vorstellungen über den expressiven Agrammatismus nahe.
4. 2.
9
Neuropsychologische Aspekte: Selektive Störungen der reproduktiven Funktionen
In unserer Untersuchung haben wir uns der drei reproduktiven Funktionen des Nachsprechens, Lautlesens und Diktatschreibens bedient. Vom neuropeychologischen Standpunkt aus handelt es sich um die Funktionen des Wahrnehmens und Verstehens von Wörtern oder syntaktischen Strukturen und deren Nachvollzug. Jede dieser drei Funktionen hat eine Input- und eine Outputkomponente, zwischen denen sich die reproduktiven Prozesse abspielen (siehe auch Ausgangspositionen, S. 334 f.). In der aphasiologischen Literatur finden sich im Zusammenhang mit ausführlichen Fallbeschreibungen eine Fülle von Hinweisen auf die Intaktheit bzw. das Versagen von Aphatikern im Hinblick auf das Nachsprechen, Lautlesen, Abschreiben und Diktatschreiben von Wörtern und Sätzen. Dennoch sind diese 384
Beobachtungen für unsere Fragestellung nur bedingt verwertbar, da sie keine exakten Vergleiche der Leistungen der Patienten in bezug auf die Reproduktion der lexikalischen Einheiten und der syntaktischen Strukturen zulassen. Systematische Untersuchungen, die sich auf die Realisierung jeweils ein und desselben Wortes oder Satzes auf mehreren Kanälen (Sprachmodalitäten) stützen, wurden von Mihäilescu, I. Weigl, E. Weigl und Kreindler (1972) sowie von I. Weigl und Mihäilescu (1973, 1974) durchgeführt. Ebenso wie in diesen Arbeiten zeigte sich auch in der vorliegenden Untersuchung, daß die 3 Sprachmodalitäten in sehr unterschiedlicher Weise betroffen sein können. Vor allem fällt auf, daß die Leistungen beim Diktatschreiben gegenüber dem Nachsprechen und Lautlesen signifikant benachteiligt sind und zwar nicht nur unabhängig von der jeweiligen lexikalischen bzw. syntaktischen Aufgabe, sondern auch von dem Aphasietyp (motorisch, sensorisch, gemischt). Wir brachten dies Ergebnis im vorangegangenen in Zusammenhang mit dem besonders komplizierten funktionellen Aufbau der Funktion des Diktatschreibens (s. E. Weigl und Fradis 1976). Nachsprechen und Lautlesen unterscheiden sich in unseren Versuchen insgesamt nicht signifikant, wobei selbstverständlich je nach der Lokalisierung der Schädigung bei den einzelnen Patienten die eine oder andere Modalität stärker in Mitleidenschaft gezogen sein kann. Wir müssen allerdings hinzufügen, daß für eine Verallgemeinerung dieser Feststellungen die Untersuchung einer bedeutend größeren Anzahl von Patienten erforderlich wäre.
4. 3.
Interdependenz zwischen neuropsychologischen und psycholinguistischen Faktoren
4.3.1.
Reproduktive Funktionen
In der klinischen Neuropsychologie werden Störungen, wie wir sie bei unseren Patienten feststellten, herkömmlicherweise mit der totalen bzw. weitgehenden modalspezifischen oder generellen Blockierung der Umsetzung vorgegebener 385
sprachlicher in die entsprechenden verbo-motorischen oder grapho-motorischen Muster begründet. Diese Transkodierungsstörungen werden dann mit den entsprechenden, unterschiedlich lokalisierten Hirnschädigungen der Patienten in Zusammenhang gebracht. Fälle dieser Art werden aphasiologisch als Nachsprechstörungen, expressive Alexie bzw. Diktatgraphie klassifiziert und in Verbindung zu den korrespondierenden Aphasietypen gesetzt. Nun stellt sich jedoch bei der Untersuchung unserer Patienten heraus, daß unter unseren Versuchsbedingungen - Zuordnungen dieser Art in keinem Fall möglich sind. a) Die Verarbeitung der linguistischen Gegebenheiten (lexikalische Einheiten und syntaktische Strukturen) stößt bei den einzelnen Patienten nur dann auf Schwierigkeiten, wenn eine oder mehrere Sprachfunktionen gestört sind, d.h. ein und dieselbe linguistische Verarbeitung kann auf einem oder mehreren Kanälen intakt, auf einem anderen Kanal (oder mehreren) gestört sein. Zum Beispiel können die vorgegebenen syntaktischen Strukturen von einem Patienten korrekt laut gelesen, aber nur inadäquat nachgesprochen und nach Diktat geschrieben werden; die lexikalischen Einheiten können von einem anderen Patienten korrekt nach Diktat geschrieben und nachgesprochen, aber nicht laut gelesen werden usw. b) Die Störung einer oder mehrerer bestimmter Sprachfunktionen bedeutet noch nicht, daß dabei jede Form linguistischer Verwendung betroffen ist; vielmehr konnten wir nachweisen, daß die linguistischen Fehlleistungen bei der betreffenden Sprachfunktion meist im Zusammenhang mit der Besonderheit der zu bewältigenden linguistischen Aufgabe stehen. So zeigt sich z.B. bei Patienten, die auf Grund der aphasiologischen Voruntersuchung als vorwiegend alexisch klassifiziert wurden, daß sie beim Lautlesen von Substantiven bzw. Präpositionen unterschiedlich versagten (z. B. größere Fehlerzahl bei Präpositionen); Patienten, bei denen Nachsprechstörungen dominierten, waren imstande, zwar Wörter bei isolierter Darbietung, nicht aber im Kontext korrekt zu reproduzieren; in Fällen von Diktatagraphie ließ sich die Wirksamkeit syntaktischer Regeln nachweisen, obwohl die Niederschrift bestimmter lexikalischer Einheiten (z. B. Präpositionen und Konjunktionen) große Schwierigkeiten bereitete
386
Der neur opsy chologis che Standpunkt kann sich ohne die Berücksichtigung psycholinguistischer Faktoren als unzureichend, häufig sogar als irreführend erweisen. Andererseits bleibt die linguistische Analyse aphasischer Störungen solange einseitig, als sie die unterschiedlichen sprachfunktionalen Ebenen vernachlässigt, auf denen linguistische Gegebenheiten (lexikalische Einheiten, syntaktische Strukturen usw.) realisiert werden. Zum Beispiel kann die linguistische Feststellung der Benachteiligung der lexikalischen Nebenkategorie gegenüber der Hauptkategorie erst dann richtig eingeschätzt werden, wenn man dabei die mögliche "Kanalabhängigkeit" solcher Benachteiligungen bzw. die Unterschiedlichkeit der Realisierung dieser Kategorien bei den verschiedenen reproduktiven Funktionen in Betracht zieht. Unter Berücksichtigung sowohl der neuropsychologischen als auch der psycholinguistischen Selektivität der Störungen ergibt sich eine, im Vergleich zu der eingangs gegebenen (s. Fig. 2), wesentlich differenziertere schematische Darstellung der Reproduktionsleistungen unserer Patienten. In dem nachfolgenden Modell (s. Fig. 19) werden die Komponenten der drei Sprachfunktionen (verbo-auditiv — verbo-motorisch beim Nachsprechen, verbo-optisch
—
verbo-motorisch beim Lautlesen und verbo-auditiv — grapho-motorisch beim Diktatschreiben) zu den linguistischen Ebenen der lexikalischen Haupt- und Nebenkategorie sowie der syntaktischen Strukturen in Beziehung gesetzt. Wir veranschaulichen das Zusammenspiel zwischen den neuropsychologischen und psycholinguistischen Faktoren bei den reproduktiven Leistungen durch folgende zwei Beispiele: Pat. 1 (motorische Aphasie) hat beim Nachsprechen Leistungen über dem Durchschnittswert in bezug auf die Realisierung lexikalischer Einheiten und unter dem Durchschnittswert bei der Reproduktion syntaktischer Strukturen; beim Lautlesen liegen alle Leistungen über dem Durchschnittswert, beim Diktatschreiben unter dem Durchschnittswert, (s. Fig. 20).
387
Fig. 19 Interdependenz neuropsychologischer und psycholinguistiseher Faktoren bei reproduktiven Funktionen Input
Output grapho-motorisch
verboauditiv
verbo-motor isch verbooptisch
Legende SV:
Substantive, Verben
PK:
Präpositionen, Konjunktionen
Synt.:
Syntaktische Strukturen
388
Fig. 20 Interdependenz neuropsychologiseher und psycholinguistischer Faktoren bei reproduktiven Funktionen (Pat. 1 motorische Aphasie) Input
Output grapho-motorisch
verboauditiv
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Legende SV:
Substantive Verben
PK:
Präpositionen Konjunktionen
Synt.:
Syntaktische Strukturen Leistungsniveau über den Durchschnittswert Leistungsniveau unter dem Durchschnittswert
Ein zweites Beispiel: Patient 10 (sensorische Aphasie) zeigt ein völlig anderes Bild. In diesem Fall liegen alle Leistungen beim Machsprechen unter und beim Lautlesen über dem Durchschnittswert, beim Diktatschreiben hingegen registrierten wir in bezug auf die lexikalische Hauptkategorie Werte über und bei der lexikalischen Nebenkategorie und den syntaktischen Strukturen unter dem Durchschnitt (s. Fig. 21).
383
Fig. 21 Interdependenz neuropsychologischer und psycholinguistischer Faktoren bei reproduktiven Funktionen (Pat. 10 sensorische Aphasie)
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Input
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Substantive, Verben
PK:
Präpositionen, Konjunktionen
Synt. :
Syntaktische Strukturen Leistungsniveau über den Durchschnittswert Leistungsniveau unter dem Durchschnittswert
Trotz der Verschiedenheit des Zusammenspiels der neuropsychologischen und psycholinguistischen Faktoren beim Zustandekommen der reproduktiven Leistungen - bei jedem Patienten gibt es andere Erscheinungsformen - können wir folgende Regularitäten feststellen: a) auf mindestens einem Kanal sind bei den lexikalischen Einheiten bzw. bei den syntaktischen Strukturen Leistungen über dem durchschnittlichen L e i stungsniveau zu verzeichnen. Dies weist auf die noch erhaltene Fähigkeit der Patienten hin, aus ihrem Gedächtnisbesitz die entsprechenden Lexikoneinhei390
ten abzurufen und sie im Rahmen der korrespondierenden syntaktischen Strukturen zu reproduzieren. b) bei den selektiven Störungen linguistischer Art bezüglich dem durchschnittlichen Leistungsniveau (X) registrierten wir folgende Varianten: 1 2 3 4 SV
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6. Schlußfolgerungen In der vorliegenden Arbeit haben wir die Ergebnisse von vier experimentellen Untersuchungen zusammengefaßt, die sich mit der Problematik beschäftigten, ob und in welcher Weise sich verschiedene linguistische Parameter - der s e mantisch-syntaktische Status, die phonologische Struktur, die morphologische Struktur, sowie bestimmte graphische Aspekte von Wörtern - in sprachlichen Realisierungen von Aphasiekranken widerspiegeln. Die beim gestörten Lesen, beim auditiven Verstehen und beim Nachsprechen gewonnenen Ergebnisse bestätigen die linguistischen Annahmen, daß die grammatische Kategorie sowie die phonologische und die morphologische Struktur der Reizwörter Faktoren 1 sind, die die Sprachperformanz in bestimmtem Sinne determinieren. Wörter mit komplexeren phonologischen bzw. morphologischen Strukturen wurden schlechter realisiert als entsprechend einfach strukturierte Wörter und grammatische Wörter schlechter als die der lexikalischen Hauptkategorien. Dagegen kommt dem graphischen Kriterium der großen Anfangsbuchstaben bei der lexischen Dekodierung offenbar eine weit geringere Bedeutung zu, als vielfach angenommen wird. Die Leseleistungen der von uns untersuchten Alektiker erwiesen sich als unabhängig davon, ob die Reizwörter mit großen oder mit kleinen Anfangsbuchstaben geschrieben waren. Obwohl wir den Einfluß der Wortlänge nicht direkt ermitteln konnten - es gibt im Deutschen keine einoder zweimorphemigen längeren Wörter, die sich mit entsprechenden kurzen Wörtern vergleichen lassen, längere Wörter sind zugleich morphologisch komplexer kamen wir doch durch eine Reihe mittelbarer Vergleiche im Zusammenhang mit den anderen Faktoren zu der Feststellung, daß die Länge der Wörter nicht als ein absolut bestimmender Faktor beim Wortlesen angesehen werden kann. Während der semantische Gehalt der Wörter beim Kategorieerfassen von entscheidender Bedeutung war, erwies sich der ohnehin schwer bestimmbare Abstraktionsgrad, im Gegensatz zu den Auffassungen Goldsteins (1948), ebenfalls nicht als eine prinzipiell aphasische Sprachleistungen determinierende Größe. Die genannten, von uns experimentell so weit wie möglich extrahierten Strukturfaktoren haben nicht nur unterschiedliches Gewicht, sie Überschneiden 469
sich auch. Das Hinzutreten jeder weiteren Variablen in einer gegebenen Wortstruktur bewirkte zusätzliche Leistungsverschlechterungen. Nähere Aufschlüsse über die Art der offenbar nicht einfach additiven Verknüpfungen dieser Variablen sind von breiter angelegten psycholinguistischen Analysen, die auch andere Sprachfunktionen miteinbeziehen, zu erwarten. Abschließend sollen noch einige Überlegungen dazu angestellt werden, wie die beschriebenen semantisch-syntaktischen, phonologischen und morphologischen Parameter für die Praxis der klinischen Aphasiediagnostik und -therapie und möglicherweise auch für die Symdromforschung nutzbar gemacht werden können. Für diagnostische Zwecke haben sich die drei Parameter auf der Einzelwortebene zur Prüfung des auditiven Verstehens, des Nachsprechens, des rezeptiven Lesens, des expressiven Lesens, des Diktatschreibens sowie des mündlichen und des schriftlichen Benennens bewährt. Die Schwierigkeitsabstufungen der Reizwörter (bzw., im Falle des Benennens, der Bezeichnungen der vorgelegten Abbildungen) erlauben ein stufenweises diagnostisches Vorgehen. Leichtere aphasische Störungen sind unter Umständen überhaupt nur mit Hilfe des Wortmaterials aufzudecken, das sich in unseren experimentellen Untersuchungen für die Aphatiker als besonders schwierig erwiesen hat. So stellten wir beispielsweise bei motorisch-aphasischen Patienten auch gewisse Störungen des auditiven Wortverstehens fest, die jedoch lediglich bei den phonologisch komplexeren Wörtern in Erscheinving traten. Weiterhin ergaben sich bei Patienten verschiedener Aphasietypologien nicht selten graduell völlig unterschiedlich ausgeprägte Störungen bei der Realisierung von Einzelwörtern in Abhänigkeit von den beschriebenen Parametern und von der Sprachmodalität (vgl. Wurzel und Böttcher in diesem Band). Bei einem unserer Patienten mit amnestischer Aphasie erwies sich etwa, unter jeweils den gleichen experimentellen Bedingungen, das auditive Verstehen von einfach strukturierten Substantiven als intakt und das von phonologisch bzw. morphologisch komplexeren Substantiven sowie von einfach strukturierten Verben, Adjektiven und Adverbien zum Teil als erheblich beeinträchtigt (Böttcher in Vorbereitung, a). In anderen Fällen waren einzelne Performanzkomponenten nur bezüglich eines dieser Faktoren gestört u. ä. 470
Daraus folgt, daß das Ignorieren dieser Parameter, die sicher noch auf andere zu erweitern sind, unter Umständen zu falschen diagnostischen Beurteilungen führen kann. In diesem Zusammenhang ist zu erwähnen, daß zum Beispiel dem gestörten Verstehen "räumlicher Begriffe" wie rechts, links, oben, unten, hinten, vorn, das nicht selten mit Störungen der Raum Orientierung in Verbindung gebracht wird, tatsächlich häufig eine Beeinträchtigung des Verstehens grammatischer Wörter zugrunde liegt. Ebenso scheint uns bei der Diagnose gewisser eigenständiger Symptomatiken, etwa der sogenannten "Farbennamenamnesie" (s. Pick 1916, G e l b e t a l . 1924, Geschwind 1965 u. a.), deren Existenz in jüngerer Zeit auch von Qrgass et al. (1973) infragegestellt wurde, Vorsicht geboten. Eine scheinbar isolierte Störung des Verstehens von Farbennamen, die nach ihrem grammatischen Status Adjektive sind, erweist sich nach unseren Feststellungen gewöhnlich als Teil einer umfassenderen, auch andere ähnlich strukturierte Adjektive betreffende Störung. Darüberhinaus stimmen wir mit Orgass et al. darin überein, daß sich die Diagnose einer "Körperschemastörung" nicht allein auf das mangelhafte Verstehen der Körperteilnamen, die von den betreffenden Patienten gewöhnlich untereinander verwechselt werden, stützen kann, wie das beispielsweise Goodglass und Kaplan (1972) annehmen. In experimentellen Untersuchungen, die wir an anderer Stelle mitteilen werden, haben wir festgestellt, daß Verständnisstörungen dieser Art in erster Linie aus semantischen Differenzierungsstörungen resultieren. Aus dem Gesagten ergibt sich, daß die von uns ermittelten phonologischen, morphologischen und semantisch-syntaktischen Kriterien nicht nur die differenziertere Diagnose verschiedener Ausprägungsgrade, sondern auch gewisse Spezifizierungen der Natur der aphasischen Störungen gestatten. Es ist damit beispielsweise auch das Erfassen der "Bruchstellen" bei den verschiedenen Verarbeitungsschritten sprachlicher Dekodierungs - und Enkodierungsprozesse möglich (vgl. E. Weigl 1975). Dies bedeutet, daß über die in der klinischen Diagnostik allgemein üblichen Pauschalaussagen wie: die Leistungen einer bestimmten Sprachfunktion seien "intakt", "aufgehoben" oder "partiell gestört", hinausgehende Feststellungen getroffen werden können. (Vgl. hierzu die aus471
führliche psycholinguistische Analyse der aphasischen Störungen bei einem Patienten nach Ektomie der linken dominanten Hemisphäre im Erwachsenenalter, Böttcher in Vorbereitung, a . ) Unseres Erachtens bieten die beschriebenen Faktoren günstige Ansatzpunkte für die Standardisierung psycholinguistischer Verfahren zur Aphasiediagnostik. Nach unseren bisherigen Erfahrungen können diese Parameter nicht nur für diagnostische Zwecke, sondern auch für den etappenweisen Aufbau gestörter sprachlicher Leistungen in der Aphasietherapie
genutzt werden. Insbesondere
in Fällen schwerer Aphasie führen wir zunächst systematische Deblockierungs experimente auf der Einzelwortebene mit dem Ziel der Stimulierung des sprachlichen Gedächtnisbesitzes auf allen Kanälen durch. Dabei hat es sich bewährt, in den jeweils gestörten Sprachmodalitäten zuerst Substantive und e r s t in einer späteren Phase Verben und Adjektive zu deblockieren. (Alle anderen Wortarten, die in erster Linie grammatische Funktionen haben, werden von uns nicht als Einzelwörter, sondern nur im syntaktischen Zusammenhang rehabilitiert). In ähnlicher Weise erwies es sich als günstig, von phonologisch und morphologisch einfacheren Wörtern auszugehen und e r s t allmählich entsprechend komplexere Wortstrukturen in die Rehabilitation miteinzubeziehen. Die beschriebenen Parameter können weiterhin für psycholinguistische Untersuchungen im Rahmen der Syndromfors chung eingesetzt werden. Die Ansichten darüber, welche Funktionsstörungen zu einem Aphasiesyndrom gehören, gehen noch immer weit auseinander. Dies hängt nicht zuletzt damit zusammen, daß sich einerseits aus der isolierten Störbarkeit der Performanzkomponenten und ihrer Subkomponenten eine Vielzahl von Kombinationsmöglichkeiten ergibt (vgl. E. Weigl und Bierwisch 1970) und daß zum anderen noch nicht genügend spezialisierte Untersuchungsmethoden vorhanden sind, die es gestatten, die verschiedenen Komponenten sprachlicher Funktionsstörungen exakt zu erfassen. (Einige solcher Methoden wurden in E. Weigl et al. 1971 und Böttcher et al. 1969 vorgestellt.) Die in der Literatur beschriebenen psycholinguistischen Untersuchungen aphasischer Phänomene beziehen sich zum überwiegenden Teil auf Analysen der vorgefundenen aphasischen Störungen, insbesondere auf solche der spon472
tanen Äußerungen der Patienten. Die von uns ermittelten Faktoren lassen sich - zumindest im Bereiche von Einzelwörtern - für gezielte experimentelle Untersuchungen in nahezu allen Sprachmodalitäten verwenden. Wie weit damit Beiträge zur Abgrenzung von Aphasiesyndromen geleistet werden können, muß allerdings noch dahingestellt bleiben. Beispielsweise deuten die bisher vorliegenden Untersuchungsergebnisse zu phonologischen bzw. morphologischen Einflußfaktoren eher auf Ähnlichkeiten als auf Unterschiede der entsprechenden Störungen bei verschiedenen Aphasiesymdromen hin. So wurde in einer Reihe von Untersuchungen nachgewiesen, daß Artikulationsstörungen bei motorischer Aphasie nicht, wie vielfach angenommen wird, im Prinzip "phonetische Desintegrationen" (Alajouanine et al. 1939, Tikofsky 1965, Lehiste 1968) bzw. apraktische Störungen (Luria 1970) sind, sondern daß ihnen phonologische Störungen zugrundeliegen, die von dysarthrischen Komponenten begleitet bzw. überlagert sein können (Blumstein 1973). Störungen dieser Art ließen sich jedoch nicht nur in der Expressivsprache motorischer Aphatiker, sondern mit denselben Charakteristika auch in der von sensorischen Aphatikern (Blumstein 1973, Lecours 1969, Wurzel und Böttcher in diesem Band) und von "conduction aphasics" (Blumstein 1973) nachweisen. Analog hierzu stellte Goodglass (1973) auf der morphologischen Ebene eine universelle Hierarchie der Schwierigkeiten in verschiedenen Sprachperformanzen sowohl bei motorischen Aphatikern als auch bei "fluent aphasics" fest. Diese Fakten stimmen mit den unseren insofern überein, als sich auch in unseren Untersuchungen phonologische und morphologische Schwierigkeitsabstufungen des Reizmaterials bei Aphatikern unterschiedlicher Typologien und in v e r schiedenen Sprachperformanzen in der Tendenz stets in derselben Richtung auswirkten. Einen s t ä r k e r unterscheidenden Wert hinsichtlich der Abgrenzung verschiedener Aphasietypen besitzt offenbar der Faktor der semantisch-syntaktischen Kategorie. Wie mit Hilfe von Frequenzanalysen festgestellt wurde, ist die Verwendung grammatischer Wörter in der Spontansprache gewisser Aphatiker stark eingeschränkt, während bei anderen die umgekehrte Relation b e steht. (Wepman et al. 1956, 1964, Howes und Geschwind 1962.) E s ließen sich nach diesem Parameter zwei Gruppen von Aphatikern unterscheiden. Im ersten 473
Fall waren es vorwiegend motorische Aphatiker und im zweiten Fall Aphatiker mit "fluent speech". Allerdings erscheint es uns in Anbetracht der psycholinguistisch noch wenig erforschten Ursachen der komplexen Störungen des sprachfunktionalen Systems nicht gerechtfertigt, Aphasieeinteilungen auf Grund eines einzigen Kriteriums vorzunehmen. Die Tatsache, daß sich in den bisher vorliegenden psycholinguistischen Untersuchungen aphasischer Störungen anhand bestimmter phonologiseher, morphologischer und semantisch-syntaktischer Eigenschaften des sprachlichen Untersuchungsmaterials - weitgehend unabhängig von Sprachmodalitäten und vom Aphasietyp Performanzstörungen nachweisen ließen, die eindeutig auf entsprechende Verletzungen linguistischer Regularitäten hinweisen, läßt darauf schließen, daß es sich dabei um echte sprachliche Einflußfaktoren handelt. Nach unserem Dafürhalten wäre ein nach diesen und anderen Kriterien differenziertes Untersuchungsmaterial für multifaktorielle Analysen aphasischer Syndrome geeignet. Darüberhinaus sehen wir Einsatzmöglichkeiten für Parameter dieser Art in einem weiteren Forschungsbereich. Bei Untersuchungen zum Problem der funktionellen Spezialisation der beiden menschlichen Hirnhälften, die mit hemisphärektomierten Patienten, mit Patienten nach Kommissurotomie und unter bestimmten experimentellen Bedingungen auch mit gesunden Versuchspersonen durchgeführt werden, können diese Parameter zu einer differenzierteren Erfassung der sprachlichen Leistungsfähigkeit jeder der beiden Hemisphären eingesetzt werden. Interessante Ansätze in dieser Richtung finden sich bei Gazzaniga (1970) und Caplan et al. (1974), die bei Patienten nach Kommissurotomie und bei gesunden Versuchspersonen verschiedene grammatische Wortkategorien, allerdings nur in einer sehr feinen Abstufung, untersuchten. Über eine eigene experimentelle Untersuchung, die wir in diesem Zusammenhang mit einem Patienten nach Ektomie der linken dominanten Hemisphäre durchführten, werden wir an anderer Stelle berichten (Böttcher in Vorbereitung, a.)
474
7.
Anmerkungen
1
Für hilfreiche Anregungen und Kritiken danke ich E. Weigl, M. Bierwisch und W. U. Wurzel.
2
Die Untersuchungen wurden in der ehemaligen von Prof. Dr. E. Weigl geleiteten Arbeitsgruppe für Sprachpathologie der Akademie der Wissenschaften der DDR begonnen und später im Wilhelm-Griesinger-Krankenhaus Berlin unter dem Ärztlichen Direktor Prof. Dr. sc. med. J . Neumann fortgesetzt.
8.
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478
Erika Metze und K. M. Steingart WECHSELBEZIEHUNGEN IM FUNKTIONSSYSTEM DER SPRACHE
Untersuchungen der Sprachentwicklung gehörloser Kinder erbringen nicht nur Einblick in defektspezifische Entwicklungsvorgänge, sondern sie können auch Aspekte der Entwicklung höherer psychischer Prozesse beim gesunden Kind erschließen und Anlaß zu Fragen evolutionär vorhandener Grundlagen der Sprache geben, weil bei der besonderen Art des Spracherwerbs Gehörloser, bedingt durch den Ausfall des akustischen Analysators, die Verknüpfung der einzelnen Elemente des Sprachfunktionssystems deutlicher als im Normalfall zu verfolgen ist. Die Erforschung der vielseitigen und komplizierten Beziehungen hirnfunktionaler Systeme steht seit Pawlow, Setschenow, Uchtomski immer wieder im Interesse von Untersuchungen, vor allem von Untersuchungen des sprachfunktionalen Systems. In diesem Zusammenhang wenden sich Wissenschaftler v e r schiedener Disziplinen in den letzten Jahren besonders auch Problemen der Wechselbeziehungen des Biologischen und Sozialen in der Ontogenese zu (Symposium zu Problemen der Persönlichkeit, Moskau 1969 und 1970; Kostjuk 1974, Budilowa 1975). Das Funktionssystem der Sprache bildet sich, wie A.N. Leontjew (1964) überzeugend dargestellt hat, in der Ontogenese bedingt-reflektorisch als ganzheitliches funktionelles Hirnorgan heraus. Es ist als ein mehrfach-komplexes System zu verstehen, das kongenitale unbedingt-reflektorische Strukturen einbezieht und außer dem sprechmotorischen, akustischen und optischen Analysator auch eine Reihe anderer Systeme einschließt, darunter auch vegetative. Fragen nach der sprachspezifischen Basis, nach spezifisch menschlichen Dis479
Positionen der Sprache bleiben dabei weiter in der Diskussion, weiteren Untersuchungen vorbehalten. Für Forschungen zum Funktionssystem der Sprache bei gehörlosen Kindern geben besonders die Arbeiten von L.A. Nowikowa (1955), die die Sprechkinästesien bei gehörlosen Kindern durch Registrieren der bioelektrischen Aktivitäten untersucht hat, gute Ansätze. Sie konnte zeigen, daß die Art der Wechselbeziehung von Motorik und Verbomotorik von dem Verfahren, nach dem die Kinder Sprache erworben haben (nach der Daktyl- oder Lautsprachmethode), abhängt, Sie wies bei Kindern, die mit Daktylsprache ausgebildet worden waren, bei verschiedenen geistigen Operationen eine Impulsverstärkung sowohl von den Zungenmuskeln als auch von den Handmuskeln aus nach. Auch E. I. Marzinowskaja (1962) untersuchte die Wechselwirkungen von Artikulations- und Fingerkinästhesien bei gehörlosen Kindern und zeigte, daß sich die wechselseitige Abhängigkeit von der Art der Tätigkeit und dem Schwierigkeitsgrad der gestellten Aufgaben im sprechmotorischen Analysator in unterschiedlicher Weise ausbildet. In diesen Arbeiten wurde die bioelektrische Aktivität registriert. Auch unsere Untersuchungen sollten einige physiologische Besonderheiten des sprachfunktionalen Systems bei gehörlosen Kindern erhellen. Sie hatten das Ziel, Wechselbeziehungen zwischen dem motorischen und verbomotorischen Analysator sowie die Beziehungen zu vegetativen Reaktionen beim Sprachverstehen und bei der Sprachproduktion festzustellen. Wir registrierten deshalb bei 10 gehörlosen Kindern nach dem simultanpolygraphischen Verfahren von Steingart die Reaktionen auf Daktylsprache, auf mündliche Sprache und auf Schriftsprache bei der Sprachrezeption und -Produktion und beim Transponieren von einem Zeichensystem in ein anderes. Es wurde nach folgenden Varianten vorgegangen: Variante 1 2 3 4 5 6 480
Sprachrezeption Daktylsprache Daktylsprache mündliche Sprache mündliche Sprache Schriftsprache Schriftsprache
Sprachproduktion *• Daktylsprache mündliche Sprache » Daktylsprache » mündliche Sprache »• Daktylsprache > mündliche Sprache
In jeder Variante wurden bei der Sprachrezeption und -Produktion von 30 Substantiven auf einem Elektroenzephlographen mit Hilfe speziell hergestellter Abnehmer gleichzeitig die Muskelkontraktionen des Zungenbasis-Kiefer Muskels in einem Myogramm registriert, die bioelektrische Aktivität (EMG) der Arme und Beine und die Amplitude des Psychogalvanischen Reflexes (PGR) bestimmt, sowie Phonation, Atmung und EKG (auf die wir an dieser Stelle nicht eingehen) aufgezeichnet (Metze/Steingart 1975). Diese Untersuchungen wurden an 10 taubgeborenen Kindern (6; 7 J . ) nach dreijähriger Sprachunterweisung im Gehörlosenkindergarten durchgeführt. Die Kinder gehörten einer Experimentalgruppe an, in der erstmals in deutscher Sprache versucht worden war, in der Anfangsphase des Spracherwerbs eine Fingersprache, bei der jedes Fingerzeichen einem Buchstaben entspricht, in Verbindung mit Schrift zeichen (nach der Methode von Korsunskaja), zu verwenden, d. h. bei diesen Kindern fungierten zunächst der motorische und der optische Analysator als Sprachträger. Die Daktylsprache erwarben die Kinder in der Alltagskommunikation sowie in besonderen Übungen (Sykow 1961, 1966). An sie wurden in der Sprachrezeption die Labiolexie (das Absehen der Sprechbewegungsabläufe vom Munde) und in der Sprachproduktion nach und nach die mündlich gesprochene Sprache gleichsam 'angekoppelt', so daß zum Zeitpunkt der Untersuchungen jede Art Sprachzeichen beherrscht wurde, wenngleich die Artikulation zum Zeitpunkt der Untersuchung noch nicht klar ausgeprägt war. (Metze 1964, 1969) An diesen Kindern wurden insgesamt 60 Beobachtungen mit 14 400 Messungen durchgeführt. Es wurden die zeitlichen Parameter der Rede bestimmt (in Sek.): a) die Zeit (T j ) von der Eingabe des verbalen Reizes bis zum Auftreten der ersten verbomotorischen Reaktion im Zungenbasis-Kiefer-Muskel, b) die Zeit (Tg) vom Auftreten der ersten verbomotorischen Reaktion bis zum Erscheinen des Sprachlautes bzw. Fingerzeichens, c) die Gesamtdauer (T„) des Kontraktionsprozesses der Artikulationsmuskeln.
481
Außerdem wurde die Amplitude des PGR (in Nadelabweichung) bestimmt und die Erhöhung der bioelektrischen Aktivität des rechten und linken Armes und des rechten und linken Beines registriert.
m ii ii i in 11 ii ri 11111
11 i
Abb. 1 1 - Myogrammverlauf 2 - Phonogramm der Vp 3 - Phonogramm des VI 4 - Zeit - 0,1 Sek.
Zu einigen Ergebnissen: Die durchgeführten Untersuchungen zeigten bei allen Kindern eine enge Verflechtung motorischer, verbomotorischer und vegetativer Systeme. Damit bestätigen sich bei den gehörlosen Kindern Ergebnisse, wie sie von J . S. Jusewitsch (1954) mit bioelektrischen Messungen an normalen Versuchspersonen gewonnen wurden, von L.A. Nowikowa (1955), E.N. Marzinowskaja (1962) zur Wechselwirkung von Artikulations- und Fingerkinästhesien bei gehörlosen Kindern, von J . M. Ufljand und M. N. Farfel (1959) zum Einfluß des zweiten Signalsystems auf die bioelektrische Aktivität der Muskeln. Die Aufzeichnungen zeigen Besonderheiten der Reaktionen gehörloser Kinder gegenüber den normalen und Übereinstimmungen. Zu defektspezifischen Reaktionen:
1. Es zeigt sich eine größere Generalisierung.
482
Jl Mama
A Mama
Mama
Mama
15
16
17
Abb. 2 1 - Myogrammverlauf 2 - Phonogramm der Vp 3 - Phonogramm des VI 4 - Zeit - 0, J Sek. Aufgabe: Mehrfach wiederholtes Aussprechen des Wortes "Mama" durch ein zehnjähriges gesundes Kind.
Abb. 3 1 - Myogrammverlauf 2 - Phonogramm des VI 3 - Atmung 4 - EKG 5 - Psychogalvanischer Reflex 6 - EMG der rechten Hand 7 - EMG der linken Hand 8 - EMG des rechten Beines 9 - EMG des linken Beines Aufgabe: "Lampe" mündlich vom VI vorgesprochen, daktyl vom gehörlosen Kind nachgesprochen. Es ist eine deutliche Kontraktion der Artikulationsmuskeln (1) beim Daktylsprechen (6), der Psychogalvanische Reflex (5) und die Zunahme der bioelektrischen Aktivität des linken Beines (9) ersichtlich.
Lampe
483
2. Die zeitlichen Parameter der Rede sind im Vergleich zu normalen Kindern verlängert und von der Eingabeart und dem Charakter der Antwort abhängig. Die Zeit bis zum Auftreten der ersten motorischen Reaktion (T
ist am
meisten bei den Aufgaben verzögert, bei denen die Antwort daktyl erfolgte (1, 04 - 1 , 3 s.). Tg ist im Vergleich zu hörenden Kindern etwas verlängert, die Verlängerungen sind aber gering (0, 64 - 0, 9 s.). Charakteristisch ist auch die Verlaufszeit der allgemeinen motorischen Reaktion der Artikulationsmuskeln (Tg) bei der Antwort in allen Varianten. Diese Zeit ist bei gehörlosen Kindern beträchtlich verlängert, sie macht 4,6 bis 6, 9 s. aus, während sie bei den vollsinnigen Kindern 1, 4 s.
beträgt.
3. Die Aufzeichnungen des PGR bei den gehörlosen Kindern zeigen, daß der PGR bei den Antworten in allen Varianten nicht erlischt. Er bleibt besonders in den Varianten relativ hoch, in denen Eingabe oder Antwort daktyl erfolgt (nach Steingart, Woronin, Nekrassowa erlischt der PGR im Normalfall nach 5 bis lOmaliger Wiederholung des verbalen Reizes).
mm SO
0
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5
1Q
15
20
25
30
Abb. 4 Psychogalvanischer Reflex beim gehörlosen Kind beim Daktylsprechen beim mündlichen Sprechen
Die verlängerten Zeitparameter wie auch die starken vegetativen Reaktionen führen wir auf die Tatsache zurück, daß die Untersuchungen an den gehörlosen Kindern noch in der Anfangsetappe des Spracherwerbs durchgeführt wurden. Die zum Vergleich herangezogenen Ergebnisse von vollsinnigen Kindern wurden im gleichen Alter, aber demzufolge in einem fortgeschrittenen Stadium der Sprachentwicklung gewonnen. Wir nehmen deshalb an, daß die Reaktionen bei gehörlosen Kindern bei sicherer Sprachbeherrschung immer mehr denen vollsinniger gleichen. Zu übereinstimmenden Reaktionen: 1. Bei den gehörlosen Kindern treten die gleichen zeitlichen Parameter wie bei den normalen auf, auch die Sprachrezeptionsperiode (Tj), in der s t e t s Reaktionen in der Artikulationsmuskulator registriert sind, unabhängig davon, ob mündlich oder daktyl vorgesprochen wurde. 2. Die höchste Korrelation besteht zwischen der vor der Lautgebung gelegenen Periode (Tg) und der Gesamtverlaufszeit der motorischen Reaktionen der Artikulationsmuskeln (Tg). Diese Gesetzmäßigkeit wurde von Steingart auch bei normalen Kindern gezeigt, jedoch sind die absoluten Werte der Koeffizienten bei tauben Kindern (0, 31 - 0, 33) niedriger als bei normalen (0, 75). 3. Wir hatten erwartet, daß sich bei den gehörlosen Kindern, bei denen die Motorik so lange als Sprachträger fungiert hatte, immer - auch beim mündlichen Sprechen - Reaktionen in den Händen ausweisen würden. Diese Annahme bestätigte sich nicht. Bei allen Eingabeformen (Variante 1 - 6 ) sind bei allen gehörlosen Kindern deutliche Kontraktionen der Artikulationsmuskeln sichtbar, sowohl bei lautsprachlicher als auch daktylsprachlicher Antwort. Beim mündlichen Sprechen hingegen wurden nur bei der Hälfte der Kinder stets Reaktionen in den Armen oder Beinen registriert, während sie bei den übrigen Kindern vereinzelt auftraten. 4. Auch die PGR hat bei gehörlosen Kindern wie bei normalen die höchste Korrelation mit Tg, das heißt mit der Periode der Realisierung des Wortes. Dabei liegen die Koeffizienten der Aufgaben mit Daktylantwort ohne mündliche Sprache wesentlich niedriger (0,17 - 0, 03) als bei mündlicher Antwort (0,45 - 0,42) (bei Vollsinnigen 0, 65). 485
1
2
A.
A.
3
Abb. 5 1 - Myogrammverlauf 2 - Phonogramm des gehörlosen Kindes 3 - Atmung 4 - EKG 5 - Psychogalvanischer Reflex 6 - EMG der rechten Hand 7 - EMG der linken Hand 8 - EMG des rechten Beines 9 - EMG des linken Beines Aufgabe: "Kartoffel" mündlich lesen. Beim mündlichen Lesen ist nur ein leichter Psychogalvanischer Reflex zu beobachten.
5
7 8
Kartoffel
Aus den Ergebnissen geht hervor, daß die physiologischen Mechanismen, die der Sprache zugrunde liegen, bei gehörlosen Kindern im wesentlichen die gleichen wie bei normalhörenden sind, die gleichen bei der Sprachverarbeitung durch den optischen Analysator wie durch den akustischen. Damit wird die hervorragende Rolle der Verbomotorik im Gesamtgefüge des Sprachfunktionssystems - zumindest in dieser Entwicklungsphase - deutlich. Der verbomotorische Analysator ist offenbar schon evolutionär so weit vorgegeben, daß er auch bei Taubgeborenen ohne Höranalysator über den optischen und den motorischen Analysator durch Sprachunterricht, der sich auf das Daktylverfahren stützt, hervortreten kann. 486
Weiter zeigen die Ergebnisse, daß das Wort immer spezifische Reaktionen hervorruft, unabhängig davon, ob Daktylsprache oder mündliche Sprache rezeptiv oder produktiv verwendet wird. Die Tatsache, daß die wortspezifischen physiologischen Mechanismen nicht nur über den akustischen Analysator in Gang gesetzt werden können, sondern gleicherweise über den optischen und vor allem den motorischen Analysator, legt die Annahme sprachspezifischer Dispositionen der Hirnstrukturen, die in der Kommunikation ihre weitere Ausprägung erfahren, nahe.
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VERZEICHNIS DER BEITRAGSAUTOREN
Dr. Manfred Bierwisch, Zentralinstitut für Sprachwissenschaft der Akademie der Wissenschaften der DDR zu Berlin, DDR, 108 Berlin, Leipziger Straße 3-4 Dipl. -Psych. Renate Böttcher, Abteilung für Sprachpathologie des WilhelmGriesinger-Krankenhauses, DDR, 114 Berlin-Biesdorf, Brebacher Weg 15 Dr. Joachim Hoffmann, Humboldt-Universität zu Berlin, Sektion Psychologie, DDR, 102 Berlin, Oranienburger Straße 18 Prof. Dr. Friedhart Klix, Direktor der Sektion Psychologie der HumboldtUniversität zu Berlin, DDR, 102 Berlin, Oranienburger Straße 18 Dipl. -Psych. Rosemarie Kühn, Zentralinstitut für Kybernetik und Informationsprozesse der Akademie der Wissenschaften der DDR zu Berlin, DDR, 1199 Berlin, Rudower Chaussee 5 Dr. Erika Metze, Zentralinstitut für Sprachwissenschaft der Akademie der Wissenschaften der DDR zu Berlin, DDR, 108 Berlin, Otto-Nuschke-Straße 22-23 Dr. K.M. Steingart, Moskau/UdSSR, p.A. Dr. Erika Metze Prof. Dr. Egon Weigl, DDR, 102 Berlin, Schillingstraße 27 Dr. Irina Weigl, Institut für Hygiene des Kindes- und Jugendalters, DDR, 104 Berlin, Reinhardstraße 34 Dr. Wolfgang Ullrich Wurzel, Zentralinstitut für Sprachwissenschaft der Akademie der Wissenschaften der DDR zu Berlin, DDR, 108 Berlin, Leipziger Straße 3-4
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