Protestantische Bausteine: Leben und Wirken des Dr. theol. Heinrich Krause, nebst einer Auswahl aus seinen publicistischen Arbeiten [Reprint 2018 ed.] 9783111643700, 9783111260785


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German Pages 423 [428] Year 1873

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Table of contents :
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
I. Heinrich Krause. Sein Leben und Wirken
1. Charakterbild
2. Lebensgang
3. Die geistige Entfaltung
4. Die Mannesreife
5. Sein Lebenswerk
II. Sammlung ausgewählter Schriftstücke
I. Vorwort der Protestantischen Kirchenzeitung beim Beginn ihres Erscheinens (1854)
II. Was thut der protestantischen Kirche vor Allem noth? Ein Vortrag im Unionsverein (1864)
III. Die Selbstständigkeit der preußischen evangelischen Landeskirche (1860)
IV. Der Summepiscopat oder das bischöfliche Amt der Landesherren
V. Kirchenverfassung und Staatsverfassung, oder der kirchliche Constitutionalismus (1861)
VI. Predigerwahlen (1854)
VII. Die Jesuiten (1852)
VIII. Der rechte Streit wider den Katholicismus (1853)
IX. Concessionen an den Ultramontanismus (1854)
X. Der Krieg und der Protestantismus (1866
XI. Die Bekenntnisse des Oberkirchenraths (1850)
XII. Der Kirchentag und die Union (1853)
XIII. Die revolutionäre Rechtgläubigkeit (1859)
XIV. Humboldt und das moderne Kirchenthum (1859)
XV. Unsere Stellung zur Orthodoxie. Ein Sendschreiben an Herrn Dr. Rückert zu Jena (1854)
XVI. Das Christenthum und die Naturwissenschaften (1865)
XVII. Glauben und Wissen (1864 ob:r 1865)
XVIII. Christliche Armenpflege. Ein Vortrag im Gustav-Adolf-Frauen-Verein (1867)
XIX. Ludwig Jonas (1859)
XX. Gruß (1852)
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Protestantische Bausteine: Leben und Wirken des Dr. theol. Heinrich Krause, nebst einer Auswahl aus seinen publicistischen Arbeiten [Reprint 2018 ed.]
 9783111643700, 9783111260785

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Protestantische Bausteine. Leben und Wirken deö

Dr. theol.

Heinrich Kranje, nebst einer

Answahl ans seinen pnblicistischen Arbeiten.

Herausgegeben

von

Hermann Spaeth, elftem Psankl an du LambeUNilche in Oldcnbuig.

Mit Dr. Heinrich Krause'ö Portrait.

Berlin. Druck und Vnlag von Georg Reimer.

1873.

Vorwort. Ver Wunsch, eine Sammlung lilerarischer Arbeiten H. Kraufe's zu veranstalten, regte sich, wie es bei der Bedeutung des Mannes für die kirchlichen Kämpfe nicht anders zu erwarten war, im vertrauteren Kreise seiner Gesinnungsgenossen sehr bald nach seinem weithin schmerz­ lich gefühlten Hingang im Jahre 1868. Aber verschiedene Umstände, namentlich das zunehmende Leiden seines ihm auf's engste verbundenen Freundes Dr. H. Eltester, welcher ihm schon nach sieben Monaten im Tod folgte, verzögerten die Ausführung. Dieser hat im November 1868 und im Januar 1869 noch zwei Abhandlungen Krause's ver­ öffentlicht, welche in diese Sammlung ebenfalls aufgenommen sind*). Er hat damit bekundet, wie sehr ihm die Veröffentlichung des Krause'schen Nachlasses am Herzen lag, von welcher er'auch in der Prot. Kirchenzeitung 1869, Nr. 45, redet. Der Nachruf, in welchem die Prot. Kirchenzeitung den am 8. Januar 1869 erfolgten Tod Eltester'Z anzeigte, sagt: „vielleicht sind nie zwei Männer so geistig mit einander verwachsen gewesen, ohne daß doch Einer dem Andern seine ureigne Art zum Opfer gebracht hätte". Es ist daher zu bedauern, daß es Eltester nicht ver­ gönnt war, zu vollführen, was er so sehr wünschte, und was er fast mehr wie eine Pflicht gegen die Kirche als gegen den Heimgegangenen Freund ansah. Zu Anfang des vorigen Jahres stellte der Berliner Freundeskreis an mich die Aufforderung, die Herausgabe des Krause'schen Nachlasses zu übernehmen. Obwohl das Schwierige des Unter­ nehmens leicht abschrecken konnte, trug ich doch kein Bedenken, die Ar­ beit auf mich zu nehmen. Ist doch H. Krause mir ein theurer Freund gewesen, dessen Geist und Charakter ich gleich hochschätzte, und mit dem ich mich vom ersten Begegnen an, durch eine wunderbare Sympathie, auch durch überraschende Harmonie in den Ueberzeugungen und in der ganzen Art die Dinge anzufassen, vereinigt fühlte. So, dachte ich, müßte mir auch die Mühe das ziemlich umfangreiche Material zu be­ wältigen, durch die Liebe zum Freunde, durch Gleichheit der Gesinnung und durch persönlichen Gewinn in Belehrung und Beispiel genugsam *) No. XVI. und XVII. S Prot. K -Z. 1868, 1057 f, 1139 f. und 1869, 10 f., 21 f.. 92 f.

IV

Vorwort.

versüßt werden. Und ich habe mich darin nicht getäuscht, habe somit an mir selbst es erprobt, daß eingehende Beschäftigung mit den Erzeug­ nissen dieses kräftigen und kerngesunden Geistes sehr heilsam wirkt. Am liebsten hätte ich meine Arbeit fertig gesehen am 1. Mai d. I., am Tage des 50jährigen Dienstjubiläums des Predigers Dr. Shdow. Ist doch diesem Veteranen unter den Führern des Unionsvereins unser Krause als jüngerer Freund so nahe gestanden und verdankte dieser seine Meisterschaft im Führen kirchlicher Kämpfe theilweise dem älteren Freunde, welcher auf den noch jugendlich brausenden Geist durch seine klassische Ruhe eine mildernde und mäßigende Wirkung ausübte. Die Festgabe hätte so wohl gepaßt für einen Tag, welcher dem Gefeierten beim Rückblick auf seine Kämpfe für das Wohl der evangelischen Kirche seines Vaterlandes zu einer Gedächtnißfeier seiner bereits abgerufenen Freunde und Mitkämpfer sich gestalten mußte, und sie hätte wohl auch erquickt, als ein Zeugniß, daß daö Wirken Krauses nicht vergessen sei und sein treffendes Wort noch nicht aufgehört habe auf das gegenwärtige Ge­ schlecht zu wirken. Die Menge der Arbeit ließ diesen Wunsch nicht zur Wirklichkeit werden. Aber auch jetzt in der schwülen Zeit unevangeli­ scher Glaubensgerichte mag es Dich, theurer Freund, erfreuen, wenn Dir in einem Zeichen sichtbar wird, daß unsern Krause der Tod nicht so ganz stumm gemacht hat, wie Gegner es wünschen mögen"). Meine Absicht ist nicht sowol gewesen, dem abgerufenen Kämpfer ein ehrendes Denkmal zu setzen. Das hat er sich selbst gesetzt und zwar so ziemlich in Allem, was er durch den Druck veröffentlicht hat. Er schrieb nicht aus überflüssiger Schreiblust, noch gewerbsmäßig, er schrieb, wo die Sache ein mannhaftes, klares und schneidiges Wort forderte, das nicht jeder zu reden weiß. Darum sind seine Schrift­ stücke Thaten gewesen, und nicht selten auch in der Form ausgezeichnet und gewaltig. Ich wollte vielmehr nur daö Denkmal, welches er sich selbst gesetzt, jedem leicht zugänglich machen, und zwar in der Absicht, daß seine Gedanken sich ausbreiten und durch vielfältige Aneignung *) Dem Buch ist es mit dem Druck ergangen, wie Dir, mein lieber Sydow, mit Deiner Proceßangelegenheit. Es bedurfte bei beiden guter Weile, bis sie.zu Ende kamen. So begrüßt Dich sein Erscheinen erst, nachdem den Eiferern um unwandel­ bare Lehrsatzung ihr frommer Anschlag gegen Dich mißlungen ist. Wie steht es wohl? War das der letzte Sturm, der dem Frühling in der Kirche vorangehen mußte? Wer kann es wissen? Aber wer sollte nicht wünschen, daß nach den erfahrenen Un­ bilden dem greisen Streiter das Schauen einer besseren Zukunft der Kirche zu Theil werde. Im Juli 1873. Der Vers.

fruchtbar werden, vorzüglich aber damit sein markiges, charaktervolles Wesen, wie es aus jedem Worte hervorleuchtet, beschämend und erhebend auf Freund und Feind wirke. ES ist nicht die Voreingenommenheit des Freundes, es ist daö Ergebniß strenger Prüfung, wenn ich behaupte, daß unsre protestantische Kirche in dem literarischen Nachlaß Krause's einen Schatz hat, dessen Verwerthung ihr mehr Gewinn und Leben bringen wird, als ganze Wagenladungen hochgelehrter oder auch salbungs­ voller Erzeugnisse. Er ist ein Vorkämpfer der Freiheit gewesen wie wenige, aber nicht der in sich haltlosen und darum maßlosen, sondern derjenigen, welche um so mehr sich gebunden weiß durch den Gehorsam gegen Gott und alle seine Ordnungen, je eifriger sie ist, Beeinträchti­ gungen abzuwehren. Er trug das protestantische Bewußtsein in seltener Stärke und Reinheit in sich, und wie er eine belebende Wirksamkeit übte weit über die Grenzen der evangelischen Kirche Preußens hinaus, deren Neugestaltung allerdings der größte Theil seiner Arbeit gewidmet war, so wird cd der evangelischen Kirche heilsam feilt, wenn sie seinen Wächterrnf auch ferner vernimmt und ihn sich an daö Gewissen dringen läßt. Ich werde mir nicht schmeicheln dürfen mit der Hoffnung, daß die Auswahl aus Krause's Schriften, wie ich sie getroffen, bei jedermann ungeteilten Anklang finde. Der Eine wird dies, der Andere jenes weg- oder hinzuwünschen. Möge dann jeder sich selbst sagen, daß daö Erzeugniß seines Urtheils und Geschmacks genau dasselbe Schicksal hätte. Ich bekenne, daß mir daö Auswählen nicht leicht geworden ist. Nicht Weniges fand ich der Aufnahme in die Sammlung durchaus werth, allein theils die nicht zu überschreitenden Grenzen eines sehr mässigen Umfangs, theils der Zweck der Sammlung zwangen zum Verzicht. Bei einigen Aufsätzen war ich zweifelhaft, ob ich sie aufnehmen sollte, weil sie auf Verhältnisse Bezug nehmen, welche nur von momentaner Be­ deutung waren. In diesem Fall habe ich ausgeschnitten, waö als unwesentlich ohne Schaden für Gehalt und Verständniß entbehrt werden kann. Wo das nicht anging, rechnete ich auf die Nachsicht des Lesers, der wie ich hoffe kleine llncbenheitcn gerne in den Kauf nehmen wird. Uebrigens sind die Fälle, in denen ich glaubte ausschneiden zu müssen, nicht gerade häufig, und die dadurch nöthig gewordenen redaktionellen Aenderungen sind durchgängig ganz unbedeutend. Während ich aber nicht erwarten darf, für alles Einzelne der ge­ troffenen Auswahl allgemeinere Zustimmung zu finden und vielleicht

VI

Vorwort.

für Manches auf gütige Nachsicht rechnen muß, so glaube ich für den Grundsatz, welcher mich bei der Auswahl leitete, das öffentliche Urtheil leicht zu gewinnen, wie ich denn auch in dem sich für Krause's Nachlaß interessirenden nächsten Freundeskreise dafür volle Zustimmung gefunden habe. Ich ging von einem praktischen Gesichtspunkt aus, und fragte: was, aus der gewaltigen Geistesarbeit des Vollendeten kann der Ge­ genwart in ihren kirchlichen Kämpfen besonders nützlich werken durch Klarstellung von Prinzipien, durch Schärfe des Urtheils über Verkehrt­ heiten und Mißbildungen, durch Belehrung und Ermunterung? Damit glaubte ich auch im Sinn des Mannes zu Handel», welcher seine Feder nur ansetzte, wenn er eine Nöthigung zum Schreiben erkannte und das Erheben feiner Stimme ihm als Pflicht erschien. Ich zweifle nicht, daß Krause, hätte er aus feinen Erzeugnissen eine Auswahl zu treffen gehabt zum Behuf der Veröffentlichung, sich ebenfalls ganz durch diesen Grundsatz hätte leiten lassen. Es ist so auch billig, denn die Bücher sind um der Menschen willen da, nicht die Menschen um der Bücher willen. Uebrigens glaube ich, daß selbst die strengste Handhabung des genannten Grundsatzes der Würdigung der Krause'schen Geisteserzeugnisse keinen Eintrag thut. Denn gerade diejenigen sind am werthvollsten und offenbaren die Vorzüge seiner Geistesart am meisten, welche auf ein richtiges Handeln und Gestalten in kirchlichen Dingen hin­ drängen. Da erscheint uns der scharf geprägte Geist in feiner vollen Stärke und in der Eigenthümlichkeit, welche ihm eine so bedeutsame Stelle im kirchlichen Kampf anwies. Die Lage der kirchlichen Dinge hat sich im Großen angesehen feit Krause's Hingang nicht wesentlich verändert. Ab­ gesehen von der schrofferen Haltung der Lutheraner gegenüber der kirchenregimentlichen Unionspartei und von den gewaltthätigen Versuchen beider die Reformpartei zum Schweigen zu bringen, stehen auf dem Gebiet der evangelischen Kirche die Parteibestrebungen sich gerade so gegenüber, wie damals, als Krause noch unter den Vordersten kämpfte. Eben darum kann feine strenge Geistesarbeit den praktischen Zielen der Reformpartei noch ferner dienen, und wird es, wie ich hoffe, manchem Gesinnungsgenossen und Mitkämpfer erwünscht fein, sich an dem frischen Wort des allzufrüh Geschiedenen zu stärken und von ihm zu lernen, wie man Muth mit Klugheit, schneidende Schärfe mit Selbstbeherrschung paaren muß, wenn man Erfolge erzielen und die kirchliche Bewegung nachhaltig machen will. Es find vorangestellt zwei Arbeiten, welche die Grundzüge von

Vorwort.

VII

Krause's Bestrebungen geben und zwar aus der Zeit, da er zur vollen Meisterschaft gelangt war. Die zweite derselben (II) ist um so mehr von Bedeutung, weil sie den Beitritt des Berliner Unionsvereins zum Protestan­ tenverein inaugurirtc. Ich lasse dann eine Reihe von Aufsätzen kirchenpolitischen Inhalts folgen (111—X), welche seine kirchlichen Anschau­ ungen nach verschiedenen Seiten hin darlegen und sich meist durch Zurück­ gehen auf die Principien, — eine Haupttugend Krause's — auszeichnen. Daran reihen sich polemische Erörterungen (XI—XV), ebenfalls dem kirchenpolitischen Gebiet angehörig, wobei ich mich auf dasjenige Ma­ terial beschränkt habe, welches aus den gegenwärtigen Stand der Dinge die stärksten Schlaglichter wirft und zur Orientirung in wesentlichen Beziehungen dienen kann. Den Schluß bildet eine Reihe von Arbeiten (XVI—XIX), welche ich nicht unter einen gemeinsamen Gesichtspunkt subsumiren kann, außer dem, daß es mir das Trefflichste*) scheint von Krause's Arbeiten auf andern Gebieten als dem kirchenpolitischen. Die zwei ersten (XVI und XVII) sind die Erstlinge einer Reihe von Abhand­ lungen, welche Krause für die Gebildeten schreiben wollte Mer diejenigen Fragen, welche das religiöse Bewußtsein der Gegenwart vorzüglich be­ schäftigen. Ihre Trefflichkeit ließ mir keinen Zweifel darüber aufkom­ men, ob sie aufzunehmen seien. Der Vortrag über christliche Armen­ pflege (XVIII) gibt ein sehr beherzigenswerthes Urtheil über eine sehr verwickelte Frage und ist zudem eines der letzten Erzeugnisse Krause's. Die Charakteristik, mit welcher er seinem Freunde Ludwig Jonas in dessen Todesjahr ein Denkmal setzte, ist nicht nur als literarisches Pro­ dukt so bedeutend und durch seinen Inhalt so anziehend und packend, daß es ein unverzeihlicher Mißgriff gewesen wäre, wenn ich daran hätte vorübergehen wollen, sondern ich -mußte auch schon deßwegen diese Perle aufnehmen, weil in dieser tiefempfundenen Darstellung des theuren und engverbundenen Freundes, welcher auf Krause's innere Entwicklung grade in den Zeiten gewaltigen Gährens, durch persönliche Einwirkung und durch Vorbild entscheidenden Einfluß übte, so schön heraustritt, was Krause als Mensch gewesen. Etwas befremden kann es auf den ersten Blick, daß ich mich entschließen konnte, mit dem im „Protestanten" 1852 erschienenen Neujahrsgruß die Sammlung abzuschließen. Ich habe es gethan um des gewaltigen religiösen Pathos willen, welches hier offen­ bar wird und womit Krause sonst sehr sparsam umging. Da haben *) Seine trefflichen „Gespräche in einem Pfarrhause" habe ich in diese Sammlung nicht aufgenommen, um ihren Umfang nicht ungebührlich zu vergrößern.

VIII

Borwort.

wir doch etwas Anderes als die von Krause mit schärfster Lange deS WiheS begossenen alttcstamcntlichen Tiraden Hengstcnbcrgs; hier weht wirklich prophetischer Geist. Und weil wir dessen vor Allem bedürfen, wenn wir auf kirchlichem Boden wirkliche Siege erringen und der Kirche gründlich aufhelfen wollen, so dachte ich, der Leser konnte den „Gruß" trotz veränderter Zeitumstände als prophetischen Abschiedsgruß Krause's an unsere evangelische Kirche gelten lassen, und, indem er ihn in diesem Sinne sich umsetzt, den heiligen Entschluß fassen, alle Kräfte zur Förderung einer gesunden Frömmigkeit anzuspannen in der wahrhaftigen und mt< gekünstelten Weise, wie dieser edle Vorkämpfer cd gethan hat. Alles, was ich in die Sammlung aufnahm, ist den Zeitschriften entnommen, an welchen Krause mitarbeitete oder die er selbst redigirtc. Zwar stand mir sein handschriftlicher Nachlaß zu Gebote und ich habe manches Treffliche gefunden, was der Veröffentlichung sehr wohl werth wäre. Allein ich fand nichts, das formell völlig durchgearbeitet gewesen wäre, vielmehr bloße Skizzen, freilich theilweise solche, welche ganz in's Detail eingehen. Eö gilt dieö namentlich von einer nicht geringen An­ zahl von Vorträgen, welche Krause im Unionsverein und sonst gehalten hat, und welche mit dem lebhaftesten Interesse aufgenommen wurden. Lebhaft regte sich der Wunsch in mir: cs möchten diese ohne Zweifel Vielen bedeutsam gewordenen Reden völlig ausgearbeitet vorliegen! Die Skizzen Krause's aber selbst auszuarbeiten und daö so Erzeugte für Krause's Arbeit auszugeben, dazu hielt ich mich in keiner Weise für be­ fugt. Während ich übrigens aus dem handschriftlichen Nachlaß für die Sammlung nichts entnehmen konnte, ist mir derselbe für die Darstellung seines Lebens und Wirkend um so wichtiger geworden. Die ganze Ent­ wicklung seines Geistes hat sich mir, freilich nicht ohne mancherlei Mühen, darin aufgeschlossen. Für die nicht unbedeutende Unterstützung, welche mir theils durch die Vorarbeit eines langjährigen Freundes von Krause theils durch Mittheilung von Briefen Krause's und Notizen seitens einiger seiner Jugendfreunde geworden ist, fühle ich mich ge­ drungen den Gefühlen deö Dankes öffentlichen Ausdruck zu geben. Oldenburg, 14. August 1872.

H. Sp.

Jnhaltsverzeichniß.

Seite.

I.

Heinrich Krause. Sein Leben und Wirken. 1.

Charakterbild..............................................................................................................

4

2.

Lebeusgang....................................................................................................

3.

Geistige Entfaltung..........................................................................................................19

11

4

Die Manncsreife............................................................................................................. 39

5.

Sein Lebenswerk.............................................................................................................. 53 II.

Sammlung ausgewählter Schriftstücke. T

Vorwort der Protestantischen Kirchenzeitnng beim Beginn ihres Er­

II.

Was thut der protestantischen Kirche vor Allem noth? Ein Vortrag

scheinens (1854)......................................................................................

im Unionsverein (1864)...................................................................... III.

Die Selbstständigkeit der preußischenevangelischen Landeskirche (1860)

IV.

Der Summepiskopat oder das oberbischöfliche Amt des Landesherrn

V.

Kirchenverfassnng und Staatsverfassung, oder der kirchliche Constitu-

91

103 121

(1861)..............................................................................................................164

tionalismus (1861).......................................................................................177 VI.

Predigerwahlen (1854).................................................................................

189

VII.

Die Jesuiten (1852).......................................................................................

199

VIII. Der rechte Streit wider den Katholicismus (1853)................................

209

IX. Concessionen an den Ultramentanismus(1854)...................................... X

Der Krieg und der Protestantismus(1866)...........................................

219 223

X

Inhaltsverzeichnis; XI. Die Bekenntnisse des Oberkirchenraths (1850)................... ....

229

XII. .Der Kirchentag und die Union (1853)..........................................

239

XIII. Die revolutionäre Rechtgläubigkeit (1859).....................................

246

XIV. Humboldt und das moderne Kirchenthum (1859)............................

252

XV. Unsere Stellung znr Orthodoxie Ein Sendschreiben an Dr. Rückert in Jena (1854)...................................................................... 258 XVI. Das Christenthum und die Naturwissenschaften(1864 oder 1865) . 290 XVir. Glauben und Wissen (1864 ob:r 1865).......................................... XVIII. Christliche Armenpflege. Ein Vortrag (1867)

......................

322 448

XIX. Ludwig Jonas (1859;..................................................................... 370 XX. Gruß (1852)...............................................................................

406

Heinrich Krause Sein Leben und Wirken.

1. Charakterbild. Im Lauf einer geselligen Unterhaltung — wenn ich mich recht entsinne, gleich der erste», die ich mit Krause pflog, kam das Ge­ spräch auf die Menschen, die man Originalien nennt, und auf die Klage, daß dieselben immer seltener werden.

Er sprach die Ansicht

aus, daß das ganz in der Ordnung sei: denn je mehr die Bildung Gemeingut werde, um so weniger dulde sie Absonderlichkeiten, die im Ueberwuchern des individuellen Beliebens ihren Ursprung haben; sie beuge den Einzelnen immer mehr unter die heilsame und für jeden unentbehrliche Zucht der Sitte. Uebrigens sei aus dem Verschwinden der absonderlichen Menschen gar nicht zu schließen, daß es heute we­ niger eigenthümlich geartete und charaktervolle Menschen gebe als frü­ her; sie werden nur besser in die öffentliche Zucht genommen, was ihren sittlichen Werth nur erhöhen könne. So ungefähr sprach er sich aus; und er selbst ist ein lebendiger Beleg für seine Behauptung ge­ wesen.

Denn so wenig er bei sich Absonderlichkeiten pflegte und nach

Originalität haschte, so war ihm doch in Allem, was er redete und that, anzuspüren, daß man es mit einer scharf geprägten Persönlich­ keit zu thun habe. Auch in seinen literarischen Produkten haben wir nirgends eine Gedankenarbeit, welche von der Person abgelöst erscheint und sie kaum mehr durchschimmern läßt, vielmehr ist jedes seiner Er­ zeugnisse individuell geartet, ein frischer Ausdruck seines sittlich arbei­ tenden Geistes, darum durch und durch charaktervoll.

Sein Sprechen

und Schreiben für die Oeffentlichkeit war immer eine sittliche That, welche den inneren Menschen offenbarte. Krause war ein in unge­ wöhnlichem Maaße durchgebildeter Charakter,

und zwar einer,

der

vorzugsweise sich selbst erzogen und auf diesem Wege schon früh eine seltene Selbstständigkeit erlangt hat.

Es

gilt von ihm in vollem

Maaße, daß er wußte, was er wollte, und wollte, was er konnte, und daß er in den verschiedensten Situationen immer er selbst war, „ein ganzer Mann, ein Charakter fest wie ein Diamant, ein echter 1*

4

1. Charakterbild.

Jünger seines Herrn", wie ihn Dr. Thomas in der Todesanzeige (Prot. K.-Z. 1868 No. 24) bezeichnete. In das geistige Wesen eines solchen Mannes einzudringen und sich ein getreues Charakterbild vorzuführen, ist ein heilsames, die eigene Persönlichkeit förderndes Thun. Bei einem Manne aber, wie Krause, dem seine Kampfesstellung viel Verkennung und Verlästerung einge­ bracht hat, ist eS zugleich eine Pflicht der geschichtlichen Gerechtigkeit, auch denen, die nicht sehen wollen, sein wahres Bild vorzuhalten. Krause war von Hause aus ein kräftiger, derber Geist mit ungemeiner Spannkraft ausgerüstet, wie denn all sein Reden und Han­ deln den Eindruck der Kraftfülle und Lebensfrische machte. Wie der Umriß, seines Gesichtes, wenn er in lebhaftem Gespräche begriffen war, an Luthers Kopf erinnerte, so finde ich auch eine nicht unbedeu­ tende Aehnlichkeit der geistigen Veranlagung, namentlich in dem starken gemüthlichen Bedürfniß, welches sich bei beiden in der Liebe zur Musik und zu traulicher Geselligkeit ausprägte, in dem Drange, im Gegen­ satz zu aller Verkünstelung die reine Natur zum Wort kommen zu lassen, auch im Spielen deö Geistes in Humor und Sarkasmus. Krause war nicht einseitig angelegt; keine geistige Fähigkeit überwog die andere in einem Maaße, daß sie ihm Anlaß werden konnte die Pflege der übrigen zu vernachlässigen, keine war schwach vertreten. Er hatte einen scharfen Verstand, der keine Ruhe hatte, bis er über die Dinge im Klaren war und ihnen auf den Grund sah. Schon als Jüngling bewunderten ihn seine Commilitonen wegen der „staunenöwerthen Leichtigkeit, mit welcher er jede vorliegende Materie des Den­ kens übersah und daö punctum saliens erkannte". Seine Willensanlage war stark, und seine Jugend bietet Zeugnisse, wie eS ihm ein Bedürf­ niß war, Schwierigkeiten mit Einsetzung aller seiner Kraft, oft mit maaßloser Anstrengung zu überwinden. Auch die gemüthliche Seite trat bei ihm keineswegs zurück, wie schon erwähnt. Wohl war er keusch in den Aeußerungen gemüthlicher Art und trieb keinen Luxus mit ihnen; denn er haßte die Schaustellungen, auch konnte diese Seite seines Wesens bei der Art seiner öffentlichen Wirksamkeit nur selten hervortreten. Nichtsdestoweniger sind die, welche seiner Person nahe standen, darüber einstimmig, daß ein reiches und tiefes Gemüth im Büsen des geharnischten Mannes geruht habe. Gerade die Gleich­ mäßigkeit der Anlage bei verhältnißmäßiger Stärke der einzelnen Fä­ higkeiten machte ihn für die eigenthümliche Stellung geschickt, welche Gottes Weisheit ihm zuweisen wollte.

Er hat sein Pfund nicht vergraben.

In strenger Arbeit von

Jugend auf und in heißem Verlangen sich allseitig durchzubilden ist er ein Vorkämpfer geworden, der in sich das Bewußtsein trug, am rechten Platze zu stehen und den Anforderungen stellung gewachsen zu sein.

seiner schwierigen Lebens­

Soll ich nun seinen Charakter darstellen, so ist mir nicht zweifel­ haft, daß voranstehen muß seine Wahrhaftigkeit. ES ist bezeich­ nend, daß die erste Jugendschrift Krause's, die er der Oeffentlichkeit anvertraute, von der Wahrhaftigkeit handelte, und daß er in derselben der Nothlüge keinerlei Berechtigung zugesteht, vielmehr gerade ihre Bekämpfung sich zum Ziele setzt. In der Uebernahme einer Verpflich­ tung auf die Bekenntnißschriften sah er eine Lüge, und auf ein kirch­ liches Amt wollte er lieber verzichten als mit einer Lüge eS erkaufen. Man sieht, die Liebe zur Wahrhaftigkeit war in dem Jüngling stürmisch und fast überreizt, und die Peinlichkeit, mit der er zu Werke ging, um sich vor jedem Ansatz zur Unwahrheit zu bewahren, hat ihm in der Gährungszeit schwere Stunden bereitet. Auch dem reifen Manne war an vielen seiner Gegner nichts widerlicher und nichts entrüstete ihn mehr als ihr verlogenes Wesen, ihre Heuchelei, mit der sie sich des Alleinbesitzes der Wahrheit rühmten, während sie eö an der allergewöhnlichsten Wahr­ haftigkeit fehlen ließen. Wo er Freunde und Gesinnungsgenossen auf falschem Wege fand, da trat er ihnen entgegen und protestirte, ohne die persönliche Rücksicht, die er dem Freunde schuldig war, zu verletzen, auch öffentlich. Und wie gegen Freund und Feind, sa hat er sein Zeugniß jederzeit freimüthig auch gegen die Behörden gerichtet, wo sie ihm daS Wohl der Kirche zu verletzen schienen. Seine Wahrheitsliebe war gepaart mit einem unbeugsamen Muth. Furcht kannte er nicht; und was er als nothwendig erkannt hatte, das verfolgte er mit zähester Entschlossenheit und mit energischer Ueberlegung.

Er war nie verzagt, auch wenn er keinen Erfolg sah, ein

LooS, das ihm mit seinen Freunden oft genug zu Theil wurde. Und vor der Zeit der Abklärung, als ihm seine Ideale noch die einzige Welt waren und ihm die wirkliche noch nicht in reifer Erfahrung auf­ geschlossen war, mochte sein entschlossenes Wesen, das keine Nachgiebig­ keit kannte, dem Starrsinn oft nahe genug kommen, wie er denn in späteren Jahren es auch selbst offen gestand, daß er sehr schwer zu behandeln gewesen sei und seinen reiferen Mitarbeitern manche Unbe­ quemlichkeit und Noth gemacht habe, auch seinen Standpunkt auf's hartnäckigste zn vertheidigen pflegte.

6

1. Charakterbild.

Wie er vermöge seiner nicht gewöhnlichen Geisteskraft dazu an­ gethan war, ein hohes Maaß von geistiger Selbstständigkeit zu erlangen, so war in ihm auch das Bedürfniß derselben und die Liebe zur Freiheit sehr entwickelt. Einen Zwang oder auch nur einen Druck in Angelegenheiten des Geistes auf sich geübt zu sehen, war ihm un­ erträglich, wie er auch in der Kirche als die unentbehrlichste Forderung die der Freiheit anerkannt wissen wollte und die Bedeutung des Pro­ testantismus vorzüglich in die Geltendmachung der christlichen Freiheit gegen unchristlichen Glaubenszwang und Vorenthaltung der Selbstbe­ stimmung setzte.

Aber was Krause geistige Freiheit nannte, das hatte

für ihn sein Correlat in der Gewissenhaftigkeit; und was die Forderung der Freiheit in der Gemeinschaftsbildung betrifft, so er­ kannte er keine andere an als die, welche kein Recht verletzte.

In

dieser Beziehung war er bei allem Verlangen nach besserer Gestaltung der öffentlichen Angelegenheiten nicht bloß auf politischem, sondern auch auf kirchlichem Voden durch und durch conservativ. So hat er im Mai 1849 den Magdeburger Rationalisten, welche auf einer am 18. April gehaltenen „ersten kirchlichen Versammlung" das Bestehende für völlig bedeutungslos achtende Resolutionen gefaßt hatten, die Schran­ ken gesetzlicher Ordnung gewiesen: „die Magdeburger Rationalisten wollen eine Landessynode weit über die Grenzen des bestehenden kirch­ lichen Rechtssubjekts hinaus, damit auch die freien Gemeinden gehörig mitreden können. Als ob das nicht sicher wäre, daß der Staat nur einer rechtsbeständigen Vertretung des zu Recht bestehenden Kirchen­ subjekts, ganz abgesehen von dessen kirchlicher und moralischer Beschaf­ fenheit, ganz abgesehen davon, ob Altlutheraner und freie Gemeinden vielleicht durch moralisches Unrecht aus demselben gedrängt seien, das Kirchengut aushändigen darf; und als ob es nicht ein unverzeihlicher Leichtsinn wäre, wenn die Kirche ohne eine aus ihrem Wesen kom­ mende unumgängliche Nothwendigkeit ihre „irdischen Güter" in Gefahr bringen wollte. Und endlich auch darin wollen sie den Konfessionellen nichts nachgeben, daß sie, mit Hintansetzung der bestehenden Grenzen eine allgemeine deutsche Kirche anstreben.

Wie jene unbekümmert um

den bestehenden kirchlichen Verband und dessen Ordnung sich willkürlich organisiren und außerhalb mit den Gleichgesinnten Verbindungen an­ knüpfen, um eine allgemeine deutsche Confessionskirche zu Stande zu bringen: so scheinen sie es ihnen nachthun zu wollen zur Erreichung einer deutschen confessionslosen Kirche.

Und leider blickt bei beiden

Theilen nicht undeutlich die Absicht hervor, durch solche Verbindungen

den bestehenden Verband zu zersprengen, falls auf dem ordentlichen Wege dessen Erneurung nicht nach ihren Wünschen ausfallen sollte" (Zeitschr. für die un. ev. Kirche Band VII, No. 21). Aehnlich hatte er schon im October 1848 den „Kirchenbund zu Wittenberg" darauf hingewiesen, daß er in Gefahr sei, seine sittliche Bedeutung mit einer rechtlichen Befugniß zu verwechseln, die ihm in keiner Weise zustehe: „das wäre eben der revolutionäre Gedanke, daß, wer sich die meiste Kraft zutraut, der zu Recht bestehenden Regierung das Regiment aus der Hand zu nehmen befugt fei" (ib. Band VI, No. 15). Durch diese gewissenhafte Betonung des Rechtsbestandes ist der Vorkämpfer evan­ gelischer Freiheit den Männern der Umkehr, die sich auö der Umkeh­ rung des Rechtsbestandes nicht viel machten, wenn sie nur der Umkehr diente, oft recht unbequem geworden. Bei seiner eminenten Gewissenhaftigkeit, welche ihn nöthigte sich auch vom Unbedeutenden Rechenschaft zu geben, war er auch bereit jedermann Rede und Antwort zu stehen. Ja er hatte einen star­ ken Trieb in sich, was sein Inneres bewegte, nach außen zu werfen; und Neigung wie Lebenögang wirkten zusammen, aus ihm einen Mann der Oeffentlichkcit zu machen. Die Interessen, welche ihn vor allen andern bewegten, waren ja nicht seine privaten, sondern die gemeinsamen und in erster Linie die der evangelischen Kirche, wel­ cher er sein Leben gewidmet hat, ohne jemals nach einem Amt in ihr zu trachten, und welcher seine ganze Liebe zugewandt war. Sein offenes Wesen, eben weil es in seiner Gewissenhaftigkeit und in der Reinheit seiner Absichten begründet war, haßte alle diplo­ matischen Kniffe, welche ihm zu durchschauen nicht schwer war und welche er reichlich gegeißelt hat. Dagegen war ihm Klugheit und Vorsicht nicht fremd; er wußte den Spielraum, welchen ihm Gesetz und Ordnung ließ, trefflich auszunutzen und von. jedem günstigen Um­ stand und von jeder Blöße des Gegners Vortheil für die heilige Sache zu ziehen, die er vertrat. Er hatte es freilich mit Gegnern zu thun, die es ihn lehrten, klug und auf der Hut zu sein. Sein gutes Gewissen und seine Tüchtigkeit gaben ihnl ein wohl­ berechtigtes Selbstgefühl, das er seinen Widersachern gegenüber gar nicht verhüllte. Nichts lag ihm ferner als jene unwahre fromme Demuth, welche ein Deckmantel geistlichen Hochmuths ist. Dagegen war er allerdings demüthig und bescheiden vor Gott, indem er die engen Grenzen menschlichen Wissens und Könnens (auch seines ei­ genen) wohl kannte und auch anerkannte. So äußert er einmal über

8

1. Charakterbild.

die Grenzen unsrer menschlichen Erkenntniß: „Unwillkürlich empfängt jeder auf seiner Warte von den entfernteren Gegenständen ein schiefes Bild; unwillkürlich sieht er Licht und Klarheit und Consequenz auf seinem Standpunkt und in seiner Umgebung, in anderen Richtungen dagegen Dunkel und Verwirrung; unwillkürlich nimmt der Einzelne die Resultate,

welche der Bildungsproceß in seinem Denken

grade

absetzt und in seiner Genossenschaft zur Herrschaft bringt, für die all­ gemein gültigen, während es sich in Wahrheit doch ganz anders ver­ hält, weil jeder den Sack, den er auf seinem Rücken trägt, nicht sieht. In Wahrheit sind wir alle ohne Ausnahme in unserem Denken mit gewaltigen Jnconsequenzcn behaftet, und unser Denkproceß wird, dem sittlichen Proceß ganz ähnlich, stets aus zwei Faktoren gebildet, aus neuen Prinzipien nämlich, welche die Aufgabe haben, die große Masse traditioneller Vorstellungen aus alter und neuer Tradition zu durch­ dringen und umzubilden, und was wir mit unsern kritischen Augen an unsern denkenden Mitarbeitern und Gegnern wahrnehmen, nämlich den Widerspruch der unzusammengehörigen Anschauungen, das erblicken die andern ebensowohl an un.s und unserm Denken. Und deßhalb sind wir alle mehr oder minder in Gefahr, manchen Bestandtheil unsers Gedankenkreises für ein Moment der Gegenwart zu halten, der bereits dem Verwesungsproceß der Geschichte überwiesen ist, dagegen in frem­ deren und entfernteren Denkkreisen manches Element nicht wahrzuneh­ men, welches doch im Gedankenantlitz der Gegenwart einen wesentlichen Zug bildet oder gar einen mächtigen Keim für die Gestaltung der Zukunft enthält." So die allgemeine und die individuelle Beschränkt­ heit im Denkprozeß wie in der sittlichen Entwicklung gegenwärtig be­ halten und dieses Bewußtsein auf das Leben wirken lassen, das iftz dünkt mich, wahre Demuth. Wie das Selbstgefühl, so war auch das Rechtsgefühl in ihm stark entwickelt. Ja Spdow sagt von ihm in der Rede an seinem Grabe: „Das Gefühl des Rechts, deS göttlichen und des durch das göttliche gebildeten menschlichen Rechts war nach der Wahrhaftigkeit seines Wesens das innerste Pathos seiner Natur." Rechtsbruch war ihm ein Gräuel, für den er keine Entschuldigung und keine mildernde Gründe gelten ließ.

Er sah eS als Pflicht an, sein Recht zu bean­

spruchen, und freute sich des erwachenden Rechtssinns in seinen Kindern. „Es ist ein kerniger, kräftiger Stamm; er wird sich sein Recht nicht nehmen lassen" sprach er tröstend zu seiner Gattin auf beut letzten Prankestlager.

Aber gerecht und billig war er auch gegen andere.

„Wir

1. Charakterbild. dünken uns in der Gegnerschaft gegen andern es aufzunehmen.

9 den Ultramontanismus mit

Aber freilich ist unsre Gegnerschaft nirgend

so beschaffen, daß wir an dem Feinde das Recht für Unrecht, und daS Unrecht des Freundes für Recht erklären. Auch dem Erzfeinde sind wir nicht Willens sein Recht und seine Wahrheit zu verkümmern noch zu verschweigen. mals

So weit gedenken wir, wo wir öffentlich reden, nie­

die Besinnung zu verlieren, daß wir um Freundschaft oder

Feindschaft willen die Wahrheit beugen sollten" (Der Protestant 1853, No. 50). Wo er sah, daß mit Recht und Wahrheit frivol umgegangen wurde,

desgleichen wo

er Gemeinheit der

Gesinnung erkannte, da

wallte sein innerstes Wesen auf in sittlichem Zorn.

Es steht mir

noch lebhaft vor der Seele, wie er erregt und entrüstet war, wenn er auf eine gewisse hochgestellte aalglatte Persönlichkeit zu sprechen kam, die er für den bösen Dämon der preußischen evangelischen Landeskirche ansah. Sein Eifer gegen das Böse und Verkehrte hat sich hie und da in einem Tone

geltend

gemacht, welcher an die Sprache der

Propheten anklingt, öfters aber macht er sich in niederschmettern­ den Sarkasmen Luft, welche das Verkehrte in seiner Unvernunft bloß stellen. Die innerste Wurzel, aus welcher diese Charakterzüge hervor­ wuchsen, war bei Krause eine lebendige Frömmigkeit. Er pflegte meist den Ausdruck Gottesfurcht zu gebrauchen, nicht in dem Sinn, daß ihm Gott in unnahbarer Ferne stand, vielmehr weil eö ihm tief­ gefühltes Bedürfniß war, Gott als den anzubeten, dem wir alles zu weihen haben. In seinen Aufzeichnungen aus seiner Jünglingszeit finde ich-das seine Frömmigkeit charakterisirende Gebet: „o Herr, be­ hüte mich vor jener Stärke (der Stärke trotziger Selbstüberhebung), damit du nicht meine Kraft zerbrechen müssest; ich will schwach sein, damit du in mir stark und mächtig werden könnest." Er bedurfte eines Gottes, den er als den frei waltenden über sich wußte; Ihm sich unterordnen. Seinen heiligen Willen anerkennen war ihm das Wesen aller Frömmigkeit; es fiel ihm daher wahre Sittlichkeit und wahre Frömmigkeit zusammen.

„Der Arzt, der ganz seinem Beruf ergeben

uneigennützig Tag und Nacht darauf denkt, die Leiden der Menschheit zu lindern und die Gesundheit zu pflegen; der Lehrer, dem es seine ganze Herzenslust ist unter den Kindern zu weilen und der alle Kräfte Leibes und der Seele daran setzt, aus den Kindern der Natur wahr­ haftige gottgefällige Menschen zu bilden; der Soldat, der in ernster

Entschlossenheit in den Krieg zieht, um willig und freudig für das Va­ terland sein Leben einzusetzen —: diese Hingebung ist die eigentliche Sittlichkeit, und diese Sittlichkeit ist immer zugleich Frömmigkeit; denn die Hingebung an einen großen sittlichen Gedanken ist eben Hin­ gebung an einen Gedanken Gottes." Er vergaß aber über diesem im Leben zu bewährenden Verhältniß der Unterordnung das Verhältniß inniger Gottesgemeinschaft nicht. Es lebte in Krause ein kindliches Gottvertrauen, das er in allerlei Lagen reichlich bewährte. „Ich bin fröhlich meines Glaubens, bekennt er einmal, daß ich einen Gott habe, der die ganze Welt in ihren Schicksalen regiert, und der zum Ziel zu führen vermag, was er sich vorgenommen, der den Schwachen unüber­ windlich stark macht, wenn er seinem Rufe folgt und der den Mäch­ tigen wie einen Scherben zerschmeißt, wenn er übermüthig sich unter­ fängt Gott spielen zu wollen; einen Gott, der auch meinen persönlichen Beruf seinem großen Weltplan eingeordnet, der mir stets klar macht, wohin ich zu wandeln habe, wo ich den bezeichneten Pfad zu verlassen versuche, einen Gott, der mich und die Meinigen in der all­ mächtigen Hand seiner Liebe trägt, der mir Weib und Kinder, Freunde und Genossen zu erhalten oder auch zu nehmen vermag; ich bin fröhlich, daß ich in meinem Glauben einet) Gott habe, dem ich alle Angelegenheiten meines Herzens vortragen kann, und dessen allmächtige Liebe mir ebenso gewiß ist, wenn er meinen persönlichen Bitten die Erhörung versagen mwß." Krause war kein Freund frommen Wortgeklingels, er sah darin eine Entweihung des Heiligen und eine höchst verderbliche Schamlosigkeit; er hielt auch nicht große Stücke auf die specifisch christlichett Werke, in denen er eine Uebertragung der katholischen Werkheiligkeit auf den Boden der evangelischen Kirche sah. Die Frömmigkeit, welche er selbst übte und auch von Andern forderte, ist die stille des Herzens, welche ohne Geräusch und Aufsehen das ganze Leben durchzieht und dahin trachtet aus dem Leben nach des Menschen individueller Berufsstellung eine kräftige That kindlichen und doch mannhaften Gehorsams gegen Gott zu machen. Eine Frömmigkeit, die so wenig auf lange Gebete und breite Säume hielt und der eö nur darum zu thun war, sich von der Welt innerlich unbefleckt zu erhalten, nicht aber äußerlich durch eine bestimmte Signatur von ihr sich abzuscheiden, die es überdieß wagte zu glauben, daß der Geist Gottes an den Altären und auf den Kan­ zeln sehr wenig zu spüren sei und es schlimm um Gottes Reich stände, wenn seine Wirksamkeit in die engen Grenzen gebannt wäre, die ihm

11

2. Lebensgang.

eine verknöcherte Kirchlichkeit anweist: eine solche Frömmigkeit konnte freilich auf vielfache Mißkennung rechnen; man sprach statt von Krause's gesunder, urwüchsiger Frömmigkeit von seinem Unglauben und Man­ gel an Sinn für das Heilige. seines Lebens

UnS aber ist er, — und die Frucht

zeugt für uns, — ein wahrhaft gläubiger,

wahrhaft

frommer Mensch gewesen.

2. Le-ensgang. Heinrich Krause wurde geboren am

2. Juni 1816 im Dorfe

Weißensee, eine Stunde Weges von Berlin entfernt. Er stammte aus einer bäuerlichen Familie, in deren Schooße die patriarchalische Ein­ fachheit seinen jungen Geist schützend umfing und wo er den Segen ausdauernder

genügsamer Arbeitslust kennen lernte.

wüchsige Weise sich zu

Seine natur­

geben, sein Werthlegen auf ein natürliches

ungekünsteltes Wesen ist bei ihm ein Erbtheil gewesen, welches er aus seinem elterlichen Hause mitnahm.

Eine gewisse Derbheit int Aus­

druck, wo es ihm frei stand sich gehen zu lassen, z. B. im heiteren Freundeskreise, stand ihm wohl an. Und wenn feine polirten Gegner über eine und die andere Derbheit spöttelten, welche er sich im Eifer des Kampfes erlaubte, und ihn den Bauer nannten, so lachte er herz­ lich darüber, sich dieses Zeichens seiner Abkunft freuend.

Er schaute

Mit der Lust eines Mannes, der, waö er geworden, vor Allem durch eigene Anstrengung geworden ist, auf seine bäuerliche Abkunft. Es müssen sich. Pflegte er zu sagen, die höheren Klassen der Gesellschaft immer wieder aus den niedrigeren rekrutiren, wenn sie kraftvoll und gesund bleiben sollen. Und er hatte mit Recht das Gefühl ein Mann aus dem Volke zu sein, der urwüchsiges Wesen in höheren Schichten geltend zu machen habe, dem andrerseits schon um seiner Abkunft willen Wohl und Wehe des Volks am Herzen liegen müsse. Die Nähe der Hauptstadt ermöglichte ihm den Besuch der Schule seines nachmaligen Schwiegervaters Dr. Marggraff vom väterlichen Hause aus, wenn er gleich mit mancher Strapaze verknüpft war. Er behauptete sich als der erste in seiner Klasse und zeichnete sich schon damals durch ungemeine Leichtigkeit der Auffassung, auch Klarheit und Präcision des Ausdrucks aus.

Nachdem er längere Zeit das Aner­

bieten benützt hatte, an dem sorgfältigen Privatunterricht der Söhne

12

2. Lebensgang.

des Dr. Borchard Theil zu nehmen, ging er 1833 in die Sekunda des Gymnasiums zum grauen Kloster über und wurde bald mit einer Freistelle an der dortigen sog. Communität, die ihm freie Station ge­ wahrte, bedacht. Mit Ostern 1834 wurde er nach den Mittheilungen eines Jugendfreundes primus omnium und ging im Herbst 1834 als der gereifteste seines Alters auf die Universität ab. Er zeigte gleiche Anlage für Sprachen, wie für exakte Wissenschaften und Geschichte; besonders zeichnete er sich im Griechischen aus, so daß er nach dem Zeugniß eines Freundes seinem Lehrer Bellermann niemals die richtige Antwort schuldig blieb, wenn auch die ganze Klasse schwieg. Er war der Mittelpunkt der Geselligkeit einer ziemlichen Anzahl von verschie­ denartigen jungen Geistern, die er durch seine Biederkeit, seine geistige Ueberlegenheit und seine Lebensfrische an sich zog. Da wurde musicirt, gekegelt, geklettert, geschwommen. Zur Musik hatte der Jüngling eine ganz besondere Neigung, wie er denn oft in seinem elterlichen Garten in Weißensee auf dem Baume saß und melancholisch die Flöte in die Abendluft hinein bließ. Bei seinem starken gemüthlichen Be­ dürfniß bildeten sich ihm aus diesem frischen Verkehr mit den Commilitonen herzinnige Jugendfreundschaften, welche über ein Jahrzehnt emsig gepflegt wurden und auch späterhin, als die verschiedenen Lebens­ verhältnisse ihren gewaltigen Einfluß auf die Freunde geübt und sie in verschiedene Lager geführt hatten, ihm und ihnen in zartem Andenken blieben. Schon in seiner Gymnasialzeit hatte er viel mit Krankheit zu kämpfen. Sein stark gebauter Körper litt schwer durch das kalte Fieber, und dieser Zustand wurde noch verschlimmert durch die Leiden­ schaftlichkeit, mit welcher der Jüngling, der in Arbeit und Anstrengung kein Maaß kennen wollte, alles, was ihn interessirte, ergriff. Seine theologischen Studien hat er in Berlin begonnen und voll­ endet. Und aus seinem schriftlichen Nachlaß ist zu sehen, daß ihm besonders die Exegese der alt- und der neutestamentlichen Schriften angelegen war; denn er hat nicht nur die Hülfsmittel auö der neueren Zeit, sondern vorzüglich auch die Commentare von Calvin durchgear­ beitet. Auch die Philosophie lag ihm am Herzen und er ließ sich an­ gelegen sein in Betreff der wichtigsten Probleme selbstständig und unter kritischer Auseinandersetzung mit den Epoche machenden Geistern nach­ zudenken und Lösungen zu versuchen. So findet sich ein Manuskript, freilich ein bald abgebrochenes, mit dem Titel: Kritik von Kants Kri­ tik der reinen Vernunft, und eine eingehende Kritik der Beweise vom Dasein Gottes. Unter den theologischen Fragen hat er sein Studium

2. LebenSgang.

13

schon damals vorzüglich denen zugewandt, in welchen er später so mei­ sterhaft zu Hause war: Wesen der Kirche, Verhältniß von Staat und Kirche, Gewissensfreiheit, Schrift und Tradition, Wesen der Religion. Er begnügte schon damals sich nicht. Fremdes sich anzueignen, sondern er rang mit Ernst um den Preis einer tieferen Erkenntniß als die, welche ihm von der Literatur geboten war. Unter den Lehrern, welche auf der Universität auf ihn Einfluß übten, steht Neander voran, von ihm und seinen Freunden auf das höchste verehrt. Krause ist auch über die Universitätszeit hinaus mit ihm in persönlicher Verbindung geblieben und der um Krause'S Ge­ sundheit besorgte Neander empfahl ihn dem Dr. Horn zur Wiederher­ stellung. Auch Twesten, dem er wegen seiner confessionalistischen Richtung später sehr ferne stand, schätzte er wegen seiner Gründlich­ keit.

Dagegen stieß ihn Marheineke mit seinem selbstbewußt vornehmen

Wesen und seiner Hegel'schen Spekulation gründlich ab.

Ohne Zweifel

war es vorzüglich die Neander'sche Pektoraltheologie, welche den alles mit leidenschaftlicher Energie ergreifenden und mit inniger Gemüthsbe­ theiligung in sich verarbeitenden Jüngling in pietistische Bahn überleitete und seiner Frömmigkeit mehrere Jahre hindurch einen asketischen Zug verlieh. Er führte längere Zeit das Büchlein von der Nachfolge Christi von Thomas a Kempis fast beständig mit sich, und machte in dieser Uebergangsperiode herbe innere Kämpfe durch, in denen er auch nach außen in verletzende Schroffheiten gerieth und sich in bestem Meinen von einigen seiner Freunde, die ihm so weit nicht folgen moch­ ten, zeitweise stark entfernte. Uebrigens wurde die Gesundheit seiner geistigen Natur auch in dieser Periode nicht erschüttert.

Eö kam in

ihm nicht zum schlaffen Verzichten auf den sittlichen Kampf mit sich selbst und eben so wenig gab er die Denkarbeit auf. So sehr er sich auch bemühte, sein Denken dem „Glauben der Kirche" gänzlich unter­ zuordnen, so redlich war er bestrebt, durch die Zweifel hindurch zu einer wohlbegründeten Ueberzeugung zu gelangen, und mitten in seiner Pietistischen Periode kann er an einen Busenfreund schreiben, nachdem er eine ganze Reihe von Problemen, die ihn beschäftigen, aufgeführt: „so lasse ich denn meinen Gedanken freien Lauf." Sein körperlicher Zustand wurde in Folge des lang andauernden kalten Fiebers und aufreibender geistiger Bewegungen gegen Ende seiner Studienzeit so bedenklich, daß er, nachdem er durch kurze Unthätigkeit seinen Zustand ein wenig gebessert glaubte, sich entschloß das theologische Examen möglichst schnell zu machen, um dann 'nach ärzt-

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2. Lebensgang.

lichem Rath durch Ortswechsel und körperliche Pflege das schlimmste abzuwenden. Magenschmerzen, Verdauungslosigkeit, Kraftlosigkeit, und wie er sich ausdrückt, „gräßliche Stumpfheit" hatten sich eingestellt. Trotzdem wurde ihm in der Prüfung im Frühjahr 1839 gegen sein Erwarten das Prädikat „sehr gut mit Auszeichnung" zu Theil. In den folgenden Jahren lebte er in der Stille als Candidat, seine wissenschaftlichen Kenntnisse vervollständigend, wenngleich von Kränklichkeit immer noch gehemmt und gepeinigt. Aus den Mitthei­ lungen eines Freundes, der von ihm sagt, daß er einen ganzen Stoß Manuscripte ausgearbeitet habe zum Behuf theologischer Vorle­ sungen an der Universität, die ihm aber abhanden gekommen seien, ist zu schließen, daß er vor seinem Licentiatenexamen mehrere Jahre lang sich speciell für den akademischen Beruf vorbereitet habe. Gepredigt hat Krause zwischen den Jahren 1845 und 1854 in Berlin selbst und in der nächsten Umgebung manchmal. Es finden sich in seinen Papieren über ein Dutzend ausgeführter Predigten. Obwohl von sehr verschiedener Färbung, da sie zum größeren Theil der Zeit der inneren Gährung entstammen, tragen sie doch darin alle dieselbe Art an sich, daß sie die Frömmigkeit unter den Gesichtspunkt des persönlichen und des kirchlichen Handelns stellen. So redet er einmal über das Absagen allem, was man hat, ein ander Mal dar­ über, wie wir alles, was wir um Christi willen verlassen, vielfältig wieder empfangen, an einem Sylvesterabend davon, wie wir am Schluß eines Jahres Gott zu loben und zu danken haben für alles, was das Jahr uns gebracht hat. Ganz besonders bezeichnend ist eine Predigt aus dem Jahre 1847 über Joh. 5, 17 und 6, 28. 29, gehalten in der Nicolaikirche in Berlin. Sein Thema ist: wie viel Frömmigkeit und wieviel Thätigkeit. „ Wie alle wahrhaft sittliche Thätigkeit zurückweiset auf die Frömmigkeit als ihre Wurzel, so hat wiederum alle wahre Frömmigkeit die Nothwendigkeit in sich, sich in sittlicher Thätigkeit zu äußern, die Liebe Gottes treibt zu Werken der Liebe., Eine kann ohne die andere nicht bestehn." Eine seiner letzten Predigten (üb. Matth. 10, 34—37) hat zum Thema: wie verhalten sich im christlichen Glau­ ben Krieg und Friede? Ueber das kirchliche Handeln ergeht er sich in den.Themen: vom Ausraufen des Unkrauts und: ob und wie die Kirche von ihrer Gemeinschaft auszuschließen habe? Es ist diesen Pre­ digten leicht anzuspüren, wie Krause bei ihrer Ausarbeitung ganz nur mit dem Inhalt beschäftigt war und bestrebt, denselben zum Behuf der Erbauung zu erschöpfen; der Form und namentlich der rednerischen

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2. Lebensgang.

Ausgestaltung hat er keine Sorgfalt zugewendet.

Bei aller Trefflich­

keit und Gediegenheit des Inhalts lassen seine Versuche auf diesem Gebiete schließen, daß er hier das Maaß mittlerer Güte nicht über­ schritten hätte, und wir haben die göttliche Weisheit zu preisen, welche ihn in den Jahren furchtbaren Druckes in der Kirche ganz anderswo­ hin stellen wollte als auf die Kanzel einer friedlichen Landpfarre, die sein Jugendideal gewesen ist. Krause wußte es, daß er für eine wissenschaftliche Laufbahn mehr geeignet sei als für das Amt eines praktischen Geistlichen. Und da ihm zudem Gewissensbedcnken wegen der Uebernahme von Verpflich­ tungen, wie sie an den praktischen Geistlichen herantreten, viel zu schaffen machten, so dachte er daran, sich an der Universität zu Berlin zu habilitiren.

Er machte am 7. April 1845 sein Licentiatenexamen.

Allein er mußte den Plan sich zu habilitiren zuerst für das Sommer­ halbjahr aufgeben, da ihm der damalige Dekan der theologischen Fa­ kultät Twesten entgegen war und ihm, wie Krause in einem Brief mittheilt, allen Beruf für die Wissenschaft absprach.

Bald sah er ein,

daß die Fakultät überhaupt gegen ihn wäre und ihm in Berlin keine Aussicht bleibe ein akademisches Lehramt zu erhalten. Er meinte freilich, das Urtheil der Fakultät, zumal es ein leichtsinniges sei, könne ihn in dem seinigen nicht irre machen. Und er hatte die Genugthuung, seine Abhandlung „über die Wahrhaftigkeit" von Nitzsch als tüchtig anerkannt zu sehen. Als die „Monatsschrift

für die

unirte

evangelische

Kirche", deren Begründer und Herausgeber die ersten Kämpfer für konsequente Durchführung des Unionsprincips H. Eltester, L. Jonas, F. A. Pichon und A. Shdow waren, im Juli 1848 in ihrem dritten Jahrgang in eine Wochenschrift mit dem Titel „Zeitschrift

für

die unirte evangelische Kirche" überging, da trat Krause als Mitherausgeber ein und es wurde ihm von seinen amtlich vielbeschäf­ tigten älteren Freunden die eigentliche Redattionsarbeit anvertraut. Die Erstlingsprobe seines journalistischen Talents hatte er schon im 2. Jahrgang der „ Kirchlichen Vierteljahrs-Schrift", in welcher die li­ beralen Elemente der preußischen Geistlichkeit im Vorgefühl der, heran­ nahenden Krisis zuerst sich gesammelt hatten, mit Ehren und so ab­ gelegt, daß es klar ward, es reife in ihm ein entschiedener und starker Gegner des Confessionalismus heran.

Die 1846 an die Stelle tre­

tende Monatsschrift brachte schon eine ganze Reihe von größeren Ar­ tikeln aus seiner Feder

worunter der bedeutendste: „Die Leistungen

2. Lebensgang.

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der Preußischen Generalshnode des Jahres 1846 in der Bekenntniß­ frage" eine einschneidende Kritik übte, von weichen vertrauensseligen Gemüthern übel aufgenommen, aber durch den Gang der kirchlichen An­ gelegenheiten glänzend gerechtfertigt.

So eben hatte Krause im letzten

Heft der Monatsschrift (April-Juni 1848) die Frage gestellt: „welchen Beruf hat im gegegenwärtigen Augenblick die evangelische Kirche?" und die Antwort gegeben: „wir sollen billig einstweilen alles einseitige Bauen und Bessern unterlassen, und alle unsre vereinten Kräfte rich­ ten auf das Eine, was noth ist, auf die Eroberung der kirchlichen Freiheit", als er in die Redaktion der „Zeitschrift für die unirte evangelische Kirche" und damit in seinen eigentlichen Lebensberuf eintrat. Selten wird ein Mann, der nicht in eine amtliche Stellung mit bestimmt vorgezeichneten Arbeiten, sondern in eine freigewählte Arbeit eintritt, in dem vollen Maaße das Gefühl haben, daß er von Gott an seinen Platz gestellt sei, wie Krause es haben durfte und wirklich hatte.

Seine Neigung und Befähigung stand in voller Ueber­

einstimmung mit dem, wozu ihn sein Gewissen trieb, und was er als durch die Lage der Dinge gefordert erkannte. Im October 1851 begann Krause mit der Herausgabe der Wochen­ schrift: „Der Protestant.

Ein Kirchenblatt für daö evan­

gelische Volk", im Aufträge des Unionsvereins. Den Charakter dieser Zeitschrift zeichnet er nach seiner kernigen Weise im Pro­ gramm mit den Eingangsworten: „wir setzen unS vor, das evangelische Volk mit der evangelischen Kirche zu verständigen. Denn wir meinen, daß die Kirche das Volk nicht verstehe, und daS Volk nicht die Kirche. Es ist eine Thatsache, die nicht bestritten werden kann; die evangelische Kirche hat in unsrer Zeit nicht die Macht über die Gemüther des Volks, welche sie vor Zeiten gehabt hat und welche sie ihrem Wesen nach zu haben begehren muß." Dieser kirchlichen VolkSzeitung hat Krause seine volle jugendliche Manneskraft gewidmet; in frischester Be­ geisterung hat er darin Ungewöhnliches geleistet.

Es war ihm ein

Schmerz, als er genöthigt war, sie eingehen zu lassen, weil er zu einer in viel weitere Kreise dringenden Arbeit berufen wurde, und oft wollte es ihm scheinen, es sei die Drangabe des „Protestanten" doch ein allzu schweres Opfer gewesen.

Die „Zeitschrift für die unirte

evangelische Kirche" und der „Protestant" mußten der „Pro­ testantischen Kirchenzeitung für daö evangelische Deutsch­ land " weichen, welche mit dem 1. Januar 1852 in's Leben trat, her­ ausgegeben von Credner, Dittenberger, Elteste^. Hase, JonaS, Schwarz,

2. LebenSgang.

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Shdow, Zittel, unter verantwortlicher Redaktion von Krause.

Am 10.

September 1853 hatten am Fuß der Wartburg etwa 50 Männer der freieren evangelischen Richtung, darunter auch Nichttheologen, getagt, um für das evangelische Deutschland ein Organ zu schaffen, welches der immer ungescheuter auftreteudeu Reaktion die Spitze bieten sollte. Es dürste nicht überflüssig sein, in Erinnerung zu bringen, was dieser Vorläufer des Protestantentages als Ausdruck seiner Gesinnung sowie als Programm der zu gründenden Zeitschrift festsetzte: §. 1.

Wir stehen mit den reformatorischen Bekenntnissen, den deutschen und den schweizerischen, auf dem einigen Grunde, der gelegt ist, und außer und neben dem kein anderer gelegt werden soll, Jesüs Christus, wie ihn die Schrift bezeugt. Wir wissen uns an diesen einigen Grund schlechthin gebunden, und in dieser Gebundenheit schlechthin frei von aller Men­ schenautorität in Dingen des Heils.

Wir wollen nur die

sich selbst auslegende Schrift, keine außerhalb der Schrift §. 2.

liegende authentische Norm ihrer Auslegung. Wir sind gesonnen, an unserem Theile diese Grundsätze der evangelischen Reformation in allen ihren Folgerungen gel­ tend zu machen und nach dem Maß der uns von Gott ver­ liehenen Kräfte dahin mitzuwirken, daß der evang. Protestantismus sich immer mehr auf sein Wesen besinne und mit seinen erlösenden Kräften immer tiefer und weiter die ganze Kirche und das ganze Leben des evangelischen Volkes durchdringe.

§. 3.

Darum wollen wir die Union aller evangelischen Christen, eine Union, innerhalb welcher die Freiheit unterschiedener Glaubens- und Lehrweisen auf dem einigen Grunde uitd zwar an jedem Punkte der Kirchengemeinschaft

§. 4.

gefordert

und berechtigt ist. Das alles wollen wir so, daß wir überall halten an dem bestehenden Recht und von hier aus nach dem bezeichneten Ziele streben in dem Wege rechtsbeständiger Ordnung und

nach dem Gesetze geschichtlichen Fortschritts. Unter den mannigfachen Anstrengungen seiner publicistischen Thä­ tigkeit hatte Krause im Geschäft des Redigirens einer Zeitschrift eine seltene Meisterschaft erlangt. Gehaltvoll, charaktervoll und anregend ist die Zeitung immer gewesen, und Shdow hat nicht zu viel gesagt, wenn er von Krause rühmt, daß in der Redaktion der Protestantischen Kirchenzeitung sich bei ihm Gesinnung und Talent, Kenntniß und UrSpaeth, Protestuntische Buustcme.

2

18

2. Lebensgang

theil, Besonnenheit und schlagfertiges Wort auf seltene Weise ver­ banden (Prot. K.-Z. 1868, Sp. 583). Obwohl er sehr verschiedene Geister zum Wort kommen ließ, spürte man doch überall, daß die Zeitschrift sich unter seiner Leitung von der abgesteckten Bahn nicht verirren könne. Er war die Seele der Zeitschrift, aber er lebte auch für sie. Spät erst, in seinem 40. Lebensjahre, ist Krause dazu gekommen, sich eine Häuslichkeit zu gründen. Die Treue gegen seine Ueber­ zeugung und der Entschluß mit den die Kirche verderbenden Mächten einen Kampf auf Leben und Tod zu kämpfen, hat ihn Jahrelang ge­ nöthigt, sich in der äußern Lebensführung nicht geringe Selbstbeschrän­ kung aufzulegen. Es standen ihm wahrlich keine Fleischtöpfe in Aus­ sicht. Und es hat sich in dieser Zeit der Entbehrung feine edle Ehren­ haftigkeit glänzend erprobt. Er konnte es nicht über sich gewinnen, von seinem Vater Unterstützung anzunehmen; denn ein Mann müßte sich, war seine Meinung, selbst durch die Welt schlagen, nachdem ihn die ©einige» in den Stand gesetzt, sich sein Brot zu verdienen. Eine wunderbare Fügung Gottes führte ihn in den Ehestand. Einer seiner Jugendfreunde war nach langem Leiden gestorben und hatte seine Gattin in Vermögensverhältnissen hinterlassen, welche es Krause er­ möglichten, Jugendwünsche zur Erfüllung zu bringen und zugleich ein treuer Pfleger und Miterzieher der aus erster Ehe angetretenen Kinder zu werden. Jetzt erst offenbarte sich der ganze Reichthum des Ge­ müthslebens in diesem scharfkantigen Manne. Wie war er offen für das häusliche Glück, wie gab er so gerne dem Gefühl einen Ausdruck, wie nothwendig die Ergänzung des Mannes durch bas Weib sei und wie vollständig dieselbe grade in seinem Hause Statt finde, wie hat er so scharf blickend und mit dankbarer Verehrung.tzes- Schöpfers die Geistesart seiner Kinder beobachtet und mit evangelischem Ernst der freien heiteren Entwicklung zugeführt. Unerwartet und ohne es zu tuchen war er in Wohlstand versetzt worden. Aber dieselbe Geistes­ herrschaft, welche seiner Dürftigkeit den Stempel aufgeprägt hatte, folgte ihm auch in den Wohlstand. Und die Pflege der höheren In­ teressen, für welche er immer gelebt, nahm jetzt nur einen geselligeren und behaglicheren Charakter an, wie denn die Gastlichkeit seines Hau­ ses einer großen Zahl von Freunden, auch solchen, die um ihrer Ueber­ zeugung willen Mangel zu leiden und keine Stätte hatten, unvergeß­ lich sein wird. Wiewohl er auf das Geld an und für sich keinen großen Werth legte, wußte er doch die günstige Wendung seiner äußern

3. Die geistige Entfaltung.

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Existenz sehr zu schätzen. Unabhängig war er ja immer gewesen, aber seine Kampfesstellung machte ihm auch die äußere Unabhängigkeit höchst wichtig. Seine Liebe und seine Arbeitskraft blieb unverändert dem Dienste zugewandt, wozu ihn Gott bestellt hatte, wenn er gleich auch ohne Arbeit leben konnte. Er hat in dem letzten Theil seines Lebens, wo er unbeengt war, fast noch mehr als in den früheren Zeiten be­ wiesen, welch ein edler Idealismus ihn beseelte.

3. Die geistige Entfaltung. Sein äußerer Lebenögang, obwohl er für den innern Menschen sehr kritische Momente enthielt, war doch sehr einfach und entbehrte romanhafter Zieraten und Verwickelungen. Sein Leben hatte einige Aehnlichkeit mit dem Kants, mit dem er auch in seinem sittlichen Wesen manchen Zug theilt. Wie dieser die Grenzen seiner Batetstadt kaum überschritt, so hat auch Krause mit Ausnahme voy Reisen 'für kürzere Zeit, welche meist der Förderung kirchlicher Interessen gewidmet waren, nur in und bei Berlin gelebt. Aber die Gleichmäßigkeit des äußern Lebens war bei dem starken Trieb zur Selbstbildung der Ent­ wicklung Krause's vielleicht günstiger als eine Reihenfolge bunter, den Geist leicht zerstreuender Ereignisse. Durch seine Arbeit an sich selbst hat Krause eine reiche innere Geschichte durchlebt, und in den inneren Entwicklungsgang eines Mannes von solcher Stärke des Charakters und solcher sittlichen Reinheit einen Blick zu thun dürfte nicht bloß psychologisch interessant, sondern auch von heilsamen sittlichen Wir­ kungen begleitet sein. Eine religiöse Anregung von mehr als gewöhnlicher Stärke hat Krause von dem Consistorialrath Dr. Pischon, mit dem er später zu­ sammen für die Union kämpfte, im Confirmanden-Unterrichte empfan­ gen. Krause hat demselben sein erstes schriftstellerisches Erzeugniß, die Schrift über die Nahrhaftigkeit gewidmet. Er sagt in der Wid­ mung: Ihnen, theurer Mann Gottes, bin ich vor Vielen Dank schul­ dig. Sie sind mein Vater in Christo. Voll heiliger Liebe zu ihm haben Sie mir einst durch Wort und Wandel in lebendigen Farben sein Bild vor die Seele gemalt, daß es dem jungen Herzen sich tief einprägte; und er hat mit seinem allmächtigen Wort den Stürmen der bewegten Brust Schweigen geboten, daß sie stille werden, und 2*

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3. Die geistige Entfaltung.

einen Quell der Wahrheit und Heiligkeit in ihr eröffnet, der da fließet ins ewige Leben. Sie haben den Grund gelegt zu meinem ewigen Heile, den Grund zu einem Tempel des heiligen Geistes." Dieser schon im angehenden Jüngling sehr lebendige Zug zu eru» ster Religiosität hat Krause dem Studium der Theologie zugeführt. Und grade dies, daß ein tiefes gemüthliches Bedürfniß feinen wissen­ schaftlichen Bestrebungen zu Grunde lag, bestimmte mehr als die Ein­ wirkung von Persönlichkeiten und theologischen Richtungen, mit denen er in Berührung kam, den Gang seiner sittlich-religiösen und theolo­ gischen Entwicklung. Eine unvollendete Predigt über 2. Cor. 5, 17 *), wahrscheinlich ein Versuch aus seiner Studienzeit, der nicht zur vollen Ausführung kam, enthält Selbstbekenntnisse, welche uns klare Blicke in sein jugend­ liches Ringen thun lassen. Ich strebte, hebt er an, als mein Geist zu erwachsen begann, mit aller jugendlichen Kraft nach Erkenntniß, nach Wahrheit. Durst nach ihr ließ mir keine Ruhe weder Tag noch Nacht.

Der heiße Begierig

verschlang ich alles, was mir Wahrheit verheißend entgegenkam.

Aber

je mehr ich in mich aufnahm von den gepriesenen Schätzen der Wissen­ schaft, desto finsterer und verworrener wurde mein Geist. Je mehr ich die verschiedenen Lehrgebäude erschöpfte, desto gewisser wurde es mir, daß ich auf diesem Wege das ersehnte Kleinod nimmer erlangen werde. Da wollte ich denn nichts mehr hören von Büchern, von Lehrern, von Schulen, von Systemen; unwillig wandte ich mich von allen ab und wandte mich an meinen eigenen Geist. Da hatte ich ja noch nicht gründlich untersucht, in ihm konnte ja der Schatz verborgen liegen. Aber je mehr- ich mich in die dunkeln Gänge meines Innern vertiefte, desto weiter kam ich vom Licht; ich hatte mir ja keine Leuchte mitge­ nommen. Mir schauderte vor der entsetzlichen Finsterniß iit meinem eigenen Geiste, und ich war froh, daß ich glücklich wieder herausfand aus diesem Labyrinth. Die geliebte Wahrheit zu erkämpfen, wollte mir auf keine Weise gelingen; traurig legte ich die Waffen nieder. Ich hatte in diesem Kampfe sogar das wenige Vermögen eingebüßt, das ich zuvor besessen. Vorher hatte es für mich manche feste Punkte gegeben.

Ich glaubte an einen Gott, glaubte, daß er ewig, allmächtig

sei, daß er alle Dinge geschaffen, daß er heilig, gerecht sei, ich glaubte.

*) Das Folgende- ist natürlich nur ein Auszug, aber in den eigenen Worten Krause'«.

3. Die »eistige Sntfaltimg.

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daß die menschliche Seele unsterblich sei; ich wußte die Pflichten deS Menschen gegen Menschen, wußte was recht und billig, wußte was sittlich und anständig sei. Nun war mir alles ungewiß geworden, ich wagte nicht einmal mehr mit Bestimmtheit zu hehaupten, daß über­ haupt ein Unterschied zwischen gut und böse fei, und daß ein Gott sei. Auch der Stimme des Gewissens wollte ich nicht mehr glauben; denn ich hielt sie nur für eilten Nachhall alter Gewohnheit, die das, was man mir anerzogen, mich in der Kindheit gelehrt hätte, nicht auf­ geben wolle. Und diese, als Feindin aller natürlichen und reinen Erkenntniß gedachte ich schon mit der Zeit zu überwinden. So war ich denn endlich durch meine Forschungen zu dem entsetzlichen Ziele ge­ kommen: ich wußte nichts, ich glaubte nichts, ich verzweifelte an aller Wahrheit, jch fragte wie einst Pilatus: was ist denn Wahrheit? gibt es denn eine Wahrheit? Jch wollte mich ruhig verhalten und um Er­ kenntniß gar nicht mehr kümmern, wie es so viele thun; aber die Ruhe wollte mir schlecht gelingen. Der einmal erwachte Durst nach Wahr­ heit wurde immer von neuem lebendig und die innere Stimme wollte auch nicht schweigen. Da erfaßte mich Verzweiflung, ich wünschte nie geboren zu sein und rief in meiner Herzensangst: „o Gott, wer wird mich erretten aus dieser Finsterniß und Zerrissenheit? Die Grundpfeiler meines Daseins brechen unter mir zusammen und in mir ist alles wüste und leer. Da rief eine Stimme aus der Höhe mit allgewaltigem Tone: es werde Licht in dir! Und siehe, es ward Licht! O Gott, ich danke dir von ganzem Herzen: es ward Licht! Jch habe wieder glauben gelernt, daß es eine Wahrheit giebt, und ich weiß, was Wahrheit ist. Ihr wollt wissen, wie das zugegangen? Nun, hört! AIS die Angst und Noth meines Herzens auf's höchste gestiegen war, da klagte ich einem Freunde, den ich damals kennen lernte, mein ganzes Leiden, meine Verzweiflung. O, sagte er, ich verzweifle noch keineswegs an deiner Genesung, du bist mit dem Suchen noch nicht zu Ende. Ge­ rade bei dem, bei welchem die Wahrheit zu finden, bei dem allein sie zu finden ist, bist du noch nicht gewesen. Suche die Wahrheit doch bei Gott! Diese Rede machte Eindruck auf meine zerrissene Seele, ein Strahl freudiger Hoffnung fiel in die Finsterniß. Jch dachte: könnte ich seinen Willen, seine Gedanken erfahren, da sollte mich keine Mühe verdrießen. Doch wie gelange ich zu ihm? Der Freund hat mich zu ihm hingeführt. Er wies mich an Jesum von Nazareth, den unge­ lehrten ZimmermannSsohn, der in Armuth und Niedrigkeit gelebt, von aller Welt verspottet und zuletzt gekreuzigt ward als ein Uebelthäter,.

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3. Die geistige Entfaltung.

Und siehe da, ich habe geglaubt und erkannt, daß dieser Jesus ist Chri­ stus, der Sohn des lebendigen Gottes, ich habe erkannt, daß Gott sich geoffenbart im Fleisch und gewohnt hat unter uns, voller Gnade und Wahrheit, ich habe erkannt: Jesus Christus ist die Wahrheit und der alleinige Weg. zur Wahrheit. Ja seit meine Augen meinen Heiland gesehen, sind die Schuppen von ihnen gefallen; nun ist eö wieder Licht geworden in meiner Seele und die ganze weite Welt ist mir durch­ leuchtet; alles wird mir Einheit, alles Gewißheit. Und diese Wahr­ heit kann nun nicht mehr von mir weichen; sie hat eine überzeugende Kraft in sich, wie ich sie vormals nie erfahren. — Doch versteht mich wohl: damit will ich nicht behauptet haben, daß der gläubige Geist alles wisse oder frei von Irrthum und Zweifel sei. Nein grade durch Christum habe ich gelernt, bescheiden anzuerkennen, daß alles mensch­ liche Wissen, und das meinige insbesondere, Stückwerk sei, und durch ihn bin ich zu der Einsicht gelangt, daß Irrthum und Zweifel diesseits des Grabes nie in mir aufhören werden. Nur das ist der große Un­ terschied zwischen dem alten Menschen und dem neuen, der in Christo ist, daß der alte ein schwankendes Rohr ist, welches von jedem Winde bewegt wird, der neue aber in sich das klare Bewußtsein trägt, die Wahrheit in Christo gefunden zu haben, die der Grund und Mittel­ punkt, die Anfang und Ende aller wahren Erkenntniß ist, die dem Geiste Einheit, Friede, Seligkeit verleiht. O kommt zu Jesu und lasset euch doch nicht abhalten durch solche Reden, als müßtet ihr dann allen Wahrheitssinn, alle Unbefangenheit aufgeben; das schwatzt die Unvernunft, die Christum nicht erkannt hat. Kommt und prüfet sel­ ber, aber mit Demuth und heiligem Ernst, und ihr werdet schmecken, wie freundlich der Herr ist. Aus der Sünde war die Finsterniß in meinem Geiste geboren; denn der Mensch ist durch die Sünde in Irrthum verderbt. Ich hatte von früher Jugend auf ein lebendiges Verlangen ein guter Mensch zu werden. Was gut, was tugendhaft sei, wußte ich; man hatte es mich ja von Kindheit an gelehrt. Und daß ich dies Ziel erreichen werde, daran zweifelte ich keinen Augenblick. Tugend ist ja Sache des freien Willens. Wer will diesen hemmen in seinem Lauf? So fing ich an meinem Vorbilde nachzulaufen. Doch ich hatte kaum ein paar Schritte gethan, so wurde mein Auge abgelenkt von dem vorgeschriebenen Wege und dem Auge folgte unwillkürlich der Fuß. Denn siehe, es thaten sich vor meinen Augen zur Linken lachende Auen auf, die viel angenehmer erschienen als der

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3. Die geistige Entfaltung.

Weg, den ich eingeschlagen.

Nach einigem Kampf beschloß ich, den

lästigen, langweiligen Weg zu verlassen. nuß und schwelgte darin. nicht.

Ich stürzte mich in den Ge­

Aber die gehoffte Befriedigung fand ich

Alles Vergnügen verbitterte mir eine innere Stimme, die mir

unablässig zurief: Du bist auf dem unrechten Wege, du sollst auf dem geraden bleiben.

Da sah ich eine große Schaar Menschen herrlich ge­

kleidet und freudigen Angesichts; sie schienen glücklich zu sein.

Glück­

lich wollte ich werden und so schloß ich mich dem Zug der Ehrgeizigen an und bin lange Zeit mit ihnen gegangen. Aber Freude und Ruhe habe ich nicht gefunden. Ich befand mich in dieser Gesellschaft voll­ kommen unglücklich, und doch konnte ich von ihnen nicht loskommen, mein ursprünglicher Vorsatz war kraftlos geworden.

Ach Weltlust und

Ehrgeiz, beide sind stärker als der Trieb zur Tugend, wo der h. Geist noch nicht Wohnung gemacht hat im Herzen. Ich hatte für die Lust der Welt dem Ehrgeiz mein Herz übergeben und er hat mir mitge­ bracht Menschengefälligkeit, Hochmuth, Lüge. Und die Lust? Sie war um nichts schwächer geworden, sie verschaffte sich nur auf anderem Wege Befriedigung. Ich hatte früher einen Teufel durch Beelzebub, den Obersten der Teufel ausgetrieben, dieser aber holte sich noch sieben andere Teufel und zog in das zu ihrer Aufnahme gesäuberte und ge­ schmückte Haus und das Uebel wurde ärger als es je gewesen war. Ich suchte mich zwar zu überreden, daß es mit mir so schlimm nicht stehe, und die Eitelkeit war stets bereit mir darin beizustehen. Aber bei ruhiger Ueberlegung, in nüchternen Stunden der Einsamkeit erkannte ich meine wahre Gestalt in ihrer ganzen Häßlichkeit und das Gewissen donnerte: Du bist schuldig, du bist der Verdammniß anheim­ gefallen, und ich mußte ihm beistimmen; denn ich trng ja die Un­ seligkeit in mir. Ja, ich habe eö kennen gelernt, das Gefühl der Ohn­ macht; ich habe sie kennen gelernt, die Höllenqual der Schuld! Aber gerade dann war die unauslöschliche Sehnsucht nach der Tugend, nach der Seligkeit am lebendigsten. Aber diesem Gesetz im Geiste wider­ stritt das Gesetz in meinen Gliedern, welches mächtiger war.

Woher

sollte ich die Kraft nehmen zur Tugend? ich war ja ein Knecht der Sünde, ich that, was ich nicht wollte, und was ich wollte, that ich nicht.

Ich stand an einem breiten Strom, über den keine Brücke führte.

Da weinte ich bitterlich: wer wird mich hinübertragen in das Land meiner Sehnsucht? Meine Geliebten, ich bin jetzt drüben, und ihr wißt es, wer mich hinübergetragen hat.

Der treue Heiland hat es gethan.

Ich habe den Heiland gebeten mich anzunehmen und mir Kraft zu

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3. Die geistige Enlfallmig.

schenken und er hat mich nicht von sich gewiesen. Nein entgegenge­ kommen ist er mir mit Sanftmuth und Freundlichkeit und hat mich geführt in sein Haus und hat mich mit himmlischer Speise gesättigt, mit himmlischem Tranke getränkt. Ein reines Herz hat er in mir geschaffen und einen neuen gewissen Geist. Die Sünde hat er in mir überwunden und einen Quell rer Heilrgkeit eröffnet, daß ich fortan durch seinen h. Geist die Kraft habe, das Gute, den heiligen Willen GotteS zu thun. Aber noch viel größerer Gnade hat mich mein Hei­ land gewürdigt: mit Gott hat er mich versöhnt. Ich hatte Gott un­ dankbar verlassen, ich war sein Feind und hatte seine» Zorn verdient. Und nun, o Gott, durch deines Sohnes Gnade bist du wieder mein Gott. Mein Gott, ich kann dich wieder lieben und bin deiner Liebe gewiß. Die Güter der Welt haben keinen Reiz mehr für nuch, seit ich deine Liebe geschmeckt, ja ich habe Lust aus dieser Welt der Sünde und des Mangels abzuscheiden, um dich ganz und ungetheilt lieben zu können. Nicht mehr will ich etwas sein durch mich selbst, durch mein Verdienst. Von dir, o Gott, habe ich alles empfangen, was ich bin; durch dich will ich alles sein. Von dir ganz abhängig zu sein, ist meine Lust. Dir vertraue ich unbedingt, ich weiß, was du giebst, giebst du mir aus völliger Liebe, mag es süß oder bitter schmecken. Darum danke ich dir für alle Gaben und freue mich über jedes Ge­ schick, ich freue mich der Freude, ich freue mich der Schmerzen. Alle meine. Gedanken und Empfindungen kommen aus dir und streben zu dir zurück. Was ich thue, beginne und vollende ich in dir. Doch nun höre ich unter euch welche reden: das ist wohl ein herrliches Bild, was du uns gemalt, und wer möchte nicht Verlangen haben, von einer solchen Heiligkeit erfüllt, von solchem Leben durch­ drungen zu sein. Aber wir wissen es nur zu gut, daß die Gläubigen gar nicht so ganz heilig, gar nicht so frei von cer Sünde sind. Ihr habt Recht; und wollte ich es leugnen, so wäre ich ein Lügner. Ich habe ja durch Christum die Sünde recht in ihrem ganzen Umfang er­ kannt, und weiß nun sogar sicher, daß diese Macht res Satans in mir leben wird, so lange ich in diesem sterblichen Leben walle, daß ich gegen sie mit Wachen und Beten kämpfen muß bis an's Ende. Aber das weiß ich auch ebenso gewiß, daß mich die Sünde nie mehr beherr­ schen kaun; denn ich habe die Kraft in mir sie zu besiegen. Die Sünde selber wird in der beilenden Hand meines Heilands ein Mittel der Heiligung. Es löscht die Thräne der Reue alle Flecken aus dem glänzenden Kleide per Gerechtigkeit, welches mir mein Erlöser angezogen

3. Die geistige Entfaltung.

hat.

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Wenn ich auch noch kämpfen muß, bin ich mir doch bewußt, daß

ich den Sieg dereinst erringe.

Denn der Herr kämpft für mich, der

durch seinen Tod die Welt überwunden hat.

Er fesselt den bösen

Feind in meinem Herzen immer mehr, bis daß er kein Glied mehr regen kann, um einst dem ewigen Feuer übergeben zu werden. Mag. man immerhin den rhetorisch schildernden Charakter dieser Selbstbekenntnisse in Anschlag bringen und die starken Anklänge an Augustins Confessionen; es wird doch kein Zweifel darüber aufkommen können, daß Krause sich durch schwere innere Kämpfe durchgearbeitet hat.

Und sie werden dadurch an ihrem Werth und ihrer Bedeutsam­

keit nichts einbüßen, daß Krause's Frömmigkeit in jenem Stadium ihrer Entwicklung sichtlich eine Pietistische Färbung hatte. hier nicht um angelernte Phrasen und nicht um

Daß es sich

eine sentimentale

Phantasiefrömmigkeit handle, dafür dürfte folgende Aufzeichnung in seinen Papieren, wohl aus derselben Zeit, genügender Beweis sein: „heitere frohe Musik oder vielmehr lustige Musik rührt mich allemal zu Thränen und erregt tiefe Wehmuth in meiner Seele. Und das ist natürlich; denn sie stimmt nicht überein mit der Grundstimmung mei­ ner Seele.

Hier herrscht noch keine lautere Freude und wird wohl

nicht eher herrschen, als bis der Herr mich aus diesem, sündigen Leben entnommen hat. Ich habe innige Freude über meinen Erlöser, aber sie ist nur im Werden und nie frei von der tiefen Wemuth über der Welt Elend und sein Leiden darum."

Je ernster es gemeint war, um

so weniger konnte diese Stimmung und die ihr entsprechende religiöse Reflexion vorhalten. Bald genug machte sich seine Geistesanlage in voller Willensenergie geltend, er maß die Zustände an dem Ideal, das er sich gebildet, und da er sie nicht entsprechend fand, regten sich eine Zeit lang separatistische Gedanken. So nahm er Anstoß an der Kin­ dertaufe, welche eine gläubige Gemeinde unmöglich mache

und nicht

biblisch sei, sowie an der Feier des h. Abendmahls ohne Zuchtübung gegen die Unwürdigen und ging vorübergehend mit Gedanken an Uebertritt zu den Baptisten oder auch zu den freien Gemeinden um. Haben wir aber bisher einen mystischen Zug gefunden, in welchem sich seine tief gemüthliche Anlage ausprägt, so macht sich bald seine Energie auf dem Gebiet des sittlichen Handelns wie auf dem intellektuellen geltend.

Von beiden kann ich Proben aus seinen Aufzeichnungen bei­

bringen. Er hat nämlich in den Jahren 1839—1847 zwar kein Ta­ gebuch geführt, aber ihm wichtig gewordene Gedanken in fortlaufenden Nummern sich aufgezeichnet, zum Theil sie weiter ausführend.

Es sind

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3. Die geistige Entfaltung.

davon 155 Nummern da unter der bezeichnenden Aufschrift: „Allerlei, was von 1839—x? an H. Krause's Augen vorübergezogen." Demjenigen, welcher sein ganzes Vertrauen auf Gott gesetzt, sein ganzes Herz an Gott gehängt, kann nichts so plötzliches, so schreck­ liches, so schmerzliches begegnen, daß es seinen Glauben niederwerfen, seine geistige sittliche Kraft brechen könnte. — Gegen mich selbst: einen Fehler begehn, wenn man das Gute will, ist immer noch besser als gar nicht handeln aus reiner Besorgniß, man möchte fehlen (August 1840). — Wer strenge und schonungslos über den andern richtet, ist am wenigsten strenge gegen sich, verzeiht sich selbst alles leicht. Denn ist man strenge gegen sich und täuscht sich nicht absichtlich über die eigenen Fehler, dann wird man im Bewußtsein der eigenen Schwäche natürlich ganz anders milde und nachsichtig sein. — Wenn du jemand auf Gottes Gericht verweisest, wo du beleidigt bist, oder im Fall du verkannt wirst, dich darauf vertröstest, siehe zu, daß dahinter nicht ein verborgenes Rachegefühl steckt, der Wunsch, wenn nicht jetzt, doch künf­ tig einmal über deinen Feind triumphiren zu können. — Entstehung des vermeintlichen Verdienstes: je weniger die Menschen daS Gesetz Gottes im Herzen tragen, desto eher machen sie sich eigene Gesetze, in dem

unvertilgb-ren. Bewußtsein, daß dem Gesetze gehorcht werden

müsse, und bringen es durch lange Selbsttäuschung dahin, daß sie zu­ letzt glauben, wirklich Gottes Gesetz zu erfüllen. — Diese Aufzeichnungen, denen noch manche beigefügt werden könn­ ten, beweisen, wie sehr der Jüngling auf seine sittliche Durchbildung bedacht war: „so lange wir hier leben, sind wir nie sicher vor Früh­ lingsstürmen und Nachtfrösten; darum müssen wir vorsichtig sein, wachen und beten, die Waffen nicht ablegen, immer gerüstet sein des Tages, und wie die Krieger Nachts in den Waffen schlafen. Dabei ist es wohl begreiflich, daß seinem Wissenstrieb besonders die sittlichen und religiösen.Fragen von Bedeutung waren

und sein

Geist gerade in Beziehung auf sie vornehmlich zur Klarheit sich durch­ arbeitete. So sieht er in der mönchischen Askese, welche so tief in die erste christliche Kirche eindrang, wohl eine Verirrung und Ausartung, aber zu­ sammenhängend mit dem ganz richtigen Bestreben der Kirche, sich vorerst in das innerste Centrum ihres eigenen Lebens zurückzuziehen und in sich selber zu befestigen. Er erkennt frühe, daß er die Frömmigkeit anders be­ stimmen müsse- als Schleiermacher es gethan; nicht ein Gefühl, eine Bestimmtheit deö Selbstbewußtseins ist sie, sondern ein Thun; das Thun in Bezug auf Gott ist Frömmigkeit oder Unfrömmigkeit, hin-

3. Die geistige Entfaltung.

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gebend Frömmigkeit, widerstrebend Unfrömmigkeit. Ueber die weibliche Seele macht er die Bemerkung, sie sei geneigter zum Katholicismus als die männliche; ihr größeres Bedürfniß nach einem stärkeren Halt und die größere Geneigtheit zur Demuth und Entsagung mache sie em­ pfänglicher für freiwillige Unfreiheit. In dem Streben der neueren Philosophie, den einen Urgrund in einem unterschiedslosen, bestim­ mungslosen, eigenschaftlosen Sein zu suchen, sieht er eine Verkehrtheit. E'n vernünftiger Mensch könne aus dieser ganz abstrakten Einheit nichts entwickeln. Wir werden vielmehr auf eine alle Bestimmungen und Unterschiede schon in sich enthaltende lebendige Einheit d. h. auf eine absolute Persönlichkeit geführt. Da habe die neue Philosophie anzufangen. Fast gewaltsam hatte sich Krause's derber Geist, als sein reli­ giöses Leben anfing sich in voller Kraft auszugestalten, in die über­ lieferten kirchlichen Vorstellungen hineingearbeitet. Unter seinen Be­ merkungen ist die erste (vom I. 1839): „wer den Teufel nicht kennt, ihn in sich nicht wahrgenommen, der muß ihn wahrhaftig zum besten Freunde haben; denn sonst zeigt er sich überall deutlich genug. Kennst du aber erst einmal seine Gestalt und sein Betragen, dann siehst du ihn bei jedem Schritt, denn du thust, du erblickst ihn im eigenen In­ nern in allen Ecken sitzen; er sucht dich mit allen Zauberkünsten, Schmeicheleien und demüthigen Bitten zu überreden, daß du ihn nicht vertreibest. Erkennst du ihn genau und ganz als Teufel, stößest du ihn dann zurück, dann hast du gesiegt." Die Schwierigkeiten, welche Wun­ der und Gebetserhörung, göttliche Allmacht und die Freiheit vernünf­ tiger Geschöpfe seinem Denken bereiten, glaubt er schwinden zu sehen, wenn Gott richtig gefaßt werde als die „absolute Willkür oder Freiheit, die nicht etwa durch ein Gesetz gebunden ist." „Nur bei diesem Be­ griffe lassen sich die Begriffe |bon Böse, Schuld, Strafe festhalten, nur so kann von einem endlichen Weltgerichte die Rede sein, nur so von Zerstörung des Himmels und der Erde, nur so von einer ewigen Verdammniß, nur so kann seine Menschwerdung verstanden, Liebe und Zorn GotteS begriffen werden." Diese schon von Duns Scotus ge­ brauchte Auskunft konnte freilich, wenn sie sich gleich dem lebendigen Abhängigkeitsbewußtsein Krause's gegenüber von Gott empfehlen mochte, nur auf kurze Zeit vorhalten. Bald sucht er einen andern Rückhalt, nämlich an dem apostolischen Wort, dem er eine übernatür­ liche Bewahrung vor Irrthum glaubt zuschreiben zu müssen. Denn „könnten wir nicht der Apostel Wort unbedingt als Christi Wvl'l selbst

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3. Die geistige Entfaltung.

annehmen, so wäre die ganze übrige Christenheit außer den Aposteln in einem schwer begreiflichen Nachtheil, sie käme nie an die ursprüng­ liche Quelle ihres'Glaubens selbst." Er setzt sich dabei mit Schleier­ macher anseinander und urtheilt: um uns die Reinheit der aposto­ lischen Lehre zu verbürgen, reiche die Annahme doch nicht hin, daß bei diesen Gemüthern, die sich mit ganzem Vertrauen dem Heilande hin­ gegeben, die lebendige Erinnerung an den ganzen Christus, mit dem sie so lange zusammen gelebt, wenigstens in amtlicher Rede und Schrift jeden trübenden Einfluß abgewehrt haben müsse.

Es beruhe das auf

einer ungegründcten psychologischen Voraussetzung, da ja erfahrungsmäßig in den ernstlich nach Wahrheit forschenden Gemüthern neben der klar erkannten Wahrheit lange Zeit für jeden andern leicht erkenn­ bare Irrthümer bestehen können, die dieser Wahrheit durchaus wider­ sprechen, wovon ja Schleiermacher selbst ein eklatantes Beispiel sei. Eine Kritik des Kanons glaubte er aber doch offen lassen zu müssen. Es sei zu untersuchen, welches der Apostel Schriften sind. Sollten sich aber im Kanon Schriften nachweisen lassen, die nicht unter apo­ stolischem Einfluß entstanden sind oder gar der apostolischen Lehre Wi­ dersprechendes enthalten, so haben wir ihnen nicht mehr zu glauben als jeder andern christlichen Schrift, und wir würden sie ausstoßen auS dem Kanon. Wenig später aber erwehrt sich Krause nur noch mühsam der an­ dringenden Zweifel und bald ist er in voller Gährung begriffen.

Er

kann sich nicht mehr verhehlen, daß die Auslegung des Alten Testa­ ments seitens der neutestamentlichen Schriftsteller oft dem ursprüng­ lichen Sinn der Stellen nicht angemessen ist. Das könne aber, meint er, doch geschehen unbeschadet der Inspiration. Die Wahrheit der Lehre werde ja gar nicht gegründet auf das Alte Testament; die Schrift­ steller wollen nur nebenbei nachweisen, daß diese Vorstellungen auch im Alten Testament enthalten seien.

Da sie aber natürlich immer

nur die bei ihren Lesern herrschende Auslegung befolgen, so werden solche Worte nur zu einem Beweis für sie, was sie für uns nicht mehr sind. Das thue der Inspiration der Apostel keinen Abbruch, so wenig als ihrem Glauben, da ja ihr Glaube und aller Glaube nicht auf den Glauben an die h. Schrift des Alten Bundes gegründet sei. Natürlich je mehr der h. Geist sie erleuchtete, um so seltener werden auch Mißverständnisse in der Auslegung vorkommen, die auch in der That bei den Aposteln selten seien. Eine solche allegorische Ausle­ gungsweise, wie im Hebräerbrief, würde sich wohl kein Apostel erlaubthaben.

3. Die geistige Entfaltung.

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Gleich darauf aber schreibt er: Von der Lehre zweier Naturen in Christo komme ich immer mehr zurück; sie führt zu zwei Personen.— JesuS mußte die Folge der Sündhaftigkeit als Zerrüttung der Natur, als Erbübel selber in sich haben.

Lüste und Begierden, sinn­

liche und geistige Affektionen sind alle in ihm; aber sie sind in ihm noch nicht Sünde; denn das werden sie erst, sobald der Wille sich durch sie bestimmen läßt. — Gleichzeitig hat er sich von der Genugthuungslchre losgemacht und wendet gegen sie-ein, daß nach ihr vaö Gesetz der Gerechtigkeit nicht erlaube, daß an der Genugthuung etwas fehle.

Aber es erlaube auch nicht, daß dieselbe größer sei; sie müßte

also nachweisen, was sie nicht thue, daß Christi Tod genau die Schwere sämmtlicher Sünde aufwiege. Am stärksten scheint ihn die kirchliche Lehre von den Sakramenten gepeinigt zu haben.

Eine magische Heilswirkung war seiner tief sitt­

lich angelegten Natur tut Innersten zuwider; er erkannte auch leicht das Katholisirende derselben und daß sie im Neuen Testament keinen Halt habe.

Vom Gesichtspunkt der magischen Heilswirkung aus war

ihm besonders die Kindertaufe ein Anstoß, und da ihm zu gleicher Zeit der empirische Zustand der Kirche, wenn er ihit an den Maaßstab ihres Begriffes hielt, schwere Skrupel machte, so ist nicht zu verwun­ dern, wenn er eine Zeit lang mit dem Gedanken an Austritt auö der Kirche umging. Grade hier jedoch begann bei Krause die Klärung. Er erkannte, daß die Kindertaufe ihren guten Sinn habe als feierliche Verpflichtung der Eltern zu christlicher Erziehung ihrer Kinder und daß nur niemand zu der Taufe seiner Kinder als zu etwas schlechthin nothwendigem gezwungen werden sollte. Sehr eingehende geschichtliche und exegetische Studien über das h. Abendmahl und über die Kirche wurden ihm zum objektiv wohl begründeten und subjektiv gewissen Ausgangspunkt, von dem aus sich seine theologische Anschauungsweise immer selbstständiger gestaltete und so, daß praktische Frömmigkeit und wissenschaftliche Unbefangenheit gleichermaßen zu ihrem Rechte kamen. Auf Selbstständigkeit war seine geistige 'Natur angelegt und bloßer Autoritätsmensch ist er niemals gewesen. Nach seinen Papieren zu schließen hat kein einziger seiner Lehrer, auch nicht der von ihm so hoch gestellte Neander, einen beherrschenden Einfluß auf ihn geübt. Er nimmt auf, was er verstandesmäßig sich aneignen kann, aber er übt nicht nur früh ein sehr selbstständiges Denken, sondern setzt sich, wohl manchmal über Kräfte, mit den vorhandenen Doktrinen ausein­ ander.

So hat er namentlich gegen Schleiermacher vor der Zeit der

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3. Die geistige Entfaltung.

Abklärung gar Vieles einzuwenden; und derselbe hat erst später, als er ihm so zu sagen in JonaS und Shdow wiedererstanden nahe trat und die Bedeutung des Princips seiner Theologie im Kampf für die freie Entwicklung der Kirche ihm aufging, sich eigentlich zu seinen Füßen gesetzt und die Ideen.des großen Theologen in vollerem Maaße auf sich wirken lassen. — Der theologische Umschwung war noch nicht völlig geschehen, als Krause den Trieb in sich fühlte, in den Fragen, welche die Zeit be­ wegten oder werth waren angeregt zu werden, ein Wort mitzureden. In der Oeffentlichkeit ist er für die Oeffentlichkeit vollends reif ge­ worden, ein in ernster Beobachtung und Förderung der kirchlichen In­ teressen erstarkter Kämpfer für Wahrheit und Recht. ES sind vorzüg­ lich drei literarische Erzeugnisse, in denen er sich zur vollen geistigen Reife und £u seinem eigentlichen Lebensberufe Hindurchrang.

Und wir

können daher nicht umhin, ihren Inhalt unS der Hauptsache nach vor­ zuführen. Das Erste, was er drucken ließ, ist jene Abhandlung, welche als kleines Buch erschien mit dem Titel: über die Wahrhaftigkeit. Ein Beitrag zur Sittenlehre von H. Krause, Predigtamts-Candidaten. Berlin 1844; das Zweite ein Aufsatz in der Kirchlichen Vierteljahrs­ schrift, 1845, Heft 4: das Bekenntniß der evangelischen Kirche und seine Verbindlichkeit von H. Krause, lic. theol.; das dritte ein Sendschreiben an die evangelischen Geistlichen Preu­ ßens über das Verhältniß des evangelischen Gewissens zu der in Preußen bestehenden kirchlichen Gesetzgebung, in der Monatsschrift für die unirte evangelische Kirche, 1846, April. In der erstgenannten Schrift „über die Wahrhaftigkeit" zeugt nicht nur die Art der Behandlung des Gegenstandes von jenem ein­ dringenden selbstständigen, allseitig erwägenden Urtheil, baß- Krause später so oft bewährt hat, und von seinem tiefen sittlichen Ernst, son­ dern auch die Wahl des Gegenstandes ist charakteristisch für den Mann, welcher so sehr den Beruf hatte, von der Wahrhaftigkeit einen so außerordentlich einschneidenden Gebrauch zu machen.

Ergebniß seiner

Untersuchung ist: Wahrhaftigkeit ist unbedingte Pflicht; es giebt kein Recht oder gar eine Pflicht der Nothlüge. Wahrhaftigkeit und Lüge sind nicht etwas sittlich Indifferentes, was erst durch gute oder schlechte Verwendung, also durch den damit beabsichtigten Zweck der sittlichen Beurtheilung verfiele, vielmehr ist Wahrhaftigkeit d. h. gewollte Ueber­ einstimmung der Aeußerung mit der Gesinnung, dem Innern, an sich selbst

Pflicht und

zwar eine unbedingte, da sie weder mit andern

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3. Die geistige Entfaltung.

Pflichten in wirklichen Widerspruch gerathen kann noch die sittlichen Gemeinschaftsverhältnisse Ausnahmen rechtfertigen. Abweichung von der Wahrhaftigkeit zerstört die Uebereinstimmung des Menschen mit sich selbst und die innere Freiheit.

Sie ist aber auch ein Mißbrauch

des Vermögens der Gedankenmittheilung, so daß durch sie nicht nur die eigene Person verletzt, sondern auch die sittliche Gemeinschaft be­ leidigt und zerstört wird. — Mag auch die wissenschaftliche Lösung der schwierigen Frage Manches vermissen lassen: dafür ist diese jugend­ liche Schrift jedenfalls ein vollwichtiges Zeugniß, wie fest und wie be­ wußt Krause den heiligen Entschluß in sich wurzeln ließ, durch und durch wahrhaftig zu sein und aller Lüge zu widerstehen. Ebenso nahe, wie der Inhalt seiner ersten Schrift, berührte ihn der Gegenstand

seiner Abhandlung über das Bekenntniß.

Denn

eben wie es sich mit seiner Verbindlichkeit verhalte, darüber hatte er nachzudenken, weil für den gewissenhaften Mann von dem Ergebniß abhing, ob er selbst eine Verpflichtung darauf auf sich nehmen konnte. In kurzen Zügen ist der treffliche, noch heut lesens- und vielfach beherzigenswerthe Inhalt folgender. Bekenntnißlosigkeit und Lehrwillkür ist ein Zeichen schweren Schla­ fes, ja des Todes in der Kirche. Ihr Bekenntniß muß jedes ihrer Glieder theilen.

Es kommt nur darauf an, welches das unentbehrliche

Bekenntniß ist. Daß dies die überlieferten Bekenntnißschriften nicht sind, beweist sich schon dadurch, daß man ein guter evangelischer Christ sein kann, ohne sie auch nur zu kennen.

Die Auskünfte, daß daö

Verpflichtende nur auf den Glaubensinhalt, nicht aber auf dogmatische Beweisführungen, Schriftauslegungen, geschichtliche Darstellungen zu beziehen sei, sind unhaltbar, auch Schleiermacher's Deutung der Ver­ pflichtung nur auf die kirchlichen Gegensätze. Ins Unbestimmte zer­ fließt das Reden von Grundlehren oder von dem wesentlichen Inhalt oder von Grundsätzen. Solche Formeln sind nur ein unfreiwilliges Bekenntniß, daß die Verpflichtung auf die Schriften selbst aufzugeben sei. Eine verabscheuungöwürdige, echt jesuitische Auskunft aber ist die: die Kirche dürfe von der Verbindlichkeit nichts nachlassen- hingegen stehe eö dem Einzelnen zu diese Verpflichtung einzugehen, wenn er nur in der Hauptsache übereinstimme; denn damit> ist der Einzelne zu Mentalreservationen aufgefordert. Freilich finden wir schon bei Luther neben ächt

evangelischen Aeußerungen ein Herabsinken

zur falschen

Stütze der Lehrautorität. Mit der Forderung der Reinheit der Lehre und der rechten Verwaltung der Sakramente haben die Reformatoren

ursprünglich nichts gewollt als das wirkliche Evangelium und die ein­ setzungsmäßige Verwaltung der Sakramente sichern, jedoch haben sie damit eine Bestimmung aufgenommen, welche erst fest wurde, wenn sie wirkich int späteren Sinn Reinheit der Lehre bedeutet.

Da die evan­

gelische Kirche keine besondere, sondern nur die rechte allgemein christ­ liche Kirche sein will, die auf dem reinen unverfälschten Evangelium beruht und daher jeden wahren Christen zu den ihrigen zählen muß, so-ist ihr Bekenntniß nothwendig das einfach christliche: ich glaube an Jesus als den Heiland. Und die damit angestrebte Weite der kirch­ lichen Gemeinschaft nnd auch innerhalb der Kirche geforderte Duldsam­ keit führt keineswegs zu Gleichgültigkeit gegen die Reinhaltung und Reinigung der christlichen Lehre. In

der

niß

des

Glaubens

weiteren

zu

sehen,

daß

Erlösungswerkes

an

Krause Jesu

Ausführung, Jesus

was

als den

in dem kurzen Bekennt­

Heiland liege,

tu

der

Auffassung

der

nun

sich

Schleiermachers

Person Ideen

ist deutlich und

des

angeeignet

hat. Es ist aber wohl von Interesse zu vernehmen, wie die Redaktion der Zeitschrift sich über die Bekenntnißfrage aussprach. Sie bemerkt, daß

eine Bekenntnißformel, wie der Verfasser sie aufstelle

(und anslege), noch nicht genügen dürfte als einfache Basis des christlichen Glaubens und Lebens. Zur Alleingültigkeit erhoben würde sie den Mutterstamm noch manchen edeln Sprosses berauben. Die wirklich allseitig befriedigende, vollkommen unparteiische Formel zu einem ge­ meinsamen kirchlichen Bekenntnisse könne freilich nur resultiren aus der Gesammtbestrebung aller Parteien, eine solche im henotischen Sinne mit brüderlicher, gegenseitiger Liebe und Anerkennung aufzustellen. Die Nothwendigkeit eines allen Mitgliedern der Kirche gemeinsamen christlichen Bekenntnisses sei aber anzuerkennen. Es müsse ein be­ stimmtes christliches Glaubens- und Lebensprinzip als die eigentliche treibende Macht des kirchlichen Gesammtorganismuö von allen Glie­ dern der Kirche mit Herz und Mund bekannt werden. Liegt schon dem Artikel über das Bekenntniß der Gedanke zu Grunde, daß unsre evangelische Kirche einer Reform dringend bedürfe, so tritt er in dem bald folgenden Sendschreiben an die evan­ gelischen Geistlichen Preußens offen und mit vollem Bewußtsein heraus.

Eine Gewissensnoth, erklärt er, treibe ihn zum Wort: „wie

ich mein Gewissen mit dem Gesetze in Einklang bringen, wie ich die Pflichten des kirchlichen Amtes, welche die gegenwärtigen Gesetze jedem auferlegen, sollte erfüllen können, und wie das überhaupt jemand ge-

3.

Die geistige Entfaltung.

33

Wissenhafter Weise könne, darüber sind mir Bedenken." Er stößt sich vor allem daran, daß alle Kirchengesctze derzeit Staatsgesetze sind und daher denselben Gehorsam für sich in Anspruch nehmen wie Staats­ gesetze.

Wer nun weiß, daß er mit den gesetzlichen Forderungen in

Zwiespalt ist und dagegen hie und da wird verstoßen müssen, der muß gar nicht hinein gehen.

Sofort erörtert er, warum eine Verpflichtung

auf die Bekenntnisse für ihn ein Joch sei, das er nicht auf sich nehmen könne, ebenso der vorgeschriebene Gebrauch der Agende, wie er sich nicht finden könne in die Taufe und die kirchliche Trauung mit ihrem Staatszwang, in die Confirmation solcher, die noch keinen Glauben haben können, in eine Communion ohne Kirchenzucht, in ein kirchliches Begräbniß, das nach dem Staatsgesetz nicht verweigert werden könne. Denen, welche im Amt stehen, hält er vor: „Ihr habt's (mit seiner unevangelischen Verpflichtung) von den Menschen angenommen und den Menschen die Gelübde abgelegt.

Hattet ihr damals schon im Sinn,

diese Gelübde nicht zu halten, nun so durftet ihr sie ehrlicher Weise gar nicht ablegen, oder ihr mußtet euer Amt von Menschen gar nicht annehmen unter solchen Bedingungen. Oder kommt ihr erst jetzt zu dieser Einsicht, so müßt ihr das den Menschen, von denen ihr das Amt angenommen habt, erklären, daß ihr Unrecht gethan habt, und das Gelübde aufheben, und es darauf ankommen lassen, ob die, welche euch das Amt ertheilt haben, euch ferner darin dulden werden." Was er geloben könne und wovon er glaube, daß kein evangelischer Christ mehr geloben dürfe, sei dies: „ Ich unterwerfe mich von ganzer Seele und ganzem Gemüthe und mit allen meinen Kräften des Verstandes und des Willens meinem Herrn und Heiland Jesu Christo; ihn und seine Gnade will ich predigen gemäß der Schrift durch Wort und Wandel, so weit mich sein heiliger Geist erleuchtet und kräftiget. Die evangelische Kirche achte ich als ein großes Werk Gottes und liebe sie als eine theure Mutter, ihre symbolischen Bücher und ihre Ordnungen und Gesetze verehre ich. Aber folgen will ich ihnen nur, so weit sie aus dem Geiste Christi entsprungen sind; ich will ihnen widersprechen und widerthun, wo sie meinem Herrn zuwider sind. Und will gern die Zucht der Kirche ertragen, so oft ich diesem meinem Gelübde ungetreu werde."

Er sieht das Grundübel der Kirche im Zwang, der in ihr

geübt wird und den sie selbst übt, und stellt die Forderung:

1) Der

Staat darf weder zum Glauben noch im Glauben irgend welchen Zwang üben, 2) die Kirche darf in ihren Angelegenheiten schlechterdings keinen Zwang ü'oen.

Zum Schlüsse sagt er, daß er den gegenwärtigen Zu-

Svacth, Plotestantlsche Bausteine.

3

34

3.

Die geistige Entfaltung.

stand der Kirche für einen Zustand der Noth und der Erniedrigung halte, und verwahrt sich gegen das Mißverständniß, als ob er sich allein für gewissenhaft und die Angeredeten für gewissenlos hielte.

Er kenne

manche unter ihnen als erhabene Muster von Gewissenhaftigkeit und Berufstreue, und liebe und verehre viele unter ihnen herzlich als recht evangelische Christen und treue gewissenhafte Verwalter der Geheim­ nisse Gottes.

„Nur das ist damit gesagt, daß mir euer Gewissen an

dieser Seite nicht laut noch zart genug zu sein scheint, indem es hier unter der uralten Gewohnheit des Herkömmlichen gar nicht erwacht ist, oder wenn es sich ja geregt hat, als vermeintliche Verirrung zurück­ gewiesen worden mit seinen Forderungen. Nein, Niemand zu Leide habe ich geredet, Liebe zur Kirche und Sehnsucht nach ihrer Verherr­ lichung und Verklärung hat mir den Mund aufgethan.

Ist jemand

verletzt worden, ich habe es nicht gewollt, schreibet es der Sache zu." Ehe noch dieses Sendschreiben veröffentlicht war, hatte ein ortho­ doxer Prediger Gewissens halber seht Amt niedergelegt und in einer Predigt

betitelt:

„Wehklage

ähnliche Bedenken aufgestellt.

eines

abgehenden Predigers"

Es war daher natürlich, daß Krause's

Appellation an die theologischen Gewissen in vielen, selbst älteren und erfahreneren Geistlichen eine erschütternde Wirkung hervorrief. Eine monatliche Shnodalzusammenkünft machte das Sendschreiben nach allen seinen einzelnen Punkten zum Gegenstand eingehender Berathung.

An

Entgegnungen, und zwar von befreundeter Seite, fehlte es nicht. Aber mit einer Admonition, daß er zu rigoristisch sei und Alles auf die Spitze stelle, und daß er die Dinge weniger einseitig ansehen würde und die nicht zu leugnenden Uebelstände geduldiger ertragen, wenn er bereits im geistlichen Amt gestanden hätte, war Krause'n nicht beizukommen. Er antwortet darauf: „ich sehe nicht ein, wenn doch einmal im Amte viel­ fach gegen die Ueberzeugung gehandelt werden muß, warum nicht junge Leute das auch können.

Und

es

erschiene für den Fall als eine

wünschenöwerthe Vorübung für sie, wenn sie gleich den ersten Schritt in's Amt durch Gewissenswidrigkeit thäten, wie man den Vögeln, die nicht fliegen lernen sollen, am besten in der Jugend gleich die Flügel knickt."

Dem Sinn, der sich allzuleicht mit den vorhandenen Gebrechen

abfindet, hält er entgegen, was ihn treibt: „Wer ein wenig in die Tiefe geblickt hat, muß erkannt haben, daß meine Bedenken eben dahin zielen, durch Darlegung der Symptome daran zu erinnern, wie die ganze Kirche an einer schweren Krankheit darniederliege; die evange­ lische Kirche zu erinnern, daß sie keine evangelische ist, so lange sie

3.

Die geistige Entfaltung

35

nicht den Glauben allein zu ihrem Fundamente macht, sondern eine echte Tochter der römischen ihre Glieder mit einem eisernen Netz von Nothwendigkeiten überzieht, welches alle freie Lebensbewegung unmög­ lich macht; die unkte Kirche zu erinnern, daß Union ein leeres Wort in ihr bleibt, so lange sie nicht jeder auf Christo ruhenden Eigenthüm­ lichkeit an jedem Orte zur frischen und freien Entfaltung vollen Raum gewährt, sondern die lebendigsten und treuesten Jünger deS Herrn un­ zählig zur Verleugnung ihrer gewissenhaften Ueberzeugungen nöthigt. Und die Heilung erwarte ich sicherlich nicht von Ausbesserungen im Einzelnen, auch nicht von Synoden und neuen Bekenntnissen und neuen Verfassungen, am allerwenigsten „von dem Könige, der sich einen Schirmherrn der evangelischen Kirche genannt hat." einen König, der der Kirche helfen

kann.

Ich kenne nur

Weltliche Könige haben

noch nie die Kirche gebessert, ihr oft viel Schaden gethan; denn alle Macht ist in Sachen des Glaubens vom Uebel. Ich sehe nur dann die Genesung beginnen, wenn evangelische Christen so

mündig und

mannhaft geworden sind, so frei und doch so gestaltet, daß sie sich frei nach dem Gesetz ihres inneren Lebens zur Gemeinschaft gestalten und sich eine Verfassung nicht erst zu geben brauchen, weil sie schon eine haben, und nicht geben lassen dürfen, weil sie dieselbe aus sich er­ zeugen." Wo man aber Krause'n mit dem vollen Bekenntniß der großen Schäden der Kirche entgegenkam, und mit der Bereitwilligkeit „nach allen Seiten hin, so weit die geistige Kraft reicht, sich zu bemühen, von innen heraus dem Uebel zu steuern und „die Kirche zu säubern von dem, was ihr nicht angehört," da ließ er sich auch gern darauf aufmerksam machen, daß die Kirche mit allen ihren Schäden ein ge­ schichtliches Gewächs sei und die ganze Vergangenheit eine andere ge­ wesen sein müßte, wenn unsere Kirchengesetze andere sein sollten, daß eS daher auch in amtlicher Stellung ein evangelisches Recht sei, an der Aufhebung veralteter Gesetze zu arbeiten, auf die der Blick nur gerichtet sein könne wie der des Naturforschers auf das Gerölle und Geschiebe früherer Zeiten. Er hatte auch ein Ohr für die Erinnerung: das Gewissen mit seinen individuellen Anforderungen gebiete auch im Verhältniß zur evangelischen Kirche nicht allen dasselbe; gestehe man ihm zu, daß er des Gewissens wegen außer dem Amte bleiben dürfe, so möge er auch glauben, daß man des Gewissens wegen im Amte bleiben könne.

Dafür, daß nicht jeder denselben Auftrag habe, noch

dieselbe „Form des Handelns" hatte Krause ein volles Verständniß,

36

3.

Die geistige Entfaltung.

ließ sich etwa auch sagen, daß im Amte um der Collisionen willen aller­ dings manche Akkommodation zu üben sei. Krause erinnert nur seiner­ seits, daß aus der Akkommodation, die ja sittlich berechtigt sei, keine Unwahrhaftigkeit werden dürfe, und daß er nicht knechtisch zwar und äußerlich, aber doch streng überall nach dem im Wesen der Sittlichkeit selber liegenden Maß messen müsse.

Und die Frage hält er aufrecht:

„wie kann einer, der Verpflichtungen zu halten gesonnen ist, solche übernehmen, so lang auch nur ein Gesetz besteht, dem er gewissenhafter Weise nicht Folge leisten kann?" Er konnte übrigens auf den Uhlichschen Handel hinweisen, in welchem das Kirchenregiment gerade damals die Forderung stellte, daß der Rationalist das antirationalistische Apo­ stolikum als sein persönliches Glaubensbekenntniß lehre und zwar nicht mit schwerem Gewissen oder gar gegen sein Gewissen, sondern mit ganzem, vollem, freiem Gewissen. Indem Krause den Bann anerkennt, der auf den Geistlichen liegt und ihnen die Hände bindet, geht ihm auch deutlich das Bewußtsein auf, welche Macht für Befreiung der evangelischen Kirche neu eintreten müsse. „Die Laien haben Raum und Recht gegen die drückende Fremdherrschaft, die jetzt von der Kirche Besitz genommen hat, zu Felde zu ziehen, anzukämpfen gegen alle un­ evangelischen Ordnungen, zu deren Befolgung sie sich nicht verpflichtet haben. Wollte Gott, sie machten besseren Gebrauch von ihrer Freiheit und schöben nicht den Geistlichen allein allen Schaden in die Schuhe. Es sollten wohl auch die amtlichen Zwangsgesetze fallen müssen, wenn nur die Amtlosen ihre evangelische Freiheit recht fühlten und fleißig bethätigten." Darum will er sich vom Amt nicht binden lassen. „Es ist mir in meiner jetzigen Stellung wohl möglich, meinen Beruf voll­ ständig zu erfüllen, und will ich darin auch durch Censur, Polizeikragen und Warnungstafeln mich nicht sonderlich stören lassen." Das übrigens hält er jetzt für die erste Pflicht auch derer, die im Amt seine An­ schauung von unsern Zuständen theilen, daß sie nicht schweigen gegen­ über von Gewaltthaten des Kirchenregiments gegen einzelne Glieder, die es nur darum mit sehr großem Schein des Rechts absetze, weil alle die Männer schweigen, die da reden sollten. Es ist natürlich, daß schwächere Geister, denen es leichter wurde mit der traurigen Wirklichkeit zu paktiren als dem ideal gerichteten Krause, in so schneidigem öffentlichem Mahnruf an die Gewissen etwas Uebertriebenes und Excentrisches sahen. Und es mag bei aller Achtung vor der offenbaren, seltenen Gewissenhaftigkeit des Mahners damals auch manchem tiefer blickenden Manne zweifelhaft gewesen sein, was er

3.

Die geistige Entfaltung.

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aus diesem schroffen Entweder-Oder machen sollte. Wenn wir heute zurückblicken, so ist es uns nicht mehr schwer zur richtigen Würdigung zu gelangen, zu der allerdings gleich damals die Vorkämpfer evange­ lischer Freiheit gelangt sind; denn sie zogen den starken Bußprediger an sich und freuten sich trotz seiner Schroffheiten und Ecken, ihn als einen Ebenbürtigen in ihre Reihen aufzunehmen. Das Bedürfniß einer Reform rer Kirche, wenigstens in Bezug auf die Verfassung, erwachte in jenen Jahren. Schon im Jahre 1811 hatte der Minister Eichhorn die Kreissynode von Berlin (nur aus Geistlichen bestehend) berufen, damit sie berathe über die Nothwendigkeit einer Synodalverfassung der Kirche und es wurde auch eilte Bitte an die hohe Staatsbehörde um Verleihung einer solchen beschlossen in der Richtung, daß neben dem presbyterialen und dem synodalen auch das consistoriale Element fest­ gehalten werden sollte. Im Jahre 1844 ward die Provinzialsynode der Provinz Brandenburg (ebenfalls eine rein theologische Versamm­ lung) berufen, welche „ eine Aenderung in der Verfassung der Kirche als die Basis der so höchst nothwendigen und wünschenswerthen Verbesse­ rung der kirchlichen Zustände und des kirchlichen Lebens" betrachtete und sich überzeugt erklärte, daß in der rechtlichen Vertretung der Gemein­ den das Vorhandensein und Mitwirken von Gemeindegliedern unum­ gänglich nothwendig fei, damit die Geistlichen nicht wie bisher die allein Thätigen und Wirlsamcn in der Kirche seien. Es begann da auch der Kampf über die Symbolfrage zu entbrennen, der allerdings noch vorerst zur glühe verwiesen wurde. Die Einen nämlich drangen auf eine rechtskräftige Verpflichtung auf die Symbole, und sprachen die Beschuldigung aus, man wolle, indem man die Verpflichtung auf die Sdmbole ablehne, diese selbst ganz beseitigen, die evangelische Kirche zu Grabe tragen und die symbolischen Schriften als Leichenstein darauf setzen. Die Andern lehnten eine solche Verpflichtung als nicht zeit­ gemäß ab, „ wollten das Princip der Freiheit, als das der Reformation festgehalten wissen und wiesen eine Beschränkung derselben in der Fort­ entwicklung der Lehre zurück als dem Geiste der Symbole selbst zu­ wider; sie ließen dem Werth der Symbole volle Gerechtigkeit wider­ fahren, wollten ihnen aber kein solches Recht einräumen, das nur Stagnation in der Kirche erzeugen könne." Es wurde von der Synode die ordinatorische Verpflichtung, wie sie bisher der Agende gemäß den Ordinanden vorgehalten sei, nicht als eine rechtskräftige angesehen, die gleichsam einen zusagenden Schwur in sich schließe, auf den hin even­ tuell eine gerichtliche Klage oder ein gerichtliches Verfahren gegen den

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3

Die geistige Entfaltung.

Verpflichteten eingeleitet werden könne, sondern sie ward von der mo­ ralischen Seite gefaßt, und als eine apostolische Ansprache und Er­ mahnung an den Ordinanden angesehen, kraft welcher er auf die sym­ bolischen Schriften der evangelisch-protestantischen Kirche, auf ihr Doppel-Prinzip, das formale und materiale und auf den in ihr gelten­ den Lehrbegriff hingewiesen und ermahnt werde, nach Wissen und Gewissen demselben gemäß zu lehren.

seinem besten

„Es erledigte sich

also die so höchst schwierige Symbolfrage dergestalt, daß es durchaus beim Alten bleiben solle, bis etwa durch die Zeit und die Einführung einer Kirchenverfassung ein verändertes Verfahren als nothwendig indicirt und gebieterisch gefordert werde."

In eine solche Zeit fiel für

Krause die schwierige Frage, ob er in das geistliche Amt eintreten und in welchem Sinne er die zur Diskussion gebrachten Verpflichtungen verstehen und übernehmen sollte. An jeden Theologen trat die Frage heran, wie er sich in der Frage Gewissens halber zu stellen habe; jeder mußte sie für sich beantworten, wenn es auch nicht jedem zustand, in der Weise des Sendschreibens an die Gewissen der gesammten Geist­ lichkeit anzudringen.

Aber in dieser muthigen Gewissensthat, welche

bezeugt, daß für die eigene Person klare und unwiderrufliche Entschei­ dung getroffen ist, erkennen wir eben den ungewöhnlich starken Cha­ rakter, der nicht gemeint ist sich den verkehrten Verhältnissen anzube­ quemen und dadurch den Boden für eine starke sittliche Lebensthat einzubüßen, vielmehr entschlossen den Kampf mit den verderblichen Mächten unerschrocken aufzunehmen und den hochbegabten Geist in ebenso freier als gewissenhafter Weise ganz in den Dienst der Kirche, nämlich derjenigen, die werden soll und werden muß, zu stellen. Ihm, der von der Noth und Entwürdigung der Kirche tief ergriffen war, trat der gegenwärtige Zustand in seinem vollen Widerspruch mit der Idee der Kirche vor Augen und er fühlte nicht den Beruf in sich, ihn zu verdecken, vielmehr ihn aus sich und andere praktisch wirken zu lassen. Dabei muß man wohl zugeben, daß ihm begegnete, was ideal ange­ legten Naturen so gern begegnet und was beim ersten Anlauf eines idealen Lebenswerkes eine fast nothwendige Täuschung zu sein scheint. Die Gestaltung der Kirche nach seinem Idealbild schien ihm bei gutem Willen der Betheiligten so einfach und so leicht zu bewerkstelligen. Und diese jugendliche Seite seines Idealismus hat er in langem schwerem, anscheinend fruchtlosem Kampfe verlernen müssen, um dafür die nüch­ terne Ausdauer praktischer, alle Mittel und ihre Tragweite berechnender Erfahrung einzusetzen.

Wie sehr es aber an der Zeit war, die Kirche

4.

39

Die Mannesreife.

und ihre Repräsentanten an die unbedingte Pflicht der Wahrhaftigkeit zu erinnern und die kirchliche Lüge aufzudecken, wie nur immer einer es konnte, der von sich bekennen durfte: nicht ekle Scheu vor allerhand Niedrigkeiten und Ungehörigkeiten hält mich vom kirchlichen Amt zurück, sondern ich will nur nicht gesetzlich genöthigt sein mit Vorsatz und Vor­ bedacht lügen zu müssen": dafür gab sein Freund Eltester schon im folgenden Jahr Zeugniß.

Bei Besprechung der amtlichen Verhand­

lungen betr. den Prediger Uhlich in Magdeburg klagt er mit bitterer Entrüstung:

„Das Kirchenregiment setzt keinen Rationalisten ab, der

es nicht zeigt, daß er es ist oder sich doch nur so weit als einen solchen zu erkennen giebt, als es die Kirche und das Kirchenregiment gestattet. Ist aber einer wahrhaft „achtungswerth", getreu nach seiner Ueberzeu­ gung zu handeln, und nach dem Wort des Apostels „die Weissagung sei dem Glauben gemäß" kräftig, auf Aenderung zu dringen in der Kirche für alles, was nach seinem Gewissen verderbt ist in Lehre und Ordnung der Kirche —: so kann das Kirchenregiment, daö jeden schwei­ genden und lügenden Rationalisten unangefochten läßt, jenen in den Aemtern der Kirche nicht dulden. Wohin soll das führen? Gewiß nicht zum Segen für die Kirche!-------- Es ist kein Preis zu hoch, wenn damit Wahrheit gewonnen wird, wenn Offenheit und Klarheit in die tirchlichcn Dinge kommen. Hier zeigt sich eben der tiefe Wider­ spruch, der in der gegenwärtigen Gestaltung unserer Kirche liegt.

Es

scheitert alle Consequenz an der Vermengung der Staats- und der Kirchengewalt."

4.

Die Manneöreife.

Mit dem Jahre 1846, dem denkwürdigen Jahre der Berliner Generalsynode, trat Krause in die Periode der Reife und vollen Wirk­ samkeit ein.

Wollen wir uns aber von diesem Vorkämpfer der Union

und der evangelischen Freiheit ein richtiges Bild machen, so müssen wir vor Allem seine nun oer Hauptsache nach

zum Abschluß

gekommene

theologische Ueberzeugung uns vorführen.

Denn Krause war keines­

wegs bloßer Kirchenpolitiker, vielmehr ruhte seine kirchenpolitische Thätig­ keit auf einem wissenschaftlichen Erwerb und diese theologische Grund­ lage gab derselben ihren principiellen und idealen Charakter. Wie sein ganzes Denken dem Wirken in der Kirche und ihrer Förderung zuge-

40

4. Die MamieSreife.

wendet war, so waren es auch nicht theologische Nebenfragen, bei denen er sich aufhielt, sondern diejenigen Punkte, welche ihm für die religiöse Gestaltung entscheidend erschienen. Diese Punkte hat er denn auch sämmtlich, zum Theil mehrfach, in Vorträgen vor Gebildeten be­ handelt. Für Krause fiel schon in früheren Jahren die Religion in den Willen; er hat sich schon damals mit Schleiermacher auseinander gesetzt, und es genügte ihm weder die Verlegung der Religion in das Gefühl noch ihre Definition als schlechthiniges Abhängigkeitsgefühl. Diese Richtung consolidirte sich bei ihm und trat später noch entschiedener hervor. Religion ist ihm das Verhalten des Menschen zu Gott, darum Frömmigkeit eine bestimmte Richtung des Willens auf Gott. Wahre Sittlichkeit und Frömmigkeit sind ihm untrennbar, und wo er jene findet, da zweifelt er auch nicht an dem Vorhandensein der letzteren. DaS Christenthum ist ihm wesentlich sittliche Religion, und wie er das Christenthum der Einzelnen vor allem in der treuen Berufser­ füllung verwirklicht sicht, so ist ihm das Christenthum überhaupt gott­ gefällige Gestaltung des Gebens der Menschheit, Erfüllung der Personen und Gemeinschaftsverhältnisse mit dem Geist Jesu Christi. Darnach mußte ihm die Bedeutung des freien Willens als der Voraussetzung persönlicher Verantwortlichkeit in Sachen der Religion sehr hervor­ treten. Der Determinismus war ihm schon früher, vom philosophischen Standpunkte aus, als eine durchaus unbefriedigende Lösung des Pro­ blems erschienen, aber in der Religion erschien er ihm geradezu uner­ träglich. Er sieht im freien Willen die Grundvoraussetzung aller sitt­ lichen, daher auch aller religiösen Begriffe. Und für die Realität deö freien Willens beruft er sich, gewiß mit vollem Recht, auf die That­ sache des inneren Erlebens, freilich so, daß er der Umschränkung der menschlichen Freiheit sich wohl bewußt ist. Bei einem so folgerich­ tigen Denken, wie Krause es übte, läßt sich nicht zweifeln, wie er sich zur Frage nach der Persönlichkeit Gottes stellen mußte. „Die Religion erfordert sie", sagt er in einem Vortrag vom Jahre 1853. „Es möchte schwer sein, schreibt er 1859 im Gegensatz gegen die sog. moderne Weltanschauung, aus dem religiösen Gemüth die Vorstellung von einem frei waltenden allmächtig regierenden und behütenden Gott zu ver­ bannen, es würde ihm keine Deduktion der modernen Wissenschaft den Verlust dieser Vorstellung ersetzen können." „Wenn ich eine Ver­ muthung aussprcchcn dürfte über die zukünftige veränderte Gestalt des Gottesbegrisfs, welche aus dem gegenwärtigen Denkproceß als Resultat

4. Die Mannesreife.

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hervorgehen zu wollen scheint, so möchte es die Hoffnung sein, daß gerade der Begriff der Persönlichkeit den Kern und Mittelpunkt bilden werde, und der Unterschied von dem bisherigen altkirchlichen Begriff darin be­ stehen, daß gerade durch die stärkere Betonung und schärfere Bestimmung deS Begriffs der Persönlichkeit alle diejenigen Momente ai s dem Gottes­ begriff ausgeschieden sein werden, welche mit dem Begriff der Persön­ lichkeit unvereinbar sind, welche die alte Theologie als eine Erbschaft der antiken Philosophie in den Gottesbegriff hineingetragen hat, und welche als nothwendige Momente des Gottesbegriffs festgehalten, consequent stets wieder die Vorstellung der Persönlichkeit aus dem Gottes­ begriff verdrängen müssen,-damit aber denselben, wie mir scheint, zu­ gleich auf den Stand des antiken Gottesbegriffes herabsetzen. Das wage ich zu hoffen, obwohl ich mir nicht verhehle, daß der Begriff der göttlichen Persönlichkeit noch weit entfernt ist, seinen angemessenen wissen­ schaftlichen Ausdruck gefunden zu haben, vielmehr von den meisten neueren Theologen auf die gedankenloseste Weise und gleichsam zum Deckmantel ihrer Unwissenschaftlichkeit in Anwendung gebracht wird. Ich hoffe es, weil diese Vorstellung mir ein unvertilgbarer Theil des frommen christlichen Bewußtseins zu sein scheint, welche immer wieder­ kehrt, so oft sie auch hinausgeworfen wird, und diese unmittelbaren Realitäten mächtig genug sind, um auch das abweichendste reflectirende Denken schließlich sich geneigt zu machen und nach seinem Bilde um­ zugestalten." Wenn in einer Anschauung auch nur der Kern der Re­ ligion gewahrt werden soll, so muß sie sich nach Krause'S Ansicht dar­ über ausweisen, daß es ihr mit dcr Annahme eines realen Gottes als des Grundes aller Dinge ein voller Ernst sei, da nur die Hingebung an einen solchen realen Gott Religion zu nennen ist. Wo dagegen, wie in den verschiedenen Ausläufern der modernen Philosophie, die Vorstellung Gottes zu einer bloßen Abstraktion des menschlichen Denkens verblaßt, da findet er es der Sache angemessener, mit Feuerbach und den modernen Materialisten zu bekennen, daß mit Gott auch die Re­ ligion als ein Wahn und Trugbild des selbstsüchtigen menschlichen Her­ zens zu beseitigen sei, und von „Gebet" könnte auf diesem Standpunkt nur mißbräuchlich noch geredet werden. Krause's logische Begründung ist kurz diese: die Welt als verwirklichte Vernunft setzt eine bewußte, sich selbst bestimmende absolute Vernunft voraus. Ist Gott, so ist er Bewußtsein, richtiger Selbstbestimmung in absolutem Maß, d. h. so ist er persönlich, schlechthin persönlich. „Dies steht mir alö Consequenz meines Denkens fest: entweder ist er persönlich, oder er ist garnicht."

4. Die ManneSreife.

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Er findet in der allgemein herrschenden Gesetzmäßigkeit der Natur keine Nöthigung, das freie Walten und Regieren eines allmächtigen Willens auszuschließen.

„Denn die allgemeine Gesetzmäßigkeit der Natur ist

uns nicht eine solche, daß dadurch jeder Moment ihrer Erscheinungen schlechthin nothwendig und unabänderlich und für jeden andern Faktor unzugänglich bestimmt wäre." „Unser Gott, der die Natur in ihrem Leben und Schaffen trägt und erhält, hat die Natur auch in seiner Macht, daß er in ihr schaltet und waltet, nicht nach grundloser Will­ kür, wohl aber nach seinem vernünftigen liebreichen Willen, der die Gesetze seines eigenen Wesens

überschreiten gar nicht wollen kann;

unser Gott hat unendliche Macht und Fülle, die Natur zu bilden, zu gestalten, zu ändern, zu stören, sie seinen Menschenkindern dienstbar zu machen und seine Menschenkinder vor ihren zerstörenden Wirkungen zu schützen; die Gesetzmäßigkeit der Natur hindert ihn nicht in seiner Re­ gierung und Vorsehung. Ein solcher allmächtiger göttlicher Wille wäre nur dann ausgeschlossen, wenn ein von der Natur unterschiedener Gott eben nicht existirte: die Gesetzmäßigkeit der Natur aber nöthigt uns nicht, Gott weder die Existenz noch den freien allmächtigen Willen ab­ zusprechen." Krause findet den bloß immanenten Gott der modernen Weltanschauung in starkem Gegensatz befindlich zu der religiösen Ueber­ zeugung des Stifters des Christenthums. „Mag die moderne Welt­ anschauung immerhin sehr Vieles und Großes von den religiösen und sittlichen Anschauungen des Christenthums festhalten: an dem Worte Christi gemessen, will mir ihre Christlichkeit doch immer wie ein Rumpf erscheinen, dem man das Haupt abgeschlagen hat." Denn dem über­ weltlichen persönlichen Gott Jesu Christi eignen Güte, Liebe, Gerechtig­ keit, Weisheit: alle diese Eigenschaften müssen fallen, wenn Gott nach Art der modernen Philosopie aufgefaßt wird.

Dem persönlichen Gott

Jesu Christi entsprechen auf Seiten des Menschen Glaube, Liebe, Ver­ trauen, Hingebung, Bitte und Dank u. a.: alle diese Empfindungen haben keinen Sinn mehr für den Gott rer modernen Philosophie, weil sie einen Gott voraussetzen, der hören und verstehen und auch empfin­ den kann. Die ganze Gestalt unseres öffentlichen Gottesdienstes ruht auf der Grundvoraussetzung eines lebendigen persönlichen Gottes, und müßte eine radikale Umgestaltung erfahren, wenn sie in Wahrheit den religiösen Grundvorstellungen der modernen Phüosophie entsprechend gemacht werden sollte. Mit der Persönlichkeit des lebendigen Gottes ist ihm auch un­ mittelbar gewiß gegeben die Ewigkeit der menschlichen Persönlichkeiten:

4. Die Mannesreife.

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„Wer nicht persönlich unsterbliche Wesen annimmt, muß auch den ewigen Gott der Liebe aufgeben, wenn Vernunft in der Welt sein soll. Gott wäre entweder ohnmächtig oder absolut lieblos, ein unsinniges, grau­ sames Wesen, das die armen vergänglichen Menschen mit ewigen Ideen, ewigen Bedürfnissen und ewigen sittlichen Aufgaben plagte und quälte, um sie stets zu täuschen. Ist Gott der ewige Gott der Liebe, so sind wir ewig, die wir vermögen ihn zu denken und ihn zu lieben", sagte Krause in einem Vortrag am 4. Oktober 1863.

Die Gewißheit der

persönlichen Unsterblichkeit stützt sich ihm aber auch auf die ethische Natur des Menschen. Ist wirklich die Liebe sittlich und nicht die Selbst­ sucht, sind Opfer und Selbstverleugnung sittliche Aufgaben, so beweisen sie die Ewigkeit der sittlichen Persönlichkeit. Jeder sittliche Mensch, der Liebe übt und Selbstverleugnung, der arbeitet und sich opfert, ist ein thatsächlicher Beweis für die persönliche Unsterblichkeit, der jeden Gegen­ beweis zu nichte macht.

So lange die Menschen noch einem Gewissett

folgen, so lange sie noch Selbstverleugnung üben, so lange sie noch den nach Ideen Handelnden ehren und hochhalten, und den der Vergäng­ lichkeit Hingegebenen verachten, beweisen sie, daß sie an Unsterblichkeit glauben. Und die Philosophen, so lange sie noch ihre endliche Lust verleugnen, sich durch Wahrheit und Gerechtigkeit bestimmen lassen, für die Nachwelt arbeiten, strafen sie ihre negirenden Theorien durch die That Lügen. Wie er sich zu Bibel und Bekenntniß stelle, darüber sich aus­ zusprechen, gab Krausen namentlich der Kampf Anlaß, welcher sich zwischen Bunsen und Stahl entspann und in den beiden Schriften „die Zeichen d e r Z e it" und „ W i d e r B u n s e n" mit so großem Aufsehen geführt wurde?) *)

Der Artikel:

„Bunsen und Stahl: die Zeichen der Zeit" in der

Prot. Kirchenzeitung 1856, Nr. 7, 11 und 13, ist so instruktiv in Bezug auf den Stand der Dinge in den fünfziger Jahren und zugleich ein solches Meisterstück der Kritik, daß ich bedauere, diese Arbeit nicht in die Sammlung aufnehmen zu können. Bloß um die Samniluiig vor zu großer Ausdehnung zu bewahren, habe ich auf die Aufnahme verzichtet.

Ich tarnt mir aber nicht versagen, die Leser auf diese Arbeit

besonders aufmerksam zu machen.

Mit vernichtender Kritik deckt er das Stahl'sche

Unwesen mit all seinen Unwahrheiten und Pfiffigkeiten auf. schenkt er nichts.

Aber auch Bunsen

So sehr er die Gesundheit seines Standpunkts und sein gutes

protestantisches Recht gegenüber den katholisirenden Restaurationsgelüsten Stahls an­ erkennt, so kann er aus Liebe zur Wahrheit doch nicht umhin, Bunsens Unklarheiten und Halbheiten aufzudecken, und während er seinem Gegner Stahl bezeugen muß, daß er in Allem, was Stahl geschrieben, nie ein Gewissen für die Wahrheit gefun­ den und daß bei ihm seine Neigung für Gewissensdrnck Hand in Hand gehe mit

44

4

Die Mannesreife.

Bimsen hatte in romantisch überschwänglicher Weise die Bibel den „Mittelpunkt der Weltgeschichte", das „Rechtsbuch", das „Gesetzbuch der Gemeinde" genannt und der Bibel die gesetzlich-maßgebende Stel­ lung zugewiesen, die er den Kirchcnbekcnntmssen abgesprochen hatte. Darauf sagt Krause: „Die Bibel ist nicht Mittelpunkt der Weltgeschichte; Jesus Christus ist dieser Mittelpunkt, und die Bibel enthält Zeugnisse von seinem Leben. Die Bibel ist nicht Fundament der Kirche, so wenig als irgend ein Bekenntniß; die Kirche hat überhaupt kein Buch, auch nicht irgend welche Predigt oder Lehre zu ihrem Fundament: Jesus Christus, die lebendige Person, ist Fundament der Kirche, und jede mündliche oder schriftliche Predigt von Christo ruht auf diesem Fun­ damente wie die Kirche selber; der lebendige Glaube, die persönliche Hingegebenheit an die Person Christi ist das Wesen der Kirche und jede Predigt vom Glauben und jedes Glaubensbekcnntniß nur ein Zeug­ niß von diesem Wesen.

Die Bibel ist weder ein Rechtsbuch noch ein

normatives Lehrbuch für die Gemeinde.

Wäre sie ein Rechtsbuch für

die Einrichtungen und eine Norm für die Lehren, und bedürften die Gemeinde und die Kirche eines solchen unzweifelhaften Rechtes und einer solchen sicheren Lehre, so bedürften sie gleichfalls der authentischen Auslegung, wenn nicht der ganze Zweck verfehlt werden sollte; eine solche normative Grundlage fordert für consequentes Denken mit un­ weigerlicher Nothwendigkeit die ganze kirchliche Institution mit untrüg­ lichem Bekenntniß, Amt und Regiment. Kann man das als Protestant nicht wollen, so muß man auch die letzte Position des römischen Kirchensystems fahren lassen, die normative Geltung der Bibel, die Wurzel, aus der alle römischen Positionen mit Nothwen­ digkeit wieder hervorwachsen. Die Bibel ist kein Gesetzbuch und keine Lehrnorm; sie ist im N. T. die Sammlung von Urkunden, welche dem Mangel an WahrheitSgcwissen, so hat er deni Gesinnungsgeiiossen, über dessen neue Bundesgenofsenschast er sich freut, vorzuhalten, daß sein Buch zwar ein Bekennt­ niß zur Wahrheit sei, daß er aber die Wahrheit viel zu sehr niodulire nach hohen Neigungen und das Bekenntniß viel zu sehr anlege aus den Sturz des euiflußreichen Gegners, als daß wir eö mit ungetrübtem Wohlgefallen vernehmen konnten. mahnt ihn, seine eigenen trefflichen Worte recht zu Herze» zu nehmen:

Er er­

„Die bren­

nenden Fragen, in deren Gluth wir leben, werden sich erledigen, 10 nach großen Ge­ schicken, durch Einzelne und durch Völker, in Jahrzehnten oder Jahrhunderten; aber nach keines Menschen selbstsüchtigem Willen, nach temes übermüthigen Herrschers oder übermächtigen Volkes Absicht und Gebot, sondern einzig und allein nach den ewigen Gesetzen

der sittlichen Weltordiiiiug Gottes,

durch die sittliche gottergebene Kraft,

welche das Reich Gottes an sich reißt mit göttlicher Gewalt."

4. Die Mannesreife.

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uns von dem apostolischen Zeitalter und dem Leben Jesu Christi zu­ verlässige Kunde geben und darin auch die Selbstbezeugung Christi ent­ halten. Es bedarf überhaupt nicht solcher absoluten Lehrnorm: die göttliche Wahrheit ist nicht geoffenbart als bindendes Gesetz und nicht als fertiger Lehrbuchstabe; sie ist erschienen als lebendige religiös-sitt­ liche Person, die durch die ganze Menschheit hindurch religiös-sittliche Persönlichkeit und religiös-sittliche Gemeinschaft wirkt.------ Solche unzweideutige Rede über die Stellung der Bibel ist gerade in der Gegenwart mehr als alles andere unumgängliches Erforderniß, wenn man der großen Gemeinde will das Wesen des Christenthums und der Gemeinde verdeutlichen." Ueber eine Verpflichtung auf die Schrift er­ klärte sich Krause schon 1847 in dem Artikel: „Die Leistungen der Preußischen Generalshnode des Jahres 1846 in der Bekenntnißfrage" dahin: „Weil der Schriftinhalt nicht schlechthin göttlich ist, sondern die mit Sünde und Irrthum behaftete Rede der Apostel, welche die Offen­ barung Gottes in Christo verkündiget, und weil sich das Wort Gottes nicht so mechanisch heraustrennen läßt von dem menschlichen Beisatz, so daß die Fehler etwa nur geschichtliche Bemerkungen angingen, alle dogmatischen und ethischen Vorstellungen aber schlechthin vollkommen wären, darum ist eine Verpflichtung auf die Schrift nicht möglich." Aus demselben Grunde aber, fügt er hinzu, ist noch viel unmöglicher und wäre ein noch viel härteres Joch eine Verpflichtung auf Schriftauslegungen, die zu dem nicht untrüglichen Schriftwort noch die trügliche Erklärung bringen. Darum findet Krause den KonfessionalismuS unseres neuesten evangelischen Kirchenthums katholisch und papistisch, und sagt gegen Stahl, der sich unumwunden zum Konfessionalismus bekennt und für dessen evangelischen Charakter auf die Reformatoren beruft: „Ueberall, wo die Reformatoren aus der Gebundenheit an kirchliche Konfession dachten und handelten, dachten und handelten sie aus dem Sauerteig des Papismus, der noch in vielen Stücken ihre Gemüther beherrschte. Denn das ist der Unterschied zwischen dem römischen und dem protestantischen System. In der römischen Kirche ist das Kirchenbekenntniß der fertige, reine, vollkommene Ausdruck der göttlichen Wahrheit, die von Gott geoffenbarte Wahrheit selber, und darum ist das einzelne Glied der Kirche sowie die Gesammtheit ihrer Glieder unbedingt in ihrem Gewissen dem Kirchenbekenntniß unterwor­ fen, an das Kirchenbekenntniß gebunden. Nach protestantischen Be­ griffen gibt es nichts in der gesammten Kirche, keine Predigt, kein Bekenntniß, das ein vollkommen angemessener Ausdruck der göttlichen

4. Die Maimesreise.

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Wahrheit wäre, und ist das Kirchenbekenntniß mit allen: in der Kirche der steten Entwickelung, der steten Reinigung und Vervollkommnung anheimgegeben, und darum ist in der protestantischen Kirche kein Be­ kenntniß unbedingt maßgebend, und weder die Kirche noch das einzelne Glied der Kirche unter die Autorität irgend eines Bekenntnisses gebunden, sondern gilt ein freies prüfendes Verhältniß zu dem Bekenntnisse für alle und jede.--------Wer die Stellung der Gebundenheit will, muß auch die Voraussetzung der Untrüglichkeit wollen.

Die meisten unsrer neuen Lutheraner scheuen

sich noch die Voraussetzung auszusprechen und zu denken, Reste pro­ testantischen Blutes hindern sie daran; man kann indeß das Bekennt­ niß zu dieser Voraussetzung auch aus einem andern Grunde unter­ lassen, weil es sich ja ganz von selbst versteht und unweise wäre, durch Aussprechen

dieses

Selbstverständlichen

die Gemüther zu erregen."

Schon 1847 warnte er davor, sich über den Werth und die Bedeutung der alten Bekenntnisse nicht durch ihre allgemeine Anerkennung täuschen zu lassen.

An dieser sieht man nur, daß jene Zeit weniger Glauben

und weniger Erkenntniß hatte als die unsrige; eö verräth nur den großen Mangel an glaubender und erkennender Eigenthümlichkeit, die völlige Abhängigkeit von Autoritäten und daß man die Wahrheit wie eine Waare betrachtete, die man von einem zum andern verfahren könnte, wenn ein Bekenntniß von einem großen Manne verfaßt so all­ gemeine unbedingte Annahme finden konnte. Krause erklärt es für ein großes Zeichen unsrer Zeit, für ein starkes Zeugniß ihrer Glaubens­ innigkeit und Glaubenstiefe, daß das vortrefflichste Bekenntniß ihres ausgezeichnetsten und gläubigsten Theologen, an Umfang nur halb so groß als die Augsburgische Konfession, unter tüchtigen, gebildeten und sehr gläubigen Theologen auch nicht bei dreien unbedingten Beifall sich erwerben könnte.

Die Symbole sind nichts weiter als bedeutende ehr­

würdige Bekenntnisse und Zeugnisse von dem Glauben und der Lehre unsrer reformatorischen Väter, und solche haben keinen Anspruch, Nor­ men, Regeln und Grundlagen für uns zu sein. Die Kirche bekennt sich allerdings zu ihren Anfängen und damit auch zu deren vorzüglich­ sten Zeugnissen, aber sie bekennt sich zu ihrer Mannheit nicht mit geringerer Liebe und Achtung als zu ihrer Kindheit, sie erkennt in ihrer Gegenwart mehr Autorität und Normalität als in ihrer Ver­ gangenheit.

Weiter hat sie sich zu den Symbolen keine Stellung zu

geben. Krause erkennt die Grundlagen der Kirche nicht im Bekenntniß,

4 Die Mannesreise.

47

sondern tut Glauben, nicht in einer leblosen Formel, sondern in einer lebensvollen, ras rreben Jesu Christi in sich tragenden Gesinnuirg. Der Glaube, welcher selig macht oder, was auf dasselbe hinauskommt, vor Gott rechtfertigt, ist ihm aber nicht die Annahme einer Lehre, das Fürwahrhalten von Thatsachen, und dem, waö dafür ausgegeben wird, sondern ganz allein die Hingebung an die Person Christi.

„Die Per­

son Christi ist ras seligmachende Objekt, nicht irgend welche Lehre über ihn, nicht seine r'ehrc, nicht irgend eine seiner Thaten." Nicht als Lehrer, nicht als Borbild, sondern als Liebe macht er selig. In ihm hat sich Gott als Liebe persönlich geoffenbart. Hingabe an Christum ist daher Hingabe an die göttliche Liebe. Die Hinwendung des Ge­ müths im inuerstcn Grunde zu der göttlichen barmherzigen Liebe ist die größte sittliche That.

Und sie allein ist der seligmachende, der

christliche Glaube. In Bezug auf die Person Christi hat sich Krause durch die tief einschneidenden kritisch-historischen Forschungen der letzten Jahr­ zehnte genöthigt gesehen, die Schleiermacher'sche Christologie, welche sein geistiges Eigenthum geworden war, nicht unwesentlich zu modifiziren. „Wenn man die weltgeschichtliche Einzigkeit Jesu behauptet: ist darin nothwendig eine spezifische Unterschiedenheit seines Gottesbewußtseins gesetzt von dem Gottcsbewußtsein eines rechten Christenmenschen? Oder verhält es sich vielleicht so, daß seine Einzigkeit bestände in der genia­ len Ursprünglichkeit seines Gottesbewußtsems, die ihn zum Stifter und Fürsten des von ihm gestifteten Gottcsreiches macht, daß aber doch mit Ausnahme des besonderen Berufes unsre Kindschaft seiner Sohn­ schaft specifisch gleichartig wäre? Wir neigen uns nach der letzteren Seite" (Prot. K.-Z. 1864, Sp. 498). Die völlige Makellosigkeit des Wandels erkennt er an, ist überzeugt von der sittlichen Reinheit des Gemüths, zweifelt nicht an der unbedingten Herrschaft der Gottinnigkeit über alle sittliche Motive seines Berufslebens bis in die geheimsten Gedanken hinein; er hält für den Träger der Messianität diese emi­ nente sittliche Begabung für unentbehrlich, aber von einer absoluten Sündlosigkeit aucb nur für die Zeit der öffentlichen Wirksamkeit glaubt er nicht mehr reden zu dürfen, weil sie nicht zu erweisen ist, weil sie nicht in die Entwickelung paßt, und besonders weil man nicht einsieht, wozu sie nöthig ist. Diese Kategorie erklärt Krause für ein dogma­ tisches Erzeugniß, welches aus der alten Ueberspannung des Sünden­ begriffs und der Ueberspannung res Gegensatzes von Sünde und Er­ lösung herstammt.

Wir glauben ja an die Kraft des göttlichen Eben-

48

4. Die Mannesreife.

bildeö und nehmen nicht mehr die völlige Unfähigkeit des Menschen zum Guten an; darum brauchen wir auch zu unsrem Erlöser nicht mehr den „Gottmenschen", nicht mehr den „absolut sünblosen Men­ schen", wie denn erfahrungsmäßig die erlösende Thätigkeit alle Tage durch sündhafte Menschen und unvollkommenes menschliches Gemein­ wesen weiter geführt wird. Für unser Bewußtsein wird nur gefordert der von Gottes Geist durchdrungene, von göttlicher Wahrheit erleuchtete, vom göttlichen Willen regierte, heilig wandelnde und seinen Beruf getreu erfüllende Anfänger und Führer des Reiches Gottes in der Menschheit, der mit seinen religiösen Gedanken und seinen Kräften der Quellpunkt wird für die sittlich religiöse Wiedergeburt der gestimmten Menschheit. Ob in untergeordneten Dingen sittliche Mängel an ihm gewesen, wie weit die Kämpfe der niedern Antriebe gegen den gött­ lichen Beruf in seine Seele hineingereicht haben, das ist für diesen Standpunkt irrelevant: „Will man die erhabene Gottinnigkeit, die un­ wandelbare Treue gegen den göttlichen Beruf, die Herrschaft der sitt­ lichen Kräfte über die sinnlichen Antriebe, unbekümmert um unter­ geordnete Schwankungen, als Sündlosigkeit bezeichnen, so haben wir nichts dagegen; die dogmatische Sündlosigkeit ist weder erweislich, noch erfaßbar, noch Bedürfniß. Summa Summarum: Jesus, der Menschen­ sohn und Gottessohn, der Messias, der Stifter und Fürst deö Gottes­ reiches, der centrale religiöse Genius, das religiöse Haupt der gestimm­ ten Menschheit: aber bei seiner Erhabenheit und Einzigkeit doch gleichen Wesens und Geschlechtes mit uns allen, die wir seine Jünger und Brüder sind." In seinen Papieren finde ich unter dem Titel: „Stellung deö Protestantenvereins zum historischen Christus" noch folgende inter­ essante Bemerkungen: „Die aufgeklärte und mythische Theorie kennt eigentlich eine religiöse Bedeutung Jesu gar nicht, es bleibt höchstens eine historische Bedeutung. Bei Schleiermacher war Jesus der abso­ lute Mensch, allein heilig (wir alle Sünder), als allein gebend (wir alle nehmend) der Mittelpunkt für alle religiösen Empfindungen, aber so, daß die Anbetung nur auf Gott gerichtet und die Erlangung der Hei­ ligung ohne Satisfaktion ein sittlicher Proceß ist. Die neuere historische Auffassung ist eine davon abweichende. Jesus ist Stifter des Gottes­ reiches, Offenbarer der ewigen Grundlage, auf welcher die Christenheit ruht und aus welcher sie lebt, aber in der ganzen Christenheit sehen wir immer weitere positive christliche Schöpfungen, und der einzelne Christ ist nicht bloß an den Urquell, sondern an den gestimmten Ver­ lauf gewiesen, nicht bloß receptiv, sondern auch produktiv. Dabei ist

4. Die Mannesreife-

49

aber der Christ und die christliche Gemeinde immer auf den Urquell gewiesen zur Orientirung und Corrigirung, immer mit der religiösen Empfindung hangend an dem Stifter, dem Meister und Haupt der Gemeinde; dagegen nicht die Anbetung bloß, sondern alle Andacht d. h. religiöse Gesinnung und Empfindung, ist direkt auf Gott zu richten. Schleiermacher's genialer Griff war's die historische Bahn zu betreten. Auf dieser Grundlage arbeitet die theologische Forschung weiter; ihm ist es nicht gelungen von dogmatischen Voraussetzungen ganz frei zu werden.

Sein absoluter Mensch mit dem stetigen Gottesbewußtsein,

sein Urbild und Ideal sind dogmatische Voraussetzungen, nicht Resul­ tate.

Es ist fraglich, ob der Gedanke des Ideals auch in der Be­

schränkung auf die sittlich-religiöse Vollkommenheit vollziehbar, ob er nicht eine bloße Abstraktion ist. eine dogmatische Abstraktion,

Der Begriff der Sündlosigkeit ist

an seine Stelle zu setzen die positive

Heiligkeit, das Vorhandensein der göttlichen Berufskräfte.

Die Zeit

will ein menschliches und geschichtliches Bild Jesu und sie will dabei seine einzige, unvergleichliche Stellung und Bedeutung nicht verlieren." In einem

Vortrag über die „religiöse Bedeutung des

historischen

Christus ", dessen Skizze vorliegt, hat er ausgeführt, wie die Religiosität in allen Momenten unmittelbar auf Gott gerichtet sein, aber für die Orientirung, Formirung, Reinigung, und auch für die Erzeugung des religiösen Lebens auf den historischen Christus und den ganzen aus ihm erwachsenen historischen Proceß zurückgehen müsse. Don hervorragender Wichtigkeit ist bei dem speciellen Lebensberuf Krause's der Begriff der Kirche. Vor Krause's Geiste stand der acht protestantische in voller Klarheit und ihn zur Geltung zu bringen bis in alle seine Consequenzen, das ist seine unermüdliche Arbeit gewesen. Dem confessionalistischen Kirchenbegriff, wonach Bekenntniß, Amt und Regiment die gottgegebene bindende Institution sind und die Ge­ meinde eben in der Gebundenheit an diese Institution die Kirche ist, setzt er den ächt evangelischen entgegen. Die Gemeinde selber ist ihm die Kirche, und alle Aemter, Ordnungen und Bekenntnisse sind ihm Erzeugnisse des Geistes Christi in und aus der Gemeinde. Jener Begriff ist der römische.

Grundlage des römischen Systems ist der

Irrthum, daß eine bestimmte gegebene Kirche mit der Kirche Christi überhaupt gleichgesetzt wird.

Die Kirche ist eine bestimmte Institution

und sie ist ausschließlich göttlich autorisirt, daher das Heil der Seele von ihr abhängig, außerhalb dieser Kirche kein Heil.

Auch der Pro­

testantismus kann die Kirche eine Institution nennen, um damit der Spaeth, Prvtestantlsche Bausteine.

4

50

4. Die Mannesreife.

bloßen Zufälligkeit sowie der bloß menschlich machenden und verab­ redenden Willkür gegenüber ihren göttlichen Ursprung und ihr göttlich ideales bleibendes Wesen zu bezeichnen: aber er kann nun und nimmermehr zugeben, daß diese geschichtlich gegebene In­ stitution und die Kirche Jesu Christi einander decken. Der Protestantismus ist mit der Unterscheidung entstanden und konnte sittlicher Weise nicht ohne die Unterscheidung entstehen, welche die Reformatoren mit dem freilich ungeschickten Ausdruck der „sichtbaren" und der „unsichtbaren" Kirche machten. Er kann darum auch nicht bestehen ohne diese Unter­ scheidung.

Er kann auch zweitens nicht das Heil abhängig machen von

der Zugehörigkeit zu der „Kirche" genannten geschichtlichen Institution, vielmehr muß er bei dem Grundsatz verbleiben, daß das Heil einzig und allein in der Verbindung der Seele mit Christo gegeben ist, mag diese Verbindung innerhalb oder außerhalb der Kirche zu Stande ge­ kommen sein. Wo der Protestantismus diesen Grundsatz und jene Unterscheidung aufgiebt, da giebt er sich selber auf, da verleugnet ei­ fern Wesen und verdammt seinen Ursprung. Daraus ergiebt sich für den Begriff der evangelischen Kirche, ihr Verhältniß zur allgemeinen lichen

christlichen

Kirche

Kirchengemeinschaften

und Unterschied von anderen christ­

folgende Bestimmung.

„Die

evange­

lische Kirche ist nicht eine besondere von anderen christlichen Kirchen­ gemeinschaften unterschiedene und geschiedene Gemeinschaft, die in ihrer bestimmten Eigenthümlichkeit andere christliche Eigenthümlichkeiten aus­ schlösse, sie ist und will nichts anders sein, als die eine allgemeine christliche Kirche, die darauf ausgeht, die ganze Fülle des mannigfal­ tigen christlichen Lebens einzuschließen, die nur Nichtchristen ausschließt, von Christen nur die, welche sich selber ausschließen, weil sie zu ihr nicht gehören wollen, und nur darum, und so lange als sich noch viele Christen von ihrer Gemeinschaft zurückhalten, ist sie eine eigenthümliche und von andern geschiedene. Die Reformation in ihren Trägern hat nur sein wollen eine Wiederherstellung der einen allgemeinen Kirche aus ihrer Verderbniß und eine Befreiung aus ihrem Gefängniß, eine vollere, reinere, tiefere Erfassung ihrer Idee." Darnach „ist und bleibt unsre Kirche eine Sekte (denn das ist das Wesen einer Sekte, daß sie sich gegen Christen ausschließend verhält) und kann zu keinem blühenden frischen Leben gedeihen, so lange sie nicht den entschiedenen Entschluß faßt alle Cristen ohne Ausnahme als ihre vollberechtigten Glieder zu sich zu rechnen. Ja es ist eine Anmaßung sich die evan­ gelische zu nennen, wenn es ihr nicht Ernst ist, die katholische sein zu wollen."

4. Die Mamiesreife.

51

In seiner Gährungszeit hatte Krause nahe hingestreift an rigoristische und dem Sektenwesen zuneigende Kirchen- und Kirchenzuchtsgedanken. In den Tagen seiner Reife hatte er sich einen Blick von seltener Weite und eine Weitherzigkeit des Urtheils über geschichtlich gewordene Geistes­ richtungen zu eigen gemacht, die ihn zur Einwirkung auf weite Kreise ganz vorzugsweise befähigten und ihn veranlaßten sich des specifisch theologischen Zuschnitts immer völliger zu entledigen, so wenig er auch aufhörte ein Arbeiter auf theologischem Felde zu sein.

Wir wissen,

ruft er 1853 einem Freunde zu, daß bei gleicher Glaubenslehre große Verschiedenheit des Glaubenslebens, und bei gleichem Glaubensleben große Verschiedenheit der Glaubenslehre stattfinden kann; wir wissen, daß bei sehr ausgebildeter Glaubenslehre ein sehr dürftiger Glaube und bei einem tiefen festen Glauben eine höchst mangelhafte Glaubens­ lehre bestehen, ja zuweilen Verstand und Herz in demselben Menschen sich zu schroffem Widerspruch entwickeln können.

Eben weil wir dies

erkannt haben, vermögen wir die mannigfaltigen gesunderen und un­ gesunderen, entwickelteren und unentwickelteren Erkenntnisse und Lehr­ weisen in unserer Kirche zu umfassen. Und eS gibt fast nichts, daS mich mit so überschwänglicher Seligkeit erfüllt, als dieser freiere Mick, der mich jedes religiöse Leben unter den verschiedensten Formen auch unter unkenntlichster Gestalt mit herzlicher Liebe ergreifen läßt. Darum sollen wir aber auch mit Eifersucht über dieser unsrer Gnadengabe wachen und eifrig bemüht sein, wo wir von doktrinärem oder theore­ tischem Wesen bei uns und unsern Freunden noch irgend etwas ent­ decken, diesen alten Sauerteig bis auf den letzten Rest auszufegen. So urtheilt er über den Rationalismus durch und durch gerecht. Der Rationalismus (in seiner geschichtlichen Erscheinung) stellt als die oberste Quelle und Norm aller menschlichen Erkenntniß chin die gesunde Vernunft, ein Princip, das den obersten Grundsätzen des Christen­ thums widerspricht. Dennoch erkennen wir in ihm viel christliches Wesen und lernen täglich seinen christlichen Werth höher schätzen, je häßlicher sich die Geberden der modernen Orthodoxie verstellen. Woher das? Weil wir wissen, daß der Rationalismus nicht in jenes Princip aufgeht. Das Princip beherrscht nicht das ganze System, vielmehr nur einen geringen Theil desselben. nalismus

als lebendige Erscheinung

Und fassen wir gar den Ratio­ und

suchen

seine

geschichtliche

Wurzel, so hat er diese gar nicht in jenem Erkenntnißprinzip, sondern hat sein Wesen vielmehr darin, einer einseitigen theoretischen unge­ schichtlichen Vergöttlichung des Christenthums gegenüber die natürliche, 4*

52

4.

Die ManneSreife.

geschichtliche, menschliche, sittliche, vernunftmäßige Seite herauszubilden; und

aus dieser

Lebenswurzel trat der Grundsatz von der gesunden

Vernunft nur als eine einseitige Formel für das nothwendig gewor­ dene kritische Princip

wider die vorangegangene

einseitige Unkritik

hervor. Auch der Humanismus ist ihm ein echtes und rechtes Kind des Protestantismus trotz seiner großen theoretischen Verirrungen, seiner theoretischen Feindschaft wider die Religion und seiner sittlich so nach­ theiligen praktischen Enthaltung von allem religiös-kirchlichen Leben, ja trotz einzelner wirklich widerchristlicher Erscheinungen.

Er ist ein ein­

seitiger, aber sittlich und geschichtlich wohlberechtigter Ausläufer des protestantischen Christenthums, ein unkirchliches, aber echtes Kind des Protestantismus, das den Protestantismus in der Form der Religio­ sität und Kirchlichkeit nicht versteht. „Ich sehe in ihm nicht einen auf Tod und Leben zu bekämpfenden Feind, sondern einen Gegner aus Mißverstand, einen verborgenen Freund und Blutsverwandten, mit dem ich mich zu verständigen habe." „Aus der Wirklichkeit und dem geschichtlichen Ursprung des Humanismus urtheile ich, daß gerade ein sittlicher Trieb den Kern der ganzen Erscheinung bildet. Und zwar erscheint mir der Trieb in dem Grundgedanken: die gesammte diesseitige Wirklichkeit in allen ihren Kräften und Er­ scheinungen mit energischem Denken zn erfassen und mit sittlicher

Thatkraft beherrschend zu gestalten.

Gegenüber

einer einseitig transscendentalen Weltanschauung, die in Spekulation und Religion den Schwerpunkt des gesammte» Lebens in die Jenseitigkeit verlegte mit Vernachläßigung des sogenannten irdischen Jammerthals, hat sich der Humanismus ganz und ausschließlich auf die diesseitige Welt geworfen, und läßt einstweilen alles Ueberweltliche bei Seite liegen. Die Verneinungen des Humanismus, mit welchen er sich gegen Gott, Religion, Unsterblichkeit kehrt, bilden nicht sein Wesen, sondern sind nur einseitige Verfolgungen seines sittlichen Grundgedankens. „Hat doch der Humanismus sittliche Charaktere aufzuweisen

in allen Be­

rufszweigen, wie sie schwerlich die neuere Religiosität kräftiger und zahlreicher gegenüberzustellen vermag. Der Humanismus beweist durch­ weg einen sittlichen Ernst und eine sittliche Energie, die es mit dem sittlichen Ernst und der sittlichen Energie der Kirchlichen wohl auf­ nehmen mag. Selbst sein extremer Ausläufer, der Socialismus, hat sittlich ernste Seiten, welche der weltgeschichtliche Proceß sich anzueignen hat.

Er gibt im Jahre 1853 klaren und bestimmten Ausdruck dem.

4. Die ManneSreise.

53

was vor Allem zur Stiftung des Protestantenvereins ein Jahrzehnt später getrieben hat.

„Müßte ich die, welche jetzt vorzüglich die Kirch­

lichen sind, für die Fundamente des neuen Kirchenbaues halten, so würde ich den Protestantismus als Kirche aufgeben. Denn ich kann trotz aller Dogmatik und kirchlichen Werke nicht entdecken, daß die göttlichen Kräfte der Weltgeschichte in ihnen leben und weben.

Und

dadurch nehme ich allerdings zu den Unkirchlichen eine ganz andere Stellung.

Mir muß es als eine wesentliche Zeitaufgabe erscheinen,

daß gerade sie mit dem Protestantismüs verständigt werden. Es muß ihnen deutlich werden, daß, was sie eigentlich wollen, recht und echt­ protestantisch ist, daß sie aber, was sie meinen darum leugnen zu müssen, nur leugnen aus einseitiger Verneinung einer einseitigen und schlechten Religiosität. Sie müssen überzeugt werden, daß ihr eignes Streben im innersten Grunde religiös ist und sich erst vollenden wird, wenn es sich wieder auf seine Religiosität besinnt und aus sich eine religiös-kirchliche Gestalt erzeugt.

Und dazu muß helfen, wer irgend

kann. Und dazu ist nicht nöthig, daß man irgend wie seine positiv geschichtliche christliche Stellung verleugne und schwäche; int Gegentheil ist es die Aufgabe darzuthun, daß ihr Ziel eben nur zu erreichen ist aus dem rechten positiv

geschichtlichen protestantischen Christenthum

heraus. Prüfet, ihr lieben Freunde, die ihr bedenklich und ängstlich seid, versuchet es einmal ernstlich die Erscheinung von der Seite anzusehen, ob ich nicht doch vielleicht Recht habe."

5.

Sein Lebenswerk.

Es liegt mir noch ob,

ein Bild seiner öffentlichen Wirk­

samkeit zu geben. Eben von ihr bietet diese Auswahl seiner schrift­ stellerischen Erzeugnisse das Beste, das zur Kenntniß seines Lebenswerks Geeignetste und zugleich für die Gegenwart Beherzigenswertheste.

Es

wird sich daher empfehlen, die Darstellung in gedrängter Kürze zu geben, damit um so lebhafter sein eigenes Wort zum Leser spreche. Im Jahre 1844, zur Zeit,

als die Provinzialshnoden in der

preußischen Landeskirche berufen waren, um auch über die Frage zu

5.

54 verhandeln,

Sein Lebenswerk.

ob der Kirche eine

synodale Verfassung solle

gegeben

werden, bildete sich der märkische Pastoralverein, in welchem sich die liberaleren Elemente der Geistlichkeit rer Provinz Brandenburg unter der Führung des Predigers Ludwig Jonas in Berlin sammelten, jedoch vorerst ohne die Tendenz kirchlich activ zu werden, vielmehr nur auf Erörterung theologischer und kirchlicher Fragen sich beschränkend.

An

diesen Conferenzen hat Krause sich lebhaft betheiligt. Er pflegte über die Verhandlungen des Vereins öffentlichen Bericht abzustatten und im Jahre 1847 hat er auf der Versammlung desselben zu Frankfurt a. O. einen Vortrag über die vom h. Abendmahl handelnden Stellen-des Neuen Testaments gehalten, der heute noch lesens­ wert^ ist (Monatsschrift für die un. ev. Kirche Band IV, 431—469). Die der Orthodoxie zuneigenden Elemente zogen sich indeß immer mehr zurück, und je näher das verhängnißvolle Jahr 1848 rückte, desto mehr nahm der Verein eine entschiedener praktische Richtung auf Er­ haltung und Förderung der Union an. Aus ihm wuchs der Unionsverein oder „Verein für evangelische Kirchengemeinschaft" heraus, gegründet 14. Juni 1848. Der Verein, der seine Zwecke dahin be­ stimmte, er wolle die evangelische Kirchengemeinschaft, welche zwischen Lutheranern und Neformirten bestehe, erhalten, fördern und ausbreiten, er wolle aber „nicht staatlich gemachte Union, sondern kirchliche Ver­ einigung in Freiheit des Glaubens immer fester begründen und kirchlich vollenden ", hatte neben Eltester, Prediger in Potsdam, und Consistorialrath Pischon in Berlin, Krause in den Vorstand gewählt, und er war der eigentliche Geschäftsführer des neuen Vereins. Er hat als Aus­ schußmitglied des Centralcomite's dieses Vereins bei allen Denkschriften, welche für die Unions- und Kirchenverfassungssache eingereicht wurden, mitgearbeitet, ja Gedanken und Styl derselben erweisen, daß er bei Abfassung derselben sehr stark betheiligt war. derselben hat er auch

Bei der bedeutendsten

die Herausgabe besorgt:

„Petition von Dr.

Jonas und Genossen bctr. die Selbstständigkeit der pr. evangelischen Landeskirche an Se. K. H. den Prinz-Regenten, v. 5. Mai 1859." Theils im Unionsverein, theils zum Besten des Gustav-Adolph-Vereins hat Krause auch Vorträge gehalten, unv es dürfte nicht ohne Inter­ esse sein, die von ihm behandelten Themata sich zu vergegenwärtigen, soweit die Papiere von ihnen Skizzen enthalten. Er behandelte die Bedeutung des Papstthums, die evangelische Katholicität, die protestan­ tische und die katholische Sittlichkeit, den katholischen und den evange­ lischen Kultus, Protestantismus und Bildung, die Kirche und die freien

5. Sein Lebenswerk.

55

Vereine, die religiöse Bedeutung des historischen Christus, Stellung des evangelischen Christen zur „Schrift, den seligmachenden Glauben, Kirchenzucht" (nicht Kinderzucht), die Selbständigkeit der Kirche, die Bedeutung des freien Willens in Sachen der Religion, Persönlichkeit Gottes, Gewißheit der persönlichen Unsterblichkeit, und das Andenken I. G. Fichte's. Es ist zu bedauern, daß keiner dieser Vorträge soweit ausgearbeitet hinterlassen ist, daß er veröffentlicht werden könnte. Meist sprach er nach sehr sorgfältig durchgearbeiteten Dispositionen, denen er erst bei der Rede Fleisch und Blut gab. Der intensivste Kraftaufwand galt aber der journalistischen Thätigkeit. Mit der Redaktionsarbeit, in welche er bei der Zeitschrift für die unirte evangelische Kirche ein­ trat, und neben welcher ihm die des „Protestant", des im October 1851 in's Leben tretenden Kirchenblatts für das evangelische Volk sammt der Verantwortlichkeit vom Unionsverein zugewiesen wurde, übernahm er zugleich die Besprechung der bedeutendsten Angelegenheiten auf kirch­ lichem Gebiete, wie er schon zuvor mit der Recension der Berliner Generalsynode und des Verfahrens im Gustav-Adolf-Verein gegen Dr. Rupp den Anfang gemacht hatte; die letztgenannte Arbeit, welche ihm gemeinsam ist mit E.tester, erschien in der Monatsschrift für dienn. ev.K. Band III, Seite 379—429 unter dem Titel: „H. Eltester und H. Krause. Ist der Gustav-Adolf-Berein ein landeskirchlicher oder ein evangelisch-protestantischer? Die Stimme des evangelischen Volkes vertreten gegen seine Theologen, vornehmlich gegen Dr. Lücke und Dr. Ullmann." Von 1848 an bis zu seinem letzten Krankenlager ist er allezeit wachsamer Stimmführer der Partei des vernünftigen Fortschritts gewesen und jede Wendung auf kirchlichem Gebiete hat er beachtet und eingehend besprochen, ihre Bedeutung würdigend, Miß­ griffe und Heillosigkeiten einer schonungslosen Kritik unterziehend, und bemüht durch Wirken auf die Ueberzeugung die Sachen der rechten Lösung näher zu bringen. Er hat dies gethan mit einer seltenen Virtuosität in der Behandlung. Klarheit und Frische der Darstellung, eine Fülle drastischer Wendungen bei großer Präcision im Ausdruck, ein Styl, der nicht selten lebhaft an Lessing erinnert, war ihm eigen. Und für den Kampf, zu dem er sich so oft herausgefordert sah, war er noch insbesondere mit den spitzigen Pfeilen eines kerngesunden Sarkasmus gewaffnet. Diesen meisterhaft zu verwenden gelang ihm ganz besonders da, wo ihn unwahres und heuchlerisches Wesen zum Zorn reizten. Es war freilich nicht gemeine Leidenschaft, was ihn in Flammen setzte, sondern die Aufwallung seines Gemüths in edlem Unwillen,

56

5. Sein Lebenswerk.

wobei er seiner völlig mächtig blieb und seine Geisteskräfte in vollster Concentration zu Tage traten. So flammt er, daß ich eine Probe aus dem vorletzten Jahre seines Lebens gebe, über das Vorwort Hengstenberg's in seiner Ev. Kirchenzeitung (1867) auf in dem Artikel „die Zukunft der Kirche nach dem großen Propheten" (Prot. K. Z. 1867, Nr. 10), in welchem er zu seinem früher öfters geübten Brauche zurückkehrt, seinen Arbeiten die Form des vertraulichen Austausches an liebe Freunde zu geben. Er schreibt an Eltester: Du darfst jetzt kein Gift genießen, wie Du sagst; aber ich mache freilich die Erfahrung, daß in unsern Kreisen die allermeisten dies Programm nicht gelesen haben, weil sie seit Jahren es nicht mehr über sich vermögen, die Ev. Kirchenzeitung an­ zusehen. Dies Verfahren kann ich nicht billigen; man muß den Jesuitiömus, so sehr man ihn verabscheut, doch allezeit beobachten, wie er's treibe und was er unternimmt, sonst wird man mitschuldig an dem Schaden, den er anrichtet. Für Hengstenberg erscheint das jetzt um so unerläßlicher, als er wieder ganz oben auf ist. Du weißt es, mein Freund, unter allen seinen Glaubensartikeln erscheint mir als der wirksamste der Glaube an die Könige dieser Welt, in dem Punkt von den „christlichen Königen" concentrirt sich seine ganze Glaubensenergie. Kann er den Königen zu Zeiten nicht beikommen, daß sie nicht Gottes Willen thun, so hängt er den Prophctenmantel um, sammelt alle Drohungen und Flüche des alten Testaments, verzeichnet alle Schick­ sale, welche gottlosen Königen zu Theil geworden und die natürlich zum Vorbild geschehen sind für unsre Zeiten, vergißt eine Weile das vierte Gebot und erinnert das christliche Volk daran, daß man Gott mehr gehorchen müsse als den Menschen. Hilft das noch nicht, so kommt er als der Jeremias, singt Klagepsalmen, daß Niemand auf die Stimme Gottes höre, und verkündet der Welt und ihren Gebietern einen schrecklichen Untergang. So hat er bekanntlich die letzten drei Jahre als Jeremias fungirt, da war gar nichts mehr gesund am Volk und der Kirche vom Scheitel bis zur Sohle. Gelingt es ihm dagegen seinen Haken an hoher Stelle einzuschlagen, so sind schnell die Klagen vergessen, so ist die Kirche voll des herrlichen Glaubens, und die Könige fließen über von christlicher Liebe und Weisheit, und ihre Tu­ genden glänzen wie die Sterne am Himmel und ihre Namen sind verzeichnet im Buch des Lebens; natürlich hat dann der Geist schon im alten Testament auf jeden dieser Könige insbesondere hingewiesen. Die Scene verändert sich dann plötzlich, der Prophetenmantel wird aus

5. Sein Lebenswerk.

57

die Seite geworfen, und der trauernde Jeremias verwandelt sich schnell in den Dictator, der von hoher Stufe der Kirche verkündet, was ge­ schehen soll, und mit mosaischem Antlitz daö Gericht androht allen denen,

die

widerstreben.

Nach den Klageliedern

der letzteu Jahre

würdest Du den Propheten gar nicht wieder erkennen, so zuversichtlich, so unverschämt ist die Sprache dieses neuesten, unerhörten Attentates auf die evangelische Kirche, wenn wir's nicht eben aus früheren Zeiten wüßten, daß er solche Sprache führt, so oft er der „maßgebenden Kreise" sicher zu sein glaubt.

Und zu diesen rechnet er sich gegen­

wärtig, er gibt es den Männern der Neuen evangelischen Kirchen­ zeitung, die ihm in den letzten Jahren die „maßgebenden Kreise" vor­ hielten, mit Hohn zurück, daß sie nunmehr nicht zu den maßgebenden Kreisen gehören; ja er hebt bereits einen Stein auf, der einem Führer dieses Kreises auf den Kopf fallen soll.

Du weißt ja, seine Gelüste

sind jmmer alttestamentlich, und Steinigung ist immer noch eine ge­ linde Strafe, wofür der Bedrohte sich freundlich bei ihm bedanken mag, während wir verdammten Ketzer durch seine Güte bereits mehrmals als Rotte Korah in den Abgrund gefahren und nachher, nachdem wir vermuthlich durch böse Zauberei wieder ans Tageslicht gekommen, etliche Äonen hindurch in dem Feuerpfuhl der Apokalypse gesotten und gebraten sind. Also Hengstenberg diktirt wieder und schreibt Recepte für das Kirchenregiment — ein sicheres Zeichen, daß der Herr wieder mit ihm ist.

Das vergeßt doch nicht, lieben Freunde."

So hoch wir aber auch Krause's schriftstellerische Potenz anschlagen, die wirksame Verwendung dieser geistigen Mittel hing am Ende doch ab von seiner keine Furcht und keine falsche Rücksichten kennenden und doch so maßvollen Entschiedenheit das Beste der Kirche zu suchen nicht nach klüglich geschmiedeten Plänen, sondern nach dem Gedanken Gottes d. h. mit dem Blick auf die Idee der Kirche, welche diese im Lauf der Zeiten immer völliger in sich verwirklichen soll. Die Ueberzeugung, welche er schon in seinem Sendschreiben an die evangelischen Geistlichen Preußens auösprach, hat er auch ferner behalten, sie ist der Stachel gewesen, der ihm keine Ruhe ließ, ihn immer zu neuen, unverdrossenen Anstrengungen trieb. Im Jahre 1859 zeichnet er zum Neujahrsgruß die „kirchliche Aufgabe in Preußen", er legt die Schäden, die Mißre­ gierung, die Bedürfnisse der Kirche zu Tage und spricht als sein Urtheil aus: „Die Kirche ist krank vom Scheitel bis zur Sohle; ihre Gene­ sung fordert eine ernste Kur und durchgreifende Mittel." des, leider nur zu

Ein warnen­

sehr sich bestätigendes Wort hat er von dieser

58

6. Sein Lebenswerk.

Ueberzeugung aus schon in seiner Beurtheilung der Leistungen der Generalshnode von 1846 niedergeschrieben: „Halbheiten und Zweideu­ tigkeiten, innerlich zwieträchtige Friedensschlüsse und politische Ein­ trachtsformeln können die Krankheit unsrer Kirche nicht heilen, sondern nur verschlimmern. Nur Prinzipien können helfen, sonst nichts. Ein starkes, gewaltiges Prinzip, das Prinzip der evangelischen, der christ­ lichen Kirche muß mit männlichem Wesen und mit besonnener Ent­ schiedenheit hereintreten in die Welt, mit aller Energie umgestalten, was ihm angehört, und ausscheiden, was seinem Wesen widerstreitet." In diesem Sinne, wahrlich nicht in eitler, kleinlicher Oppositions­ lust bekämpfte er in vollem Freimuth und unverblümt die Halbheiten des Kirchenregiments und hielt ihm seine Sünden trotz der beständigen Gefahr, in die Hände des Staatsanwalts zu gerathen, rückhaltlos vor. Dabei war er aber auf's Ernstlichste bedacht, den Weg des Gesetzes und der Ordnung nicht zu verlassen. Correct und mit nüchterner Berücksichtigung aller gegebenen Faktoren und aller berechtigten An­ sprüche handelte er und wollte er namentlich in kirchlichen Angelegen­ heiten gehandelt wissen. Es war das bei ihm keineswegs eine Maxime der Klugheit, um sich möglichst sicher zu stellen, sondern tief gegründeter sittlicher Lebensgrundsatz. So weist er 1865 die achtundfünfzig evan­ gelischen Geistlichen, welche den Drang in sich fühlten, Zeugniß abzu­ legen, „wider die Sünden des Abgeordnetenhauses" und es für Pflicht hielten „dies einfache und schlichte Zeugniß zu den Stufen des Thrones niederzulegen", daraufhin, daß sie nichts zu diesem Zeugniß berechtige. Minister und Kirchenbehörden, nicht aber die Geistlichen seien die be­ rufenen Räthe der Krone: „Die Berufung auf das Predigtamt ist also eine Umkehr der bestehenden Ordnung; Gott aber ist ein Gott der Ordnung, und die vorzugsweise seine Diener sein wollen, haben vor­ zugsweise die Wege der bestehenden Ordnung inne zu halten. Nicht wählerisch in den Mitteln zu sein, ist ihm verwerflich, auch wenn der Erfolg locken sollte. „Der sittliche Mann faßt allerdings auch die Erfolge seiner Thätigkeit ins Auge, aber nun und nimniermehr ist ihm der Erfolg das Erste, das Entscheidende, das Maßgebende; nun und nimmermehr macht er die sittliche Beschaffenheit seiner Thätigkeit von der Erreichbarkeit des Erfolges abhängig oder ändert gar sittliche Grundsätze zu Gunsten des Erfolgs. Den Erfolg obenan stellen, die Erreichung des Erfolgs als die erste Pflicht hinstellen, das ist im Grunde nichts anderes als der jesuitische Grundsatz: der Zweck heiligt die Mittel." Für den sittlichen Mann ist die sittliche Reinheit und

5.

59

Sein LebenSwerk.

Korrektheit seiner Handlungen das oberste und einzige Gesetz;

werden

seiner sittlichen Arbeit sichtbare Erfolge zu Theil, so freut er sich dessen, aber er arbeitet ebenso unverdrossen, wenn die äußeren Folgen seiner Thätigkeit in ferner Zukunft liegen. Ein Erfolg ist überdies jeder sittlichen Thätigkeit gewiß, daß sie nämlich in den Gemüthern, auf die sie gerichtet wird, unwiderstehliche Wirkung zurückläßt."

Daher sieht er

im agitatorischen und demonstratorischen Wesen eine epidemische Krank­ heit unsrer Zeit, die eine Abnahme der Schätzung von Intelligenz und Charakter beweist und schließlich in dem Mangel eines lebendigen Glaubens ihren Ursprung hat. „Man will in der Politik und auch im Kirchenwesen alles machen und schnell machen, und jeder will helfen machen, mag er berufen sein oder nicht.

Es soll alles gleich fertig da­

stehen, und wenn die vorhandenen Wirklichkeiten sich nicht gleich fügen und weichen, so ist man außer sich; und wenn man's nicht gleich selber zu Stande bringt, so verzweifelt man daran, daß cs je zu Stande kommen werde." Die Sucht nach schnellen Erfolgen verräth immer eine gewisse Unkräftigkeit der Ideen. Wenn man eine große Masse von Menschen verleitet, Beschlüsse zu fassen d. h. Urtheil abzugeben über Dinge, die sie nicht verstehen; und wenn man als Sachverstän­ diger .sich selbst herabwürdigt mit einer großen Masse Unberufener und Unkundiger Majoritätsbeschlüsse zu fassen: wird irgend jemand den Muth haben, das als ein sittliches Verfahren zu bezeichnen?

Und

wenn man nun gar solche zufällig zusammengelaufene Massen ihre im Unverstand gefaßten Beschlüsse im Namen des deutschen Volks oder im Namen der deutschen evangelischen Christenheit oder im Namen sonst welcher Gemeinschaft, die ihnen doch kein Mandat gegeben hat, ver­ kündigen läßt: ist das nicht ein verächtlicher Unfug, mit dem ein ernster sittlicher Mann nimmermehr etwas gemein haben darf? Wir verwerfen alles derartige Klub- und Demonstrationswesen, aber nicht bloß bei unsern Gegnern in der Form des deutschen Kirchentags, sondern gleicher­ maßen überall, auch wenn cs von befreundeter Seite auftreten sollte, was Gott in Gnaden verhüten wolle." Nicht den Weg des Jmponirenwollens durch Drohung und Massendemonstration, sondern den des sittlichen Kampfes um Anerkennung von sittlich berechtigten Fordernngen hielt Krause wie für den allein zulässigen so auch allein zum Ziel führenden. Eben darum sah er sich genöthigt das Schwert der Wahrheit so verwundend wirken zu lassen, weil er kein anderes Mittel kennen und gebrauchen wollte, also ganz angewiesen war auf die Ueberzeugungen durch die sittliche Macht der Wahrheit zu wirken.

5.

60

Sein Lebenswerk.

„Nur Principien können helfen, sonst nichts." Das war sein leitender Grundsatz im großen kirchlichen Kampfe; sie klar herauszu­ stellen war daher ein wesentlicher Theil seiner Lebensarbeit. hat darin eine seltene Meisterschaft besessen.

Und er

Ucberall ging er auf die

Prinzipien zurück, wo es galt, verwickelte Fragen zu lösen; trefflich wußte er das Prinzip in seinen Consequenzen zu verfolgen und daran die Zustände zu messen, wo eö galt zu handeln und zu bessern. Die Principien selbst klar und gemeinverständlich zu entwickeln, und die leitenden Gedanken auf einen präcisen Ausdruck zu bringen, das vermochte er vermöge seiner eminenten Geistesarbeit in dieser Richtung je länger je mehr. Und sowohl in dem, was er schrieb, als in seiner Unterhaltung gelang es ihm in seltenem Maaße, den Nagel auf den Kopf zu treffen. Gehen wir sofort ein auf die wesentlichsten Seiten seiner öffent­ lichen Thätigkeit, welche nach seiner ganzen Lebensführung und Berussstellung keine andere als eine kämpfende sein konnte, was jedoch in keiner Weise zusammenfällt mit bloßem Negircn, wie die Vertreter der schlechten Wirklichkeit so gerne wähnen, sich die positive Christlich­ keit reservirend.

Krause war überall von einer sehr positiven d. h.

Realitäten in sich tragenden Ueberzeugung beseelt; ihr gab er positiv und negativ Ausdruck, ihrem Dienste galt all sein Kämpfen. Und an ihm, der mit nicht geringem organisatorischem Talent ausgerüstet war, wie er's in freien Vereinen bewährte, lag wahrlich die Schuld nicht, daß sein Lebenswerk im Kampfe fast aufging, den er allerdings als etwas Nothwendiges betrachtete und nicht beklagte, sondern in der vollen Freudigkeit eines von Gott zum Kampf Berufenen führte. Krause hat seinen Kampf, wie es seine Stellung ergab, vorzugs­ weise gegen die der Vergangenheit zugewandten Mächte geführt; aber er hat sein ernstes Bestreben zu erhalten und zu bauen, wo sich Anlaß bot, nach der Seite derer hin bewiesen, welche mit der Ge­ schichte gebrochen haben. Als im Jahr 1853 die „Volkszeitung" die freien Gemeinden als den Grundstamm einer künftigen Neu­ gestaltung der Religiosität rühmte, und meinte, die Religiosität habe ihre Zukunft nur noch im freien Gemeindethum, und sich wunderte, daß die Unionsfreunde immer noch zögern, die Fahne des freien Gemeindethums auszupflanzen und sich immer noch mit Protesten begnügen wollen, während doch mit Protesten der Weltge­ schichte nicht gedient sei, da erklärt er im Namen der Unionsfreunde, daß sie grundsätzlich Gegner des Freigemeindethums seien. Erstens sei

5.

61

Sein Lebenswerk.

nicht die freie Gemeinde die angemessene Form des religiösen Lebens; dieses als das universalste Element für die Menschheit könne nur in einer weit- und allumfassenden Kirche seine Befriedigung finden, nicht in den engen Grenzen einer isolirten Gemeinde. „Wir wollen daher eine, friedlich aus der Gemeinde herauf frei und weit sich organisirende, aber mindestens das ganze deutsche Land umfasseude evangelische Kirche." Zweitens sei ihnen der geschichtliche Jesus Christus Grund und Maß ihres religiösen Lebens, aus dem heraus und nach dem sich die evangelische Kirche zu gestalten habe.

„Innerhalb dieses gemein­

samen Princips volle Freiheit der Bewegung und Gemeinschaft, so weit dies Princip reicht; was aber in diesem nicht gewurzelt ist, das ver­ mögen wir wohl in seinem geschichtlichen und sittlichen Rechte anzu­ erkennen, dem vermögen wir wohl alle bürgerliche und politische Ge­ rechtigkeit zuzuerkennen, aber kirchliche Gemeinschaft kann mit dem­ selben die evangelische Kirche nicht halten, das wäre weder sittlich noch auch möglich. Wir sind uns bestimmt bewußt, eine evangelisch­ christliche Kirche zu wollen."

Drittens sehen die Unionsfreunde in

der geschichtlichen Ordnung eine göttliche.

„Demnach halten wir dafür,

daß ein jeder in dem religiösen Gemeinwesen, in welchem er geschicht­ lich hergekommen ist, zu verbleiben habe, und wenn er dasselbe man­ gelhaft findet, von innen heraus zu reformiren suchen müsse, so lange ihm innerhalb desselben eine gewissenhafte Wirksamkeit möglich ist; und daß die sitlliche Berechtigung des Austritts erst da gegeben sei, wo er durch GewissenSnoth hinaus gedrängt wird d. h. wo die Kirche durch ihre Construktion ihm eine gewissenhafte Darstellung seines religiösen Lebens unmöglich macht." Nicht weniger entschieden, als Krause die Rohheit der religiösen Vorstellungen eines Vilmar und des „Volksblattes für Stadt und Land" als der Religion verderblich be­ kämpft, wendet er sich auch gegen „Uhlich's Religion", als derselbe in die materialistische Strömung gerathen war und seinen Andächtigen die Wunder der Verwandlungen, wie man sie bei Moleschott und Büchner nachlesen kann, als „das Leben alles Lebens" vorhielt. Fürwahr, sagt Krause (1860), es läßt sich nichts dagegen sagen, wenn Uhlich es für angemessen hält, seinen Magdeburger Rübenbauern in gemeinfaßlicher Rede etwas von der Natur zu erzählen. Aber diese seine hausbacke­ nen Auseinandersetzungen für Religion

auszugeben, das

erscheint

uris als die tiefste Erniedrigung, welche der Religion angethan werden kann.

Dagegen

waren die alten

Stallslltterung und Pockenimpfung

Predigten über

Bienenzucht und

goldene Weisheit;

denn sie bean-

62

5.

Sein Lebenswerk.

spruchten nicht, mehr zu sein, als was sie eben waren, Mittheilung von praktischen Kenntnissen, sie beanspruchten nicht, Religion vorzutragen. Hier dagegen werden die alleräußerlichsten Erscheinungen und die ma­ teriellsten Existenzen und Spitzen des wirklichen Lebens geradezu ohne alle Vermittlung in die Gottheit verlegt, und es bedürfte nur noch, um das Maß der Erniedrigung voll zu machen, daß dem Bauer seine Rüben als die Kräfte des Himmels, sein Stier als der lebendige Gott und sein Stall mit seinem „Erträgnisse" als der Tempel des lebendi­ gen Gottes vorgestellt würde. Ja, das ist eine sehr praktische Religion, der es an Anhängern nicht fehlen kann: leider aber ist es die Religion, bei der eben alle Religion aufhört, der gemeine Materialismus, der weder Gott noch auch

Verkündiger Gottes bedarf, sondern an dem

Stall mit seinem Erträgniß, an dem Weinstock und der Seidenraupe sein volles Genüge hat und sich höchstens noch als angenehme Zugabe das „ Gewürm" gefallen läßt, das sich in der Brust der Nachtigall in so herrlichen Gesang verwandelt." „Alle Achtung vor Pantheismus und Jdentitätsphilosophie, aber vor dem Materialismus habe ich nimmer­ mehr Respekt, und ich würde es stets bedauern, wenn dein Ton meiner Rede nicht die sittliche Empörung anzumerken wäre, wo ich das Heilig­ thum der Religion durch höhnende materialistische Auslassungen in den Staub herabgezogen finde." Die eigentliche Lebensarbeit Krause's ging auf die Organisation der protestantischen Kirche; für sie war er geboren, für sie hat er unermüdlich und mit jenem Pathos gekämpft, das ein sicheres Siegel für den innern Beruf ist. Er hat dabei den idealen Sinn bewahrt und den Glauben an die Kraft des von Gott Gewollten, der leider unsern Kirchenregimentern so gründlich abhanden gekommen ist

und

dessen Mangel er oft genug derb gezüchtigt hat; aber er hat sich auch niemals in bodenlose Träume verloren, das Ferne über dem Nahen vergessend und versäumend. Das Ziel, auch das ferne, hielt er sich zwar immer gegenwärtig, aber die praktische Aufgabe ließ er sich von der Lage der Dinge und von dem Bedürfnisse der Gegenwart stellen. Hat doch der Unionsverein, dem er mit ganzer Seele angehörte, ja zu dessen Gründern er sich rechnen durfte, es immer ausgesprochen und bethätigt, daß es ihm um nichts anderes zu thun sei als um Auf­ rechthaltung und gesunde Weiterbildung des kirchlichen Rechtsbestandes. Eben um dieser Nüchternheit willen sind die Ideen, mit denen er arbeitete, keineswegs sein apartes Eigenthum, es leben in ihm dieselben Gedanken, er verfolgt genau dieselben Ziele und arbeitet ganz mit

5.

Sein Lebenswerk.

63

denselben Mitteln wie die Partei der Unionsfreunde, der er an­ gehörte, überhaupt. Und ich rechne das mit zu den charakteristischen Zügen des Mannes, daß er bei aller geistigen Selbständigkeit so wenig eine Sonderstellung einnahm als auf Parteiherrschaft Anspruch erhob. Er wußte bei freiestem Meinungsaustausch doch nur von einmüthigem Zusammenwirken als etwas Selbstverständlichem. In der Art aber, wie er seinen Antheil an der gemeinsamen Arbeit leistete, zeigt er die ganze Frische und Eigenthümlichkeit seines Geistes. Union ist das Losungswort des Kampfes, den Krause mit seinen Freunden gemeinsam 25 Jahre lang geführt hat. Da aber nicht die Unionsfreunde allein dies Losungswort führten und führen, sondern sie eö theilen müssen mit halben Unionisten, ja mit vermeintlich ihr zu­ gethanen Confessionalisten," so ist es so vieldeutig geworden und sein Verständniß in Folge der Parteikämpfe so getrübt, daß es wohl nöthig ist die Bestrebungen, welchen der Name Union eigentlich gebührt, klar und bestimmt herauszustellen.

Die Gegner derselben, welche für sich

die „ positive" und die „ kirchenregimentliche" Union in Anspruch nehmen, haben für sie den Namen der „absorptiven Union" erfunden, ohne Zweifel in der Hoffnung sie mittelst dieser geistreichen Erfindung eines diplomatischen Pfaffenthums in Mißkredit zu bringen und so auf dem Wege der Verleumdung aus der Welt zu schassen. Die Bezeichnung trifft aber nicht zu. Eher würde sie bei der „positiven" Union zu­ treffen, da diese hinlänglich bewiesen hat, daß sie es scheut, die Praktik schen Consequenzen zu ziehen, die im einmal begonnenen Unionswerk liegen, und dadurch das Unionswerk selbst den Angriffen seiner erklärten Feinde und einem langsamen Tode überliefert hat. Nur einer unge­ sundes und ränkevollen Restaurationssucht abgeneigt und ungehemm­ ter kirchlicher Entwicklung zugewandt ist die echte Union, und darum muß sie sich die auflösende nennen. Das Werk, welches Friedrich Wilhelm III. 1817 unternahm, ist Krause'n und den Unionsfreunden immer als etwas erschienen, worauf die Geschichte der evangelischen Kirche und die der preußischen insbe­ sondere hindrängte, als ein in der Reformation selbst liegender Gedanke, daher als Fortführung des Reformationswerkes. mehr Recht, als das Verlangen nach Aufhebung

Dazu war um so der Scheidewand

zwischen der lutherischen und der reformirten Kirche sichtlich einer re­ ligiösen Erhebung der Gemüther entsprang, welche ihre Echtheit dadurch bewährte, daß sie das gemeinsam Christliche betonte und sich an dem Wesentlichen des Christenthums genügen lassen wollte. Es wäre aber

64

5.

Sein Lebenswerk.

diese Gestaltung des religiösen Verlangens gar nicht möglich gewesen, wenn die confessionellen Gegensätze nicht schon längst abgestumpft und aus dem Bewußtsein der Gemeinde nicht nur, sondern, bis auf einen kleinen Rest, auch der Theologen verschwunden gewesen wären. Cs gab damals unter Protestanten kaum einen Confessionalismus, man konnte ihn auf den Aussterbeetat setzen. Freilich der Weg, auf welchem die gute Absicht gefördert werden sollte, war nicht der richtige. Aus einem Werk, das auf freiwillige Theilnahme rechnete, wurde bald ein solches, das mit Geboten, Zwang und Strafen durchgreifen wollte; und als der Widerstand wuchs, da erlahmte die ursprüngliche Energie der Ausfüh­ rung und man verbarg die Rathlosigkeit und Ohnmacht hinter widerspre­ chende Cabinetsbefehle. Mit dieser trostlosen Seite des Unionswerkes hatten die Unionsfreunde nichts zu schaffen. Sie wollten die Union nicht als eine staatspolizeilich geförderte haben, sondern als ein freies Gewächs, das auS dem evangelischen Volk herauswachsen solle, wie denn dieses dazu reif sei. Sie wußten es sehr wohl, daß „in der evangelischen unirten Landeskirche für die Stellung der Kirche und der Gemeinde zur Lehre und zum Bekenntniß der angemessene rechtsgültige Ausdruck noch nicht gefunden sei" (Prot. K. Z. 1856, Sp. 249), aber der Sinn stand von Anfang an fest und ihn eben vertreten die echten Unionsfreunde: „auf dem einigen und selbigen Grunde des evangelischen Glaubens, Freiheit der Entwicklung für die Mannigfaltigkeit eigen­ thümlicher Ueberzeugungen, welche die verschiedenen natürlichen und geschichtlichen Bedingungen hervorbringen." Also nicht als eine lebens­ unfähige, zusammengeschrumpfte bureaukratische Einrichtung, nicht als ein Produkt von Cabinetöbefehlen, sondern als die naturgemäße Ent­ wicklung des kirchlichen Protestantismus im 19. Jahrhundert ist Krause'n und seinen Kampfgenossen die Union das Palladium gewesen, für dessen Vertheidigung sie alles dransetzten. Dieser Auffassung des Unionswerkes trat gegenüber die sog. Con­ sensusunion, vorzüglich vertreten unter Theologen. Es ist die Halb­ orthodoxie, welche sich überredete in dem, was die Bekenntnisse beider Sei­ ten Gemeinsames haben, wie in einer leicht zu ziehenden Summe das Wesentliche des höchsten Bekenntnisses zu haben, also den Rest, bestehend aus Differenzpunkten, ohne Schaden schwinden lassen zu können. Und natürlich fanden die Vertreter dieser dem Leben so ganz entfremdeten Theorie, daß schon Friedrich Wilhelm III. von einem Consensus geredet habe. Sie haben keine Ahnung" davon, daß Lehre und Bekenntniß in der Union nicht mehr Grundlage in der Kirche sein können, wie sie es in der Consessionskirche

5. Sein Lebenswerk.

65

sind," daß Lehre und Bekenntniß Früchte sind, Ausdrücke, Zeugnisse von dem jedesmaligen Leben der Kirche, und daß

Grundlage

der

Kirche nur der lebendige persönliche Glaube ist. Ueber den Consensus in seiner unfaßbaren Zwitterstellung zwischen den ernstlichen Unionöbekennern und dem Confessionalismns sagt Krause:

„was soll denn

aber der Consensus? Ist er denn etwas anderes als eine scholastische Formel des 17. Jahrhunderts? nur leider von neueren Theologen her­ vorzubringen versucht, die nach ihren Principien zu besserer Arbeit berufen wären.

Ist denn der Consensus etwas anderes als eine Be­

kenntnißform cl? nur leider eine solche, der eS an allem Guten fehlt, was die alten Bekenntnißformeln auszeichnet, an der Nothwendigkeit und Berechtigung, an

geschichtlichen

dem herkömmlichen rechtlichen

Ansehn, vor allem an der Frische und Wahrheit der Ueberzeugung, — denn nimmermehr kann eine solche künstlich gesuchte mittlere Diagonale zwischen zwei Ueberzeugungen die Frucht oder der Gegenstand einer lebenskräftigen, wahrhaftigen Ueberzeugung seht, sondern sie ist immer nur so ein politisches Gemächte, wie all die Eintrachtsformeln der byzantinischen Kaiser waren.

Für eine Cabinetsregierung mußte diese

Richtung sehr bequem sein, sie durfte seit Jahrzehnden das Steuer der Kirche führen und Proben der Dehnbarkeit ihrer Grundsätze ablegen." AIS Freund der Union geberdet sich auch der Confessionalismus. Er ist bekanntlich theilweife ausgeschieden, als die Cabinetsweisheit agendarische Uniformität erzwingen wollte. Was zurückblieb, das sammelte im Stillen seine Kräfte und constituirte sich im Jahre 1848 als luthe­ rische Partei mit der ausgesprochenen Tendenz, die Union auf ihr richtiges Maß zurückzuführen, oder „der lutherischen Kirche zu ihrem vollen Recht zu verhelfen", — natürlich ohne die Union zu beschädigen! WaS mochte da von Union übrig bleiben? fast nichts als ein trüge­ risches Spiel mit dem Namen. So beantragt Hengstenberg 1867: 1) lutherisches Kirchenregiment in der Hand von echtlutherischen Män­ nern, 2) Verpflichtung der Behörde auf das Bekenntniß der lutherischen Kirche, 3) man muß auch den Namen „lutherische Kirche" gewähren, 4) es muß von der gesetzlichen Forderung der Abendmahlsgemeinschaft abgestanden werden. Den interconfessionellen Frieden hat allein die Union gestört. Trotzdem soll der Union kein Leid geschehen; sie soll ganz nach ihrem geschichtlichen Recht aufrecht erhalten werden, nämlich — im unirten König! Also gründliche Austreibung der Union aus der Kirche mit alleiniger Ausnahme der obersten Spitze: das ist die Art, wie der Confessionalismus die Union anerkennt und aufrecht Spaeth.

Protestantische Pfltt^eine.

5

66

5

Sein Lebenswerk.

erhalten will, und die Ausnahme ist doch nur gemacht, weil bei einer Trennung das preußische Königshaus nicht der lutherischen, son­ dern der refotmirten Kirche gehören würde, und weil vorläufig keine Hoffnung ist, daß-cs die Uuionsgcvanken fahren lassen und seine ganze Vergangenheit verleugnen werde. Dieses verlogene Wese», daö immer ungeteilter seine Forderungen stellte, hat Krause 25 Jahre lang mit allen Waffen seines Geistes bekämpft, er hat es noch im Jahr vor seinem Tode in dem trefflichen Artikel „die Zukunft der Kirche nach dem großen Propheten" gethan. Er hält dem Propheten Hcngstenberg die ganze Absurdität dieses Planes vor: zwei confessionell bis in's Kirchenregiment geschiedene Kirchen und an der Spitze deö doppelten Kirchenrcgiments ein unirtcr König. Er deckt auch den unchristlichen und unsittlichen Beweggrund, der zu solchem Wahnwitz treibt, auf: „die gläubigen Lutheraner wünschen durchaus nicht auf die Vortheile der weltlichen Macht zu verzichten", und aus diesem Grunde will man, daß ich's kurz sage, lediglich und ausschließlich um der Person deö Königs willen einen Schatten und Schein von Union bestehen lassen. Diese Partei, der es weit mehr um die gesetzliche Gebundenheit der Kirche durch das Bekenntniß, also um katholisirende Formirung des Kirchenwcsens und Niederhaltung des freien protestantischen Geistes, als um den Inhalt deö Bekenntnisses zu thun ist, und die man am besten als die kirchlich-legitimistische bezeichnen würde, hat ihre Vertreter nicht bloß im geistlichen Stande, sondern vorzüglich auch in der höhe­ ren und niederen, der Wiederherstellung mittelalterlicher Zustände zu­ geneigten Aristokratie. Und das grundverderbliche Patronat, in dessen Händen die Besetzung so vieler geistlicher Stellen liegt, ist vorzugs­ weise der Grund, daß eine so üppige Saat bekenntnißeifrigen und autoritätssüchtigcn, wahrhaft evangelischer Sittlichkeit baaren und wahr­ haft protestantisches Wesen höhnenden Pfaffenthums in den letzten Jahrzehnden aufgeschossen ist. Kein Wunder, daß sich diese dem katholischen Ultramontanismus völlig parallele und aufs nächste ver­ wandte Erscheinung vielfach in den Dienst der politischen Reaktion gestellt hat, da sie ihr vorzüglich ihren Ursprung und treueste Pflege verdankt. Das Lutherthum hat aber nicht bloß eine schädliche politische Rolle gespielt, sondern es hat auch die Kirche verwüstet und in den schlimmsten Mißkredit gebracht; eS ist ihm gelungen, im Volk den kirchlichen Sinn in Abneigung und Verachtung gegen die Kirche zu verwandeln und es glauben zu machen, daß von der Kirche nichts

5. S'ciit LebenSwerk

67

Gutes, sondern immer nur zäher Widerstand gegen seine berechtigten Interessen zu erwarte» sei. An dem christlichen Volke lag freilich den Kämpfern für das Lutherthuin wenig; sie sahen ja in ihm nur eine unchristliche Masse; um so mehr lag ihnen am Kirchenrcgiincnt, welches zu luthcranisircn ihnen sehr angelegen war. In Preußen war eS vorzüglich eine Persönlichkeit, welche cs verstand, diesen lutheranisirenden Einfluß immer intensiver geltend zu machen und das Zerstörungswerk gegen die Union von dem Kirchcnregiment selbst betreiben zu lassen. ES war dies der vielgcwandte Stahl, dem es gelang, dem zur Pflege der Union eingesetzten Kirchcnregiment begreiflich zu machen, daß die richtige Union eigentlich die Conföderation sei, das Nebeneinanderbestehen einer lutherischen, einer reformirten und einer unirten Kirchenabtheilung, deren jede sich auf Grund ihres Bekenntnisses einrichte nach Lehre, Kultus und Kirchenregierung. Vom Jahre 1849 an fand denn auch die Rückbildung der Union in eine Conföderation seitens des Kirchen­ regiments theils Gewährung theils Förderung. Und als bei dem hitzigen Vorgehen der lutherischen Partei eine Gegenbewegung eintrat, und die Cabinetsordre vom 17. Juli 1853 den Kirchenbehörden aufgab, darüber zu wachen, daß nicht durch confessionelle Sonderbcstrebungeu die Ordnung der Kirche untergraben werde und die Gemeinden gegen die Willkür lutheranisirender Geistlicher schützte, da änderte man nur die Sprache, aber nicht das Thun und die Provinzialconsistorien handelten genau, als ob diese Cabinetsordre gar nicht existirte, wobei sie sich auf die Cabinetsordre vom 6. März 1852 berufen konnten, welche dem confessionellen Fanatismus ein Triumphgeschrei entlockt hatte. Und im Jahre 1857 war der Oberkirchenrath dahin gekommen, daß er in einem „Erlaß über liturgische Parallelformulare" die Gemeinden der Willkür ihrer lutheranisirenden Geistlichen schutzlos überantwortete; denn diese sollen die Liturgie, wo sie ein „Bedürfniß" der Gemeinde ent­ decken, „unter Genehmigung der Kirchenbehörde, auf den lutherischen Fuß setzen dürfen. Ja so weit ging die lutheranisirende Liberalität des Oberkirchenraths, daß er sogar für die Teufelsanstreibung bei der Taufe, wenn sich irgendwo Wünsche darnach zeigen sollten, zum Voraus die Concession gibt. Es war eine bittere Arbeit, die Krause auf sich nahm, wenn er diese Intriguen gegen die Union an das Tageslicht zog und bekämpfte. Er hat das Lutherthum auch direkt bekämpft, na­ mentlich in der Person des Sup. Otto von Naugard, den er seine Ueberlegenheit in der Polemik im vollen Maße fühlen ließ. Im Wesen der Union, wenn sie richtig verstanden wird, liegt nicht 5*

68

5.

Sein Lebenswer.

nur im Gegensatz zu dem geisttödtendeu Bann des Confessionalismus Freiheit der

Lehrentfaltung auf dem Einen Grunde, der gelegt ist,

sondern auch der Drang, die kirchliche Verfassung dem Wesen der Kirche und des evangelischen Christenthums entsprechend zu gestalten; denn nicht eine Sekte, sondern die Kirche in ihrer ächten, freien Katholicität will die Union aufrichten; sic hat es also wesentlich mit der Organi­ sationsfrage zu thun.

Diese war schon vor dem Revolutionsjahre zur

Verhandlung gekommen, und daß eine prcsbhteriale und synodale Ver­ tretung geschaffen werden müßte, wurde immer mehr die allgemeine Stimmung.

Man wollte aber dabei das consistoriale Element d. h.

das Staatskirchenthum beibehalten wissen. Da brausten die Stürme von 1848 daher. Wie der Staat, so sollte auch die Kirche sich neu verfassen, und fast alle Parteien waren einig in der Anschauung, daß nun auch das Verhältniß der Kirche zum Staat sich ändern müßte, daß namentlich das Landesepiskopat nicht fortbestehen könnte. Trennung von Kirche und Staat wurde das Losungswort und selbst die Eonfessionalisten eilten schon, das Kirchenwesen auf eigene Hand einzurichten, als wäre die rechtliche Lösung vom Staate bereits vollzogen.

Das

Ministerium Schwerin traf die Einleitung zur Wahl einer Generalsynode, welche über die Kirchenverfassung berathen sollte, jedoch n'cht zusammentrat. Schon mit dem Nachfolger Schwerin's trat nicht nur Stockung, sondern eine förmliche Gegenbewegung ein, welche durch das ganze Jahrzehnd der Reaktion angehalten und bis heute jeden ernst­ lichen Entschluß Hand an daS Werk einer neuen Kirchenorganisation zu legen verhindert hat. In den leitenden Kreisen wandte man sich wie von der politischen so von der kirchlichen Bewegung mit äußerster Ungunst ab und das Gutachten der theologischen Fakultät der Univer­ sität Berlin vom 20. März 1849 mußte für dieses Widerstreben die Rechtfertigungsgründe liefern und das Programm zeichnen, welches in Preußen bis zu Mühler's Sturz eingehalten worden ist. „Sobald man die Generalshnode als die wirkliche Repräsentation der Kirche anerkennt, so verliert man die Berechtigung, ihr Schranken zu setzen." Daher keine Synode; denn die Kirche besitzt schon eine Verfassung und hat nicht erst aus sich selbst eine Verfassung zu erzeugen.

In der Erhal­

tung des bestehenden Organismus der Kirche „erblicken wir den schützen­ den Damm gegen die wilden Massen der Revolution." Die Erhebung der geistlichen Abtheilung des Cultusministeriums zur Würde einer selbständigen kirchlichen Oberbehörde ist zu billigen als nnbedingt ge­ boten durch die in der Verfassung proklamirte Trennung der Kirche

5.

«Sein LebenSwcrk.

69

vom Staat, nur ist auch zu wünschen, daß die Behörde einen kirchlichen Namen erhalte, daß die Betheiligung der Staatsbehörde bei Besetzung der Stellen in derselben wegfalle, daß überhaupt die kirchlichen Ange­ legenheiten, welche noch von Staatsbehörden verwaltet werden, an die kirchlichen Behörden übergehen. Das bisherige Verhältniß des Landes­ herrn zur Kirche müßte erhalten werden (nach dem Votum der Mino­ rität,

dem die Majorität rathlos gegenüberstand).

Der König

im

Zusammenhang mit der rein kirchlich herzustellenden Oberbehörde als Trägerin des kirchlichen Princips sei eine schützende Macht gegen die befürchteten Einflüsse.

Es werde aber auch aus den Gemeinden heraus

eine schützende Macht gebildet werden müssen, welche mit den Geist­ lichen vereint sich allen Versuchen entgegenstellt, der Kirche ihre höheren und niederen Güter zu rauben, Spaltungen in sie einzuführen, die Schule zu verweltlichen.

Es sind trübe Rathschläge gewesen und eine

Saat gräulicher Verwirrung, vermöge deren wir heute noch ziemlich grade so stehen, wie vor 24 Jahren. Krause hat damals (Mai 1849) die Blößen dieses Gutachtens voll Angstschweiß in seiner klaren Weise aufgedeckt und zugleich die innerste Wurzel derselben.

„Das

ist so

betrübend, daß jene Männer solche Ansicht von unserer Weltlage haben und so gar kein Verständniß für die Bewegung der Zeit beweisen. Eine theologische Facultät von solchen Männern sollte wol im Stande sein, in der Zeit etwas mehr als bloße Verneinung und Zerstörung wahrzunehmen, nämlich das Herannahen lange unterdrückter positiver großer Gedanken, an welche die verneinenden Geister klug sich an­ schließen.

Die sollte wol billig die demokratischen Bestrebungen nicht

für pures Teufelswerk halten, sondern trotz scheußlicher Entartungen als Kern der sich geltend machenden Rechte der Persönlichkeit erkennen; die sollte wol wissen, daß die herrschende Unkirchlichkeit nicht lediglich Unfrömmigkeit ist, sondern vielfach nur die Flucht mißhandelter oder vernachlässigter Frömmigkeit in das Gebiet der Innerlichkeit, was zum großen Theil der elenden Verfassung oder Verfassungslosigkeit auf die Rechnung zu setzen. Ich überschätze wahrlich nicht bett- Umfang der Kirchlichkeit und des vorhandenen Glaubens. Aber es sind dieselben eben nur gewaltsam zurückgedrängt; Volkes trotz

es fehlt in

der

aller Mißhandlung und Vernachlässigung

Mehrzahl immer

des noch

nicht ein tiefer sittlich-religiöser Ernst, der nur der Belebung bedarf, um bald zu positivem Glauben zu erwachsen, den man aber durch alle „innere Mission" nicht in's Leben bringen wird, wenn man nicht die Christen und Christengemeinden als thätige Glieder in einen wirklich

5. Sein Lebenswerk.

70

lebendigen Organismus einfügt." Der Bekämpfung dieses reaktionären Programms, mit welchem der Oberkirchenrath 1850 seine „provisorische" Thätigkeit antrat, galt ein großer Theil von Krause's literarischer Arbeit.

Es galt, armselige Sophismen aufzudecken, an unerfüllte Ver­

sprechungen zu mahnen, die ganze Verkehrtheit und Rechtlosigkeit des kirchenregimentlichen Treibens darzulegen. Denn man hatte die Stirn zu behaupten, daß es einer Ausführung des Artikels 15 (früher 12)

der

Staatsverfassung, welcher

die

Unabhängigkeit

der

Kirche

vom Staat verbürgt, gar nicht bedürfe, da das Cultusministerium keine Verantwortung mehr trage für kirchenregimentliche Akte, was gradezu hieß, die Kirche dem reinsten Absolutismus überantworten. Und die Gemeindcordnung von 1850 war so günstig für das Hicrarchenthum eingerichtet, daß sie nicht bloß dem Widerspruch, sondern dem öffentlichen Spott verfiel. Seit dieser Zeit stand das Werk der Or­ ganisation bis in die letzten Jahre still; denn man wollte furchtsam „von unten auf bauen" und scheute den einzig richtigen Weg, der Kirche selbst in einer Generalshnode die Möglichkeit zu geben, sich zu äußern und zu verfassen. Es mag am Platz sein, heute in das Gedächtniß zu rufen, wie Krause mit seinen Genossen über die Trennung der Kirche vom Staat sich äußerte, da man heute sich so häufig den Blick durch Furcht vor dem Ultramontaniömuö trüben läßt und daher die Kirche lieber dem Staat möglichst unterstellen möchte. Als ob eö nicht immer vergeblich wäre mit Polizeimaßregclu eine geistige Macht zu bekämpfen, und nicht der viel einfachere Weg offen stände, mit der Religionsfrei­ heit gründlichen Ernst auch gegenüber der protestantischen Kirche zu machen, und dem Staat ohne Beschränkung zuzutheilen, was des Staates ist. Die Selbständigkeit der Kirche, wie sie Artikel 15 ge­ währleistet, sagt die Petition an den Prinz-Regenten vom 5. Mai 1859, ist ein gesundes Ergebniß der geschichtlichen Entwicklung, ein Ergebniß, das aus den Uranschauungcn des Christenthums sätzen der Reformation hervorgcwachsen ist. Princip in der Ordnung ist, daß der moderne mation den Grenzüberschrcitungcn der römischen

und aus den Grund­ Wie es nach diesem Staat seit der Refor­ Kirche Einhalt gethan

und ihre Uebergriffe in sein Gebiet beharrlich zurückgewiesen hat: so ist es auf der andern Seite ein Akt der Gerechtigkeit, daß derselbe Staat gegenüber der evangelischen Kirche, die in seine Gewalt gerathen, sich nunmehr selbst beschränken und ihr dasjenige Gebiet zurückgeben will, das ihr nach unveräußerlichem göttlichem Recht gebührt und zu ihrer gesunden Entwicklung unentbehrlich ist. Für diese herrliche Frucht

5-

Sein Lebenswerk-

71

der weltgeschichtlichen Gerechtigkeit ist der fünfzehnte Artikel unsrer Staatsverfassung der zutreffende staatsrechtliche Ausdruck." Das ist die gesunde Anschauung, welche in die Praxis umzusetzen ist. Wenn der Artikel bisher gegenüber der evangelischen Kirche eben nur auf dem Papiere stand, und gegen die katholische in einer Weise gehandhabt wurde, welche sich

mit der Selbsterhaltung

des

Staates ja,

wie man nicht verträgt, den ungemessenen römischen Ansprüchen mit „ un­ verantwortlicher" Nachgiebigkeit begegnete, so hat nicht der Artikel und der darin ausgesprochene Nechtsgrundsatz etwas verbrochen, sondern die welche ihn so schlecht verstanden und so ungleich und staatswidrig in Ausübung brachten. Mit tem Hierarchiswus, auch dem in der pro­ testantischen Kirche, würde der Staat am besten fertig, wennn er mit dem naturgemäßen Grundsatz der Trennung von Kirche und Staat und eben damit mit der Religionsfreiheit vollen Ernst macht, aber auch der Kirche schlechterdings nichts religiösem Gemeinwesen gebührt.

einräumt, was ihr nicht als

Krause hat ein Wächtcramt in kirchlichen Dingen verwaltet, wie es nur selten jemanden gegeben ist. Er ist ein rechter Gewissenswecker gewesen. Und sein scharfer Blick verfolgte alle Bewegungen auf kirch­ lichem Gebiete, um sic darauf anznsehen, ob sie gesund seien oder woran cs ihnen gebreche. Auch die innere Mission, wie sie gerade in jenen Jahren hervor­ trat, dem Kirchentag sich anschloß und unter Begünstigung Stahl's in einem nicht daß für eine zweifelte, gebe."

Centralausschuß sich organisirte, machte ihm ernste Bedenken, er die dahier einschlagenden Thätigkeiten für überflüssig oder Beleidigung der christlichen Kirche gehalten hätte: aber er „ob daS Unternehmen sich die richtige Stellung zur Kirche

„Die freien Vereine sind allemal die berechtigte Ergänzung

und Berichtigung des kirchlichen Lebens und der kirchlichen Ordnung. Darum haben wir auch niemals an der Berechtigung der Wichern'schen Anstalt und ähnlicher Anstalten gezweifelt, so wenig als au dem Da­ seinsrecht der Bibel-, Missions- und Gustav-Adolf-Vereine. Im Ge­ gentheil wir haben es uns oft gesagt, daß wir dem Wichern in seinem Glaubensmuthe und seiner rettenden Liebe einen Preis zuerkennen, wie er wenigen seiner Zeitgenossen zufallen dürfte."

Aber „die Kirche ist

in diesen Tagen (1849) ermächtigt und berufen, sich so einheitlich und so mannigfaltig, so fest und so frei zu organisiren, daß alle die ver­ schiedenen christgläubigen Persönlichkeiten und Gaben und Aemter und Anstalten und Zwecke natürliche und wohlgefügte Glieder des ganzen

?2

5.

Organismus werden mögen.

Sein LebenSwcrk. Darum haben wir jetzt, wo die Kirche

berufen und genöthigt ist sich umzubauen, alle mit allen Kräften dahin zu wirken, daß der Neubau in solchem Sinne ausfalle.

Erst wenn

dieser Neubau schlecht gerathen sollte, sind die freien Ergänzungen die Tagesordnung.

Fiele er so ungläubig und unkirchlich aus, daß

christliche Gewissen darin nicht aushalten könnten: nun dann hätte eben die wirkliche Kirche aus jener Unkirche herauszugehen und sich außer­ halb derselben auf die bezeichnete Weise zu organisiren.

Krause fürch­

tete also, daß die Organisation der innern Mission ein Kräfteverlust für die Organisation der Kirche sei. Und er hat wohl mehr damit Recht gehabt, als er damals ahnte. Denn grade die „innere Mission" leitete die Gedanken von dem Bedürfniß einer Regeneration des Kir­ chenwesens ab, und den Schaden des Gemeinwesens vergessend wollte man eilen dem für unchristlich und verloren geachteten Volk Rettung zu bringen. Ueber den

„Kirchenbund zu Wittenberg" schreibt er

im

Qctober 1848, nachdem er selbst mit Pischon ihm beigewohnt, an Eltester: „Du scheinst mir so wenig wie ich das Heil der Kirche von den gelehrten und hochgestellten Männern zu erwarten. Du legst wohl kein unbedingtes Veto ein, wenn ich behaupte, die Gelehrsamkeit und Hochwürdigkeit seien nicht die geringsten Hindernisse für die Kirchenverbesserung in Deutschland. Und, weiß Gott, diese Männer scheinen selber nicht recht an sich zu glauben; sonst begreife ich nicht die immer wiederkehrende Zuflucht zu unbestimmten zweideutigen Formeln, noch die fast ängstliche Sorgfalt, mit der dieselben, die doch sonst auf Ma­ joritätenherrschaft gehörig zu schelten wissen, alle möglichen Veran­ staltungen treffen, um ja für ihre schon fertigen Programme überall einer Majorität gewiß zu sein. Daß Stahl und in der Person von Stahl die streng confessionalistische Richtung den Kirchenbund von vorn­ herein mit Beschlag belegt habe, um ihn confefsionalistischen Zwecken dienstbar zu machen, thut Krause dar an dem Antrag von Sack, daß unter andern Funktionen der Kirchenbund die Aufgabe sich stellen müsse, gegenseitige Duldung, Anerkennung und Geistcsgemeinschaft zwischen allen

christlichen Confessioncn

anzubahnen.

Nachdem derselbe mit

einer geringen Stimmenmehrheit durchgegangen, habe Stahl durch die Drohung der Confesfionellen, sich von der Betheiligung am Kirchen­ bund loszusagen eö dahin gebracht, daß der Beschluß zurückgenommen wurde. Krause hat aber gegen einen solchen Bund, der die Stimme der evangelischen Kirche repräsentiren wollte, folgende Einwendung zu

5.

Sein Lebenswert.

73

machen: Die einzelnen Landeskirchen stehen im Begriff sich eine völlig neue Verfassung zu geben, die Kirchenregimente können nicht dieselben bleiben, ja es ist möglich, daß die Landeskirchen sogar in Provinzial­ kirchen oder consessionelle Kirchen sich auflösen. „Ist es nun nicht ein ganz verfehlter Gedanke, diese in der Gährung begriffenen Subjecte, die nächstens ganz andere oder vielleicht gar nicht mehr sein werden, zu einem Bunde vereinigen zu wollen? — Wäre es nicht das einzig natürliche, den Gährungsprozeß abzuwarten, bis aus

ihm die neu­

gestalteten Subjekte hervorgegangen sein werden, und diese dann zu verbinden?"

Er spricht sich ferner entschieden dahin aus, daß ein

Kirchenbund die Union nicht nur nicht fördere, sondern hindere und zerstöre. „Wenn man nämlich einen Kirchenbund will oder eine Kon­ föderation — wie man das auch zu nennen beliebt zur Unterscheidung von Union, so will man lauter Sonderkirchen, die jede durch bestimmtes Bekenntniß und beschränkte Verfassung in sich fertig und abgeschlossen nur Gleichartiges in sich beschließen und mit den andern keine Kirchen­ gemeinschaft halten, nur daß sie durch Abgeordnete so einen die Einheit repräsentirenden Kirchenbund beschicken." „ Wo schon wirklich Union ist, da wäre die Verwandlung derselben in eine Conföderation nach unserer Anschauung eine Verwüstung der Kirche, ein Zurückschrauben derselben in einen überwundenen Zustand. Wer daher in unsern Tagen die Absicht hat einen Kirchenbund zu machen, und er ist sich der Consequenzen seiner Gedanken bewußt, der muß zugleich die evangelischen Kirchen in ihrer alten confessionellen Gestalt möglichst zu reorganisiren beabsichtigen und um es grade heraus zu sagen — die Union zu zer­ sprengen. Wir also, wenn wir der Ueberzeugung leben, daß im Herzen des christlichen Volks die Union lebt und die confessionellen Unterschiede vorzüglich nur in den Köpfen der Theologen, daß das Volk "der großen Mehrzahl nach reif ist für Kirchengemeinschaft: wir haben mit allen Kräften vornehmlich und hauptsächlich die bestehende Kirchcngemeinschaft zu erhalten, zu reinigen und zu befestigen und zu vertiefen, und Kirchengemeinschaft überall anzustreben, wo sic noch nicht ist, wie wir uns die Aufgabe in unsrem „Verein für evangelische Kirchengcmeinschaft" (Unionsverein) gestellt haben und uns auf Con­ föderation nur da einlassen, wo wir es bis zur Union nicht bringen können. Wir haben jenen Kirchenbund nicht als unsern VereinsBundesgenossen, sondern als einen separatistische Gedanken in sich tra­ genden Gegner zu betrachten, und die Schritte der Kirchenbündler als

74

5.

Sein Lebenswerk.

zum Theil unionsfeindliche eifersüchtig zu überwachen.

Begreifen wir

unsern Posten, so müssen wir die Kirchenbündler bestreiten." Was Krause schon bei der Entstehung des Kirchentags sagte und voraussah, das hat seine volle Bestätigung gefunden. Besonders war es der Berliner Kirchentag (1853), auf welchem der Confessionalismus einen entschiedenen Sieg über die Consensusunionisten gewann.

Diese

„Bedeutung dcö Berliner Kirchentags" hat Krause im October 1853 an das Licht gezogen. Der leitende Geist im engern Ausschuß erklärte, bisher habe man den Consensus gewollt,

aber derselbe sei nicht zu

süssen, jeder lege ihn sich nach Belieben zurecht. Von hier aus sei das Bekenntniß zur Augustana ein Fortschritt.

Er verstehe dasselbe in

lutherischem Sinne. Mochten daher die llnionisten sich auch den Traum bereiten, daß die Union durch Ausnahmebestimmungen gewahrt sei: durch sie bestätigt sich nur, daß der wesentliche Inhalt des Beschlusses der war: die Mitglieder des Kirchentags bekennen ihre Uebereinstim­ mung mit der Lehre der ungeändcrten Augsburgischcn Confession. Mit Recht konnte Krause sagen: „Dr. Stahl hat in diesem Beschluß eine» Triumph über die Unirten gefeiert, wie er einen solchen in kirchlichen Dingen noch nicht erlebt; denn er hat eine weit überwiegend unirtc Versammlnng einen Beschluß fassen lassen, welcher die Union an der Wurzel angreift. Was will aber dieser Beschluß bedeuten? — Die Kirche will es, die Kirche erklärt, daß sic noch immer mit der Lehre der ungcänderten Augsburgischcn Eoiifcssion als dem Grundsymbol öffentlich anerkannter Lehre übereinstimme; also — sollten die Kirchen­ regierungen nicht zögern dies richtige und noch rechtsbcständige Ver­ hältniß der Kirche zu ihrer Confession in seiner alter Autorität gesetz­ lich wieder herzustellen. Wo eine evangelische Kirchenregierung in Deutschland ist, die confessionelle Neigungen hat und wünscht, daß die Wissenschaft umkehre, die soll auf diesen Kirchentagsbcschluß sich berufen können und sagen, die evangelische Kirche will die Verbindlichkeit der alten Bekenntnisse. Allein wen rcpräscntirt der Kirchentag? „Nicht einmal die einmüthigc Stimme der deutschen evangelischen Theologie; eö ist nur die eine Hälfte der Theologie, nämlich die der Confessionellen und der Halbconfessionellcn.

Die eben so große

andere Hälfte der

Theologie ist im Kirchentag nicht vertreten. Das evangelische Volk aber im Großen und Ganzen, und namentlich die große Mehrzahl der Gebildeten, die nicht Theologen sind, verhält sich nicht nur gleichgültig, sondern hat einen entschiedenen Widerwillen gegen die Bestrebungen und Beschlüsse dcö Kirchentags.

Aber wie die Kirchentagseonföderation

6. Sein Lebenswerk.

75

überhaupt nur eine tendenziöse Einigung aus Politik ist, ein Nothbündniß mehrerer sich hassender Parteien wider gemeinsame Feinde, ein Nothbündniß wider die liberalen Richtungen innerhalb der evange­ lischen Kirche und wider den aggressiven Ungestüm der Römischen, ein Bündniß, das in alle vier Winde zerstieben muß, wo die gemeinsame Noth aufhört und die innern Fragen mächtig werden, so ist auch der Beschluß selber nur der künstlichste Compromiß zur Verdeckung des Zwiespaltes; denn die verschiedenen Richtungen wollen mit demselben ja nicht dasselbe, sondern das allerverschiede» sie, einander wider­ sprechendste gesagt haben. „Das Bekenntniß des Berliner Kirchentags zu den Bekenntnissen ist eine große Lüge. Die „Uebereinstimmung", welche die Mitglieder bezeugen, haben sie in Wirklichkeit nicht mit den Bekenntnissen noch mit einander. Wo überhaupt bei den Evangelischen in der Lehre die Einheit hergestellt werden soll, da wird es immer die Einheit der Lüge, geschweige wenn diese Lehre eine Formel der Vergangenheit ist." Will man die evangelische Kirche als von wahr­ haft imposanter Macht darstellen, so gestehe man die ganze thatsächliche Fülle unterschiedener Ueberzeugungen ein, man berechtige, man organisire diese thatsächliche Wirklichkeit, und zeige durch die That, daß trotz der unendlichen Mannigfaltigkeit, ja in derselben die Einheit des Glaubens und des Lebens bestehe. Solche Einheit, die die weit­ gespanntesten Gegensätze der Entwicklung in sich zu tragen weiß, wird den Unkirchlichen die Kirche als eine göttliche Macht darstellen und den Römischen den Beweis liefern, daß es festere Bänder gibt als die mechanisch uniforme Einheit des Zwanges. Denn die religiöse Lebens­ einheit bei der Lehrmannigfaltigkeit, das ist die wahre evangelische Einheit. Der „große Kirchentag" isi ein großer Schein um ein kleines Sein. Sein Beschluß ist nichts weiter als der Versuch einer kleinen Partei, in direktem Widerspruch mit dem Bewußtsein der lebendigen Gegenwart eine längst überwundene Vergangenheit wieder heraufzube­ schwören. Und darum ist er trotz alles Lärmens und Scheinens null und nichtig. Es ist ein thörichtes Unternehmen, das Rad der Weltge­ schichte um 300 Jahre rückwärts drehen zu wollen. Solch „Glaubens­ bekenntniß" ist ein Zeugniß tiefen Unglaubens: alö ob der lebendige Gott auf dem Reichstag zu Augsburg verstorben wäre und unter dem Leichensteine der Augustana begraben läge. So wahr Gott lebet, sollen sie mit ihrem Bekenntnisse den göttlichen Lauf der evangelischen Geschichte nicht aufhalten. Es ist wohl der Mühe werth, im Blick auf die „kirchliche

76

5.

Sein Lekenswerk.

Octoberversammlung in Berlin" vom Jahre 1871, diesen „ausgesetzten" Kirchentag, sich dieses Berliner Kirchentages von 1853 und des Krause' fchen Urtheils über ihn zu erinnern.

Da hat der ofsiciöse Vertreter

der kirchenregimentlichen Unionspartei oder des unionistischen Kirchen­ regiments ausgesprochen, daß er auf den Wunsch verzichte: wir doch

„wollten

endlich einmal bezeugen, daß wir nnö als Augsburgische

Confessions-Verwandte fühlen."

Er legt sich diesen Verzicht auf, weil

man ihm gesagt habe, daß er gegenwärtig noch nicht von allen Seiten mit voller Wahrheit zu verwirklichen sei!

Nun, hat denn nicht auf

dem Berliner Kirchentag vor 18 Jahren die „Kirche" gesprochen, hat nicht der Unionist mit dem Confesstonellen in der Augustana damals das rechte „Conföderationsinstrument" begrüßt, hat man damals nicht gethan, als wäre in der Erhebung der Augustana zum eigentlichen Hauptbekenntniß der evangelischen Kirche die feste, unüberwindliche Burg gefunden, in der man den altbösen Feind, wie er sich auch anstellen möge, getrost trotzen könne? Waö war das für eine Zeugnißlust, die bei verschiedenen Gelegenheiten im „gläubigen" Pastorenthum noch laut und lustig nachhallte. Und nun nach fast 20 Jahren ist es dahin gekommen, daß die Faiseurs jenes Zeugnisses jetzt als gedemüthigt be­ kennen müssen, sie dürfen an eine Wiederholung von 1853 derzeit nicht denken. Aber wohl in der Zukunft? Brückner tröstet sich damit, daß Gottes Saaten langsam reifen.

Wird er

sich aber nicht bekennen

müssen, daß die Saat der Zwietracht seit jenen Tagen zwischen Confessionellcn und Halbconfessionellen nicht langsam, sondern gewaltig schnell und für die evangelische Kirche erschreckend gereist ist, und die Zukunft wenig Hoffnung für Erfüllung seines Wunsches bietet? Er hat Recht: „ohne volle Wahrheit kein Fortschritt in der Kirche!" (Verh. der kirchl. Oct. Vers. S. 62). Daraus aber erklärt sich, warum ein solcher Rückschritt möglich war. Jene Fabrikation einer zusammengeflickten Bekenntnißfahne auf dem Berliner Kirchentag von 1853 ist- eben keine wahrhaftige, sondern ein Cabinetsstück unheiliger kirchenpolitischer Berechnung gewesen, dessen Früchte nun vor aller Welt auf der Octoberversammlung von 1871 offenbar geworden sind. Krause hat diesen Gang der Dinge klar vorausgesehen und voraus­ gesagt:

Wir müßten von der Beschaffenheit dieser Par­

teien gar nichts verstehen, wo wir nicht mit großer Zu­ versicht es aussprechen wollten, daß über kurz oder lang der Punkt eintreten muß, an welchem diese unnatürlich verbundenen Elemente mindestens in zwei feindliche Lager,

5. ein

Sein Lebenswerk.

77

Stahl-Hengstenberg-Göschelsches des confessionellen,

hierarchischen,

katholisirenden,

absolutistischen

Luther­

thums und ein Bethmann-Hollweg-Nitzsch-Sandersches der protestantischen reformirt-shnodalischen „positiven" Union auseinandergehen werden."

Es mußte so kommen, weil nicht

bestehen kann, was nicht aus der Wahrheit ist. Die Stellung Krause's im kirchlichen Kampfe brachte es mit sich, daß er gegenüber den kirchlichen Behörden zum Vertheidiger bedrängter Einzelner und Gemeinden wurde. Jur Jahre 1852 trat er für den wegen seiner Thätigkeit als Landtagöabgeordneter (1848) disciplinarisch gemaßregelten, seines Amtes entsetzten und auch sonst von der Reaction schmählich gehetzten Prediger Hildcnhagcn ein.

Alle

Exemplare der

betreffenden Nummer des „Protestanten" (Nr. 13) wurden von der Polizei vor der Ausgabe weggenommen, trotzdem aber erhob die Staats­ anwaltschaft eine Anklage auf Verbreitung von Beleidigungen gegen eine öffentliche Behörde. „Arme evangelische Kirche, ruft er in dem unterdrückten Artikel aus, so weit ist eö mit dir gekommen, daß Männer, die dem Vorbild ihres Herrn nachfolgen, treu an ihren Ueberzeugungen halten und für ihre Ueberzeugungen Alles zu opfern bereit sind, eben darum in deinen Aemtern keinen Raum mehr haben, sondern für un­ fähig erklärt werden deine Gemeinden zu leiteil! Während das Rohr, das vom Winde hin und her bewegt wird, üppig in dir wuchert!" Unter den Fällen, wo er die Sache von Gemeinden führte wegen Mißhandlung sei's von lutherischen Pastoren mit ihren eigenmächtigen Gelüsten sei's von den Behörden, tritt namentlich der mit der Gemeinde Bahn hervor im Jahre 1864, wo ein Superintendent sich erlaubte Jahre lang die Gemeinde gegen alles Recht mit seinen Lutheranisirungöversuchcn zu quälen und es wenigstens zu dem Ergebniß kam, daß der Gemeinde theilwcise Recht gegeben wurde. Eben dieser Fall ist ein Beweis, wie die Thätigkeit Krause's nicht zum wenigsten darin ihre Bedeutung bewährte, daß sie Schlimmes störte und verhinderte. Er mußte seinen Erfolg dies Mal freilich mit einer Verurthei.lung bezahlen; denn der Staatsanwalt erhob gegen ihn die Anklage auf Beleidigung des Oberkirchenraths in seinem Beruf und darauf, daß er Anordnungen der Obrigkeit durch Schmähungen dem Haß und der Verachtung ausgesetzt habe. Krause ist kurze Zeit

auch

auf dem politischen

Schauplatz

thätig gewesen. Er saß 1862 im preußischen Landtag als Abgeordneter für Magdeburg. Diese Stellung war ihm vou Werth, um die kirch-

5.

78

Sein Lcbenswcrk.

liche Frage fördern zu können.

Er hat auch unter beut 5. Februar

1862 den Antrag eingebracht:

das Haus wolle beschließen, es für

dringend geboten zu erklären, baß bas Staatsministerium nicht länger säume,

durch Berufung

einer aus

Gemeinbcwahlen

hervorgehenden

allgemeinen Repräsentation der evangelischen Lanbcstirche bett Artikel 15 der Staatsvcrfassung für dieselbe in Ausführung zu bringen." In der Motivirung war namentlich die Menge der Rcchtsverwirrungcn und

Nothstände des Jntcrimistikums und das Ungerechtfertigte und

Jncorrekte eines „allmähligen Anfbau's" hervorgehoben.

Der Antrag

kam, so viel ich mich erinnere, nicht mehr zur Verhandlung.

Krause

saß zugleich in der Commission für das Unterrichtswesen und hat einen trefflichen Bericht über die Petitionen in Schulangelegenheiten geliefert. Ncbrigenö war die eigentliche Politik nicht sein Feld, und die politische Färbung, welcher er angehörte, war für seine Wähler zu conservativ, so daß er für die nächste Session nicht wieder gewählt wurde. In dem Entwurf einer Rede bei der Candidatur um eine Abgeordnetenstelle legt er seinen Standpunkt kurz und bündig dar: mit dem constitutionellen System soll gründlich Ernst gemacht werden; die Freiheit von Person und Gemeinde möglichst groß, aber der Mißbrauch auch strenger Strafe unterworfen. Für die Wahl wünscht er nickt allgemeines Stimmrecht, sondern Wahl nach Ständen; das Königthum ist ihtn eilt nicht minder wesentlicher Faktor deö Staatswcsens als die im Abgeordnetcnhause sich ans organische Weise geltend machende Stimme deö ganzen Volkes. Er gehörte der Partei der Liberalen an. Wie gesunde Ansichten und richtigen Blick er in politischer Beziehung hatte, davon zeugt eilte Stelle in betn Artikel über den „Kirchcnbund zu Wittenberg" vom Octobcr 1818: „Ich habe es immer für ein Unglück gehalten und halte es noch dafür, daß man zu derselben Stunde ein einiges deutsches Reich aufrichten will, in welcher die Einzelstaaten eilte völlige Umgestaltung ihrer Verfassung vornehmen. Mir schielt der einzig ver­ nünftige Weg der, daß die Einzelstaaten zunächst sich neu einrichteten und daß man auf Grund und nach Maßgabe dieser fertigen neuen Organisation eine Einheit Deutschlands aufbaute. Dann hätte das Frankfurter Parlament eine bestimmte

Aufgabe,

es wüßte die Be­

dingungen unter denen und die Gränzen, wie weit die Einheit möglich zn machen.

So aber, so lauge die Einzelsubjckte selber im Fluß be­

griffen sind, weiß man nicht, welcher Art und welchen Umfangs die Einheit werden soll, ob man sie einfach ganz zu Einem verschmelzen, oder wie fest und wie lose man sie verbinden solle; teilt Mensch weiß

5-

Sein Lebenswerk.

79

wer Koch und wer Kellner ist; keine der Versammlungen kennt ihre Gränzen und Befugnisse und jede nimmt daher die weitesten in An­ spruch; sie stellen dann über denselben Gegenstand verschiedene, selbst widersprechende Bestimmungen auf, die dann nachher müssen ausgeglichen werden, im günstigsten Fall thun sic dasselbe und arbeitet also eine vergeblich. Daher die unsäglichen Schwankungen des Frankfurter Par­ laments und daß man immer noch nicht weiß, ob überhaupt eine Ein­ heit zu Stande kommen werde." Krause war während der Adreßdebatte hinsichtlich des Militärconflitts zwischen Krone und Abgeordnetenhaus krank gewesen und hatte nicht mitstimmen können.

Da erhielt er eine Anfrage seitens seiner

Magdeburger Wähler, wie er gestimmt haben würde. Er antwortete in einem Schreiben, das der gesunden Politik mehr enthält als manche umfangreiche Bücher, und ich würde es für eine Beraubung der Leser halten, wenn ich nicht das Wesentliche daraus geben wollte.

Sein

Bescheid war: am liebsten hätte er die Unterlassung jeder Adresse ge­ sehen, weil sie nichts nützen könne, in zweiter Linie sei er für Vincke's Entwurf, wiewohl er an ihm auszusetzen habe, daß er herzhafter in der Sprache sein sollte. Die Majoritätsadresse aber biete ihm unüber­ windliche Anstöße; sie sei ganz darnach angethan, daß sie nicht nur keine günstige, sondern entschieden eine schädliche Wirkung üben müsse; und der Erfolg sei ein Moment, das nach seiner Meinung der Politiker niemals aus den Augen verlieren dürfe. „Man beruft sich auf das Recht, auf das gute Recht des Abge­ ordnetenhauses, welches treu und unverbrüchlich müsse bewahrt werden. Ich halte auch an dem guten verfassungsmäßigen Rechte und hoffe hinter niemanden zurückzubleiben in unverbrüchlicher Treue und zäher Beharrlichkeit für unser gutes Recht. Aber abgesehen davon, daß ich für eine Anklage der Minister beim Könige durch die Volksvertretung in unserer Verfassung keine rechtliche Basis finde, weiß ich doch über­ haupt nicht, was die Treue gegen das Recht mit der Adresse zu schaffen hat. Eine Adresse ist doch kein Richterspruch: nur bei diesem kommt ausschließlich das Recht in Betracht. Das verfassungsmäßige Recht zu wahren, dafür hat das Abgeordnetenhaus verschiedene Formen; ob cs die Form einer Adresse an den König wählen solle, mnß aus andern Gründen entschieden werden. Man appellirt an die Wahrhaftigkeit: daß auch dem Könige die volle Wahrheit gesagt werden müsse. Jch liebe die Wahrhaftigkeit, und wünsche, daß den Fürsten und Königen gegenüber, von den dazu Berufenen die Pflicht der Wahrhaftigkeit viel

80

5.

ernster

Sein Lebenswerk.

und durchgreifender geübt werde, als

gemeiniglich geschieht.

es in der Gegenwart

Und ich habe darum kein Bedenken getragen,

mit meinen kirchlichen Freunden mehrere Male, wo es nothwendig er­ schien, nach oben hin unzweideutige Worte zu richten. Aber die Wahr­ haftigkeit besteht doch nicht darin, daß man redet, wo man besser thut zu schweigen, auch nicht darin, daß man redet, wo man überzeugt ist, mit der Rede das Gegentheil von dem zu wirken was man zu wirken beabsichtigt. Nur wenn man das Verhältniß einer Einwirkung gänzlich aufgegeben hat, redet man etwa noch ganz ohne Rücksicht ans den Er­ folg. Die Volksvertretung aber, die zur Vereinbarung mit der Krone berufen ist, darf sich niemals auf die Voraussetzung stellen, als

ob zwischen

ihr und der Krone ein Verhältniß der Einwirkung

nicht mehr Statt finde, so lange ein geordnetes Staatswesen besteht. Wollte sie aber wirken, so müßte sie sich sagen, daß es nicht gerathen sei, wenn derjenige, der ein geringeres Vertrauen genießt, den andern verklage, der das Vertrauen besitzt, zumal wenn er selbst an betreffender Stelle für den schuldigen oder doch den schuldigeren Theil gehalten wird. Ueberdies konnten ihm Diejenigen diesen Beruf des Verklägers noch weniger zuerkennen, die wie ich überzeugt sind, daß für die Schroff­ heit des Conflikts ein Theil der Verantwortlichkeit auf ihre eigenen Schultern fällt. Das Haus, welches jenen unausführbaren Beschluß in der Militärfrage gefaßt hat, durfte nicht erwarten, daß es für seine Anklagen Gehör finden werde. Der Erfolg ist eingetreten, wie er vorausgesagt wurde, und niemand wird behaupten, daß wir durch die Adresse der Lösung des Conflikts näher gekommen wären." Krause findet sich dann im Weiteren veranlaßt auszusprechen, wie er das Verhältniß des Abgeordnetenhauses zu seinen Wählern auffasse, da möglicher Weise eine Differenz der Anschauung über dies Verhält­ niß zu Grunde liegen könnte. Ich erblicke, sagte er, in der Volksvertretung unserer modernen Staaten nicht eine Institution, welche den Zweck hätte, die Stimme der Meinungen und Willensrichtungen aller selbständigen Bürger des Staates zu constatiren und als mitwirkenden Faktor bei der Gesetz­ gebung geltend zu machen, und in dem Abgeordneten nicht einen Man­ datar der Wähler für die jedesmalige Majorität der Willensmeinungen seines Wahlkreises.

Solche Institution würde ich für die schlechteste

Staatsverfassung halten, die in der Welt erdacht werden könnte, und eine Volksvertretung wäre überdies die ungeschickteste Einrichtnng zu dem bezeichneten Zwecke, jede mechanische Einrichtung würde denselben

5. Sein Lebenswerk.

81

besser erfüllen als eine Versammlung von lebendigen Personen. Die Institution der Volksvertretung hat in meinen Augen den Sinn: daß zu dem traditionellen erblichen Faktor der Staatsregierung der Besitz, die Erfahrung und die Intelligenz aus allen Theilen der Nation hin­ zutreten soll, um im lebendigen Austausche von Einsicht und Erfahrung die Wohlfahrt des Landes zu berathen. Die Wohlfahrt des Landes, das was jedes Mal für das Volksleben als das Beste erscheint, darf allein maßgebend sein für die Beschließungen der Volksvertretung, sollte dasselbe auch hie und da den Interessen des einzelnen Wahlkreises nicht entsprechen oder gar mit den Stimmungen und Willensmeinungen der Wählerschaft in Widerstreit gerathen. So faßt auch unsere Verfas­ sung den Beruf der Volksvertretung. Darum stellt sie den Abgeordneten nicht als Vertreter deö einzelnen Wahlkreises hin, sondern setzt ihm die Aufgabe, die Interessen des ganzen Landes zu vertreten. Darum ent­ hebt sie ihn der gesetzlichen Vertretung für seine Reden und Entschließun­ gen, darum macht sie ihn unabhängig von Aufträgen und Willens­ meinungen der Wähler, und verlangt von ihm, daß er seine Beschließungen lediglich nach dem freien, gewissenhaften Ermessen seiner jedesmaligen persönlichen Ueberzeugung treffe. Und diese rechtliche Stellung, welche die Verfassung dem einzelnen Abgeordneten und der gesammten Volks­ vertretung zuweist, scheint mir auch die einzige zu sein, welche sittlich zuläßig ist. Denn nur eine Volksvertretung, welche rechtlich uud sittlich unbedingt frei dasteht der Regierung so wie den Wählern gegenüber, ist im Stande, den hohen Zweck dieser Institution zu erfüllen. Wer nicht so geartet ist, daß das Gemeinwohl für ihn stets in erster Linie steht und gegen alle persönlichen und besonderen Interessen den Aus­ schlag giebt, wer nicht Kraft in sich fühlt, sich von den täglich wechselnden Stimmungen und Wallungen dessen, was sich die öffentliche Meinung nennt, unabhängig zu erhalten, wer nicht entschlossen ist, mit seiner persönlichen Ueberzeugung von dem, was das Volkswohl erfordert, wo es nöthig ist, nicht nur der Staatsregierung oder der Majorität der Volksversammlung, sondern auch der Majorität seiner Wähler, ja selbst allgemein herrschenden Volksstimmungen mannhaft entgegenzutreten, der soll doch ja wegbleiben von der Volksvertretung, er ist nicht geschickt zu diesem hohen, heiligen Berufe. Der Beruf eines Volksvertreters fordert einen ganzen, freien, mannhaften Mann, der unbeirrt seinen graben Weg geht zwischen Lob und Tadel, Zustimmung und Wider­ spruch hindurch. Und Wähler, welche das wahre Interesse des Vater­ landes im Auge haben, und auch ihr eigenes Interesse gut berathen Spaeth, Protestantische Baustkink.

6

5.

82

Sein Lebenswerk.

Wollen, richten daher ihre Stimmen nur auf solche Männer, denen sie neben der nöthigen Erfahrung und Intelligenz, so viel unabhängigen Charakter zutrauen, daß sie sich nicht von dem Strome der Majori­ täten und den Stimmungen der öffentlichen Meinung forttreiben lassen, sondern fähig sind Widerstand zu leisten, wenn es sein muß, auch den eigenen Wählern. Haben sie so gewählt, dann machen sie natürlich niemals den Versuch, ihren Abgeordneten in der freien sittlichen Wahl­ bestimmung irgend wie zu alteriren; denn wo sie jemals den Versuch machen könnten, würden sie damit die Meinung verrathen, daß sie ihren Abgeordneten für einen charakterschwachen Mann hielten, und sich selber das Zeugniß ausstellen, daß sie ihre Wahl nicht wohl erwogen haben (Magdeburgische Zeitung v. 20. Februar 1863). Gewiß mit Recht

nennt

Shdow dieses Verständigungsschreiben

Krause's an seine Wähler ein klassisches und würdig, unter den bleibenden Urkunden und Richtschnuren verfassungsmäßigen Lebens aufbewahrt zu werden. Welche sittliche Kraft und Entschiedenheit, welche innere Selbständigkeit, welche Klarheit über die Grundfragen des politischen Lebens spricht aus dieser Zurechtweisung!

Er war in der That ein

exemplarischer Abgeordneter, wenn ihn gleich der ganze Zug seines geistigen Wesens nicht auf den politischen Boden wies, denn für ihn galt es an die Lösung idealerer Probleme seine Lebenskraft zu setzen. Es erübrigt nur noch, die Stellung Krause's zum ProtestantenVerein zu zeichnen, bei dessen Gründung er in sehr bedeutsamer und eigenthümlicher Weise betheiligt war. Es lag schon in seiner zähen GeisteSart, die das Beharrliche liebte, daß er nicht schnell und enthu­ siastisch auf Neues einging. Es galt auch von ihm, was er an seinem Freunde L. Jonas rühmte, daß er nie einen Schritt zu thun pflegte, den er nachher zu bereuen hatte und zurückthun mußte, daß er fast ängstlich gewissenhaft prüfte, ehe er handelte, wenn er aber zur sichern Einsicht und zum Entschluß gekommen, für das Erkannte auch mit un­ beugsamer Entschiedenheit eintrat. Den Werth der Vorsicht hatte er auch bei seiner versuchungs- und anfechtungsvollen Stellung hinlänglich erprobt.

Es war daher nicht anders zu erwarten, als daß er dem von

Baden her kommenden Aufruf zur Theilnahme an der Versammlung protestantischer Männer in Frankfurt a. M. zwar willig folgte, aber als es sich um die Gründung eines Vereins handelte, die Bedingungen sich klar machte, unter denen er allein an einem solchen Theil nehmen könnte, und den Charakter, welcher dem Verein allein sittliche Berech­ tigung gebe.

Er war mit seinen Genossen in Berlin dazu um so

5. Sein LebenSwerk.

83

mehr aufgefordert, weil der Unionsverein zwar in demselben Geist seit Jahren gewirkt hatte, und dieselben Zwecke verfolgte, es nun sich aber darum handelte, ob und wie der Unionöverein sich in die allgemeinen Bestrebungen einfügen könnte. Da stand denn dem strengen Beurtheiler des Kirchentags Eines fest: der projectirte Verein darf nicht die Wege des Kirchentags gehen, darf nicht sein liberales Widerspiel werden. Er darf vor Allem nicht aus einem kleinen Kern bestehen, welcher Alles zuvor fertig macht, um eine zufällig zusammenströmende Masse zu Beschlüssen zu veranlassen; er darf auch nicht sich für etwas Anderes ausgeben, als was er ist, nicht für eine Vertretung der Kirche, sondern nur für einen freien Verein, der niemand vertritt als sich selbst. Demgemäß stellte er die Forderung, daß der Verein sich „organisire in Orts- und Zweigvereine, daß Beschlüsse nur gefaßt würden von Deputaten der Zweigvereine, nicht in der aus fluktuirenden Ele­ menten bestehenden allgemeinen Versammlung, welche vielmehr der Belehrung, Verständigung und Anregung zu dienen habe, und daß man auch bei Beschlüssen immer eingedenk sei, von wem sie ausgehen, nämlich von einem Verein ohne officielle Befugniß. Diese Anforde­ rungen sind denn auch in der Vorversammlung des ersten Protestanten­ tags (zu Eisenach 1865) angenommen und der Verein organisirt worden mit einem engern und einem weitern Ausschuß, in welchem allein Be­ schlüsse gefaßt werden, und zwar keine klubartigen, sondern solche, bei denen die persönliche Freiheit vollauf reservirt ist. Krause hat in Berlin im Unionsverein den Vortrag übernommen, welcher den An­ schluß desselben an den Protestantenverein einleiten sollte (s. Nr. III). Er hat sich an der Debatte in Eisenach, die protestantische Lehrfreiheit und ihre Gränzen betreffend, sehr bedeutsam betheiligt, indem er her­ vorhob, daß er zwar mit den Aufstellungen von Schwarz einverstanden sei, jedoch könne er dieselben nicht als erschöpfend ansehen. Es sei für eine gesunde kirchliche Gemeinschaft eine Lehrordnung nöthig. In der­ selben Richtung sprachen auch Zittel und Schenkel, und-die Versamm­ lung schenkte diesem ausgesprochenen Bedürfniß nach Ergänzung ihre Zustimmung. Es war für den zweiten deutschen Protestantentag, der in Hannover 1866 in der Pfingstwoche Statt finden sollte, als zweites Thema gestellt „über die Lehrordnung der protestantischen Kirche" und das Referat hatte Krause übernommen. Der nahende Krieg machte die Versammlung unmöglich. Und als der verschobene Tag im September 1867 zu Neustadt a. d. H. Statt fand, da brachten eö die veränderten Verhältnisse mit sich, daß andere Gegenstände die Tagesordnung ein-

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5. Sein Lebenswerk.

nahmen, wozu noch die zunehmende Kränklichkeit Krause's kam, die ihn bereits an der persönlichen Theilnahme verhinderte. Im Unionsverein in Berlin war übrigens, wie aus einer Bemerkung (Prot. K. Z. 1867, Sp. 164) zu ersehen, über die Lehrordnung auf Grund von Thesen Krause's verhandelt und waren dieselben gutgeheißen worden, ich kann sie jedoch in seinen Papieren nicht finden, sondern nur die Skizze zu einem Vortrag über die Lehrordnung. Krause hat in dem Protestan­ tenverein vor allem gesehen einen „freien protestantischen Verein von Männern der liberalen kirchlichen Richtung zur Förderung und Her­ stellung repräsentativer Kirchenverfassungen in allen Theilen Deutsch­ lands," überzeugt daß mit der Hebung der Schäden in dieser Hinsicht auch andere kirchliche Schäden zugleich beseitigt werden, indem dann Raum gewonnen sei für eine freie gesunde Entwicklung, die jetzt künst­ lich zurückgehalten werde. Im Gebrauch seiner vollen Arbeitskraft war Krause schon seit Jahren gehindert durch eine Schwäche der Augen, welche ihm Lesen und Schreiben fast völlig verbot. Er war genöthigt sich vorlesen zu lassen und zu diktiren. Dadurch war ihm eingehendes Studium von Ge­ genständen, welche viel Berücksichtigung der Literatur erforderten, fast unmöglich gemacht, wozu dann freckich kam, daß er je länger je mehr von den Fragen und Aufgaben, die ihm die Redaktion der Kirchen­ zeitung stellte, ganz in Anspruch genommen war. Es war daher nicht die Wissenschaft, welche er bereicherte. Dagegen ist er den Leistungen der Wissenschaft, namentlich denen auf historischem, dogmatischem und reli­ gionsphilosophischem Gebiete mit hohem Interesse gefolgt und sein klares nüchternes Urtheil über literarische Erscheinungen hat sicher auch der Wissenschaft manchen Nutzen gebracht. Daß er übrigens nicht geringe wissenschaftliche Befähigung hatte, daß es ihm auch auf den Gebieten, die er vorzüglich bearbeitet hatte, nicht an Beherrschung des Stoffes und an Selbständigkeit fehlte, dafür zeugt seine Jugendschrift „über die Wahrhaftigkeit" und sein Vortrag oder vielmehr seine Abhandlung „über die vom Abendmahl handelnden Stellen des Neuen Testaments" (Monatsschrift für die un. ev. Kirche Band IV, Heft 6). Krause hat in hohem Maße die Gabe besessen, wissenschaftliche Gegenstände in durchsichtiger Weise für die Gebildeten überhaupt zu behandeln, ohne platt zu werden, wie er denn auch in seiner publicistischen Thätigkeit ein Gleiches anstrebte und bewährte. Er sagt am Schluß des Pro­ gramms zum „Protestant" (1851, Nr. 1): „wir werden uns bemühen, da wir uns mit unsrem Blatt an die große Gemeinde der evangelischen

5. Sein Lebenswerk.

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Christenheit wenden, eine volksthümliche Sprache zu reden, b. h. von allem Gelehrten und Reinwissenschaftlichen uns fern zu halten. Aber wir setzen das Volksthümliche auch nicht in eine priesterlich sal­ bungsvolle oder weinerlich erbauliche Redeweise, noch weniger in ein leeres Geschwätz, welches für Schreibende und Lesende auf Gedanken verzichtet, sondern meinen volksthümlich zu sein, wenn wir mit möglicher Gründlichkeit und Tiefe unsre Gegenstände in allgemein verständlicher Weise in der Sprache vortragen, wie sie gegenwärtig in unserm Volk von jedem Gebildeten gesprochen wird." Es ist sehr zu beklagen, daß es ihm nicht mehr gelungen ist, ein Werk auszuführen, an dessen Ausführung er in den letzten Jahren seines Lebens Hand anlegte. Er wollte nämlich für die Gebildeten in Form von kürzeren Abhandlungen alle diejenigen Fragen behandeln, welche das moderne religiöse Be­ wußtsein vorzüglich beschäftigen. Die zwei ersten haben wir: „das Christenthum und die Naturwissenschaften" und „Glauben und Wissen." (Nr. XVI und XVII). Den Wunsch, welchen Eltester bei Veröffent­ lichung dieser beiten Arbeiten in der Prot. Kirchenzeitung (1868 Nr. 45 und 48, und 1869, Nr. 1, 2, 5, 9) aussprach, daß wenigstens ein Theil der Aufzeichnungen Krause's der Art ausgeführt sich finden möchte, daß es möglich wäre, seine Gedanken der Hauptsache wieder­ zugeben, theile ich vollkommen. Leider aber ist er nicht zu erfüllen. Zwar hat Krause die Gegenstände, welche er vorhatte in diesem Werk ju behandeln, in Vorträgen sämmtlich behandelt, z. B. religiöse Be­ deutung der Person Christi, Bibel, Kirche, Persönlichkeit Gottes, per­ sönliche Fortdauer, Glaube, freier Wille, und es sind auch in seinem Nachlaß die Skizzen vorhanden, aber so skelettartig, daß an eine Aus­ führung ohne bedeutende Zuthat von Eigenem nicht zu denken wäre. Krause hat für sein Wirken zum Besten der protestantischen Kirche zwar nicht in seinem Vaterlande, das ihm vielmehr die akademische Laufbahn verschloß, wohl aber aus der Schweiz herüber die verdiente Anerkennung empfangen. In Veranlassung der Calvinfeier am 27. Mai 1864 ertheilte ihm die theologische Fakultät der Universität Zürich „mit Rücksicht auf seine vielfachen und großen Verdienste um die protestan­ tische Kirche und Theologie, insonderheit in Rücksicht auf sein lang­ jähriges muthvolles Eintreten für evangelische Freiheit und Wahrheit, sein unverdrossenes Wirken für Einführung einer den Bedürfnissen der Gegenwart entsprechenden Kirchenverfassung sowie für Durchführungder Union zwischen den protestantischen Schwesterkirchen die Würde eines Doktors der Theologie honoris causa. Cr hat diese ehrende

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5.

Anerkennung

Sein Lebenswerk.

mit folgendem seinen edlen Charakter klar bezeugendem

Schreiben beantwortet: Hochwürdige theologische Fakultät, Hochwürdige verehrte Herren! Sie haben von der Gedächtnißfeier des großen Reformators Calvin Anlaß

genommen, mir die Würde eines Doctors der Theologie zu

verleihen. Es ziemt mir nicht zu beurtheilen, ob ich würdig sei diesen Ehren­ titel zu empfangen; Sie haben es so gewollt, und wo gewissenhafte Männer der Wissenschaft solch Urtheil fällen, hat sich der Betroffene, dem der Spruch gilt, in Ehrerbietung zu bescheiden. Einer gewissen Stand­ haftigkeit und Freimüthigkeit, mit der ich allezeit unevangelischen Be­ strebungen entgegengetreten bin, haben Sie Ihre Anerkennung bezeugen wollen. gen

Und wenn sich Ihre Anerkennung auch auf meine Bemühun­

um die theologische Wissenschaft erstreckt, so

haben Sie statt

wissenschaftlicher Leitungen, durch welche mich attiv an dem theologischen Prozeß zu betheiligen insbesondere halb erblindete Augen mir seit Jahren versagen, etwa den wissenschaftlichen Wahrheitssinn, die theo­ logische Haltung mit ihren Wirkungen wohlwollend in Rechnung ge­ zogen.

So denke ich mir Ihren Spruch, und Sie werden mir freund­

lich diese Deutung gestatten. Hochverehrte Herren! Ich habe nie in meinem Leben Erfolge für meine Person begehrt, mich hat niemals nach Ehren und Würden gelüstet, das kann ich in ganzer Aufrichtigkeit sagen. Ich würde, so hoffe ich zu Gott, ohne eine derartige Auszeichnung meinen graben Weg weiter gewandelt sein bis an das Ende meiner Laufbahn, wenn mir nur Gott nach wie vor ein rechtschaffenes Gewissen erhalten hätte. Sollte mir aber eine Auszeichnung zu Theil werten, so will ich es Ihnen nicht verhehlen, daß keine gefunden werden konnte, die meinem Herzen eine reinere und innigere Freude bereitete als die Würde eines Doktors der Theologie. Diese Würde ist so fern von jedem Schatten äußerlicher Zuthat, diese freiwillige Gabe freier Männer, mit der sie die Gesinnung und Arbeit eines Anderen ehren, bindet nicht, sie macht frei, sie trägt, sie hebt den Geehrten.

Ich fühle mich durch

dieselbe aufgenommen in den Bund derjenigen, die als Männer gelten in der Theologie, und deren Wort etwas gelten soll in der Wissenschaft und für die Kirche.

Die Aufnahme in diesen Bund durch Männer,

die nicht nur in meiner persönlichen Verehrung sondern in der evan­ gelischen Kirche, in ihrer Theologie eine hohe Stelle einnehmen, deren

5.

Sein Lebenswerk.

87

Werke weithin leuchten, ist mir ein wcrthvolles Zeugniß für die Red­ lichkeit meines Strebens und ein starker Antrieb, in der eingeschlagenen Bahn zu beharren. Sie soll für mich allezeit die Mahnung sein, daß mir nunmehr obliegt, in allem Ernst das zu sein, was der ehrenvolle Name bedeutet. Dabei ist es mir ein köstliches Zeichen, daß an der Südgränze deutschen Wesens und deutscher Wissenschaft, an einer reformirten Hochschule die Neigung entstehen konnte mir diese Würde zu verleihen, und daß Calvins Gedächtniß den Anlaß dazu geboten hat. Calvins reformatorische Thätigkeit im Gebiete des theologischen Denkens und für die sittliche Gestaltung der christlichen Gemeinde habe ich stets als die andre unentbehrliche Hälfte betrachtet, welche zu der lutherischen Reformation hinzukommen müsse, und habe mich nach meinem geringen Vermögen bemüht, für die Einverleibung dieser reformatorischen Seite in unser norddeutsches Kirchenwesen mitzuwirken. Die Wahrung und Ausbildung der Union zwischen ten evangelischen Schwesterkirchen bildet Ausgang, Ziel und Centrum meiner Bemühungen.

Ihre Verleihung

bezeugt mir die Geistesgemeinschaft, welche die freie evangelische Theo­ logie aller deutschreeenven Stämme durchdringt, und gilt mir inson­ derheit als eine Besiegelung meiner Thätigkeit für die Union. So nehmen Sie denn, hochwürdige, hochverehrte Herren, meinen innigen Dank für die verliehene Auszeichnung. Ich bitte Gott von ganzem Herzen, daß er den Rest meines Lebens so gestalten und be­ hüten möge, daß es in keinem Punkte weder dieser Würde noch der verleihenden Fakultät zur Unehre gereiche. In herzlicher Hochachtung und Verehrung Einer hochwürdigen theologischen Fakultät ergebener H. Krause. Es war dem edlen Manne freilich nur noch kurze Zeit vergönnt den Dank für diese Anerkennung durch weiteres hingebendes Wirken abzustatten. Lebens öfters

Ein Gichtleiden machte ihn in den letzten Jahren seines auf Monate fast arbeitsunfähig und er mußte Bäder

aufsuchen. Dies zusammen mit einer äußeren Verletzung erzeugte einen Schaden an der Hüfte, der beständig wachsend vom Spätherbst 1867 an seine Kräfte allmählig aufzehrte und ihn Monate lang an das ein­ same Krankenlager fesselte. Er hat viel gelitten und standhaft geduldet. Er hat seinen kindlichen Glauben an die Vatertreue Gottes auch in dieser letzten schweren Prüfung bewährt und ist aus der Welt geschieden.

5.

Sein Lebenswerk.

nachdem er am Morgen feines Sterbetages (am 8. Juni 1868) noch daS

Wort gesprochen — ein herrliches Abschiedswort: „um acht Uhr

wird mich der Herr frei machen." Er starb im väterlichen Hause, an dem Ort, da er geboren ward, in Weißensee bei Berlin, wohin er noch wenige Tage vor seinem Tode schon als ein Sterbender gebracht wurde. Dort wurde auch am 11. Juni neben der Kirche seine leibliche Hülle bestattet und sein langjähriger Freund und Kampfgenosse Pre­ diger Dr. Shdow in Berlin, sprach herzergreifende Worte an seinem Grabe, welche bezeugten, wie viel er seinem Hause, seinen Genossen und weiten Kreisen gewesen, und Tausende haben mit dem Freunde die Wahrheit seines Wortes tief empfunden und empfinden es eben in diesen Tagen mehr als je mit ihm: „Ein Erster aus unsern Reihen ist in ihm gefallen." Er ist abgerufen nach Menschen-Meinung vor der Zeit, da sein scharfes blankes Schwert so sehr vermißt wird. Aber der Herr hat jedem die richtige Stunde gesetzt, und wir haben uns darüber weder zu beklagen noch zu murren. gearbeitet hat,

das

geht ja nicht

Und was ein Mensch

spurlos vorüber.

Auch von den

Werken, welchen H. Krause mit dem Einsatz seiner ganzen Person Gott zu Ehren und seiner Kirche zum Heil sein Leben widmete, wird die Zukunft die Früchte reifen.

II.

Sammlung ausgemahlter Schriftstücke.

Vorwort der Protestantischen Kirchenzeitung beim Beginn ihres Erscheinens (1854). „Soll fceftn der Knoten der Geschichte so auseinandergehn:

daö

Christenthum mit der Barbarei und die Wissenschaft mit dem Un­ glauben?" So fragte Schleiermacher vor 25 Jahren seine Zeitgenos­ sen. Er sah im Geist schon die Krisis herannahen, welche Wissenschaft und Christenthum in Streit bringen würde. Er sah schon wie die aufkeimenden Naturwissenschaften alle Dogmen der christlichen Kirche und wie die Geschichtsforschung die ganze evangelische Geschichte in Frage stellen würden; auf der andern Seite aber ein Geschlecht von Theologen, welche sich zur Rettung des Christenthums gegen alle Wissenschaft verschanzen und alle Forschung außerhalb ihrer Verschan­ zungen für satanisch erklären würden. Er werde es nicht erleben, sagte er, er könne sich ruhig schlafen legen; seine jüngeren Freunde aber und deren Schüler und Nachfolger werden die Krisis bestehn und sich entscheiden müssen. An diese richtet er die Frage: wo sie dann stehen würden. Von ihnen könne er keinen sich denken, welchen die Krisis unter die Zahl jener finstern sich verschanzenden antreffen werde. Wie aber würden sie sich stellen? Würden sie etwa den Ausweg er­ wählen ihr Christenthum durch die Wissenschaft von allem göttlichen Offenbarungsgehalt entkleiden und einen Jesum sich gefallen lassen, der als Weiser von Nazareth oder als ein simpler Landrabbiner umgeht; oder den andern, von den Begriffen einer hochtönenden Spekulation ihren Glauben zu Lehn zu nehmen? Er für seine Person könne von keinem der beiden Wege Gebrauch machen, ihm sei der Glaube ein andres und habe anderswoher seine Gewißheit. Er habe die Zuversicht, daß in der Reformation der Grund gelegt sei zu einem „ewigen Ver-

92

Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

trag zwischen dem lebendigen christlichen Glauben und der nach allen Seiten freigelassenen unabhängig für sich arbeitenden wissenschaftlichen Forschung, sodaß jener nicht diese hindert und diese nicht jenen aus­ schließt; es thue nur Noth, daß wir zum bestimmteren Bewußtsein der Aufgabe kommen, um sie auch zu lösen. Was Schleiermacher voraussah, ist schnell in Erfüllung gegangen, weit über die Ahnung hinaus. Die kritische Schule der Geschichts­ forschung ist bei dem simplen Landrabbiner nicht stehn geblieben: von ihren Führern haben etliche Jesum nicht nur seines königlichen Ge­ wandes entkleidet, sondern sein ganzes Bild in ein Nebelbild und die ganze evangelische Geschichte in eine Mythologie verwandelt.

Die

Naturwissenschaften schwellen in mächtiger Fluth wider die Dämme des Christenthums, sie begnügen sich nicht mehr die Außenwerke anzuspülen, sondern gedenken seine Fundamente hinwegzuschwemmen. Nicht' nur Wunder und Weissagungen, nicht nur Himmel und Hölle werden in die Rumpelkammer des Aberglaubens geworfen: ihre Heroen verkündigen auch, daß sie in dem Weltenraum mit ihren Fernröhren einen Gott nicht gefunden, und mit dem feinsten anatomischen Messer in dem Leibe nicht die Seele. Die Spekulation aber hatte dieselben Resultate schon früher auf kürzerem Wege gewonnen: nach dem Maße philoso­ phischer Voraussetzungen hat sie alle Jenseitigkeiten und Ueberweltlichkeiten gestrichen und alle Höhen des Christenthums abgetragen, daß der Weg der Weltgeschichte recht eben werde für das gebrechliche Geschlecht dieser Zeit. Und jenes Geschlecht der Theologen? —Nun die „ dunklen Larven" über .welche Schleiermacher den Boden sich heben sah, sind längst „ausgekrochen", und fliegen in großen Schwärmen am Kirchen­ himmel mit dem eintönigen Ruf „Bekenntniß" „Bekenntniß". Mit diesem Geschrei tragen sie alle Wissenschaften zu Grabe. Mit dieser Mauer verschanzen sie alle Zugänge ihres Christenthums so gründlich, daß nicht ein Luftzug der Forschung in ihre heilige Veste einbringen mag. Für Ehre schon gilt es und befähigt zu den höchsten Graden, nichts zu wissen denn das Bekenntniß.

Und noch dunklere unheim­

lichere Gestalten sind wieder aufgestanden aus ihrem Grabe, wir haben die Sturmvögel in unheilverkündendem Flug über die europäische WeltLühne daherziehen sehen, die wir kennen als die geschwornen Feinde protestantischer Freiheit und protestantischer Wissenschaft. Der KonfessionalismuS hat längst mit der Wissenschaft gebrochen, der Ultra­ montanismus hat nie selbständige Wissenschaft anerkannt: und beide sind

oben aus in beiden Kirchen.

Der Konfesstonalismus und der

Vorwort d.Protest K,-Z beim Beginn ihre« Erscheinen« (1854).

Ultramontanismus haben einen Bund gemacht:

93

sie wollen die neuere

Bildung vom Erdboden vertilgen, wie weiland die Juden thaten den Kanaanitern. Denn nicht wird Friede sein im heiligen Lande, nicht Sicherheit vor Ansteckung der Auserwählten Gottes, bis daß von dieser losen Verführerin die letzten Erinnerungen hinausgethan sind. Auf den Kanzeln und theologischen Lehrstühlen soll allein herrschen die alte kirchliche Dogmatik, und vor dieser Theologie sollen sich beugen oder schweigen die Naturwissenschaften, die Geschichte und die Philosophie; und in den Schulen sollen Lehrende und Lernende wiederum sich nähren an der Weisheit alter kirchlicher Formeln.

Nicht die Wissenschaft

allein, die ganze Bildung und Sitte, das bürgerliche und gesellige Leben, auch die Kirchen- und Staatsregierungen sollen ihr Gesetz empfangen von einer veralteten Rechtgläubigkeit durch die Hand einer alleinherr­ schenden Priesterschast.

Sie Habens nicht übel im Sinn, und machen

Anstalt es auszuführen. Soll denn der Knoten der Geschichte wirklich so auseinandergehen, das Christenthum mit der Barbarei, und die Bildung mit dem Un­ glauben? So dringt die Frage mit doppeltem Ernst an unser Ohr. An die nachlebenden Genossen des großen Mannes, der der evangelischen Kirche und Theologie eine neue Richtung gegeben, an alle diejenigen welche an der neuen Richtung der Theologie und Kirche irgendwie seine Mitarbeiter sind, richtet die Gegenwart viel dringlicher und unabweislicher die Frage: soll so der Knoten der Geschichte auöeinandergehn, und — wo habt ihr in der Krisis euren Stand? Wir unserntheils haben eine frische und fröhliche Antwort bereit. Und da es denn nun so üblich geworden, wollen wir auch einmal unser Bekenntniß thun. Der alte Friesenkönig Radbod, der nach langem Widerstreben sich endlich zur Taufe entschloß, fragte noch, als er schon den einen Fuß inö Wasser gesetzt hatte, den Priester ob er denn im Himmel auch seine Vorfahren wiederfinde; und als er vernahm, daß diese als ungetaufte Heiden der ewigen Verdammniß anheimgefallen seien, zog er den Fuß zurück; denn er wollte lieber mit seinen tapfern Ahnen in der Hölle sein als mit einigen armen Priestern im Himmel.

Und in

Amerika von den Eingebornen einer, der unter den spanischen Metze­ leien zur Ehre Gottes gefallen war, dafür aber sterbend noch auf dem Schlachtfelde von den mitziehenden Priestern schleunigst durch die Taufe in den Himmel befördert werden sollte, da er auf seine Frage vernahm, daß auch die Spanier im Himmel seien, bat um Gotteswillen ihn mit

94

Sammlung ausgewählter Schrifttz ilcke.

der Taufe und mit dem Himmel zu verschonen. Und beide hatten doch solchem Christenthum gegenüber einigermaßen Recht. Fürwahr wäre wirklich- der Christenhimmel so eng, daß die hervorragenden Geister unsrer Nation,

auf welche wir stolz sind, unwiederbringlich draußen

bleiben müßten, weil sie den Stempel der alleinseligmachenden Dogmatik nicht an sich tragen, und nur die kleinen Seelen Platz darin hätten, welche alles Große und Edle, das die Nation erzeugt hat, die großen Männer, die großen Gedanken und die großen Thaten lästern:

wir

zögen den Fuß zurück, wir wollten nicht hinein in diesen Himmel; denn wir müssen da sein, wo die auch sein können, von denen wir unsre Bildung haben und mit denen unser Denken und Empfinden durch unzählige Fäden unauflöslich verwachsen sind, wir können sie für unsre Seligkeit nicht entbehren. Wäre wirklich das das Christenthum, daß man alle Freiheit und Wahrhaftigkeit der Forschung vernichten und die Vernunft in die barbarische Knechtschaft kirchlich

gegebener

Satzungen zurückführen müßte: wir möchten mit diesem Christenthum nichts zu schaffen haben. Und umgekehrt ebenso. Wäre wirklich das die rechte Höhe der Wissenschaftlichkeit, daß man Gott für die schwache Vorstellung eines noch unentwickelten Denkens und alle Religion für Wahngebilde eines untergeordneten Standpunktes und die ganze Ge­ schichte des Christenthums für die Geschichte der großartigsten mensch­ lichen Verirrung erkennen müßte, wäre wirklich nur da die wahre Freiheit der Wissenschaft, wo man alle Glaubensgegenstände über Bord geworfen und von allem Glauben gründlich sich frei gemacht hätte: wir müßten Verzicht leisten auf alle Wissenschaftlichkeit und ihre Freiheit. In der Lage indeß befinden wir uns nicht.

Wir haben nicht

nöthig uns so zu entscheiden, daß wir uns stellen müßten entweder auf die Seite einer ungläubigen Wissenschaft oder eines wissenschaftfeind­ lichen Glaubend. Wir verzweifeln weder an der Wissenschaft noch am Glauben. Wir haben auch nicht nöthig nach jenen schwächlichen Aus­ wegen zu suchen, die überdies 'bereits veraltet und verachtet sind. Wir glauben an den ewigen Vertrag zwischen dem lebendigen christlichen Glauben und der freien Wissenschaft; und über­ lassen dem Unglauben und dem Aberglauben das Bündniß mit der Barbarei.

Wir gedenken von der Freiheit der wissenschaftlichen Be­

wegung und ihren Früchten nicht das mindeste uns rauben zu lassen, und sind doch gewiß, daß wir an der Lebendigkeit unsres Glaubens nicht Einbuße erleiden.

Im Gegentheil je lebendiger unser Glaube,

desto freier wird er das Wissen lassen; und je gründlicher von der

Vorwort b Protest. K.-Z. Beim Beginn ihres Erscheinens (1854).

95

Freiheit der Wissenschaft Gebrauch gemacht wird, .desto gewisser wird sie zur Lebendigkeit des Glaubens beitragen.

Der rechte

lebendige

Glaube verträgt sich nickt nur, er berechtigt; er fordert, er erzeugt die freie Wissenschaft. Die rechte volle freie Wissenschaft zerstört nicht den Glauben, sondern führt überall auf den Glauben als ihre Ergänzung und Voraussetzung; nur halbes Wissen führt zum Unglauben. Wir glauben an Jesum von Nazareth, wie ihn die Schrift ver­ kündigt,

als an den Christ Gottes, in welchem der Menschheit die

Versöhnung geworden. Wir glauben, daß in dieser wahrhaft natürlichen, wahrhaft menschlichen, wahrhaft geschichtlichen Person Jesu doch ein übernatürliches übermenschliches und übergeschichtliches Leben d. h. ein neues göttlich ursprüngliches religiössittliches Leben, welches die vor­ handene Welt mit der ganzen Summe ihrer natürlichen unv geschicht­ lichen Kräfte aus sich nicht erzeugen konnte, in die Menschheit und ihre Geschichte eingetreten ist, und von ihr aus sich fort und fort über die ganze Geschichte der Menschheit ergießt. Aber wir wollen nicht, daß der Wissenschaft irgendwie verwehrt werde an diese Thatsache unsres Glaubens forschend und prüfend heranzutreten; ja wir fordern es von der Wissenschaft, daß sie mit allen ihr zu Gebote stehenden Mitteln die geschichtliche Wirklichkeit derselben ermittle, und die Wahrheit des Er­ mittelten mit allen ihren Begriffen zu begreifen versuche. Die Geschichtsforschung soll mit der ganzen Schärfe der Kritik sich die Urkunden unsres Glaubens ansehn auf ihre Entstehung, Er­ haltung und Zusammenstellung, auf ihre Form und ihren Inhalt, und soll prüfend eindringen bis in ihren Mittelpunkt, die Gestalt der Person Jesu: mag dahinfallen waö vor der Wahrheit nicht bestehen kann, der lebendige Glaube bereichert sich nicht auf Kosten der Wahrheit. Wir sind der guten Zuversicht, der wissenschaftlichen Zuversicht, daß aus dem Schmelztiegel der schärfsten Kritik die Urkunden unsres Glaubens im Wesentlichen als geschichtlich treue glaubwürdige Zeugnisse und der wesentliche Inhalt der evangelischen und apostolischen Geschichte als wirkliche geschichtliche Thatsachen hervorgehn werden, und daß es über­ wiegend philosophische oder sittliche Borurtheile sind, welche vielfach das entgegengesetzte Ergebniß zu Tage bringen. Möchte es aber auch der Kritik überzeugender gelingen als eö ihr bisher gelungen, ist die That­ sachen hinwegzuräumen und alle geschichtlichen Zeugnisse schwankend zu machen: Er der Heiland der Welt bliebe unS dennoch stehen unentweiht. Wenn die Geschichtlichkeit der Zeugnisse fiele: würde die Weltgeschichte ihre Wahrheit beweisen.

Was die Kritik an Zeugnissen hinwegräumt.

96

Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

müßte die Geschichte an Thatsachen wiederherstellen. sunde Geschichtsbetrachtung braucht für

Denn eine ge­

den achtzehnhundertjährigen

weltbeherrschenden weltbildenden Baum des Christenthums ein Faktum als Wurzel, das stark genug ist diese Last zu tragen. Echte Geschichtforschung führt zum Glauben. Die Naturwissenschaften sollen fortfahren alle Dinge zu erkennen, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind, sie sollen immer reichere Kenntniß gewinnen von der unendlichen Mannigfaltigkeit und Veränderlichkeit der Erscheinungen, immer tiefere Einsicht in ihre Ursprünge, Gesetze und Kräfte; sie sollen unverwehrt daran gehn mit ihren reicheren Erkenntnissen wunderbare Erscheinungen begreiflich zu machen, kindliche Vorstellungen der biblischen Urkunden über die Natur zu berichtigen, Sätze der herrschenden Dogmatik umzustoßen und her­ kömmliche Vorurtheile aus den Gemüthern zu beseitigen: sie sind nicht Feinde unsres Glaubens, sie sind unsre Bundesgenossen, wir danken ihnen für jede Bereicherung unsrer Erkenntniß, für jede Berichtigung einer Vorstellung und für jede Ausrottung eines Vorurtheils.

Denn

der lebendige Glaube, der da erleuchtet und heiligt, arbeitet selber un­ ablässig daran Unwissenheit und Vorurtheil hinwegzuschaffen. Mögen manche Dogmen und viele hergebrachten Vorstellungen dahinfallen: mit falschen Vorstellungen und schlechten Dogmen fällt nicht der lebendige Glaube. Den Glauben sollen sie uns wohl unangetastet lassen. Der Glaube ist erhaben über die Vorstellungen, die sich ihm angesetzt haben; der Glaube ist unzugänglich für die Angriffe der Naturwissenschaften. ES ist noch gar nicht Wissenschaft, sondern nur die Anmaßung des Halbwissens, wo Naturforscher aus dem Bewußtsein einer gewissen Summe von Kenntniffm und Geschicklichkeiten demjenigen, was sie in ihren Retorten und mit ihren Messern nicht entdecken das Dasein ab­ sprechen. Wo die Naturforschung zur Wissenschaft wird, wo sie die Summe ihrer Kenntnisse zu einem organisch gegliederten Ganzen der Naturerkenntniß verarbeitet: da erkennt sie überall auch die Grenzen ihres Gebietes, und wird inne, daß der ganzen Natur Uebernatürlichkeiten und Geistigkeiten sowie aller Naturerkenntniß Glaubenssätze alö Voranösetzungen zu Grunde liegen. Wissenschaftlich tiefe Naturforschung neigt zum Glauben. Die Philosophie soll tiefer und tiefer den vernünftigen Zusammen­ hang aller Dinge ergründen vom Wesen Gottes herab bis an die Grenze des Nichts; sie soll auch den christlichen Glauben mit allen seinen Thatsachen und Wahrheiten in den Kreis ihres Begreifens zieh»:

Vorwort b- Protest K.-Z. beim Beginn ihres Erscheinens 1854.

97

der rechte christliche Glaube wehrt ihr nicht, er fordert von ihr be­ griffen zu werden, und weiß ihr Dank für jeden reineren Begriff, den sie ihm bietet zu besserem Verständniß seiner selbst. Der christliche Glaube ist sich bewußt nicht außerhalb der Vernunft oder im Wider­ spruch mit der Vernunft zu stehn, sondern vielmehr als Mittelpunkt der göttlichen Offenbarungen den Mittelpunkt aller Vernünftigkeiten abzugeben. Mögen immerhin allerhand Philosophien es unternehmen die Vernunftwidrigkcit des Christenthums nachzuweisen und die Wirk­ lichkeit der Gegenstände des religiösen Glaubens in Abrede zu stellen: der lebendige Glaube wird in der Gewißheit seines Lebens lächelnd zuschauen, wie ein wirklicher Mensch dem Beginnen des Dialektikers, der ihm sein leibliches Dasein wegdisputiren wollte.

Es ist eine Ver­

irrung der Philosophie und kaum noch Philosophie zu nennen, wo man so aus ein paar armseligen Abstraktionen ein hölzernes Maß sich zu­ sammenzimmert und über demselben die herrlichen Pflanzungen Gottes mit ihrer grünen saftigen Wirklichkeit gedankenlos niedermäht.

Echte

Philosophie entwickelt ihre Vernunft an der Vernunft der wirklichen Welt, und setzt alle ihre Vernunft darein, die in der Welt der Wirk­ lichkeit sich offenbarende ewig göttliche Vernunft zu begreifen; und wo die Thatsachen der Natur und des Geistes und der Geschichte mit ihren Begriffen nicht zusammenstimmen, da merkt sie, daß ihre Begriffe nicht taugen, und denkt darauf sie zu bessern. Echte Philosophie steht demü­ thig bewundernd still vor der reichen göttlichen Welt des Christenthums, und setzt alle Kräfte daran diese großartige Wirklichkeit zu begreifen, statt sie zu schmähen oder zu leugnen. Wir haben die gute Zuversicht, die gesunde Philosophie werde das Christenthum aus dem Wesen Gottes als seine wahrhaftige Offenbarung und aus dem Wesen der Menschheit als seine wahrhaftige Erfüllung begreifen. Denn das Christenthum ist uns die Religion der menschlichen Vernunft. WaS widervernünftig und unvernünftig ist: kann und soll niemals Inhalt des Christenthums sein; und was wahrhaft und wesentlich zum Inhalt deS Christenthums gehört, kann und wird vor jeder vernünftigen Ver­ nunft bestehn.

Tiefe Philosophie ist stets im Bunde mit dem christ­

lichen Glauben. Der lebendige christliche Glaube, wo er zur Herrschaft gelangt ist, hat noch immer die freie Wissenschaft erzeugt und gepflegt und zur Blüthe gebracht; und wo die Wissenschaften zu Grunde gingen oder unterdrückt wurden, da war stets der Geist Christi auö dem Christen­ thum gewichen: wie sollte es in der Natur der Wissenschaft liegen, Spaetl),

Protestantische Bausteine.

7

98

Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

ihren eignen Ursprung zu vernichten. Die freie Wissenschaft und der christliche Glaube sind gute Freunde: volle Selbstgewißheit des Glaubens und volle Freiheit der wissenschaftlichen Forschung in Einheit machen die volle Vernünftigkeit einer Person. Und wie mit der freien Wissenschaft: so hat der lebendige christliche Glaube einen ewigen Vertrag gemacht mit aller vernünftigen Freiheit. Das Christenthum hat noch überall wohin es gedrungen ist alle Art von Freiheit erzeugt. Die Freiheit der Person und des Eigen­ thums, die Freiheit des Gewissens und Denkens, die Freiheit des bür­ gerlichen Lebens und des öffentlichen Verkehrs, die Selbständigkeit der Staaten und die Selbständigkeit der Kirche: sie sind alle unzweifelhaft hervorgegangen aus dem Mutterschooße des lebendigen christlichen Glaubens. Wo dieser nicht war, da sind alle diese Freiheiten nicht entstanden.

Und wo

diese Freiheiten innerhalb des

Christenthums

wieder untergegangen, wo jemals im Namen des Christenthums die bürgerliche und kirchliche Selbständigkeit vernichtet, die freie Bewegung des Gedankens und des Gewissens und der Rede verhindert worden sind, da war stets der Geist des Christenthums entwichen, wie christ­ lich man sich auch geberden mochte. Wie sollte jemals die Freiheit den Glauben vernichten, wenn es die Natur des lebendigen Glaubens ist, alle Freiheit zu erzeugen. Der Glaube scheut keine Freiheit, sondern liebt die Freiheit. Der Glaube verträgt nicht nur, sondern berechtigt und fordert alle Freiheit. Freiheit gehört zum Wesen des Glaubens. Die erlösende Kraft des Glaubens ist eben die wahre religiöse Befreiung der vernünftigen Persönlichkeit von den niedern Mächten der Natur und des Buchstaben­ gesetzes. Und nur -darum weil er den Menschen in seinem persönlichen Centrum freimacht, konnte der Glaube, darum aber auch mußte er, wo er lebendig war, stets alle persönliche und öffentliche Freiheit aus sich hervorbringen. Und darum kann auch nur da und solange alle per­ sönliche und öffentliche Freiheit wahrhaft bestehen bleiben, wo sie auf der sittlich-religiösen Freiheit des lebendigen Glaubens beruht. Nicht die Freiheit, nicht die ungehinderte Entfaltung aller sittlichen Mächte aus ihrem Wesen heraus, tritt irgendwie mit dem lebendigen Glauben in Widerspruch, das thut nur die zügellose unvernünftige Willkür, welche auch von Gott und aller göttlichen Ordnung los sein will. Freiheit und Glaube sind stets beisammen.

Je gläubiger d. h. gottgebundener

ein Mensch ist, desto selbständiger wird er sein gegenüber allen Mäch-

Vorwort d. Protest.

ten der Welt.

K--Z.

beim Beginn ihres Erscheinens 1854.

99

Volle Gottgebundenheit und volle persönliche Selbstän­

digkeit gegen alle Mächte der Welt: das macht eine gesunde und ganze Persönlichkeit. Wir stehen im lebendigen Glauben, aber unser Glaube steht im Bunde mit aller Vernunft und mit aller Freiheit. Wir bekennen uns zu dem vollen ganzen Christenthum, wie eS in der

apostolischen Predigt uns geboten wird.

Aber das

apostolische

Christenthum ist uns weder ein Hinderniß der freien Forschung, noch ein Gesetzesbuchstabe für die Gestaltung unsres Lebens. Und wir sind gewiß, daß bei der freisten Bewegung des Denkens und der freisten Gestaltung des sittlichen Lebens das apostolische Christenthum in seiner grundlegenden urbildlichen Bedeutung niemals geschwächt, sondern stets nur verklärt hervorgehn werde. Wir bekennen uns zu dem Christenthum der Reformation

aus

ganzem Herzen als einer neuen That des lebendigen christlichen Glau­ bens. Zu der That eben, die aus der inneren Freiheit des Glaubens die Person und das Gewissen und den Gedanken und den Staat und die Kirche wieder freigemacht hat von der Knechtschaft der herrschenden Hierarchie. Aber darum sind wir auch gesonnen uns niemals das reformatorische Christenthum wieder zu einem Gesetze werden, niemals die Anschauungen der Reformatoren als ein Gesetz für unser Denken und Lehren, niemals ihre Einrichtungen als ein Schema für unser sittliches Handeln uns wieder auflegen zu lassen; sondern allezeit aus dem Geist, der die Reformatoren weckte und trieb, uns frei zu verhalten zu ihrem Werk. Und sind überzeugt, daß, was auch fallen möchte von von ihren Gedanken und ihren Institutionen, die religiösen Principien, aus denen sie die große Befreiungsthat gethan, werden unwandelbar bleiben müssen die Grundlagen der neuen Weltgeschichte. Wir bekennen uns zu dem Christenthum der Union als der legi­ timen Fortsetzung der großen reformatorischen That.

Richt zur Union

einer formulirten Lehreinheit oder einer Cultusuniformität oder einer Kirchenregimentskonföderation; nicht auch etwa ausschließlich nur zu der Union in der bestimmten Form, wie sie hie und da rechtskräftig zu Stande gekommen ist: sondern vor allen Dingen zu der Union in ihrem Wesen, wie sie überall, mag sie äußerlich vollzogen sein oder nicht, in den Gemüthern der deutschen evangelischen Christenheit that­ sächlich herrscht und sich ununterbrochen vollzieht, als die ungehinderte und ungetrübte Gemeinschaft des Glaubens bei aller Verschiedenheit und Mannigfaltigkeit eigenthümlicher

und consessioneller Gestaltung. 7*

100

Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

Zur Union eben darum als der Freiheit der Gestaltung nicht nur für die freien sondern auch für die noch gebundenen; zur Union welche alle Elemente der ganzen christlichen Kirche allmählig zur Glaubens­ gemeinschaft zu gewinnen trachtet. Wir bekennen uns zu dem Christenthum nicht nur in seinen hohen und freiew und glaubensstarken Erscheinungen, sondern auch zu dem Christenthum in aller Schwäche, Einseitigkeit und Verhüllung, wofern nur noch Elemente christlicher Wahrheit und christlichen Lebend wahr­ zunehmen. Wir bekennen uns zu dem Christenthum noch weit über die Grenzen der Union hinaus. Wir können auch dem Kousessionalismus und dem Ultramontanis­ mus, so sehr wir ihnen feind sind, nicht schlechthin die Christlichkeit absprechen wollen;

denn wir erblicken in ihnen Elemente christlicher

Wahrheit. Der redliche Konfessionalismus sorgt um die Erhaltung der christlichen Wahrheit und der kirchlichen Ordnung, und greift nur in der Schwachheit des Glaubens zu Mitteln des Gesetzes, das zu er­ reichen was allein die Freiheit des heiligen Geistes bewirken kann. Der Ultramontanismus ist nur die Versteinerung und Karikatur der Idee der christlichen Kirche als der von Staatsmächten unabhängigen über alle territorialen Grenzen 'hinausreichenden die Menschheit umfassenden in sich einigen christlich-religiösen Gemeinschaft, und hat die Mission diese Idee der allgemeinen heiligen christlichen Kirche der Welt solange in seiner Karikatur vorzuhalten, bis die protestantische Christenheit sie begriffen haben und darangehn wird sie in verklärter Gestalt zu verwirklichen. Selbst all das unkirchliche und unchristliche Christenthum mögen und können wir nicht schonungslos verwerfen, das zeitweilig gar keinen sichtbaren äußern Zusammenhang mit der Kirche und mit dem Chri­ stenthum zeigt oder wol gar sich ungeberdig stellt gegen daö Christen­ thum, und doch mit dem Christenthum zusammenhängt: da nämlich wo wahrhaftige treue Seelen um einer bestehenden schlechten Erschei­ nungsform willen das Christenthum oder sich selbst oder beides so miß­ verstehn, daß sie sich im Widerspruch mit demselben zu befinden wähnen. Denn wo wahrhaftiger Trieb nach Erkenntniß der Wahrheit, wo wahr­ haftig ein Trieb sittlicher Freiheit gefunden wird: da ist stets noch ein Zug vom Christenthum her oder zum Christenthum hin als dem Mittel­ punkt aller Wahrheit und Freiheit; da ist viel mehr Christenthum noch oder schon, als wo man bei allen christlichen Formen und Dogmen das Auge willkürlich gegen die Strahlen der Wahrheit und das Herz gegen

Vorwort d. Protest. K.-Z. beim Beginn ihres Erscheinens 1854.

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die Freiheit verschließt, und wird über kurz oder lang zu seinem Mit­ telpunkt sich zurecht finden. Wir bekennen uns nach dem Vorgang des Apostels zum starken und zum schwachen, zum freien und zum gebundenen Christenthum; wir bekennen uns zum innerkirchlichen und außerkirchlichen, wir bekennen uns zu dem weltgeschichtlichen alle Menschen und Völker und

alle

Verhältnisse mit oder wider ihren Willen beherrschenden Christenthum. Unser Christenthum ist ein freies vernünftiges Christenthum, unser Christenthum ist groß und reich und weltumfassend und hat nicht Raum in dunklen Klostermauern oder in enggeschlossenen Kreisen weniger Formeln und Gebräuche: es bedarf für sich der frischen freien Luft deö blauen Himmels und

nimmt in Anspruch

den großen Tempel der

Weltgeschichte. Und dieser christliche Glaube int Bunde mit Vernunft und Freiheit soll die Zukunft der Geschichte erobern, das glauben wir gewiß. Und dieses Glaubens schämen wir uns nicht, sondern gedenken das Evangelium von dem freien vernünftigen Christenthum zu verkündigen aller Welt, den Juden sowie den Griechen. Den jüdischen Geistern, welche die Menschen wieder einsangen wollen unter allerlei Gesetz, den Konfessionellen mit ihrem Gesetz der Rechtgläubigleit, den Ultramontanen mit ihrem Gesetz der Hierarchie, den Bureaukraten mit ihrem Gesetz der äußern Gewalt: wollen wir unablässig nach

allem Vermögen vorhalten die Freiheit der Kinder

Gottes von dem Gesetz und Christum als den Urheber aller Freiheit. Den griechischen Geistern d. h. den gebildeten und wissenschaft­ lichen Verächtern so wie den politischen und socialen Gegnern deS Glaubens wollen wir nicht müde werden das Christenthum nach gan­ zem Vermögen zu predigen als die ewige göttliche Vernunft, die alle menschliche Vernunft erfüllet. An die Juden soll unser Text sein: in Christo ist die Menschheit mündig geworden und frei vom Gesetz.

An die Griechen: in Christo

ist die Menschheit zur Vernunft gekommen. Da habt ihr auch einmal ein Bekenntniß von unS den „Bekenntnißlosen."

Und dazu das andere Bekenntniß: daß wir vielmehr

noch und viel anderes gegenwärtig und zukünftig zu bekennen haben. Und beides nicht ohne dvS dritte Bekenntniß:

daß wir, wiewol wir

zu dem Inhalt unsres Bekenntnisses mit starker Zuversicht halten und all unser Lebtag zu halten gedenken, doch nimmermehr Willens sind au irgend eine Formel dieses oder irgend eines anderen Bekennt-

Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

102

nisses uns binden zu lassen, sondern, wie jedes menschliche Bekenntniß, so auch dies unser gegenwärtiges Bekenntniß und jedes unsrer zukünf­ tigen Bekenntnisse in

allen seinen Theilen bis in den Grund und

Mittelpunkt stets von Neuem frei zu prüfen und zu bessern uns vor­ behalten. Gott sei Dank, es sind in deutschen Landen Männer genug die durch allen Bekenntnißlärmen und

durch

allen Hohn vermeintlicher

Wissenschaftlichkeit sich nicht irre machen lassen, und treu sich bewahren die Einheit ihres christlichen Glaubeits mit Bildung und Freiheit. Aber sie haben zumeist nicht geredet von ihrem heiligen Schatz, höchstens die Männer der Wissenschaft in wissenschaftlichen Werken und die prakti­ schen Leute am Leben der That ihn bekundet, im übrigen verharrend in der stillen Seligkeit gewissenhaften Forschens und gewissenhaften Handelns.

Und

das

in dem richtigen Glauben, daß die mächtige

Wahrheit über den reaktionärsten Lärmen und die radikalsten Verirrun­ gen dennoch den Sieg behalten werde. Das mag eine Zeit in der Ordnung gewesen sein, jetzt nicht mehr. Die Gegner des freien vernünftigen Christenthums sind praktisch geworden. Die reaktionären Geister greifen die Institutionen des freien Protestantismus, die radikalen alle christliche und göttliche Ordnung mit der That an. Und sie betreiben ihr Zcrstörungswerk mit um so größerer Geschäftigkeit, als sie, die Reaktionären zum Denken, die Radikalen zum Studium keine Zeit verbrauchen. Und würden sie in in ihrem Werk nicht gehindert, so wird zwar die Wahrheit immer den Sieg behalten, aber zunächst über dem Untergang der Männer und der Institutionen, durch welche sie vertreten werden sollte. So ist auch für diese eine Zeit des Bekenntnisses gekommen. Dem Bekenntniß des Unglaubens und dem Bekenntniß der Knechtschaft muß das Bekenntniß des freien vernünftigen Glaubens öffentlich ent­ gegengestellt werden. Die protestantischen Männer freien vernünftigen Christenthums müssen ihren Glauben öffentlich vor allem Volk bekennen: daß das deutsche Volk nicht irre werde an seinem großen Beruf, die Einheit des christlichen Glaubens mit der Wissenschaft und Freiheit für die Welt zu erringen. Sie müssen durch ihr öffentliches lautes Bekenntniß die Einfältigen bewahren vor Verführung, viele edlere Geister aus einseitiger Verirrung gewinnen, viele Leitende in Staat und Kirche stärken, daß sie nicht in Verzagtheit den lärmenden Partheien zur Beute werden. Gebe Gott dem deutschen Volk, das es halte was es hat, daß

Was thut der protestantischen Kirche vor Allem Noth?

ihm niemand die Krone seines Berufes raube.

103

Gebe er uns die

Gnade, daß wir an unserm Theile einige Steine herbei­ tragen dürfen zu dem großen Bau des deutschen Prote­ stantismus.

Was thut der protestantischen Kirche vor Allem Noth?«) Der Unionsverein hat sich eine neue Gestalt gegeben, um seine Aufgaben mit neuer Energie zu ergreifen; und zu seiner Freude haben sich aus verschiedenen Berufskreisen namhafte, ja zum Theil hervor­ ragende Männer seinen Bestrebungen angeschlossen. Da erscheint eö natürlich und geboten, daß in seiner ersten öffentlichen Versammlung der Versuch gemacht werde sich zu orientiren über die allgemeine Lage der kirchlichen Dinge, um daraus die eigene Stellung zu begreifen. Derjenige, welcher den Auftrag erhielt zuerst zu den Vereinsgenossen zu sprechen, mußte sich daher verpflichtet fühlen die kirchliche Lage im Allgemeinen zu beschreiben und die Aufgaben zu bezeichnen, die daraus hervorgehen. Wenn ich nun meine Aufgabe in die Frage zusammengefaßt habe, „was thut der protestantischen Kirche vor Allem Noth": so ist damit die Meinung ausgedrückt, daß unsere Kirche sich nicht im normalen Zustande befinde, sondern in einem solchen, in dem sie nicht verbleiben dürfe. Sie befindet sich in einem Nothstand, in einem Zustande der Krankheit. Will man auf Besserung denken, und die Mittel und Wege erkennen, die dahin führen: so muß man sich zunächst vergegenwärtigen, welches denn der wirkliche Zustand sei, und worin seine Abnormität bestehe.

__________

Die Christenheit der ersten Jahrhunderte war von jugendlicher Begeisterung erfüllt für den neuen seligmachenden Glauben: sie gaben *) Das Folgende ist als • Bortrag im Berliner Unionsverein gesprochen, und zwar zunächst im Hinblick ans unsre preußischen Verhältnisse: Der Inhalt wird sich indeß hoffentlich als von der Art bewähren, daß ihm allgemeinere Bedeutung zu­ kommt auch über Preußen hinaus.

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Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

die Annehmlichkeiten des Lebens willig dahin für die herbsten Ent­ behrungen und bestiegen mit Freudigkeit den Scheiterhaufen, um durch ihren Marthrertod den Glauben zu verbreiten.

In der Blüthezeit des

Mittelalters vermochte die enthusiastische Predigt einzelner GlaubenShelden ganze Nationen zu entstammen und große Heere zusammen zu bringen, die in den Orient zogen, um die heiligen Stätten des Urchristenthums den Händen der Ungläubigen zu entreißen. Für unsere reformatorischen Väter war die religiöse Ueberzeugung und die Refor­ mation des Kirchenwesens das innerste Motiv ihres Lebens und Strebens: sie setzten Gut und Blut dafür ein, denn ihrer Seelen Seligkeit hing ihnen daran. Daß die Kirche in den Herzen unserer Zeitgenossen eine ähnliche Stellung nicht einnimmt, daß eine thatkräftige Begeisterung für ihre Angelegenheiten nicht vorhanden ist, darüber wird Niemand in Zweifel sein. Man wird sich aber auch das Andere nicht verhehlen dürfen, daß von diesen Empfindungen so ziemlich das Gegentheil die herrschende Stimmung ist.

Solche, die wirklich ein volles Verständniß für unsere

protestantische Kirche und ein Herz für ihre Angelegenheiten haben, finden sich selten und vereinzelt, und vorzugsweise unter denjenigen, die von Berufs wegen mit den kirchlichen Thätigkeiten sich befassen. Die Betheiligung an kirchlichen Dingen und insoneerheit an dem öffentlichen Gottesdienst ist ungemein gering: und bei den wenigen, die zu den Kirchlichen gerechnet werden dürfen, wirken selten ganz ungetrübte kirch­ liche Motive. Viele, die um die Kirche eifern, — eifern mit Unverstand. Andere halten es für nützlich, Kindern und llntergcbencn ein heilsames Vorbild zu geben, oder erblicken in der Kirchlichkeit ein brauchbares Moment für konservative Politik. Bei so manchem ist cs nichts weiter als ein Rest alter Anhänglichkeit, ein Nachklang herkömmlicher Sitte aus dem väterlichen Hause. Solche denen die regelmäßige Betheiligung am Gottesdienst in der Gemeinde ein Herzensbedürfniß ist und'un­ entbehrlich wie das tägliche Brod, denen das kirchliche Gemeinwesen als der Mittelpunkt erscheint für das häusliche und öffentliche Leben, sind wenigstens unter den Gebildeten so sparsam vorhanden, daß man sie zählen kann. Die große Mehrzahl der Protestanten/ insonderheit der Gebilceten verhält sich gleichgültig gegen das kirchliche Gemeinwesen. Die kirch­ lichen Gebräuche sagen ihnen nicht zu, die Gesänge und Liturgien schmecken ihnen

nicht,

für die Sprache der Bibel und der meisten

Predigten fehlt ihnen das Verständniß, und der Inhalt der Predigten

Was thut der protestantischen Kirche vor Allem Noth?

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dreht sich um Dogmen und Glaubensvorstellungen, welche weit 6b liegen von dem, was für sie den Mittelpunkt des Denkens und Erkennens bildet. Kurz das ganze Kirchenwesen mit allen seinen Thätig­ keiten wird von ihnen als ein Mißklang empfunden im Verhältniß zu den herrschenden Sitten und Vorstellungen, als eine fremdartige ver­ altete Institution, die auf ihr Leben und Denken keinen Einfluß hat, und mit der sie daher in Berührung zu kommen vermeiden, außer wo gewisse bürgerliche Nothwendigkeiten sie dazu nöthigen. Unsere Kirche ist mit der herrschenden Bildung offenbar in eine Spannung gerathen. Dazu kommt, daß die Wissenschaften sich völlig emanzipirt haben von dem Einfluß der Theologie. Mit dem, was als protestantische Kirchenlehre gilt, gerathen alle Wissenschaften in Konflikt: die Geschichte mit den historischen Fundamenten des Urchristenthums, die Philosophie mit den traditionellen Dogmen, und die Naturforschung mit allem, was Bibel und Kirche über die Natur und ihre Vorgänge vortragen. Ja der Konflikt hat einen Grad der Spannung erreicht, wo er als unversöhnlich erscheint. Ein moderner philosophischer Radi­ kalismus hat das ganze Gebiet der Religion verworfen als eine Illu­ sion, in welcher die Menschheit einige tausend Jahre befangen gewesen, und die vor der Klarheit unseres Denkens in Nichts zerrinnen müsse. In den Naturwissenschaften herrscht weit und breit der Materialismus, der alle Jenseitigleiten, alle idealen Mächte auS dem Reich der Existenz streicht. Diese Ausläufer der Wissenschaft mit ihrem praktischen An­ hang verhalten sich feindselig zu Kirche und Christenthum, denn sie erblicken in diesem positive Hindernisse für die fortschreitende Bildung. Und ihre Gegnerschaft bewirkt, daß auch die große Masse der Indiffe­ renten aus ihrer Passivität sich durch nichts herausbringen läßt. Das ist der thatsächliche Bestand. Ein mäßiger Bruchtheil kirch­ lich, darunter nur einzelne mit vollem Herzen und vollem Verständniß. Die große Mehrzahl der Gebildeten gleichgültig und passiv. Notabi­ litäten der Philosophie und namentlich der Naturforschung positiv feindselig. Die Kirche ohne erheblichen Einfluß auf häusliches und öffentliches Leben, vielfach verachtet und geschmäht. Ist daS die Stellung, welche unserer protestantischen Kirche gebührt? Ich bitte mich ja nicht mißzuverstehn, ich bin weit entfernt, eine Re­ stauration der Kirche und ihrer Stellung zu wünschen weder nach dem Muster des Mittelalters noch nach dem Maße der apostolischen oder reformatorischen Zeit. In jeder dieser Epochen war die Stellung mit Einseitigkeiten behaftet, die mit Recht der Vergänglichkeit anheimgefallen

106 sind.

Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

Ich behaupte nichts weiter, als daß die Stellung der Kirche eine

andere werden müsse; die gegenwärtige ist unwürdig, ist unerträglich. In einem gesund organisirten Gemüth bildet die Gottesfurcht das Centrum, in welches alle Wahrnehmungen und Erlebnisse münden, und aus welchem alle Thätigkeiten ihre Weihe und Kraft empfangen. Ver­ hält es sich anders, so ist die volle Gesundheit nicht vorhanden. Daraus erhellt die normale Stellung des religiösen Gemeinwesens der Kirche. Die Kirche, welche berufen ist in den jungen Gemüthern die Keime der Gottesfurcht zu pflanzen, der es obliegt die Gemeinde der Mündigen zur Andacht zu leiten, das Gottvertrauen und die sittlichen Gesinnungen in der Christenheit zu pflegen, sie muß eine centrale Stellung einneh­ men gegenüber allen andern Lebensgebieten. Nicht soll sie etwa das häusliche oder bürgerliche Leben an sich reißen, nicht soll sie die Wis­ senschaft knechten oder gar mit Politik sich befassen: sie soll sich schlech­ terdings darauf beschränken religiöses Leben und sittliche Gesinnung zu erzeugen und zu nähren; aber das soll sie so thun, daß die Wirkung des gottesfürchtigen Gemüths und die Strahlen der sittlichen Gesinnung bis in die äußersten Kreise des Lebens weihend und kräftigend hinein­ dringen. Das ist die ihr gebührende Stellung. Diese muß die protestan­ tische Kirche haben

oder doch wieder erringen.

Kann sie die nicht

erringen, so soll sie aus der Zahl der Lebendigen gestrichen werden. Denn nur so hat sie ein Recht zu existiren. Wir sind der Ueberzeugung und der gewissen Zuversicht, daß unsere protestantische Kirche diese centrale Stellung wieder gewinne» wird. Unser persönliches und häusliches, unser nationales Leben und die ganze neuere Kultur ruhen aus christlicher Gottesfurcht; die ganze neue Welt mit allem, was sie Schönes und Erhabenes besitzt, müßte in Trümmer zusammenbrechen, wenn diese Lebenöwurzel, die christliche Got­ tesfurcht jemals könnte vernichtet werden. Die Männer des modernen Kirchenthums wissen ein einfaches Mittel: das heißt Umkehr der Wissenschaft. In Gotteö Namey muß man frisch dem zerfahrenen subjectivistischen Zeitgeist entgegen­ treten und die alten Autoritäten aufrichten.

Wiederherstellung

der reformatorischen Bekenntnisse in ihrer vollen Verbindlich­ keit und Besetzung aller theologischen und kirchenregimentlichen Aemter mit bekenntnißtreuen Männern — das wird helfen. Wird das helfen?

Man muß ihnen zugcstehn, daß sie sich bei

uns in Preußen redlich bemüht haben dies Shstem zu verwirklichen:

Was thut der protestantischen Kirche vor Allem Noth?

107

aber wenn es ihnen auch noch besser gelingen könnte als bisher, wir müssen dennoch die Frage wiederholen, wird das helfen? Wie läßt es sich denn ausführen? • Sie wollen die alte Verbind­ lichkeit der Bekenntnisse.

Gelten denn in der evangelischen Kirche die

Bekenntnißschriften für untrüglich? — „Nein". — Nun wie kann man sich denn auf Lehrschriften, die nicht untrüglich sind, verpflichten? — „ Grade so, sagen sie, wie der Richter verpflichtet ist nach Gesetzen sein Urtheil zu sprechen, die er in vielen Stücken für mangelhaft hält."— Nun wir dachten immer, es bestehe ein gewaltiger Unterschied zwischen dem Richter und dem Geistlichen: der Richter habe gar keine Veran­ lassung die bestehenden Gesetze mit seinen Ueberzeugungen in Einklang zu wissen; von dem Geistlichen dagegen, der berufen ist die göttliche seligmachende Wahrheit zu verkündigen, erwarte jedermann mit Recht, daß er kein Wort rede, das nicht zugleich seine persönliche Ueberzeugung ist.

Doch abgesehen von diesem Unterschied, wenn doch die Bekennt­

nisse verbesserlich sind, wie wollt ihr die Verbesserung vornehmen, wo­ fern doch alle darauf verpflichtet sind? — Die Verbesserung ist Sache der Kirche — des Kirchcnregiments," sagen sie. — Also wohl der Landesherren, die ja bei uns das Kirchenregiment haben? — „Mit nichte». Der jetzige Zustand ist ein Fehler des Territorialismus, nach evangelischen Grundsätzen ruht die innere Seite des Kirchenregiments im geistlichen Amt, der geistliche Stand ist der eigentliche Träger des Kirchenregiments, und hat den Beruf in Sachen der Lehre zu ent­ scheiden." Aber ist denn der geistliche Stand untrüglich in der evange­ lischen Kirche? Und wenn er das nicht ist, wer bürgt dafür, daß er die Kirchenlehre der reineren Wahrheit entgegenführt, und nicht etwa weiter ab von den Wegen der Wahrheit?

Was meint Ihr, wenn vor

dreißig Jahren der geistliche Stand in Preußen mit der Revision der Bekenntnisse sich befaßt hätte? Und weiter, wer bürgt dafür, daß die Verpflichtung auf die Bekenntnisse gehalten werde? Die gegenwärtigen Inhaber des Kirchenregiments, die Landesherren? Nun haben wir nicht Landesherren zur Genüge gehabt, welche dem Rationalismus oder der Aufklärung oder der Philosophie huldigten? Oder trägt der geistliche Stand die Bürgschaft in sich selber? Aber wie wäre denn der Ra­ tionalismus in der evangelischen Kirche aufgekommen? Alle protestan­ tischen Lehrer waren damals mit heiligen Eiden auf die Lehren der reformatorischen Bekenntnisse verpflichtet: und dennoch gelangte eine theologische Richtung zur allgemeinen Herrschaft, die der orthodoxen Kirchenlehre bis

in die innerste Substanz entgegentrat.

Nein, mit

Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

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verbesserlichen Bekenntnissen und einer fehlbaren Geistlichkeit läßt sich die Sache nicht machen; ich will Euch sagen, wie Jhr's ausrichten könnt.

Erkläret die kirchlichen Verhältnisse für den unverbesserlichen

Ausdruck der göttlichen Wahrheit und leitet die Kanäle der apostolischen Succession wiederum in die evangelische Kirche, daß der heilige Geist ihrem Lehrstande Unfehlbarkeit verleihe, dann läßt sich's machen. Aber freilich je mehr man sich diesem Ziele annähert, desto weiter entzieht sich der Erfolg. Die Kritik ist nun einmal aufgekommen und in alle Gemüther gedrungen, sie läßt sich durch Machtsprüche nicht rückgängig machen. Die sogenannten Laien bringt kein Mensch wieder unter die Autorität der Bekenntnisse, uud auf die Laien muß es doch abgesehen sein, wenn von Herstellung der Kirche die Rede ist. Diesen braucht man nur einmal das Athanasianum vorzulesen.

„Wer da will

selig werden, der muß den katholischen Glauben haben. Dies ist der katholische Glaube" — und nun folgt eine große Reihe von abstruse­ sten, spitzfindigsten Bestimmungen über die göttliche Dreieinigkeit und das Verhältniß ihrer Person sowie über die göttliche und menschliche Natur in Christo, und dann wird zum Schluß noch einmal versichert, daß Niemand selig werden könne ohne diesen katholischen Glauben. Diesem Bekenntniß unterwirft sich heut zu Tage kein Mensch, er müßte denn durch verkehrtes theologisches Studium die Gesundheit und Nüch­ ternheit des Sinnes völlig verloren haben. Und nun gar erst die Hierarchie — es giebt nichts, was den gebildeten Menschen unserer Tage empfindlicher verletzte und unfehlbarer zurückstieße als der leiseste Anflug hierarchischen Wesens. In demselben Maße als man die Hierarchie in der Kirche wieder herstellt, treibt man die Leute von der Kirche hinweg. Die alten Autoritäten sind einmal gefallen, und keine Macht der Welt ist im Stande sie zwangsweise wieder aufzurichten. Das System ist ja auch völlig unprotestantisch.

Nach den pro­

testantischen Grundsätzen der Reformation giebt es keine fertige Kirchen­ lehrer die Theologie hat sich in stätigem Proceß zu entwickeln, zu entwickeln im Zusammenhang mit allen übrigen Wissenschaften, und jeden Gewinn derselben zur Besserung der kirchlichen Lehre zu benutzen. Es ist unprotestantisch die kirchliche Lehre an eine Formel zu binden, cs ist ein Rückfall in das Princip des römischen Katholicismus.

Es

ist unwahr das^zu thun und unsittlich es nur zu versuchen. Kein wirk­ licher Mensch der Gegenwart, der unsere Bildung in sich aufgenommen hat, ist im Stande sich das Lehrsystem des 16. Jahrhunderts völlig anzueignen, geschweige ein ordentlicher protestantischer Theologe, der den

WaS thut der protestantischen Kirche vor Allem Noth?

109

ganzen Proceß der religiösen Erkenntniß in seinem geschichtlichen Ver­ lauf verfolgt hat.

Alle Motive, ans

welchen

unser

gegenwärtiges

Erkennen fließt, .sind andere geworden seit der Reformation: nicht einen Satz von Bedeutnng vermag ein ehrlicher Mensch aus jener Zeit un­ verändert herüber zu nehmen, der Proceß hat sie alle mit einander in Fluß gebracht.

Es zeugt von llnwahrhaftigkcit, wenn man sich darüber

zu täuschen sucht. Es ist Unglaube auf das Veraltete zurück zu greifen, als ob Gott drei hundert Jabre geschlafen hätte. Gott ist ein Gott der Lebendigen und nicht der Mumien. Nein dies System des veralteten Dogma kann die Kirche nicht wieder bauen. Es fehlt ihm das Leben, der Glaube, die Wahrheit, und es treibt zurück in den durch die Reformation überwundenen Standpunkt der katholischen Kirche. Grade dies System, daß man nämlich in deutschen Landen seit einigen Jahrzehnten mit den alten Autoritäten experimentirt, trägt ja zum großen Theil die Schuld an der zunehmenden Unkirchlichkeit.

Seine schärfere Anspannung, seine

ausschließliche Herrschaft kann den Konflikt nicht heben, müßte ihn mehr und mehr zum vollendeten Bruch erweitern. Im Gegentheil dieser Weg muß vollständig verlassen werden, das ist die erste unerläßliche Bedingung für eine Besserung. Von derselben Richtung gedenken andere es durch den Pietis­ mus zu bewirken. Sie wollen die Erneuerung der Kirche von innen angreifen.

Die einzelnen Seelen sollen zur „Wiedergeburt" geführt

werden; und die Thätigkeiten, durch welche sie an den Seelen arbeiten um sie zu „bekehren", fassen sie gegenwärtig zusammen in den Namen „Innere Mission". Das ganze Land soll mit dem Netz der innern Mission überzogen werden, und von Kirchenverfassnng soll nicht eher die Rede sein können, bis wir Gemeinden haben von Wiedergeborenen in ihrem Sinne d. h. von Pietisten. Ich

will an dieser Stelle nicht ausführen, daß die sogenannte

„innere Mission" — unter welchem Namen übrigens manche treffliche Werke geschehen — seit dem Jahre 1848 als Großes und Ganzes sich in den Dienst der Politik begeben, und damit den Anspruch verloren hat für eine religiöse Thätigkeit zu gelten. Ich will hier auch das Andere nicht sonderlich betonen, daß sie seitdem mit ihren Arbeiten sich keineswegs den Ordnungen der Kirche eingefügt, dieselben vielmehr viel­ fach durchkreuzt und gestört hat, so daß sie nicht als eine Hülfe, we­ nigstens nicht für die bestehende Kirche, vielmehr als eine Schmarozcr-

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Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

pflanze angesehen werden muß, welche den bestehenden kirchlichen Ord­ nungen das Leben aussaugt. innern M'ssion absehen, und

Ich will von beiden Verirrungen der lediglich

den Pietismus

fassen. Da drängt sich mir zunächst die Frage auf: denn die Leute zu ihrem Werk?

in's

Auge

woher nehmen sie

Wenn doch das ganze Land mit Er­

weckten und Bekehrten soll erfüllt werden, wo sind die Arbeiter, wo sind die Bekehrten, die das ausrichten mögen?

Wiedergeborene in ihrem

Sinne kommen doch sehr sparsam vor, und ich zweifle, daß es ihnen gelingen werde eine genügende Anzahl zu beschaffen. Und wenn ihnen das gelänge, wird diesen das Größere gelingen aus unseren protestan­ tischen Gemeinden Pietistengemeinden zu machen? Ich sage mit voller Gewißheit — Nein. Wer sich dieses Ziel steckt, kann es getrost von vornherein aufgeben. Wir Norddeutsche eignen uns schlechterdings nicht zu Pietisten. Wer unsere Christlichkeit davon abhängig macht, daß wir in Pietisten verwandelt werden, der muß an uns verzweifeln, wir werden es nun und nimmermehr. Können wir nicht in anderer Form Christen sein, so bleiben wir Heiden. Und soll die Kirchenverfassung von dieser Voraussetzung abhängen: so ist sie in die Ewigkeit vertagt. Der Pietismus hat ja seine historische Berechtigung und auch eine sittliche. Dem rohen lutherischen Dogmatismus gegenüber wurde das Christenthum in das Innere des Gemüths verlegt, und der Grundsatz bleibt ja richtig, daß das Christenthum für jeden einzelnen Menschen sein lebendiges Eigenthum werden müsse und den ganzen inwendigen Menschen umgestalten. Aber der Pietismus faßt eben daö Christen­ thum ganz beschränkt, und kann darum die Umgestaltung

nicht be­

wirken. Einmal ist er für eine freie Entwicklung der Theologie eben so unempfänglich wie der Confessionalismus: er hat das alte orthodoxe dogmatische System unverändert übernommen, und schneidet sich darum von vornherein jede Einwirkung auf diejenigen Kreise ab, welche unter der Macht der modernen Bildung stehn. Sodann bringt er noch eigne Einseitigkeiten hinzu. Zu der fertigen Kirchenlehre fügt er eine stereo­ type Form der Empfindungen und Gebehrden. Da muß citier nach einem bestimmten

Schema erweckt und wiedergeboren sein und

wo

möglich Tag und Stunde dieser Wiedergeburt angeben können um als Christ zu gelten. Eine tiefe Zerknirschung über die Sünde, das Gefühl der Gottverworfenhcit, ein Bußkampf und Bußkrampf, dann das plötz­ liche Durchbrechen der göttlichen Gnade in unbeschreiblichen Entzückungen

Was thut der protestantischen Kirche vor Allem Noth?

111

und Beseligungcn, das sichere Gefühl der Seligkeit und Gotteskindschaft — dieser ganze Proceß, den wir in den methodistischen Erweckungen wahrnehmen können, muß durchgemacht sein, sonst ist man kein wirk­ licher Christ. Und diesen Empfindungen entsprechen dann ebenso uniforme Phrasen und Gebehrden, die Pietistischen Christen sehen einer so aus wie der andere und reden eine und dieselbe Sprache: wer sich nicht so bewegt und gebehrdet, wer nicht die gottseligen Schlagwörter im Munde führt, sondern die gewöhnliche menschliche Sprache redet, dessen Christenthum ist mindestens zweifelhaft. Darnach theilen sie un­ sere christliche Welt in zwei Classen, in Gläubige und Ungläubige, in Christen und Unchristen, und sie wissen genau, wer zu der einen und zu der andern Classe gehört. So reden sie nicht nur von „christlichen" Schriften im Unterschied von der großen Masse der profanen Literatur, das heißt nämlich Erbauungsschriften und Traktate, sie kennen auch „christliche" Schuster und Schneider und suchen in den Zeitungen „christliche" Hauslehrer und Gouvernanten. Der Ausdruck „innere Mission" ist bezeichnend für den Gesichtspunkt: die große Mehrzahl der sogenannten und getauften Christen werden als ein Missionsfeld be­ trachtet wie die Heidenwelt, einige Wenige sind wirkliche Christen, welche die Mission zu üben haben. Das ist so ihre Vorstellung von der Christlichkeit, eine engherzige beschränkte Auffassung der göttlichen Barmherzigkeit, als ob der leben­ dige Gott armselig genug wäre, um lediglich an einigen klein.eu ver­ kümmerten Seelen Wohlgefallen zu haben und in seiner Fülle von den vier Wänden eines Conventikels umspannt zu werden. Gottes Geist wehet wohin er will, und er hat mancherlei Formen und Wege die Menschen zu sich zu rufen, und er hat seine Kinder in allerlei Volk und in mancherlei Gestalt mtb versteht ihr Bitten und Beten in allen Sprachen.

Was die Schrift mit dem Worte „Wiedergeburt" bezeichnet,

und was wir in die deutsche Sprache übersetzen könnten „der Mensch ist zur Vernunft gekommen," das heißt die sittliche vernünftige Natur, das göttliche Ebenbild im Menschen hat die Herrschaft gewonnen über die sinnlichen Triebe, — dieser Proceß vollzieht sich in tausenderlei Formen, ja in so vielen, als es besondere Menschenkinder giebt. Es geschieht das in den meisten Fällen gar nicht auf eine plötzliche Weise oder in einem bestimmten, erkennbaren Akt, in der Regel ist es ein allmähliges Werden und Wachsen, die meisten Menschen werden leben­ dige Christen durch die christliche Atmosphäre, in welcher sie von Kindheit an athmen. Und diese naturwüchsigen Christen sind wahrhaftig

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Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

keine schlechteren als die durch einen gewaltigen Bußkrampf Plötzlich in den Gnadcnhimmel geschlenderten, deren Christlichkeit selten die Bürg­ schaft der Dauerhaftigkeit in sich trägt.

Nicht auf einige verschrobene

und verbogene Seelen, die sich das Privilegium der Gotteskindschaft zuschreiben, ist die Christlichkeit beschränkt: die Christlichkeit reicht so weit wie die Christenheit und es sollte einem Menschen Wohl schwer fallen, der in der Christenheit lebt, sich den Wirkungen des christlichen Geistes ganz zu entziehn. Nicht in Formeln und Phrasen, nicht in Empfindungen und Gewohnheiten steht das Christenthum: sein Wesen ist Gottesfurcht und sittliche Gesinnung. Wo wir in der Christenheit Gottesfurcht antreffen und sittliche Gesinnung, da ist wahrhaftiges lebendiges

Christenthum.

Und wo diese Mächte fehlen, da fehlt in

demselben Maße das Christenthum, gleichviel ob die biblische Phrase von Buße und Gnade die Herrschaft hat oder die liberale Phrase von Humanität und Brüderlichkeit. Noch weniger verstehen sie

von dem großen

weltgeschichtlichen

Christenthum. Sie kennen nur so eine gewisse Anzahl von Thätigkeiten, die sie als „christliche" bezeichnen. Theilnahme am Gottesdienst und an Erbauungsstunden, Heiden- und Judenmissionen, Verbreitung von Erbauungöschristen, innere Mission, christliche Armen- und Kranken­ pflege und dergleichen — in diesem engen Gesichtskreis bewegt sich ihre sogenannte christliche Thätigkeit; für die großen Lebensgebiete haben sie kein Verständniß, und wenn sie ehrliche Pietisten sind, wagen sie kaum den Fuß hineinzusetzen und bleiben lieber zurück von Thätigkeiten,

die

ihnen mindestens verdächtig erscheinen. Das weltgeschichtliche Christen­ thum in seinen großen sittlichen Gestaltungen, das Christenthum, welches den Wissenschaften das Gesetz der Wahrheit diktirt, welches die Staaten zwingt ihre Gesetze und Institutionen nach seinem Geiste um­ zuwandeln, welches in den Sitten und in der Kultur der neuen Welt als schaffender Geist lebt und webt: dies Christenthum ist vor ihren Augen verborgen.

Ich will

ein Beispiel

anführen.

Unsere Stadt

Berlin mit ihren großartigen kommunalen und socialen Einrichtungen, welche alle ihre Glieder zur Thätigkeit für das Gemeinwesen beruft, und wo das Gemeinwesen durch tausenderlei Einrichtungen, Anstalten und Vereine den tausenderlei Bedürfnissen und Nöthen der einzelnen Glieder seine Fürsorge widmet: so ein Stück weltgeschichtliches Chri­ stenthum, solch unzweifelhaftes Produkt des Christenthums nehmen sie mit ihren blöden Augen nicht wahr, es fehlt die Aufschrift „christlich", es fehlt die biblische Phrase, und darum meinen sie daneben noch be-

113

Was thut der protestantischen Kirche vor Allem Noth?

solidere „christliche" Vereine für Armen- und Krankenpflege etabliren zu müssen, um in der großen Stadt doch auch etwas Christliches zu haben.

Die Blinden, sie sehen den Wald vor Bäumen nicht.

Neben

dem gewaltigen wunderbaren Dome des Christenthums, welchen der lebendige Gott sich selber in der Weltgeschichte errichtet hat, dessen Anblick jedes gesunde Herz zur Anbetung zwingt, bauen sie eine arm­ selige dunkle Methodistenkapelle, und verlangen, daß der liebe Gott darinnen seine ausschließliche Wohnung haben soll.

Sie rufen „hie

ist Christus und da ist Christus", „Christus aber wird sein wie der Blitz vom Aufgang bis zum Niedergang." Nein eine so engherzige und einseitige Richtung kann die christliche Kirche nicht bauen.

Sie mag hie und da in einzelnen Gemüthern bei

weniger gebildeten Menschen der christlichen Gottesfurcht die Wege bahnen, sie mag auch bei ganz rohen Völkern int Stande sein dem Christenthum Eingang zu verschaffen:

aber für unsere protestantische

Kirche in deutschen Landen vermag sie Erhebliches nicht zu wirken, am wenigsten ihre Neugestaltung. Wer auf unsere Kirche im Großen und Ganzen wirken will, der muß vor allem gesunde Augen haben, der muß das eine und selbige Christenthum erkennen in allerlei Sprachen und Formen, in allerlei Methoden und Empfindungen, soweit die christ­ liche Gesinnung reicht. Der muß das Christenthum verstehen als die weltgeschichtliche Macht, aus welcher unsere Anschauungen, Ordnungen und

Sitten im

häuslichen und öffentlichen Leben stammen, und in

welcher die ganze moderne Welt ihr Leben und ihre Wurzel hat. Will man den richtigen

Weg

einschlagen zur Herstellung,deö

Kirchenwesens, so muß man den Bestand richtig erkennen und seine Ursachen verstehen. Vor allen Dingen also darf man nicht Kirchlichkeit und Christ­ lichkeit verwechseln. Die Christlichkeit hat ihre Schranken weder an den Grenzen des kirchlichen Bekenntnisses noch an der Pietistischen Bekehrung noch an der Kirchlichkeit: das Christenthum reicht so weit wie die Christenheit.

Wo wir Gottesfurcht und sittliche Gesinnung innerhalb

der Christenheit antreffen, da müssen wir sagen, daß die Christlichkeit vorhanden sei, möchte auch ein klares Bewußtsein über das Verhältniß zum Christenthum fehlen. Ja ich gehe noch weiter, ich nehme überall die Christlichkeit an, wo ich auch nur eine ernste sittliche Gesinnung finde, und wo es mit der religiösen Seite mangelhaft bestellt ist. Sehe ich einen Menschen von strenger Gewissenhaftigkeit, von Treue in der Svacth, Piotestantlsche Bausteine.

8

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Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

Erfüllung feines Berufes, so daß er den Anforderungen deö Gewissens Vortheile und Annehmlichkeiten opfert, erblicke ich in einem Menschen eine unbedingte Wahrhaftigkeit imb ein solches Streben nach Wahrheit und Erkenntniß, das sich alle andern Neigungen unterwirft: so sage ich ohne Besinnen, das sind ächte Christen. Und wo man in.einem Hauswesen Zucht und Sitte und einen ernsten Sinn wahrnimmt, der die sittlichen Thätigkeiten allem Uebrigen voranstellt, und wo sich ein le­ bendiger Eifer zeigt für das bürgerliche Gemeinwesen und eine Für­ sorge für seine einzelnen Glieder, ein kräftiger Drang zu helfen, zu wirken,

zu bilden,

zu

gestalten:

da trage man kein Bedenken den

Christen anzuerkennen, möchten auch seine religiösen Vorstellungen wenig zu dem stimmen, was herkömmlich als Christenthum gilt.

Diese Ge­

sinnungen sind gesunde Früchte an dem gesunden Baum des Christen­ thums. Die eigenthümliche Entwicklung unserer Zeit hat es nur mit sich gebracht, daß viele gute Christen über ihr eigenes Christenthum in Zweifel sind oder sich gar für Gegner desselben halten, weil sie von Jugend auf gelehrt sind, das Christenthum für eine Reihe von her­ kömmlichen Dogmen anzusehn, an die sie nun einmal nicht glauben. Manche leben sogar mit dem lieben Gott auf gespanntem Fuß, die Spannung zwischen der modernen Philosophie und veralteten theolo­ gischen Begriffen hat ihnen die Vorstellung von einem lebendigen Gott geraubt, und sie trage» dennoch diesen Gott, den sie zu bekämpfen meinen, in ihrem Herzen, die sittlichen Wirkungen, die von da ausgehen, beweisen cö. Nein an Christlichkeit fehlt cs unserer Zeit nicht; ja ich wage zu behaupten, daß die Christlichkeit in unserer Zeit verbreiteter und in­ tensiver sei als in irgend einem vergangenen Zeitalter: die feinere edlere Sitte, die humanere wohlwollendere Behandlung der Menschen, die weitere Verbreitung der Fürsorge für jedes einzelne Glied der Menschheit, der allgemeine Trieb nach Erkenntniß und Bildung und andere

Symptome sind Zeuge davon. Nur unsere Kirchlichkeit ist wesentlich geringer als in vergangenen Zeiten. Und das ist eben der Mangel in unserem Zustande, daß die weit verbreitete christliche Ge­ sinnung nicht ein gesundes Verhältniß zum religiösen Gemeinwesen hat, daß darum die religiösen Wurzeln, auö denen die sittlichen Gesinnungen erwachsen, vielfach der rechten Nahrung entbehren und in Gefahr sind zu verkümmern, ja daß in ganzen Schichten das Bewußtsein abhanden gekommen ist über den innigen Zusammenhang des sittlichen Lebens mit

den

religiösen

Quellen

und

über die llnciitbchrlichkcit

dieser

äöiiS thut der protestantischen Kirche Vor Allem Noth? Grundlagen.

Dies Mißverhältniß zur Religion und zum

115 religiösen

Gemeinwesen ist der hauptsächliche Mangel. In einem Theil der Christenheit ist allerdings das Christenthum stark beschädigt, daö läßt sich nicht läugnen, oder mit seinen Kräften noch nicht in rechte Wirksamkeit getreten.

Freilich die antichristlichen

Theorien moderner Philosophen und Naturforscher dürfen noch lange nicht als Antichristenthnm bezeichnet werden. Wir Deutschen dosen gerne in der Theorie: aber in der Praxis sind wir so schlimm nicht. Der

radikalste

Philosoph,

der sich

gedrungen

fühlt den

Schöpfer

Himmels und der Erden aus dem Weltall zn verstoßen, der einge­ fleischteste Materialist, der selbst die intellektuellen und sittlichen Thä­ tigkeiten zu vergänglichen Äffektionen der Materie degradirt: im wirk­ lichen Leben, im Hause und in der Kommune sind sie gewöhnlich gute, brave, sittliche Menschen, die sich von denselben Ideen bestimmen lassen, welche sie in der Theorie fanatisch bestreiten. Aber die theoretische Gegnerschaft gegen die religiösen und sittlichen Grundlagen kann auf die Dauer nicht ohne nachtheilige Folgen bleiben auch auf das sittliche Leben. In den Urhebern solcher Theorien geht es noch: aber bei weiterer Verbreitung und in den folgenden Generationen werden die sittlichen Nachtheile sichtbar. Wo in einem Hauswesen die Gottesfurcht verschwindet und nicht anderweitig wieder hergestellt wird, da kann man cö wahrnehmen, wie die Sittlichkeit zuerst zur bloßen Rechtschaffenheit herabsinkt, und auch diese in einer folgenden Generation nicht mehr Stand hält gegen die eindringenden Fluthen der Sinnlichkeit. Die sittlichen Schäden folgen allmählig den antichristlichen Theorien; vor allem aber bewirken diese Theorien, daß der materielle, ungöttliche Sinn, der noch nicht von der Macht des Christenthums durchdrungen ist, gegenwärtig offen hervortritt.

Das ist der Schaden, und welches

sind die Ursachen? Ein Hauptgrund für die Abschwächung des religiösen und kirch­ lichen Lebens liegt offen vor und kann niemandem verborgen sein: eö ist daö die materialistische Zeitrichtung, welche in der Wissenschaft und im praktischen Leben einen weiten Kreis beherrscht. Nach einem Uebermaß von Spekulation und Idealismus war eine starke Betonung und Betreibung der materiellen Interessen in unserem Volk durchaus berechtigt; aber aus diesem berechtigten Triebe ist ein Materialismus entstanden, der noch viel einseitiger ist als jener Idealismus, weil er die höchsten und heiligsten Güter der Menschheit, die dem menschlichen Leben seinen Werth verleihen, hinter den armseligen materiellen Dingen 8*

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Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

völlig zurückstellt.

Der Fall der

alten Autoritäten,

die Kritik der

emanzipirten Wissenschaften bewirken, daß dieser materialistische Zug des Zeitalters sich ohne Scheu in seiner ganzen Breite offenbart. Dazu kommt die Erkenntniß, daß die Religion von ihren Aeußerungen wohl zu unterscheiden ist, das Bewußtsein welches sich immer weiter ver­ breitet, daß die Seligkeit weder am Dogma hängt noch an der Kirch­ lichkeit: und diese Erkenntniß trägt dazu bei, daß in weiten Kreisen das Verhältniß zum Dogma wie zur Kirche sich lockert. Aber die Hauptschuld liegt an der Kirche selbst, das heißt in ihrer Beschaffenheit.

Die Kirche

ist in allen ihren inneren und

äußeren Einrichtungen weit hinter der Zeit zurückgeblie­ ben, und vermag darum die Gemüther der Gebildeten nicht zu fesseln. Schon die Stücke des Katechismus und die achtzig alten Kirchenlieder vertragen sich ziemlich schlecht mit allem klebrigen, was unsere Kinder in der Schule zu lernen haben; ein Glück ist's daß sie nichts davon verstehen. Dann aber die Predigten wie sie so häufig sind, die dogma­ tischen und die Pietistischen und die sogenannten biblischen — welcher Gebildete mag sie ertragen! Und dann die altmodischen und zum Theil ungenießbaren liturgischen Gebete, der unmusikalische Gesang und die alten Kirchenlieder, die man uns mit allen Unverständlichkeiten und Geschmacklosigkeiten wortgetreu wieder herstellt, die unbequemen und oft unwirthllchen Gebäude, das hierarchische Auftreten jüngerer Geistlichen und vor allen Dingen der Inhalt der kirchlichen Lehre,'der ganze Dogmenkreis, in welchem sic sich bewegt, von der Vollkommenheit der ersten Menschen, vom Sündenfall, von der Erbsünde, von dem absoluten Unvermögen des natürlichen Menschen zum Guten, und seiner Verdammniß, von der Versöhnung des zürnenden Gottes durch das genug« thuende blutige Opfer, von der göttlichen und menschlichen Natur in Christo und seiner übernatürlichen Geburt, von der göttlichen Drei­ einigkeit, von Himmel und Hölle u. s. w.: — steht nicht das alles in grellem Widerspruch zu den Anforderungen der gegenwärtigen Bildung? Sind diese Einrichtungen und diese Lehren irgendwie geeignet für den Mann der heutigen Wissenschaft ein Fundament abzugeben, auf dem sich seine Gedanken und seine sittlichen Thätigkeiten erbauen? Nimmer­ mehr. Dazu kommt eine Kirchenvcrfassung, die ebenfalls sich lange über­ lebt hat. Der absolutistische Zuschnitt der Verfassung mit den bureaukratischen Behörden, welcher die Gemeinden, zur klnmündigkeit und Passivität verurtheilt, verscheucht

natürlich

alle Männer' aus einem

Was thut der protestantischen Kirche vor Allem Noth?

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Gemeinwesen, welches ihnen schlechterdings keine Thätigkeit zuweist. Der Mangel an kirchlichen Organen, welchen diese Versäumniß mit sich bringt, und der Mangel an wahrhaft kirchlichen Thätigkeiten der daraus hervorgeht, hat unsere Kirche in ein bloßes Sonntagsinstitut verwandelt und ihren Einfluß auf ein geringes Maß herabgesetzt. Und endlich ihre Abhängigkeit vom Staat hat den Schaden vollendet. Der abso­ lutistische Polizeistaat verwendete auch unsere protestantische Kirche als ein nützliches Institut zur Erzielung getreuer und gehorsamer Unter­ thanen; und damit lenkte er das Odium, welches er sich zuzog, zugleich auf die Kirche. Dem protestantischen Geistlichen kam im Volk eine ähnliche Empfindung entgegen wie dem Gensdarmen und Gerichtsboten, als den gefürchteten Armen der Staatsgewalt, durch welche diese allein sich mit dem Volke in Berührung setzte. Die Religion, welche von oben her anbefohlen war und durch die äußere Gewalt gestützt wurde, zer­ störte im Volk den Glauben an ihre Wahrheit und zugleich das Ver­ trauen gegen die Wahrhaftigkeit derjenigen, die diese Religion von Amtswegen zu verkündigen hatten. Vollendet aber wurde das Miß­ trauen durch den Wechsel der Religion, der so häufig eintrat mit dem Wechsel der regierenden Herren. In welchen Kredit mußte die Religion beim Volke kommen, wenn es je nach Ueberzeugung der regierenden Landesherren bald genöthigt wurde der reformirten bald der lutherischen Confession anzugehören, und wenn aus demselben Grunde heut ratio­ nalistische und morgen orthodoxe Predigten gehalten wurden! Unver­ meidlich mußte die Religion erscheinen als ein Gegenstand der Politik und ein Mittel der Staatsgewalt. Nichts hat der Religion so tiefe Wunden geschlagen, als die Botmäßigkeit unserer protestantischen Kirche unter den Staat. Das ist der Schaden und das sind seine Gründe. Die Aufgaben erhellen hieraus von selber, welche zu lösen sind, wenn das religiöse Gemeinwesen soll gesunden. Der philosophische Radikalismus und der Materialismus, welche der Religion feindlich gegenüberstehn, müssen in der Wissenschaft sowie im praktischen Leben energisch bekämpft werden. Die Theologie hat sich mit den übrigen Wissenschaften wiederum in Verbindung zu setzen und sich deren Fortschritte anzueignen, um einerseits sich selbst zu reformiren, das heißt die Kirchenlehre und den religiösen Unterricht den Bedürfnissen der Zeit'gemäß zu verbessern,

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Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

und andererseits auch die übrigen Wissenschaften vor Abirrungen be­ wahren zu chelfen. Die unkirchlichen passiven Christen müssen über ihr eigenes Chri­ stenthum verständigt, die religiösen Gründe in ihrem Gemüth belebt und mit dem

religiösen Gemeinwesen in stetige Verbindung

gesetzt

werden. Der kirchliche Cultus hat sich in allen seinen Formen und Thä­ tigkeiten einer gründlichen Revision zu unterziehen und sich dem geläuterten Geschmack und allen berechtigten Gewohnheiten der Zeit­ genossen anzupassen. Die Organisation der Kirche endlich muß in Unabhängigkeit vom Staatswesen so gestaltet werden, daß sie alle Glieder des Gemeinwe­ sens zur Thätigkeit für dasselbe beruft. Das sind in großen Zügen die Aufgaben und Ziele, und cs ist nicht zu verkennen, daß die Erreichung derselben große Zeiträume erfordern und gewaltige Kräfte in Anspruch -nehmen wird. Fragt man aber, wie dem Ziele näher zu kommen sei: so antworte ich einfach: durch

eine

selbständige

repräsentative

Kirchenverfas­

sung. Diese Antwort mag manchen befremden, der sonst einer Neuge­ staltung der Verfassung nicht abgeneigt ist. Eine Verfassung, welche die Gemeinden mündiger macht, und ihre Glieder zur Thätigkeit beruft, ist ja ein unläugbares Bedürfniß:

aber wie kann die Verfassung, die

doch nur eine äußere Form ist, so große Dinge thun? Werden denn, um damit anzufangen, die Kultuseinrichtungcn irgendwie zeitgemäßer, die Kirchenlieder erbaulicher nnd die Predigten besser werden, wenn man eine repräsentative Kirchenverfassung hat, als wo die bisherige konsistoriäle Verfassung herrscht? — Gewiß wird das Alles besser werden; denn das Zurückbleiben hinter den Forderungen der Zeit kommt zum großen Theil davon her, daß die Gemeinden zur Unthätigkeit verurtheilt sind. Man gebe nur den Gemeinden die Verwaltung ihrer kirchlichen Angelegenheiten in die Hand: so wird sich bald Interesse und Thätigkeit entwickeln alle Nothstände zu beseitigen. Man lege nur die kirchlichen Gemeindeämter in die Hände von tüchtigen Männern, die mitten im praktischen Leben stehn, und setze die einzelnen kirchlicheil Gemeinden durch die lebendigen Kanäle einer Nepräscntativverfassung in Zusammenhang mit allen Theilen der Kirche: so werden sie bald überall Mittel und Wege finden, den kirchlichen Einrichtungen eine Gestalt zu geben, welche ihre Harmonie zu den anderweitigen Bildungen

Was thut der Protestantischen Kirche vor Allem Noth? wiederherstellt,

während

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auf bloße Verordnungen vom grünen Tisch

keine Hand zu solchen Dingen sich rührt.

Die Männer aus der Ge­

meinde werden's bald sagen, wo es den Gesängen und Gebeten fehlt, und ein stätiger Verkehr mit diesen Männern wird leicht bewirken, daß die Predigten der Geistlichen praktischer werden und sich auf diejenigen Dinge konzentriren, welche daö religiöse und sittliche Leben wirklich fördern. Aber die unkirchlichen Christen sollen kirchlich gemacht und üb.er das Christenthum verständigt, und die Thätigkeiten des christlichen Glaubens und der Liebe belebt werden: kommen denn etwa Glaube und Liebe aus der Verfassung? — Nein, Glaube und Liebe fließen aus höheren Quellen, sie stammen vom Vater des Lichts, von dem alle gute Gaben kommen, er muß das menschliche Herz mit seinem Geist berühren um diese Mächte zu erzeugen. Und dennoch kann man in einem gewissen Sinne behaupten, auch Glaube und Liebe kommen aus der Verfassung. Was an Glauben und an christlicher Liebe in der Kirche vorhanden ist, und was ohne Organisation in dem Einzelnen beschlossen bleibt, das setzt eine ordentliche Organisation durch ihre Kanäle in Umlauf und Thätigkeit, daß es wirkt und zeugt und belebt in einem weiten Umkreis und sich selber durch diese Thätigkeit verdoppelt; eine gute Organisation vermehrt die vorhandenen sittlichen Kräfte in's Un­ glaubliche. Dazu noch das Andere. Man stelle rechtschaffene tüchtige Männer, wenn sie auch bisher wenig Kirchlichkeit bewiesen haben, in die plastische kirchliche Thätigkeit: und sie werden bald eine reiche Fülle von Thätigkeiten entfalten, sie werden der religiösen Quellen in ihrem Gemüth, aus denen ihre sittliche Tüchtigkeit stammt, sich bewußt werden, und auch ein lebendiges Gefühl gewinnen für die große Bedeutung des kirchlichen Gemeinwesens. Jndifferentismuö und Skeptizismus werden bald verschwinden. Die Theologie soll sich reformiren und mit den andern Wissen­ schaften in Einklang setzen: das ist doch Sache der Wissenschaft, was kann die Verfassung dazu thun? — Ja wohl ist das eine Arbeit der Wissenschaft. Aber wenn nun eine absolutistische Verfassung, in welcher weder die Gemeinden noch die Wissenschaften etwas mitzureden haben, alle theologischen und kirchenregimentlichen Aemter mit Männern be­ setzt, welche der Umkehr der Wissenschaft huldigen:

wo bleibt da die

Wissenschaft, wie soll da die Theologie anfangen sich zu reformiren? Ist dagegen die Kirche wahrhaft repräsentativ organisirt, daß die Aemter aus dem Vertrauen der Gemeinde hervorwachsen:

da ist es gar nicht

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Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

möglich, daß die herrschende Theologie in einen starken und dauernden Konflikt gerathen könnte mit den religiösen Anschauungen welche im Gemeinwesen die herrschenden sind, die stetige Wechselwirkung beider Faktoren läßt einen solchen Widerspruch nicht bestehen ja kaum ent­ stehen.

Da ist eS nicht möglich, daß in den Schulen gelehrt und von

den Kanzeln gepredigt werde, was in der christlichen Gemeinde nicht geglaubt wird: Predigt und Unterricht werden immer dasjenige dar­ stellen, was den jedesmaligen Höhepunkt bezeichnet in den Anschauungen der Gemeinde. Endlich der Materialismus und Radikalismus soll bekämpft werden: wenn irgend etwas, so ist doch das eine ausschließliche Aufgabe der Wissenschaft? — So? Ist es gleichgültig, wo diese Anschauungen in einem Zeitalter weite Verbreitung und eifrige begabte Vertreter gefun­ den haben, ist es da gleichgültig ob ihnen ein religiöses Gemeinwesen gegenübersteht, welches in völliger Unmündigkeit gehalten wird und nicht einmal Organe besitzt, durch welche es seine Meinung auösprcchen könnte, und darum unthätig dem gegnerischen Treiben zuschauen muß; oder ob ihnen ein Gemeinwesen gegenübersteht, welches von oben bis unten zur Selbstthätigkeit organisirt, in allen seinen Gliedern und als Ganzes sich als prinzipieller Gegner jener Richtung fühlt und sich in jedem seiner Akte bethätigt? Ich bin der Meinung, vor solcher bewußten und selbstthätigen Gliederung der religiösen Gemeinde würden jene doktri­ nären Mächte schnell in enge Schranken zurückweichen; ja sie wären gar nicht so weit aufgekommen bei gesunder kirchlicher Organisation. Solche extreme Bildungen treten überhaupt nur auf, wo die praktische Organisation fehlt und Nationen lediglich in die literarische Existenz gedrängt werden. Stellt man die angemessenen Organisationen her, so absorbirt der gesunde Organismus derartige Auswüchse. Diese doktrinären Theorien werden nicht so sehr auf dem Wege der Wissen­ schaft als vielmehr durch Gesundheit des Gemeindelebens überwunden. Es ist richtig, die Organisation kann die wissenschaftliche Bewegung nicht machen, und kann die inneren Heiligthümer des Glaubens und der Liebe nicht schassen. Aber sie vervielfacht die vorhandenen Kräfte, sie erzeugt Gemeinsinn und gemeinsame Anschauungen, sie beseitigt die Hindernisse und die geistigen Mißgeburten: ohne sie kann das Alles nicht geschehen, sie ist die erste unentbehrliche Vorbedingung um dem vorgesteckten Ziele näher zu kommen. Und dazu wiederum ist der erste unerläßliche Schritt die endliche Befreiung der Kirche von ihrer Vermischung mit dem Staatswesen.

Die Selbständigkeit b. Preußischen evangelischen Landeskirche.

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Soll's besser werden, so muß sie zuerst wieder Vertrauen gewinnen. Vertrauen aber kann sie nur gewinnen,

wenn sie so frei dasteht von

der Staatsgewalt, daß niemand ihre Mitgliedschaft suchen darf um bürgerlicher Rechte und Vortheile willen, und niemand ein Amt in ihr begehren kann von der Gunst der Mächtigen. Es muß ein Zweifel darüber gar nicht mehr entstehen können, daß die Lehre, welche in der Kirche verkündigt wird, und der Glaube, welcher in den Gemeinden lebt, lediglich und ausschließlich stammen aus dem Herzen ihrer Glieder wie ihn der lebendige Gott in denselben gestaltet, nicht aber aus dem Kabinet der Fürsten. Das ist das Erste. Und darum ist und bleibt mein Ceterum censeo: der Staat soll endlich, wie es Artikel 15 unserer Verfassung verbürgt, unsere evangelische Kirche freigeben, daß sie sich organisire nach ihrem inneren Wesen und gemäß den Bedürf­ nissen der Zeit.

Die Selbständigkeit der preußischen evangelischen Landeskirche. Was verstehen wir denn unter der Selbständigkeit, welche wir für die Kirche fordern? Selbständig nennen wir Alles, was auf eignen Füßen steht, was seinen Mittelpunkt und die Kraft seiner Thätigkeiten in sich selber hat, gegenüber Demjenigen, was lediglich durch Anderes von außen her bestimmt und bewegt wird. In der Natur sprechen wir dem Organischen Selbständigkeit zu, im Unterschied von der unorganisirten Masse, welche mechanisch in Bewegung gesetzt wird. Im Gebiet der Sittlichkeit bezeichnen wir dasjenige als selbständig, was eine eigenthümliche, von Andern unterschiedene sittliche Natur und seinen sittlichen Willen in sich selber hat, was sich aus sich selber gemäß seiner eigenthümlich sittlichen Natur bestimmt: während Mir Unselbstän­ digkeit überall da finden, wo ein zur Sittlichkeit bestimmtes Wesen seinen Willen, seinen Charakter, sein Gewissen außer sich in einem Andern hat, und demgemäß in seinen Thätigkeiten durch Verhältnisse und Umstände, durch die Natur oder fremden Willen sich bestimmen

122 läßt.

Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

Wenn wir also von der Kirche Selbständigkeit aussagen, so ist

die Forderung, daß dieselbe das Gesetz und die Kraft ihres eigenthüm­ lichen Lebens

in sich selber haben solle und nicht in einem Andern

außer ihr, daß ihre Organisation und alle ihre Thätigkeiten durch sie selbst bestimmt werden und in dem eigenthümlichen Gesetz des religiösen Gemeinlebens ihren Ursprung nehmen sollen. Weder der Staat noch die Wissenschaft noch irgend ein Anderes sollen der Kirche ihre Ord­ nung gestalten und ihre Thätigkeiten bestimmen: die Kirche soll durch eigne That und aus eignem Gesetz, d. h. nach dem Wesen der Fröm­ migkeit ihre Ordnungen und Aemter sich schaffen, ihren Cultus, ihre Predigtweise,

ihre

Gemeindepflege

feststellen,

ihre

Disciplin,

ihre

äußeren Verhältnisse, ihre Besitzthümer und Mittel verwalten. Die Kirche soll predigen, singen, beten, erziehen und missioniren, wie es aus ihrem Herzen und Willen kommt, nicht nach den Regeln der Wissenschaft oder Kunst, nicht nach den Vorschriften des Staats oder dem Willen eines Staatsoberhauptes.

Die Kirche, welche so gestellt

und organisirt wäre, würden wir eine selbständige nennen. Darf nun solche Selbständigkeit für die Kirche in Anspruch ge­ nommen werden, darf sie es namentlich dem Staat gegenüber? das ist die Frage. Wir sagen, die Selbständigkeit d. h. die Selbstordnung, Selbstregierung und Selbstverwaltung gehört nothwendig zur Idee der Kirche, und die Aufgabe der geschichtlichen Entwicklung ist, immer mehr dies Moment ihrer Idee zu verwirklichen. Alles Lebendige strebt nach Selbständigkeit. Schon im Leben der Natur arbeitet Alles auf Organisation und auf Ueberwindung des bloß Massenhaften. Im Reiche geistiger Bildung beginnt recht eigentlich das Sittliche erst da, wo aus der gleichartigen Masse Eigenthümlichkeit und Selbständigkeit sich hervorheben. Das sittliche Streben eines jeden Menschen geht dahin, eine eigenthümliche und selbständige sittliche Ge­ stalt zu sein; und die vollendete sittliche Persönlichkeit ist die, in der das sittliche Leben nach allen seinen Richtungen eigenthümlich ausgeprägt zu einem scharf bestimmten Charakter geworden, und in welcher alle Thätigkeiten durch freie Selbstbestimmung aus dem eigenthümlichen Charakter hervorfließen. Was dagegen freie Selbstbestimmung sich nicht zu erringen öder zu bewahren weiß, sondern mit seinem Willen in die Abhängigkeit von der Natur oder von anderem Willen geräth, versinkt in die unsittliche oder untersittliche Region des Knechtischen und Sach­ lichen. Dasselbe gilt von allen Gemeinwesen. Jedes Gemeinwesen von den unbedeutendsten Verbindungen

an

muß auf Selbständigkeit

Die Selbständigkeit d- preußischen evangelischen Landeskirche.

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bedacht sein, wenn es seine Zwecke aus eine sittliche Weise erfüllen will. Insbesondere ist solche Selbständigkeit unentbehrlich den großen geschichtlichen Gemeinwesen und Institutionen, welche auf ewigen Ideen beruhen und besondere unvergängliche Seiten des menschlichen Geistes darzustellen berufen sind. Die Organisation des Rechts, der Wissen­ schaft, der Kunst, der Frömmigkeit, müssen gegeneinander selbständig dastehen, wenn sie

wahrhaft gedeihlich sich sollen entwickeln können.

Die Natur dieser großen Seiten des menschlichen Geistes und das innere Gesetz ihrer Entwicklung ist für jede derselben so verschieden von den andern, daß Alles und Jedes, sofern es sich aus dem eigen­ thümlichen Gesetz entwickelt, auf jedem der verschiedenen Gebiete durch­ weg ein anderes Gepräge empfängt; und daß es durchwegs nur zum Schaden der gesunden sittlichen Entwicklung ausschlagen kann, wenn eines dieser großen Gebiete den Inhalt oder die Form seiner Thätig­ keiten auf die andere zu übertragen versucht.

Staat und Kirche und

Kunst und Wissenschaft kommen in demselben Maße ihrer sittlichen Aufgabe näher, als sie sich selbständig gegeneinander stellen, und jedes die Selbständigkeit des andern zu achten versteht.' Da hat nun zwar eine Theorie der modernen Philosophie den Staat als das Ein und Alles hingestellt, der auch die Kirche und die Kunst und die Wissenschaft als seine Bestandtheile in sich beschließe. Diese Theorie ist indeß schon durch ihren Ursprung verdächtig, weil sie nämlich einer philosophischen Betrachtungsweise entsprang, welche alles bestehende Wirkliche und somit auch den centralisirenden allmäch­ tigen Staat zugleich als das Vernünftige zu construiren bestrebt war. Auch liegt dieser Vorstellung ersichtlich eine Verwechselung zu Grunde. Sie sagen nämlich, der Staat habe es mit allen menschlichen Thätig­ keiten zu thun und es lasse sich gar keine Thätigkeit denken, mit welcher er nichts zu schaffen habe. Das ist ganz richtig, beweist aber nichts weiter, als daß jede menschliche Thätigkeit eine staatliche Seite habe, indem nämlich Alles nach einer Seite hin in die Sphäre des Rechts fällt. Dasselbe gilt von der Wissenschaft und von der Kirche noch in höherem Maße. Was wäre das für eine Wissenschaft, die sich nicht die Gesammtheit alles Seienden zum Gegenstand ihrer Erkenntniß machte; und wie könnte die Kirche irgend ihrer christlichen Idee ent­ sprechen, wenn sie sich nicht als das Salz der Erde betrachtete und als einen Sauerteig, bestimmt alle Gebiete menschlichen Lebens und Den­ kens mit dem Geiste der Gottesfurcht zu durchdringen.

Wollte man

daraus denselben Schluß ziehen, so käme man zu dem widersinnigen

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Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

Gedanken, daß Alles in der Welt nur Wissenschaft sei, und Kirche und Staat und Kunst und alles Seiende nur Momente der Wissenschaft; oder andrerseits, daß alle Diese nur Elemente seien der sie Alle in sich beschließenden Kirche. Das Richtige ist, daß diese Gebiete die gleich wesentlichen und gleich berechtigten Grundrichtungen des Geistes be­ zeichnen, deren jede an allen menschlichen Thätigkeiten in irgend welchem Maße haftet.

Darum umfaßt jedes auf einer solchen Grundrichtung

beruhende Gemeinwesen alle

menschlichen Thätigkeiten,

muß

aber

dennoch, weil es jede dieser Thätigkeiten nur an einer bestimmten Seite berührt, an jedem Punkte von allen Anderen unterschieden sein. Der Staat hat mit der Wissenschaft und mit der Kirche zu thun, aber nicht mit ihrer Wissenschaftlichkeit und ihrer Kirchlichkeit, sondern lediglich, sofern und soweit ihre Organisationen in das Rechtsgebiet fallen. Die Kirche hat auch mit dem Staat zu schaffen, aber nicht mit der Gesetzgebung und Regierung, sondern nur insofern sie den Staat mit dem Bewußtsein zu durchdringen hat, göttliche Ordnung zu sein und sich nach göttlicher Ordnung gestalten zu müssen. Nicht anders die Wissenschaft. Hieraus ergiebt sich auch, waö es auf sich habe mit dem Streit, daß die Einen den Staat als das Ganze ansehen und die übrigen Gebiete nur als seine Theile, die Anderen dagegen die Kirche als das Ganze; sowie, daß die Einen den Staat, die Andern die Kirche dar­ stellen als das Höhere, dem sie alles Uebrige unterordnen. Es sind eben beide Betrachtungsweisen durchaus einseitig. Sieht man nämlich die Dinge vom Gesichtspunkt des Rechts an, so ist eben der Staat das höhere Ganze, dem alles Andere, auch das Gebiet der ReligionSgesellschasten als untergeordnete Theile angehören.

Stellt man sich

dagegen auf den Standpunkt der Religion, so erscheinen eben Staat und Wissenschaft und Kunst nur als einzelne und dem Ganzen unter­ geordnete Momente, welche die religiöse Gemeinschaft sich zu Gegen­ ständen ihrer Thätigkeit zu machen hat. Die Wahrheit ist: jedes von diesen großen Gebieten ist das Ganze und keines ist dem anderen untergeordnet. Und darum ist die Aufgabe, daß alle diese Gebiete in gehöriger Selbständigkeit und Sonderung von einander ihr eigenthüm­ lich verschiedenes Wesen entfalten und keines das Andere zu beherrschen versuche. Sonderung zur Selbständigkeit ist die Aufgabe. Es ist nur eine andere Formel für denselben Gedanken, was man sonst Trennung von Staat und Kirche nannte, nur daß diese Formel mehr dem

Mißverständniß

ausgesetzt ist,

als ob in der Trennung

Die Selbständigkeit

b. preußischen evangelischen Landeskirche-

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gleichsam ein Element der Feindseligkeit mitgesetzt wäre. Die Trennung will eben nichts anderes besagen als die Aufhebung einer ungehörigen Vermengung, als eine angemessene Auseinandersetzung zweier nicht zusammengehörigen und auf eine ungehörige Weise vermischten Gebiete. Sonderung des staatlichen und des kirchlichen Gebiets zur beiderseitigen Selbständigkeit, das ist die Meinung.

Und auch in diesem Ausdruck

liegt zugleich die Sittlichkeit der Aufgabe angedeutet.

Denn alle sitt­

liche -Bildung ist Selbstverfassung, ist Sonderung. Theilung der Arbeit, Beschränkung des Berufs, Disposition und Auseinanderhaltung der verschiedenen Thätigkeiten sind Aufgaben der höheren sittlichen Ent­ wicklung.

In den patriarchalischen Zuständen thut Jeder Alles selber,

und wohnen Menschen und Kinder und die anderen Thiere nngesondert in einer Behausung beisammen: einen Fortschritt bedeutet es, wenn die Wirthschaft sich gliedert und disponirt. Einen untergeordneten unent­ wickelten Zustand bezeichnet cs, wenn der tapferste Führer im Kriege schon darum auch Richter ist und Priester in seinem Volk: die fort­ schreitende Entwicklung macht einen Anderen zum König, einen Anderen zum Priester, einen Anderen zum Richter. Klar begränzte Sonderung der eigenthümlichen Persönlichkeiten, sowie der verschiedenen Gebiete und Gemeinwesen, Bewältigung des ChaoS in allen Stücken, ist das Endziel aller Entwicklung. Solche Sonderung zur Selbständigkeit ist weit entfernt Feind­ seligkeit oder auch nur Gleichgültigkeit zu bedeuten: sie bedeutet nichts Anderes, als daß eben Jeder das ©einige thue und Keiner, was des Andern ist, daß der Staat nicht die religiösen Angelegenheiten verwalte, und die Kirche sich nicht in Politik und Staatsregierung mische. Im Gegentheil, erst bei gehöriger Sonderung und bei gegenseitiger Selb­ ständigkeit werden

wahrhaft sittliche Verhältnisse möglich,

während

Verwicklung und Vermengung der verschiedenen Gebiete unausbleiblich Zwietracht und feindselige Abstoßung zur Folge hat. Gleichwie zwei Persönlichkeiten in demselben Maße zu einem innigeren Verhältniß der Freundschaft oder Liebe zu gelangen vermögen, als sie beide bis in die äußersten.Spitzen scharf ausgeprägte und durchweg von einander unter­ schiedene Eigenthümlichkeiten sind: ebenso werden Staat und Kirche erst dann ein gutes Einvernehmen und ein gedeihliches Wechselverhält­ niß zu einander haben, wenn sich Jedes von ihnen auf sein eigenthüm­ liches Gebiet beschränkt, während sie bei gegenseitiger Vermengung alle­ zeit in Unfrieden leben und einander zu unterdrücken suchen. Das ungesonderte Zusammensein der verschiedenen Sphären ist

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Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

nur im Urzustände natürlich, im Fortschritt der Entwicklung kann die -Vermischung nicht ohne Schaden bleiben. So oft die Kirche sich mit der Wissenschaft verwechselte und statt des frommen Glaubens Schola­ stik und Dialectik dem Menschenleben darbot, hat sie ihre versöhnende und versittlichende Kraft eingebüßt. Die Wissenschaft, welche sich dazu hergab, Dictate einer Kirche zu beweisen oder es unternahm, eine vom Staat angeordnete Wirklichkeit als das Vernünftige zu constrniren, konnte für die Erkenntniß nichts leisten. Und wenn jemals den Phi­ losophen überlassen würde, den Staat zu regieren, so ist gar nicht zu ermessen, in welche Höhen und Tiefen der schwer beladene Wagen unter der spekulativen Lenkung geschleudert werden müßte. Gefährlicher noch und nachtheiliger ist die Vermischung des Staat­ lichen und Kirchlichen; denn beide, Staat und Kirche bezeichnen die äußersten Pole der großen göttlichen Institutionen. Die Kirche ist die Form für das Allerinnerlichste; denn sie hat ihren Inhalt an der Stellung des menschlichen Herzens zu Gott, an dem Centrum, um welches das ganze menschliche Leben sich dreht. Der Staat dagegen beschreibt die äußerste Peripherie, indem er alles Leben in eine feste Rechtsordnung einfügt, er ist das compacteste Gemeinwesen, gleichsam die Mauer, innerhalb welcher sich alles Lebendige zu entwickeln hat, der Hüter, der mit dem Schwert des Gebots und der Strafe zum Schutz alles Lebens bestellt ist. Verkennt der Staat seine Aufgabe, Schutz und Schirm zu sein, und will selber das sittliche und religiöse Leben erzeugen: so zerdrückt er die feinen Gebilde mit seiner rohen Faust; jede Staatskirchenregierung hat noch immer die Kirche in Unkirchlich­ keit hineinregiert. Und vergißt die Kirche ihren hohen Beruf, das Feuer der Andacht im Allerheiligstcn zn nähren, und begehrt die Staatsgeschäfte in ihre Hand zn nehmen, so hat sie allezeit nicht nur ihr eigenes Heiligthum verwüstet, sondern auch die von'ihr beherrschten Staaten in Spaltung und Ohnmacht geleitet. So lange sich Staat und Kirche nicht klar auseinandersetzen, so lange sich Jedes für das Ganze oder für das Alleinberechtigte hält, führen sie stets einen Kampf auf Tod und Leben, wo bald der Eine bald der Andere die Oberhand gewinnt. Das bezeugt die Geschichte des Christenthums. Vom byzantinischen Staat, wo die Kaiser die Glaubensformeln diktirten, ging es in das mittelalterliche Rom, das mit seiner Kirchengewalt alle Staaten zum Schemel seiner Füße legte. Und als dann die Reformation den hierarchischen Absolutismus zer­ brach und den Staat wie die Wissenschaft aus dem Joch befreite.

Die Selbständigkeit b- Preußischen evangelischen Landeskirche.

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gerieth die neue evangelische Kirche bald wieder in die Herrschaft deS Staates und wurde von diesem allmählig fast gänzlich aufgesogen. Die mittelalterliche Kirche hatte eine neue Wissenschaft erzeugt und die Staaten der neuen Welt unter ihrem Schirm groß gezogen.

Aber

statt sie zur Mündigkeit und Freiheit zu erziehen, hatte sie dieselben als Leibeigene gehalten, und war nicht Willens sie frei zu lassen. Dafür sind denn diese, als sie zum Gefühl ihrer Kraft gelangten, ihr davongelaufen, und haben die alte Pflegerin selber vielfach zur Dienst­ barkeit gezwungen. Die moderne Wissenschaft hat mannigfach die Kirche wie eine gefangene Sklavin hinter ihre wechselnden Systeme herge­ schleppt; die Kunst hat ihre Andacht in den Sinnengenuß herabgezogen; und der Staat vor Allem hat nicht selten die hohe Prophetin göttlicher Wahrheit in die demüthigende Stellung einer Anstalt für Ruhe und Ordnung erniedrigt. Die Hand des modernen Staates hat schwer auf der Kirche gelastet: er hat allen ihren Ordnungen staatliche Farbe und staatlichen Geschmack gegeben, er hat den freien Strom ihrer Predigt und die Schwingen ihrer Andacht gefesselt; er hat zwangsweise zu­ sammengeschmiedet, was sich in der Art seiner Frömmigkeit nicht ver­ wandt fühlt, und hat mit Gewalt auseinander gehalten, was sich nach Organisation und Gemeinschaft sehnt; und jeder Wechsel der Staatsrcgierung hat die Kirche genöthigt ihre Predigt und ihre Gebete zu wechseln. Das ist der Unscgen der Vermischung, und dieser Unsegen nimmt zn, je mehr die Vermischung in eine Zeit fällt, in welcher alle übrigen Culturelemente auf dem Wege zur Sonderung

und Sclbstregicrung

energisch fortschreiten. So führt die Betrachtung der Geschichte auf dasselbe Resultat. In allen Zeiten, wo die Religion um ihr Wesen und ihre Würde wußte, hat sie sich bestimmt unterschieden vom bürgerlichen Gemeinwesen, und hat zwar dem Kaiser gegeben was des Kaisers ist, aber auch für sich die Freiheit verlangt, unverkümmert Gott geben zu dürfen was Gottes ist. Die Apostel und die Reformatoren haben überall beide Gewalten streng gesondert; und als Schleiermacher die in den Staats­ absolutismus fast verloren gegangene Religion gleichsam neu entdeckte, ist ihm kein Satz wichtiger geworden, als der von der Sonderung des Kirchlichen und Staatlichen. Die Vermischung beider Gewalten dagegen bedeutete überall eine Schwächung und Entstellung des christ­ lichen Geistes und zog für beide Theile die traurigsten Folgen nach sich. Die Gewaltherrschaft der römischen Kirche über alle bürgerlichen

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Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

Gemeinwesen war es besonders, welche der Reformation die schnelle Ausbreitung verschaffte, weil nicht nur der persönliche Gewisscnsdruck, sondern auch die knechtische Abhängigkeit der Staaten ganz allge­ mein als unerträglich empfunden wurde. Und als dann Religion und Gewissen aus den Händen der römischen Kirche in die Macht des modernen Staates geriethen, so hat die Erfahrung, welche die Fröm­ migkeit in den letzten Jahrhunderten unter diesem Scepter machte, das Bewußtsein von der Unangemessenheit des Verhältnisses

sowie

die

Sehnsucht nach Befreiung der Religion ganz allgemein erweckt. Der Druck der mittelalterlichen Hierarchie widerspricht dem Geist des Chri­ stenthums,

aber

der Absolutismus des modernen Staats,

der die

Religion lediglich als eine Territorial-Angelegenheit betrachtet, steht dem Christenthum wahrhaftig um nichts näher. Der moderne Staats­ absolutismus hatte eine relative Berechtigung, er war nothwendig unter Anderm auch um die Universalmonarchie der römischen Kirche zu bre­ chen und unter seinem Schutz die Keime der modernen Bildung groß zu ziehen.

Aber er muß andererseits immerhin als ein Uebel betrachtet

werden, welches durch das vorangehende Uebel hervorgerufen war; und er hat darum keine geschichtliche Berechtigung mehr, sofern die äußere staatliche Gewalt der römischen Kirche vollständig gebrochen ist. Die Reformation hatte zunächst das Subject frei gemacht,

und

der moderne Staat hat seinen Absolutismus doch selten so weit ge­ trieben, daß er nicht diese Freiheit des persönlichen Gewissens in seiner vollen Berechtigung

anerkannt hätte.

Die Gewissensfreiheit ist ein

Zug in dem Antlitz der modernen Welt, den keine Macht wieder hat verwischen können, und die absolutesten Staaten, wie namentlich unser Preußen, haben die Gewissensfreiheit grundsätzlich genährt. Die Frei­ heit des Subjects indeß ist illusorisch ohne die Freiheit der Gemein­ schaft. Es hat sich namentlich im letzten Jahrhundert die Einsicht aller Denkenden bemächtigt, daß die Gewissensfreiheit nichtig sei ohne Frei­ heit des Bekenntnisses

und des Cultus.

Und darum ist aus dem

reformatorischen Prinzip von der Freiheit des Subjects mit unwider­ stehlicher Nothwendigkeit die moderne Religionsfreiheit erwachsen. Giebt aber der Staat unsers Jahrhunderts die Religionsgesellschaften frei, giebt er eine Mannigfaltigkeit von religiösen Bekenntnissen und Ge­ nossenschaften in seinem Reiche zu, und kann schon um deswillen die Leitung der Religionsangelegenheiten nicht in seiner Hand behalten; kann er überdies gar nicht daran denken der römisch-katholischen Kirche ihre alt-herkömmliche Selbstregierung gegenwärtig rauben zu wollen:

Die Selbständigkeit d. preußischen evangelischen Landeskirche.

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so drängt ihn natürlich das ganze Prinzip von der religiösen Freiheit dahin, in richtiger Consequenz auch die evangelische Kirche frei zu geben, die es wahrlich nicht als einen Vorzug empfinden dürfte, wenn ihr die Selbstregierung vorenthalten werden sollte, die man jeder ander» Re­ ligionsgesellschaft, ja selbst den unwichtigsten Gesellschaften zu gewähren kein Bedenken trägt.

Und das um so mehr,

als der gegenwärtige

constitutionelle Staat ein staatliches Kirchenregiment gar nicht mehr dulden kann. Denn wenn ein Kirchenregiment bei 'der Staatsgewalt verbleiben sollte, so müßte dasselbe constitutionell durch Vereinbarung zwischen Krone und Kammern geübt werden, waS aber bei einer confessionell gemischten Landcsvertretung, wo selbst an den der betreffenden Confession zugehörigen Mitgliedern die kirchliche Qualität und Befähi­ gung dem Zufall überlassen bleibt, eine reine Absurdität wäre. Ein Verbleiben der Kirchengewalt ausschließlich bei der Krone widerspräche aber nicht nur allen Grundsätzen des. constitutionellen Staats, der nimmermehr die absolute Gewalt der Krone auf dem Gebiet der Kirche anerkennen, noch auch dulden dürfte, daß dieselbe durch Ausübung ihrer Kirchengewalt ans der Region der Unverletzlichkeit in die Verantwort­ lichkeit und die Conflicte der Partcistellung herabgezogen werde: es wäre vielmehr der härteste Widerspruch in sich selber, wenn man für das bürgerliche Gemeinwesen den Absolutismus als nicht zeitgemäß besei­ tigen, und gleichzeitig den Absolutismus auf dem Gebiet recht eigentlich herstellen wollte, auf welchem er zu keiner Zeit berechtigt war, weil das religiöse Gewissen zu allen Zeiten Freiheit für sich in Anspruch nehmen muß. Also die ganze Entwicklung der neuen Geschichte drängt in den verschiedensten Richtungen hin auf die Selbständigkeit der Kirche; und wer etwa den von uns entwickelten Principien seine Zustimmung ver­ sagen muß, den möchte doch vielleicht eine unbefangene Betrachtung deS geschichtlichen Verlaufs chahin führen, die Selbstregierung der Kirche als eine nothwendige Forderung der Gegenwart anzuerkennen. Doch nun kommen die Besorgnisse.

Selbst diejenigen, welche

Princip und geschichtliche Nothwendigkeit anerkennen, können sich der ernstesten Befürchtungen nicht entschlagen, wenn sie'sich die evangelische Kirche frei denken sollen. Es ist ihnen zu Muthe, wie solchen die zum ersten Male ein Schiff betreten um in die offene wogende See hinaus­ zufahren, es schwankt Alles unter ihren Füßen und vor ihren Augen. Ihnen bangt gleicherweise um den Staat wie um die Kirche. Da sehen wir eö ja recht deutlich an der römischen Kirche in Spaeth,

Protestantische Bausteine,

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Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

unsern Tagen, was es mit der Selbstrcgierung der Kirche auf sich hat, sie machen einen Staat im Staate, der dem wirklichen Staat das Scepter aus der Hand zu winden sucht und das Volk in Knecht­ schaft bringt. — Aber wer heißt denn den Staat, der römischen Kirche eine derartige Selbständigkeit zu geben, durch welche er seine Selb­ ständigkeit zum großen Theil preiögiebt!

Selbständigkeit

der Kirche

besteht darin, daß sie Freiheit habe ihre Angelegenheitend. h. die Angelegenheiten der Religion selber und frei zu verwalten: aber Preiögebung aller Concurrenz für die Bildung der Geistlichen, schutzlose Preisgebung der Geistlichen in die bischöflliche Disciplinargewalt, unbeschränkte Freigebung für Klöster und geistliche Genossenschaften, Ueberlieferung von Schulen und Universitäten an die kirchliche Dictatur, nnd das Alles für eine Kirche welche unter einem ausländischen Ober­ haupte steht, das heißt nicht der Kirche die ihr gebührende Freiheit gewähren, es heißt vielmehr die unveräußerlichen Rechte des Staats an einen gefährlichen Gegner ansliefern. Eine Kirche, der nicht mehr gewährt ist als die Selbständigkeit die ihr gebührt, ist für den Staat ein ungefährlich Ding, zumal wenn er bei allgemeiner Religionsfreiheit allen übrigen Gesellschaften dieselbe Selbständigkeit gewährt. Es ist nur Schwachherzigkeit gegenwärtiger Staatsregierungen, welche den Schein der Gefährlichkeit hervorruft. Eine Staatsregierung, welche des Odems in ihrer Nase sich bewußt ist, d. h. von ihrer göttlichen Macht­ vollkommenheit ein Gefühl hat, macht einerseits nicht unter der Firma der Selbständigkeit übergreifende Concessionen, und scheut sich andrer­ seits nicht auch gegen die Kirche, wo sic sich verfehlt, ihr göttliches Strafrecht geltend zu machen gleichwie an andern Uebelthätern. Am ungefährlichsten für den Staat wäre die evangelische Kirche in ihrer Freiheit, ja sie wäre vielmehr seine beste und mächtigste Bundesgenossin auch gegen etwaige Uebergriffe der latholischen Kirche. Denn sie lehrt grundsätzlich den Staat als eine göttliche Ordnung anerkennen, sie predigt den Gehorsam gegen die Staatsgewalt auf staatlichem Gebiet ohne Clausel und Zweideutigkeit, und begehrt weder sich noch eines ihrer Glieder dem geltenden Recht oder dem Strafgesetz zu entziehen. Sie theilt mit dtm Staat das gleiche Interesse für Bildung und Wissenschaft, für Cultur und Industrie, und kann sich daher niemals weigern dem Staate für die Bildung ihrer Geistlichen sowie der gesammten evangelischen Jugend, für die Verwaltung ihrer Aemter und Besitzungen und Einkünfte alle nur möglichen Garantieen zu geben. Eine freie evangelische Kirche ist die stärkste Hülfsmacht, welche der

Die Selbständigkeit d. preußischen evangelischen Landeskirche.

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Staat, der sein eigenes Interesse versteht, im Volke für sich zu schaffen vermag. Was soll aber aus der Kirche werden, wenn sie freigelassen wird? Davon hegen manche die seltsamsten Vorstellungen. Sie meinen, die Kirche werde ihre seitherigen Besitzthümer und Mittel einbüßen und ausschließlich auf die freien Liebesgaben der Frömmigkeit angewiesen sein, die natürlich sehr spärlich ausfallen würden.

Die Kirche werde

fortan des staatlichen Schutzes entbehren und ihre Entlassung in die Selbständigkeit sei gleich der Proklamation der allgemeinen Willkür, welche Alles in zahllose Sekten auseinandertreiben werde; und daün würden die orthodoxen Fanatiker sich des Terrains bemächtigen; und dann würde die römische Kirche kommen und die freie ohnmächtige evangelische Kirche leicht überwältigen. WaS das doch für wunderliche Gedanken sind! ES ist in Deutsch­ land so ängstlich nicht mit der Sektenbildung, sie ist nur da so fruchtbar, wo der Dogmatismus noch Alles beherrscht, wie in Nordamerika. Bei uns in Deutschland, wo der Dogmatismus im Großen und Ganzen des Volks überwunden ist, ist auch der Sinn für eine große Organisation der gesammten evangelischen Kirche eben so allgemein vorhanden, und würde darum auch bei absoluter Freiheit das Sektenwesen immer nur einen mäßigen Umfang gewinnen, da immer nur Wenige in unserm Volk den sektirerischen Fanatismus mit lebendiger Gottesfurcht verwechseln. Aber wer sagt euch denn, daß die Freilassung der evangelischen Kirche eine Pro­ klamation ihrer Auflösung in sich schließe! Das wäre freilich das Allerwidersinnigste, was der Staat thun könnte, ist aber auch am weitesten entfernt von dem, was z. B. unser preußischer Staat im 15. Artikel der Verfassung gethan hat. Der Staat spricht in der Verfassung nicht etwa jedem einzelnen evangelischen Christen, noch auch jeder evangelischen Gemeinde für sich die Selbstregierung zu, er be­ stimmt vielmehr, die evangelische Kirche ordnet und verwaltet ihre Angelegenheiten selbständig. Er erkennt damit die bestehende historisch gewordene evangelische Landeskirche als ein einiges bestimmtes Rechts­ subject an, und fordert damit die Gesammtorganisation dieses Subjects um ihm die Selbstregierung zu übergeben. Und diese bestehende evan­ gelische Landeskirche braucht auch nicht etwa auf die freien Liebesgaben zu warten, sie hat ihre alt-herkömmlichen zu Recht bestehenden Besitzun­ gen und Einkünfte, die ihr von Niemandem mit größerem Recht ent­ zogen werden dürften als jedes andere rechtmäßige Eigenthum; sie hat solche in den Lokalgemeinden, in allerlei Stiftungen, und in den Do-

9*

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Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

tationen von Seiten des Staats, und hat an den Staat noch manche Ansprüche, deren Rechtmäßigkeit nicht bestritten werden bürste. Und fürwahr, es wäre doch geradezu widersinnig anzunehmen, daß mit dem Eintritt in die Selbständigkeit der Staat nicht mehr verpflichtet sein sollte, die schuldigen Felder zu zahlen, oder gar die evangelische Kirche in ihrem Recht und Eigenthum nicht mehr zuschützen brauchte. Der Staat hat eben alles Recht und Eigenthum zu schützen, was in

seinem

Bereich sich vorfindet: und es wäre eine völlig verkehrte Selbständigkeit der Kirche, wenn es nicht jedem Gliede derselben möglich sein sollte, gegen jede Rechtsverletzung, käme sie auch von den obersten Organen der Kirche selbst, den Schutz des Staates in Anspruch zu nehmen. Auch so werden Manche die Kirche verlassen, wenn die selbständige Organisation derselben ihrem religiösen Geschmack sehr widersprechen sollte: aber an eine großartige Zersplitterung ist wohl nicht zu denken, dazu ist viel zu wenig religiöser Ernst in dem separatistischen Treiben, und die Meisten werden, wie auch bisher, schon um der Mittel willen bleiben. Einzelne aber, denen es ein rechter Ernst ist, haben ja schon immer sich von der Kirche getrennt, und dazudieselbe Freiheit gehabt, welche sie bei der Selbständigkeit der Kirche haben werden. Vom orthodoxen Fanatismus fürchten wir, ehrlich gestanden, in der selb­ ständigen .Kirche gar nichts'. Jetzt wo alle Organe fehlen, können einige Trommler einen Lärm schlagen, als ob eine große Armee da­ hinter wäre. Wenn aber die Kirche in ihrer Selbständigkeit wird organisirt sein, wird es sich zeigen, wie wenig diese überwiegend künst­ lich erzeugte Richtung Wurzeln im Volke hat; und sie werden froh sein, daß die große Kirche in ihrer Weitherzigkeit ihnen Raum giebt, an ihrem Orte ungestört ihres Glaubens zu leben. Aber die katholische Kirche, die katholische Kirche! — Ja die ka­ tholische Kirche! Lieben Freunde, seht euch doch das Ding einmal erst ruhig an, ehe ihr anfangt, euch zu fürchten. Was kann euch denn die katholische Kirche zu Leide thun? Kann sie uns etwa mit einem dreißigjährigen Krieg überziehen, und wir Evangelischen wären nun, da wir selbständig geworden sind, schutzlos ihrer Gewaltthat preis­ gegeben?

Nun, ich denke, wenn sie Krieg machen könnte, so könnte

sie doch immer uns Evangelischen nicht blos in unserer Qualität als Kirchenglieder angreifen, sondern griffe zugleich in jedem einzelnen Kirchengliede ein Glied des preußischen Staates an: und der preußische Staat müßte schpn seine Bürger schützen, wenn auch die Kirche selb­ ständig ist, gerade so wie er sie schützen mußte, als sie noch nicht

Die Selbständigkeit fc. preußischen evangelischen Landeskirche. selbständig war.

Aber die katholische Kirche kann

133

eben keinen Krieg

machen, sund könnte sie es auch, die Selbständigkeit der evangelischen Kirche änderte daran nichts.

Ist es aber nicht die äußere Macht und

Gewalt der römischen Kirche, was fürchten wir denn von ihr?

Man

denkt immer an ihre compakte geschlossene Einheit gegenüber der viel­ gestaltigen. Zerspaltung der evangelischen Kirche. Aber man hat un­ willkürlich in die erstere Vorstellung den altherkömmlichen Gedanken der äußerlichen Machtstellung mit hineingetragen, wenn man aus der­ selben irgend welche Besorgnisse ableitet. Zieht man diesen Factor ab, so bleibt eben nicht viel Besorgliches übrig. Wird denn eine Un­ wahrheit dadurch mächtiger, daß sich eine Mehrzahl in geschlossener Einheit, wohlverstanden ohne äußere Gewalt, für dieselbe verbinden, und die Macht der Wahrheit dadurch geringer, wenn ihre Vertheidiger wenige sind an Zahl und mannigfaltig in ihrer Verkündigung?

Was

hätte dann der arme Augustinermönch zu hoffen gehabt, und was Jeder, der eine neue Seite der Wahrheit allein oder mit wenigen Ge­ nossen gegen alle bestehenden Mächte zu vertreten hat?

Ich meine,

wir haben eben nichts zu fürchten von dem Katholicismus, was nicht auch sonst zu fürchten war. Er wird hier und da Proselyten machen, und sich in die gemischten Ehen mischen, wie er daS Alles auch bisher gethan hat; er wird sich an die Fürsten zu machen suchen und Con­ cordate schließen, wie er es bisher gethan hat; aber es ist durchaus nicht abzusehen, wie ihm das Alles in höherem Grade möglich sein sollte, wenn die evangelische Kirche den Besitz ihrer Selbständigkeit an­ getreten haben wird. vertrauen,

Wir haben als Protestanten das gute Gott­

daß der Protestantismus die Macht ist, welche auf allen

Gebieten und in allen Gebilden die Gegenwart trägt und bewegt, und daß dieser göttliche Geist der Weltgeschichte mächtiger ist als alle ver­ alteten Institutionen und alle imposantesten Verbindungen zum Schutz des Veralteten. Und wenn diese gewisse Zuversicht, mit dem Gott der Gegenwart im Bunde zu stehen, schon jetzt jeden guten Protestanten durchdringt:

wie sollte dieselbe geringer, wie sollte sie nicht vielmehr

weit mächtiger in Allen werden, wenn die evangelische Kirche zu einer selbständigen Gesammtorganisation gelangt, und durch diese in den Stand gesetzt wird, gesunden protestantischen Geist in allen ihren Gliedern in lebendige Circulation zu bringen. Fürwahr eine selb­ ständige evangelische Kirche hat von der römisch-katholischen Kirche nichts zu fürchten: vielmehr ist sie die kräftigste Schutzwehr gegen dieselbe und ihre gefährlichste Gegnerin, weil sie bei guter Organisation alle

Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

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Mittel besitzt, die lebendige religiöse Wahrheit wider das Veraltete ins Feld zu führen, und alle die vielen protestantischen Elemente, welche die römischkatholische Kirche in sich birgt, sich anzueignen geschickt sein wird. Die Selbständigkeit der evangelischen Kirche erregt in uns keine Besorgnisse, wohl aber lebendige Hoffnungen für ihre Gesundheit, Einheit und Macht! Die Selbständigkeit erscheint uns also im Wesen der Kirche be­ gründet und durch den geschichtlichen Verlauf insbesondere des letzten Jahrhunderts geboten. Die Empfindung dieser Nothwendigkeit ist in unserer Zeit sehr stark und verbreitet, und namentlich hat Friedrich Wilhelm IV. durch alle seine, Worte und Anordnungen kund gegeben, daß er die Kirche in die Selbständigkeit zu führen gedenke. Und so ist denn unser 15. Verfassungs-Artikel als ein Resultat der geschicht­ lichen Entwicklung und als ein Ausdruck des in unserm Lande allge­ mein herrschenden Bewußtseins entstände». Und in die Selbständigkeit gehen wir ohne alle Besorgniß, ohne Besorgniß auch gegenüber der römischen Kirche. Wir wissen sehr wohl, was die geschlossene Einheit einer über den ganzen Erdboden verbreiteten Hierarchie zu bedeuten hat und zu bewirken vermag: aber wir wissen auch, daß sie das Alles durchaus nicht in höherem Grade vermag, wo die evangelische Kirche in die Selbständigkeit gelangt. Wir wissen, daß die lebendige Wahrheit überall mächtiger ist als die großartigste Verbindung, und daß der römisch-katholischen Kirche kein mächtigeres und respectableres Organ für die Wahrheit des Protestan­ tismus gegenüber gestellt werden kann, als eine selbständig organisirte evangelische Kirche, die sich in allen ihren Gliedern zu rühren vermag. Wir unterlassen, diese kurzen Andeutungen weiter auszuführen, indem wir auf den Artikel von Dr. C. Krause: Ueber das angebliche Vordringen des Katholicismus in Deutschland, namentlich in Preußen (Protestan­ tische Kirchenzeitnng, 1860, Nr. 5), verweisen, der dies Capitel zum Gegenstand eingehender Besprechung gemacht hat. Auch die Hoffnungen, die wir an die Selbständigkeit knüpfen, wollen wir nur kurz berühren.

Wir hoffen ja natürlich Alles das,

was wir als Gründe aufgestellt haben für die Nothwendigkeit der Selbstregierung.

Die Organisation, die nunnrrhr erfolgen muß, ist

an sich schon ein

hohes Gut für die Kirche: in

unserer Zeit kann

man getrost die Meinung unter die veralteten rechnen, welche auf die Verfassung keinen Werth legt und sie als ein rein äußerliches Ding

Die Selbständigkeit d. Preußischen evangelischen Landeskirche-

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ansieht, auf dessen Gestalt und Dasein wenig ankomme. ES weiß eben heutzutage jeder Mensch, daß die Verfassung für das Wohl des Gemeinwesens ebensowenig ein äußerliches

und

gleichgültiges Ding

ist, wie der Leib für die Seele, daß vielmehr eine kräftige gesunde und angemessene Beschaffenheit des Leibes für eine gedeihliche Thätig­ keit oer Seele erfordert wird, und ein mangelhafter oder krankhafter Leib nicht nur die Thatkraft der Seele hindert, sondern auch nicht selten ihrer innern sittlichen Gesundheit Eintracht thut. Es weiß eben Jedermann, der nicht gänzlich zurückgeblieben ist, daß eine gesunde angemessene Organisation für die Gesundheit des kirchlichen wie des staatlichen Lebens eine unentbehrliche Voraussetzung ist. Und wenn nun diese Organisation zugleich eine selbständige wird: so vermag dann die Kirche alle ihre Glieder frisch und frei zu rühren, und alle ihre Werke frisch und fröhlich zu thun, wie der in ihr waltende Geist sie treibt, und hat nicht zu warten, bis eine fremde Gewalt ihre Hand in Bewegung setzt, noch auch, wenn sie die Hand ausstrecken möchte zu einem guten oder nöthigen Werke, zu befürchten, daß sie gehindert werde. Die Kirche kommt dann in den ersehnten Zustand, wo sie ihres Glaubens leben kann, nicht aber nach dem Glauben dieses oder jenes Staatsoberhauptes, dieser oder jener Genossenschaft, welche sich gerade im Besitz, der Staatsregierung befindet, leben muß. Die selb­ ständige evangelische Kirche wird dann wirklich in ihrem Kultus und in ihren Ordnungen ein Ausdruck sein für den gegenwärtigen Stand des religiösen Lebens und der religiösen Bildung, und wird dann auch in dem großen Bildungsprozeß der Menschheit als ein bedeutender mitwirkender Factor die ihr gebührende Stellung wieder einnehmen, die sie so ziemlich verloren hat. Wir beschränken uns auf diese wenigen Bemerkungen über den viel besprochenen Gegenstand, um uns nunmehr zu dem thatsäch­ lichen

und rechtlichen

Sinn zu wenden, welchen die Selbstän­

digkeit für die evangelische Kirche nach der Verfassung bei uns in Preußen hat. 1. Die kirchliche Selbständigkeit ist der Schlußstein für die Be­ stimmungen unserer Staatsverfassung über die Religionsfreiheit. Das hat sich bei der Entstehung unserer Staatsversassung deutlich kund­ gegeben. Man glaubte sich anfänglich mit der Feststellung der allge­ meinsten Bestimmungen über die Religionsfreiheit, der Gewährung freien Bekenntnisses, freier Versammlung und Vereinigung begnügen zu dürfen: der Camphausensche Veifassungsentwurf enthielt nichts von

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Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

der Selbstregierung der Religionsgesellschaften.

Man sah indeß bald

ein, und es ist namentlich der von unserer Neustädter Pastoral-Conferenz zu diesem Zweck damals erwählten Commission das Verdienst nicht abzusprechen, durch ihre Sätze darauf aufmerksam gemacht zu haben, daß der Religionsfreiheit das wesentlichste Stück fehle, dessen Fehlen sie geradezu illusorisch machen könne, wenn nicht den Religions­ gesellschaften zugleich die selbständige Ordnung und Verwaltung ihrer Angelegenheiten gewährleistet werde. Fehlte einer Religionsgesellschaft die Selbstregierung, so könnte bei aller Religionsfreiheit der Staat zu ihr etwa also sprechen: Du hast volle Freiheit des Glaubens und des Bekenntnisses, du hast auch volle Freiheit dich zu versammeln und zu vereinigen mit wem du willst; aber ich will euch zur Wahrung der öffentlichen Ordnung Ort und Stunde bestimmen, wo und wann ihr zusammen kommen sollt. Ich werde euch Gesangbücher, Agenden und Lehrer schicken, wie sie eurer Erbauung und dem Staatswohl dienlich sind. Ich werde euch Beamten und Behörden bestellen und euch bekannt machen, ob und wann und welche Beamten von euch zu­ sammenkommen sollen zu Synoden, und was sie berathen sollen und was beschließen.

Ihr sollt zwar eures rechtmäßigen Besitzthums nicht

beraubt werden, aber ihr sollt nichts dazu erwerben, denn ihr habt genug, und damit ihr nicht verschwenderisch umgeht mit eurem Gelde, werde ich eure Kasse verwalten, und werde euren Beamten einen Lohn zumessen, wie er ihnen zuträglich ist, und werde euch zu Kirchenbauten, zu Missionszwecken, für Armen- und Krankenpflege stets die Summen überweisen, die mir das wahre Wohl eures Gemeinwesens zu erfordern scheint. Damit wäre ersichtlich, was mit der einen Hand gegeben wird, mit der andern vernichtet. Die Nationalversammlung nahm deshalb den Paragraphen von der Selbstregierung der Religionsgesell­ schaften in ihren Verfassungsentwurf auf, und von da ist er denn auch in die octrohirte und revidirte gegenwärtig rechtsgültige Staatsver­ fassung übergegangen. 2. Die Selbstregierung der Kirche erstreckt sich nach unsrer Ver­ fassung auf alle ihre Angelegenheiten.

In den Zeiten vor 1848 war

die Meinung nicht selten, daß die Kirche nur für ihre inneren An-' gelegenheiten von der Staatsgewalt losgelöst werden müßte, und auch der Verfassungsentwurf der Nationalversammlung, welcher zum ersten Mal den Kirchen das Recht der Selbstregierung zuspricht, bedient sich noch des Ausdrucks — „ verwaltet ihre inneren Angelegenheiten selb­ ständig".

Die Verhandlungen in den Jahren unserer Verfassnngs-

Die Selbständigkeit d. preußischen evangelischen Landeskirche.

137

bildung indeß überzeugten von der Unhaltbarkeit dieser Unterscheidung. WaS sind denn innere und was

äußere Angelegenheiten?

Ist etwa

der Kultus eine rein innere Angelegenheit, die Verfassung dagegen eine äußere? Ist die Lehre eine rein innere Angelegenheit, die Be­ setzung der Lehrämter aber eine äußere? Und wie sollte dann die Kirche es machen, daß sie frei über ihre Lehre bestimmte, wenn doch der Staat ihre Lehrämter besetzte?

Und wie sollte sie Freiheit haben,

ihren Cultus nach ihrem Herzen zu gestalten, wenn doch die ganze Organisation und deren Beamtung in den Händen des Staates läge? Wie wäre es ihr möglich, in ihren geistlichen Aemtern eine freie pro­ testantische Glaubensrichtung sich zu bewahren, wenn die Staatsregie­ rung alle theologischen Professuren mit orthodöxen Lehrern und alle ihre oberen Kirchenämter mit Männern von bischöflicher hierarchischer Gesinnung besetzen dürste? Wenn also auch die Unterscheidung zwischen sogenannten inneren und äußeren Angelegenheiten sich besser vollziehen ließe, als sie sich vollziehen läßt, so sind doch begreiflich die inneren mit den äußeren Angelegenheiten so untrennbar verwachsen, daß es geradezu unmöglich ist, auf dem einen Gebiete selbständig zu sein, wenn die andere Seite in fremden Händen sich befindet. Als ob ich Macht hätte, über meine geistige Wirksamkeit zu verfügen, wenn mein Leib sich in Ketten befindet; oder auch nur über meine Wohnung, wenn meinem Hauswirth unbedingte Vollmacht über die Umfassungs­ mauern des Hauses zusteht. Die Zusammengehörigkeit der inneren und äußeren Angelegenheiten geht so

weit, daß selbst das scheinbar

Aeußerliche, die Geldmittel nämlich, für die innere Freiheit unentbehr­ lich ist. Wer meinen Geldbeutel in Händen hat, der hat meine Frei­ heit, das ist ein vollkommen richtiger Satz. Und darum ist im bürger­ lichen Leben mit Recht die Ueberweisung der eigenen Mittel das Kennzeichen der Mündigkeit, die Vorenthaltung des Eigenthums da­ gegen überall die Erklärung der Unmündigkeit. Einer -Kirche also darf, wenn sie selbständig sein soll, die Verwaltung ihrer äußeren An­ gelegenheiten, auch ihrer eigenen Mittel, niemals vorenthalten werden: man stellte ihr sonst gerade in dem Moment der Entlassung in die Selbständigkeit das Zeugniß der Unmündigkeit aus.

Es wäre auch

schlechterdings nicht abzusehen, warum denn, wenn man doch jedem mündigen Menschen, der nicht blödsinnig oder sonstwie unzurechnungs­ fähig ist, die eigene Verwaltung seiner Mittel überläßt, gerade der evangelischen bleiben solle.

Kirche dies

allgemein

menschliche

Recht

vorenthalten

Es ist nicht einmal abzusehen, wiefern denn auch nur

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Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

die Besorgniß begründet sein sollte, daß die evangelische Kirche ihre Mittel weniger gut verwalten werde, als andere vernünftige Menschen und Corporationen, zumal sie ja, bei Licht besehen, aus eben denselben Personen besteht, aus welchen der Staat, und nicht wohl anzunehmen ist, daß die finanzkundigen Männer in den Momenten, wo sie sich als Glieder der evangelischen Kirche fühlen, allen finanziellen Verstand ein­ büßen sollten. Wer der evangelischen Kirche auch nur die Verwaltung ihrer eigenen Mittel nicht zugestehen will, der will sie in Knechtschaft halten. Und in Bezug auf die anderen sogenannten äußeren Ange­ legenheiten, z. B. die Ordnung ihrer Verfassung, die Besetzung ihrer Aemter, müssen wir sogar behaupten, daß die Verwaltung derselben schlechterdings Niemand so gut verstehen kann als sie selber, weil sie eben ausschließlich aus kirchlichem Geist und Sinn verwaltet werden müssen, und durchaus keine Bürgschaften gegeben sind, daß in den Höhen der Staatsregierungen jedesmal auch das kirchliche Verständniß die größte Höhe und Intensität haben werde. Die Kirche braucht also zu ihrer Selbständigkeit die Verwaltung aller ihrer Angelegenheiten, diese Anschauung bemächtigte sich Aller bei Feststellung der Staats­ verfassung: und darum wurde das Wort „innere" gestrichen, und in die Staatsverfassung einfach geschrieben: „Die Kirche ordnet und ver­ waltet ihre Angelegenheiten selbständig." Ihre Angelegenheiten, d. h. eben Alles was in ihr Gebiet gehört. Und damit ja nicht das Miß­ verständniß entstehen könne, als ob die Bildung ihrer Verfassung von dieser Selbstthätigkeit ausgeschlossen sei, wurde der Artikel ausdrücklich so gefaßt, wie er jetzt lautet, nämlich „ordnet und verwaltet ihre An­ gelegenheiten selbständig." 3. Aber nur ihre Angelegenheiten.

So gewiß der Artikel der

Selbstregierung der Kirche alle Angelegenheiten zuweist, welche wirklich dem kirchlichen Gemeinwesen ausschließlich angehören, ebenso bestimmt besagt er andererseits, daß die Selbstregierung sich ausschließlich auf die kirchlichen Dinge zu erstrecken habe, und der Kirche durchaus nicht über solche Dinge eine freie Verfügung zustehe, welche nicht dem Ge­ biet der Kirche oder demselben doch nicht ausschließlich angehören. Auf die Beobachtung dieser Gränze hat der Staat strenge zu halten, und gerate wenn er der Kirche auf ihrem Gebiet die Selbstregierung zuerkennt, muß er um so bestimmter darauf halten, daß diese nicht in andere Gebiete und namentlich nicht in das seinige übergreife. Wenn demnach der Staat verpflichtet ist, denjenigen kirchlichen Gemeinschaften, welchen die Selbstregierung noch fehlt, dieselbe zu gewähren, soweit sich

Die Selbständigkeit b. preußischen evangelischen Landeskirche.

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der Bereich ihrer Angelegenheiten erstreckt, so ist er andererseits eben­ sosehr verpflichtet, solchen Kirchengesellschaften, welche sich im Besitz der

Selbstregierung befinden, wie z. B. die römische Kirche, sofern

sie das gebührende Maß überschreiten, ihre Befugnisse auf die natür­ lichen Grenzen zurückzuführen, vor allen Dingen aber ihnen nicht noch aufs Neue Befugnisse zuzugestehen, welche durchaus nicht im Begriff der Selbstregierung liegen. Es gehört durchaus nicht zur Selbstregierung einer Kirche, daß dieselbe unbeschränkte Vollmacht habe, religiöse Orden und Genossen­ schaften einzuführen und Klöster und Seminarien zu

gründen: der

Staat muß sich stets für solche Dinge die Genehmigung vorbehalten, weil er sich ja die Ertheilung don Corporationsrechten als seines Amtes vorbehalten muß.

Vor allen Dingen muß der Verkehr einer Kirchen­

gesellschaft mit einem ausländischen Kirchenoberhaupt, sowie die Zu­ lassung ausländischer Orden denjenigen Beschränkungen der staatlichen Oberaufsicht unterworfen bleiben, deren sich der Staat in Bezug auf das Ausland überhaupt niemals begeben darf. Es gehört nicht zum Begriff der Selbstregierung, daß die kirchliche Vermögensverwaltung, welche allerdings ihren eigenen Händen überwiesen sein muß, um des­ willen aller Einsicht und Aufsicht deö Staates entzogen sei: die Kirche muß nicht nur in diesem Punkt den allgemeinen Staatsgesetzen, son­ dern auch denjenigen Bestimmungen unterworfen sein, welchen alle Corporationen namentlich auch in Bezug

auf das

Eigenthum

zur

todten Hand unterliegen. ES gehört nicht zum Begriff der Selbst­ regierung, daß die Kirchen ganz beliebig ihre Verfassungen ändern können, ohne nach dem Staat zu fragen: das kirchliche Statut unter­ liegt, wie jedes Statut, der Genehmigung des Staates, weil es an der großen Gesammtrechtsordnung ein Glied bildet, und der Staat darüber zu wachen hat, daß weder sein Gesetz noch irgend ein im Lande gültiges Recht verletzt werde; nur daß der Staat die Geneh­ migung nicht versagen darf nach bloßem Belieben, nach

Maßgabe des

geltenden Rechts.

sondern lediglich

Die Selbstregierung besagt

nicht, daß die Glieder und Beamten einer Kirche in Bezug auf ihre kirchlichen Angelegenheiten dem Rechtsschutz des Staates entzogen und unbedingt in die Macht ihrer kirchlichen Oberbehörden gegeben wären: der Staat ist einmal die Rechtsordnung, und ist für den Bestand allen und jeden Rechts, welches in seinem Bereich und unter seiner Genehmigung entsteht, verantwortlich.

Wo es und soweit es sich um Rechte handelt,

muß jedes Glied

jeder Beamte der Kirche auch den

und

obersten

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Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

Kirchenbehörden gegenüber sein Recht bei den Gerichten des Staats suchen können, geradeso wie man jede Privatgesellschaft wegen Ver­ letzung eines contractlichen Verhältnisses verklagen kann. Der Staat darf z. B. nimmermehr dulden, daß die Geistlichen einer Kirche einer solchen Disciplinargewalt ihrer Oberen unterworfen werden, welche sie in Bezug auf Existenz und Eigenthum außerhalb des allgemeinen Rechts stellt, gleichwie er andererseits keiner kirchlichen Stelle ein Strafrecht zuerkennen darf,^ welches Strafgesetzes fällt.

in

das Bereich des staatlichen

Auf Grund der Selbstregierung

darf von der

Kirche nicht ein Einfluß auf die Jugendbildung in Anspruch genommen werden, der dieselbe ausschließlich von ihrer Bestimmung

abhängig

machen würde: für den Religionsunterricht muß allerdings den Kirchen auf allen Stufen der Schulbildung ihr bestimmender Einfluß gesichert werden, nimmermehr aber darf der Staat die gesammte Schulbildung oder gar die Universitäten in die Hände einer Kirche überliefern, solche Selbständigkeit wäre mit seiner Unselbständigkeit gleichbedeutend.

Im

Gegentheil die Kirche, der er Selbstregierung und Corporationsrechte gewährt, ist verpflichtet, ihm für die Bildung und sittliche Beschaffen­ heit aller ihrer Beamten genügende Garantieen zu geben, und er ist verpflichtet, solche Garantteen zu fordern. Er darf durchaus nicht zngeben, daß die Beamten einer kirchlichen Genossenschaft, welche an der Bildung eines bedeutenden Theils der Staatseinwohner betheiligt sind und auf die mannigfaltigste Weise die Interessen und Rechte des Staats sowie seiner Bewohner berühren, entweder eine ganz ungenügende Bildung erhalten oder gar in einem dem Staate und Vaterlande feind­ seligen Geist erzogen werden. Die evangelische Kirche wird ihm in allen diesen Stücken gern die nöthigen Bürgschaften gewähren, und von der katholischen Kirche sowie von jeder anderen Religionsgesell­ schaft, der er Corporationsrechte verleiht, muß er sie verlangen. Die Kirche darf sich niemals anmaßen, auf Grund ihrer Selbstregierung irgendwie von dem allgemeinen Recht befreit zu sein: und der Staat darf niemals dulden, daß unter diesem Vorwände irgendwie Derartiges geschehe. Geradezu widersinnig ist es, wenn in einer Zeit, wo die kirchliche Selbständigkeit noch gar nicht vollzogen ist, Geistliche sogar für solche Thätigkeiten, in welchen sie lediglich

als Vollstrecker des

Staatsgesetzes dastehen, z. B. in der Führung der Geburts- und Todtenlisten oder in der Vollziehung der vom Staatsgesetz geforderten Trauung, ausschließlich sich unter ihre kirchlichen Behörden stellen und dem Staatsgesetz gegenüber unverantwortlich sein wollen: eö zeugt nur

Die Selbständigkeit d. preußischen evangelischen Landeskirche.

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Von der herrschenden Verwirrung der Begriffe, wenn der Staat gegen Solche, welche die mit ihrem Amtsantritt übernommenen Verpflichtungen versäumen, nicht einfach die Strenge seines Gesetzes in Anwendung bringt, gegen die Uebertreter wie gegen Diejenigen, welche zur Uebertretung auffordern. 4. Wenn der Artikel 15 den verschiedenen Kirchen und Kirchen­ gesellschaften die Selbstregierung gewährleistet: so fordert er ein gleich­ mäßiges und gleichzeitiges Verfahren gegen dieselben. Es ent­ spricht nicht dem verfassungsmäßigen Recht, wenn der Staat einer Kirche die Selbstregiernng übergiebt, der anderen dagegen sie vor­ enthält. Auch gestattet dieser Artikel der Staatsregierung nicht, die Vollziehung der Selbständigkeit für diejenige Kirche, welche sie noch nicht besitzt, beliebig hinauszuschieben: er fordert vielmehr eine unver­ zügliche Vollziehung. Dem Rechte wäre nur dann streng entsprochen, wenn zu derselben Zeit, wo die Staatsregierung sich beeilte, der römischkatholischen Kirche die noch fehlenden Attribute der Selbstregierung zu gewähren, auch der evangelischen Kirche gewährt hätte, was ihr ge­ bührt. Das Gesetz fordert, daß die Staatsgewalten das Versäumte unverzüglich nachholen. Inzwischen hat es der Staat sich selber zuzu­ schreiben, wenn ihm aus der einseitigen Selbständigkeit der katholischen Kirche allerlei Verlegenheiten und Unbequemlichkeiten erwachsen. DaS Gesetz und die Gesundheit der Entwicklung verlangen eine gleichmäßige Gewährung der Selbstregierung. 5.

Auch das ist nicht zu übersehen, daß die beiden Artikel von

der Religionsfreiheit und kirchlichen Selbstregierung nothwendig zu­ sammengehören. Wie wir davon ausgingen, daß die Religions­ freiheit nicht zur Wahrheit werden kann, wenn nicht die Selbstregierung hinzukommt: so kann wiederum die kirchliche Selbstregierung unter Um­ ständen ein gefährlich Ding werden, wenn sie nicht auf der Voraus­ setzung der allgemeinen Religionsfreiheit ruht. Die Selbstregierung, wo sie nur einigen herrschenden Kirchen ausschließlich gewährt würde ohne allgemeine Religionsfreiheit, könnte zur geistlichen Tyrannei führen gegen die Mitglieder der Kirchen, und könnte der Staatsregierung Schwierigkeiten bereiten, wenn z. B. die kirchlichen Oberen eine feind­ selige politische Stellung gegen die Staatsregierung einzunehmen für gut fänden. Dagegen ist die allgemeine Religionsfreiheit das Sicher­ heitsventil, welches alle überschüssigen und gefährlichen Dämpfe der Hierarchie ableitet. Bei allgemeiner Religionsfreiheit ist gar keine Gefahr von Seiten der Kirche vorhanden, weil sie Jedem Gelegenheit

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Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

giebt, den etwanigen Blitzen der Kirche zu entweichen, und jedem guten Staatsbürger die Möglichkeit gewährt, der Kirche, welche ihn mit-seiner Staatsobrigkeit in Zwiespalt zu bringen versuchte, den Rücken zu kehren. Und darum wird auch die hierarchischste Kirche, wo die allge­ meine Religionsfreiheit herrscht, sich Wohl hüten, ihre Anmaßungen zu weit zu treiben; während bei dem Mangel der Freiheit die An­ sprüche kein Ziel kennen. Eine ausschließlich berechtigte selbständige Kirche ist eine für den Staat nicht ungefährliche Macht: unter der Herrschaft der allgemeinen Religionsfreiheit ist von kirchlicher Selbst­ regierung nichts zu besorgen.

Und darum darf der Staat es niemals

vergessen, wenn er den Kirchen ihre Selbstregierung gewährt, daß er gleichzeitig den Artikel von der Religionsfreiheit zur allgemeinen Gel­ tung bringen müsse.

Nachtrag: Trr Ackerwirth Hoberg und die Zweite Kammer. Nachdem wir Obiges geschrieben, lasen wir den Kammerbericht über die Petition des Ackerwirths Hoberg, der von seinem Geistlichen angeblich wegen Lachens in der Kirche von der Pathenschaft und dem heiligen Abendmahl zurückgewiesen, und überdies als „Gotteslästerer" zur Kirchthüre hinausgcwiesen, nachdem er in allen Instanzen vergeb­ lich Recht

gesucht,

nunmehr den Schutz der

Kammer in Anspruch

nimmt. Die Kammer ist über die Petition zur einfachen Tagesordnung übergegangen; und die einfache sowie die motivirte Tagesordnung sagen, daß dem Manne nicht zu helfen sei wegen des Artikels 15. Wir bekennen, daß wir diesen Beschluß der Kammer nicht ver­ stehen. Wir hatten die Hoffnung, als wir den Beschluß lasen, es werde sich herausstellen, daß man wegen mangelnder Beweisführung den schwer gekränkten Mann habe abweisen müssen; aber unsere Hoff­ nung hat unö getäuscht, es ist unzweifelhaft, man hat ihn wegen des Artikels 15 abgewiesen. Und da wollen wir es kurz aussprechen: wir halten den Beschluß für eine sehr bedenkliche Auslegung des Artikel 15. Wir nehmen einmal an, der Artikel 15 wäre bereits in voller Rechtskraft für die evangelische Kirche und ihre Selbständigkeit durch­ weg vollzogen: soll diese Selbständigkeit etwa besagen, daß alle soge­ genannten kirchlichen Angelegenheiten, Alles was innerhalb der Kirche geschieht, vor kein staatliches Forum, vor kein Gericht, keine Staats­ behörde, kein Abgeordnetenhaus gehöre, weil es

ein Jnternum der

Die Selbständigkeit d. preußischen evangelischen Landeskirche.

Kirche fei?

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Also es wäre dem Geistlichen fortan erlaubt, jedes Ge-

meindeglied nicht nur nach Belieben von den kirchlichen Handlungen zurück- und zur Kirchenthür hinauszuweisen, sondern ihm auch vor öffentlicher Versammlung Namen wie Gotteslästerer und andere Ehren­ titel anzuhängen? Und wenn das, warum dürfte der Geistliche nicht auch Titel wie Spitzbube und Mordbrenner austheilen? Es wäre ja ein Jnternum, wenn es nur innerhalb der Kirche geschieht. Und wenn es nun einem Geistlichen einfiele, von der Kanzel für die Beseitigung der Regierung deö Prinz-Regenten zu beten und dieselbe in Predigt und Gebet zu lästern, wie doch Aehnliches auch vorgekommen ist; wäre das auch ein reines Jnternum und gäbe es, wenn die Kirchenbehörden belieben sollten, nicht einzuschreiten, dagegen keinen Schutz und keine Hülfe? Wir gestehen, wenn das die Selbständigkeit der Kirche wäre, wenn sie das bedeutete, daß nunmehr innerhalb des kirchlichen Gebietes kein Mensch mehr seiner Ehre, seines guten Namens, seines Rechtes sicher sein, und vielmehr der fanatischen oder pfäffischen Willkür eines jeden kleinen Papstes schutzlos preisgegeben sein sollte: fürwahr wir würden uns bekreuzen und segnen vor dieser Selbständigkeit; wir würden sie für das größeste Unglück halten, das der modernen Welt begegnen könnte, wogegen uns die Abbängigkeit der Kirche von der Staatsregierung als ein golvenes Zeitalter erschiene. Die Selbständigkeit der Kirche ist nicht gleichbedeutend mit Recht­ losigkeit. Der Staat ist die Rechtsordnung und hat alles Recht in seinem Bereich zu schützen. DaS allgemeine Landesgesetz gilt für die Kirche nicht weniger als für alle anderen Genossenschaften; und wer dagegen fehlt, wer da stiehlt oder schimpft oder beleidigt, der verfällt dem allgemeinen Strafgesetz des Staates, gleichviel ob er auch in der Kirche gestohlen oddr geschimpft oder beleidigt habe, im Gegentheil, die Heiligkeit des Ortes erschwert das Vergehen. Und gleichviel, ob die Kirchenbehörden gegen einen derartig sich verfehlenden Geistlichen disciplinarisch einschreiten oder nicht: die vom Staat bestellten Wächter des Gesetzes haben sich der Sache anzunehmen, wenn nicht die Kirche die Zufluchtsstätte für Vergehungen werden soll.

Gleichwie ja ohne

Zweifel Niemand annehmen wird, daß der Staatsanwalt von wegen der Selbständigkeit der Kirche z. B. Störungen des öffentlichen Gottes­ dienstes nicht mehr in seine Cognition zu ziehen habe. Aber auch die Zurückweisung von Pathenschaft und Abendmahl ist nicht so schlechthin ein Jnternum der Kirche, daß der Staat sich schlechterdings um die Handhabung derselben nichts zu kümmern hätte.

144

Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

Auch die selbständige Kirche bedarf für ihre Statuten der Genehmi­ gung des Staates. Damit werden dieselben in seine Rechtsordnung eingefügt, und er ist verpflichtet, über die Aufrechthaltung derselben zu wachen. Der Staat ist verpflichtet, die selbständige Kirche in ihren Rechten und Ordnungen und Besitzthümeru gegen jeden Eingriff von außen sowie gegen jedes ihrer Mitglieder zu schützen: aber ebenso ver­ pflichtet,

jedes Mitglied jeder Kirche gegen rechts- und verfassungs­

widrige Behandlung seiner kirchlichen Oberen in Schutz zu nehmen. Setzte nämlich die selbständige Kirche in ihren Statuten unter Ge­ nehmigung des Staates fest, daß jedes Presbyterium das Recht habe, von Pathenschaft und Abendmahl auszuschließen, und eine Ausschließung wäre ganz in dieser Form erfolgt, so müßte eben der Betreffende, so­ fern nicht etwa höhere Instanzen das Urtheil cassiren, sich einfach dabei beruhigen, und der Staat könnte und dürfte ihm nicht helfen. Wenn aber- dieser anerkannten Ordnung zuwider einem Pfarrer einfiele, öffentlich bei der Abendmahlsfeier eigenmächtig Jemand zurückzuweisen, und dieser könnte bei den betreffenden kirchlichen Instanzen den Schutz seines gekränkten Rechts nicht finden, so würde der Staat, sofern die Zurückweisung nicht etwa mit Ehrenkränkungen oder dergl. verbunden, sondern sich rein auf dies kirchliche Recht beschränkt hätte, allerdings auch hier nicht als Richter zwischen dem einzelnen Pfarrer und seinem Gemeindegliede eintreten, weil es sich eben um ein rein kirchliches Jnternum handelte, wohl aber müßte er unseres Erachtens die kirch­ lichen Behörden wegen Rechtsverweigerung und Statutenverletzung in Anspruch nehmen. So müßte es sein, wenn die Kirche selbständig wäre. Run aber ist die evangelische Kirche noch gar nicht in den Besitz ihrer Selb­ ständigkeit gelangt, der Artikel !5 soll für sie erst noch ausgeführt werden, darin stimmen die Majorität der Abgeordneten mit dem Cultus­ minister überein. Wie viel mehr haben also die Staatsgewalten Ur­ sache, sich jedes Einzelnen gegen Rechtsverletzungen und Ehrenkränkungen anzunehmen, zumal in der Gegenwart in dem kirchlichen Interim, wo die Selbständigkeit der Kirche vielfach von Kirchenbchörden und Pastoren so aufgefaßt wird, als ob ihnen damit die Vollmacht gegeben wäre, über kirchliche Angelegenheiten und Personen frei zu verfügen,

und

auch um das geltende Staatsgesetz sich nicht zu bekümmern, wenn es ihrem vermeintlichen Gewissen widerstreitet. Wenn die Staatsbehörden und das Abgeordnetenhaus in diesem traurigen Interregnum sich nicht kräftig des Einzelnen gegen die Willkür annehmen,

dann helfen sie

Die Selbständigkeit d. preußischen evangelischen Landeskirche.

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dazu, daß die evangelische Kirche von Vielen ihrer Gegner verlassen wird. Auch aus der selbständigen Kirche werden mannigfache Klagen vor das Haus der Abgeordneten kommen: und das HauS der Abgeordneten wird, wenn es sich nicht durch eine unbestimmte Scheu bestimmen läßt, wird unseres Erachtens zu diesen Klagen sich gerade so zu verhalten haben, wie zu allen Klagen, die aus anderen Corporarionen kommen. Es wird dieselben, falls es Rechtsverletzungen erkennt, dem Staats­ ministerium zur Abhülfe überweisen, und der Cultusminister wird für dieselben die oberste Kirchenbehörde in Anspruch nehmen müssen. Denn auch die selbständige Kirche wird stets in allen rechtlichen Dingen den Staatsgewalten verantwortlich sein. Das ist der Unterschied zwischen der kirchlichen Selbständigkeit deö Mittelalters und der kirchlichen Selb­ ständigkeit im modernen Rechtsstaat. Wie soll nun die evangelische Kirche in den Besitz ihrer ver­ fassungsmäßigen Selbständigkeit gelangen, d. h. wie soll der Artikel 15 der Staatsverfassung für sie in Vollzug gebracht werden? Das ist die wichtigste praktische Frage. 1.

Der Artikel 15 braucht gar nicht vollzogen zu wer­

den, die evangelische Kirche ist bereits selbständig, sie hat seit Jahr­ hunderten ihre selbständige Verfassung und ihr Oberhaupt an dem Landesherrn. ES braucht und kann und soll an dieser Ordnung nichts geändert werden; ihre Selbständigkeit besteht darin, daß sich die staat­ lichen Factoren, Minister und Kammern um die kirchlichen Angelegen­ heiten nichts zu kümmern haben, sondern der Landesherr sein unver­ äußerliches Recht der Kirchenregierung durch eigene kirchliche Organe unabhängig von den Staatsgewalten und ihnen gegenüber unverant­ wortlich ausübt. Diese Ansicht wurde bekanntlich seit 1849, als man es besser zu finden begann, daß das landesherrliche Kirchenregiment beibehalten werde, von den Führern der orthodoxen Partei entwickelt, von den Kirchenbehörden praktisch befolgt, und namentlich von v. Raumer in der Zweiten Kammer klar und bestimmt ausgesprochen. Die An­ sicht empfiehlt sich dnrch Einfachheit, und würde uns alles Nachdenkens über die schwierige Frage der Vollziehung überheben; aber eS fragt sich, ob sie auch richtig ist und haltbar. Gegen die Richtigkeit scheint schon das zu sprechen, daß der Ar­ tikel 15 in der Staatsverfassung steht.

Wenn die Ansicht richtig wäre

und die evangelische Kirche sich bereits im Besitz ihrer Selbständigkeit Spaeth, Protestantische Bausteine.

10

146

Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

befunden hätte, so würde der Artikel schwerlich in |t>ie Verfassung ge­ rathen sein. Denn die römisch-katholische Kirche war selbständig, und die Selbständigkeit der kleineren anerkannten oder geduldeten Neligionsgesellschaften hatte niemals Jemand zu beeinträchtigen unternommen, und für nichts und wieder nichts macht man doch keine Verfassungsbestimmungen. Die Geschichte unserer Verfassungsbildung beweist auch unzweifel­ haft, daß der Artikel 15 mit besonderer Rücksicht auf die evangelische Kirche entstanden ist. Man sah eben das Verhältniß, welches die evangelische Kirche zur Staatsregierung hatte,

als das der Unselb­

ständigkeit an, und wollte durch den Artikel feststellen, daß dies Ver­ hältniß fortan gelöst sein, und die evangelische Kirche dieselbe Selb­ ständigkeit haben solle, welcher sich die anderen Religionsgesellschaften erfreuen. Man erblickte ihre Unselbständigkeit vornämlich in der staat­ lichen Beschaffenheit der kirchenregimentlichen Organe, und setzte darum voraus, daß zur Vollziehung ihrer Selbständigkeit vornämlich dies staatskirchliche Regiment in Wegfall kommen, und Organe an seine Stelle treten müßten, welche die Kirche aus sich selbst erzeuge. Diese Anschauung war allgemein im Volk, in der Volksvertretung und in der Regierung: Niemand faßte den Artikel 15 anders auf als so; selbst Diejenigen haben diese Auffassung öffentlich ausgesprochen, welche nachher die besagte entgegengesetzte Theorie erfanden. Bor allen Dingen war diese Anschauung lebendig in unserem Könige, und seine ganze Thätigkeit auf kirchlichem Gebiete hat nicht wenig dazu beigettagen, sie zum Gemeinbewußtsein zu erheben. Alle kirchlichen Bemühungen des Königs gingen darauf hinaus, der Kirche eine eigene würdige Existenz zu schaffen, und ihr Organe zu bilden, welche ihr die Möglichkeit gewährten, „sich aus sich selbst zu erbauen". Der Ge­ danke war ihm fern, daß für die selbständige Kirche das landesherr­ liche Kirchenregiment bestehen bleiben könne. Dazu hatte er eine viel zu hohe Meinung von der Kirche; und hat es auch bestimmt ausge­ sprochen, daß er sich nach

dem Zeitpunkt sehne, wo

er werde das

Kirchenregiment „in die rechten Hände legen" können. Er würde auch sicherlich diesen ernsten und aufrichtigen Willen haben zur That werden lassen, wenn nicht seine bestimmt ausgeprägte Anschauung von einer apostolisch-bischöflichen Kirchenverfassung, für deren Verwirklichung sich immer weniger Aussicht zeigte, wieder und wieder von der Ausführung seines herzlichen Verlangens abgehalten hätte. Die gegnerische Theorie ist auch in sich unhaltbar.

Ein landes-

Die Selbständigkeit b. preußischen evangelischen Landeskirche.

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herrliches Kirchenregiment wäre im constitutionellen Staate die selt­ samste Anomalie. Entweder nämlich müßte man sich die kirchliche Selbständigkeit in mittelalterlicher Weise denken, so daß die Kirche als ein völlig gesondertes Reich dem Staate gegenüber stände, ohne dem­ selben in irgend welcher Beziehung für ihr Thun und Treiben, für ihre Besitzungen und Rechte verantwortlich zu sein. Das aber wäre eine Form der Selbständigkeit, welche den gegenseitigen Vernichtungs­ krieg zwischen Staat und Kirche bedeutete,

und vor welcher die mo­

derne Welt sich noch mehr zu hüten hat als vor der kirchlichen Un­ selbständigkeit. Und bei dieser Selbständigkeit müßte daö landesherr­ liche Kirchenregiment zu einem Papstthum erwachsen, das für die be­ treffende Kirche und ihre Glieder um so unerträglicher erschiene, alS der Inhaber dieses unverantwortlichen Kirchenregiments zugleich mit der höchsten weltlichen Macht bekleidet wäre; und das die 'absolute Gewalt, welche die Constitution auf der einen Seite zu Gunsten von Fürst und Volk beschränkt- auf der anderen Seite in viel höherem Grade und wegen der Natur des Gebietes in viel empfindlicherer und und drückenderer Weise wieder Herstellen würde. Ist aber diese Form der kirchlichen Selbständigkeit für die moderne Welt undenkbar und in dem modernen Rechtsstaat unvollziehbar, kann die kirchliche Selbst­ regierung gegenwärtig nur so gedacht werden, daß auch die selbständigste Kirche gleich jeder anderen Genossenschaft in allen rechtlichen Angelegen­ heiten der Staatsgewalt verantwortlich bleibt: so müßte ein landes­ herrliches Kirchenregiment den Träger der Krone' in eine für die gegen­ wärtigen Zustände durchaus unangemessene Lage bringen. Die Er­ habenheit der Krone über den Gegensätzen der Confessionen und Parteien ginge verloren: als Führer und oberster Vertreter einer bestimmten Confession, ja vielleicht als mächtigstes Oberhaupt einer bestimmten kirchlichen Partei würde der Träger der Krone nicht nur in einen Gegensatz gegen die anderen Confessionen gebracht, sondern nicht selten auch in den Streit der kirchlichen Parteiungen herabgezogen werden, und dadurch ohne Zweifel im Bewußtsein des Volks eine schiefe Stel­ lung erhalten.

Der Träger der Krone würde bei obwaltender Diffe­

renz zwischen kirchlicher und staatlicher Anschauung (vgl. die Ehesachen) in die Lage kommen, auf dem Gebiete des Staates in seinem Namen Verordnungen ausgehen zu lassen, mit welchen dasjenige, was die von ihm vertretene Kirche anordnete, nicht überall auf das Beste zusammen­ zustimmen brauchte, und durch Stärkung der Krone beitragen.

solchen Zwiespalt wahrlich nicht zur Er würde sogar in die üble Noth-

10*

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Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

Wendigkeit gerathen, als Kirchenoberhaupt die Rechte und Wünsche seiner Kirche bei den Staatsgewalten, d. h. bei den Kammern und seinen eigenen Ministern, petitionirend oder vertheidigend vertreten, beziehentlich sich gefallen lassen zu müssen, von diesen mit seinen Anträgen abgewiesen zu werden. Und wenn es eben undenkbar ist, daß ihn die Staatsgewalten jemals in diese Lage kommen lassen dürften: so wäre doch, falls eben das landesherrliche Kirchenregiment bestehen soll, solche Un­ zulässigkeit nur zu vermeiden, wenn man das noch viel Undenkbarere, nämlich eine mittelalterliche schlechthin unverantwortliche Kirche zuließe. Also im constitutionellen Staat ist ein landesherrliches Kirchenregiment eine völlige Anomalie und ein bedenklich Ding: und Diejenigen be­ rathen die Krone schlecht, welche die Festhaltung des Kirchenregiments empfehlen; es sind nicht treue Rathgeber Diejenigen, welche, um die Königliche Macht für ihre Kirche oder gar für ihre besondere kirchliche Partei als Stütze zu behalten, die Ehre und Würde der Krone in Gefahr bringen. Selbst also, wenn es rechtlich möglich wäre, müßte auö Rücksicht auf das Wohl des Vaterlandes und der Kirche so wie um der Würde der Krone willen diese von allem und jedem Kirchen­ regiment befreit werden. Die rechtliche Möglichkeit beruht indeß auf einer bloßen Fiction. Die Landesherren besitzen das Kirchenregiment nicht als Staatsober­ häupter, sondern als die vornehmsten Glieder der Kirche (praecipua membra ecclesiae); und darum können sie es beibehalten, auch wenn sie ihre Staatsgewalt mit anderen Factoren theilen. So lautet die neuste Auskunft. Sie ist eben nur eine leere Auskunft, die überdies zu nichts Hilst. Nicht nur widerspricht dieser Theorie die Thatsache, daß auch katholische Fürsten, also Glieder einer anderen Kirche, das Kirchenregiment über die evangelische Kirche ihres Landes in Händen haben, und die andere Thatsache, daß die Landesherren ohne Aus­ nahme und erblich das Kirchenregiment behalten, während im Falle der Uebertragung auch Fälle der Nichtübertragung vorkommen müßten oder doch könnten: es ist auch geschichtlich gar nicht so zugegangen; vielmehr haben die Fürsten, welche in der Reformationszeit der be­ drängten evangelischen Kirche sich annahmen, auch sehr. bald ihres Kirchenregimentes sich angenommen aus eigener Machtvollkommenheit, ohne daß irgend eine Kirche aus irgend welchem Grunde noch um irgend welcher Eigenschaft willen sie damit beauftragt hätte. Und wenn dann die Fürsten gleichwie die Stadtobrigkeiten von den Reforma­ toren und evangelischen Theologen praecipua membra ecclesiae ge-

Die Selbständigkeit d. preußischen evangelischen Landeskirche.

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nannt wurden: so hat doch wohl Niemand daran gedacht. Ihnen da­ mit eine kirchliche Eigenschaft beilegen oder gar den Satz aufstellen zu wollen, daß die in der bürgerlichen Welt Obenanstehenden überall auch an Frömmigkeit und kirchlicher Weisheit die Hervorragendsten seien. Man hat nichts Anderes damit bezeichnen wollen, als daß sie eben diejenigen Glieder der Kirche sind, welche in der bürgerlichen Welt die höchste Machtstellung haben. Und wenn man ihnen dann in dieser Eigenschaft die Kirchenregierung, die sie an sich genommen, zusprach, zumal man es eben nicht ändern konnte, so sprach man sie ihnen da­ mit doch immer in ihrer Eigenschaft als bürgerlicher und staatlicher Obrigkeit zu. Und so wäre denn auch nach dieser wiewohl ganz un­ geschichtlichen Theorie die landesherrliche Kirchenregierung doch immer­ hin ein Attribut ihrer Staatsgewalt. Wenn dann ein Staat seine absolute Regierungsform in eine constitutionelle verwandelt, so sind für das landesherrliche Kirchen­ regiment immer nur zwei Fälle möglich. Entweder der Kirche wird nicht die Selbständigkeit zugesprochen, sondern ihre Regierung verbleibt in der Verbindung mit der Staatsregierung: so muß auch die Kirchen­ regierung gleich allen Attributen der Staatsgewalt in die constitutio­ nelle Theilung gehen, und hinfort von der Krone und dem Parlament gemeinsam geführt werden. Oder aber die Kirche wird in die Selb­ ständigkeit entlassen: dann muß ihr Regiment nicht nur von dem einen Theil der Staatsgewalten, von den Kammern, sondern ebenso gewiß von der Gewalt der Krone und ihrer Minister gelöst werden. Nur diese beiden Fälle sind rechtlich denkbar. Eine Constitution, welche ein Kirchenregiment einseitig bei der Kirche beließe, wäre int Widerspruch mit sich selber; und eine Kirche, deren Regiment von den Kammern oder gar auch von den Ministern losgelöst würde, um der Krone zu unverantwortlicher Führung übergeben zu werden, hätte nur die Vor­ theile der staatlichen Regierung, nicht aber die Abhängigkeit vom Staate verloren, wäre vielmehr in eine Abhängigkeit gerathen, wie sie nicht größer sich denken läßt. Also ein landesherrliches Kirchenregiment kann bei der Selb­ ständigkeit der Kirche nicht fortbestehen. Das liegt in der Natur der Sache: denn jedes landesherrliche Kirchenregiment ist, wenn man es mit einfältigen Augen betrachtet, eben ein Regiment der Staatsgewalt über die Kirche, und alle seine Organe, wenn sie auch noch so viele Emanationen und Wandlungen durchmachen, sind Ausflüsse der Staats­ gewalt. Das war auch der ursprüngliche und darum rechtsgültige

Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

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Sinn des 15. Vers.-Art., der durch Königliche Worte sowie durch ministerielle Erklärungen und Kammerverhandlungen genügend festge­ stellt ist. Und darum bedarf es der Vollziehung des Artikels, weil eben an die Stelle der bisherigen landesherrlichen und damit staatskirchlichen Organe eine andere eigene rein kirchliche Organisation treten muß. Damit ist zugleich eine vermittelnde Anschauung zurückgewiesen, welche zwar eine weitere selbständige Organisation der Kirche aus der eigenen freien That derselben als geboten ansieht, dagegen den Besitz der Selbständigkeit für die evangelische Kirche und ihre bisherigen Organe bereits seit der Existenz des 15. Verfassungs-Artikels in An­ spruch nimmt. Diese Anschauung steht mit sich selber in Widerspruch. Befiudet sich nämlich die evangelische Kirche bereits seit Erlaß der Staatsverfassung im Besitz ihrer Selbständigkeit: so ist durchaus nicht zu ersehen, wiefern eine weitere Organisation derselben geboten sein sollte; wenigstens zu ihrer Selbständigkeit wäre eine solche nicht noth­ wendig. Sie möchte als heilsam erscheinen und dem Wesen der evan­ gelischen Kirche wie ihrer gegenwärtigen Entwicklungsstufe entsprechend: aber als rechtliche Forderung zur Ausführung des Artikels 15 könnte sie nicht hingestellt, es müßte vielmehr lediglich dem Ermessen und dem Willen der seitherigen Kirchenbehörden als der rechtmäßigen Organe der bereits selbständigen Kirche überlassen werden, wiefern sie eine solche Organisation zu bewirken für gut fänden oder nicht. Und da­ mit fiele diese Anschauung doch im Grunde mit der vorher bestrittenen zusammen, und hätte Alles wider sich, was wir gegen jene geltend gemacht haben. Ist eine Organisation der evangelischen Kirche durch den Artikel 15 rechtlich geboten: so muß derselbe für sie eben erst noch in Vollzug gesetzt werden; und die evangelische Kirche befindet sich noch nicht im Besitz und Genuß dieses Rechtes, sondern harrt jeden Tag, daß- das geschriebene Recht für sie in die Wirklichkeit über­ tragen werde. 2.

Wer soll denn die Vollziehung bewirken? — Wir thun ein­

fach die Gegenfrage, wo steht denn das Recht der Selbständigkeit ge­ schrieben? — Steht das Recht der Selbständigkeit da als ein Artikel unserer Staatsverfassung: so versteht es sich, denken wir, von selbst, daß eben der Staat den Artikel in Ausführung zu bringen hat, gleichwie jeden anderen Artikel der Staatsverfassung. Der Staat aber, der Verfassungsartikel ausführt, das sind d.ie Krone und die

Die Telbständigkeit d- preußischen evangelischen Landeskirche.

151

Kammern: jedes Gesetz, jede Ausführung eines Verfassungsartikels kann seit dem Tage der Rechtsgültigkeit unserer Staatsverfassung nur durch Vereinbarung zwischen Krone und Kammern zu Stande kommen. Dieser Sachverhalt ist so einfach und klar, daß er gar nicht zur Sprache zu kommen braucht, wenn nicht das Interesse und die Partei­ leidenschaft die Sache recht geflissentlich verwirrt und getrübt hätte. Es wird zuerst durch das bestehende Recht die Meinung ausge­ schlossen, als ob die Vollziehung der kirchlichen Selbständigkeit einseitig von der Krone mit Ausschluß nicht nur der Kammern, sondern selbst des Ministeriums ausgehen könnte. Diese Meinung beruht auf der falschen Voraussetzung von einer kirchlichen Qualität, welche der Krone ohne Rücksicht auf ihre Staatsgewalt anhafte;

und

fällt mit dieser

Voraussetzung zusammen. Alles was auf diese Weise von der Krone einseitig ins Werk gesetzt würde, müßte ja immer der Gesetzeskraft ent­ behren: seit dem Bestände der Staatsverfassung könnte keine Kammer und kein Richter einseitigen Verordnungen der Krone und noch dazu ohne ministerielle Mitwirkung Rechtsgültigkeit und gesetzliche Wirkung zuerkennen. Auch das Andere duldet die Staatsverfassung nicht, daß die Krone durch ihr Staatsministerium oder speciell durch das Cultusministerium einseitig den Vollzug bewirkte, ohne den Kammern eine Mitwirkung zuzugestehen. Bewirkt nämlich die Krone die Vollziehung durch das Staatsministerium oder auch nur unter Gegenzeichnung des Cultus­ ministers: so bekundet sie schon damit, daß sie von jener falschen kirch­ lichen Voraussetzung absieht, und das Geschäft als einen-Akt ihrer Staatsgewalt betrachtet: und stellt damit selbst außer Zweifel, daß der betreffende Akt nicht ohne jede Mitwirkung der Kammern geschehen könne. Es kann unseres Erachtens die Ausführung des Artikels 15 für die evangelische Kirche gar nicht ohne einige gesetzliche Bestim­ mungen; es kann der Vollzug der kirchlichen Selbständigkeit noch viel wenigek auf dem Wege der Verwaltung geschehen, als die Regelung des Unterrichtswesens das zuläßt; weil eö einer förmlichen Ausein­ andersetzung zwischen Staat und Kirche in Bezug auf ihre Organe, ihre Rechte und Fonds bedarf. Und gesetzt auch, die Ausführung wäre lediglich auf dem Verwaltungswege möglich zu machen: so hätte doch immer die Kammer darauf zu achten, ob diese Ausführung auch nach dem bestehenden Recht und dem Sinn der Verfassung geschehe, und hätte jeve Klage über rechts - orer verfassungswidriges Verfahren zu prüfen.

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Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

Die Competenz der Kammern zur Mitwirkung ist ganz unzweifel­ haft; und es ist ein verwirrendes Gerede, wenn man die Sache so darstellt, als ob die Kammern dadurch in die inneren Angelegenheiten der Kirche sich mischen würden.

Die Kammern sollen weder über die

Lehre noch über den Cultus, sie sollen auch nicht über die Verfassung der Kirche ein Urtheil abgeben, gegen derartige Eingriffe würde Nie­ mand stärker Protestiren als wir: die Kammern sollen lediglich

ihr

Urtheil darüber abgeben, ob die von der Staatsregierung zur Voll­ ziehung des Artikels 15 für die evangelische Kirche angeordneten Maß­ regeln dem verfassungsmäßigen Rechte derselben entsprechen oder nicht; und das können sie nicht nur, sie müssen es auch. Es sind ja auch im Lauf der Jahre von katholischer Seite kirchliche Anträge genug in die Kammern gebracht, und von diesen ohne Zweifel über ihre Com­ petenz verhandelt worden. Die katholische Kirche ist nur in der glück­ lichen Lage, daß sie es nicht nöthig hat, solche so innig mit ihrer Ver­ fassung zusammenhängende Rechtsfragen vor dies Forum zu bringen; würde das aber andernfalls sicherlich nicht unterlassen, wie z. B. wenn die Regierung sich geweigert hätte, das königliche Placet fallen zu lassen. Unter den gegenwärtigen Verhältnissen wäre es indeß nur wünschenswerth, wenn diese Angelegenheit auf solche Weise erledigt werden könnte, daß es nicht nöthig wäre, sie in die Debatten und Beschlüsse der Kammern hineinzuziehen. ES ist immerhin eine delikate Sache, auch nur die Rechtsfragen einer Kirche vor daö Forum eines confessionell gemischten Parlaments zu bringen: und das besonders in der Gegenwart, wo die confessionellen Gegensätze sich neu geschärft haben, wo die Vorstellungen über das, was dem Staate und was der Kirche gehöre, noch so wenig ausgebildet sind, daß die scharfe Grenz­ linie zwischen beiden Gebieten in der Debatte schwerlich hüte gehalten werden würde, und wo überdies der Parteieifer nicht unterlassen würde die inneren Angelegenheiten der Kirche an ungehöriger Stelle aufzu­ tischen. Nicht nur die evangelische Kirche, sondern namentlich auch die evangelischen Mitglieder des

Abgeordnetenhauses

müssen lebhaft

wünschen, daß die Kammern soweit als irgend möglich mit dieser An­ gelegenheit verschont bleiben möchten.

Und das wäre allerdings dann

möglich, wenn die Staatsregierung die Sache so in Angriff nähme, daß die Uebereinstimmung ihrer desfallsigen Verordnungen und Aus­ führungen mit dem rechtlichen Sinn des Artikels 15 allgemein in-die Augen springend wäre, und die Kammern sich um deswillen mit einer

Die Selbständigkeit d. preußischen evangelischen.Landeskirche.

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einfachen Genehmigung oder gar mit stillschweigender Anerkennung des Geschehenen begnügen dürften.

Freilich aber auch nur dann: im ent­

gegengesetzten Fall, wo die Verfassungsmäßigkeit des ausführenden Ver­ fahrens nicht außer Zweifel wäre, dürften sich die Kammern der Prü­ fung und Beurtheilung nicht entziehen. Also als das Richtige erscheint uns: Die Staatsregierung nehme die Ausführung in die Hand und erlasse durch das Cultusministerium solche Anordnungen, welche dem rechtlichen Sinn des Artikels 15 ent­ sprechen und das Recht der Kirche in keiner Weise verletzen: dann wird Alles gut gehen, und die Kammern werden nicht nöthig haben, sich mit der Sache zu befassen, und werden froh sein, wenn sie eö nicht nöthig haben. Vollzogen muß also die Selbständigkeit erst werden. Und zwar von Seiten der Staatsgewalt, welche die Kirchenregierung bisher an sich hatte. Darüber ist gegenwärtig kein Streit: wenigstens von Seiten der Regierung sind Aeußerungen vorhanden, welche bekunden, daß sie es für nothwendig erachtet und darauf bedacht ist, das Recht des Artikel 15 für die evangelische Kirche erst in Vollzug zu setzen. Ueber den Weg dagegen, auf welchem der Artikel 15 vollzogen werden müsse, über das dem Recht und dem Bedürfniß der Kirche entsprechende Verfahren herrschen abweichende Meinungen. 1. Wenn zur Selbständigkeit der evangelischen Kirche das gehört, daß die bisherigen staatskirchlichen Organe in Wegfall kommen, und an die Stelle derselben solche Organe treten müssen, welche aus dem Schoße der Kirche und durch ihre eigene freie That hervorgehen: so könnte es als das Einfachste erscheinen, daß die Staatsgewalt die bis­ herigen kirchenregimentlichen Organe zurückzöge, und der evangelischen Kirche überließe, nach eigenem Ermessen sich neu zu constituiren. So wurde das Verhältniß im Jahre 1848 namentlich von den Confessionellen auch vielfach aufgefaßt: sie machten in verschiedenen Provinzen Miene, sich auf eigene Hand, hier in Verbindung mit einem Consistorium, dort auch ohne Consistorium, lediglich durch die Geistlichkeit, als eine lutherische Kirche zu constituiren, ohne daß noch das bisherige Das war

landesherrliche Kirchenregiment sein Aufhören erklärt hatte.

nun jedenfalls nicht in der Ordnung und nicht nach dem Recht. Aber auch das einfache Zurückziehen der landeskirchenregimentlichen Organe würde doch

höchstens dem Buchstaben des Artikel 15 nicht wider­

sprochen haben, sicherlich aber seinem Sinn.

Es handelte sich nicht

Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

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darum, einzelne Gemeinden frei zu lassen, oder für die Gründung neuer Religionsgesellschaften Freiheit zu gewähren:

es handelte sich

darum, einer großen evangelischen Landeskirche die Freiheit zu ge­ währen, einer Landeskirche, die eine 300jährige Geschichte hat, welche mit dem Staate und dem Throne auf das Innigste verwachsen bei deren Gesundheit und Erhaltung die wichtigsten Interessen Güter des Vaterlandes mit in Betracht kommen.

und und

Diese evangelische

Landeskirche, welche außer dem staatstirchlichen Regiment keine eigenen Organe

besitzt,

und

eben durch die Staatsgewalt bisher verhindert

worden ist, sich eigene Organe zu schaffen, diese durch einfache Zurück­ ziehung des bisherigen Regiments sich selber überlassen, das wäre nicht Gewährung der Selbständigkeit, das wäre die ungerechteste Verstoßung, das wäre nicht Recht, sonrern Revolution gewesen. Die Staats­ gewalt, welche die evangelische Kirche selbständig machen wollte, mußte auch dafür sorgen, daß es ihr möglich würde, von dem Recht der Selbständigkeit Gebrauch zu machen, und hatte darum Alles anzu­ ordnen, was dazu erforderlich war, um sie in den Besitz eigener rein kirchlicher Organe gelangen zu lassen. Das bisherige landesherrliche Kirchenregiment durfte sich nicht zurückziehen, sondern mußte die Ein­ leitungen treffen, welche für die Herstellung der Kirche in einen selb­ ständigen Zustand unumgänglich nothwendig waren. So war das Recht des Artikels 15 gemeint und in dieser Auffassung trafen alle Besonnenen zusammen. 2. Es war darum ganz in der Ordnung, wenn das landesherr­ liche Kirchenregiment ein Organ hinstellte, welches mit den nothwen­ digen Vorbereitungen für die Selbständigkeit beauftragt wurde; und man konnte höchstens über die Zweckmäßigkeit des Schrittes Zweifel haben, und sich fragen, warum denn zu diesem Zweck das bestehende Organ, nämlich das Cultuöministerium, nicht genügen solle. Jedes derartige Organ aber durfte nur zum Zweck der Vollziehung hinge­ stellt werden, kann aber, niemals als ein Bestandtheil der Vollzogenheit, als ein Organ der selbständigen Kirche angesehen werden.

Alle

Organe, welche das staatskirchliche Regiment setzt, sind ja immer Aus­ flüsse der Staatsgewalt, und behalten den staatlichen Charakter, wie viele Evolutionen sie auch erleben mögen, und können darum niemals Organe der selbständigen Kirche werden. Die Anschauung, welche in dem evangelischen Oberkirchenrath bereits ein Organ der selbständigen Kirche erblickt, beruht ja auf der unhaltbaren rechtlichen Fiction von einer königlichen Kirchengewalt, die von der Staatsgewalt unabhängig

Die Selbständigkeit d. preußischen evangelischen Landeskirche.

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fei und fällt mit dieser Theorie zusammen. Nach dem richtigen und ursprünglichen Sinn des 15. Artikels hatten die Ministerialabtheilung uud nachher der evangelische Obertirchenrath lediglich die Bestimmung: die Vollziehung der Selbständigkeit zu bewirken, und bis zu dem Zeit­ punkte, wo das geschehen sein würde, einstweilen die kirchliche Ver­ waltung fortzuführen. In diesem Sinne lautete auch die Instruction bei ihrer Einsetzung. Hatte das landesherrliche Kirchenregiment die Verpflichtung, diejenigen Anstalten zu treffen, welche zur Ueberleitung in die Selbständigkeit nothwendig waren, so war es selbstverständlich nur die andere Seite dieser Pflicht, daß es sich auf diese Aufgabe be­ schränken und sich aller und jeder Maßnahmen enthalten mußte, welche den vorgefunrenen Rechtsbestand der evangelischen Kirche zu verändern oder gar in ihre Principien einzugreifen geeignet waren. Das näm­ lich durfte von dem Tage an, wo die Staatsverfassung rechtsgültig geworden, nur ein Regiment der selbständigen Kirche. Und wenn nichtsdestoweniger der evangelische Oberkirchenrath sich nicht mit der Verwaltung der kirchlichen Angelegenheiten begnügt, sondern eine reiche und tief einschneidende gesetzgeberische Thätigkeit entwickelt, und sich durchweg so verhalten hat, als wäre er das rechtmäßige Regiment der bereits selbständigen Kirche: so hat er das ohne rechtliche Vollmacht gethan und im Widerspruch mit dem in der Staatsverfassung garantirten Recht der evangelischen Kirche. Eine Staatsregierung, welche zu dem ursprünglichen Sinn des Artikels 15 zurückkehrt, und demge­ mäß in Anerkennung des verfassungsmäßigen Rechtes sich die Voll­ ziehung der Selbständigkeit zur Aufgabe macht, kann demgemäß auch den evangelischen Oberkirchenrath nicht mehr als ein Organ der selb­ ständigen Kirche betrachten, sondern muß diese Behörde, falls sie sie bestehen läßt, in ihre ursprüngliche Stellung, d. h. in die Befugnisse eines provisorischen Verwaltungsorganes ohne alle gesetzgeberische Voll­ macht, welches mit der Vollziehung der Selbständigkeit beauftragt ist, zurückversetzen. In den Augen der gegenwärtigen Staatsregierung kann also der evangelische Oberkirchenrath noch nicht als ein Organ der selbständigen Kirche erscheinen, und sie muß demnach, wenn auch nicht durch dies Organ, erst noch den Anfang damit machen, durch anderweitige Maßregeln die Vollziehung zu bewirken. 3. Soweit scheinen wir mit der gegenwärtigen Staatsregierung uns in Einklang zu befinden, daß sie nämlich die beiden bezeichneten extremen Ansichten nicht theilt, d. h. daß sie weder die Kirche so an­ sieht, als besitze sie bereits wirklich kirchliche Organe ihrer Selbständigkeit,

Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

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noch auch sie unbekümmert dem Zufall und der Willkür zu überlassen gedenkt.

Wie aber von dieser

gemeinsamen Grundlage aus vorge­

schritten werden müsse, um die Vollziehung auf eine rechtsgültige und gedeihliche Weise zu bewirken

darüber scheinen unsere Ansichten von

denen der gegenwärtigen Regierung abzuweichen. Zwei Anschauungen nämlich stehen sich hier gegenüber: die eine will, daß die Regierung eine Landesshnode berufen solle, um durch dieselbe mit einem Schlage die Grundzüge einer rein kirchlichen Ver­ fassung festzustellen, und eine Auseinandersetzung zwischen dem kirch­ lichen und staatlichen Gebiet vorzunehmen; die andere will mit einer Gemeindeordnung anfangen, und von dieser aus allmählich die höheren Stufen der kirchlichen Organisation entstehen lassen. Wir be­ kennen, daß wir noch heute die Berufung einer Landessynode für die einzige mit dem bestehenden verfassungsmäßigen Recht vereinbare, so­ wie für die von dem Bedürfniß der evangelischen Kirche am meisten geforderte Form halten. Für die Berufung einer Landessynode ist nichts weiter erforderlich, als die Octroyirung eines Wahlgesetzes: und dies hat nicht nur recht­ liche Grundlagen an den in den Gemeinden geltenden Wahlbestimmungen, sondern hat auch seine Berechtigung darin, daß eö durch die Pflicht der Vollziehung unumgänglich geboten ist. Ein Wahlgesetz etwa wie daS, welches das Ministerium Schwerin 1848 proclamirte, und der Ministerialrath Dr. Richter gegen alle Einwendungen mann­ haft und siegreich vertheidigte. Eine solche LandeSsynode scheint darum rechtlich geboten, weil sie der kürzeste Weg ist, die evangelische Kirche in den Besitz der ihr zustehenden Selbständigkeit zu setzen, und Niemand ein Recht hat, ihr dieselbe länger vorzuenthalten als unum­ gänglich nothwendig ist.

Eine Landesshnode erscheint auch um

des­

willen rechtlich geboten, weil die Verfassung die evangelische Kirche selbständig spricht, nicht aber die evangelischen Gemeinden, und Niemand ein Recht hat, dies der Kirche zustehende Recht an die ein­ zelnen Gemeinden auszuhändigen. Eine Landessynode ist endlich auch dadurch geboten, daß der Staat sich in mancherlei Dingen mit der Kirche auseinanderzusetzen hat, in allen den Dingen, in welchen gegen­ wärtig Staat und Kirche im Gemenge sich befinden, und daß er solche Auseinandersetzung unmöglich mit den einzelnen Gemeinden vornehmen kann, sondern selbstverständlich nur mit den Mandataren der gesumm­ ten Kirche, d. h. eben mit einer rechtmäßig berufenen Landessynode. Alle diese Rechtsgründe, welche die Berufung einer Landessynode

Die Selbständigkeit d. Preußischen evangelischen Landeskirche.

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fordern, sprechen zugleich gegen den Anfang mit einer Gemeindeord­ nung.

Dieser Weg schließt in sich eine lange Vorenthaltung des ver­

fassungsmäßigen Rechts, eine so lange, bis die rein kirchliche Ver­ fassung auf diesem allmähligen Wege fertig geworden ist. Dieser Weg enthält eine Rechtsverkümmerung: denn es muß jedes Glied der zu bildenden Kirchenverfassung immer aufs Neue octrohirt werden, und zwar

octrohirt voll dem bisherigen

staatskirchlichen Regiment, von

welchem eben die Kirche selbständig werden soll, und

damit wird der

Kirche die ganze eine Hälfte des ihr im 15. Artikel zugesicherten Rechts, nämlich das „Ordnen" ihrer Angelegenheiten, entzogen. Vom Stand­ punkt des verfassungsmäßigen Rechts erblicken wir keine Möglichkeit, wie man den Anfang mit einer Gemeindeordnung rechtfertigen will, wenn man sich doch eben nicht auf jenen verworfenen Raumerschen Standpunkt stellt. Aber nun bringt man allerlei Bedenken gegen eine Generalsynode, als ob das ein gefährlich Ding sei und ein ganz ungeheuerliches Unternehmen. Wenn Diejenigen sich gegen eine Generalshnode er­ klären, welche für ihre kirchlichen Sondergelüste und Rückschrittöbestrebungen die Herrschaft in der Landeskirche in Anspruch nehmen: so ist das eben nicht zu verwundern, denn eine Generalshnode würde un­ zweifelhaft zu Tage bringen, wie ohnmächtig und wurzellos diese Be­ strebungen sind, wie wenig Anhang und Anklang sie rat Volke finden. Und wenn Diejenigen eine Generalshnode widerrathen, welche bisher das staatskirchliche Regiment geführt haben: so ist das eben auch ziem­ lich begreiflich, weil sie, wenn sie bisher rechte Staatskirchenmänner ge­ wesen sind, schwerlich für eine rein kirchliche Organisation große Nei­ gung haben dürften, und solcher Rath überdies der süßen Gewohnheit, zu herrschen, zu gute zu halten ist, sowie der Besorgniß, eine LandeSshnode möchte dasjenige eben nicht allzusehr anerkennen, was sie im Namen der selbständigen Kirche in den letzten zehn Jahren geleistet haben. Um deswillen verliert aber auch der Widerspruch von diesen beiden Seiten an Bedeutung. Und was an Gründen vorgebracht wird, ist herzlich unbedeutend, und beläuft sich zum großen Theil auf Schlag- und Schreckwörter. „Constituirende" Generalshnode: gleichsam als ob dieselbe über die Kirche willkürlich verfügen könnte, und nicht vielmehr in Bezug auf alle Rechte streng innerhalb des Gesetzes sich zu halten, und für ihre Anordnungen und Einrichtungen die gesetzliche Genehmigung der Staats­ gewalt einzuholen hätte.

Es ist gar nicht einmal zu besorgen, daß

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Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

eine Landessynode sich jemals auch nur soweit von dem geltenden Recht entfernen sollte, als Kirchenbehörden, welche sich der Verantwortlichkeit gegen die Staatsregierung überhoben glauben. Und wie, wenn man das Wort zurückgäbe? ist denn ein „ constituirender" Oberkirchenrath oder „constituirendeö" Cultusministerium weniger bedenklich als eineLandesshnode? Ist es weniger bedenklich, die ganze Verfassung einer Landes­ kirche in die Macht und Einsicht einiger wenigen Männer zu stellen, und noch dazu solcher, welche mit ihren Anschauungen durch lange Ge­ wohnheit mit dem alten eben 'zu beseitigenden Zustand verwachsen sind? — „Urwahlen — „Kopfzahlwahlen": diese Redensarten sollten doch nachgerade keinem Menschen mehr imponiren! Als ob wir nicht eine Kammer hätten, die jederzeit aus Urwahlen hervorgeht; und als ob der Ausdruck Kopfzahlwahl nicht eine gemeine Verdächtigung ent­ hielte, da in der Kirche eben so wenig wie im Staate nach der Zahl der Köpfe, vielmehr nach einem geordneten Recht gewählt werden würde. — „Von unten aufbauen" — das ist auch eine von den nichtigen Redensarten, die man eben so gut umkehren kann. Es ist eine römischkatholische Anschauung oder eine sehr weltliche, wenn man die Kirchen­ behörden als dasjenige bezeichnet, was oben ist, und die Gemeinden weit unter sich sieht. Nach evangelischen Begriffen könnte man mit eben so gutem Recht die Sache umkehren, und die Gemeinden als daö Oben ansehen, die Kirchenbehörden dagegen als lediglich zum Dienst der evangelischen Gemeinden berufen. Wie man es aber auch an­ sehen mag, der ganze Vergleich ist schief; denn cs handelt sich eben nicht um einen steinernen Kirchenbau, wo man allerdings nicht mit der Thurmspitze anfängt. Bei einem Verfassungsbau aber ist daS einzig Gesunde, oben und unten zugleich anzufangen, oder richtiger ausgedrückt, die Organisation des Allgemeinen mit der des Einzelnen gleichzeitig vorzunehmen. Es ist noch niemals ein Staat so entstanden, daß sich erst lauter einzelne von einander unabhängige Gemeinden ge­ bildet hätten, dann Gemeindeverbände, und dann endlich nach langer Zeit ein Königthum oben drauf. Geschichtlich ist es allein, daß Ge­ meinde und Staat und Königthum aus demselben Holz eines VolksstammS und durch denselben Guß entstehen. Und auch ein Organis­ mus kommt nicht so zu Stande, daß erst Beine wachsen und dann ein Leib und schließlich ein Kopf oben drauf: wenn Kopf und Herz nicht von Hause aus gegeben sind, so wird das Ganze ewig eine köpf- und

Die Selbständigkeit d. preußischen evangelischen Landeskirche.

herzlose Geschichte bleiben.

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Es ist wirklich nicht nöthig, daß alle die

nichtigen Redensarten berücksichtigt werden, für welche stets neue er­ funden werden können von Solchen, denen eben die Sache unbequem ist. Wenn man aber von einer Generalshnode ernstliche Gefahren in Aussicht stellt für Glauben und Lehre und Einheit der Kirche: so müssen wir dagegen mit Ernst Protestiren.

Man vergleiche den Zu­

stand unserer Landeskirche, wie er noch 1846 war, mit dem gegen­ wärtigen; man vergleiche ihn in Bezug auf die rechtliche und innere Einheit der Kirche, man vergleiche ihn in Bezug auf die Freiheit und Lebendigkeit der Lehre, man vergleiche ihn in Bezug auf den wissen­ schaftlichen Stand der theologischen Facultäten und die Bildung und Sittlichkeit der Geistlicben, man vergleiche ihn in Bezug auf gesetzliche Ordnung und Rechtssicherheit und Disciplin: und wir fragen mit allem Ernst, kann jemals durch eine Landesshnode unsere Kirche solche Verluste erleiden, wie sie unter dem bisherigen Kirchenregiment in den letzten zehn Jahren an Einheit und Freiheit und Bildung und Ord­ nung gelitten hat! Wir sind noch heute der Ueberzeugung, daß auf einer Landesshnode die Einheit und Freiheit und Bildung mächtig hervortreten und die entgegenstehenden Mächte zurückdrängen würde. Sollten sich aber auch auf derselben zwiespältige fanatische bildungs­ feindliche Elemente aufthun: so würde sie eben nur offenbaren, was in der Kirche bereits vorhanden ist, und zum großen Theil nur deßhalb vorhanden ist, weil alle synodalen Organe zur Ausgleichung der feind­ lichen Elemente fehlen. Warten aber mit der Synode, bis etwa daS Parteiwesen sich gelegt habe, das hieße gerade dasjenige unterlassen, waS das wesentlichste Mittel für die Beseitigung des Parteiwesens bildet; und hieße überdies, nicht eher ins Wasser gehen, bis man schwimmen kann. Wir vermögen beim besten Willen von einer Ge­ neralsynode Gefahren nicht zu erkennen, und die desfallsigen Besorg­ nisse machen einen um so seltsameren Eindruck, als die ultramontane österreichische Regierung den ungarischen Protestanten unbedenklich Sy­ noden gewährt, und selbst Diejenigen ihr Einverständniß und ihre Freude darüber zu erkennen geben, welche bei uns die Synoden mit aller Kraft verhindern, während sie doch nicht wohl im Ernst den Magyaren, Serben und Kroaten in evangelischer Bildung und Ge­ sittung vor uns Preußen den Vorzug geben wollen. 4. Dem Anfangen mit der Gemeindeordnung dagegen stehen nicht allein rechtliche Schwierigkeiten, sondern auch anderweitige erheb­ liche Bedenken entgegen.

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Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

Für's erste erscheint eS uns zweifelhaft, ob denn die Einführung einer Gemeinde-Ordnung durch das bisherige Kirchenregiment auch wirklich gelinge.

Stellt man die Annahme frei: so wird sie wahr­

scheinlich in der Mark, in Pommern, in Schlesien und Sachsen nur bei dem geringeren Theile der Gemeinden erfolgen, und damit wäre der ganze Berfassungsbau in Frage gestellt.

Will man die Annahme

durch Zwang bewirken: so kann es keinen grelleren Widerspruch geben als den, daß einer selbständig

erklärten Kirche von dem staatskirch­

lichen Regiment, von dem sie eben frei sein soll, eine Verfassung zwangsweise aufgenöthigt wird. Und wenn nun trotz des Zwanges im Bewußtsein deö guten evangelischen Rechts dennoch die octrohirte Ge­ meinde-Ordnung von vielen Gemeinden abgelehnt würde? Unsere evangelische Kirche ist zerklüftet genug, der Widerwille gegen solche Octrohirungen hat sich schon im Jahre 1850 zur Genüge bekundet, und daS Vertrauen zu den derzeitigen Kirchenbehörden ist seit 1850 wahrhaftig nicht gewachsen, so daß man wenigstens auf die Eventualität gefaßt sein sollte, eS könnten gerade gegenwärtig, wo man zu dem Rechtssinn der Regierung ein starkes Vertrauen hat, auch

für eine

vorgeschriebene Gemeinde-Ordnung zahlreiche Ablehnungen erfolgen. Und wie dann? Will man etwa gegen die Ablehnenden mit Strafen vorgehen, und den evangelischen Gemeinden auf diese Weise begreiflich machen, was die Selbständigkeit der Kirche zu bedeuten hat? Doch gesetzt auch, der Versuch liefe ganz glücklich ab, und die Gemeinde-Ordnung fände allgemeine Annahme: wer will Bürgschaft geben, daß auf dieser Grundlage der weitere Ausbau der Verfassung zu Stande käme? Wir wollen eS nicht betonen, daß dem zerspaltenden Parteiwesen nicht nur lange Zeit gewährt würde, sich weiter zu ent­ wickeln, sondern auch Handhaben, sich nun erst recht in localer Ver­ härtung und Abschließung zu organisiren und dadurch einer späteren Generalshnode viel größere Schwierigkeiten dargeboten würden, als einer gegenwärtigen. Wir wollen nur daran erinnern, welchen Mög­ lichkeiten und Zufällen das weitere Zustandekommen der Verfassung dabei ausgesetzt wäre. Wir erinnern daran, daß schon mehrere Male mit einer Gemeinde-Ordnung angefangen ist, aus der Sache aber nichts geworden, weil eben die allgemeineren Organe fehlten. Und so liegt auch für diesen Anfang die Gefahr nahe, daß das angefangene Werk wieder einschlafe, sobald an die Stelle Desjenigen, der sich mit Ernst und Energie der Kirchenverfassung annimmt, etwa ein Anderer tritt, der diesen ernsten und

energischen Willen

nicht

hat:

jeder

Die Selbständigkeit b. preußischen evangelischen Landeskirche

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Ministerwechsel bedroht die Zukunft der also angefangenen Kirchen­ verfassung. Dieser Weg ließe die Möglichkeit offen, daß noch viele Male angefangen und eben so viele Male wieder aufgehört würde, je nachdem die sehr bewegliche Situation der europäischen Politik an­ dere Männer an das Staatsruder brächte. Und dazu kommt noch ein anderes Hinderniß. Auf diesem Wege müssen selbstverständlich, während die Organisation derGemeinden ge­ schieht, die bisherigen oberen Kirchenbehörden bis zur Vollendung des ganzen Baues bestehen und in Kraft bleiben. Und nun denke man sich recht lebhaft die Lage der Kirche. Diese alten staatskirchlichen Organe, von denen eben die Kirche frei werden soll, müssen nicht nur auf lange Jahre hinaus die Verwaltung fortführen; müssen nicht nur dem verfassungsmäßigen Recht zuwider auch fernerhin, wo "sich Be­ dürfnisse einstellen, der selbständigen Kirche Gesetze über Gesetze oc« trohiren, da sie dieselben doch nicht mit den einzelnen Gemeinden oder Kreissynoden vereinbaren können, und sicherlich oft octroyiren wider den Willen und die Meinung der evangelischen Kirche: nein, diese sel­ bigen Kirchenbehörden, die naturgemäß um ihrer Herkunft willen so wenig Neigung für eine Organisation der Kirche haben können, die das durch ihre ganze seitherige Verwaltung genügend bewiesen, und in einem großen Theil der Landeskirche desjenigen Vertrauens entbehren, welches zu solcher Stellung und Wirksamkeit doch unentbehrlich ist, diese selbigen Kirchenbehörden müssen nach ihrem Plane das ganze Verfassungswerk machen und überwachen! Werden diese Kirchenbe­ hörden sich beeilen, es zu Stande zu bringen? Und werden sie ein Interesse haben, daß cs überhaupt zu Stande komme? Werden sie so sehr ihre bisherigen Anschauungen und Neigungen zu ändern ver­ mögen, daß das Werk, falls es wirklich zu Stande käme, nach wahr­ haft evangelischen Grundsätzen und im Sinn und Geist einer selb­ ständigen Kirche geriethe? Wir können uns solcher Hoffnung nicht hingeben; unter dem Stern der alten Kirchenbehörden wird eine neue Kirchenverfassung schwerlich zu Stande kommen. Betrachten wir nun einmal die deßfallsigen Anschauungen eines Mannes, der sich neuerdings zu öfteren Malen darüber ausgesprochen, und der, wie es den Anschein hat, dermalen einen bestimmenden Ein­ fluß in diesen Angelegenheiten ausübt. Der Generalsuperintendent Dr. Hoffmann, der uns durch viele Zeitungsartikel einen Einblick in seine Verfassungsanschauungen gewährt, scheint aus der langen Gewohnheit des Missionirens auch unsere evangelische Landeskirche im Großen und Spaeth,

Protestantische Bausteine.

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Sammlung ausgewählter Schriftstücke

Ganzen eben noch als ein Missionsgebiet anzusehen, in welchem über­ wiegend erst noch die ersten Grundlagen des Christenthums zu legen seien, und darum an eine Kirchenverfassung eigentlich noch nicht zu denken. Er hält den Pietismus für das Wesen des Christenthums, und vermag darum christliche Gemeinden erst da zu erkennen, wo ihre Glieder Pietisten geworden. Da es nun bei und in Norddeutschland Pietistische Gemeinden nicht giebt, so geht Dr. Hoffmann mit unver­ hohlenem Widerwillen auch an die ersten Anfänge

und Grundlagen

der Kirchenverfassung, gleichsam nur wie an ein unvermeidliches Uebel, und verhehlt dann auch ganz und gar nicht, daß er die Vollendung der Verfassung, wenn sie nun doch einmal nicht zu umgehen ist, auf weite weite Jahre hinausschiebt. Wie viele Jahre werden wir brauchen, ehe nach den Anschauungen dieses Mannes unsere Kirche für eine Ver­ fassung reif sein dürfte.

Ja, nach seinen Anschauungen würden wir

niemals eine Verfassung erhalten, da unsere norddeutschen Gemeinden sich niemals in Pietistische Conventikel verwandeln, sondern ihr Christen­ thum, je weiter sie sich entwickeln, um so mehr in einer Form dar­ stellen werden, in der eS für Pietistische Augen verborgen ist! Und was für eine Verfassung müßte das werden, die den Anschauungen eines solchen Mannes entspräche: die in den Synoden neben der Geist­ lichkeit die Laienelemente gleichsam nur als eine „Peripherie" zuläßt, weil doch in der Kirche auch allerlei „peripherische" Angelegenheiten zu verwalten sind; der das oberbischöfliche Amt des Landesherrn un­ beweglich festhält, und damit natürlich auch den Königlichen Ober­ kirchenrath unsterblich macht; und der überdies nach seiner chiliastischen Phantasie den Mittelpunkt der gesummten Kirche nach Jerusalem ver­ legt! Fürwahr, was soll aus unserer Kirchcnverfassung werden, wenn Männer von solchen beschränkten Pietistischen Anschauungen sie zu ge­ stalten haben! Kann unter ihren Händen je etwas zu Stande kommen, was einer wahrhaft evangelischen Kirchenverfassung nur entfernt ähnlich wäre? Müssen sie nicht vielmehr, wenn sie ihren Ueberzeugungen treu nachleben, allen ihren Einfluß dahin verwenden, dasjenige kräftig zu hindern, was in anderen als Pietistischen Kreisen für evangelische Kirchenverfassung gilt? Fürwahr wer da glaubt, daß unter dem Ein­ fluß der gegenwärtigen Kirchenbehörden und durch dieselben jemals eine freie evangelische Kirchenverfassung werde

geboren

werden, der

muß mehr als sanguinisches Temperament besitzen. Und nun schließlich noch ein Uebelstand, der mit diesem Plane verbunden ist. Fängt man mit der Gemeinde-Ordnung an, so ist die

Die Selbständigkeit d. preußischen evangelichen Landeskirche.

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Kirche natürlich erst selbständig bei der Vollendung des Verfassungs­ baues, und die Staatsgewalten können bis dahin, also auf lange Jahre hinaus noch nicht mit ihr als einer selbständigen in Verhandlung treten. Eine Auseinandersetzung kann rechtmäßiger Weise in keinem Stück geschehen; oder falls sie irgendwo nothwendig wäre, müßte auch sie wieder einseitig von der Staatsgewalt octroyirt werden, ohne daß die selbständige Kirche dabei gehört werden könnte.

Die Kammern

haben sich bis dahin, so ungern.sie es auch thun mögen, doch allezeit um die Angelegenheiten der Kirche zu bekümmern, die ja von der Staatsgewalt noch nicht.getrennt ist. Sie haben sich um die Voll­ ziehung der Selbständigkeit bis dahin zu bekümmern; und wenn eine Kammer zu der Ueberzeugung gelangte, daß durch das Verfahren deö Cultusministeriums und der Kirchenbehörden

dem Recht der evange­

lischen Kirche nicht Genüge geschehe, so könnte das wicklungen führen

und

auch

zu ernsten Ver­

von hier aus für den Weiterbau der

Kirchenverfassung bedenkliche Folgen erzeugen. Die Kirche bliebe nach diesem Plan bis zur Vollendung der Verfassung vielfach in dem bis­ herigen Gemenge mit dem Staatsgebiet, in Ehesachen und Kirchen« büchern, in Schulsachen und theologischen Facultäten, in Patronats­ sachen und Kirchenbehörden und Dotationen: welche Verwirrungen und Rechtsunsicherheiten, nach dem Vorgang der letzten Jahre zu schließen, dürften in diesem langen Interregnum auf dem Gebiete der Kirche ent­ stehen, wenn die Kirchenbehörden diese gemischten Sachen nach ver­ schiedenartigen Begriffen oder auch nur nach anderen Voraussetzungen behandelten als die Staatsgewalten! Und wie würden dann unab­ lässig die Klagen über Rechtsverweigerungen an die Staatsregierung und in die Kammern dringen: und die Staatsregierung und auch die Kammern, so schwer es auch sein müßte, solche Schäden vor einer confessionell gemischten Versammlung zu behandeln, dürften doch alle solche Klagen mit Recht nicht zurückweisen, weil ja die rechtliche Son­ derung beider Gebiete noch nicht vollzogen, und darum Jeder ein Recht hätte, sich an die obersten Staatsgewalten zu wenden. Wir erblicke» bei diesem Plan Hinderniß über Hinderniß und eine lange Reihe trübseliger und widerwärtiger Verwirruungen. Und darum haben wir nicht unterlassen wollen, noch einmal unsere Be­ fürchtungen auszusprechen und unsere Ueberzeugung von dem, was wir für recht und für gedeihlich halten.

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Sammlung ausgewählter Schriftstücke

Der Summepiscopat oder das bischöfliche Amt der Landesherren. Gegen unsere neuliche Darstellung über die Unvollzogcnheit des Artikels 15, welcher man im Allgemeinen die Conseguen; zugesteht, wird doch der Einwand erhoben, daß die Beweisführung auf einer Voraussetzung ruhe, die zu sehr als ein Axiom hingestellt, und doch nicht allgemein anerkannt sei. Wir unsererseits nehmen als unzweifel­ haft an, daß die Fürsten ihr evangelisches Kirchcurcgimcnt kraft ihrer staatlichen Stellung besitzen: von Anderen aber werde dagegen geltend gemacht, daß die Landesherren summi episcopi der evangelischen Kirche seien, und als solche eine rein- kirchliche von ihrer staatlichen Stellung unabhängige Gewalt besitzen, und daß ebenso rie Eonsistorien und Superintendcnturen von jeher kirchliche Organe gewesen seien.

Wenn

diese Auffassung richtig wäre, sagt man, so fiele unsere übrigens consequente Beweisführung in den wesentlichsten Stücken zusammen. Der Einwand ist begründet, wir haben daS neulich schon zuge­ standen, und sind nur deshalb auf eine nähere Begründung gerade dieses Punktes nicht eingegangen, weil daS anderweitig zu verschiedenen Malen geschehen war. Nichtsdestoweniger ist derselbe von solcher Wichtigkeit, daß es nicht überflüssig erscheinen dürfte, gerade diesen Punkt einer besonderen Betrachtung zu unterziehen. Wir fassen unsre Ansicht und ihre Begründung in folgenden Sätzen zusammen. 1. Wir sind mit den Vertheidigern der entgegenstehenden An­ sicht darin einverstanden: daß die Landesherren für die in Be­ tracht kommenden evangelischen Kirchen nicht blos factisch, sondern auch rechtlich im Besitz der gcsammten kirchenregimentlichen Gewalt sich befunden haben. Die Unangemessenheit dieses factischen Zustandes zu dem Wesen und den obersten Grundsätzen der evangelischen Kirche, die Ausführungen der Theologen sowie der Kirchenrcchtslchrcr,

welche die Angemessenheit

sowie die Nechtmäßigkeit einer solchen Ausdehnung der landesherrlichen Kirchengewalt bestritten haben, können uns nicht hindern, daö Factum in seinem ganzen Umfange anzuerkennen und den factischen Bestand zugleich als den rechtsgültigen zu bezeichnen.

Denn die Rechtsgültigkeit

Der Summepisi op.N it. s lv.

165

im rechtlichen und staatsrechtlichen Sinne hangt weder ab von der Angemessenheit noch von Thcorieen und Doctrinen: gesetzliche Feststellung oder herkömmliche wenn auch stillschweigende Anerkennung machen das Factum zu einem rechtlichen Bestände. Die landesherrliche Kirchen­ gewalt, so unangemessen sic auch sei, und so unzweifelhaft sie auch auf Usurpation beruhen mag, ist doch rechtlich gerade so gut begrüntet, wie die meisten anderen Gewalten in der Welt. 2. Die Differenz der verschierenen Auffassungen bezieht sich nicht aus die R echtsgültigkeit der landesherrlichen Kirchengewalt, sondern auf den Rechtstitel und die Natur derselben. Die Frage ist: haben die Landesherren ihre factische und rechtsgültige Kirchengewalt d. h. ihren Summepiscopat kraft ihrer landesherrlichen d. h. staatlichen Stellung, oder kraft einer kirchlichen Qualität und ans einem kirch­ lichen Rechtstitel? Sind sie summi episcopi lediglich aus und von wegen ihrer obrigkeitlichen Machtstellung, - oder ganz unabhängig von dieser Stellung? Auf diese Alternative kommt doch auch der andere Einwand von der kirchlichen Beschaffenheit der bisherigen Kirchenbe­ hörden zurück. Denn daß dieselben darum kirchliche und nicht staat­ liche Behörden seien, weil sie eben die inneren kirchlichen Angelegen­ heiten zu verwalten haben, das wird Niemand mit dem Einwände ge­ meint haben wollen, weil er eben damit eine Tautologie gesagt hätte. Es kann sich selbstverständlich bei dieser Frage nur darum handeln, traft welcher Vollmacht diese Kirchenbehörden die kirchlichen Dinge bis­ her verwaltet haben, ob aus einer staatlichen oder einer kirchlichen Vollmacht. Und da diese Behörden bekanntlich ihre Einsetzung und Vollmacht lediglich von dem Landesherrn haben, so fällt diese Frage mit der allgemeinen nach der Natur der landesherrlichen Gewalt zu­ sammen, und wird mit ihr zugleich entschieden. 3. Ehe wir die entscheidende Frage selbst inö Auge fassen, müssen wir uns mit den Gegnern noch kurz über eine Voraussetzung ver­ ständigen. Die kirchliche Selbständigkeit kann, wie wir es oft ausge­ führt haben, in doppelter Weise verstanden werden, in mittelalterlicher und in moderner Weise. In mittelalterlicher Weise: so daß Kirche und Staat als zwei völlig gesonderte Reiche einander gegen­ überstehen, jedes mit seinem besonderen Territorium, seinem besonderen Recht und Besitz, seinem besonderen Herrscher, keines dem anderen in irgend einem Stücke sich unterwerfend. Nach dem Wesen deö modernen Staates dagegen besteht die kirchliche Selbständigkeit darin: daß sie ihre eigenen d. h. alle religiösen und kirchlichen Angelegen-

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Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

heiten selbsteigen zu ordnen und zu verwalten hat, aber zu ordnen und verwalten innerhalb der bestehenden Landesgesetze; so daß sie trotz ihrer Selbständigkeit Allem unterworfen ist, was der Staat für den ganzen Umfang seines Gebiets als Recht und Gesetz aufstellt und als Pflicht vorschreibt. Die Kirche ist unter dem Titel ihrer Selb­ ständigkeit keiner der allgemeinen bürgerlichen und staatsbürgerlichen Pflichten enthoben, und kann sich durch Berufung auf dieselbe von keinem der geltenden Landesgesetze emancipiren. Eine dem Landesge­ setze gegenüber selbständige d. h. unverantwortliche Kirche wäre in dem modernen Rechtsstaate ein Monstrum. Ich schicke diese Bemerkung, aus­ drücklich voraus, weil es

mir vorgekommen

ist, als ob Einige

der

Gegner zuweilen in ihren Vorstellungen jenem mittelalterlichen Be­ griffe der kirchlichen Selbständigkeit sich annähern, ohne daß es doch noch irgend Jemand direct ausgesprochen hätte. Ich erkläre deshalb, daß alle meine Ausführungen mit der Voraussetzung von der kirchlichen Selbständigkeit im Sinne des modernen Rechtsstaates zusammenhangen; aber ich halte mich auch für berechtigt, so lange nicht Jemand sich zu jener mittelalterlichen Anschauung, welche das Stadium des Faustrechts zwischen Staat und Kirche bezeichnet, in ausdrücklichen Worten bekennt, von allen streitigen Parteien anzunehmen, daß sie in gleicher Weise die Voraussetzung des modernen Rechtsstaates anerkennen, und die kirchliche Selbständigkeit als Selbstregierung und Selbstverwaltung verstehen innerhalb der geltenden Landcsgesetze. Der mündig erklärte Mann verwaltet alle seine Angelegenheiten selbständig, aber innerhalb der geltenden Landesgesetze. Gerade so jede corporative Genossenschaft; und in keinem Stücke anders die evangelische Landeskirche. Mit dieser Voraussetzung gehen wir nunmehr an die streitige Frage. 4. Zunächst möchten wir unsere Gegner auf die Folgen ihrer Auffassung aufmerksam machen.

Ihr Satz besagt: der Landesherr ist

oberster evangelischer Bischof nicht als Landesherr d. h. nicht kraft seiner obrigkeitlichen Stellung im Staate, sondern unabhängig von derselben aus besonderer kirchlicher Vollmacht; so daß sein kirchliches Amt in keiner Weise von seinem staatlichen Amt sich herleitet oder dependirt, sondern als ein zweites und völlig gesondertes auf anderem Grunde neben demselben besteht, und gleichsam, wie einige sich aus­ drücken, mit jenem nur das Verhältniß einer Personal-Union in der­ selben Person des Landesherrn bildet.

Wäre die Anschauung richtig,

so müßte daraus, wie mir scheint, unzweifelhaft folgen: daß die also in Natur und Ursprung und Vollmacht von der staatlichen

Der Siimmepiseopat u. s. w.

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Autorität völlig gesonderte kirchliche Gewalt des Landes­ herrn, auch ebenso vollständig gesondert wäre von allen staatlichen Attributionen der landesherrlichen Gewalt und schlechterdings nicht berechtigt wäre, irgend ein Moment der staatlichen Gewalt des Landesherrn für sich in An­ spruch

zu nehmen.

Der oberste evangelische Bischof wäre

eben

nichts weiter als ein evangelischer Bischof, und dürfte in allen seinen bischöflichen d. h. kirchlichen Functionen nie und nirgends als Landes­ herr d. h. als Staatsoberhaupt auftreten. Gerade so wie ein Fürst, der

gleichzeitig die oberste Stellung in einer Freimaurerloge

in die Functionen dieses Amtes staatlichen Machtstellung

schlechterdings

einfließen zu

hätte,

kein Moment seiner

lassen berechtigt wäre.

Ein

evangelischer Bischof kann keine Landesgesetze machen, und kann keine Landesgesetze aufheben; er kann auch seine kirchlichen Verordnungen nicht durch die Landesgesetzsammlung publiciren noch durch einen Cultus­ minister contrasigniren lassen, eben so wenig wie das Alles ein katho­ lischer Bischof kann. Und wenn das unsere evangelischen Landes­ bischöfe dennoch zu allen Zeiten gethan haben: so hätten sie damit zu allen Zeiten ihre Competenz überschritten, und überschritten noch gegen­ wärtig beharrlich ihre Competenz, weil sie noch gegenwärtig in Kirchen­ sachen Cabinetsordres mit ministerieller Unterschrift erlassen, und durch die Gesetzsammlung publiciren. Oder aber beweisen vielmehr gerade durch diese beharrliche anscheinende Competenzüberschreitung, daß sie wenigstens niemals daran gedacht haben, ihr kirchliches Amt in jener gesonderten Weise aufzufassen. 5. Auch in Bezug auf die Vollziehung der verfassungsmäßigen Selbständigkeit liegen in jener Auffassung Consequenzen, die die Ver­ treter derselben bisher nicht scheinen genügend erwogen zu haben. Es ist doch ganz unläugbar auch für unsere Gegner, daß zur vollständigen Gewährung dieser Selbständigkeit auch bei ihrer Voraussetzung immer­ hin einige Operationen nöthig wären.

So mußte ja das oberste kirchliche

Verwaltungsorgan zu dem Zwecke von dem staatlichen Cultusministerium gelöst

werden, um es als eine rein kirchliche Behörde hinzustellen.

Der oberste evangelische Bischof hätte diesen Act nicht vollziehen können; denn der Bischof konnte wohl Kirchenbehörden einsetzen, hat aber keine Macht, über das Cultusministerium zu verfügen. dennoch eine Abtheilung des Cultusministeriums

Wenn der Bischof zu

seiner obersten

Kirchenbehörde haben wollte: hätte er es müssen bei der Staatsgewalt beantragen.

Wollte es aber der Landesherr thun kraft seiner staat-

Sammlung ausgewählter Schriftstücke-

168

lichen Stellung, so konnte er das seit Existenz der Staatsverfassung, weil es zur Ausführung eines Verfassungsartikels gehörte, Uebereinstimmung mit den anderen gesetzgebenden Factoren.

nur in Es ist

ferner, wie wir neulich dargethan, für die große Zahl landesgesetzlicher Bestimmungen,

welche sich auf die evangelische Kirche beziehen, eine

Revision resp. Beseitigung oder Uebertragung erforderlich, wenn die Kirche in den Stand gesetzt werden soll, ihre Angelegenheiten selb­ ständig zu verwalten. Der evangelische Bischof als solcher könnte keine einzige dieser Bestimmungen aufheben, da er keine Verfügung hat über geltende Landesgesetze: er müßte, wenn er diese Revision doch für nothwendig halten muß, dieselbe bei den gesetzgebenden Gewalten des Staats beantragen, und sie könnte natürlich nur durch Uebereinstim­ mung

der drei

gesetzgebenden

Factoren zu Stande kommen.

Die

Kammer hätte also auch bei dieser Auffassung immerhin mit der Voll­ ziehung des Artikels 15 sich zu befassen, und ihr Beruf dazu wäre in demselben Maße größer, als die Machtvollkommenheit des evangelischen Landesbischofs durch diese Auffassung herabgesetzt wird. Sie hätte die noch bestehende Vermischung hes staatlichen und kirchlichen Gebietes an allen Punkten zu lösen, und die bereits geschehene oder versuchte Lösung nach ihrer Gesetzmäßigkeit und Verfassungsmäßigkeit zu prüfen. 6. Wenn die evangelische Landeskirche auch in ihrer Selbstän­ digkeit dem Landesgesetze in allen Stücken unterworfen bleiben muß, so sind demgemäß ihre Regieruugs- und Verwaltungsorgane für alle Verfehlungen der Kirche gegen die Landesgcsetze den Staatsgewalten verantwortlich. Wäre nun der evangelische Bischof eben lediglich ein Bischof, so dürfte derselbe natürlich die Unverletzlichkeit der Krone nicht für sich in Anspruch nehmen, und eö wäre vielmehr ganz in der Ordnung, daß er als oberster Träger der Kirchenge­ walt für

alle Verfehlungen

der Kirche zur'Rechenschaft

gezogen würde. Und damit brächte diese Auffassung den unver­ letzlichen Träger der Krone nicht nur in die unverantwortliche Lage eines den Staatsgewalten verantwortlichen Kirchenbeamten, sondern nöthigte auch die Kammern, ihn schon gegenwärtig in mannigfacher Beziehung zur Rechenschaft zu ziehen, weil ja gerade für diese Auf­ fassung in jeder von einem Minister contrasignirten kirchlichen Cabinetsordre, in jeder kirchlichen Publikation durch die Gesetzsammlung, sowie in der Ablösung der Minist erialabtheilung Competenzüberschreitungen und in dem Verhalten der kirchlichen Behörden in Sachen der Wieder­ trauung entschiedene Gesetzwidrigkeiten anerkannt werden müßten

Also

Der Summepiscopat u. s. w.

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diese Auffassung hat unerträgliche Consequenzen, am unerträglichsten gerade in dem Punkte, für welchen sie recht eigentlich Hülfe schaffen soll. — 7. Aber die ganze Theorie ist eine Fiction neuesten Da­ tums, ersonnen im Interesse Raumerscher Kirchenrestauration und politischer Reaction, welche allen Instanzen der Wahrheit, der Ge­ schichte und des Rechts widerstreitet. 8. Was in aller Welt für eine kirchliche Eigenschaft ist denn das, auf Grund deren die Landesherren in den Besitz der Kirchen­ gewalt gelangt sein sollen? Auf welche kirchlichen Vorzüge gründet sich denn das „Vertrauen", durch welches nach der Meinung Einiger die Kirche selbst an die Landesherren die oberste Kirchengewalt „über­ tragen" haben soll? Gilt etwa in der evangelischen Kirche der Grund­ satz, daß diejenigen, welche in der bürgerlichen Welt am höchsten ge­ stellt sind, auch jedes Mal die hervorragendsten seien an Gottesfurcht und sittlicher Hoheit, oder jedenfalls die einsichtigsten und weisesten re­ ligiöse Dinge zu verstehen und kirchliche Angelegenheiten zu ordnen? Ist es etwa evangelische Lehre, daß Gottesfurcht und die Gabe der Kirchenleitung in den Herrscherfamilien sich vererben und zwar nach dem Rechte der Erstgeburt? Wenn das aber nicht der Fall' ist, wenn die evangelische Kirche vielmehr weit entfernt ist, dergleichen wider­ sinnige, des Dalai Lama würdigere Theorieen auszustellen: müßte dann nicht das angebliche Vertrauen überall da fehlen, wo die zur Kirchen­ leitung nothwendigen Eigenschaften nicht vorhanden wären? Und müßte nicht die angebliche Uebertragung überall da unterbleiben oder auch zurückgenommen werden, wo jenes Vertrauen sich eben als unbe­ gründet erwiese? Und beweist nicht somit diese Annahme von einer kirchlichen Qualität gerade das Gegentheil von dem, was sie beweisen soll, nämlich daß nach evangelischen Begriffen das Kirchenregiment, wenn es wirklich als kirchliche Function auf kirchlichen Eigenschaften ruhen soll, unmöglich bei den Landessürsten erblich sein könnte? 9. Aber die evangelische Kirche ist auch weit entfernt gewesen, jemals die Sache so aufzufassen. Ganz zu geschweigen, daß die an­ gebliche „Uebertragung" lediglich eine theoretische Fiction ist, und in der Geschichte der evangelischen Kirche nirgends ein Act gefunden wird, wo die Kirche dem Landesherrn das Regiment übertragen hätte: die evangelische Kirche lehrt zu allen Zeiten durch ihre Theo­ logen und Kirchenrechtslehrer, daß die landesherrliche Kirchengewalt sich lediglich aus die äußeren Angelegen-

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Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

heilen der Kirche erstrecke. Die Reformatoren unterschieden streng zwischen den beiden Schwertern, dem geistlichen Schwerte des göttlichen Wortes und dem Schwerte weltlicher Gewalt, und lehren, daß beide Schwerter sollen auseinandergehalten werden, und daß eine Vermengung beider Gewalten ein arger. Mißbrauch sei.

In der augsburgischen Con-

fession Artikel 28 wird eine solche Vermengung mit vielfacher Berufung auf das Evangelium nach beiden Seiten als unchristlich zurückgewiesen: das Eingreifen der weltlichen Herren in das göttliche Amt des Evan­ geliums, sowie die Einmischung der Bischöfe in die weltlichen Händel. Und wenn dann die Reformatoren späterhin dennoch den Landesfürsten die Ordnung der kirchlichen Angelegenheiten zuwiesen, so sind sie nicht etwa diesem Grundsätze untreu geworden.

Denn es ist ihnen niemals

in den Sinn gekommen, eine eigentliche Kirchenregierung, eine Ver­ waltung der eigentlichen und inneren kirchlichen Angelegenheiten den Fürsten zuzuerkennen: für Schirmherren der Kirche erklärten sie die Fürsten, die beide Tafeln des Gesetzes zu hüten hätten; den Schutz des Evangeliums gegen äußere Gewalt forderten sie von ihnen, wobei übrigens Luther auf sein Vaterunser auch noch mehr Gewicht legte, als auf das Schwert des Churfürsten von Sachsen. Die eigentliche Kirchenleitung wiesen sie Kirchenbehörden zu, welche aus Laien und Geistlichen zusammengesetzt sein sollten; und in Sachen der Lehre er­ kannten sie nur der Kirche selbst ein entscheidendes Urtheil zu, und forderten zu diesem Zwecke Errichtung von Synoden, wie solche in vielen lutherischen Kirchenordnungen vorgeschrieben sind, wenn auch fast niemals die landesherrlichen lutherischen Kirchenregierungen dieser Vor­ schrift Folge geleistet haben. Damit stimmt auch überein das soge­ nannte Episcopalshstem, der erste Versuch, die landesherrliche Kirchen­ gewalt kirchenrechtlich zu construireu. Wenn dieses System auf Grund des augsburgischeu Religionsfriedens den evangelischen Landesherren die vacant gewordenen bischöflichen Rechte

zuerkennt, so versteht

es

darunter doch gleich den Reformatoren nur die äußere Kirchengewalt, und fordert für die Ausübung der gesammten Kirchengewalt das Zu­ sammenwirken der drei Stände, des obrigkeitlichen, des geistlichen und des Laienstandes (status politicus ecclesiasticus oeconomicus). Ja in den Zeiten der strengsten Orthodoxie wird sogar der Lehrstand als ausschließlich berufener Träger der materiellen inneren Kirchengewalt bezeichnet.

Das sogenannte Territorialshstem,

so sehr es

auch die

landesherrliche Kirchengewalt ausdehnen mag, ist doch mit der gegen­ überstehenden Theorie, dem sogenannten Collegialsystem, gleichfalls darin

Der Summepiscopat u. s. w.

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einig, daß die eigentlichen inneren religiösen Angelegenheiten, insbeson­ dre Sachen des Glaubens und der Lehre, in den Bereich dieser Ge­ walt nicht fallen. Wenn aber diese Scheidung durch die ganze evan­ gelische Kirche geht, und von ihren reformatorischen, theologischen und kirchenrechtlichen Autoritäten vertreten wird: so folgt schon hieraus, daß ja die Landesherren nicht als Bischöfe im eigentlichen kirchlichen Sinne des Worts angesehen werden, indem ihnen die Ausübung der­ jenigen Functionen abgesprochen wird, welche den kirchlichen Kern des bischöflichen Amtes ausmachen; und es ist schon daraus zu vermuthen, daß die Kirchengewalt, welche ihnen zugestanden wird, ihnen nicht aus einem kirchlichen Titel oder um kirchlicher Eigenschaften willen zuge­ standen werden soll. Und wenn wirklich spätere Theorieen die Kirchen­ gewalt der Landesherren über diese alte reformatorische Gränze hinaus ausdehnten, wie das später einigermaßen int Territorialshstem geschah, und namentlich in einigen Ausläufern der Hegeischen Philosophie zu finden ist, so kommen doch grade diese Systeme für unsere Gegner nicht in Betracht, weil gerade diese die gesammte Kirchengewalt aus­ schließlich aus der Staatsgewalt ableiten, jene ans dem territorialen Absolutismus, diese aus dem absoluten Staatsbegrisfe, nach welchem der Staat die Totalität alles sittlichen Seins befaßt. Es ist aber auch niemals ein kir chlicher Titel aufgestellt worden für die landesherrliche Kirchengewalt. „Vornehmste Glie­ der der Kirche" (praecipua membra ecclesiae) nannten die refor­ matorischen Väter die Fürsten und Magistrate doch wohl nicht in dem Sinne, daß sie sie in kirchlicher und religiöser Beziehung als die Vor­ züglichsten darstellen wollten, es heißt ganz einfach, sie sind unter den Mitgliedern der Kirche diejenigen, welche durch Stand und Macht die höchste Stellung einnehmen; und was sie diesen also an Kirchenleitung zusprechen, sprechen sie ihnen damit nicht unter einem kirchlichen Titel, sondern als städtischen und staatlichen Obrigkeiten zu. Der Bischofstitel ist der einzige, der in Betracht kommen kann; und wenn dieser nicht zufällig vorhanden wäre, würde vermuthlich kein Mensch darauf verfallen sein, einen besondere» kirchlichen Grund für die landesherr­ liche Kirchengewalt zu suchen. Wie wenig aber dieser Titel einen wirklichen kirchlichen Bischof bezeichnen sollte, ist bewiesen durch die Ausscheidung aller eigenthümlich kirchlichen Functionen; und der Titel würde gar nicht an die Landesherren gerathen sein, wenn nicht gerade zur Zeit der Reformation in der katholischen Kirche mit dem bischöf­ lichen Amte eine große Zahl von solchen Functionen oder Rechten ver-

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Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

bunden oder vielmehr vermengt gewesen wäre, die eben nicht kirchlicher Natur sind, sondern dem staatlichen Gebiete recht eigentlich angehören, und für deren Fortverwaltung bei der Vacanz der bischöflichen Gewalt darum nothwendig andere als kirchliche Träger gesucht werden mußten. Man nannte sie also „Bischöfe", weil sie einen Theil der damaligen bischöflichen Rechte überkamen, wenn auch immerhin diejenigen, welche nicht im Begriffe der Kirchengewalt lagen. Daß aber diese Seite des bischöflichen Amtes, welche ihnen den Bischofstitel zuzog, nicht als eine kirchliche angesehen wurde, beweist dieselbe augsburgische Confession, die in demselben Artikel 28 sagt: „Wo aber die Bischöfe weltlich Re­ giment und Schwert haben, so haben sie dieselbe nicht als Bischöfe aus göttlichen Rechten, sondern aus menschlichen kaiserlichen Rechten, geschenkt von Kaisern und Königen zu weltlicher Verwaltung Güter, und gehet das Amt des Evangeliums gar nichts an."

ihrer Also

was die Reformatoren in Sachen der Kirchenleitung unter diesem Titel den Landesherren zusprachen, haben sie ihnen zugesprochen als welt­ liche königliche Rechte und um ihrer weltlichen obrigkeit­ lichen Stellung willen. 10. Die Geschichte bestätigt diese Auffassung.

Sie weiß nichts

von einer Uebertragung seitens der Kirche, nichts von einer kirchlichen Qualität, noch von einem besonderen kirchlichem Amte aus kirchlichem Titel.

Der geschichtliche Hergang ist einfach

folgender.

Von der

bischöflichen Gewalt, soweit sie durch die um sich greifende Reformation erledigt wurde, gingen die eigenthümlich kirchlichen Functionen ohne Weiteres auf die Prediger des Evangeliums über. Die weltlichen Rechte und Privilegien der Bischöfe dagegen und die kirchlichen Besitzthümer, sowie auch die nothwendige äußere Ordnung der kirchlichen Angelegenheiten übernahmen instinctiv die Fürsten und Stände, eben weil sie die Macht hatten und Niemand da war, der sie ihnen streitig machte.

Die Reformatoren ließen das eben geschehen: theils weil sie

die Empfindung haben mochten, daß jene weltlichen Rechte und Be­ sitzungen, als von Rechtswegen dem Staatsgebiete zugehörig, damit recht eigentlich in die rechten Hände zurückkamen; theils weil sie er­ kannten, daß bei dem vorhandenen Mangel einer evangelischen Kirchenvcrfassung die äußere Leitung der

evangelischen Kirchensachen einst­

weilen nicht besseren Händen anvertraut werden könne, als denjenigen Fürsten und Ständen, ine mit Leib Evangeliums eingetreten waren.

und Leben

für die Sache des

Die Fürsten und Stände ließen sich

dann feierlich und ausdrücklich im augsburger Religionssrieden diese

Der Sullimepiseopat u. s. w.

sogenannten

bischöflichen

Rechte

sanctioniren,

173 und im westfälischen

Frieden noch dazu das sogenannte Reformationsrecht, d. h. das äußer­ liche Recht, daß Jeder in seinem Landesgebiete den Uebertritt zu an­ deren Confessionen verhindern durfte. die regimentlichen Rechte

Die Fürsten haben also einfach

und die Besitzthümer an sich genommen.

Nehmen aber ist ja wohl keine kirchliche Eigenschaft, sondern ein Aus­ druck der äußeren Gewalt. Es war dann in der Folge ganz natürlich, indem die weitere Ausbildung einer kirchlichen Verfassung

nach den

reformatorischen Principien unterblieb: daß die Fürsten in der Zeit, wo die Staatsgewalt sich absolutistisch concentrirte, auch in den tirchenregimcntlichen Functionen nicht die von den reformatorischen Vätern sowie von den evangelischen Grundsätzen gezogenen Gränzen inne hielten; vielmehr nnwilltürlich der nnorganisirten Menge von Gemein­ den gegenüber indirect und auch direct in die innersten Gebiete deö kirchlichen Lebens hineinregiertcn, so daß dann die territorialistische Doctrin sowie auch die Anwendung des absoluten Staatsbegriffs nichts anderes .als die juristische und philosophische Nachconstruction der be­ reits vorhandenen Wirklichkeit waren. Mit einem Worte, die evan­ gelische Geschichte mit nüchternen Augen angesehen: so ist das lan­ desherrliche Kirchenregiment nichts weiter, als in seinem Ursprünge die instinctive rechtmäßige Zurücknahme von Attributionen der Staatshoheit, welche bis dahin unrechmäßiger Weise von den Händen der Kirche usnrpirt waren, und in der Folgezeit eine Ausdehnung dieses Staatshoheits­ rechtes über seine rechtmäßigen Grenzen

hinaus in das

innere Gebiet der Kirche. 11.

So wichtig indeß für das Verständniß des Verhältnisses die

reformatorischen Grundsätze und die Doctrinen der theologischen' und kirchenrechtlichen Autoritäten sind, und so bedeutend das Licht, welches der geschichtliche Hergang über die Frage verbreitet: so können doch diese Factoren hier, wo es sich um eine Rechtsfrage handelt, nicht die Entscheidung abgeben, denn geschichtliche Facta und Rechtstheorieen siud immerhin keine Gesetze, und entscheiden kann schließlich allein das

geltende

Gesetz

und

der

gesetzliche

Bestand.

Das Gesetz aber und der herkömmliche gesetzliche Bestand sprechen vor Allem und fassung.

ausschließlich

für

unsere Auf­

Begreiflich existiren keine Gesetze, welche geradezu und aus­

drücklich dazu gemacht sind, die Natur und Competenz der landesherr­ lichen Kirchengewalt zu bestimmen, wie das ebenso für alle aus ähnliche

174

Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

Weise entstandenen Gewalten der Fall ist. Aber die Gesetze und Ver­ ordnungen, welche die Landesherren kraft dieser Gewalt in Kirchen­ sachen erlassen haben, gewähren durch ihre Art und Beschaffenheit einen sicheren Rückschluß auf die Natur der Gewalt selbst. Daß die Landesherren ihre Kirchengewalt selber nicht aus einer kirchlichen Qualität ableiteten, haben sie zu allen Zeiten bewiesen. Zunächst da­ durch, daß sie die Bestimmung in inneren kirchlichen Angelegenheiten sich für ihre Person nicht erlaubten, vielmehr besonderen kirchlichen Aemtern und Behörden überließen. Eine Rücksicht, die selbst in den Zeiten des stärksten territorialistischen Absolutismus selten vergessen worden ist: indem man da, wo eingreifende Anordnungen innerlicher Natur nöthig wurden, wie in Sachen der Union und bei Einführung von Liturgieen nnd Gesangbüchern, in Ermangelung repräsentativer kirchlicher Organe wenigstens die Stimme der Gemeinden entscheidend anzuhören sich für verpflichtet hielt. Die Landesherren haben sodann denjenigen Theil der Kirchengewalt, den sie sich besonders als jura reservata beilegten, und unter diesen auch das Recht der kirchlichen Gesetzgebung, fast zu allen Zeiten durch ihre Hofräthe, Geheime Räthe, Kanzleien und Regierungen d. h. also fast ausschließlich durch Staats­ behörden verwalten lassen, und fast niemals durch Kirchenbehörden; und haben dadurch wohl zur Genüge bewiesen, wie sie die Natur dieser Rechte ansahen. Auch die meisten lutherischen Kirchenordnungen haben den Landtagsabschied erhalten und sind also der Genehmigung der Stände unterbreitet, und mithin zugleich als eine politische Sache behandelt worden. In nnserem Jahrhundert kann über die Natur der Gewalt nach ihrem gesetzlichen Bestände kein Zweifel sein. Die Kirchen­ sachen sind gleicherweise wie die Staatssachen durch die obersten staat­ lichen Verwaltungsbehörden verwaltet worden, und auch die Konsistorien sind nach den Bestimmungen des Allgemeinen Landrechts Aufsichtsbe­ hörden des Staates über die evangelischen Gemeinden, wie wir denn um deswillen eben „Königliche" Konsistorien und „Königliche" Super­ intendenten und Generalsuperintendenten haben. Die kirchlichen Ver­ ordnungen sind im Allgemeinen Landrecht als Landesgesetze hingestellt, und späterhin stets durch die Landesgesetzsammlung publicirt, und bis auf den heutigen Tag läßt bei uns der landesherrliche Inhaber der Kirchengewalt seine kirchlichen Verordnungen durch die Gesetzsammlung publiciren und als Cabinetsordres von dem Cultusminister contra* signiren. Die Cabinetsordre, welche den evangelischen Oberkirchenrath zum Zwecke der Ausführung des Artikels 15 einsetzt, die CabinetS-

Der Summepiscopat u- f. w.

175

erbte, welche die Einführung einer kirchlichen Gemeinbeorbnung be­ stimmt, bte Cabinetsorbre, welche bte Wiedertrauungssachen ausschließ­ lich in bett Oberkirchenrath verlegt, unb noch manche andere Cabinets­ orbre, sie sinb alle vom Cultusminister contrasignirt. Zeugniß?

Bcbarf es weiter

Man braucht eigentlich nur einen solchen kirchlichen Erlaß

in bte Hanb zu nehmen, unb bte Sache ist unwiderleglich entschieden. „Wir Friedrich Wilhelm von Gottes Gnaden, König von Preußen u. s. w.", so beginnen diese Erlasse; und darunter Wilhelm" gegengezeichnet „v. Labenberg", mann-Hollweg".

steht „Friedrich

„v. Raumer", „v. Beth-

Werden so bischöfliche Erlasse geschrieben ober sind

es nicht vielmehr unzweifelhaft Acte landesherrlicher Gewalt, bte in dieser Form in die Welt ausgehen? 12.

Lehre, Geschichte, Herkommen und Gesetz nöthigen ju der

Annahme, daß die Landesherren ihre Kirchengewalt nun und nimmer­ mehr in einer anderen Qualität besessen haben, denn als Landesherren, und nie aus einem anderen Grunde, als weil sie Landesherren d. h. Staatsoberhäupter sind. Das Factum wenigstens ist doch nicht zu läugnen, daß sie nach unserm gegenwärtigen gesetzlichen Bestände ihre gesammte Kirchengewalt nach Form und Inhalt als Landesherren und kraft ihrer landesherrlichen Gewalt geübt haben und noch üben. Weder gesetzliche Bestimmungen noch die factische Ausübung der Kirchengewalt geben irgendwelchen Anlaß zu der Fiction von einem besonderen un­ abhängigen kirchlichen Amte der Fürsten. Aber auch wer die von uns gemachten Unterscheidungen sich nicht anzueignen vermöchte, und der Meinung wäre, daß das Verhältniß eben niemals klar gewesen sei: müßte doch gerade um deswillen das negative Resultat zugeben, daß eben eine gesonderte Kirchengewalt nicht existirt habe, sondern kirchliche und politische Gewalt bisher ungesondert und Ununterschieden in den Händen des Staatsoberhauptes gelegen haben. Und aus dieser An­ nahme würden für die vorliegende Sache dieselben Consequenzen folgen wie aus unserer Auffassung. 13.

Ist also die Kirchengewalt ein integrirender Bestandtheil der

obrigkeitlichen Staatsgewalt, oder ist sie auch nur jedenfalls nicht eine besondere unabhängige Gewalt: so hat diese Kirchengewalt der Landes­ herren alle staatsrechtlichen Veränderungen mit durchzumachen, welche die obrigkeitliche Stellung der Landesherren im Staatsorganismus er­ leidet. Wie das Kirchenregiment in das Stadium deö Absolutismus factisch und rechtlich mit hineingezogen ist: so muß eS auch gleicher­ weise den Uebergang in den Constitutionalismus erleben. Vor Existenz

176

Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

der Staatsverfassung konnte der König traft seines absoluten landes­ herrlichen Rechts Kirchenbehörden schaffen und abschaffen wie er wollte; und hätte er damals die Kirche in die Selbständigkeit entlassen wollen, so konnte er ihr zuvor eine kirchliche Verfassung octroyiren, wie sie ihm gut schien, und wäre dabei in seinem vollen Rechte gewesen. Mit dem Eintritte der Verfassung dagegen war das nicht mehr zulässig. Entweder nämlich wurde die Kirche nicht selbständig gesprochen: dann ging die Kirchengewalt naturgemäß im Verein mit allen übrigen landes­ herrlichen Gewalten in die constitutionelle Theilung, und es mußte alle kirchliche Gesetzgebung gleichfalls von der Krone mit dem Landtage vereinbart werden. Die Kirchengewalt nachträglich von dieser Theilung ausnehmen, wäre mit Geist und Buchstaben der Staatsverfassung ebenso wenig vereinbar, als wenn z. B. nachträglich die Leitung der Wissenschaft oder die Organisation der Schulen als ausschließliches Privilegium der Krone vorbehalten werden wollte. Oder aber der Kirche wird die Selbständigkeit gewährt, wie sie ihr denn durch die Verfassung gewährt ist: dann muß das kirchliche Gebiet an allen Punkten von der Staatsgewalt abgelöst werden, nicht bloß von den Kammern, sondern ebenso sehr von dem Staatsministerium und der Krone selbst. Dann aber folgt alles Andere, wie wir eö neulich dar­ gestellt haben. Dann ist die evangelische Kirche noch nicht im Besitze der Selbständigkeit; dann haben die Kammern dafür zu sorgen, daß sie in den Besitz ihres verfassungsmäßigen Rechtes gelange; dann haben bis zum Vollbesitze während des unselbständigen Jnterimisticums die Kammern gleichwie daö Ministerium sich der kirchlichen Angelegenheiten anzunehmen in demselben Umfange jederzeit, als die Selbständigkeit noch nicht zur Ausführung gekommen ist. 14. Also die gegnerische Theorie von dem besonderen kirchlichen Amte des summus episcopus ist keine glückliche Erfindung. Sie be­ findet sich mit der Wahrheit und Wirklichkeit, mit Geschichte nnd Recht in offenkundigem Widersprüche und leistet doch nicht einmal was sie soll. Denn einerseits bleiben auch bei ihrer Annahme, wie wir ge­ sehen haben, Gebiete übrig, in welchen die Selbständigkeit erst noch vollzogen werden muß, wozu also die Kammer verpflichtet wäre, mit­ zuwirken, und verpflichtet, auf dem noch unvollzogenen Gebiete die Kirchenangelegenheiten mitzuvertreten. Andererseits bringt sie den Träger der Krone in eine Lage, in welche ihn die Verfassungstreue niemals gerathen lassen dürfte, und endlich hätte gerade nach ihrer Auffassung des bischöflichen Amtes der Landtag unzweifelhaft mit den kirchlichen

Kircheiiverfassttug und LtaatSverfassuug u. f. tv.

177

Dingen gegenwärtig sich zu befassen, weil er nicht nur den Cultusminister, sondern auch den obersten evangelischen Bischof-.wegen einer Reihe kirchlicher Cabinetsordres, die von diesem Standpunkte als ver­ fassungswidrig

erscheinen

müssen,

zur Rechenschaft zu

ziehen

hätte.

Und darum fordert nicht nur die Wahrheit und das Recht unsere Auf­ fassung und ihre Consequenzeu, auch nach gesunder Politik ist unser Weg der gerathenere.

Er bietet wenigstens wirklich die Möglichkeit,

die gesetzgebenden Factoren des Staates sowie den Träger der Krone definitiv von aller Verwicklung mit den Kirchensachen zu befreien, wenn man sich nur einmal ein Herz faßt, die Sache energisch anzugreifen. Wogegen nach der anderen Auffassung, wo dem Landesherrn die Kirchen­ gewalt als eine besondere Domäne zufällt, die Verwicklungen und Con­ flicte mit den gesetzgebenden Gewalten des Staates nicht aufhören, vielmehr begreiflich von dem Dasein des Artikels 15 erst ihren An­ fang nehmen müssen, wie unser zehnjähriges Provisorium bereits un­ widerleglich bewiesen hat und alle Tage beweist.

Kirchenverfassnng und Staatsverfassung oder der kirchliche Constitutionalismus. Das kirchliche VcrfassungSwerl in Baden haben wir mit unver­ hohlener Freude begrüßt, und trotz unserer Bedenken gegen einige wichtige Punkte die Organisation in ihren Grundzügen als eine ächte Frucht evangelischer Principien anerkannt.

Wir haben nunmehr nach

dem Abschluß des Werkes keinen Anlaß, auf dasselbe zurückzukommen. Aber in der Motivirung des Organisationsplanes stellt sich ein Ge­ danke in den Vordergrund, der unsere Aufmerksamkeit stark in Anspruch nimmt: es ist das der Gedanke des „kirchlichen Constitutionalismus", und

die Behauptung,

daß

die Kirche

ihre

Verfassungsformen im

Wesentlichen den herrschenden Staatsformen nachzubilden habe. Diesen Gedanken halten wir uns verpflichtet, als einen einseitigen und in seinen Folgen geradezu bedenklichen zu bekämpfen:

und

das

um so

mehr, als er eine theilweise Berechtigung hat, und überdies VorzugsSpaeth, Protestantische Bausteine,

1%

178

Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

weise von einem Manne vertheidigt worden ist, der in seiner wahrhaft wissenschaftlichen Bedeutung seit einem Vierteljahrhundert unsere ungetheilte und unveränderte Verehrung besitzt.

Es

erscheint

um so

wichtiger, die Gültigkeit der bezeichneten Vorstellung auf ihr geringes Maß zurückzuführen, als ihre Einseitigkeit da, wo es sich wie in Baden zunächst fast ausschließlich nur um die Formen der Organisation handelt, noch nicht ins volle Licht treten kann; dagegen wenn man mit demselben Gedanken an die tieferen Fragen der K'rchenordnung heran­ treten wollte, dem Kirchenwesen unvergleichlich größerer Schaden er­ wachsen müßte, und darum die ungeprüfte Annahme desselben im Hin­ blick auf die weiteren Verfassungsvorgänge, die hoffentlich in Deutsch­ land bevorstehen, von sehr üblen Folgen sein würde. Bei Richard Rothe finden wir den Gesichtspunkt begreiflich. Der Absolutismus seines Staatsbegrifses, der ihn in dem Staate die Totalität alles sittlichen Seins, und in der Kirche demgemäß nur ein Moment an dem Staatsorganismus erblicken läßt, so daß sie die Be­ stimmung hat, aus ihrer historisch gegebenen Sonderung allmählich ganz in den Staat aufzugehen, muß ihn natürlich geneigt machen, das Gemeinsame in den verschiedenen Formen stärker zu betonen und das Unterscheidende gering anzuschlagen. Wer dagegen Staat und Kirche für grundwesentlich verschiedene Gemeinwesen betrachtet, welche zwei entgegengesetzte Pole des menschlichen Wesens darzustellen berufen sind, und darum in gesonderten Organisationen ihr Bildungswerk neben einander und mit einander zu treiben haben: der wird für das Unter­ scheidende stärkere Empfindung haben, und von vorne herein zu der Meinung neigen, daß die principielle Verschiedenheit beider Gemein­ wesen, welche eben ihre gesonderte Organisation und Entwicklung fordert, auch in den Organisationsformen unumgänglich erhebliche Verschieden­ heiten erzeugen müsse. Und wenn nun auch Rothe, in seiner der Wahrheit geschichtlicher Thatsachen und Strömungen sich niemals ver­ schließenden Weise, der thatsächlichen Trennung von Staat und Kirche auch seinerseits die Anerkennung gewährt: so sollte auch Rothe unseres Erachtens, welche Bedeutung er auch dieser gegenwärtigen Thatsache für seine Staatsidee und für die zukünftige Entwicklung beilegen mag, wenigstens für die gegenwärtige Sonderung das Unterscheidende stärker betonen. Wir unsererseits, die wir die Sonderung von Staat und Kirche recht eigentlich als eine weltgeschichtliche Aufgabe der Gegen­ wart, als einen wesentlichen Schritt zu ihrem Ziele ansehen, halten die der Sonderung zu Grunde liegende Wesensverschiedenheit beider

Kirchenverfassmig und Staatsverfassung u. f. w>

179

Gemeinwesen für so bedeutend, daß sie sich auch in der Organisation durchweg kundgeben muß; und würden umgekehrt, ,wenn die kirchlichen Verfassungsformen nichts weiter als eine Nachbildung der 'politischen zu sein brauchten, die Sonderung beider Gebiete als unnöthig bestreiten und viel mehr dafür stimmen, statt einer nutzlosen Verdoppelung der­ selben Formen lieber nach der bisherigen Weise die Kirchensachen durch die Organe des Staates und der bürgerlichen Gemeinde verwalten zu lassen, was bei confessioneller Mischung ja leicht durch eine confessionelle itio in partes bewirkt werden könnte. Wir sind aber, wenn wir auch unsererseits eine rein kirchliche Organisation aus specifisch kirchlichen Principien verlangew, dabei durchaus nicht gemeint, uns in die Alter­ native der verbrauchten Consistorialverfassung oder der alten Presbhterialverfassung drängen zu lassen: da man sehr wohl eine der Ge­ genwart entsprechende rein kirchliche Organisation wollen kann, ohne sie den constitutionellen Staatsformeu entlehnen zu 'müssen, wie das Berliner Unionscomite beispielsweise durch seinen Verfassungsentwurf vom Jahre 1849 *) bewiesen hat; wie denn auch überhaupt die Ver­ treter der „Presbhterial-Shnodalverfassung" neuerdings sich nicht dabei die alten Cooptationspresbhterien zum Zweck der Kirchenzucht gedacht haben, diese veraltete Vorstellung vielmehr denjenigen eignet, welche die Verbindung von consistorialer und presbhterialer Verfassung im Auge haben. Also rein kirchliche Organisation von der politischen unterschieden, und doch nichts Alterthümliches noch Veraltetes, sondern Alles den Bedürfnissen und Mächten der Gegenwart entsprechend: — das ist unsere Position. Die Berufung auf die Gewohnheit des Volks kann nicht die Be­ hauptung rechtfertigen, daß bei dem Volke nur diejenigen Verfassungs­ formen Eingang finden werden, in welchen es auf anderen Lebensge­ bieten sich zu bewegen gewohnt ist. Die Gewohnheit ist nicht ein sittliches Moment von solcher Bedeutung, daß sie die Entscheidung ab­ geben könnte: und dann ist es ja ans Grund unseres geistigen Pro­ zesses der letzten Jahrhunderte dem evangelischen Volke längst zur unvertilgbaren Gewohnheit geworden, Glaubens- und Gewissenssachen von Staatsangelegenheiten zu unterscheiden, und in Glaubens- und Gewissenssachen Formen, Methoden und Auctoritäten entschieden zurück*) Siehe Zeitschrift für die unirte evangelische Kirche 1850 Nr. 20 S. 369 ff.; vergleiche auch Eltesters Vortrage Über Wesen und Gestaltung der evangelischen Kirche, ebendaselbst 1851 S. 359 ff.

180

Sammlung ausgewählter Schriftstücke

zuweisen, die es für Staatsangelegenheiten durchaus in der Ordnung findet. Die Berufung auf die Geschichte will auch nicht viel beweisen. Wenn man darauf hinweist, daß die Reformationskirchen, welche sich unter der Herrschaft des Staates befanden, durchweg Verwaltungs­ organe empfingen, welche dem damaligen Stande der Staatsentwicklung entsprechend waren: so wird das freilich Jedermann natürlich finden; aber es sollte doch auch Jeder das Unzutreffende empfinden, welches darin liegt, aus diesem unangemessenen Zustande der Verstaatlichung der Kirche und ihrer Abhängigkeit vom Staate einen Beweis für ihre Organisationsprincipien im Stadium der Sonderung und Unabhängig­ keit entnehmen zu wollen. Wo dagegen die Kirche vom Staate sich gesondert befand, wie die römisch-katholische des Mittelalters: da war doch offenkundig ihre Organisation von den staatlichen Berfassungs­ formen so verschieden, daß wir es in der That nicht verstehen, wie der Commissionsbericht der badischen Gencralshnode die römisch-katho­ lische Kirche des Mittelalters gerade als ein Beispiel für seine gegen« theilige Behauptung aufstellen konnte.

Man sollte meinen, ein Blick

genügte, um die gründliche Verschiedenheit zu constatiren. Hat denn nicht die römisch-katholische Kirche den Bau ihrer Verfassung fast seit sechs Jahrhunderten unverändert erhalten, während die Staaten durch die verschiedensten Verfassungsentwicklungen hindurchgingen? Hat nicht die römisch-katholische Kirche dieselbe Organisation bei allen Nationen der Erde vom asiatischen Despotismus bis zu den amerikanischen Re­ publiken? Und hat denn der Schwerpunkt ihrer Organisation, nämlich die Institution einer Hierarchie, die grundsätzlich kein Vaterland und keine Familie kennt und vollkommen losgelöst von diesen Grundbedin­ gungen alles Staatswesens

zu

einer geschlossenen Einheit über die

ganze Welt organisirt ist, — eine Analogie mit irgend welcher Ver­ fassungsform eines Staates? Die mittelalterliche Kirche hatte in ihrer Verweltlichung etwas von staatlicher gesetzlicher Art an sich genommen, das ist die Wahrheit in dieser Behauptung; das ist aber doch sehr verschieden von der anderen durcb nichts zu begründenden Behauptung, daß die mittelalterliche Kirche die Verfassungsformen des mittelalter­ lichen Staates an sich genommen oder von diesem entlehnt habe. Und wie will man denn die geschichtliche Thatsache mit jener Behauptung in Einklang bringen: wenn ebenso andererseits in demselben Staate zu derselben Zeit wie z. B. in Nordamerika und insbesondere in Eng­ land

die verschiedenartigsten

kirchlichen Verfassungsformen

von

der

Kirchenverfassung und Staatsverfassung it. s. w.

181

autokratisch-bischöflichen bis zur republikanischen der Presbyterianer und der atomistischen der Independenten, von der völligen Staatskirchlichkeit der anglikanischen bis zur entschiedensten Separation der schottischen Freikirche neben einander gefunden werden?

Es wird aus der Ge­

schichte sich wohl nichts weiter beweisen lassen, als daß Staat und Kirche auch in ihren Formen niemals völlig unabhängig von einander sich entwickelt haben, daß vielmehr beide auch in ihren Verfassungs­ formen den Einfluß der Ideen und Vorstellungen bekunden, welche in einem Zeitalter allgemein herrschend waren, und daß darum nament­ lich diejenigen kirchlichen Gemeinwesen, welche recht eigentlich die Strömung des Zeitgeistes repräsentirten, eine gewisse Analogie mit den vorherrschenden Staatsformen nicht verkennen lassen. Weiter als auf dies Allgemeinste erstreckt sich geschichtlich die Gleichartigkeit nicht. Die Verschiedenartigkeit ist ebenso offenkundig, und geht bis zur Gegen­ sätzlichkeit, wo Wesen und Beruf es mit sich bringen. Aber sind es denn nicht die ewigen unveränderlichen Grundgesetze aller

menschlichen Gemeinschaft, welche der kirchlichen Organisation

ebenso zu. Grunde liegen wie der politischen? Und können denn die allgemeinen Grundgesetze der kirchlichen d. h. der religiösen Gemein­ schaft anrere sein als die der moralischen Gemeinschaft überhaupt? — Wer wollte diesen allgemeinen Satz Rothe's bestreiten? Aber welch ein gewaltiger Sprung von da bis zum kirchlichen Constitutionalismus! Allerdings sind die Grundgesetze alles Gemeinwesens die­ selben, allerdings wird die Gleichheit des Grundgesetzes in demselben Zeitalter bei derselben Nation für die verschiedenen Gemeinwesen auch eine Analogie in den Organisationsprincipien bewirken: aber folgt daraus schon eine Gleichartigkeit der Organisation, bei der nicht wesent­ liche specifische Unterschiede hevortreten können und müssen? Wird man um dieses allgemeinen Grundgesetzes willen den.Staat patriar­ chalisch organisiren wie die Familie, oder die Familie constitutionell nach dem Bilde des modernen Staates?

Wird man um dieses all­

gemeinen Grundsatzes willen eine Academie der Wissenschaften gerade so organisiren wie einen Staat: mit einem erblichen Präsidenten an der Spitze, mit einer ständigen Pairskammer und einer aus allen Wissenden bestehenden Repräsentation,

wo dann diese gesetzgebenden

Factoren durch ihre Vereinbarung feststellten, was im Reiche des Wissens als Wahrheit, und wie lange es daselbst als Wahrheit zu gelten habe, die Jedermann als Wahrheit anzuerkennen und zu lehren h.abe? Wird um des allgemeinen Grundgesetzes willen das gesellige

Leben nach denselben Normen und Formen sich Kilten wie die religiöse Gemeinschaft, und die gesellige Unterhaltung nach den Gesetzen des wissenschaftlichen Vortrags; und wäre es nicht vielmehr die fehlerhafteste Organisation des geselligen Verkehrs,

wenn er sich nicht principiell

unterschiede von dem religiösen wie von dem wissenschaftlichen und von dem politischen Verkehr? Die Identität des allgemeinen Grundge­ setzes würde für die Organisation des Gemeinwesens unseres Erachtens nicht weiter wirken, als daß ein religiöses Gemeinwesen, welches im Geiste der Gegenwart sich organisiren will, sich nicht etwa independentistisch noch absolutistisch noch kosmopolitisch organisiren dürfte, sondern unter Anerkennung der

nationalen Grenzen und Eigenthümlichkeiten,

nach den Grundsätzen der Selbstregierung und also in repräsentativen Formen, sowie unter dem Gesichtspunkte fortschreitender Reformation. Solche großen Grundsätze etwa werden auf alten Gebieten das Gleich­ artige sein, das aus dem allgemeinen Gemeinschaftsgesetz und dem gegenwärtigen Entwicklungsstadium hervorgeht. Weiter aber als auf derartige große Gesichtspunkte wird sich die Gleichartigkeit nicht er­ strecken dürfen: die unterschiedene Natur der verschiedenen Gemein­ schaften wird dieselben Grundlagen zu wesentlich abweichenden Orga­ nisationsformen verarbeiten. Die badische Kirchenverfassung bringt übrigens selbst diesen Grund­ satz nicht so durchgreifend in Anwendung, als der motivirende Gedanke besorgen ließ: sonst würde sie ja ein Zweikammersystem enthalten, eine Verantwortlichkeit des Oberkirchenraths, sowie eine viel durchgreifendere Abhängigkeit aller kirchlichen Beamte» vom Oberkirchenrath. Sonst würde sie, was Oberkirchenrath und Synode vereinbaren, einfach als Gesetz proclamiren/ ohne erst den einzelnen Gemeinden die Sache vor­ zubringen. Solche Abweichungen beweisen, daß die badische Kirchen­ verfassung thatsächlich jenem Geltung zuerkennt.

Grundsätze

nur

sehr

eingeschränkte

Dasselbe erhellt, wenn z. B. die Gemeindewahl­

berechtigung unseres Erachtens sehr sorgfältig abgewogen, und darin sittliche Bestimmungen aufgenommen werden, welche dem politischen Gesichtspunkte völlig fremd sein müssen. Noch unabweislicher indeß würde sich die gewaltige und principielle Differenz kirchlicher und po­ litischer Organisation haben aufdrängen müssen, wenn es sich nicht, wie eS in diesem Falle ganz in der Ordnung war, fast ausschließlich um die Formen und Organe der Verfassung gehandelt hätte, sondern die Verfassung nach allen ihren Richtungen, auch in ihren tieferen Bestimmungen als ein Ganzes

hätte in Angriff

genommen werden

Kirchenverfassmig und Staatsverfassung u- s. w-

183

müssen. Wo man z. B. Bestimmungen über die Stellung der heiligen Schrift, über Bekenntnißverpflichtung, wo man eine Lehrordnung so­ wie eine Anordnung über kirchliche Zucht und Sitte, wo man eine kirchliche Disciplinar- und Gerichtsordnung aufzustellen hat, da kann man es sich unmöglich verbergen, daß alle diese Anordnungen völlig und principiell verschieden sind von staatlicher Gesetzgebung, und daß eö eben den Fortschritt unseres gegenwärtigen religiösen Bewußtseins characterisirt, den Unterschied aller dieser Dinge von der Art und Geltung staatlicher Gesetzgebung immer schärfer zu erkennen. Wir stellen es uns hier nicht zur Aufgabe, unseren Staats- und Kirchenbegrisf zu entwickeln und in allen seinen Folgerungen darzu­ stellen: wir wollen vielmehr, da es sich hier lediglich um die Aner­ kennung der principiellen Differenz zwischen staatlicher und kirchlicher Organisation handelt, nur einige Hauptgesichtspunkte in der Kürze hervorheben, welche geeignet sind, unsere Anschauung zu begründen. Der Staat gilt uns als die Rechtsordnung eines Volks, und hat seinen Schwerpunkt in den materiellen Substanzen von Leben und Eigenthum. Die Kirche bezeichnet die Gemeinschaft des religiösen Glaubens, und ist in ihrem Centrum ein Reich von Gesinnungen und Ueberzeugungen. Dem Staate eignen seiner Natur gemäß Gebot und Verbot, Befehl und Zwang; die äußere Gewalt ist in allen Stücken seine ultima ratio, und recht eigentlich das characteristische Merkmal, wieweit die Grenzen seiner Befugniß reichen. Die Kirche als ein Reich von Ueberzeugungen und Gesinnungen, hat keine andere Mittel für die Erreichung ihrer Aufgaben als Ueberzeugung und Gesinnung d. h. Lehre und Vorbild, Erkenntniß und Liebe: Zwang und Gewalt sind dem Organismus ihrer eigenthümlichen Kräfte und Wirkungen völlig fremd. Die Kirche wird demnach in ihrer Verwaltung und Orga­ nisation nur in demjenigen mit der Verwaltung und Organisation des Staatswesens zusammentreffen, was an ihr das Unwesentliche und Nebensächliche ist, sofern sie nämlich als ein concretes Gemeinwesen auch materielle Mittel und Ordnungen für sich nöthig hat: in Allem dagegen, was ihr eigenthümliches Wesen ausmacht, wird sie nach wesentlich verschiedenen Gesichtspunkten sich organisiren und verwalten, so daß selbst die Gleichartigkeit gewisser Formen mehr als eine äußere erscheinen wird. Für die Kirche gilt durchweg der Grundsatz der Freiheit und Freiwilligkeit: wo der Staat durchweg zu Zwang berechtigt stnd ver­ pflichtet ist. Die Kirche darf Niemand zum Eintritt zwingen, und

184

Sammlung ausgewählter 2 christstiicke.

muß Jedermann den Austritt freistellen; und wo in diesen Stücken der Consirmation sowie der Separation noch nicht Alles nach der Regel der Freiheit organisirt ist, drängt und zwingt doch immermehr das allgemeine religiöse Bewußtsein zu solcher Freiheit. Der Staat dagegen betrachtet Jeden, der in seinem Gebiete geboren ist, und Alles, was innerhalb seines Gebietes belegen, als von Natur- und Rechts­ wegen ihm angehörig, und hat das Recht, seine Glieder und Theile zwangsweise bei sich zu halten, und nöthigenfalls ihnen die äußerste Gewalt anzuthun, während die ultima ratio der Kirche immer nur sein kann, sich nöthigenfalls von Gliedern oder Theilen loszusagen. Im Staate gilt für alle Dinge das Gesetz, und das Gesetz ist für Alle unbedingte Auctorität; was die gesetzgebenden Factoren be­ schließen, mögen sie absolutistisch oder constitutionell oder republikanisch organisirt sein, muß nicht nur jedem Staatsbeamten unbedingte Norm für seine Verwaltung sein, sondern auch von jedem Gliede des Staates in strengem Gehorsam befolgt werden, wobei es ganz gleichgültig ist, ob er das Gesetz für ein gutes oder schlechtes hält; und der Staat ist berechtigt, seine Angehörigen zur Beobachtung seiner Gesetze nöthigen­ falls mit Gewalt anzuhalten. Für die Kirche giebt cs in ihren eigen­ thümlichen und wesentlichen Angelegenheiten derartiges Gesetz und ge­ setzgebende Gewalt gar nicht: diese bestehen nur für ihre äußeren und untergeordneten Angelegenheiten. In Sachen des Glaubens und des Gewissens, in Sachen der Ueberzeugung und der Lehre, in Sachen der Sitte, der Zucht, des Gesanges und des Gebetes hat Niemand und keine Stelle innerhalb des kirchlichen Organismus ein Recht, etwas so festzustellen, daß es für den Umfang der Kirche oder für einen Theil derselben als Gesetz d. h. als bindende Norm gelten müsse. Die Majorität einer Synode kann ebenso wenig gesetzlich vorschreiben, waö geglaubt und gelehrt und gesungen und gebetet werden soll in der Kirche, als die Auctorität eines bischöflichen oder landesherrlichen Kirchenregiments das vorschreiben darf. Alle in dies innere Gebiet der Kirche fallende Dinge werden erst dann richtig und correct orga­ nisirt werden, wenn man den Satz wird begriffen haben, daß die Stellung aller kirchlichen Factoren in dem bezeichneten Gebiete von der Stellung der staatlichen Factoren sich genau so unterscheidet, wie moralische Auctorität und gesetzliche Auctorität sich unterscheiden. Trotz aller Aehnlichkeit der Synoden und Gemeinderepräsentationen mit den politischen repräsentativen Organen wird doch von dieser Seite aus der gewaltige Unterschied sichtbar, daß ihre Stellung zu den Ge-

StaatSverfassmig und Airchenverfassung u. s. w.

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meinten sowie zu den Verwaltungsorganen, und demgemäß die Wirkung ihrer Beschlüsse eine specifisch andere ist als bei den staatlichen Or­ ganen. Das persönliche Gewissen sowie das Gemeindegewissen behalten ihr Recht auch gegenüber dem so oder so organisirten Kirchenregiment, und dürfen ihr Recht nöthigenfalls durch Protest gegen die Auctorität eines Kirchenregiments sowie gegen die Majorität einer Generalshnode zur Geltung bringen. Der Staat hat es nur mit den Handlungen seiner Bürger zu thun, nicht mit ihren Gesinnungen und Ueberzeugungen. Auch für seine amtlichen Stellungen fordert er in erster Linie gewisse Befähi­ gungen oder materielle Voraussetzungen; und es schlägt allemal zu seinem Verderben aus, wenn er sein Wesen soweit vergißt, dasjenige, was die Sittlichkeit mit Recht dem Menschen zur Pflicht macht, näm­ lich gewisse Gesinnungen und Ueberzeugungen seinerseits als Staat d. h. durch Gesetz oder Verordnung zur Bedingung oder zum Maß für seine Stellungen zu machen, oder gar seinen Bürgern gewisse po­ litische Ueberzeugungen vorzuschreiben. Die Kirche dagegen, wenn sie sich richtig organisirt, muß überall gewisse Gesinnungen und Ueber­ zeugungen als erste Grundbedingung aufstellen, so daß die nöthigen Befähigungen in zweiter Linie zu stehen kommen, soweit es sich eben nur um die äußere Verwaltung handelt. Die Kirche verlangt, nachdem sie von der Kindestaufe an ihren Einfluß durch Lehre und Sitte geltend gemacht, von Jedem, der dann als mündiges Glied mit Selb­ ständigkeit und Freiheit in sie eintreten will, diejenigen Ueberzeugungen und Gesinnungen, welche ihr eigenthümliches Wesen nach dem jedes­ maligen Bildungs- und Erkenntnißstande bezeichnen; und verlangt so­ dann von einem Jeden, der in irgend welches Gemeinde- oder Kirchen­ amt eintreten will, mindestens, daß er diese Gesinnungen und Ueber­ zeugungen nicht offenkundig verleugnet habe. Jedes kirchliche Amt unterscheidet sich darum specifisch von jedem Staatsamte: indem man von dem kirchlichen Amtsträger verlangt, daß was er amtlich thut und lehrt auch seine persönliche Ueberzeugung sein soll, während der Staats­ beamte nur das bestehende Recht und Gesetz zu handhaben hat, gleich­ viel ob es mit seiner Ueberzeugung übereinstimmt oder nicht. Niemand erwartet von dem Staatsbeamten, daß er von der Angemessenheit und Gerechtigkeit der bestehenden Gesetze überzeugt sein soll: aber über den Kirchenbeamten wird von Jedem mit Recht ein strenges Urtheil gefällt, dessen öffentliche Lehre mit seinen persönlichen Ueberzeugungen nicht zu­ sammenstimmt. Auch von dieser Seite wird ersichtlich, wie sehr die

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Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

repräsentativen Organe der Kirche bei aller äußeren Gleichartigleit mit den staatlichen dennoch durch ihren Ursprung d. h. durch die Beding­ ungen der Wählbarkeit wesentlich von denselben unterschieden sind. Eine Synode ist eine Versammlung von solchen Männern, bei denen gewisse religiöse Ueberzeugungen und sittliche Beschaffenheiten unbezweifelt vorausgesetzt werden: bei politischen Vertretungen gilt weiter keine Voraussetzung, als daß die Vertreter Recht und Gesetz mit Ge­ schick handhaben werden. Solche gegensätzliche Unterscheidungen gehen nach der Natur des polarischen Verhältnisses durch alle Gebiete des staatlichen und kirch­ lichen Lebens. Bekenntniß und Gesetz, Zucht und Strafe, — Alles, Alles kommt in der Kirche anders zu stehen als im Staate. Wir unterlassen die weitere Durchführung, um nur noch auf den eigentlich streitigen Punkt ein paar Blicke zu werfen, nämlich auf die Construction der obersten Gewalt. Der Staat als ein Reich von dieser Welt, mit einer materiellen Naturbasis und einem Complex von historischen Rechten und Herkömmlichkeiten, legt mit Recht in der Organisation seiner Gewalt einen Accent auf Besitz und Grundbesitz, auf Erblichkeit und Herkommen; und nirgends ist es so fehlerhaft und verderblich zu­ gleich als im Staate, wenn man die oberste Gewalt lediglich nach theoretischen Principien construirt und von diesen positiven historischen Gegebenheiten abstrahirt. In gesundem naturwüchsigem Staatswesen ist unter den meisten Umständen ein erbliches Königthum der correcteste Ausdruck für die Staatsgewalt, und ein Oberhaus von erblichen corporativen und materiellen Berechtigungen als ein zweiter Factor der Gesetzgebung neben der eigentlichen Volksrepräsentation durchaus in der Ordnung. Die Kirche dagegen ist nicht ein Reich von dieser Welt, sie ist das Reich der Wahrheit nach der unvergänglichen Idee ihres Stifters, der Organismus der Geister, welche in dem heiligen Geiste Gottes gegründet die sittlichen Kräfte der Liebe in einander und in die Welt tragen. In diesem Organismus haben die materiellen Mächte nur nebensächliche Bedeutung, und historische Positivitäten außer für die untergeordneten äußeren Dinge nur soweit Berechtigung, als sie epochemachende Momente bilden, auf denen der Prozeß gewisser Perioden gegründet ist, und an denen der lebendige Strom der geistigen Entwicklung innerhalb dieser Perioden sich stets von Neuem zu ent­ zünden hat. Materielle Voraussetzungen und historische Berechtigungen kommen nur für die äußere Seite des Kirchenwesens in Betracht: für das inwendige Kirchenleben, für das Reich der Wahrheit muß der

Kirchenverfaffmig und Staatsverfassung n. s. ttv

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Grundsatz der Wahrheit gelten und die oberste Gewalt so organisirt sein, daß in ihr jederzeit der angemessenste Ausdruck der religiösen Wahrheit in ihrem jedesmaligen Entwicklungsstände gegeben ist. Wenn im Staate zähe Beharrlichkeit und Continuität der Regierungsgewalt ein Zeichen gesunder Entwicklung ist: so fordert die Natur der Kirche nach evangelischen Grundsätzen für ihre oberste Gewalt in erster Linie lebendige Repräsentation des herrschenden Gemeingeistes, mit aller Be­ weglichkeit, welche nöthig ist, um alle Fortschreitungen und Oscillationen des kirchlich-religiösen Lebens angemessen auszudrücken. . Historisches Recht und Herkommen haben für die Regierung der evangelischen Kirche wenig oder gar keine Bedeutung; Erblichkeit aber ist ein Prädicat, das mit allen evangelisch-kirchlichen Begriffen in directem Wider­ sprüche steht. Es giebt keine erblichen Vorzüge, welche für das Kirchen­ wesen irgend eine Berechtigung veranlassen oder gar die oberste Re­ gierungsgewalt bedingen könnten. Im ganzen Umkreise des kirchlichen Lebens giebt es keine Stelle und kein Amt, für welches die Erblichkeit einen protestantischen Sinn haben könnte. Aus der bezeichneten Natur der Kirche ergiebt es sich, daß sie ihre gesetzgebende Gewalt nicht nach einem Zweikammershstcm construiren kann: eine Generalshnode als Gesammtausdruck deö herr­ schenden Geistes; der andere Factor des politischen Zweikammersystems liegt in der Kirche ganz wo anders — in der Gemeinde, der nach evangelischen Grundsätzen jederzeit das Recht der Zustimmung oder der Ablehnung gegenüber innerlichen Beschlüssen der Generalsynode gebührt. Nach derselben Natur der Kirche ist ein erbliches landes­ herrliches Kirchenregiment eine doppelte Anomalie: es bezeichnet die unevangelische Vermischung des staatlichen und kirchlichen Gebietes, und andererseits die Uebertragung einer für den Staat wahlberechtigten Regierungsform auf die Kirche, deren Organismus sie fremdartig ist. Wir gedenken hier nicht weiter auf diesen Gegenstand einzugehen, und können uns auf eine große Reihe von Abhandlungen berufen, welche denselben in den letzten Jahren speciell nach allen Richtungen erörtert haben. Es kam hier auch nur darauf an, durch Erinnerungen an das Wesen der Kirche darzuthun, daß ein landesherrliches Kirchenregiment mit demselben in Widerspruch steht, und eine historische Erscheinung ist, auf deren Ueberwindung die evangelische Kirche mit allen Kräften hinarbeiten muß. Das landesherrliche Kirchenregiment ist gar nichts anderes als ein autokratischer Uebergriff der protestantischen Fürsten auS ihrer Stellung als Schirmherren der Kirche in die eigentliche

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Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

Kirchenregierung:

als innere Kirchenregierung hat dasselbe zn keiner

Zeit eine sittliche oder kirchliche Berechtigung gehabt und keinen anderen Rechtstitel als den

der Gewalt.

Für den Schutz der evangelischen

Kirche sowie für die Uebernahme der äußeren Ordnungen lagen ge­ schichtliche Motive vor: in der drohenden äußeren Machtstellung der katholischen Kirche, welche Gegenwehr forderte; in der unklaren Ver­ mischung beider Gebiete, welche noch alle Gemüther beherrschte; in der confessionalistischen und dogmatistischen Zwietracht und Erregtheit der Kirchenmänner, gegen welche der sittlichere Jndifferentismus der Fürsten vielfach ein glückliches Gegengewicht bildete. Alle diese Motive haben ihre Endschaft erreicht.

Der heilige Jndifferentismus gegen dogma­

tische Zänkereien ist allgemein geworden. Alle Welt unterscheidet gegen­ wärtig Glaubens- und Gewissenssachen von Staatsangelegenheiten; und wo die Sonderung der Kirche vom Staat verfassungsmäßig aus­ gesprochen ist, hat das landesherrliche Kirchenregiment jeden Schein eines Rechtstitels verloren. Die äußere Machtstellung der katholischen Kirche ist längst gebrochen, wir Evangelischen bedürfen nicht mehr der Waffengewalt gegen dieselbe. Die Besitzthümer der geistlichen Herren und Prälaten sind längst säcularisirt, und die Weltgeschichte ist eben daran, der weltlichen Herrschaft des Papstes den Garaus zu machen. Sollten wir Evangelische, die wir uns rühmen, in dem weltgeschicht­ lichen Prozeß der Geistesentwicklung voranzustehen, wenn drüben die Sonderung bis auf den letzten Punkt bereits vollzogen ist, für unseren Protestantismus noch einen längeren Bestand der unklaren Vermischung in Anspruch nehmen?

Mit der Säcularisation aller katholischen Herr­

schaften verliert das landesherrliche Kirchenregiment der protestantischen Fürsten den letzten historischen Vorwand; und wenn der Papst seiner weltlichen Herrschaft entkleidet rein als ein geistlicher Machthaber da­ stehen wird, so muß daö protestantische landesherrliche Kirchenregiment immermehr als ein trauriger Anachronismus erscheinen, zum Zeugniß, daß die Protestanten in Sachen der kirchlichen Organisation den Geist der Zeit noch nicht begriffen haben. Aus dem Gesagten erhellt, daß wir unsererseits den Begriff des Constitutionalismus auf die Construction des Kirchenregiments nicht anzuwenden vermögen: näher würde die Analogie mit dem Republicanismus liegen, wiewohl auch dieser politische Begriff nur mäßige Vergleichung darbietet, wenn man sich aller unserer Erörterungen er­ innert. Sollte, indeß der Constitutionalismus nichts weiter besagen als eine Negierungsform, in welcher die Gesammtheit der sittlichen

Ueber Prediger-wahlen.

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und intellectuellen .fltaste zur Mitwirkung organisirt wird: so wäre das freilich eine Abweichung von dem üblichen Sprachgebrauches und eine solche Verallgemeinerung des Begriffs, daß alle drei in der Gegen­ wart herrschenden Regierungsformen, die eonstitutionelle, die republicanische und zum Theil auch die absolutistische unter diesem weiten Begriffe Platz finden. Dann wäre aber auch, wie sich von selbst ver­ steht, mit einem derartigen kirchlichen Constitutionalismus gar kein Gegensatz gegen einen etwanigen kirchlichen Republieanismus ausge­ drückt, und aus solchem ebenso wenig der Fortbestand des landesherr­ lichen Kirchenregiments zu erweisen. Gegen diesen allgemeinen Begriff hätten wir begreiflicher Weise nichts zu erinnern; aber das Wort Constitutionalismus wird heutzutage ganz allgemein im engeren Sinne verstanden als Gegensatz gegen Republieanismus und Absolutismus; und wenn man es selbst dazu gebraucht, die bestimmte Form des Kirchenregiments, welche weder rein absolutistisch noch rein repräsentativ organisirt ist, und speciell die Berechtigung des landesherrlichen Kirchenregiment's zu motiviren: so ist man thatsächlich, sei es nun mit Be­ wußtsein ober unwillkürlich, in den engeren Gebrauch des Wortes hinübergeschritten, und damit in eine solche Uebertragung eines poli­ tischen Begriffs auf die Kirche gerathen, die wir nach unserer Ueber­ zeugung als eine einseitige und gefährliche bekämpfen mußten und stets von Neuem bekämpfen werden.

Ueber Predigerwahlen. Die Gegner des Gemeindewahlrechts richten ihr Augenmerk über­ wiegend auf allerlei Unzuträglichkeiten und Mißbräuche, welche bei den Gemeindewahlen vorkommen oder doch vorkommen können, sie vergessen aber darüber ganz und gar die Unznträglichkeiten und Mißbräuche, welche bei jeder anderen Form der Pfarrbesetzung möglicherweise nicht nur, sondern auch in Wirklichkeit alle Tage vorkommen. Sie machen auf die Unzuträglichkeiten aufmerksam, welche die Gemeindewahl für den Geistlichen habe. Seine äußere Lage werde

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Sammlung ausgewählter L chriftstücke.

gar sehr unsicher, die jüngeren würden häufig den älteren vorgezogen. Mancher werde stets zurückgestellt, und es könne geschehen, daß der Eine oder der Andere schließlich gar nicht ins Amt komme. Ja im Grunde sei von dem Wahlrecht nur die nothwendige Folge die kontrakt­ mäßige Anstellung des Geistlichen auf Zeit und das Recht der Ab­ setzung, wie es in Amerika und in einigen Kantonen der Schweiz geübt werde: die Gemeinde, welche das Recht habe, den Geistlichen zu wählen, müsse auch das Recht haben, ihn zu entlassen, wenn er ihr nicht mehr zu Willen sei. Damit aber werde vas ganze Verhältniß zu einem Dienstbotenverhältniß degradirt. Und damit gerathe der Geistliche zugleich in ein Verhältniß innerlicher Abhängigkeit von der Gemeinde, während er allein dem Worte Gottes Dienst sein solle.

auch wider die Gemeinde zu

Schon bei der Bewerbung werde er versucht sein,

nicht rein das Wort Gottes zu bringen, sondern zu reden, wie es der Gemeinde gefalle; und wenn er dann gewählt, werde die Gemeinde von seiner Dankbarkeit erwarten und erwarten dürfen, daß er ihr zu Willen das Amt verwalte; und wo denn gar die Gefahr der Entlassung dazu kommt, werde er stets vor Allem trachten müssen, die Gunst der Gemeinde sich zu erhalten, und das könne unmöglich die würdige Stellung fein für den berufenen Diener des Wortes Gottes. Dagegen ist Folgendes in Erwägung zu ziehen. Ein Verhältniß, das vertragsmäßig auf Zeit geschlossen wird, ist darum noch kein Dienstbotenverhältniß; ob es ein solches sei oder nicht, hängt lediglich von dem Inhalt der eingegangenen Verpflichtungen ab.

Die

meisten Vertragsverhältnisse sind keine Unterthänigkeitsverhältnisse; und die schlimmsten und die absoluten Unterthänigkeitsverhältnisse der Leib­ eigenschaft und Sklaverei bestehen bekanntlich ohne Kontrakt und auf Lebenszeit. Dadurch also, daß mit dem Geistlichen ein Vertrag auf Zeit geschlossen wird, wird seine Stellung durchaus nicht eine abhän­ gigere: die größere oder geringere Abhängigkeit richtet sich ganz nach dem Maße, in welchem dem geistlichen Amte seine ihm gebührenden Rechte gewahrt und rechtlich geschützt sind. Weiter. Wir wollen hier die Frage nicht erörtern, sondern nur aufgeworfen haben, ob es denn so durchaus nothwendig und für den Geistlichen heilsam sei, daß er bei seinem Amtsantritt sogleich für die ganze Lebenszeit in seiner Existenz sichergestellt werde, während die ungeheure Mehrzahl der an­ deren Menschenkinder um dieselbe sorgen und kämpfen müssen: wir wollen hier diese Frage

unangerührt lassen

und nur auf zweierlei

aufmerksam machen. Das eine ist: zwischen einer Entlassung auS dem

191

Ueber Predigerwahlen.

Amte nach kontraktlicher Zeit und auf gültige Rechtstitcl hin und einer Entlassung rein nach der zufälligen Willkür einer Gemeinde ist doch noch ein himmelweiter Unterschied.

Das andere: das Recht der Ab­

setzung oder Entlassung folgt überhaupt nicht aus dem Recht der freien Wahl, so wenig als aus dem Recht der Freiwilligkeit der Eheschließung folgt, daß die Ehegatten nach Belieben wieder auseinander laufen können, vielmehr bei diesem sogar die lebenslängliche Unauflösbarkeit der Ehe bestehen kann und thatsächlich in der römischen Kirche besteht. Dergleichen Folgen sind

also

nur Schreckbilder.

Wenn aber durch

eine freie Wahl der Gemeinden der Eintritt in das Amt für die Kandidaten sehr unregelmäßig, ja für manchen ganz unsicher wird: ist denn das nicht in allen anderen Berufsweisen

ebenso,

und ist das

nicht ein heilsamer Antrieb zur Thätigkeit und Fortbildung, während das Gegentheil, wo der Kandidat mit ziemlicher Sicherheit das Jahr seiner Anstellung vorausberechnen kann, nicht wenig nach Beendigung der Examina die Schlaffheit befördert? Und wenn hie und da ein Kandidat ganz und gar sitzen bleibt: geschieht das nicht auch bei der Anstellung durch die Regierungen; und ist es nicht wirklich besser, wenn es einem Kandidaten auch neben schwachen Mitbewerbern nir­ gends gelingt, das Wohlgefallen einer Gemeinde zu erwerben, was doch nach der Erfahrung nur äußerst selten vorkommt, daß derselbe lieber vom geistlichen Amte zurückbleibe? Zu große Sicherheit der Anstellung scheint uns gerade für das geistliche Amt am allerwenigsten heilsam und vermehrt nur die Zahl der Unberufenen, die um des Brotes willen Theologie studiren.

Aber die innere Abhängigkeit von

den Gemeinden? — Ein Mensch, in dem das Evangelium eine Kraft Gottes zur Seligkeit geworden ist, wie doch jeder Geistliche ein solcher sein soll, der fällt über diesen Stein des Anstoßes nicht, der verleugnet nicht seine evangelischen Ueberzeugungen, um von einer Gemeinde ge­ wählt zu werden; und darum ist es ganz gut, wenn der Glaube solche Prüfungen zu bestehen hat.

Für den charakterlosen Geistlichen, das

geben wir zu, bringt die Gemeindewahl die Versuchung, seine Ueber­ zeugungen zu verhüllen oder zu verleugnen und zu reden, wie den Leuten die Ohren jucken: aber man zeige uns überhaupt eine Stellung in der Welt, wo die Charakterlosigkeit sich nicht in derselben Lage be­ findet; man zeige uns namentlich, daß bei einer anderen Weise der Pfarrerwahl diese Versuchung nicht vorhanden sei. Wo Patrone die Wahl haben: wird da nicht von vornherein von den brotsuchenden Kandidaten auf die Meinungen und Neigungen, ja oft auf die niedrigsten

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Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

Schwächen der Patrone speculirt, und kann das nicht sehr viel wirk­ samer geschehen bei der einzelnen Person als bei einer großen Anzahl Köpfe? Und wo die Anstellung in der Hand der Staatsregierung oder des obersten Kirchenregiments ist: ist da nicht die Versuchung für den Kandidaten tausendmal größer?

Wenn der Kandidat einer

Gemeinde nicht gefällt, kann er einer zweiten oder dritten gefallen: ist er aber dem Kirchenregimente nicht zu Sinne, das alle Stellen zu vergeben hat, so hat er überhaupt keine Aussicht. In jenen Fällen unterliegen nur die charakterlosen, hier aber auch die charakterschwachen. Sehen wir es denn nicht alle Tage, wie da, wo ein oberstes Kirchen­ regiment die Anstellung fast ausschließlich in Händen hat, wenn es einigermaßen engherzig eine bestimmte Richtung befolgt, die Kandidaten und Geistlichen stets dieselbe Richtung haben wie das Kirchenregiment; und wie unter solchen Umständen ein knechtisches, gesinnungsloses Ge­ schlecht von Geistlichen aufwächst, die jede Drehung der oberen Wind­ fahne mitmachen, weil jeder charaktervolle Mensch, der auf seine Ueber­ zeugung was hält, von vornherein von einem Beruf zurückbleibt, in welchem er ohne Heuchelei gar keine Aussicht auf eine amtliche Stel­ lung vor sich hat? Wirkt nicht solche Centralisation der Anstellungen wesentlich auf Demoralisation des ganzen geistlichen Standes? und würde die Gefahr nicht viel geringer sein, wo den Gemeinden ein Wahlrecht zustande? Sie zählen dann ebenso die Uebelstände auf, welche das Wählen für die Gemeinden selber hervorbrilige. Da werde von Haus zu Haus gegangen, um Stimmen zu werben, da werden für das Wahlgeschäft alle Leidenschaften und nicht selten die schlechtesten Mittel in Bewegung gesetzt; da entstehen Behufs der Wahl Parteiungen in den Gemeinden, die zuweilen einen nachhaltigen Zwiespalt nach sich ziehen, und dem­ gemäß pflegte denn auch das Resultat der Wahl auszufallen, es werde gewöhnlich von allen Bewerbern derjenige gewählt, der es am besten verstanden habe, auf die niedrigen Motive der Menschen zu speculiren. Es sei auch reiner Zufall, wenn cs gut ausfalle. Die Gemeinden kennen ja die Bewerber selten persönlich, und sollen nun nach einer Predigt und einer Katechisation entscheiden.

Ja sei

es nicht

unver­

antwortlich, da, wo es sich um die Sorge für das Seelenheil einer Gemeinde handle, ihr die eigne Wahl zuzumuthen nach ganz flüchtiger persönlicher Anschauung, eine Wahl, die ganz zu ihrem Verderben ausschlagen könne? Und weil es sich so verhalte, weil die Gemeinden eigentlich mit gutem Gewissen nicht im Stande seien,

ordentlich

zu

Ueber Predigerwahlen.

wählen:

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darum haben sie auch gar fein Verlangen nach dem Wahl­

recht, es sei ihnen nicht Bedürfniß, ihren Pfarrer zu wählen, ja sie wählen im Grunde höchst ungern. Daß bei den Gemeindewahlen allerlei Mißbräuche vorkommen und allerlei Leidenschaften in Bewegung gesetzt werden, und nicht jedes­ mal die besten gewählt werden: wer wollte das leugnen. Aber wer, der ein wenig von der Wirklichkeit weiß, will behaupten, daß die Miß­ bräuche geringer seien bei den Amtsbesetzungen von oben herab? Weiß man denn gar nichts von der Geschichte der Amtsbesetzungen? Weiß man denn nichts von den vielen Mächten, die bei den Amtsbesetzungen mit einander concurriren, von den Konflikten zwischen den verschiedenen regierenden Collegien und zwischen den Mitgliedern desselben Colle­ giums, von vielen nichtregierenden und namentlich auch weiblichen Po­ tenzen, die dabei ein Wort mitzureden haben,

und von den Leiden­

schaften, die zwischen allen diesen Potenzen in Bewegung kommen? Wer weiß nicht von der Noth eines dezernirenden Rathes, wenn er ein empfänglicher Mann ist, der die Ordnung seiner Kandidatenlisten aufrecht erhalten soll, und dem von drei Seiten Kandidaten empfohlen werden, einer vom Cabinetsrath, ein anderer vom Minister, ein an­ derer von einem hohen Standesherrn, und der, wenn er sich glücklich durch diese Charhbdis hindurchgcrungen, dann noch erst versuchen muß, ob er seine Entscheidung auch gegen den Kandidaten der Frau Räthin oder einer anderen hohen Dame durchzusetzen vermöge? Wer kennt nicht die „Connexionen", die „Rücksichten", die „Empfehlungen", wer nicht die wahrlich nicht immer hohen Motive dieser Empfehlungen? Will man uns Mißbräuche der Gemeindewahlen, vorhalten, so sind wir erbötig, stets eine gleiche Summe von Mißbräuchen der Anstel­ lungen dagegen zu stellen. Wie wir indeß der Meinung sind, daß solche Mißbräuche bei den Kirchenregierungen nicht überall vorkommen müssen, so werden die Gegner der Gemeindewahlen das auch wohl nicht von diesen behaupten wollen; es wäre das doch eine zu schmach­ volle Anschauung von einer evangelischen Gemeinde und ein völliger Unglaube an die tausendjährige Wirksamkeit des Christenthums in der Welt. Gewählte Abgeordnete einer Shnode wenigstens werden wohl nicht der Meinung sein, daß von den Gemeinden immer die schlechtesten gewählt würden; und selbst Pr. R........... ist der Ansicht, daß bei seiner Wahl durch die Gemeinde „doch zuletzt noch alles gut abge­ laufen" sei.

Wer sich aber davon nicht überzeugen könnte, daß auf

beiden Seiten die Mißbräuche gleich möglich sind, wer dennoch meinte, Spaeth,

Protestantische Bausteine.

13

194

Sammlung aufgewallter Schriftstücke.

daß sie gerade von den Gemeindewahlen unzertrennlich seien, und darum die Wahlen nicht wollte, der sollte wenigstens konsequent sein und alles Wählen d. h. die ganze Repräsentativverfassung verwerfen. Gewählte Abgeordnete einer repräsentativen Synode, aber in einer Kirche, wo auch die Kirchenräthe von der Gemeinde gewählt werden, können unmöglich gegen die Gemeindepfarrwahlen stimmen aus Gründen, bit gegen alle und jede Wahl sprechen müßten. Aber, sagt man, die Gemeinden wollen gar nicht wählen. Es sei, die Gemeinden wählten nicht gerne — und es ist das wirklich häufig die Stimmung: so ist das gar kein Grund gegen die Gemeinde­ wahl.

Knaben gehen auch nicht gern in die Schule, müssen

aber

doch dazu angehalten werden, daß sie was lernen. Menschen, die noch nicht mündig gewesen, oder'Jahre hindurch in völliger Un­ selbständigkeit gehalten worden sind,

müsse» häufig zur Selbstthätig­

keit erst genöthigt werden, weil sie nicht selber im Stande sind, die Trägheit des untergeordneten Zustandes zu überwinden. Gebührt den Gemeinden das Wahlrecht aus anderen Gründen,

so darf ihre zeit­

weilige Abneigung gegen den Gebrauch desselben kein Vorwand sein, es ihnen vorzuenthalten oder zu erlassen. Aber freilich, wenn nun die Gemeinden gar nicht im Stande wären ordentlich zu wählen? Da sie ja die Betreffenden nicht kennen? und möglicherweise zu ihrem eigenen Seelenschaden wählen? — Das zunächst ist wieder eine reine Spiegelfechterei, daß man das Seelenheil der Gemeinden mit inö Spiel bringt und so thut, als ob sie in Gefahr wären ganz unfähige und schlimme Subjecte sich auf­ zuhalsen. Die Gemeinden haben ja nicht freie Wahl zwischen ganz beliebigen Menschen, sondern zwischen Kandidaten, welche das Kirchenregimcnt eigens für den geistlichen Beruf erzogen und nach angestellter Prüfung wissenschaftlich und sittlich für tüchtig befunden hat, die re­ ligiöse Pflege

einer

evangelischen Gemeinde zu leiten.

Sind unter

denselben trotzdem solche unbrauchbare oder unwürdige Subjecte, so sind von Kirchenregimentswegen die Gemeinden vor denselben nicht ge­ schützt, da das Kirchenregiment die, welche es für tüchtig erklärt, auch ins Amt zu befördern hat; während sie umgekehrt, wo das Kirchen­ regiment einen solchen mit durchschlüpfen ließe, m der freien Wahl doch noch die Möglichkeit haben, sich vor ihm zu wahren.

Kann also

die Gemeinde überhaupt in den Fall kommen, zu ihrem Schaden zu wählen, so ist die Gefahr bei der freien Wähl jedenfalls die geringere. — Aber die Gemeinden kennen ja die Kandiraten nicht, aus denen

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liefe Predigelwahlen.

sie wählen sollen. Wir können dagegen sagen, daß die Kirchenregierungen die Kandidaten meistens auch nicht viel besser kennen, als es den Gemeinden möglich ist, wenn sie nur sich Mühe geben wollen; und daß ihre größere Kenntniß sich überwiegend auf die zweideutige Kenntniß der stcllensnchcndcn Seite des Kandidaten bezieht. Wir können mit gutem Fug behaupten, daß wie bei allen Verhältnissen, die auf eigenthümlicher Neigung beruhen, so auch hier eine kurze eigne persönliche Anschauung für die Wahl ungleich entscheidender ist, als die sorgfältigste Vcrechnung eines Dritten. Wir können mit Recht daran erinnern, daß selbst ein schwächerer Geistlicher, der das Ver­ trauen der Gemeinde hat, ungleich segensreicher wirken wird als ein begabterer, den ihr eine beschränkte oder fanatische Kirchenregierung — wie das alle Tage zu sehen ist — wider ihre Sympathie, ja grundsätzlich im Gegensatz zu ihrer Glanbensrichtung, aufdrängt. Aber wir geben zu, es ist ein Uebelstand, wenn die Gemeinden die Wahl­ kandidaten nicht ordentlich kennen. Was folgt daraus? Gar nichts weiter, als daß das Gemeindewahlrecht derartig bestimmt sein müsse, daß es ihnen die Möglichkeit gewährt, die Wahlkandidaten ordentlich zu kennen, d. h. daß die Kircheuregierung, wo sie den Vorschlag hat, stets darauf denken müsse. Len Gemeinden solche Kandidaten oder Geist­ liche zu Präsentiren, die ihnen möglichst bekannt sein können, oder daß das Wahlrecht ein solches sein müsse, welches den Gemeinden selber die Möglichkeit gewährt, ihnen bekannte Persönlichkeiten ans die Wahl zu bringen. Gebührt also den Gemeinden aus anderen Gründen das Wahlrecht, so ist die thatsächliche Unbekanntschaft mit den Wahl­ kandidaten nur ein Grund, das Wahlrecht besser zu construiren oder zu verwalten. Und damit werden wir wieder und wieder auf den Kern der Sache zurückgewiesen. Man kann nemlich auf diese Weise für und wider reden, man kann Mißbrauch gegen Mißbrauch stellen, Unzu­ träglichkeit gegen Unzuträglichkeit', Folge gegen Folge: ohne doch aus­ reichenden Grund für die Entscheidung zu haben. Schließlich muß die Sache doch immer aus dem Wesen der evangelischen Gemein­ den entschieden werden. Die Stellung, welche eine evange­ lische Gemeinde nach evangelischen Grundsätzen im kirch­ lichen Organismus und insbesondere zum Kirchenregimente und zum geistlichen Amte einzunehmen hat, muß und kann allein den Ausschlag darüber geben, ob der evangelischen Gemeinde überhaupt ein Wahlrecht gebühre oder nicht. Und der jedesmalige 13*

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Sammlung ausgewählter Schliftstücke.

Stand der religiös-sittlichen Entwickelung der Gemeinden in ihrem Verhältnisse zu dem religiös-sittlichen Stande der Kirche über­ haupt und in Verbindung mit örtlichen und geschichtlichen Gegeben­ heiten, muß, wenn ihnen ein Wahlrecht gebührt, den Ausschlag darüber geben, in welchem Umfange und in welcher Form sie dasselbe auszu­ üben haben. Der evangelische Begriff von der Kirche, auf ihr Verhältniß zur Einzelgemeinde gesehen, IV'gt in der Mitte zwischen dem römisch-katho­ lischen und dem independentistischen. Der römisch-katholische kennt die Kirche nur als die festgeschlossene Gesammtheit des Klerus als aus­ schließlichen Inhabers des heiligen Geistes, und die Gemeinde nur als schlechthin unselbständig, als

schlechthin abhängig und geleitet.

Jndependentismus kennt die Kirche als Ganzes

gar nicbt,

Der

er kennt

nur lauter unverbundene Gemeinden, jede in absoluter Selbständigkeit und in absoluter Unabhängigkeit von allen anderen. Nach evange­ lischen Begriffen dagegen ist die Kirche die Gesammtheit der Christen oder die Gesammtheit der Gemeinden selber: ein lebendiger Organismus an dem alle Christen und alle Gemeinden lebendige Glieder sind, die von dem Ganzen empfangen und auf das Ganze wirken, die zu dem Ganzen in der Wechselwirkung von Abhängigkeit und Selbstthätigkeit stehen. Nach dem römisch-katholischen Kirchenbegriff ist cs natürlich, daß alle Aemter, die Bestandtheile der Hierarchie ausmachen, allein auch vom Klerus gesetzt und besetzt werden, mit Allsschluß jeder Ge­ meindemitwirkung; nach dem independentistischen natürlich, daß jede Gemeinde ohne irgend welche Rücksicht auf das Ganze der Kirche alle ihre Aemter und ihre Amtsträger ausschließ'ich sich selber setzt. ebenso natürlich ist evangelischen Amtes

die

es nach

Kirche

Kirche

bei

evangelischen Begriffen: der

als Ganzes

Besetzung und

die

des

daß

in

Aber der

geistlichen

Einzelgemeinde

zusammenwirken müssen. Das geistliche Amt ist nach evange­ lischen Begriffen ein Gemeindeamt, ein Glied an dem Gemeindeorganismus: der Geistliche muß von Amtöwcgen in individuellem, persön­ lichem, religiösem Verkehr mit der ganzen Gemeinde und ihren einzelnen Gliedern stehen. Aber es geht nicht darin auf, ein Gemeindeamt zu sein, das geistliche Amt ist auch ein Amt der Kirche an die Gemeinde: der Geistliche hat das Wort Gottes und die Sakramente zu verwalten, d. h. er hat das Gemeinbewußtsein der Kirche in der Einzelgemeinde zu erwecken, zu erhalten und zu fördern. des

Daher muß die Bestellung

geistlichen Amtes so geordnet sein, daß die Kirche und die Ge-

Ueber Predigerwahlen.

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meinte in entsprechender Weise dabei zusammenwirken, daß die Kirche dasjenige dabei verrichtet, waS die Kirchengemeinschaft als Ganzes zu fordern hat, und die Gemeinde dasjenige, was sich aus ihr individuelles Berhältniß zum Geistlichen bezieht. Die Kirche hat durch ihre allge­ meinen Organe darauf zu halten, daß jeder Geistliche ein tüchtiger und würdiger Vertreter des gemeinsamen Bewußtseins der Kirche sei: sie hat ihn zu einem tüchtigen Lehrer und Seelsorger auszubilden, sie hak durch Prüfung zu erkennen, ob er ein solcher geworden sei, sie hat durch Ordination ihn als einen wirklichen Träger des Kirchen­ amtes hinzustellen, sie hat ihn in der Amtsführung zu über­ wachen, und zu entsetzen, wenn er nicht mehr den Anforderungen ent­ sprechen sollte. Die Einzelgemeinde dagegen hat dafür zu sorgen, daß sie einen Geistlichen erhalte, der geeignet sei, ein persönliches Ver­ hältniß zu ihr einzugehen, d. h. die Gemeinde muß aus den kirchen­ amtlich qualifizirten Subjekten die Auswahl der ihr zusagenden Per­ sonen haben; um des gegenseitigen persönlichen Vertrauens willen, ans welchem der Segen der Wirksamkeit hauptsächlich beruht, muß das Verhältniß irgendwie ein Verhältniß der freien persönlichen Uebereinkunst sein. Wo man eine der beiden Seiten gänzlich streicht, da fällt man aus der evangelischen Anschauung ins Jndependentistische oder ins Römische. Wer der Einzelgemeinde - eine absolute Wahlfreiheit zuspricht, ohne der Kirche den gebührenden Einfluß zu sichern, wie das die freien Gemeinden thun, der befindet sich im Jndependentismus, der hebt die Einheit und den Zusammenhang der Kirche gänzlich auf. Wer dagegen der Kirche in ihrem Regiment ausschließlich die Besetzung des Amtes überweist, der steckt recht eigentlich in der römisch-katho­ lischen Anschauung von der Kirche. Die evangelische Anschauung drängt überall auf freie Selbstthätigkeit der Gemeinde, auf organische Verfassung der Einzelgemeinde, auf Repräsentation der Gesammtkirche in Synoden; und wo solche lebensvolle Gliederung noch nicht ist, da sucht sie dieselbe zu erzeugen. In solcher freien repräsentativen Ge­ meinde- und Kirchenverfassung ist ein nothwendiges Glied die Wahl der Geistlichen durch die Gemeinde, sie beruht auf demselben Grunde, wie die wählende selbstthätige Mitwirkung der Gemeinde für alle an­ deren Kirchenstellen. Eine Presbyterialordnung in der Gemeinde und eine Shnodalordnung in der Kirche haben, wo die Aeltesten sowie die Shnodalabgeordneten aus den Gemeindewahlen hervorgehen, und — eine ausschließliche Besetzung der Pfarrämter durch die oberen Ver­ waltungsbehörden, das wäre ein völliger Widerspruch. Wer daher die

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Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

völlige Aufhebung der Gemeindepfarrwahlen verlangt um der Natur des geistlichen Amtes willen als einer „Autorität von oben her", der sei nur wenigstens consequent und verlange zugleich die Aufhebung der ganzen Gemeinde- und Shnodalverfassung, weil diese ganze Verfassung dem klerikalischen Amtsbegriff widerspricht; der gehe aber auch weiter und verlange, daß die dem oberen Kirchenregimente ausschließlich über­ wiesene Kirchenregierung auch wirklich in die rechten Hände gelegt werde, d. h. aus den profanen Händen eines Staatölirchenregimentes in wahrhaft kirchliche eines bischöflichen Klerus; — denn nur diese Unterlage vermag jene Anschauung vom geistlichen Amte zu tragen. Wo man aber eine evangelische Kirchenverfassung hat und behalten will, da kann man nicht die Pfarrwahten aufheben wollen; Abgeord­ nete einer Synode, die das wollten, würden sich selber ins Gesicht schlagen. Ein Wahlrecht also muß in evangelischer Verfassung die Gemeinde haben. Aber es kann dasselbe in verschiedenem Umfang und in ver­ schiedener Form ausgeübt werden. Es kann das Wahlrecht aus­ schließlich bei der allgemeinen Gemeindeversammlung liegen, oder mehr bei einer Gemeinderepräsentation, oder bei dem Gemeindelirchenrath (Presbyterium). Es kann dasselbe sein eine freie Auswahl aus sämmt­ lichen qualisizirten Bewerbern, oder nur eine Auswahl aus einer Anzahl vorgeschlagener; oder es kann gar auf ein bloßes Veto der Gemeinde gegen einen ihr zugewiesenen zusammenschrumpfen. Welches die angemessenere Form sei, wird jedesmal nur nach örtlichen und zeitlichen Umständen entschieden werden können. Das bloße Veto liegt hart an der Grenze, wo das Wahlrecht aufhört, und damit sollten evangelische Gemeinden niemals abgespeist werden. Der normale Zu­ stand wäre unseres Erachtens der: wo, wenn die Kirche in der Er­ ziehung und Prüfung und Ueberwachung der Geistlichen ihre Schuldig­ keit thut, der Einzelgemeinde und zwar in allgemeiner Gemeindever­ sammlung die ganz freie Wahl aus allen von der Kirche für wahlfähig Erklärten überlassen wird. Der setzt aber freilich voraus, daß alle übrigen Verfassungsbestimmungen dem entsprechen, und daß das kirch­ liche und gemeindliche Leben in einem der Verfassung entsprechenden lebendigen Fluß sich befinde. Wo diese Bedingungen noch nicht ge­ geben sind, wo bis dahin die Kirchenverfassung eine bureaukratische Centralregierung gewesen, und die Gemeinden sich bis dahin im Zu­ stande absoluter Unselbständigkeit und Unselbstthätigkeit befunden haben, da wird es nicht gerathen sein, von der ausschließlich tirchenregiment-

Die Jesuiten.

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lichen Pfarrbesetzung oder dem bloßen Veto der Gemeinde den Sprung in die absolute Wahlfreiheit zu machen; da wird sich meistens einst­ weilen ein mittleres Verfahren empfehlen, wenn nicht ohne Noth für die Gemeinden und für die Geistlichen Unzuträglichkeiten entstehen sollen.

Die Jesuiten. Die Jesuiten sind da — so tönt's von Stadt zu Stadt in unserem deutschen Lande, und lischen wie Feuerlärm

der Ruf wirkt auf die Gemüther der Evange­ um Mitternacht.

Aus tiefem Schlafe aufge­

schreckt, werden viele von unbeschreiblicher Furcht erfüllt, die ihnen jede Besonnenheit raubt; andere aber liegen in souverainer Verachtung still im Bette, bis die eigene Wand brennt; während eine dritte Klasse eö sich zur Aufgabe macht, zu zürnen über die Schlechtigkeit und Lang­ samkeit der Löschapparate, über die Bösewichter, welche das Feuer angelegt. Sollen diese Gefühle auf ihr rechtes Maß gebracht, und Antrieb werden zu einem gesunden Handeln, so muß man vor allen Dingen den Gegenstand der Furcht und der Verachtung einen Augenblick ruhig ins Auge fassen. Betrachtet einmal mit Ruhe die Gestalten, die ihr fürchtet oder verachtet. Wer sind denn diese Jesuiten? Der Orden der Jesuiten verdankt seinen Ursprung der Feindschaft gegen die deutsche Reformation, er ist im Jahre 1540 gestiftet lediglich zu dem Zwecke, die römische Kirche in ihrer alten Autorität und in ihrem alten Besitz zu retten vor der Reformation, d. h. mit anderen Worten lediglich in der Absicht, den Protestantismus mit Stumps und Stiel auszurotten. Der Jesuitismus ist der geborne Todfeind des Protestantismus. Die Zeit der römischen Kirche war vorüber, sie hatte ihre Macht über die Gemüther verloren.

Ihre Wahrheit war zur Unwahrheit

geworden und entsprach nicht mehr den Anschauungen der Völker, ihre

Einrichtungen und ihre Träger hatten sich durch unerhörte Entartung um allen Credit gebracht. Der Protestantismus vertrat die ernste Sittlichkeit und die freie Wissenschaft, der Protestantismus traf den Kern des herrschenden Bewußtseins, und fand daher die begeistertste Aufnahme in aller Welt. Sollte der jugendkräftige, allgemein geliebte Sohn der Zeit unterdrückt, die altersschwache und verachtete Kirche aber wiederhergestellt werden, so mußte zu ganz außerordentlichen Mitteln gegriffen werden. Sollte die Kirche evangelischer Wahrheit und Sittlichkeit ausgerottet, die entartete und aus der Wahrheit ge­ fallene Kirche aber aufrecht erhalten werden: so mußte man zu Mitteln der Unwahrheit und Unsittlichkeit greifen. Der Jesuitismus setzte sich jenen Zweck, so mußte er diese Mittel wollen. Und deren hat er sich in großartigem Maßstabe bedient. Seine ganze Geschichte wird von dem Grundsatz durchzogen: der Zweck heiligt die Mittel. Das ist der Satz, der alles sittliche Leben vernichtet. Nach diesem Grundsatz nemlich kann jede Handlung aufgefaßt werden als Mittel zu einem Zweck; ist dann nur der Zweck ein löblicher, so wird damit jedes Mittel gerechtfertigt, mag es auch allen sittlichen Begriffen und Ordnungen Hohn sprechen. Der Jesuiten­ orden setzte sich den Zweck: Erhaltung und Ausbreitung der römischen Kirche. Dieser Zweck ist nach seiner Anschauung unbedingt heilig: also ist jedes Mittel gerechtfertigt, durch welches zur Erreichung des Zwecks beigetragen werden kann. „Für das Heil der Kirche" und „zur Ehre Gottes" hat er jedes Gebot zu übertreten für Recht ge­ halten; alles Schändliche hat sich müssen zur „Ehre Gottes" wenden lassen. Die Jesuiten haben den sogenannten Probabilismus ausge­ bildet, d. h. den Grundsatz, daß man eine Meinung annehmen und befolgen dürfe, wenn sich nur irgend ein gewichtiger Grund oder ein Wort eines bedeutenden Mannes dafür anführen lasse, mag man auch selber nicht daran »glauben. So haben sie bald die Republik, bald das absolute Königthum vertheidigt, je nachdem „das Heil der Kirche" es erforderte. „Zur Ehre Gottes" haben sie sich hier unter das Ge­ setz, dort auf die Seite der Revolution gestellt. Die Jesuiten haben den Grundsatz vom Vorbehalt (reservatio mentalis) ausgebildet: nach welchem es keine strafbare Lüge ist, wenn nur die ausgesprochenen Worte mit denen, welche man im Sinne be­ hält, zusammengenommen die Wahrheit ausdrücken, mögen die ausge­ sprochenen für sich allein noch so wenig derselben entsprechen. So

201

Die Jesuiten.

konnte „für das Heil der Kirche" und „zur Ehre Gottes" jede Lüge gerechtfertigt werden. „Für das Heil der Kirche" und „zur Ehre Gottes" haben

sie

jeden Meineid möglich gemacht: wenn sie denselben für keine Sünde erklären, wo man mit Unrecht zum Schwören veranlaßt werde, oder wo man, während man äußerlich schwöre, innerlich etwas andres denke. „Für das Heil der Kirche" und „zur Ehre Gottes" wird jedes Laster gerechtfertigt: wenn sie lehren, daß man sich ohne Sünde der sinnlichen Lust hingeben dürfe, wofern nur nicht der Wille zustimme, sondern sich passiv verhalte. Und jeder Ehebruch: wenn sie lehren, daß es kein Ehebruch sei, wo man an einer verheiratheten Frau le­ diglich um ihrer Schönheit willen Wohlgefallen habe, abgesehen von ihrem ehelichen Verhältniß. „Für das Heil der Kirche" und „zur Ehre Gottes" haben bedeu­ tende Jesuiten die Ermord ung Heinrichs III. als eine bewunderungsund nachahmungswürdige That gepriesen; und die beruhigen sollende Erklärung*) des damaligen Jesuitengenerals war zweideutig genug, um das Gegentheil zu wirken. Und diesen sittlichen Grundsätzen, wie ihre bedeutendsten Lehrer sie aufstellten, entsprach die Verfassung des Ordens. Subordi­ nation, strenger als die des Soldaten, ist der Grundzug.

Der Jesuit

gehorcht unbedingt seinem Oberen ohne Prüfung. Der Jesuit ist verpflichtet, zu gehen, wohin ihn-sein Oberer schickt, und zu voll­ bringen, was ihm sein Oberer aufträgt, ohne daß ihm auch nur der Zweck seiner Stellung bekannt zu werden brauchte. Der einzelne Jesuit ist lediglich ein Werkzeug in der Hand seines Oberen, lediglich ein Mittel zu einem höheren Zweck. Und dazu noch hat der jedesmalige General das Recht, die Statuten des Ordens nach Gutdünken zu ändern. Der also gebildete Orden stellte sich dem Pabste zu unbedingter Verfügung, und wurde als das brauchbarste Werkzeug mit allen Pri­ vilegien ausgestattet, welche alle übrigen Orden zusammen kaum hatten. Weshalb er sich in wenigen Jahren über alle Länder Europas ver­ breitete, und ungeheure Besitzthümer erwarb. Mit solchen giftigen Grundsätzen, mit solcher heillosen Verfassung, mit allen Privilegien und Reichthümern ausgerüstet, drang der Orden *) „Kein Jesuit soll zu behaupten wagen, daß eS jedem Menschen erlaubt sei, unter jedem beliebigen Vorwände der Tyrannei Könige und Fürsten umzubringen oder ihnen nach dem Leben zu trachten."

202

Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

unter jeder Gestalt, hier öffentlich dort heimlich, bald in alle Verhält­ nisse ein, und vergiftete überall das häusliche und bürgerliche und kirch­ liche Leben. Der Jesuitenorden ist es vornemlich gewesen, der überall die Ver­ folgung der Protestanten, in einigen Ländern die völlige Vernichtung, in anderen die völlige Austreibung bewirkt hat. Der Jesuitenorden ist es vornemlich gewesen, der in der ganzen südlichen Hälfte unsres deutschen Vaterlandes, welche gleichfalls über­ wiegend dem Protestantismus zugefallen war, die gewaltsame Aus­ rottung desselben zu Wege gebracht, der unablässig in unserem deutschen Lande konfessionellen Hader mit allen Mitteln geschürt hat. Sodaß am Schluß des dreißigjährigen Krieges von allen anerkannt wurde, der konfessionelle Friede könne nicht hergestellt werden, ehe nicht die Jesuiten aus den Grenzen des Reichs verbannt seien. Die Ruchlosigkeit ihrer Grundsätze und ihrer Handlungen war so augenfällig, ihre Habsucht und Herrschsucht so unerträglich, ihre Intriguen in allen Verhältnissen, namentlich in der Politik, so zer­ rüttend, daß auch von katholischen Lehrern die edleren das Verwerfungs­ urtheil über sie sprachen, daß auch die katholischen Fürsten einer nach dem andern sie aus ihren Ländern verbannten, ja, daß endlich selbst ein Pabst (Clemens XIV.) im Jahre 1773 sich genöthigt sah, den Orden geradezu aufzuheben, freilich sich nicht verhehlend, daß er damit sein Todesurtheil unterschrieben habe. Und die Jesuiten der Gegenwart, welches Verhältniß haben sie zu den alten? — Der Orden ist 1814 durch päbstliches Dekret wieder­ hergestellt, der Zweck ist derselbe, die Verfassung ist dieselbe, und von den Grundsätzen ist nichts widerrufen. „Sie sollen bleiben wie sie sind oder sie sollen aufhören (sint ut sunt aut non sint)", hat ein früherer Ordensgeneral gesagt. Die römische Kirche erhebt in den gegenwärtigen Tagen ihr Haupt, und hat es kein Hehl, daß sie gewillt ist, dem Protestantismus zu Leibe zu gehen; Ausrottung des Pro­ testantismus um jeden Preis — das ist auch heute ihre Loosung. Und in allen Eroberungskriegen sind die Jesuiten ihre Soldaten. Verhält es sich aber so: dann ist der Unwille gerecht, der die Zulassung der Jesuiten in unsere Länder tadelt. Wenn uns soviel von dem konfessionellen Frieden, von der Friedfertigkeit der römischen Kirche geredet wird, wie stimmt denn dazu die Aussendung der Jesuiten in unsere überwiegend protestantischen Länder?

Hat denn für ihre

inneren Bedürfnisse die katholische Kirche nicht Kräfte genug im Lande?

203

Die Jesuiten.

hat sie nicht Männer, hat sie nicht Orden genug, deren Grundsätze unverdächtig sind?

Mußte jsie uns den Orden hereinrufen, der den

Haß der ganzen Welt auf sich geladen, der als geborner und geschworner Erzfeind des Protestantismus bekannt ist? Nein, wenn die römische Kirche die Jesuiten aussendet: so ist das allemal eine Kriegserklärung gegen den Protestantismus. Vorläufig eins Demonstration, den Protestantismus zu bedeuten, daß sie die Gunst der Mächtigen habe. — Können Regierungen, denen das Wohl ihrer Völker am Herzen liegt, dürfen namentlich protestantische Negierungen die Hand dazu bieten, daß der confessionelle Hader wieder entzündet werde? Oder haben etwa die Regierungen, seit iw Deutsch­ land die Religionsfreiheit und die Associationsfreiheit in den Verfas­ sungen steht,

kein Recht mehr, die Jesuiten abzuhalten?

Nun, sie

haben ja Gesetze und Mittel genug, die Dissidenten zu unterdrücken, da beschränken sie ja jene Freiheiten durch alle möglichen alten und neuen Verordnungen.

Gelten denn allein gegen die Jesuiten nicht

mehr die alten sehr bestimmten Verbote?

Oder sind sie es weniger

werth als die Dissidenten, daß man wider sie neue Verordnungen er­ lasse? Sind ihre Grundsätze etwa weniger verderblich für die „ Grund­ lagen der Religion und der Sittlichkeit" als die der Dissidenten? Etwa weniger gefährlich für das Wohl der Staaten? Hat man keine Mittel oder keinen Grund, diesen ausländischen Sendboten, die wahrlich nicht auö Sympathie für unser Vaterland kommen, zu wehren, daß sie das Land durchziehen und Versammlungen halten? Selbst wo die Religionsfreiheit eine volle unverkürzte Wahrheit wäre, müßte nicht auch

da jede Staatsregierung Bedenken tragen, diese Freiheit

auf ausländische Sendboten und zwar auf einen Orden anzuwenden, dessen sittliche Grundsätze mindestens nicht unverdächtig sind, dessen Be­ handlung des Eides den Gerichten

keineBürgschaft gewährt,

dessen

Glieder und Statuten schlechthin von dem Willen des Generals ab­ hängen, von dem es offenkundig ist, daß er eine freundliche Stellung zu den Regierungen nur so lange einnimmt, als seine kirchlichen Zwecke nicht das Gegentheil erfordern?

Müßte nicht jede Regierung auch in

politischer Hinsicht durch die lange Geschichte dieses Ordens genügend gewarnt sein?

Wir gestehen, wir vermögen es bei keiner Regierung

für Weisheit zu halten, wenn sie die Jesuiten ins Land läßt; aber bei protestantischen Regierungen, deren Staaten gemischte Bevölkerung haben, finken wir es unbegreiflich. Wir gönnen der römischen Kirche alle Freiheit, die ihr von Gottes-

und Rechtswegen zukommt.

Aber

204

Sammlung ausgewählter Schriftstücke-

diese Freiheit wird ihr nicht verkürzt durch Verhinderung der Jesuiten­ missionen.

WaS wirklich

zu dieser Freiheit

gehört, alle Rechte der

Selbständigkeit und reiche Dotationen hat sie ja bereits bei uns erlangt, während

die protestantischen Landeskirchen

von den protestantischen

Landesregierungen noch immer ihren Antheil zu erwarten haben. So haben wir wohl Furcht? — Mit nichtcn.

Aber auch nicht

die Verachtung des gleichgültigen Zusehens. Die Verachtung des Jesuitismus beruht auf einem -wohlbcrechtigten Gefühl. Das ist das stolze Bewußtsein des echten evange­ lischen Christen, daß ihm sein starker und freier evangelischer Glaube durch nichts in der Welt, am wenigsten durch eine Jesuitenpredigt, ge­ raubt werden kann. Das ist das stolze Bewußtsein des wissenschaft­ lichen Mannes, in seinen Ueberzeugungen unerreichbar erhaben zu sein über die Vorstellungen und den Fanatismus von Jesuitcnmissionaren. Das ist namentlich das zuversichtliche Bewußtsein um die Stunde, die es im Reich Gottes geschlagen hat, v. h. um den göttlichen Gang der Weltgeschichte, nach welchem die alten Anschauungen der römischen Kirche unwiederbringlich ausgespielt haben in den Gemüthern der Menschen,

und ihre Autorität über die Herzen durch keine Macht

der Welt wieder aufgerichtet werden kann.

Dies Bewußtsein theilen

wir und wünschen, daß es in jedem protestantischen, daß es in jedem gebildeten Manne zu seiner vollen Stärke erwachen möge. Aber wenn auch unser Haus feuerfest gebaut ist, sind nicht Häuser genug, die leicht verbrennen? und haben wir nicht andere Besitzthümer, die dem Feuer zugänglich sind? und was wird uns auf die Dauer das Haus nützen, wenn alles übrige verbrennt? Wenns rings­ herum brennt, wirds uns nicht am Ende sehr heiß werden in unserm Hause? Ist es also recht, ist es vernünftig, daß wir trotzend auf die Festigkeit unseres Hauses dem Brandstiften kalt zuschauen? Das heißt. Wenn wir auch uns fest fühlen in unseren persönlichen Ueberzeugungen: ist nicht die Masse der Menschen schwach und schwankend und allen möglichen religiösen und socialen Epidemien zugänglich? Ist es der Liebe gemäß, daß wir auch nur einen unserer Brüder in die Gefahr der Ansteckung geratben lassen durch unsre Schuld? Wenn wir auch für unsere Ueberzeugungen gut sagen können, daß sie nicht fallen werden: können denn nicht kirchliche Rechte und Besitztümer, können nicht Aemter, Kirchen und Schulen, Kirchen- und Schulgüter, können nicht bürgerliche Rechte und bürgerliche Existenz verloren gehen? Und was sind denn unsere religiösen Ueberzeugungen, wo ihnen die Mittel

205

Die Jesuiten.

zu ihrer Darstellung fehlen? liche Bildung,

Was ist denn unsere hohe wissenschaft­

wo ihr der Raum zur Wirksamkeit genommen wird?

Lasset unsere ganze Umgebung sich beugen unter das Joch veralteter Satzungen, lasset uns die Rechte und die Stellen für freie wissen­ schaftliche Forschung, für freie Darstellung unseres religiösen Lebens genommen werden, so wird unsere Wissenschaft, so wird unser1 Glaube selber verkümmern, wofern sie nicht von Neuem Mittel und Raum sich schaffen. — Und das sollte möglich sein? Wir wollen unsere Meinung nicht verhehlen. Wir halten es nicht für unmöglich, ganz Deutschland noch einmal katho­ lisch zu machen.

Versteht mich recht.

In den Ueberzeugungen

nicht, da sind neun Zehntel unwiederbringlich über das Stadium des Katholizismus hinaus. Wohl aber in der äußeren Ordnung: wir halten es nicht für unmöglich, daß der Katholizismus alle Staatsre­ gierungen, alle protestantischen Landeskirchen, alle kirchlichen Besitzthümer und bürgerlichen Rechte für sich erobere, und der evangelische Protestantismus noch einmal eine verfolgte Sekte werde. Ware es denn das erste Mal, daß eine kleine entschlossene Min­ derheit die äußere Herrschaft gewönne allen herrschenden Ueberzeugungen zum Trotz? Haben wir das nicht in der Politik, haben wirs nicht in kirchlicher Beziehung als thatsächlichen Zustand in allen katholischen Ländern Deutschlands? Gegen die äußere Herrschaft des Katho­ lizismus schützen nicht protestantische Ueberzeugungen, nicht protestan­ tische Bildung: dagegen schützen allein protestantische Charaktere! Und wer will bürgen, daß Charaktere unsere Zeit die Fülle habe? Ueberzeugung gegen Ueberzeugung, Wort gegen Wort —:

da sollte

die Römerin bald verspielt haben. Aber sie hält es ja schon von Be­ deutung für die Seligkeit der Menschen, wenn sie auch nur äußerlich ihrem Bereich angehören, und verschmäht es daher nicht, wo sie zu­ nächst auch nur äußerlich und durch äußerliche Mittel Besitz ergreifen kann.

Hat sie nicht

viele Mächtige der Erde für sich

gewonnen?

Wenn sie nun noch mehr Mächtige gewönne? Und wenn nun ein Mächtiger auf den anderen Mächtigen mächtigen Einfluß übte? Wie viele sind denn unter uns, die Rechte, Güter, Ehren für Ueberzeugungen dranzusetzen gemeint wären? Auch die äußere Herrschaft des Katholizismus würde nicht von langer Dauer sein.

Die Geschichte läßt sich nicht zurückschrauben.

Der Protestantismus würve noch einmal unter

und Charaktere sich

206

Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

schaffen, wenn er keine hat. gewonnen werden!

Aber der Sieg würde mit vielem Blut

Durch unsägliche Leiden und Zerrüttungen!

Und das alles sollen die Jesuiten machen, die jetzt unser Land durchziehen? — Die nicht! Die werden nicht viele abwendig machen. Einige aus dem rohen Volk, die sich noch durch das Gespenst des Fegefeuers schrecken lassen; und einige hochgeborne Sünder, die in völliger Entnervung keine sittliche Kraft mehr haben zu einer rechtschaffenen Buße, und auf dem bequemeren Wege des Ablasses in den Himmel zu gehen wünschen —: das wird wohl der ganze Fang sein.

Und das ist kein

großer Verlust. Die letzteren gönnen wir ihnen, und den ersteren mag es gut sein, noch eine Weile die strenge Zuchtruthe der Autorität zu kosten. Mit diesen Jesuiten wollten wir schon fertig werden. Gegen diese Jesuiten kann jeder Pfarrer seine Gemeinde mit der ein­ fachen Predigt, jeder evangelische Christ mit seiner Bibel und mit der in protestantischen Ländern herrschenden Bildung sich selber genügend schützen. Wollte Gott, die katholische Kirche hätte keine anderen Streiter als diese offenbaren Jesuiten, und schickte sie uns, wenn nun doch einmal confessioneller Krieg sein soll, in alle unsere Gemeinden, und ließe sie die ganze katholische Lehre frei herauöpredigen, und es wäre nur für die Evangelischen die Freiheit, überall dagegen zu reden: fürwahr es gäbe kein besseres Mittel, die Ueberlebtheit und Ohnmacht ihrer An­ schauungen der ganzen evangelischen Christenheit zum Bewußtsein zu bringen. Diese schickt die katholische Kirche, bloß um miß zu bedeuten, daß sie es Macht habe. Diese könnten nicht kommen, wenn es nicht in unserm eignen Hause bedenklich stände. Ungleich gefährlicher als die Wanderjesuiten sind die Haus- nnd Hofjesuiten. Die nisten in den Kellern und unterwühlen alle Funda­ mente, daß uns das Haus auf den Kopf fällt.

Die einheimischen,

die protestantischen Jesuiten in Staat und Kirche, das sind unsere gefährlichen Feinde. Protestantische Jesuiten?

Also schleichen doch wohl bei uns ver­

kappte Jesuiten umher? Kann sein. Das weiß ich nicht. sagen sie's

eben

keinem.

Wenns verkappte sind, dann

Ist mir auch

ganz gleichgültig.

Darauf

kommt gar nichts an, ob sie dem Orden der Jesuiten angehören oder nicht, daß Wesentliche ist, daß sie jesuitische Grundsätze haben. Die Grundsätze der römischen Kirche, die Grundsätze des Je­ suitismus gewinnen innerhalb unsrer evangelischen Kirche

207

Die Jesuiten.

und

innerhalb der

evangelischen Staaten

immer

mehr

Terrain und immer mehr Leute. Denn Jesuitismus ist überall, wo derselbe Zweck mit denselben Mitteln verfolgt wird, wie es die Jesuiten thun. Der Zweck des Jesuitismus ist: die römische Kirche. cip der römischen Kirche: Autorität und Gehorsam. tische

Das Prin­

Das protestan­

Princip: Freiheit des persönlichen Gewissens gegen die ganze

Welt. — Autorität — klingt denn nicht dieser Ruf immer lauter

in

unsere Ohren? Autorität des Bekenntnisses über die Lehrer, Autorität des Amtes über die Gemeinden, Autorität der Kirche über ihre Glieder, Autorität der Regierungen über ihre Beamten, Autorität der Junker über die Landgemeinden, und eben überall solche Autorität, daß das persönliche Gewissen schlechterdings schweigen soll: ist das nicht ein Gedanke, der Miene macht, aller öffentlichen Verhältnisse sich zu be­ mächtigen; ist das nicht eine Lehre, die täglich neue Lehrer und Schüler gewinnt? Und die Bekenner dieser Lehre, sind sie denn so bedenklich in ihren Mitteln? Erleben wir es nicht alle Tage in kirchlichen und politi­ schen Blättern, wie man unbedenklich Wahrheit und Geschichte verdreht, unbedenklich jede Persönlichkeit und Partei verleumdet, wenn's nur den Zweck fördert?

Hat nicht unser deutsches Land, das Land der Treue,

nunmehr — Gott sei's geklagt! — Männer aufzuweisen, denen nicht mehr Recht noch Gesetz, nicht mehr Wort noch Eid für heilig gelten, wenn nur Autorität erreicht wird? Hat nicht unser deutsches Land, das Land der freien Männer, in diesen Tagen — zur ewigen Schande! Legionen Knechte gezeugt, die ihre Seele sammt Ueberzeugung und Gewissen blindlings dem Götzen der Autorität zum Opfer bringen? Ist daö nicht Jesuitismus? Jesuitismus ist überall, wo Autorität ü.ber die Ge­ wissen um jeden Preis erstrebt wird. Jesuitismus ist überall, wo zum Zweck der Autorität Rechte gebeugt, sitt­ liche Ordnungen gemißachtet. Gewissen verletzt werden. überall,

wo

menschliche Persönlichkeit

Jesuitismus

ist

zu

um

Werkzeug herabgewürdigt

wird

der

einem oder

Autorität

bloßen sich

willen

Mittel

selber

und

herab­

würdigt. Und dieser einheimische Jesuitismus ist darum ein gefährlicher Feind, weil er durchweg die bei uns herkömmlichen Formen und Be-

208

Sammlung ausgewählter Z chriftstücke.

Zeichnungen beibehält, und die meisten Menschen ohne alle Sorge sind, wenn sie nur nicht bedenkliche Namen hören; während doch in Wahr­ heit eine evangelische Kirche, wofern sie nach katholischen Grund­ sätzen sich construirte, nicht weniger katholisch geworden wäre, möchten auch alle Namen evangelisch bleiben.

Und zweitens darum: weil er

nicht auf einmal in allen seinen Consequenzen vor uns tritt, sondern Schritt vor Schritt, Stück für Stück allmählig und unmerklich seine Grundsätze offenbart, die meisten Menschen aber sich vollkommen be­ ruhigen, wenn nur nicht alle Consequenzen sofort und unmittelbar an sie herantreten. Könnten die Grundsätze der Autorität die Herrschaft erlangen, .so wäre es

einstweilen um evangelisches Christenthum in Deutsche

land geschehen, möchten

auch

alle Formen und Namen evangelische

bleiben. Was sollen wir denn dagegen thun? Zunächst gegen die römischen Jesuiten. Unsere Regierungen mit Ernst erinnern, daß sie ihre Staaten nicht ohne Noth Sendlingen von verderblichen Grundsätzen aussetzen, und die Völker nicht ohne Noth in confessionellen Hader stürzen. — Hören sie nicht: nun dann gegen diese nichts weiter als fleißig gepredigt. Vor allen Dingen mit diesen nicht viel Wesens gemacht! Wir könnten nichts ungeschickteres thun, und der Feind würde sich recht ins Fäustchen lachen, wenn wir auf die Finte eingingen, und um des Namens und Spektakels willen gegen diese römischen Jesuiten unsere besten Streitkräfte richteten, oder gar aus Furcht vor diesen einheimische Bestrebungen unterstützten, die im Grunde zu demselben Ziele führen müssen. Im Hause ist der ge­ fährliche Feind!

Dahin den Blick!

Dahin die Waffen!

Und gegen den protestantischen Jesuitismus? — Die einzige Waffe ist: protestantische Charaktere sein. In Gott fest gegründet, frei gegen jede menschliche Macht. Der protestantische Charakter unter­ wirft nie sein Gewissen, noch ein Stück seines Gewissens irgend einer menschlichen Autorität, stellt sich nie einer Partei, nie einer Behörde, nie einem Amt, nie einem Gemeinwesen unbedingt zur Verfügung; aller Gehorsam hat eine unübersteigliche Schranke an seinem Gewissen. Der protestantische Charakter protestirt, wo ihm Zumuthungen wider Recht und Wahrheit und Ehre gemacht werden; er protestirt als ein Charakter, hinter dem freimüthigen Wort steht die männliche That, die für Recht, Wahrheit und Ehre jedes Opfer darbringt. Rührt euch evangelische Männer. Tretet frisch auf, thut'S Maul

209

Der rechte Streit wider den Katholizismus.

auf! Streitet mannhaft wider die welschen Lehren und Ränke, im Staat und in der Kirche, im Amt und im Geschäft und im Hause, wo ihr sie trefft.

Widersprecht ihnen mit dem Wort, widersteht ihnen

mit der That. Keinen Schritt breit lasset sie einbringen in euer Herz, in euer Haus, in euren Kreis.

Widersteht ihnen im Keime, ehe sie euch über

den Kopf wachsen. Merket auf jede Bewegung des Feindes. Denn der Erzfeind des Protestantismus ist klug und entschlossen und uner­ müdlich. Seid wachsam evangelische Männer! raktere!

Schon

Seid protestantische Cha­

öfter haben sich an einem

einzigen Charakter die

Sturmfluthen eines ganzen Zeitalters gebrochen. Wir haben's gesagt.

Der rechte Streit wider den Katholizismus. Wir haben gemahnt. Wer aus der Wahrheit ist, der streite für die Wahrheit, fest in der Gesinnung, muthig im Wort, männlich in der That. Wer in dem Kampf um die Grundlagen der sittlichen Welt­ ordnung stehen will zu Wahrheit und Recht und Freiheit, zu Gewissen und Ehre und Sitte, der verleugne sich selbst, und nehme willig das Kreuz auf sich, das die Mächte der Lüge nicht unterlassen werden ihm aufzulegen.

Brüder, die ihr aus der Wahrheit seid, haltet zueinander,

stützet, stärket, heiliget einer den andern. Das Geheimniß der Bosheit entfaltet seine Züge immer deutlicher, enthüllt seine Gestalt immer schamloser.

Die Mächte der Lüge ar­

beiten mit fieberhafter Geschäftigkeit, als ahnten sie, daß der Morgen anbrechen werde, ebe sie ihre Herrschaft befestigt haben.

Der Ernst

der Zeit ist groß, die Gerichte nahen, wir sehen die dunklen Wetter­ wolken aufsteigen, die Völker harren in tiefer Ruhe: wer weiß, wie bald die Wetter über unsern Häuptern sich entladen werden.

Selig wer aus

diesen Stürmen ohne Schaden seiner Seele hervorgeht. Wir wieder­ holen die Mahnung. Brüder, seid männlich und stark; streitet mit Spaeth, Protestantische Bausteine.

14

Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

210

Wachen und Beten für alles, was wahr und recht und sittlich und ehr­ lich ist, jeder an seinem Ort, alle mit einander und für einander als unzertrennliche Genossen. Dieser tiefinnerliche Kampf vollzieht sich aber in der Wirklichkeit nicht so einfach, daß die Menschheit äußerlich kenntlich in zwei Heerlager geschieden wäre, hier die Guten, drüben die Bösen, hier lauter Wahr­ heit, drüben lauter Lüge. In den wirklichen Verhältnissen, in dem Gegensatze der Parteien und Systeme, in dem Gegensatze auch der Konfessionen ist Gutes und Böses mannigfach durcheinander gemischt, sind Freunde und Feinde der Wahrheit auf beiden Seiten.

Sollen

wir also den Kampf um die Wahrheit recht führen, so müssen wir uns jedesmal die wirklichen Erscheinungen ansehen, wie sie sich zur Wahrheit verhalten, und uns die Grundsätze deutlich machen, nach denen wir uns zu ihnen zu verhalten haben. In der kirchlichen Wirklichkeit tritt jetzt in den Vordergrund der Gegensatz deö Katholizismus und Protestantismus; in diesem Gegensatz concentriren, um diesen Gegensatz drehen sich mehr oder minder alle Kirchenfragen der Gegenwart. Wollen wir in der Kirchen­ frage für die Wahrheit streiten, so müssen wir wissen, wie wir den Kampf wider den Katholizismus zu führen haben. Das erste ist, daß wir den Gegensatz richtig auffassen. Wir müssen bei der Beurtheilung gleiches Maß und Gewicht führen. Nicht selten verfährt man bei der Vergleichung beider Confessionen völlig- ungerecht.

An der gegnerischen Konfession zählt man die Thor­

heiten und Verbrechen einzelner Persönlichkeiten her, schildert die un­ sittlichen Zustände gewisser Kreise und die abergläubigen Vorstellungen gewisser Zeiten und die Entartungen kirchlicher Praxis, welche aber mit dem Wesen der Konfession nichts zu schassen haben; an der eignen Konfession dagegen schildert man alles Vorzügliche daS an ihr aufzu­ finden ist, und das doch auch wiederum nicht mit Nothwendigkeit aus ihrem Wesen hervorgeht. Oder man beschreibt an der gegnerischen Konfession die gemeine schlechte Wirklichkeit ohne Rücksicht auf ihre Idee, und an der eignen Konfession lediglich ihre Idee ohne Rücksicht auf die gegebene Wirklichkeit.

Und in beiden Fällen ist dann der Schluß na­

türlich: daß das System des Gegners von Grund aus verwerflich, das eigne aber die Wahrheit selber sei. In solcher Weise wird auf beiden Seiten von Katholiken und Protestanten viel gesündigt. So soll es nicht sein. System.

Entweder Wirklichkeit gegen Wirklichkeit, oder System gegen Nur das ist Gerechtigkeit.

Der rechte Streit wider den Katholizismus.

211

Katholizismus und Protestantismus sind weltgeschichtliche Systeme: ihr Verhältniß zu einander, ihr Antheil an der Wahrheit kann nur aus der Vergleichung ihrer wesentlichen Grundsätze ermessen werden. Alle zufälligen, persönlichen, zeitlichen und örtlichen Zustände auf beiden Seiten, seien sie Vorzüge oder Entartungen, kommen bei der Verglei­ chung gar nicht in Betracht: nur wenn sie wesentliche d. h. solche sind, die mit Nothwendigkeit aus dem System hervorgehn. Das Bestehn eines untrüglichen Papstthums ist dem Katholizismus wesentlich, aber die Verworfenheit einzelner Päpste hat er nicht zu verantworten. Die Ehelosigkeit der Priester gehört zum katholischen System: aber, wenn auch die damit verbundenen sittlichen Gefahren, die ruchlose Wirthschaft einzelner Priester und Mönche fällt nicht auf den Katholizismus. Die Unabhängigkeit des persönlichen Gewissens ist ein wesentlicher Zug des Protestantismus, aber die tolle Münstersche Schwarmgeisterei darf nicht dem System zur Last gelegt werden. Die Freiheit der Forschung ist nothwendig im Protestantismus, aber nicht ist es seine Schuld, wenn man durch diese Freiheit zu allerlei widersinnigen Vorstellungen kommt. U. dgl. m. System gegen System: wie stehn beide zu einander und zur Wahrheit? Wir hören jetzt sagen von orthodoxer Seite (Hengstenberg, Stahl Leo u. a>): Die Unterschiede zwischen beiden Kirchen sind zwar be­ deutend, aber die allgemeinen Grundwahrheiten des Christenthums haben doch beide gemein, im christlichen Prinzip sind doch beide einig, unendlich einig namentlich dem modernen Antichristenthmn gegenüber, und haben daher zusammenzuhalten gegen alle Arten des modernen Unglaubens. Die Spannung zwischen beiden Konfessionen war in der Reformationszeit wohlberechtigt; gegenwärtig aber ist es Zeit, die fun­ damentale Einheit hervorzuheben. Denn der Gegensatz des Unglaubens gegen das Christenthum ist so viel größer, daß im Vergleich damit die Unterschiede zwischen Protestantismus und Katholizismus von unter­ geordneter Bedeutung sind. Wir hören die Radikalen sagen (Strauß, Feuerbach und manche Führer freier Gemeinden): Das Princip der modernen Bildung, das reine sittliche Menschenthum ohne alle Jenseitigkeit, ohne über­ weltlichen Gott, ohne Himmel und Hölle und persönliche Unsterblichkeit, ohne Religion überhaupt, befindet, sich im absoluten Widerspruch gegen das ganze System des Christenthums. Diesem gewaltigen Gegensatz gegenüber erscheinen die Unterschiede zwischen Katholizismus und Pro-

212

Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

testantismus, die doch Leide nur mehr oder minder konsequente Er­ zeugnisse des christlichen Systems sind, als gleichgültige; diesem Gegen­ satz gegenüber ist der Streit zwischen Katholizismus und Protestantismus veraltet und hat sich überlebt; die Wiederbelebung des Streites ist un­ natürlich und ohne Sinn. Beide Kirchen sind gleicher Weise bestimmt, vom Schauplatz der gegenwärtigen Welt abzutreten. Beide Urtheile gehen davon aus, daß der Katholizismus und Protestantismus Lehrshsteme seien: der Katholizismus die Form der christlichen Lehre, wie sie die alten Kirchenversammlungen und zuletzt die Tridentinische Kirchenversammlung festgestellt haben, der Protestan­ tismus die in den symbolischen Büchern der Reformationszeit nieder­ gelegte Kirchenlehre. Wäre die Voraussetzung richtig, hätten Katho­ lizismus und Protestantismus ihr Wesen in den bekannten Systemen der Kirchenlehren, so hätten beide Urtheile auch in den Folgerungen Recht.

Es ist unzweifelhaft richtig, daß die neuere radikale Welt­

anschauung sich in unvergleichlich tieferem Widerspruch befindet gegen das beiden gemeinsame System, als diese unter sich. Die alte reformatorische Kirchenlehre ist mit der katholischen Kirchenlehre in allen Hauptlehren einig: in der Lehre von Gottes Wesen und seinen Eigen­ schaften, von der Dreieinigkeit, von der Weltschöpfung, von der Sünde und Erbsünde und der Erlösung, von der Person Jesu Christi

und

seinen beiden Naturen und seinem Erlösungswerk, von Himmel und Hölle und Teufeln und Engeln u. f. w.; ja selbst in den eigentlichen Unterscheidungslehren vom Glauben und den Werken und vom Abend­ mahl u. a. möchte vielleicht der Gegensatz nicht so tief sein als es anfänglich scheint. Die neuere radikale Weltanschauung dagegen weicht von allen diesen Lehren vollständig ab, indem sie die ganze Summe dieser Vorstellungen als völlig veraltete über den Haufen wirft und erklärt, weder Gott, noch Erlöser, noch Religion zu bedürfen. Und darum thäten dann beide Kirchen Recht, den Stimmen derer zu folgen, welche sie von beiden Seiten mahnen, ein Bündniß zu schließen wider das neuere Antichristenthum. Sie müßten entweder die Lehrdifferenzen auszugleichen suchen zur Vereinigung, oder wenn das nicht gehen wollte, müßten sie sich verbünden wider den gemeinsamen Feind und mit einander wetteifern in Reinerhaltung der überkommenen Lehre, wobei die protestantische Kirche viel Versäumniß nachzuholen hätte. Oder am besten, die protestantische Kirche im Angesicht der gemein­ samen Gefahr und des langen Haders müde, kehrte in den Schooß der alleinseligmachenden römischen Kirche zurück, in deren Organisation

Der rechte Streit wider den Katholizismus.

doch

ohne Zweifel

für Aufrechthaltung

213

einer fertigen Lehre unver­

gleichlich besser gesorgt ist, als es je die protestantische Kirche würde zu Stande bringen. Wie denn für beides nicht bloß mehr in England, sondern bereits auch in Deutschland

protestantische Stimmen laut

werden. Stände man dagegen auf radikaler Seite, so hätte man gleichfalls Recht, auf jene Unterschiede eben als veraltete gar keine Rücksicht mehr zu nehmen. Und selbst wir, die wir grundsätzlich im Christenthum stehen und grundsätzlich Gegner des Radikalismus sind, würden jenen alten Unterscheidungslehren nicht mehr die alte Bedeutung beilegen: weil wir meinen, daß neuerdings auch innerhalb der christ­ lichen Weltanschauung Gegensätze aufgekommen sind, über das Ver­ hältniß von Vernunft und Glauben, von Religion und Sittlichkeit, über Gottes Wesen und Verhältniß zur Welt, über die Natur und Bedeutung der Person Jesu und seines Werks, über die Organisation der Kirche u. a., welche mit Recht jene alten in den Hintergrund treten lassen. Aber eben die Voraussetzung ist grundfalsch: nicht in der Ver­ schiedenheit der Lehre haben der Katholizismus und der Protestan­ tismus ihr Wesen.

Der Katholizismus

wäre dasselbe System auch

bei bedeutend anderer Kirchenlehre; der Protestantismus hat so wenig sein W.esen in der reformatorischen Kirchenlehre, daß er gerade nach seinem Wesen niemals eine fertige abgeschlossene Kirchenlehre haben darf. Der Gegensatz liegt viel tiefer. Selbst wenn beide Kirchen in der dogmatischen Lehre einmal völlig zusammentreffen könnten,

so

wären sie dennoch gleich weit von einander geschieden. So tief in den Principien liegt der Unterschied. Die Kirche ist es, an der beide Systeme sich scheiden. Die Stellung der Kirche zur Offenbarung Gottes in Christo, die Stellung der Kirche zu ihren Gliedern, die Stellung der Kirche zur gesammten Welt, ist im Katholizismus und Protestantismus grundverschieden. Der Grundsatz des Katholizismus ist: Seligkeit durch die Kirche; der Grundsatz des Protestantismus: Seligkeit durch den Glauben. Der Katholizismus stellt die Kirche d. h. die ganz bestimmte geographisch und geschichtlich begrenzte römisch-katholische Kirche, welche im Papst zu Rom ihren Regierer hat, hin als die ausschließliche und untrügliche Inhaberin des Geistes Gottes, und das Haupt dieser Kirche als den untrüglichen Stellvertreter Christi. Die Kirche, die ihre Dar­ stellung hat in der hierarchisch gegliederten, den heiligen Geist be­ sitzenden und mittelst der Ordination vererbenden Priesterschaft, ver-

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Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

mittelt alle göttliche Gnade durch diese Priesterschaft; niemand hat Anspruch auf die göttliche Gnade, der nicht dieser Kirche angehört, niemand in dieser Kirche nimmt Theil an der göttlichen Gnade anders als durch die Vermittelung der Priesterschaft, die die Macht hat und allein die Macht hat, den Himmel auszuschließen und zuzuschließen. Die Kirche d. h. die organisirte Priesterschaft vermittelt auf untrügliche Weise alle Erkenntniß Gottes, niemand kann auf anderem Wege Wahrheit erlangen; die Kirche überliefert die göttlichen Offenbarungen untrüglich,

die Kirche legt sie untrüglich aus und wendet sie un­

trüglich an. Der Protestantismus

erkennt Jesum

Christum allein als den

Träger der göttlichen Offenbarung, und den Glauben an ihn d. h. die Hingebung an die in Jesu Christo persönlich gewordene Liebe Gottes als den alleinigen Grund der Seligkeit. Jeder Christ hat in dem Glauben unmittelbaren Zugang zu Gott, und schöpft die Erkenntniß unmittelbar

aus dem Wort Gottes.

Keine Person, kein Amt, kein

Stand in der ganzen Kirche ist untrüglich; sondern alle Einzelnen und die ganze Kirche sind stets der Reinigung ihrer Erkenntniß bedürftig, und die Kirche besitzt gerade nur soviel Erkenntniß, als ihre einzelnen Glieder zusammengenommen aus Gott unmittelbar geschöpft haben. Keine Person, kein Amt, kein Stand ist darum fähig oder berechtigt stellvertretend zu vermitteln, sondern alle bedürfen gleicherweise der unmittelbaren Glaubensgemeinschaft mit Gott, und niemand kann dem andern diese Seligkeit erwerben noch verschließen.

Wen die ganze

Kirche verdammt, der ist darum noch nicht unselig. Und wen die ganze Kirche heilig spricht, der ist darum noch nicht selig. Der Protestan­ tismus lehrt das allgemeine Priesterthum aller Christen und die all­ gemeine Unvollkommenheit aller Christen. Der Katholizismus fordert für die untrügliche Autorität seiner Kirche von jedem Gliede der Kirche unbedingten Gehorsam. Was die Kirche ihm an Werken vorschreibt Ijut Erlangung der Seligkeit, was die Kirche ihm an Bußen auferlegt für seine Sünden, muß jeder un­ bedingt vollbringen.

Was die Kirche als richtige Lehre feststellt, muß

jeder Lehrer unbedingt lehren und jeder Gläubige unbedingt glauben, und jede abweichende Ueberzeugung als Lüge verwerfen. Der Spruch der Kirche ist verbindliches Gesetz für den Katholiken. Der Protestantismus macht das Gewissen seiner Glieder frei von jedet menschlichen Autorität. Allein in Gott gebunden mit seinem Gewissen, ist der Protestant frei gegenüber jedem Menschen.

Keine

Der rechte Streit wider den Katholizismus.

215

Person ist ihm unbedingte Autorität, keine menschliche Lehre ist ihm Gesetz: frei aus dem Evangelium heraus bildet er seine Ueberzeugung und urtheilt aus seiner gewissenhaften Ueberzeugung heraus über alle menschliche Lehren und Vorschriften, und protestirt gegen alles, was sich herausnimmt Autorität für sein Gewissen zu sein. Der Katholizismus hat in seiner untrüglichen Kirche eine fertige unwandelbare Lehre, fertige unwandelbare Kirchenverfassung und Ord­ nung, fertigen unwandelbaren Cultus: überall derselbe in allen Jahr­ hunderten unter allen Nationen. Der Protestantismus in seiner fortschreitenden Entwickelung und Gewissensfreiheit läßt die ganze Mannigfaltigkeit von Ueberzeugungen und Sitten- und Cultus- und Verfassungsformen gewähren, die sich aus seinem Princip heraus unter dem Einfluß der geschichtlichen, na­ tionalen und persönlichen Bedingungen entwickeln. Der Katholizismus stellt sich in seiner Unwandelbarkeit und Ein­ förmigkeit, in seiner

streng

gegliederten und durch Ehelosigkeit von

der Welt geschiedenen Priesterschaft außer und über der Welt, und setzt die Vollkommenheit in das Verlassen und Vernichten der natür­ lichen Verhältnisse. Der Protestantismus stellt sich mitten in die Welt hinein, und setzt sich die sittliche Aufgabe, alle die mannigfaltigen natürlichen Ver­ hältnisse mit dem göttlichen Glaubensleben zu durchdringen. Katho­ lische Heiligkeit — Weltflucht.

Protestantische Sittlichkeit — Welt­

aneignung und Meltbildung. Der Katholizismus mit seiner alleinseligmachenden Kirche kann neben sich keine andere Kirche dulden, und muß Alles daran setzen, alle außer ihm stehenden Menschen, wenn auch vorerst nur äußerlich, in sich aufzunehmen. Er ist grundsätzlich gegen alle Religionsfreiheit, Proselytenmacherei gehört zu seinem Wesen, Ketzervertilgung zu seinen Grundsätzen. Der Protestantismus verlangt aus seinem Princip die allgemeinste Gewissens- und Religionsfreiheit auch außer der Kirche, und darf in der Kirche niemand halten und für die Kirche niemand

gewinnen

wollen anders als auf dem Wege der freien Ueberzeugung. Der Katholizismus als über die profane Welt erhabener und ausschließlicher Träger der göttlichen Offenbarungen, muß über alle Gebiete menschlichen Lebens die Herrschaft beanspruchen.

Er

muß

nach seinem Wesen fordern, daß alle Politik im Dienste der Kirche „zur Ehre Gottes" geführt werde, er darf nach seinem Wesen keine

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Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

menschliche Wissenschaft frei, keine Schule, keine Erziehung aus seinen Händen lassen. Der Protestantismus, der die Kirche lediglich als das Gemein­ wesen deS religiösen Lebens setzt, fordert, daß jedes Staatswesen sich unabhängig von der Kirche regiere, und jede Wissenschaft und jede Kunst sich aus ihrem inneren Gesetz frei entfalte, und kennt kein an­ deres Verhältniß zu diesen

Gebieten als das der freien,sittlichen

Gegenseitigkeit. Das die gröbsten Züge der beiden Systeme. Wahrheit?

Wie stehen sie zur

Wir finden in dem Princip des Protestantismus das ursprüng­ liche Princip des Christenthums, welches bestimmt ist, die ganze Welt mit seiner Wahrheit zu durchdringen. In dem Katholizismus sehen wir dagegen einen Rückfall aus dem ursprünglichen Geist des Christen­ thums in das gesetzlich priesterliche Judenthum, sowie zugleich in dem Heiligenhimmel und dem sinnlichen Cultus eine starke Herübernahme deö alten Heidenthums. Je mehr der Protestantismus sein Princip in allen Folgen ent­ faltet: um so mehr stellt er in sich das reine Christenthum dar.

Je

consequenter der Katholizismus sein System ausbildet, desto mehr wird er das Gegentheil des wahren Christenthums. Der Katholizismus war in seinen Anfängen als gesetzliche Auto­ rität zur Bändigung der rohen Völker eine geschichtliche Berechtigung ja Nothwendigkeit, aber schon damals in dem Gedanken der allein­ seligmachenden untrüglichen stellvertretenden Kirche eine bedenkliche Entartung des Christenthums. Je mehr er diesen Gedanken als Grund­ gedanken hervorhob und allseitig ausbildete, je mehr er sich festhielt und mit dem Christenthum selber verwechselte; um so mehr wurde er zur Unwahrheit. Schon int fünfzehnten Jahrhunderte hatte er voll­ ständig mit seinem Christenthum banquerott gemacht. Als er sich der tieferen

christlichen Wahrheit in

der

Reformation

gegenüberstellte

wurde er vollends zur Unwahrheit. Und in der Gegenwart als erklärter Gegner der gewissensfreien mündig werdenden Menschheit, vollendet er sich zum System der Unwahrheit. Wie sollen wir

uns also verhalten zum Katholizismus?

Ist

Einigung möglich? oder auch nur Annäherung? Mit nichte».

Die Principien laufen schnurstracks wider einander,

schließen einander aus.

Und je consequenter jedes Princip sich ent­

wickelt, desto vollendeter wird der Widerspruch, desto gewaltiger wird

Der rechte Streit wider den Katholizismus.

217

die Spannung. Sie müssen den Vernichtungskamps kämpfen: eins muß sterben. Der Protestant, der da meint, sich mit dem Katholizismus einigen zn können, hat das Princip des Protestantismus, die allein in Gott gebundene gewissensfreie Persönlichkeit, aufgegeben. Und der Katholik, welcher mit dem Protestantismus sich versöhnen will, muß seine alleinseligmachende unfehlbare Kirche d. h. das Wesen des Katholizismus aufgeben. Eine Union beider Systeme ist unmöglich. Und darum ist auch die Anschauung, welche den neuen Radikalis­ mus als den gemeinsamen Feind beider bezeichnet, grundfalsch. In der Theorie ist der Abstand unermeßlich, im Leben ist der Radikalis­ mus ein Bundesgenosse des Protestantismus. Die tollsten Verirrungen radikaler Wissenschaft und christenthumsfeindlicher Praxis sind immer nur ein Mißbrauch des protestantischen Princips, im innern Leben aber hangen sie mit dem protestantischen Princip zusammen. Die mildeste, friedfertigste, liebenswürdigste Gestalt des römischen Katho­ lizismus dagegen ist immer ein Feind deö Protestantismus auf Tod und Leben. Der für den Unglauben schwärmende und wider die Existenz Gottes wüthende Freigemeindler, der das Dasein des Geistes und seine Unsterblichkeit verspottende Naturforscher lebt in seinem Gemüth mehr aus Gott und steht in seinem Herzen der protestan­ tischen Kirche ungleich näher als der bis an die Zähne mit Dogmatik und Kirchenthum bewaffnete Katholik oder katholisirende Protestant. Und darum hat daS protestantische Volk einen ganz richtigen Jnstinct, wenn es die radikalen Theorieen als Wahngebilde des Verstandes, die daS Herz berichtigen werde, ruhig mit ansieht; bei der Bewegung des Katholizismus. aber sein ganzes protestantisches Bewußtsein zu­ sammennimmt. Denn in Wahrheit hat der Protestantismus nur einen unversöhnlichen Feind, das ist der Katholizis­ mus. Mit diesem hat er um die Weltherrschaft zu streiten. Haben wir die Physiognomie des Gegners erkannt, so müssen wir unS sein Terrain besehen. Katholizismus und Protestantismus stehen nicht einander gegen­ über als die räumlich abgegrenzten Gebiete der beiden Kirchen. Die Truppen sind ganz anders vertheilt. Innerhalb der katholischen Kirche sind noch viele viele Reste evangelischer Wahrheit zu finden, und in der evangelischen Kirche noch viele viele Reste katholischen Wesens. Innerhalb der katholischen Kirche, namentlich in unserem deutschen Lande, leben viele fromme Seelen, die unter der harten Form katholischer Kirchengebräuche ein evangelisches

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Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

Glaubensleben führen, und noch viel mehre, mindestens die Hälfte der Bevölkerung, die zwar augenblicklich ohne kirchliches Bewußtsein und mit Abwerfung Princip

aller kirchlichen Formen doch

ergriffen sind;

und

wiederum

vom protestantischen

innerhalb der evangelischen

Kirche leben Unzählige, die noch ganz im katholischen Wesen stecken oder dem modernen Katholizismus wiederum verfallen sind. Also ist der Kampf zu richten nicht sowohl gegen die römischkatholische Kirche, noch weniger gegen deren einzelne Glieder, als viel­ mehr gegen das römisch-katholische System, wo wir es treffen. Gegen die römisch-katholische Kirche keinen Streit ohne Noth. Gegen die römisch-katholischen Gebräuche milde, mit Aufsuchung der Spuren der Wahrheit.

Gegen die Personen der römisch-katho­

lischen Kirche liebreich und friedfertig, ja wo es sein kann brüderlich einträchtig. Denn kein Mensch geht auf -in sein System, und die meisten Katholiken sind bei weitem evangelischer und friedfertiger als das System ihrer Kirche. Das ist die rechte Toleranz, die auch unter den krassesten Formen des Aberglaubens die Spuren gläubiger An­ dacht, und auch unter den leichtfertigsten Sprüchen des Unglaubens die Herrschaft des lebendigen Gottes im Gemüthe zu erkennen und zu lieben weiß. Unerbittliche Feindschaft dagegen dem römisch-katholischen System! Und das nicht so sehr im Gebiete der katholischen Kirche, als wo es in der protestantischen Welt vorkommt. Denn unter den Augen der evangelischen Wahrheit und im Angesicht ihrer weltgeschichtlichen Früchte ist eine Herstellung katholischen Systems bei weitem lügenhafter, als im römisch-katholischen Gebiet, wo es geschichtlich hergebracht und ein­ heimisch ist.

Innerhalb der protestantischen Welt ist der

Kampf mit dem Katholizismus auszukämpfen. Wo uns die Autorität eines Amtes über das persönliche Ge­ wissen

oder die Autorität einer fertigen Lehre über die persönlichen

Ueberzeugungen zugemuthet, wo die Freiheit der Wissenschaft beschränkt und die Schule einer ausschließlichen Kirche unterworfen, wo die bürger­ liche Freiheit eingezwängt und die religiöse Freiheit verfolgt, wo die Regierung

der Staaten in die Hand orthodoxer Kirchlichkeit gelegt

wird: da überall sollen wir unseren Erbfeind den Katholizismus er­ blicken, und mit ganzer Energie gegen ihn zu Felde liegen. Und mit welchen Waffen? Der Katholizismus kämpft gemeinig­ lich mit äußeren Waffen, mit der Gewalt der Fürsten und dergleichen, wie sie seinem gesetzlichen Wesen entsprechen.

Und wir?

Wo wir

219

Concessionen an den UltramontaniSmuS.

Rechte und äußere Institutionen besitzen, die das protestantische Princip vertreten, sollen wir sie wahrlich mit allen Mitteln des Rechts ver­ theidigen.

Wo wir Fürsten und Regierungen für den Rechtsschutz der

protestantischen Kirche

und

protestantischer Einrichtungen

können, sollen wir es wahrlich nicht unterlassen. trauen sollen wir nicht darauf setzen.

gewinnen

Aber unser Ver­

Unser Vertrauen

sollen

wir ganz allein setzen auf die Macht der evangelischen Wahrheit: daß sie ist die ewige Wahrheit, und ist die Grundkraft der ganzen neuen Weltgeschichte. Und darum unsere rechte Waffe: lischen Wahrheit.

das Wort der evange­

Das Wesen deS evangelischen Protestantismus

immer tiefer erfassen, und immer

weiter entfalten in allen seinen

Folgerungen, daß Jedermann erkennen müsse, waL zum römischen und was zum protestantischen System gehört.

DaS protestantische System

mit allen seinen Folgerungen immer tiefer in die Ueberzeugungen graben und immer weiter ausbreiten. Mit dieser Waffe, mit dem Wort der Wahrheit, hat Jesus die Welt überwunden, hat er die Mächte des JudenthumS und Heiden­ thums gestürzt. Mit dem Wort der Wahrheit soll und wird der Protestantismus die Macht stürzen, die mächtiger als Judenthum und Heidenthum beide in sich vereinigt, die Macht des Katholizismus. Dazu gebe Gott, daß die Protestanten an ihrem Princip und alle Vertreter deS protestantischen Princips zu einander halten.

Concessionen an den Ultramontanismus, das wäre von allen Wegen, die man zur Lösung des KirchenstreiteS einschlagen kann, der unglücklichste. Wir sind außer Verdacht, der römischen Kirche ihre Recht nicht zy gönnen. Wir haben zu allen Zeiten für die Selbständigkeit der Kirche gesprochen, für die Selbständigkeit der römischen nicht Minder als der evangelischen.

Wir halten die Selbständigkeit für ein unver­

äußerliches Urrecht der Kirche; und ihre Hinderung halten wir für

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Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

eine Versündigung an der Kirche, und neuerdings in Deutschland, nach­ dem sie in allen Verfassungsgesetzen verbürgt ist, für eine positive Ungerechtigkeit. Ja wir wollen es nicht verhehlen, es erscheint uns als ein schmachvoller Zustand, daß die sogenannten christlichen Staaten den christlichen Kirchen das vorenthalten, was sie der unbedeutendsten Gesellschaft nicht anstehen zu gewähren, und jedem mündigen Bürger gewähren müssen, der nicht blödsinnig ist. Wir meinen auch nicht, daß die römische Kirche in der ober­ rheinischen Kirchenprovinz durch

ihre Uebergrifse den Anspruch auf

Selbständigkeit verwirkt habe. Die römische Kirche hat dort mehr ge­ fordert, als was zur kirchlichen Selbständigkeit gehört, das ist un­ zweifelhaft; und sie hat noch weit mehr gewollt, als was sie deutlich gefordert hat, das ist nicht minder unzweifelhaft: Uebergreifende For­ derungen indeß begründen kein Recht, daß auch das Gebührende ver­ weigert werde. Die Führer der römischen Kirche haben ihre Forde­ rungen vielfach auf eine gesetzwidrige Weise geltend gemacht, und haben die kirchlichen Forderungen nicht unvermischt erhalten von undeutschen politischen Bestrebungen; aber schlimme Tendenzen und gesetz­ widriges Verfahren können das Recht nicht vernichten. Recht muß doch Recht bleiben. Die gesetzwidrige That der Verführer soll bestraft werden, aber der Kirche Recht darf darunter nicht leiden. Freilich aber hat die Selbständigkeit der römischen Kirche nur einen Sinn, wenn dieselbe gleichzeitig der evangelischen Kirche zu Theil wird; beide haben dasselbe ursprüngliche Recht, beiden ist sie in gleicher Weise durch positives Recht verbürgt. Wer sie der einen ge­ währen wollte, ohne zugleich der anderen, der würde nur das Unrecht vermehren. So lange die Regierungen nicht Willens sind, der pro­ testantischen Kirche die ihr von Gottes und Rechts wegen gebührende Selbständigkeit zu gewähren, sondern es vorziehen, sie in der un­ würdigen, unmündigen Stellung zu belassen: so lange wäre jede weitere Concession an die römische Kirche, die bereits ein viel höheres Maß von Selbständigkeit besitzt, eine schreiende Ungerechtigkeit gegen die protestantische Kirche, und von einer protestantischen Regierung

eine

Verleug­

nung des Protestantismus. Und wiederum hat kirchliche Selbständigkeit überhaupt nur einen Sinn, wo gleichzeitig Religionsfreiheit gegeben, d. h. die Mög­ lichkeit geboten wird, sich etwanigen Gewissensvergewaltigungen der selbständigen Kirchen durch Austritt zu entziehen. Und darum ge-

221

Concessionen an den UltramontaniSmuS.

währen alle neuen Verfassungen beides gleichzeitig.

Wo die Religions­

freiheit nicht gegeben ist, da bringt jede Erhöhung kirchlicher Selb­ ständigkeit immer zugleich eine größere Möglichkeit für Gewissensdruck gegen die Einzelnen durch die privilegirten Kirchen. Wo die Religions­ freiheit nicht gegeben ist, und also die bürgerlichen Rechte von kirch­ lichen Bedingungen abhängig sind, da mehrt der Staat mit jeder Er­ höhung kirchlicher Selbständigkeit in höchst bedenklicher Weise eine vielleicht nebenbuhlerische Macht, und giebt ihr Waffen in die Hand, die sie wegen seiner theilweisen Abhängigkeit von ihr sehr Wohl gegen ihn selber gebrauchen kann. Und das gilt insbesondere von der rö­ mischen Kirche. Die römische Kirche will ausgesprochenermaßen die Gewissen ihrer Glieder beherrschen; die römische Kirche kämpft offenbar mit dem Staat um die Oberherrschaft, und hat von allen Kirchen am wenigsten Neigung und Fähigkeit, sich mit dem Staat über die Macht­ grenzen zu einigen; die römische Kirche stellt unverhohlen ihr römisch kirchliches Interesse über jedes staatliche und nationale, und hat gar kein Bedenken, zu Gunsten ihrer kirchlichen Bestrebungen alles vater­ ländische zum Opfer zu bringen. Insbesondere also gerade gegen die römische Kirche, die schon mit mehr Rechten ausgestattet ist, als jede andere, haben die Staatsregierungen sich zu hüten, weitere Concessionen zu machen: ohne allgemeine Religionsfreiheit würden sie mit jeder Concession an die römische Kirche nur den hie­ rarchischen Gewissensdruck int Lande mehren, und eine Macht stärken, die es seit tausend Jahren bewiesen, daß ihr warlich weder der Friede mit den Staatsregierungen, noch die vaterländischen Interessen am Herzen liegen. Die deutschen Regierungen mögen die allgemeine Religionsfreiheit wieder herstellen und auch der evangelischen Kirche ihre Selbständigkeit gewähren, wie sie nach den Landesverfassungen zu thun schuldig sind: dann ist nichts dagegen, daß der römischen Kirche das volle Maß dessen zu Theil werde, waö zur kirchlichen Selbständigkeit gehört. Wollen aber nun einmal die Regierungen diese Rechte nicht verwirk­ lichen, und meinen sie das vor ihrem Rechtsgewissen verantworten zu können, so sollen sie wenigstens nicht einseitige Concessionen an die römische Kirche machen; denn jede einseitige Concession an die römische Kirche wäre nicht eine theilweise Erfüllung des Rechts, sondern eine Mehrung des Unrechts, eine Beschädigung des Protestantismus, ein Schlag der Regierungen ins eigene Gesicht. Concessionen find aber auch ohne allen Erfolg

für die Lösung

222 des Streites.

Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

Wir kennen ein Radikalmittel gegen die römischen An­

maßungen: das ist allgemeine Religionsfreiheit.

Wo die allgemeine

Religionsfreiheit besteht: da ist keine Kirche dem Staat gefährlich, auch die römische nicht. Wo der Staat durch allgemeine Religions­ freiheit der römischen Kirche die Ausgangsthore öffnet, da mag er ihr alle Rechte überweisen, er hat von ihr nichts zu befürchten; da ist sie weich und geschmeidig, da hütet sie sich weislich, ihre Bannstrahlen aus dem Köcher zu nehmen, sie würden ihr eigenes Haus entzünden. Und dies Mittel ist wirklich das einzige von Erfolg, bei jedem andern System bleibt man im Verhältniß des Streites, wenn man sich eben nicht will von der'Kirche unterdrücken lassen; höchstens daß der Streit zuweilen vertagt wird, um dann um so heftiger zu entbrennen.

Hat

man aber zu diesem Mittel einmal kein Zutrauen, kann man sich einmal nicht entschließen, die polizeistaatliche Bevormundung alles re­ ligiösen Wesens fahren zu lassen, dann hüte man sich vor aller und jeder Concession an Rom, mit jeder Concession macht man die Sache nur schlimmer. Rom ergreift bereitwillig die gemachte Concession, aber nur — um stets weitgreifendere Forderungen zu machen; Rom nimmt jede Concession nur als eine breitere Basis, um darauf leichter das übrige zu erobern. Concessionen an Rom, wo man sich nicht durch allgemeine Religionsfreiheit gedeckt hat, das ist, wie wenn man dem Eroberer die Festungen des eigenen Landes einräumt um ihn zu beschwichtigen. Können sich die Staatsregierungen zu dem einzigen Radikalmittel der allgemeinen Religionsfreiheit nicht entschließen: dann sollen sie jede Concession unterlassen; dann ist das einzig gerathene, mit ganzer Consequenz und Energie in ihrem bisherigen System zu verharren. Allerdings ist das herrschende polizeistaatliche KirchenbevormundungSsystem ein herzlich schlechtes, und so schwach, daß es vor jeder wahrhaft religiösen Bewegung auch der geringsten Sekte ohn­ mächtig zusammenfällt; ein einziger rechtschaffener Altlutheraner oder Baptist oder Quäker, der in seinem Glauben aus Gott geboren ist, kann es alle Tage über den Haufen werfen; und ist nur

zw ver­

wundern, wie das nach mehrtausendjährigen Erfahrungen die Staats­ lenker noch nicht begriffen haben. Aber diese neuste Erhebung des Ultramontanismus hat sich so sehr alles religiösen Grundes baar und so rein als ein hierarchisch-politisches Machwerk erwiesen, und durch Plumpheit so sehr selber um allen Credit gebracht, daß dagegen das schlechte bureaukratische System vollkommen ausreicht.

Dieser hie-

Der Krieg und der Protestantismus.

223

rarchisch-politischen Wühlereien Roms kann man in unseren Tagen schon mit dem Strafgesetzbuch Herr werden, wenn man'S nur ernstlich angreift.

Diesem Treiben gegenüber verfahre man nur

energisch

und consequent — d. h. nicht mit polizeilicher Willkür, sondern — nach dem Gesetz, man lasse jede Uebertretung ohne Rücksicht durch die ordentlichen Gerichte bestrafen, und sorge nur dafür, daß man nicht außer politischen Zusammenhang gerathe: und die frommen Väter, die „aus Gehorsam gegen Gott" das Volk aufwiegeln, werden bald wieder lernen den Menschen gehorchen.

Rom führt in unseren Tagen

nur da eine trotzige Sprache, wo es glaubt, Concessionen erzwingen zu können, wo es aber sieht, daß man gesonnen ist, nicht ein Haar breit zu weichen, da macht es sogleich ein freundlich Gesicht.

Con­

cessionen machen jedenfalls die Sache nur schlimmer. Also. Man gebe der römischen Kirche die volle Selbständigkeit — wir sind's zufrieden unter den besagten Bedingungen: oder — man verfahre gegen sie energisch nach dem herrschenden System.

Rur keine

Concessionen.

Der Krieg und der Protestantismus. (1866.) Bor Beginn des Krieges trug ich lebhaftes Verlangen, meine Hoffnungen auszusprechen, welche ich für die protestantische Sache an den Erfolg des Krieges knüpfte. Ich drängte indeß den Wunsch zurück; denn ich sah manchen hervorragenden Gesinnungsgenossen, der mit uns im Verein dieselben protestantischen Grundsätze vertheidigt, in politischen Verhältnissen, welche ihn bewogen oder

nöthigten,

dem kriegerischen

Vorgehen Preußens sich entgegenzustellen oder doch wenigstens nicht zuzustimmen. Es hätte damals diese Freunde verletzen können, wenn man die Kriegsfahne Preußens zugleich für das Panier des Protestan­ tismus verkündet hätte; es hätte scheinen können, als wolle man mit einer kirchlichen Fahne für eine politische Parteistellung Propaganda machen. Ich unterließ eS darum. Jetzt liegen die Dinge anders. Jetzt wo die Theile unseres deutschen Vaterlandes, welche sich Preußen

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Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

entgegenstellten, entweder unserm Staatswesen geradezu einverleibt werden, oder doch zu demselben unzweifelhaft in eine Stellung gerathen, welche der politischen Gegnerschaft ein Ende macht: jetzt kann die po­ litische Stellung und Stimmung Niemanden mehr hindern, die Re­ sultate des Sieges ungestört mit protestantischen Augen zu betrachten und sich freudig anzueignen. Ich habe diesen Krieg

von vornherein mit Freuden

begrüßt.

Durch die Mängel eines Regierungsshstemes, welches ich in seiner Stellung zu Gesetz und Verfassung nicht billigen konnte, durch allerlei Tendenzen und Motive, welche sich für diesen und für jenen mit dem Kriege verbanden, habe ich mich niemals bestimmen lassen, das zu verkennen, was dieser Krieg nach Gottes Ordnung und Rathschluß bedeuten sollte. Es standen zwei große Dinge in Frage. Soll Deutsch­ land auch für die Zukunft in seinen mancherlei Stämmen ein Object für die Habsburgische Hauspolitik bleiben, und lediglich in deren dy­ nastischen Interessen seine Einheit und seine Äufgabe erkennen; oder soll es eine Nation werden, die ihrer selbst mächtig aus ihrem Wesen und nach ihrem Willen sich organisirt und regiert, die nach innen und außen lediglich durch ihre nationalen Interessen sich bestimmt? Soll in Deutschland immer wieder auf's Neue der Ultramontanismus das Scepter führen und feine Macht bis in das Herz und in die Sitte der protestantischen Stämme Norddeutschlands erstrecken; oder soll endlich der Protestantismus seiner selbst mächtig werden und zur Herrschaft gelangen im deutschen Volk, das wie alle germanischen Nationen auf denselben angelegt ist? Diese beiden großen Fragen hatte der Krieg zu entscheiden, und darum habe ich keinen Augenblick an dem endlichen Siege Preußens gezweifelt. Denn nach welcher Richtung Gott seine Weltgeschichte führt, darüber kann für den Sehen­ den kein Zweifel sein; und ebenso wenig darüber, daß er Macht hat, hinauszuführen, w»S er sich vorgenommen, und sollten eS auch Männer wie Louis Napoleon sein, die er als Werkzeuge für seinen Plan ver­ wendet. Nun ich denke, die beiden Fragen sind in der Hauptsache ent­ schieden. Mag der Vollzug immerhin langsamer vorschreiten als man'S denkt oder wünscht: die sichere Grundlage ist gelegt, der feste Kern ist gegeben.

Die politische Selbständigkeit Deutschlands ist errungen:

es kann und

wird und muß das deutsche Volk zu einer Nation sich

gestalten, wenn auch zunächst unter Preußens Führung; und es wird seine einheitliche Organisation vielleicht in weiterem Umfange und

225

Der Krieg und der Protestantismus.

rascher vollziehen, als selbst Diejenigen es sich gedacht haben, welche zu Leitern der Ereignisse bestimmt wurden. Schon darin liegt zugleich eine unvergleichliche Eroberung für den Protestantismus. Eine selbständige Nation hat als solche immer einen protestantischen Zug; das beweist das katholische Italien, welches Rom gegenüber im Staatswesen alle Consequenzen der Reformation zur Geltung bringt, und damit neuerdings dem Herzen des Statt­ halters Christi mehr Kummer bereitete als selbst das Vaterland der Reformation.

Zum Wesen des römischen Katholizismus, wie er sich

neuerdings im Ultramontanismus darstellt, gehört es ja, der den Erd­ kreis beherrschenden heiligen römischen Kirche gegenüber die Nationen in Unterwürfigkeit und Unmündigkeit zu erhalten;

und darum paßt

zum Stuhl Petri fein Staatswesen besser als das Oesterreichs, weil in seinem Völkergemisch die einzelnen Nationalitäten gleichfalls

nur

als unselbständige Momente erscheinen, lediglich als Stufen zu dem Throne des Hauses Habsburg. So hat denn auch Oesterreich allezeit den Ultramontanismus vertreten, und Preußen den Protestantismus. Die Tendenzen und Intentionen des Hauses Habsburg waren immer dahin gerichtet, das heilige römische Reich darzustellen und wiederherzustellen; und darum hatte es einen ewigen Bund mit dem römischen Stuhl, und hielt sich berufen, die geistliche Führung, die cs von daher empfing, durch welt­ lichen Schutz zu vergelten. Wenn einmal ausnahmsweise ein Fürst wie Joseph II. die traditionelle Politik durchbrach, so entbehrten seine Reformen der historischen Grundlage und ließen darum auch keinen Erfolg zurück. Preußen dagegen ist aus protestantischem Samen ge­ zeugt, sein Staatswesen ist mit der Reformation groß gewachsen, und hat aus ihr seine kräftigsten Impulse empfangen. Alle seine Grund­ lagen sind protestantisch: die Selbständigkeit der Staatsregierung gegenüber der kirchlichen Autorität, die freie Bewegung und Entfaltung der Wissenschaft nach allen Richtungen, die durchgreifende Herrschaft der Gewissensfreiheit, welche Preußens Fürsten von frühester Zeit zur Geltung gebracht haben, die

energische sittliche Thätigkeit in allen

Zweigen der Verwaltung und des Volkslebens, die Förderung der all­ gemeinen Volksbildung und aller materiellen Fortschritte: — das alles sind Züge eines protestantischen Antlitzes, welches die Geschichte Preu­ ßens uns entgegenhält. Mögen immerhin zu Zeiten von einzelnen Regierungen, die den weltgeschichtlichen Beruf Preußens nicht ver­ standen, diese Grundlagen eingeschränkt worden sein: Spaeth,

Protestantische Bausteine.

den Lauf der 15

226

Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

Entwickelung haben sie doch nicht aufhalten, die angeborenen Characterzüge haben sie doch nicht verwischen tonnen. So lange darum Oesterreich in deutschen Landen die Herrschaft hatte, war dem Protestantismus trotz des Augsburger und des Westphälischen Friedens stets nur soviel Raum und Recht gewährt, als die protestantischen Fürsten durch Waffengewalt zu behaupten ver­ mochten ; und innerhalb des österreichischen Kaiserstaates haben die Protestanten immer nur Freiheiten empfangen, wo die politische Lage liberale Concessionen anrieth; und sobald der politische Grund hinweg­ fiel, wurden sie wiederum bedrängt und verfolgt. In demselben Maße dagegen als Preußen wuchs und zur Macht gelangte, war für die Sicherheit des Protestantismus in Deutschland gesorgt und fand alles Protestantische in Preußen Schutz und Zuflucht; Preußen wurde die sichere Stätte, wo die Wissenschaft mit ihrer freien Forschung frei und öffentlich hervortreten durfte. Und wenn dann wiederum Zeiten kamen, wo von einer schwachen Regierung Preußens weltgeschichtlicher protestantischer Beruf verkannt wurde, und wo das Haus Habsburg in traditionellem Hochmuth sein Haupt erhob, da mußten das nicht nur die Protestanten in Oesterreich und Ungarn empfinden, auch das ganze deutsche Land fühlte die Wirkungen, über München und Würz­ burg, Freiburg, Mainz und Köln trugen Jesuiten und bigotte Weiber die ultramontanen Tendenzen bis in das Herz des protestantischen Nordens, demoralisirten protestantische Regierungen, und verfälschten protestantische Sitte und Kultus. Ich bin nicht blind genug in der Liebe zu meinem engeren Vater­ lande, um nicht wahrzunehmen, mit welchen hohen Gaben andere deutsche Stämme, wie namentlich Sachsen und Schwaben, dem Pro­ testantismus gedient haben, wie die protestantische Wissenschaft von ihnen ihre vorzüglichsten Kräfte empfangen und zu Zeiten in den kleineren Gemeinwesen am gedeihlichsten sich entfaltete, wie die Kunst in der Ferne von dem Bereich politischer Macht ihre fruchtbarste Werkstatt fand: aber auch außerhalb Preußens vermag jeder Protestant zu erkennen, daß alle diese Gaben nur wirksam und alle diese Leistungen nur möglich werden konnten durch die Existenz einer politischen Macht wie Preußen. In Preußen hatten sich die protestantischen Principien zu einem starken Staatswesen concentrirt; in ihm fanden alle pro­ testantischen Bestrebungen ihren Halt und starken Flügeln seines Adlers konnten

Mittelpunkt,

sie sich frei

unter

entfalten.

den Mag

von den einzelnen deutschen Stämmen das größeste gerühmt werden,

wir stimmen ein: aber in allen weltgeschichtlichen Krisen unseres Vaterlandes seit der Reformation hat Preußens Stellung und Macht den Ausschlag gegeben; der weltgeschichtliche Beruf, Führer und Hort des Protestantismus zu sein, war ihm deutlich auf die Stirne ge­ schrieben. In diesem dialektischen Wechsel der Hegemonie zwischen Preußen und Oesterreich ist die neuere deutsche Geschichte verlaufen, eine zum Theil friedliche Fortsetzung des dreißigjährigen Krieges.

In der Schlacht

von Königgrätz hat endlich der dreißigjährige Krieg seinen Abschluß gefunden: der nationale Gedanke und der Protestantismus haben ge­ siegt.

Nun ist der Ultramontanismus im deutschen Lande ein für

allemal gebrochen; denn nicht nur Oesterreichs Macht und Tendenzen sind aus Deutschland hinausgewiesen, sondern auch das Papstthum hat mit ihm seine letzte weltliche Stütze in Europa eingebüßt. Denn daß der französische Kaiser sich des Papstthums nur für seine politischen und dynastischen Zwecke bedient, ist Niemandem verborgen. Mit Oesterreich hat der Papst in Deutschland sein Regiment verloren, denn München wird sich wohl nicht zutrauen, die Last dieses Regimentes zu tragen. In der Reformation und ihren Folgen zerbrach Gott die politische Existenz deutscher Nation in zwei Stücke, um für das neue weltge­ schichtliche Princip sichere Wobnung und Werkstatt zu gewinnen, und von da die Kräfte deö neuen Geistes allmählich auch die andere Hälfte durchdringen zu lassen. Und nun die Zeit erfüllt ist, zerbricht er die Kraft der anderen Hälfte, um die getrennten Glieder zu einem neuen Reich auf neuer Grundlage wieder z» vereinigen. Unter Preußens Führung vorläufig kann und wird die nunmehr selbständige deutsche Nation sich durchweg nach protestantischen Grundsätzen gestalten. Damit ist nicht gesagt, daß der Katholizismus in Deutschland nicht fernerhin Freiheit und Recht behalte zu bestehen und sich zu entwickeln, soweit und solange er Herzen und Gemeinden in unserem Volke be­ sitzt; die Religionsfreiheit, die volle ganze Religionsfreiheit ist ja eben protestantisches Princip. In dieser Hoffnung sollen uns keine Intentionen der politischen Machthaber irre machen, denen es mit Recht politisch geboten erscheint, ihren Plänen engere Grenzen zu stecken.

Ehre, volle Ehre den Männern,

die durch ihre Thatkraft alle Hindernisse überwunden und die gewal­ tigen Erfolge errungen haben: aber der die Geschicke der Völker lenkt, ist ein Größerer; was er sich vorgenommen, setzt er durch, auch wenn

15*

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Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

Bismarck und Napoleon sich dagegen vereinigen sollten.

Der Baum,

den er gegenwärtig in die deutsche Erde gepflanzt, wird zu seiner vollen Höhe und Breite auswachsen, sollte auch der französische Kaiser vor Neid schier vergehen, und der preußische König aus den ehren­ haftesten Rücksichten sich

sträuben, die deutsche Kaiserkrone auf sein

Haupt zu setzen. In dieser Hoffnung lassen wir uns auch nicht irre machen durch die momentane Gestalt der protestantischen Kirche in Preußen, deren Züge so wenig ihre protestantische Herkunft verrathen.

Die protestan­

tische Kirche ist nicht der Protestantismus; während sie etwa ihren Ursprung vergißt, arbeitet derselbe in allen großen Lcbensgebieten rüstig weiter.

Aber das unprotestantischc, katholisirende Wesen, in dem sie

jetzt zum großen Theil befangen liegt, kam ihr ja eben von außen aus der Herrschaft der ultramontanen Tendenzen.

Ist. die Quelle abge­

schnitten, so muß dies unnatürliche Wesen in sich zusammenfallen, und alle besseren Geister werden sich dem frischen Zuge nicht ver­ schließen können, der aus der selbständig und mündig gewordenen deutschen Nation auch über die protestantische Kirche und ihre Theologie mit unwiderstehlicher Macht kommen wird. Verschiedene Anzeichen deuten dahin, daß man in maßgebenden Kreisen auf Grund der gewaltigen Erfolge mit größerer Lebhaftigkeit empfindet, welche Aufgaben die vorliegende nationale Entwickelung dem siegreichen Preußen stellt. Man muß hoffen, daß auch die preußische Kirchenleitung ihren Horizont erweitere, und im Hinblick auf die pro­ testantische Kirche deutscher Nation, auf die mannigfaltige Eigenthüm­ lichkeit der verschiedenen Stämme, auf die religiösen Bedürfnisse und die theologische Entwickelung, alles engherzige, kleinliche, bureaukratische Formelwesen von sich abstreife und fortan in einer Haltung geführt werde, welche allen vorhandenen Bedürfnissen gerecht zu werden, und die vorliegenden großen Aufgaben ihrer Erfüllung entgegenzuführen versteht. Der Sieg des Protestantismus Geiste verfolgt werden.

will in protestantischem

Die Bekenntnisse des Oberkirchenraths.

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Die Bekenntnisse des Oberkirchenraths*). Wir phantasirten neulich.

Von Bischöfen und Erzbischöfen,

von

erblichem Pabstthum. Heute eine nüchterne Betrachtung. Eine „Kirche" die es zu „objektiven Stellungen" bringen soll, hat einen „gemeinsamen Lebensgrund" nöthig. Der Oberkirchenrath hat auch diesen gefunden. Er bezeichnet ihn in §. 1. als „die Lehre, die in Gottes lauterem und klarem Wort, den prophetischen und apostolischen Schriften Alten und Neuen Testaments, begründet und in den drei Hauptshmbolen und den Bekenntnissen der Reformation bezeugt ist." Wir zweifeln an der Stärke des Fundaments.

So einen groß­

artigen Dom mit gewaltigen Säulen und einer byzantinischen Kuppel, so eine Reihe von bischöflichen Herrlichkeiten und obendrauf noch das ganze Gewicht des „Landesherrn" zu tragen: dazu scheint uns ein Fundament nöthig wie es die römische Kirche hat — ein bis auf den Buchstaben inspirirter Kanon der Bibel, eine inspirirte Bibelübersetzung und Bibelausgabe, und

eine untrügliche Bibelauslegung

der Kirche,

welche durch eine fortlaufende Reihe von Bekenntnissen durch die Conzilienbeschlüsse und päpstlichen Dekrete die Untrüglichkeit und Unwandel­ barkeit der Kirchenlehre in alle Jahrhunderte fortspinnt. Aber die in sich selber und unter einander mannigfach sich widersprechenden Sym­ bole des 16. Jahrhunderts, welche längst in den dialektischen Prozeß der Wissenschaft hineingezogen sind, in Verbindung mit einigen alten Symbolen, ruhend auf einer Bibel, in welche längst die Kritik von allen Seiten eingedrungen —: solcher „Lebensgrund" scheint uns nicht einmal stark genug, um lehmerne und bretterne lutherische Dorfkirchen zu tragen, wenn man nicht der Wissenschaft einen Maulkorb anlegt. Doch das ist Sache des Oberkirchenraths: er mag zusehen, wie er seinen Bau zu Stand und Wesen bringe. Man kann ja auch nicht wissen, was uns noch alles zugedacht ist. Stehen die Bekenntnisse erst: *) Dieser Artikel galt den „Grundzügen einer Gemeindeordnung für die östlichen Provinzen v. 29 Junr 1850, besondeis gegen 8 1, welcher lautet: Jede ev Gemeinde hat die Aufgabe, unter der Leitung und Anregung des in ihr bestehenden geistlichen Amtes sich zu einer Pflanzstätte christlicher Gesinnung und christlichen Lebens zu gestalten. Ais Glied der ev. Kirche bekennt sie sich zu der Lehre, die m Gottes lauterem und klarem Wort, den proph. u. ap. Schriften A u. R. Test., begründet und in den drei Hauptsymbolen und den Bekenntnissen der Reformation bezeugt ist, und unterwirft sich den allgemeinen kirchlichen Gesetzen und Ordnungen. D. H.

230

Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

dann kommt vielleicht eine der Kritik unzugängliche Bibel. Und finden sich Urheber solcher Satzungen, so werden die Ausleger nicht fehlen. Man schaffe die unbequeme Professur der Kircheugeschichte ab, vermehre die Professur der Dogmatik, und richte ein eine Auslegung der Bibel nach Anleitung der Bekenntnißschriften. Das sind aber wieder Träume, wir müssen zurück in die Wirk­ lichkeit. Der Oberkirchenrath hat „die Bezeichnung des gemeinsamen Lebensgrundcs im Wesentlichen mit den Worten des vorgeschriebenen Ordinationösormulars

gegeben, weil es wünschenswerth

schien die Aus­

legungen zu vermeiden, denen jede neue Formulirung von Seiten der verschiedenen Richtungen ausgesetzt sein würde." Welch eine Selbstverleugnung für einen „objektiven" Oberkirchen­ rath! welcher das Recht hat alle abweichenden „Auffassungen" für eine „gänzliche Begriffsverwirrung" und für „unzulässigen" „Irrthum" zu erklären. Hat er in einem schwachen Augenblick die ihm „gebührende Stellung" „vergessen", und geredet als bestände er aus „Gliedern" der Kirche, die ja nicht den „Beruf des Ganzen" haben können den „gemeinsamen Lebensgrund" zu bestimmen oder zu verändern? Ganz genau übrigens ist die Formel doch nicht wiedergegeben. In dem „vorgeschriebenen Ordinationsformular" finden sich hinter — „ Gottes lauterem und klarem Wort, den prophetischen und apostolischen Schriften Alten und Neuen Testaments" — die Worte — „unsrer alleinigen Glaubensnorm."

Diese drci Worte sind in dem neuen

„gemeinsamen Lebensgrunde" ausgelassen. Das hat der Oberkirchenrath offenbar „vergessen." es doch alten Pastoren, daß sie im Vaterunser

So könnte auch wol den Herren Oberkirchenräthen, Abfassung des Ordinationsformulars betheiligt und lange Jahre ordinirt haben, die Formel so mechanisch daß ihnen unwillkürlich ein oder das andere Wörtlein Doch nein.

Begegnet

eine Bitte auslassen. die sich an der nach demselben geworden sein, entfallen ist.

Der Oberkirchenrath versichert „die Bezeichnung deS

gemeinsamen Lebensgrundes" „im Wesentlichen mit den Worten des vorgeschriebenen Ordinationsformulars gegeben" zu haben. So hat er die Worte verglichen, und die ausgefallenen mit Bewußtsein ausgelassen.

Weil er sie nicht für wesentlich hält.

In der evangelischen Kirche haben ohne Ausnahme alle Reforma­ toren die alleinige Normativität der Schrift als obersten Grundsatz gegen „Kirche" Papst und Conzilien hin gestellt.

231

Die Bekenntnisse des Oberkirchenraths.

In der evangelischen Kirche weisen alle „ Belenntnisse der Refor­ mation" auf die Schrift als die „ alleinige Glaubensnorm " hin, an der sie selber und alle Lehre in der Kirche gerichtet werden wollen. In der evangelischen Kirche wird noch heut die alleinige Norma­ tivität der Schrift allgemein als eines von den beiden Grundprinzipien anerkannt, und alles was dieselbe leugnet als schwärmerisch oder katho­ lisch verworfen. Diesen Grundsatz hält der Oberkirchenrath für unwesentlich. Das „vorgeschriebene Ordinationsformular" ist weiß Gott! confuS und widersprechend genug, und hat unsägliche Gewissensbeschwer.,ngen veranlaßt. Der einzige Trost für die bedrängten Gewissen, das letzte Bollwerk wider unevangelische Handhabung waren die drei Worte — „ unsre alleinige Glaubensnorm" — welche jedem die Berechti­ gung gaben von den Bekenntnissen abzuweichen in seiner Lehre, sofern er sie nur aus der Schrift begründete. Diese drei Worte läßt der Oberkirchenrath aus. Thut er das aus gewissenhafter „Rücksicht auf die Spannung der dogmatischen Gegensätze", weil nach der berechtigten Unterscheidung, welche die neuere Theologie zwischen „Schrift" und „Wort Gottes" macht, dieser Satz von der Normativität der Schrift allerdings nicht mehr in seiner ganzen Strenge gelten kann? Der theologischen Bildung eines Neander, Ehrenberg, Roß, Bollert, ja selbst eines Snethlage, deren keiner den alten Jnspirationsbegriff festhält, wäre das wol zuzutrauen. Nur dürfte er dann freilich noch weniger die Be­ kenntnisse als verbindlich hinstelle». Denn wem die Normativität der Schrift abnimmt, d'er muß in noch höherem Maße die Verbindlichkeit der Bekenntnisse herabsetzen, da diese ja lediglich von der Schrift ihren Glanz entlehnen und lediglich als Schriftauslcgung ihre Bedeutung haben. Wie wir auch das von den Oberkirchenräthen wissen, daß sie zu den Bekenntnissen eine noch freiere Stellung haben, als zur Schrift. Aber der Oberkirchcnrath stellt die Bekenntnisse ganz nackt ohne Einschränkung hin als die Kirchenlehre. gewaltet haben.

Also kann jene Rücksicht nicht

Wir erblicken indeß in der ganzen Angelegenheit den

Oberkirchcnrath in „objektiver" Haltung, in Selbstverleugnung gegen die subjektiven Ueberzeugungen der Oberkirchenräthe. Der Oberkirchen­ rath hat bei der Auslassung lediglich die „objektiven" Zwecke der „Kirche" im Auge. 1) Die objektive Kirche braucht eine greifliche

Kirchenlehre,

objektive

hand­

nach der auch Juristen über das Vep-

232

Sammlung ausgewählter Schriftstücke

brechen der Häresie richten können. Eine solche ist aber bei jenen fatalen drei Wörtern schlechterdings nicht zu erzielen. Denn so lange sie be­ stehen, kann jeder einfältige Dorfpastor gegen die heiligen Bekenntnisse losziehen, und sich naseweis den höheren kirchlichen Mächten gegenüber auf die Schrift berufen, was doch in einer wohlorganisirten „Kirche" nicht „zulässig" ist. Diesem Uebelstande ist nun vollständig abgeholfen. Denn nun ist die Lehre die allein gilt in der Kirche, diejenige welche in der Schrift „begründet" und in den Bekenntnissen „bezeugt" ist. Die in den Bekenntnissen ausgesprochene Lehre ist somit einfach die Kirchenlehre; und gegen die Bekenntnisse sich auf die Schrift berufen hat nun gar keinen Sinn mehr, da die Lehre der Bekenntnisse ja eben die in der Schrift „begründete", und somit die Schrift nur noch die Quelle ist, aus der die in den Bekenntnissen vorliegende Kirchenlehre geschöpft worden. 2) Die Union muß vernichtet werden. Denn das ist ge­ wiß, bei der Union ist eine gemeinsame Kirchcnlehre gar nicht zu er­ zielen. Denn so eine mittlere Durchschnittölehre aus den Bekenntnissen ist doch, wenn sic anch möglicher wäre als sic es ist, gar zu lächerlich, und befriedigt am wenigsten die „lebendigen Glieder" der Kirche, die sich von ihrem „vollen Bekenntniß" nichts verkürzen lassen mögen. Auch kommen dann immer noch die Nationalisten und die Schleiermacherianer und andere Heterodoxen, und behaupten, der eigentliche und ursprüng­ liche Sinn der Union sei gar nicht ein so beschränkter, vielmehr der, daß in der Union auf dem Grunde des Evangeliums überhaupt Freiheit der Forschung und der Lehre gelten solle. Und dann ist die Union auch Schuld an den gottlosen „demokratischen" Kirchenverfassungs­ ideen, welche den „elementaren Gliederungen" die „Funktionen des Or­ ganismus" und dem „Pöbel" das Regiment in die Hände geben; diese hat uns alle die reformitte Kirche mit hereingcschmuggelt. Dieser reformirte Sauerteig muß gründlich ausgefegt werden auö der Kirche. Zunächst müssen die östlichen Provinzen „gerettet" werden, dann wird sich die Sache mit den westlichen auch wol machen. Also mit der Union ist nichts zu machen, die muß aufhören. Sie soll zunächst in eine „Kon­ föderation" verwandelt werden, d. h. — ganz genau im Sinne der Urheber übersetzt — in eine Verbindung zu dem Zwecke die Kirche aus­ einander zu untren, eine Verbindung für die Separation in lutherische und reformirte Kirchen. ES haben sich in den

östlichen Provinzen „lutherische" Vereine

gebildet unter Leitung hochgestellter aus höchsten Quellen schöpfender

Die Bekenntnisse des Oberkirchenraths.

233

Personen, mit der öffentlich erklärten Absicht das alte Lutherthum mit seiner ganzen Bekenntnißgrundlage als das noch jetzt alleinberechtigte in den östlichen Provinzen herzustellen. Das Kirchenregiment hat nie­ mals gegen diese widerrechtlichen Bestrebungen den Mund aufgethan, noch eine Hand gerührt. Im Gegentheil von Seiten des Kirchenregi­ ments ist stets alles das, was diese „ treuen" und „lebendigen Glieder" der Kirche „mit Sicherheit erwartet" haben, in Erfüllung gegangen; und alle bedeutenderen Schritte, welche das Kirchenregiment in den letzten zwei Jah-en gethan hat, sind zur „Beruhigung" der lutherischen Vereine geschehen; und die anderen Glieder der Kirche sehen zu, wie zur Beruhigung der Lutherischen die evangelische Kirche in eine luthe­ rische verwandelt wird. So fühlen die Lutherischen sich auch wesentlich beruhigt durch die Einsetzung des von ihnen erbetenen Oberkirchenraths und die neue Gemeindeordnung als die ersten schwachen Schritte zur Verwirklichung ihrer Wünsche; und die besonnenen beruhigen die un­ geduldigeren, daß ja doch nicht alles auf einmal erreicht werden könne. Zur Beruhigung nun dieser Neulutherischen hat der Oberkirchen­ rath im vorigen Jahre in seiner Präexistenz als „Abtheilung" die evangelische Kirche in Pommern geradezu für eine lutherische erklärt; und diese seine Erklärung den Konsistorien der übrigen östlichen Pro­ vinzen, die sich in Betreff der Union mit Pommern in ganz gleicher Lage befinden, zugeschickt, zur Nachachtung, wie er die Union ausfasse und zu behandeln gedenke. Zur Beruhigung dieser Neukutherischcn versichert der von ihnen in diesem Frühjahr abgeordnete Herr Göschel von Sr. Majestät folgende Antwort empfangen zu haben, und läßt dieselbe in mehreren Blättern veröffentlichen, ohne daß eine Silbe von Seiten des Kirchen­ regiments erinnert würde. Sie lautet. — „Sagen Sie Ihren Freun­ den, daß ich auf die einzelnen Anträge und Wünsche in Bezug auf Restauration der lutherischen Kirche in Kirchenregiment und Kultus nicht sogleich aus mir selber eine definitive Entscheidung geben kann, aber es soll darauf bei den ferneren Berathungen Rücksicht genommen werden. Mein Wunsch ist es Konsistorien herzustellen, welche frei von der territorialen Staatsgewalt, aber in Verbindung mit mir und unter dem Bekenntnisse stehen. In den östlichen Provinzen sollen es lutheri­ sche Konsistorien mit reformirten Beisitzern sein; und in gleicher Weise soll auch eine Oberkirchenbehörde eingerichtet werden. An diese Behörde werden Sie dann die speziellen Anträge zu stellen, und zu wiederholen haben, was Sie jetzt in Anträgen an mich ausgesprochen haben."

234

Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

Die „Anträge" werden bereits gestellt, und „erwarten mit Sicher­ heit" ihre Erfüllung. Wir würden wiederum geträumt haben, hätten wir nicht That­ sachen erzählt. Also die Union soll vernichtet, und Bekenntnißkirchen aufgerichtet werden. So lange nun in der Formel, welche den „ gemeinsamen Lebens­ grund" bezeichnet, „unsre alleinige Glaubensnorm" bestehen bliebe, wäre immer eine Mannigfaltigkeit verschiedener Lehren und damit das Prin­ cip der Union nicht auszurotten. Sind aber diese Worte getilgt, und werden einfach „die Bekenntnisse der Reformation" genannt: so läßt sich diese Formel leicht mit bestimmterem Inhalt erfüllen. Sobald aber­ mals ein so gesegnetes Jahr kommt wie 1850: so sagt man — „die Bekenntnisse der Reformation" sind in den östlichen Provinzen natür­ lich die lutherischen Bekenntnißschriften, und hat dann die Kirche ordentlich „unter das Bekenntniß" gebracht. Diese beiden Zwecke kann man durch eine so unwesentliche Aus­ lassung erreichen. Und noch mehr. Einen noch bedeutenderen Erfolg erreicht der Oberkirchenrath ohne jede Aenderung der Formel, allein dadurch, daß er ihr eine andere Stellung giebt. Die Formel war bisher ein Glied des Ordinationsformulars, um die Geistlichen zu verpflichten. Der Oberkirchenrath überträgt sie auf die Gemeinden. Er sagt im §. 1. — „Als Mitglied der evan­ gelischen Kirche bekennt sich jede evangelische Gemeinde zu der Lehre, die u. s. w." — Nicht wahr, das ist auch nur eine ganz un­ wesentliche Aenderung? Nur, um „die Ausstellungen der verschiedenen Richtungen zu vermeiden"! Bisher gab es in unserer evangelischen Landeskirche eine Verbind­ lichkeit der Bekenntnißschriften an keiner andern Stelle außer für die Geistlichen. Und diese war ausgedrückt in dem besagten Ordinations­ formular, welches so mit Vieldeutigkeit und Widersprüchen behaftet war, und in so verschiedenem Sinne gebandhabt wurde (das Mitglied des Oberkirchenraths, welches die Ordination für die Provinz Brandenburg vollzieht, hat es, um jeden Schein von Verpflichtung zu vermeiden, nach seiner eigenen Erklärung stets als eine „apostolischeErmahnung" aufgefaßt), daß jeder glaubte seine Stellung herauslesen zu dürfen. Und dies Formular war eben wegen der nie ganz wegzuleugnenden Verpflichtung auf die Bekenntnisse unerträglich geworden; und es war nicht möglich, nachdem man schon eine Reihe von Jahren die ein-

Dic Bekenntnisse beS Oberkirchenraths.

235

flußreichen Stellen mit bekenntnißtreuen Männern besetzt hatte, in der Generalshnode von 1846 eine Verpflichtung der Geistlichen durchzusetzen, welche sie in irgend eine Abhängigkeit von den Bekenntnissen gebracht hätte. Die Kirche hatte seit der Union gar keine feste Bekenntniß­ grundlage, sondern suchte eine solche Grundlage sowie eine „Stelluug" zu den Bekenntnissen zu gewinnen, wie das vom Kirchenregiment selber auf jener Generalshnode ausgesprochen wurde und für deren Arbeiten als Voraussetzung galt.

— Nun aber gar die Gemeinden an die

Bekenntnisse der Reformation zu binden, das ist noch niemandem in der evangelischen Kirche eingefallen, selbst in den orthodoxesten Zeiten nicht, wo doch die Vorstellungen der Gemeinden auf den Lehren der Be­ kenntnisse erwachsen waren; das ist eine eigenthümliche Erfindung des Herrn Professor Stahl von der Generalshnode her. Der Oberkirchenrath macht kurzen Prozeß, er zerhaut den Knoten. Er stellt nicht nur die Geistlichen, nicht nur die Kirche, sondern-alle evangelische Gemeinden unter die uneingeschränkte Herrschaft der Bekennt­ nisse der Reformation. Er giebt damit eine völlig neue Definition der evan­ gelischen Kirche und der evangelischen Gemeinde. Bisher war jede Gemeinde ein vollberechtigtes Mitglied unserer evangelischen Landeskirche, die unter dem landesherrlichen Kirchenregi­ ment verblieb und nicht in aller Form gerichtlich ihren Austritt erklärt hatte, ganz abgesehn von ihrer Stellung zum Bekenntniß, ja selbst von ihrem Glauben. Von nun an sind nur diejenigen Gemeinden „Glieder der Kirche", die sich zu den „Bekenntnissen der Reformation" bekennen und sich berufen fühlen „Pflanzstätten" zu sein: Der Oberkirchenrath giebt so durch einen Federstrich der evangelischen Gemeinde und der evangelischen Kirche einen völlig neuen Rechtsboden. Bisher waren selbst die Geistlichen wenig behindert in ihrer geisti­ gen Entwicklung und in der Darlegung ihrer Ueberzeugung; nament­ lich aber die anderen Gemeindeglieder fragte niemand und hatte niemand ein Recht zu fragen nach der Beschaffenheit ihrer religiösen Vorstel­ lungen und nach den Quellen, aus denen sie dieselben schöpften. Von nun an sollen auf Verordnung des Oberkirchenraths alle Glieder aller Gemeinden denken und bekennen wie die Bekenntnisse der Reformation: Bekenntnisse, die sie wederkennen noch je gesehen haben, die sie, wenn sie sie sehen würden, weder verstehen könnten wegen ihrer theologischen Haltung, noch sich aneignen,

weil ihre Vorstellungen weit von jenen

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Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

verschieden sind; Gemeinden, für welche die meisten Unterscheidungen jener Zeit gar nicht mehr in Betracht kommen, sondern ganz andere religiöse Anschauungen in den Vordergrund treten, ja denen leider selbst die ersten Grundbegriffe der Reformation nicht selten abhanden gekommen sind. Der evangelische einem Wort Umfang der

Oberkirchenrath

die evangelische Kirche.

Freiheit

vernichtet für

den

mit

ganzen

Aber freilich, wo es sich um das Heil der Kirche handelt, wo es gilt die evangelische Kirche in eine „objektive Stellung" zu retten: da kommen die Vorstellungen der Gemeinden, da kommen die Ueberzeu­ gungen eines ganzen Zeitalters nicht in Betracht, wieviel weniger die Ueberzeugungen der Rettenden selber, und nun gar das „Recht", das ja nur für den gesetzlichen Standpunkt Bedeutung hat. Um die Kirche auö dem verderblichen, die Grundlagen der Religion und des Patriotis­ mus des Christenthums und des Königthums untergrabenden Subjectivismus der Zeit in die objektive alle Gottlosigkeit und Anarchie über­ wältigende Wahrheit hinüber zu retten: dazu ist durchaus nöthig, daß auch die Gemeinden ordentlich „unter das Bekenntniß" gebracht werden. Denn bloß die Geistlichkeit in die Bekenntnisse hinein- und die wider­ spenstigen aus dem „Amt" Hinausdiscipliniren: was wäre damit ge­ wonnen! Da könnten, immer noch die Gemeinden kommen, fußend auf ihr gutes verbürgtes Recht, und sagen: „geht uns mit samt Euren Bekenntnissen, wir wollen mit denselben nichts zu schaffen haben!" Und das wäre doch nicht gut. Denn wenngleich die Gemeinden nur unter­ geordnete „elementare Gliederungen" sind, sind sic doch nicht ganz ohne Bedeutung für die „Kirche"; namentlich könnte die Subsistenz der „Kirche" ohne diese leicht gefährdet werden, während die Gemeinden ohne die „Kirche", nach dem alten Recht im Besitz der Kirchengüter, sich leicht anders arrangiren könnten — natürlich zu ihrem Verderben! Steht es aber fest, daß nur diejenigen Gemeinten berechtigte „Mit­ glieder der evangelischen Kirche" sind, die sich zu den Bekenntnissen be­ kennen und sich bepflanzen lassen: dann haben natürlich die Gemeinden kein Recht dreinzureden

in die Angelegenheiten der „Kirche";

dann

können auch etwanige künftige Vertretungen der Kirche, falls die Um­ stände solche gestatten sollten, keine Querelen mehr machen in Sachen der Lehre und der Liturgie; denn alle Glieder aller Vertretungen sind als Glieder „evangelischer Gemeinden" selbstverständlich auf die Bekennt­ nisse verpflichtet,

und

damit das Gebiet des Bekenntnisses und der

Die Bekenntnisse deS Oberkirchenraths.

237

Lehre, und — da ja alles, was die „Kirche" angeht, nach dem Bekennt­ niß geordnet werden muß — alle Fragen von einigem Belang ihrer Kompetenz entzogen. Dann mögen immerhin die „ungläubigen" Gemeinden kommen und sich auflehnen wider die Bekenntnisse: sie haben dann Freiheit hinaus zu ziehen aus der Kirche, welche die Bekenntnisse bekennt, aber ein Recht an diese Kirche haben sie nicht.

Die Kirchengüter, welche

ja der Kirche und ihren berechtigten Gliedern gehören, verbleiben dann natürlich der bekennenden Kirche; die Kirchengüter werden dann aus den Klauen der „Ungläubigen", die sie doch nur von Unrechts wegen besaßen und zu ihrem Verderben vergeudet haben würden, glücklich in die Hände der „lebendigen Glieder" mit hinüber gerettet, und können nun zu einer würdigen Ausstattung der „objektiven Stellungen" ver­ wandt werden. Dann ist die eigentliche Substanz der objektiven Kirche sicher geborgen. Ja meine Herren vom Oberkirchenrath, wir begreifen, wie noth­ wendig es für Ihre „Stellung" war, mit einem kühnen Sprunge mitten in die Bekenntnisse hineinzufahren, und in Ihrem gewaltigen Sprunge, wie weiland Held Siegfried unter der Tarnkappe den König Günther, unmerklich die ganze Kirche und alle ihre Gemeinden mit hinüberzu­ reißen. Daß Sie nur nicht dennoch Schaden nehmen! Der Sprung ist doch gar zu gewaltig. Wahrlich wir werden von Bewunderung erfüllt für Ihren unbe­ schreiblichen Muth. Nicht daß Sie mit seltener Verleugnung Ihrer subjektiven Ueber­ zeugungen, Ihrer theologischen und kirchlichen Vergangenheit, vergessen, wie Sie zum größeren Theile für die evangelische Freiheit tapfer ge­ stritten gegen den Bekenntnißzwang, den Sie nun einführen; vergessen, wie Sie vormals als Führer in den vordersten Reihen gestanden für die Sache der Union, und nun nach wenigen Jahren zu ihrer Zerstö­ rung die Hand bieten; überhaupt vergessen alles was dahinten ist, und Sich strecken nach der „objektiven Kirche." — Im Retten werden Sie von Größeren übertrofsen; im Vergessen werden Sie „Brüder und Genossen" die Fülle haben. Aber daß Sie es unternommen haben in Grundzügen einer provi­ sorischen Gemeindeordnung alle die Grundfragen, an deren Lösung ein ganzes Zeitalter unter dem Einflüsse weltbewegender Ideen in seinen bedeutendsten Geistern gearbeitet, ohne eine Verständigung bereits er­ reicht zu haben — daß Sie es nnternommeu haben Ihrerseits diese

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Sammlung auögewähller Schriftstücke.

Fragen mit einem Federstrich zu losen, und zwar durch eine Formel welche alle die vergangenen Kämpfe ignorirt und der gesäumten Ge­ genwart mit ihren treibenden Ideen spottet; daß Sie, die Sie die Selbständigkeit der Kirche anerkennen, und es wollen, daß sie „durch eigene freie That" sich gestalte; die Sie in keiner Weise für eine Vertretung der Kirche angesehen werden wollen, sondern Ihren Beruf und Ihre Ehre vornemlich darein setzen, den Bestand der Kirche der künftigen Vertretung unversehrt zu überliefern; daß Sie in Ihrem Provisorium den Versuch machen der evange­ lischen Landeskirche in Preußen eine völlig neue Definition und einen völlig neuen Rechtsboden zu schenken, welche für alle Verhältnisse inson­ derheit für die Besitzthümer derselben von entscheidenden Folgen sind; vor allen Dingen, daß Sie, in Ihrem Bestreben der Kirche zu­ nächst in den Gemeinden zu der verfassungsmäßigen Selbständigkeit zu verhelfen, diesen Gemeinden, deren religiösen Standpunkt Sie kennen, deren argwöhnisches Halten über der theuer errungenen Gewissensfrei­ heit Ihnen vor Augen ist, deren Erbitterung über viel leisere Eingriffe in diese Freiheit des Glaubens Sie und das Vaterland zur Genüge erfahren haben: — diesen Gemeinden zumuthen in die ungekannten und unverstandenen „Bekenntnisse der Reformation" sich hineinzubeken­ nen, und in eine Knechtschaft unter „das Amt" sich zu begeben, wie solche in der deutschen evelischangen Kirche schlechterdings unerhört ist; daß Sie solche unermeßliche Dinge mit geringen Kräften und mit wenigen Getreuen durchzusetzen sich getrauen: das bezeugt einen Muth, der alles übertrifft, was unsre muthige Zeit an Muth aufzu­ weisen hat. Wir besorgen ernstlich. Sie haben Sich überstürzt. Sollte es denn nicht möglich gewesen sein, den kühnen §. 1., der leicht den ganzen Kirchenplan verderben könnte, noch ein Weniges zurückzuhalten. Unserm einfältigen Verstände will der Rath des Prof. Stahl praktischer er­ scheinen:

daß man jetzt noch nicht mit gesetzlichen Bestimmungen

über Recht Bekenntniß und Amt der Kirche kommen müsse, sondern noch erst für „lebendige Glieder" und „treue Hirten" mehr Sorge tragen. Doch halt, wir vergessen uns. Wir haben gar keinen Beruf den Oberkirchenrath zu bewundern, noch weniger ihm zu rathen. Als Glie­ dern der Gemeinde ziemt es uns zu unseres Gleichen uns zu halten. Nur für die Gemeinden also bringen wir folgende Punkte in Erinnerung.

Die Bekenntnisse des ObcrkirchenrathS.

239

1) Wer den §. 1. der Gemeindeordnung ausführt oder ohne Ein­ spruch ausführen läßt, der giebt zu, daß von nun an in Sachen des Bekenntnisses der Lehre und allem, was damit zusammenhängt, sowol den Gemeinden als auch allen etwanigen Vertretungen keinerlei Urtheil von Rechtswegen zustehe; 2) der giebt zu, daß von nun an in dem ganzen Umfange unsrer evangelischen Kirche weder für das Ganze noch für den Einzelnen weder für ihre Amtsträger noch für die anderen Gemeineglieder irgend welche religiöse Ueberzeugung ein Recht des Daseins habe, welche in irgend einem Punkte von den „drei Hauptshmbolen und den Bekenntnissen der Reformation" abweicht. 3) der giebt zu, daß die einzige rechtmäßige Besitzerin der Rechte und Güter der bisherigen Preußischen evangelischen Landeskirche von nun an diejenige Kirche sei, welche als Ganzes und in allen ihren Gliedern sich zu den „drei Hauptshmbolen und den Bekenntnissen der Reformation" bekennt; und daß keiner und keine Gemeinde, welche in irgend einem Punkte von diesen Bekenntnissen abweicht, fernerhin in dieser Kirche und an diese Kirche ein Recht habe, sondern mit Fug und Recht aus dieser Kirche hinausgewiesen werden könne und müsse, ohne auf die Rechte und Güter der Kirche irgend welchen rechtlichen Anspruch zu haben. 4) der giebt ein Gesetz zu, welches möglich macht die evangelische Union auf vollkommen gesetzlichem Wege zu vernichten. Die Gemeinden mögen das zu Herzen und zu Gedächtniß nehmen.

Der Kirchentag und die Union. Wir haben neulich gezeigt, daß es im Princip der „ Konföderation" liege, gegen die Union feindselig zu sein und haben zur Bestätigung dessen Aeußerungen der Urheber der Konföderation hinzugefügt.

Na­

mentlich die Rede Stahls. AuS der geht doch wol unzweifelhaft her­ vor, daß die Konföderation nicht eine Kirchenverbindung sein solle,

240

Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

innerhalb deren die Union in ihrer Weise bestehen bleibe, sondern zugleich bestimmt sei, an die Stelle der Union zu treten.

Denn

die Union sei eben eine verfehlte kirchliche Vereinigung, welche die Konfession beschädige; die Konfession habe ein Recht, nicht nur kon­ fessionelles Bekenntniß, sondern auch confessionellen Kultus und kon­ fessionelles Kirchenregiment, mit einem Wort eine confessionelle Kirche zu fordern; diesen Forderungen könne nicht die Union gerecht werden, sondern nur die Konföderation.

Es

sind hier

unverhüllt noch die

Forderungen fast buchstäblich, welche nachmals das Programm der Naugardter Lutheraner bildeten, die der Union offen den Krieg an­ gekündigt haben. Und es war darum für den Sinn der Konföderations­ urheber vollkommen zutreffend, wenn man damals die Konföderation als eine Vereinigung bezeichnete zu dem Zwecke, die Union zu zer­ sprengen. Die Sache ist außerordentlich deutlich. mehr sehen, ehe sie glauben.

Manche indeß wollen noch

Sie sagen: Es sind ja in den Kirchen­

tagen außer den Konfessionellen auch viele Unionsmänner, namentlich die theologischen Vertreter der Union Nitzsch, Sack, Dörner, Müller und viele andere. Wie könnten die dabei sein, wcnn's sich so verhielte. Da sie dabei sind, kann's nicht so sein wie Du sagst. Sie müssen sich die Konföderation anders gedacht haben. Und auch die Konfessio­ nellen müssen sie nicht schlechthin der Union feindselig gemeint haben, sonst könnten sie ja nicht die Unionsmänner mit herzugenommen haben. Nun was die Konfessionellen anlangt, so giebt's bekanntlich in der Kirche au* Politik. Sie schreien schon seit Jahren- schmerzlich über die Gewissensbeschwerungen, welche die Union über sie bringe, und beweisen uns aus Schrift und Bekenntniß und Kirchenrecht, daß ein reines lutherisches Gewissen bei der Union nicht bestehen könne; aber — sie verbleiben in der Union und fahren fort, ihr Gewissen beschweren zu lassen in der Union, um — die Union zu untergraben. So auch die konfessionellen Kirchentagsführer. Hätten sie nackt das Princip der Konfessionskirche hingestellt, und einfach die Union ver­ worfen, so wäre ihnen natürlich kein Unirter beigetreten, und sie allein hätten nicht hundert Leute zusammengebracht, also auch nichts gegen die Union ausgerichtet. Wollten sie gegen die Union was unternehmen, so mußten sie es mit Hülfe der Unirten thun. Und diese konnten sie nur gewinnen, wenn sie unirte Notabilitäten mit an die Spitze ihres Unternehmens stellten. Und die unirten Theologen? — Gedacht haben sie freilich den

Der Kirchentag und die Union.

241

Konföderationsgedanken anders als jene konfessionellen, auch geredet haben sie vieles Treffliche zu Gunsten der Union in den Versamm­ lungen. Aber Denken und Reden will nicht viel besagen, wo die Wirklichkeiten und Thaten des Kirchentages über all dies Denken und Reden unbekümmert zur einfachen Tagesordnung übergegangen sind. Man zeige uns, daß die unirten Theologen in den Kirchentagen bisher irgend etwas anders ausgerichtet haben, als daß sie Vorträge halten und durch ihre Namen den Glanz und die Größe der Versammlungen bewirken durften; man zeige uns einen einzigen Beschluß deS Kirchen­ tages, der zu Gunsten der Union gefaßt ist: und wir wollen Unrecht haben.

Wir aber wollen denen, die blöde Augen haben, derweilen die

Reihe von Kirchentagsthaten vor die Augen halten, welche zur Unter­ grabung der Union im Sinne der strengen Konfession geschehen sind. In Wirklichkeit ist vom Kirchentag

alles

zu Gunsten

eines

strengen

Konfessionalismus, insbesondere eines konfessionellen Lutherthums ge­ schehen ; alles dagegen, was der Union förderlich sein könnte, sorgfältig verhütet worden. Im Programm — das haben wir schon gesehen — kommt von der Union nur der Name vor, sonst ist es construirt wider die Union. Das schien auch Nitzsch zu fühlen, als Stahl den Gedanken in der oben mitgetheilten Rede etwas zu deutlich

enthüllte.

Er

ver­

wahrte sich eifrig gegen diese Auffassung; aber freilich einen Erfolg auf das Programm hat diese Verwahrung nicht gehabt, einen Antrag hatte er nicht gestellt. Und als Sack später einen Antrag auf eine weitherzige kirch­ liche Einigung stellte, der sehr im Sinne der Union lautete, und für die Aufnahme seiner Proposition in das Programm die Majorität er­ langte, da mußte die Majorität, daß sie die unionsfeindliche Tendenz des Programms noch nicht begriffen, damit büßen, daß sie genöthigt wurde, großmüthig zu Gunsten der konfessionellen Minorität ihren Beschluß zurückzunehmen. Im folgenden Jahre 1849 traten die konfessionellen Pläne schon kecker hervor. Es stand als ein Haupt-Thema auf der Tagesordnung: Zeugniß wider die Bekenntnißlosigkeit, welche die Union zum Vorwände nimmt?) Da haben denn die Lutheraner vom reinsten Wasser, Heubner, Wachter, Oehler, Gösch el, wacker gezeugt nicht nur wider die Bekenntnißlosigkeit, sondern auch wider die *) Verhandlungen 1849.

S. 79 ff.

Spaeth, Protestantische Bausteine.

16

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Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

Union, sodaß den Unirten ganz wunderlich zu Muthe wurde. Man sollte meinen, wenn doch die unirten Kirchen auch zur Konföderation gehören sollen, das Präsidium habe Anlaß gehabt zu berichtigenden Erinnerungen gegen solche Ausschreitungen, zumal es sonst nicht gerade bedenklich ist, in die Debatten einzureden. Aber keine Silbe. Noch mehr. Es traten während der Versammlung die eigentlichen Lutherischen als ein besonderer Factor aus dem Kirchentage heraus und mit offener Kriegserklärung gegen die Union unter der Leitung von Göschel und Otto zu einem spezifisch-lutherischen Verein zu­ sammen. Der Kirchentag, in welchem die Führer des Vereins als Mitglieder anwesend waren, dem der Verein überdieß sein Programm besonders überreicht zu haben scheint, hatte, meinen wir, wenn doch die unirten Landeskirchen Glieder der Konföderation sein sollen, alle Ursache, dies gegen die Union feindselige Programm zu besprechen, und eine Resolution zu fassen, welche jeden Schein einer unionsfeindlichen Tendenz von ihm abwehrte. Es geschah nichts der Art; der Lizentiat Möller aus Lübbeke durfte kaum das Wort nehmen zum Ausdruck für die Beunruhigung, welche ihm das Programm verursachte. Ja der Vorsitzende Stahl hat nicht einmal ein Wort der Mißbilligung, (wie sollte er auch, es ist ja das Programm sein eigenes!) vielmehr rühmte er in der Schlußrede*) als einen Fortschritt zur Verwirklichung der Konföderation, daß alle nunmehr einmüthig Zeugniß wider die Bekenntnißlosigkeit abgelegt hätten. Es liegt im Wesen der Union und ist immer mit der Union ge­ schichtlich verbunden aufgetreten das Streben nach einer freien reprä­ sentativen Kirchenverfassung, der Kirchentag ist einer solchen repräsen­ tativen Kirchenverfaffung überall entgegengetreten. Nicht nur gegen den Pfälzer Kirchenverfassungsentwurf von 1848 hat er Zeugniß abgelegt, notabene ohne alle Vorbereitung und ohne Discussion — der war sehr mangelhaft; auch die tüchtige, auf gesetzmäßigem Wege zu Stande gekommene Kirchenverfaffung in Oldenburg hat er durch das Zeugniß seines engeren Ausschusses an den Großherzog vernichten helfen, daß sie aus einer „evangelischen" wieder eine „evangelisch­ lutherische" Kirche geworden, die aus der Gewissensfreiheit wieder unter das evangelisch-lutherische Bekenntniß und aus der Selbständig­ keit wieder unter das landesherrliche Kirchenregiment gestellt ist. Daß dies nicht bloß gegen die „Bekenntnißlosigkeit" ziele, sondern über*) Verhandlungen 1849. S 95.

Der Kirchentag und die Union.

243

Haupt gegen die Organisation, erhellt, wenn wir die andere Seite hinzunehmen. Schon 1849 hatte Nitzsch Vortrag zu halten über die Or­ ganisation der Gemeinde; weiter aber auch nichts. Nachdem einige Discussion über den sehr gründlichen Vortrag stattgefunden: beseitigt der Vorsitzende Stahl die Sache damit, daß der Gegenstand offenbar ungeeignet sei, Resolutionen zu fassen, und entschädigt den Redenden damit, daß er den Druck des Vortrags beantragt.*) Nach zwei Jahren zu Elberfeld hielt Nitzsch wiederum Bor­ trag über die Organisation der Kreissynode: und da konnte das Präsidium nicht verhindern, daß die Versammlung zu Anträgen und Beschlüssen drängte. Es wurde beantragt: „1. Die Versammlung dankt dem Herrn Referenten für den um­ fassenden und lichtvollen Vortrag, der den Gegenstand nach allen seinen wichtigen Momenten beleuchtet und die praktische Nothwendigkeit und Wichtigkeit der Kreissynode nachgewiesen hat." „2. Die Versammlung, ausgehend von der Anerkennung des Bedürfnisses, daß die Gemeinde in der kirchlichen Verfassung, da, wo dieses noch nicht der Fall ist, zu ihrem Rechte komme; spricht es als Wunsch aus, daß auf die Organisation von Kreissynoden, aus Geist­ lichen und Aeltesten bestehend, überall Bedacht genommen werde." Die Versammlung nimmt richtig fast einstimmig diese Erklärung an trotz Hengstenbergs vorangeschickter Protestation. Nun ist Gefahr. So wird denn die Versammlung, die wiederholt die Abstimmung ver­ langt, durch Protestation über Protestation, durch Appellation an ihre Großmuth und andere Motive, durch mehrmalige Abstimmungen so­ lange gepreßt, bis sie sich darin findet, von einer Beschlußnahme über den zweiten Punkt abzustehen, weil man ja den Schein vermeiden müsse, als ob man die Gunst des reformirten Versammlungsortes zu einem moralischen Zwange gegen die östlichen Lutheraner benutzen wolle. Und dann auch aus der schon beschlossenen ersten Erklärung läßt der engere Ausschuß bei der Publikation der Beschlüsse nach eignem Belieben das einzig Wesentliche weg, ohne daß ihn Jemand darüber zur Rede stellte. Die Worte: „und die praktische Nothwendigkeit und Wichtigkeit der Kreisshnode nachgewiesen" hat der Ausschuß in den von ihm publicirten Beschlüssen weglassen zu müssen geglaubt, indem er davon ausging, daß die Versammlung durch die zweite Ab*) Verhandlungen 1849. S. 77.

244

Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

stimmung jedes materielle Eingehen auf den Vortrag abgelehnt habe/") Wahrhaft erbaulich zu lesen in den Protokollen, wie muß es erst in Wirklichkeit gewesen sein. Zugleich lehrhaft für die, welche lernen wollen, wie man Beschlüsse macht und Beschlüsse zu nichte macht. Der Kirchentag geht der Union weiter zu Leibe: indem er für Herstellung des konfessionellen Wesens in den Gemeinden der unirten Landeskirchen Sorge trägt. Er dringt auf Herstellung der konfessionellen Katechismen. Er beschließt 1851 zu Elberfeld Sätze"), welche im Wesentlichen besagen: jede Gemeinde hat ein unveräußerliches und unverjährbares Recht auf den ursprünglichen Katechismus ihrer Konfession; und da keine Kirchen­ behörde eine andere Vollmacht hat als gemäß den Bekenntnißschriften zu lehren, so darf sie dies Recht in keiner Weise beeinträchtigen; und wo sie es dennoch thut, müssen die Gemeinden ihr Recht wahren, und alle übrigen ihnen darin helfen. Auf Grund dieser Sätze wird zu­ nächst dem Fürsten zu Lippe demonstrirt, daß sein neuer Katechismus den alten Konfessionskatechismen zu weichen habe. Sodann wird über den Badischen Landeskatechismus Gericht gehalten. Der Antragsteller gesteht zwar selber, nicht völlig informirt zu sein über den Gegen­ stand, die Versammlung ist es noch viel weniger: schadet nichts, es urtheilt sich viel leichter ohne gehörige Information, der Katechismus wird verworfen. Die evangelische Kirche Badens nemlich iift eine unirte, in der die Union ganz formell vollzogen, und der betreffende Katechismus ist in aller Form Rechtens von dem Kirchenregiment als unirte Lehrschrift, in der man zugleich die Lehrdifferenz auszugleichen versuchte, eingeführt worden. Das ist Grund genug, ihn auf den Index prohibitorum zu setzen. Und das durch dieselbe Versammlung, die man veranlaßt hat, aus zarter Rücksicht auf die Lutheraner sich jeder Beschlußnahme über die Organisation der Kreissynode zu ent­ halten. — Im anderen Jahre kommt der Nassauische Katechismus dran. Mit demselben summarischen Prozeßverfahren. Einer, der den Katechismus nicht ordentlich kennt, liest der Versammlung, die ihn gar nicht kennt, einige Stellen aus demselben vor, und die unvorbereitete Versammlung spricht das Verwerfungsurtheil. In Nassau ist auch die Union, und der betreffende Katechismus auch durch die Union ein­ geführt worden. *) Verhandlungen 1851. S. 51. **) Verhandlungen 1851. S. 123.

Die Union und der Kirchentag.

Der Kirchentag bücher.

sorgt

245

für Herstellung konfessioneller Gesang­

Wie sehr das im konfessionell lutherischen Sinne ge­

meint ist, erhellt an dem Entwurf, der auf seine Veranlassung jetzt durch die Eisenacher Kirchenkonferenz zu Tage gefördert ist.

Derselbe

nimmt nur Lieder aus der Zeit des reinsten lutherischen Bekenntnisses bis zum Jahre 1750 auf, spätere gar nicht, reformirte überhaupt nur 4, und der treffliche Entwurf von Dr. Geffken, der das reformirte Element und die neuere Zeit berücksichtigt, wird mit Verachtung von der Hand gewiesen. Wir könnten noch mancherlei vorführen, was indirect ebenso be­ stimmt gegen die Union angeht; wir könnten eine Reihe von Fällen anführen, wo er dringende Ursach gehabt hätte, gegen allerlei gesetz­ widrige konfessionelle Wühlereien Zeugniß abzulegen,

wenn

es

ihm

Ernst gewesen wäre mit der Anerkennung der bestehenden unirten Kirchen, wo er es nicht gethan hat. Doch das Angeführte wird ge­ nügen.

Wer daraus die Tendenz nicht erkennt: dem ist schwerlich zu

helfen, bei dem liegt der Fehler wo anders. Nur einen Gesichtspunkt wollen wir noch andeuten

wenigstens.

Die Führer des Kirchentages sind zugleich die einflußreichsten Mit­ glieder der meisten deutschen Kirchenregierungen: und die Kirchenge­ schichte des evangelischen Deutschlands in den letzten 3 Jahren hat sich ganz nach dem Programm der Konföderation entwickelt, welche die Union in ihre consessionellen Bestandtheile zersetzt. In Preußen kann man's begriffen haben. Der konfessionelle Scheidungsprozeß war bis in dies Jahr herein in Gemeinden, Geist­ lichen und Kirchenbehörden so trefflich im Gange, daß bald nichts übrig geblieben wäre von der Union außer dem Namen. — Und die offi­ ziellen Kirchenconferenzen der deutschen evangelischen Kirchenregierungen, welche auf Veranlassung des Kirchentages zu Stande kamen, und die man so weise eingerichtet hat, daß die Preußische Landeskirche mit gerade so viel Stimmen bedacht ist, als Braunschweig oder AnhaltDessau, arbeiteten

so

frisch

nach dem Leisten der lutherischen

Con-

cordienformel, daß die lutherischen Häupter bereits meinten, die Preu­ ßische Union mit Verachtung ignoriren zu dürfen. Der Stillstand, der augenblicklich in diesem Scheivungsprozeß eingetreten ist, ist warlich vom Kirchentag nicht veranlaßt und nicht gewollt. Man hat nicht gehört, daß er beim Preußischen Könige Zeugniß abgelegt hätte zu Gunsten der gefährdeten Union.

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Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

Die revolutionäre Rechtgläubigkeit. Der Cultusminister v. Bethmann-Hollweg hat in den Debatten .über das Ehegesetz auf den revolutionären Fanatismus hingewiesen, der zur Auflehnung gegen die geordneten Auctoritäten in Staat und Kirche ausrufe; und der evangelische Ober-Kirchenrath hat bereits in einem Erlaß an die Consistorien alle evangelischen Geistlichen ernstlich gewarnt, daß sie sich hüten möchten, zur Befolgung solcher aufreizenden Provokationen sich hinreißen zu lassen. Es beziehen

sich beide Auslassungen auf einen Artikel der von

Hengstenberg herausgegebenen Evangelischen Kirchenzeitung, welcher in Nr. 27 S. 309 „Protestation" überschrieben, die Maßregeln des CultuSministers zu Gunsten der Dissidenten, die Einbringung des Ehe­ gesetzentwurfs, die Rüge gegen das Königsberger Consistorium und den Erlaß des Ober - Kirchenraths vom 15. Februar d. I. *) in Sachen der Trauung als Eingriffe in die Rechte der Kirche, als Preisgebung der evangelischen Landeskirche darstellt, und schließlich nicht nur Ein­ zelne, sondern auch Vereine, Conferenzen und Synoden auffordert, für den Schutz und die Selbständigkeit der evangelischen Kirche einmüthige Protestation gegen solche Maßregeln einzulegen. Und eine solche Pro­ testation ist bereits in der Kreuzzeitung erfolgt, indem dort acht länd­ liche Kirchenpatrone aus der Provinz Sachsen als Vertreter des Her­ zogthums Magdeburg wider die ministeriellen Aeußerungen Zeugniß und Protest einlegen, und den Schutz der Obrigkeit dagegen für das Herzogthum Magdeburg anrufen. Zunächst überkommen Einen ganz andere Empfindungen als ernste, wenn man die beiden bezeichneten Protestationen liest. Entschieden einen komischen Eindruck macht es und man wird an die Siebenschläfer erinnert, wenn man in diesen junkerlichen Kirchenpatronen nach hundert­ jährigem Schlafe plötzlich das Herzogthum Magdeburg wieder aufleben sieht; wenn sie kraft ihres Kirchenpatronats nicht leiden wollen, daß irgend eine Menschenseele im Herzogthum Magdeburg von dem luthe­ rischen Katechismus und den zehn Geboten dispensirt werde, vielleicht um das Dispensationsrecht als ein altherkömmliches Recht ausschließlich für Kirchenpatrone in Anspruch zu nehmen; und wenn sie mit ihrer Protestation und Schutzforderung in die Zeitungen gehen, und damit *) Betrifft die Handhabung milderer Grundsätze bei Wiederverheirathnng Ge­ schiedener. D. H.

Die revolutionäre Rechtgläubigkeit.

247

unversehens bei der Obrigkeit vorbei an die öffentliche Meinung ge­ rathen, die sie ja sonst als den schlimmsten Götzen verabscheuen, und die ihnen auch dies Mal ihren gottseligen Eifer schlecht lohnen wird. Auch Hengstenbergs Protestation reiste uns zuerst zum Lachen, indem sie pathetisch mit der Erinnerung an die große Protestation deS Speherschen Reichstages 1529 beginnt, und dann in gespreizter Rede so fortfährt, als ob seit jenem großen Tage in der evangelischen Kirche das Protestiren aufgehört hätte, bis jetzt endlich der große Reformator Hengstenberg kommt, um den zweiten weltgeschichtlichen Act des Pro­ testantismus zu beginnen, indem er gegen den Cultusminister v. Bethmann-Hollweg protestirt und die gläubigen Streiter Gottes in'S Feld ruft. Unser großer gottesfürchtiger Luther, der, mit seinem Gewissen in Gott gebunden, nichts fragt nach Papst und Kirche, nach Kaiser und Reich, sondern

um seiner Seelen Seligkeit willen frisch und

fröhlich das Evangelium verkündigt, mag daraus werden, was da will —: und dieser rabbinisch schriftgelehrte, intrigante, pfiffige, stets politisch berechnende, seine Weisheit stets nach dem Erfolg drehende und wendende, und Gut und Ehre und Einfluß nicht vergessende Pro­ fessor Hengstenberg! Unsere großen protestantischen Väter der Re­ formationszeit, welche um ihres evangelischen Gewissens willen Gut und Blut, den Frieden des Landes und ihre Kronen auf's Spiel setzten —: und dieses kleinliche impotente Geschlecht der heutigen Kreuzritter, die ihr Gewissen vor allen Dingen in der eigennützigen Sorge für Steuerfreiheit und Jagdrecht haben, und deren ganze Frömmigkeit in der politischen und kirchlichen Unterdrückung aller übrigen Menschen zu bestehen scheint! Welch'eine lächerliche Parallele! Und bei all' dem großsprecherischen Muth zugleich die widerwärtige Feigheit, die gern recht viel Auflehnung haben möchte, aber in aller Pfiffigkeit die Sache doch so einrichtet, daß man ohne Schaden davonkommt!

Wenn

es

selber im Nothfall

den Professor Hengstenberg

so drängte, für die Wahrheit Zeugniß abzulegen, wenn er es um seines Gewissens willen nicht lassen konnte, „vor den Riß zu treten" und gegen die Maßregeln des Cultusministers zu protestiren, und wenn es „zur Ehre Gottes" nöthig war, alle frommen Bundesgenossen zu gleicher Protestation aufzufordern, warum fordert er sie denn nicht direct und mit dürren Worten auf, zu thun, was die Ehre Gottes gebietet; warum versteckt er sich denn hinter die Formel „wir hoffen — und sind in guter Zuversicht," daß sie das und das thun werden, und sichert so seinen Rücken gegen den Staatsanwalt, während

248

Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

die weniger Pfiffigen Befolger

seiner versteckten und doch deutlichen

Provokation leicht der gerechten Strafe verfallen könnten. Die Sache hat indeß sehr ernste Seiten, und es ist gut, daß sie diese hat. ES ist gut, daß es aller Welt immer mehr offenbar wird, weß Geistes Kinder diese frommen Ritter sind. Sie decken ihres Herzens Gesinnungen so deutlich auf, daß jedes einfältige rechtschaffene Christenherz mit Widerwillen sich hinwegwendet. Wir lassen alles Andere bei Seite und fassen allein ihre Stellung zur Obrigkeit ins Auge. So lange die Staatsregierung im Sinne ihrer Partei geführt wurde, da haben sie unablässig den Gehorsam gegen die Obrigkeit gepredigt, und der Obrigkeit eine Machtvollkommen­ heit zugeschrieben selbst über die Gewissen der Menschen, daß es in gewissenhafte Ohren fast wie Gotteslästerung klang. Da hat gerade Hengstenberg von allen Unterthanen und insbesondere von den Geist­ lichen eine so uneingeschränkte und servile Hingebung an die bestehende Obrigkeit gefordert, daß es sich wenig von dem Gehorsam des Je­ suiten, der bekanntlich „wie ein Leichnam" in den Händen seines Oberen sein soll, unterschied; und Alle, die es wagten, dem Gehorsam gegen die Obrigkeit seine natürlichen und gebührlichen Schranken zu setzen, wurden als Revolutionäre und Unchristen gebrandmarkt. Da. hieß es natürlich, daß man auch der wunderlichen Obrigkeit Unterthan sein müsse, und auch der fehlenden und das Gesetz übertretenden Obrigkeit den Gehorsam nicht versagen dürfe; denn das gezieme eben dem Unterthan so wenig, wie es dem Kinde gezieme, den väterlichen Willen seinem kritischen Urtheil zu unterwerfen. Wie heißt die Lehre nun jetzt? Wir haben schon neulich auö dem diesjährigen Vorwort der Evangelischen Kirchenzeitung Mitthei­ lungen gemacht, welche beweisen, daß man sich nunmehr nicht nur von der strengen Unterthänigkeit diSpensirt, sondern auch mit biblischen Worten im Munde

allerlei Aufreizungen

und Drohungen gestattet.

Wir fügen aus demselben Blatte, in welchem die Protestation steht, eine Stelle hinzu, welche die gegenwärtige Theorie unzweideutig aus­ spricht. S. 304 heißt es: „Dem wahren Christen ist es aber nimmer­ mehr gestattet, zu einem menschlichen Gesetz sich so zu stellen! Wie er es auch ehrt als den Willensausdruck der ihm-,von Gott verord­ neten Obrigkeit, so bleibt doch seinem Bewußtsein treu, daß die Obrig­ keit eben von Gott verordnet, darum aber auch ihm untergeordnet, und nur ein Mittel in Seiner Hand ist. Seinen Willen zu voll­ führen : daß daher, sobald ihr Wille mit dem ©einigen in Widerspruch

249

Die revolutionäre Rechtgläubigkeit.

tritt, Gottes Wille höher, und höher zu achten ist. Anweisungen des Machtgebers und

Denn wenn die

seiner Bevollmächtigten einander

direct zuwiderlaufen, so gilt insoweit die Vollmacht von selbst für aufgehoben und der Dritte ist lediglich an die Erklärungen des Macht­ habers gebunden und wird durch sie allein verpflichtet." Also nun­ mehr heißt die Lehre: der Obrigkeit Gehorsam, sofern und soweit sie Gottes

Willen thut;

Willen, so folgen wir Gott!

thut

sie wider Gottes

Und was ist Gottes Wille, und

wer bestimmt in jedem Falle, was Gottes Wille sei? mischen Kirche natürlich der Papst und seine Klerisei.

In der rö­ In der evan­

gelischen Kirche? — Wer sagt uns Evangelischen, was Gottes Wille sei? Wer? — Natürlich Hengstenberg und seine Genossen. Jn's Deutsche übersetzt heißt also nunmehr die Lehre: der Obrigkeit Gehorsam, sofern und soweit sie unseren Willen thut; thut sie unseren Willen nicht, so — lehnen wir uns gegen sie auf. Das ist der reine nackte Sinn dieser Lehre vom Gehorsam gegen die Obrigkeit.

Den Dissidenten Freiheit des Gewissens zu ge­

währen und sie gegen kirchliche und politische Tyrannei in Schutz zu nehmen; protestantische Christen, welche sich nicht dem Fanatismus eines orthodoxen Priesters unterwerfen mögen, die Eingehung einer Ehe ermöglichen; Consistorien, welche im Sinne Hengstenbergs ihre Geistlichen politisch maßregeln, wegen Ueberschreitung ihrer Befugniß einen Verweis ertheilen

u. dergl. m.:

Alles

das ist

wider Gottes

Willen, denn — es ist nicht nach dem Willen Hengstenbergs, und darum lehnen wir uns gegen diese Maßregeln auf, und fordern alle Genossen unserer Frömmigkeit auf, solchen Staatsregierungen, die unseren d. h. Gottes Willen nicht thun, das Leben sauer zu machen. Theorie und Praxis ist genau dieselbe, wie bei den Vätern der Ge­ sellschaft Jesu. Giebt sich eine Regierung dazu her, ihren Plänen den Arm zu leihen, so

giebt es keine größere Gottlosigkeit, als die Ab­

weichung von irgend einer Verordnung dieser Regierung. eine Regierung selber regieren,

Will aber

und erlaubt sie sich, ihren Partei­

zwecken entgegen zu treten, so giebt es nichts, was man sich gegen diese natürlich gottlose Regierung nicht erlauben dürfte. Diese Theorie und diese Praxis ist so gottlos und ihre Gott­ losigkeit so offenbar, daß es keines Wortes bedarf zu ihrer Wider­ legung. Der rechtschaffene Christ, der nicht mit seinem Christenthum ein loses Spiel treibt, weiß ohne Weiteres, daß er dem bestehenden Gesetz und der rechtmäßigen Obrigkeit Gehorsam schuldig ist, auch

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Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

wenn die Anordnungen und Gesetze seinen Wünschen

und Ansichten

nicht entsprechen; er weiß es, daß er zum allerwenigsten zum Richter über die Obrigkeit bestellt ist, ob

ihre Handlungen und Gesetze dem

Willen Gottes entsprechen oder nicht,

daß

die Obrigkeit nicht ihm,

sondern eben Gott verantwortlich ist; er weiß es, daß er den Gehor­ sam zu verweigern nur berechtigt ist, Gewissensrecht eingegriffen auf ihr Gewissen? So?

wird.

wo

Aber

ihm in

sein

persönliches

die Herren berufen sich

ja

Sie Protestiren ja um des Gewissens willen? —

Wer beeinträchtigt denn ihr Gewissen?

Wer hindert sie denn

ihres Gewissens zu leben, nach ihrem Gewissen zu denken, zu lehren, zu beten?

Was hat es denn mit ihrem Gewissen zu schaffen,

die Obrigkeit

den Dissidenten

gestattet,

ihres

wenn

eigenen Glaubens

zu

leben, wenn sie rechtsgültig Geschiedenen die Eingehung einer zweiten Ehe

möglich

schreitungen

macht,

wenn

zurechtweist?

sie Was

eine

Kirchenbehörde

hat das

wegen

mit' ihrem

Ueber-

Gewissen

zu

schaffen? — Ja doch, den frommen Gottesmännern ist nicht bloß ihr persönliches Heil Sache des Gewissens, es ist ihnen auch Gewissens­ sache, daß die ganze evangelische Landeskirche nach dem regiert werde, was sie für die Staat mit allen

göttliche Wahrheit halten; seinen Einrichtungen

Gewissenssache,

daß der

sich nach der Norm gestalte,

welche sie als den göttlichen Willen proclamiren; Gewissenssache, daß das ganze Volk ohne Ausnahme zwangsweise 'diesem ihrem göttlichen Willen und ihrer göttlichen Wahrheit unterworfen sei. — Nun gut, so beweisen sie eben damit, daß sie mit dem heiligen Namen Gewissen einen schändlichen Mißbrauch treiben.

Sie wollen, daß

ihre Ansicht

und ihr Wille für die Regierung des Staates und der Kirche maß­ gebend sein soll: das ist ihr Gewissen.

Sie nennen Gewissen, was

andere Leute Herrschsucht nennen.

„um

Und

deö Gewissens willen

der Obrigkeit widerstehen", das heißt in gewöhnliches Deutsch über­ setzt: der rechtmäßigen Obrigkeit, wo sie ihnen nicht den Willen thut, dreist in ihr gottgegebenes Amt eingreifen. Darum soll aber auch die rechtmäßige Obrigkeit nicht vergessen, daß sie ihr Schwert

trägt

zur Strafe

für

alle Nebelthäter,

mögen

sie sich auflehnen mit revolutionären Phrasen oder mit Bibelsprüchen. Die Obrigkeit soll nicht vergessen, daß sie ihr göttliches Amt zu führen hat nach ihrem Gewissen und nicht nach dem Gewissen irgendwelcher anmaßlichen Partei, und soll Jeden, der sich erdreistet, ihr in's Amt zu greifen, wäre es auch unter dem Vorwände des „Gewissens" oder des „göttlichen Willens", erkennen lassen, daß sic ihr Strafamt von Gott zu haben sich bewußt ist.

Die revolutionäre Rechtgläubigkeit.

251

Es ist dringend noth, daß die Obrigkeit den anarchischen Be­ strebungen in der Kirche gegenüber ihren ganzen Ernst geltend mache. Unter dem Namen des Gewissens hat eine gesetzlose Gesinnung in der Kirche weit um sich gegriffen, und ist leider nicht gebührlich gehindert, sondern durch parteiische Gunst vielmehr aufgemuntert worden. Es haben sich Geistliche und geistliche Conferenzen in Sachen der Union gegen bestehende Liturgieen und Gesangbücher u. a. m. viel Eigen­ mächtigkeiten erlaubt und erlauben dürfen, und Niemand hat ihnen gewehrt. Geistliche Konferenzen und Kirchentage und an ihrer Spitze Mitglieder von Kirchenbehörden haben unter dem Namen des Gewissens gegen bestehende Ordnungen agitirt, und durch Demonstrationen und Massenpetitionen vielfach gegen die geordneten Auctoritäten in Staat und Kirche moralischen Zwang geübt. Die Selbständigkeit der Kirche ist oft in einem Sinne gedeutet worden, als ob Kirchenbehörden und Geistliche auch von der Ordnung und dem Gesetz des Staates und von der Aussicht der Staatsregierung damit emancipirt seien. Und das Hengstenbergische Gebühren ist lediglich eine bittere Frucht von dieser zuchtlosen Gesinnung, die man in unserer Kirche hat üppig wuchern lassen. Dieser Zuchtlosigkeit und Eigenmächtigkeit, diesen agitatorischen Umtrieben müssen die geordneten Autoritäten in Staat und Kirche mit Ernst und Nachdruck entgegentreten. Und dem evangelischen Ober­ kirchenrath wird es Jedermann Dank wissen, wenn er verfahren, wird, wie er es in seinem Erlaß verheißt. Er kann des Beifalls Aller, die Recht und Ordnung lieben, sicher sein, wenn er selber in gewissen­ haftester Wahrung aller bestehenden Rechte und Ordnungen voran­ gehend, wider alle Ueberschreitungen der Ordnung seine Autorität ge­ bührend in Anwendung bringt. Dieses zuchtlose agitatorische Wesen mahnt uns endlich wiederum schmerzlich an den Mangel einer kirchlichen Verfassung. Hätten wir eine kirchliche Verfassung, daß die Gemeinden, die Kreise und die ganze Kirche reven könnten: wie wäre es möglich, daß einige wenige dreiste und durchtriebene Parteimänner mit ihren Wühlereien so viel Lärm und Unordnung in der Kirche anrichteten, wie würden sie vielmehr vor der gewaltigen Macht des evangelischen Gemeingeistes in ihrer Blöße und Nichtigkeit erscheinen! Wollte Gott, daß auch dieses wüh­ lerische Gebühren dazu beitragen möchte, daß die evangelische Landes­ kirche endlich zu der ihr von Rechtswegen gebührenden Verfassung gelangt.

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Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

Humboldt und das moderne Kirchenthum. Die Verurteilung der großen Männer unserer deutschen Nation, durch welche die moderne Frömmigkeit ihre eigene Rechtgläubigkeit auf das Sicherste bekunden zu können meint, die Verunglimpfungen, welche diese kleinen Kirchenseelen den Riesengeistern gegenüber ihre eigne Er­ bärmlichkeit zu verdecken vergeblich sich bemühen, hat unser großer Hum­ boldt, der letzte Heros der großen literarischen Epoche, schon bei Leb­ zeiten in reichlichem Maße erfahren, und ultramontanes Rindvieh hat sogar — freilich naturgemäß — den botanisirenden Kühen gegen Hum­ boldts Naturwissenschaft den Vorzug gegeben. Dieselbe Verurteilung hat sich bei seinem Leichenbegängniß aus­ gesprochen. „Die Geistlichkeit", welche in dem Programm des Leichen­ zuges verzeichnet stand, war nicht gegenwärtig: von den mehr als hundert evangelischen Geistlichen Berlins folgten außer dem amtlich betheiligten Generalsuperintendenten Dr. Hoffmann ihrer sieben, der Unionsrichtung angehörig, überwiegend dieselben, welche Hengstenberg schon vor Jahren als die Rotte Korah bezeichnet hat; und auch von einer Vertretung der Kirchenbehörden ist uns nichts bekannt geworden. Mag auch das Ausbleiben bei dem Einen oder dem Andern ein zu­ fälliges sein: bei der großen Mehrzahl drückt es mindestens einen Mangel an Begeisterung aus, bei den Führern der Rechtgläubigkeit bedeutet es eine entschiedene Verurteilung. Und die Gedächtnißrede, welche Dr. Hoffmann dem Entschlafenen hielt, so sehr sie sich bemühte die mildesten Seiten hervorzukehren, stimmt doch, genau betrachtet, in die Verurteilung mit ein; gerade die Mühe, welche der Redner sich geben muß Christenthum in dem großen Mann zu entdecken, zeigt am deutlichsten, daß er im Herzen es ihm nicht zuspricht. Aller Wendungen entkleidet, sagt die Rede doch eigentlich nichts anderes als: Humboldt war ein großer Mann der Wissenschaft, aber alle Wissenschaft ist Stück­ werk, und Heu, das verdorrt; auf dem Gebiete der Natur überall zu Hause und ein geschickter Führer, war er im Reiche der göttlichen Dinge ein Fremdling; und nur seine unverkennbare thätige Liebe läßt hoffen, daß der barmherzige Gott in der Ewigkeit ihm die Liebe Christi zu seiner Seligkeit offenbaren werde. Ich habe mich, als ich die Rede las, in die Seele der Trauer-

Humboldt und das moderne Kirchenthum.

253

Versammlung hineinversetzt, die aus den Vertretern der gesummten Wissenschaft und den höchsten Spitzen der Stadt und des Staates be­ stand, von denen jeder in Ehrfurcht sein Haupt vor dem Dahingeschie­ denen beugt und viele mit unwandelbarer Begeisterung zu ihm auf­ blicken, und habe mich gefragt, in welchem Lichte wohl dieser Versamm­ lung die evangelische Kirche wiederum erschienen sein mag, wenn sie mit anhören muß, wie der redende Geistliche nichts geschickteres zu thun weiß, als, wenn auch sehr vorsichtig, Betrachtungen darüber anzustellen, ob denn der große Zeitgenosse auch lebendig im Christenthum gestanden habe, und im Grunde es doch verneint. Ich weiß überhaupt nicht, was sich unsere sehr frommen Geist­ lichen denn bei den Leichenreden eigentlich denken.

Glauben sie denn,

daß die Menschen dazu sterben und begraben werden, damit priesterliche Seelen Gelegenheit haben über den Verstorbenen zu Gericht zu sitzen? Wer hat euch denn Vollmacht und Auftrag gegeben, Gericht zu halten über die Verstorbenen, seis zur Kanonisirung oder zur Ver­ werfung, seis in direkter Verurtheilung oder in anmaßlicher Hoffnung? Für die meisten Todesfälle wäre es vielleicht besser, die sogenannten Leichenreden unterblieben ganz, und das Ereigniß würde überwiegend liturgisch behandelt zur Tröstung und Aufrichtung der Hinterbliebenen. Wenn aber einmal geredet werden soll und wo einmal geredet werden muß: da ist die von Schleiermacher hergekommene Weise die einzige protestantische und wahrhaft christliche, daß nämlich der Redner — wenn er eben dieser Kunst mächtig ist — der Trauerversammlung ein Bild davon entwirft, was der Verstorbene durch Gottes Gnade für seine Familie, für seinen Beruf, für die Wissenschaft, für das Vaterland gewesen ist, und so von seinem unvergänglichen Wesen ein unverlöschlicheS Bild in die Herzen der Nachgebliebenen einzupflanzen sich bemüht. Das Richten in jeder Form ist nicht aus dem Geiste des Christen­ thums, ist ein anmaßliches Uebergreifen in Gottes Amt, das er sich vorbehalten. Doch das beiläufig. Unser modernes Kirchenthum, daS evangelische nicht minder als das römisch-katholische, spricht unserm großen Hum­ boldt daS Christenthum ab, wie eS unserm Lessing und Göthe und Schiller, unserm Hegel und Fichte und auch unserm Schleiermacher das Christenthum abgesprochen hat; es sagt auch von Humboldt: er war ein großer Mann, aber er war kein Christ. Und ich muß ge­ stehen, daß mich die dummdreiste Verdammung des bornirten Ortho-

254

Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

doxen weniger verletzend berührt als das achselzuckende anmaßliche Hoffen für seine zukünftige Seligkeit. Was hat das Urtheil zu bedeuten? folg haben?

Was wird eö für einen Er­

Wird die deutsche Nation den Vater und Fürsten der

Naturwissenschaft weniger lieben und ehren, weniger bewundern und preisen, weniger stolz darauf sein, daß er aus ihrem Schooß entsprossen? Niemand glaubt an einen solchen Erfolg, auch die orthodoxen Richter selbst nicht; in den Augen der deutschen Nation sinkt im Gegentheil ohne allen Zweifel dieses moderne Kirchenthum in demselben Maße, in welchem es sich beeifert diejenigen Männer und Erscheinungen herab­ zusetzen, in welchen die Nation ihr eigenthümliches Wesen, ihren ge­ schichtlichen Beruf und ihre

sittlichen Kräfte am

glanzvollsten sich darstellen sieht.

großartigsten und

Die deutsche Nation wird der recht­

gläubigen Beschränktheit gegenüber noch heute mit dem alten Friesen Radbod sprechen: Wenn meine großen Ahnen nicht in eurem Himmel sind, so will ich auch nicht drin sein, und lieber da sein, wo meine Ahnen sind. Die deutsche Nation wird, wenn ihr die Frage gestellt würde, unbedenklich erklären: ich will unvergleichlich lieber mit meinen großen Königen und Feldherren, mit meinen großen Denkern und Dich­ tern in der Hölle sein, als mit euch orthodoxen Priestern, im Himmel. Und fürwahr die Hölle müßte ja aufhören Hölle zu sein, und sich ihrem Namen zum Trotz wahrhaftig in den Himmel verwandeln, wenn sie uns Alles das darböte, was wir als groß und edel, als wahr und schön verehren, woraus wir für unsere Seele die schönste Nahrung ge­ schöpft haben, und mit dem wir durch alle Fäden unseres Denkens und Empfindens unauflöslich verwachsen sind. Und der gepriesene Kirchen-Himmel müßte ja in Wahrheit eine Hölle sein, wenn er uns gerade diejenigen raubte, welche in unserm Herzen das Beste und Edelste geschaffen haben, was wir besitzen, welche die Träger und Säulen des nationalen Gemeinschaftslebens sind, in welchem wir mit unserm Dasein wurzeln, und uns dafür zum Ersatz böte den ausschließlichen Verkehr mit den langweiligen ledernen orthodoxen Gesellen, die nichts kennen als dogmatische Formeln und methodische Verrenkungen, und die überdies um Zipfel und Tipfel eines bereits verwesenden Dogma's sicherlich noch in ihrem Himmel nicht aufhören werden einer den andern zu beißen und zu fressen. Gott bewahre mich vor diesem Kirchenhim­ mel, Gott lasse mich ewig lebendig bleiben an dem Leibe, an dem Männer wie Humboldt die hervorragendsten Glieder sind —: das ist ohne Zweifel das Urtheil und das Gebet der Nation, und

wird es

Humboldt und das moderne Kirchenthum.

bleibe».

255

In den Augen der Nation spricht das orthodoxe Kirchenthum

durch Verurtheilung der großen Männer lediglich sein eigenes Todes­ urtheil. Und hat denn die Nation nicht Recht in ihrem Urtheil?

Gewiß

hat sie Recht, und soll sich und wird sich durch alle orthodoxen Macht­ sprüche nicht irre machen lassen. Schon daö beweist die Verkehrtheit und Geschichtswidrigkeit des kirchlichen Urtheils, daß es denjenigen Männern und Erscheinungen das Christenthum absprechen zu müssen meint, welche unzweifelhaft aus dem Geiste des Protestantismus ge­ boren sind und als die leuchtendsten Früchte an dem Baume desselben prangen. Die Nation schließt umgekehrt und der richtige evangelische Christ muß umgekehrt schließen: das Große und Herrliche, was in neuester Zeit aus dem Geiste des Protestantismus geboren ist, hat eine ganz andere Art als das neueste Kirchenthum, also — muß das neue Kirchenthum dem Wesen des Christenthums sehr wenig entsprechen. Und so ist es wirklich. Das Christenthum ist ja nicht eine Dog­ matik, am allerwenigsten die alte orthodoxe, bas Christenthum ist Wahr­ heit, und alle Wahrheit ist aus Gott. Wer aus der Wahrheit ist, der ist aus Gott, und in demselben Maße, als Einer lebendig der Wahr­ heit hingegeben ist, ist er Gott hingegeben und fromm im wahrhaft christlichen Sinn. Er ist fromm und wahrhaft gottesfürchtig, wie wenig auch seine dogmatischen Begriffe richtig und ausgebildet sein mögen, wie wenig er auch überhaupt sein Denken auf dogmatische Gegenstände richten mag. Und wer nicht auö der Wahrheit ist, und nicht der Wahrheit nachjagt, der ist nicht fromm, und hätte er auch die aller­ christlichste alleinseligmachende Dogmatik. Wir haben nicht nöthig für unseres großen Humboldt Christlichkeit auf die vielfachen Aeußerungen hinzuweisen, welche bekunden, daß sein Gemüth von den praktischen sittlichen Wahrheiten des Christenthums gründlich durchdrungen war. Wären diese Aeußerungen auch nicht vorhanden: feine Stellung zur Natur, seine Stellung zur Wahrheit bürgt für seine Frömmigkeit. Wer so wie Humboldt mit allen Kräften seiner Seele an die Natur hingegeben, ihre Erscheinungen durchforscht, und ihre Erscheinungen zusammenschauend ihr Wesen und ihre Wahrheit zu erfassen sucht, der kann nicht anders als in der Creatur den Schöpfer derselben finden, der ist in seiner Hingebung an das Universum zugleich dem Geist des Universums hingegeben; daran kann nur zweifeln, wer Gott und Welt mechanisch auseinander reißt. Wer so wie Humboldt in seiner ganzen großartigen Thätigkeit überall von dem Geiste der Wahrhaftigkeit ge-

256

Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

tragen und getrieben wird, so daß alle seine Forschungen nichts anders bedeuten, als das Suchen und Sehnen nach der Wahrheit: der trägt den ewigen Gott der Wahrheit lebendig in seinem Herzen, wie wenig er auch geneigt sein mag von diesem Gott zu schwätzen, wie wenig ge­ neigt pietistischer Zudringlichkeit gegenüber seine, wenn auch nicht „schüch­ terne", aber keusche oder stolze „Schweigsamkeit" zu brechen. Humboldt'S Naturforschung, Frömmigkeit.

Humboldt'S Wahrhaftigkeit ist seine ächt

christliche

Und wer von euch Orthodoxen, die ihr euch zu Richtern

über ihn berufen wähnt, will sich in der Liebe zur Wahrheit mit ihm messen?

Ich will es euch nicht verhehlen.

Wer so wie ihr ein ganzes

System von Vorstellungen aus einer längst vergangenen Zeit in sich herüber zu nehmen vermag, mit dessen Wahrheitsliebe muß es schwach bestellt sein und darum auch mit seiner christlichen Frömmigkeit. Wer die Wahrheit wahrhaftig liebt, in wem die Wahrheit lebendig ist, in dem gewinnt sie eigentbümliche Gestalt, und schafft sich eigene Vorstel­ lungen und eigne Rede.

Wäre also auch eure rechtgläubige Dogmatik

richtiger als die dogmatischen Vorstellungen, die Humboldt etwa gehabt haben möchte, was ich übrigens nicht zugebe: so wäre doch immer die Wahrheit in euch ein kleiner Funke, in Humboldt eine mächtige Flamme; und darum in Humboldt ein unvergleichlich größeres Maß von Christen­ thum als in euch. Das Christenthum ist eine sittliche Religion. Das innerste Wesen der Frömmigkeit ist zugleich der innerste Keim der Sittlichkeit. Und wer die christliche Frömmigkeit lebendig in sich trägt, in dem erzeugt sie eine dem Grade ihrer Lebendigkeit entsprechende Sittlichkeit, und in demselben Maße, in welchem wir wahrhafte Sittlichkeit antreffen, müssen wir inwendige Frömmigkeit voraussetzen, wie viel oder wie wenig die­ selbe sich in Worten und Begriffen kund geben mag. Es ist nicht noth zum Beweis für Humboldts Liebe auf seine Wohlthätigkeit hinzuweisen, in der man ihm begegnet sei: — die Wohlthätigkeit ist die unterge­ ordnetste Form der Liebe. Auch seine Liebe zu Verwandten und Freun­ den fällt nicht sehr ins Gewicht: was thun wir Sonderliches, wenn wir diejenigen lieben, die uns durch ihre Liebe oder durch Bande der Natur zugewiesen sind?

Wäre das Humboldts sittlicher Werth, was hätte er

voraus vor so vielen Millionen? Humboldts Sittlichkeit liegt da, wo diese kleinen Stücke gar nicht in Betracht kommen, da wo sie eben zugleich Frömmigkeit ist.

Der Arzt, der ganz seinem Beruf ergeben

uneigennützig Tag und Nacht darauf denkt die Leiden der Menschheit zu lindern und die Gesundheit zu Pflegen; der Lehrer, dem es seine

257

Humboldt und da« moderne Kirrbenthnm.

ganze Herzenslust ist unter den Kindern zu weilen, und der alle Kräfte Leibes und der Seele daran setzt aus den Kindern der Natur wahr­ haftige gottgefällige Menschen zu bilden; der Soldat, der in ernster Entschlossenheit in den Krieg zieht, um willig und freudig für das Vaterland sein Leben einzusetzen —: diese Hingebung ist die eigentliche Sittlichkeit, und diese Sittlichkeit ist immer zugleich Frömmigkeit; denn die Hingebung an einen großen sittlichen Gedanken ist eben Hin­ gebung an einen Gedanken Gottes. Von dieser Art ist Humboldts sittlicher Werth, und in dieser sittlichen Gesinnung ist er ein Heros, der um eines Kopfes Länge hervorrägt über viele Millionen Menschen­ kinder. Ein langes Leben von drei Menschenaltern hat er in immer gleicher rastloser Thätigkeit alle die bewunderungswürdigen Kräfte seines großen Geistes an das eine große Ziel gesetzt die gesammte Natur zu erforschen und ihre Erkenntniß der Herrschaft des Menschen dienstbar zu machen, und hat sich für dieses Ziel nicht nur die ge­ wöhnlichen Genüsse und Bequemlichkeiten des Lebens versagt, sondern auch Gesundheit und Leben auf's Spiel gesetzt, und Vermögen und Würden und Ehren und das Glück des Familienlebens willig zum Opfer gebracht. Die unbedingte Hingebung an sein großes Ziel und die selbstverleugnende Opferung alles Eignen für dies große Ziel, das ist Humboldts sittlicher Werth, und darin ist er so groß. daß ihm nicht viele Menschenkinder gleichkommen. Und diese seine Sittlichkeit ist vor Allem seine Frömmigkeit. Die großartige unbedingte Hingebung an die Erforschung der gesammten Natur zum Dienst und zur Bildung der Menschheit, das ist die Hingebung an einen wahrhaft göttlichen Gedanken, die nur aus einem göttlichen Grundzuge des Herzens ent­ springen kann. Solche Gesinnung ist wahrhaftes Christenthum. Und nun ihr orthodoxen Richter, wer von Euch hat denn Lust sich mit diesem Heros in der Hingebung zu vergleichen? Wer von Euch hat denn Lust so viel zu arbeiten im Dienst der Wahrheit, wie Humboldt gearbeitet hat? Wer von Euch hat denn den Beweis geliefert, daß Ihr stets bereit und willig seid für das, was Ihr doch göttliche Gebote nennt, Gesundheit und Leben, Vermögen,. Ehre und Familie zum Opfer zu bringen? So lange ihr diesen Beweis nicht liefert, werdet Ihr es Niemand verdenken können,

wenn er nicht blos in Bezug

auf die

Wissenschaft, sondern auch im Leben geringer von Euch hält als von dem großen Genius, über den Ihr richtet, und wenn er auch daS Christenthum unsers großen Humboldt, das so gewaltige Wirkungen hervorbrachte, und ihn zudem Eure kleinlichen Verketzerungen ohne ErSpaeth, Plotestantlstbe ißauftemc.

17

258

Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

Erbitterung tragen ließ, in seinem Kerne für unvergleichlich besser und gesunder hält als das Eurige, das in solchen kleinlichen Verketzerungen den Beweis seines Geistes und seiner Kraft führt. Humboldt ist wie alle die großen Leuchten des letzten Jahrhunderts aus dem Geiste des Protestantismus geboren,

und ist

wie sie eine

wahrhafte Zierde des echten Protestantismus. Die tiefe Wahrheit seiner unermeßlichen Forschung, die sittliche Größe seiner Hingebung an den Beruf und an das Wohl der Menschheit sind Zeugen seines tief innerlichen ächt deutschen und protestantischen gottesfürchtigen Ge­ müths.

Und wenn die protestantische Kirche ihre Aufgabe recht ver­

stände, so würde sie nicht darauf verfallen sich über diesen Sohn des Protestantismus zu Gericht zu setzen und ihn mit der armseligen Elle ihrer veralteten Dogmatik zu messen und zu meistern; sie würde viel­ mehr sich zu den Füßen des großen Genius setzen, und in Fleiß unv Bescheidenheit alles das von ihm lernen, was Gott der treuen Wahr­ heitsliebe seines Jüngers

in

seiner

rastlosen Forschung

geoffenbart,

und würde die neuen Offenbarungen der Naturwissenschaften dazu ver­ wenden ihre Dogmatik von dem Ballast veralteter Vorstellungen zu reinigen und für die Zeitbildung entsprechend zu erneuern. Wenn die protestantische Kirche und Theologie also handelte: dann, aber auch erst dann hätte sie den Beruf einseitigen Richtungen der Naturwissenschaft entgegen zu treten, und auch zu den Männern der Naturwissenschaft ein Wort von christlicher Frömmigkeit zu reden.

Unsere Stellung zur Orthodoxie. Ein Sendschreiben an Herrn Dr. Rückert zu Jena. Sie haben neulich, verehrter Herr, unsere Aufmerksamkeit auf einen wichtigen Punkt gelenkt *), auf die Stellung derjenigen Richtung, die in dieser Zeitung vertreten werden will, zur kirchlichen Orthodoxie, und haben uns durch Ihre Ausführungen Anlaß gegeben wieder einmal ernst­ lich in Prüfung zu nehmen, ob denn das thatsächliche Verhältniß wie eS in der Regel angetroffen wird auch das richtige sei, und nicht viel­ mehr ein ganz andres gegenseitiges Verhalten sittlich gefordert. In der *) Unsre Stelluna zur Orthodoxie und zum OrthodoxismnS ständigunfl von Dr. Rückert Prot. K- Z. 1854 Nr. 9.

Ein Wort zur 93 er«

Unsere Stellung zur Orthodoxie.

259

Regel nemlich — das darf ick ja wol als die Voraussetzung Ihrer Rede annehmen — ist dies Verhältniß ein feindseliges: die Unsrigen werden von den Orthodoxen ohne Weiteres als Ungläubige behandelt, die in der Kirche kein Recht haben; und van den Unsrigen wieder wird immer und immer auf die Orthodoxen losgescklagen, als gäbe es für unS keine schlimmeren Feinde als eben die Orthodoxen. So sollte cö nicht sein: zu den Orthodoxen sollten wir ein brüderliches Verhältniß haben, unsere Feinde seien an anderen Orten. Sie bringen in Erinnerung, daß doch die innerlicke Stellung deS alten Rationalismus zur Orthodoxie des siebzehnten Jahrhunderts sehr eine andere gewesen sei als die unsrige zur gegenwärtigen Orthodoxie sein könne, da nicht nur unsere Richtung von dem Rationalismus son­ dern auch die gegenwärtige Orthodoxie von der des siebzehnten Jahr­ hunderts sich wesentlich unterscheide. Nicht so wie Jene es mußten, seien wir und die gegenwärtigen Orthodoxen geborene Feinde: im Ge­ gentheil es gebe zwischen uns und ihnen so viel Gemeinsames, daß von diesem das Gegensätzliche bei weitem überwogen werde. Die Orthodoxen seien ohne Zweifel gläubiae Christen: und anderes wolle doch unsere freiere Theologie auch nicht als die Thatsachen unsres christlicken Glaubens denkend begreifen. In allem, was das Wesen einer ckristlichen Theologie ausmache, ruhe unsre freiere Richtung mit der Ortho­ doxie auf denselben Grundvoraussetzungen: und die Unterscheidungen, wenn auch nicht unbedeutend, seien doch im Vergleich zu dieser gemein­ samen Grundlage untergeordnet, und von solcher Beschaffenheit, daß zwischen redlich Forschenden auf beiden Seiten eine Einigung nicht für unmöglich gehalten werden dürfte. In höherem Maße noch gelte das für die Seite des praktischen Christenthums: da haben wir alle Ur­ sache die herrlichen Leistungen der Orthodoxen anzuerkennen und ihnen nachzueifern; da müßten hinwiederum auch die Orthodoxen anerkennen, daß nicht die Orthodoxie an ihnen es sei, welche diese Thätigkeiten erzeuge, daß aber der lebendige liebewirkende Glaube auch bei den Unsrigen gefunden werde, und in ihm die Kraft, welche die gleichen Werke wirken könne und werde. So sei denn, da beide Richtungen dasselbe wollten, nemlich die Verwirklichung des Gedankens, für welchen Christus am Kreuze starb, und beide das wollten auf dieselbe evangelische Weise durch den lebendigen Glauben an die Gnade Gottes in Christo, gar kein Grund vorhanden einander zu verachten oder anzufeinden, viel­ mehr dringend geboten vereint zu wirken an dem gemeinsamen Werke und vereint zu kämpfen wider die gemeinsamen Feinde. Den Ortho-

260 doxismus

Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

freilich,

d. h.

diejenige praktisch kirchliche Richtung, velche

bemüht sei die kirchliche Lehre und das kirchliche Leben an die Formeln des sechszehnten Jahrhunderts zu fesseln nnd mit dem Buchstaben des alten Lutherthums alle freie Bewegung und Fortschreitung zu vernichten, dies gesetzliche unevangelische Wesen müßten wir mit aller Macht be­ kämpfen: dieser Othovoxismus sei aber auch nicht mehr Orthodoxie, sondern eine

völlige Entartung der Orthodoxie.

Darum gegen den

Othodoxismus das Schwert, der Orthodoxie aber die Hand des Frie­ dens. So etwa verstehe ich Ihre Rede. Wenn Sie nun mit Ihren Ausführungen unsre gemeinsame Stellung zur Orthodoxie bezeichnet zu haben wünschen, zwar nicht in dem Sinne das „irgendwem zum eignen Denken aufzudringen" noch „in der Meinung eine Partheivorstellung auszusprechen", aber doch in der „Hoffnung, daß alle die, welche der in dieser Zeitschrift vertretenen evangelisch freien christlichen Theologie ergeben sind in allem, was we­ sentlich mit dem zusammenstimmen werden", was Sie sagen: so muß darin für solche, bei denen diese Hoffnung nicht ganz zutrifft, die wie ich und nicht wenige andere Freunde unsrer Zeitung der Meinung sind, daß Ihre Ausführungen überwiegend nur eine Seite des Verhältnisses hervorheben, zur vollständigen Bezeichnung desselben aber noch eine andere nicht minder wesentliche Seite ins Auge gefaßt werden müsse, für solche muß, damit unsre Stellung zur Orthodoxie einen allseitigeren Ausdruck ge­ winne, in Ihrer Rede natürlich die Aufforderung liegen auch ihrerseits auszusprechen, was sie ergänzendes dazu zu sagen haben. Und das wird gradezu unerläßlich erscheinen, wenn diese andere Seite, die wir zur Ergänzung hervorheben zu müssen meinen, von solcher Beschaffenheit ist, daß uns aus ihr für den praktischen Zweck, zu welchem Sie ja doch Ihre Rede gethan haben, nemlich für die Frage nach der Bundesge­ nossenschaft ein wesentlich anderes Resultat zu erwachsen, und damit auch die sittliche Aufgabe wesentlich anders gestellt werden zu müssen scheint. Ihnen aber wird solche Aussprache ohne Zweifel erfreulich sein, da Sie der Orthodoxie die Hand zur Gemeinschaft bietend mehr noch und vor allen Dingen mit den Genossen Ihrer kirchlichen Richtung über so entscheidende Fragen gründliche Verständigung wünschen werden.

Und

ich bedauere nur, daß mir erst dies Blatt unserer Zeitung Raum ge­ währt, meiner Absicht sowie dem Verlangen mancher Freunde — und ich denke auch Ihrem Wunsche — Genüge zu thun. Allerdings nemlich halten wir — und das heißt nun ein für alle Mal eine

Anzahl von

unsern

kirchlichen Gesinnungsgenossen, deren

261

Unsere Stellung zur Orthodoxie.

Uebereinstimmung mit meiner Aussage ich bestimmt weiß — wir halten eine praktische Einigung mit den Orthodoxen zu gemeinsamem kirchlichen Wirken nicht für so möglich, als Sie dieselbe zu halten scheinen. Etwa weil wir weniger versöhnlich wären?

Das werden wir

Ihnen nimmermehr zugestehen, an Unionssinn gedenken wir uns von Ihnen und andern nicht übertreffen zu lassen. Ich meineStheils, so wenig das auch Manchem bei meiner polemischen Art einleuchtend werden mag, reiche mit meinem Unionssinn bis in die äußersten Grenzen der christlichen Kirche, und kann mich des Gemeinsamen herzlich freuen bei weitgreifendem Gegensatz.

Unter den Orthodoxen habe ich manche

lieben Freunde, denen ich mein Leben lang Freundschaft bewahren werde und — soviel an mir liegt — auch kirchliche Gemeinschaft. Auch in römisch-katholischem Gottesdienste kann ich Erbauung finden, wo nur noch Strahlen christlichen Wesens Hindurchbrechen; und mit dem priester­ gehorsamen, wallfahrenden, heiligenanbetenden, reliquienverehrenden Katholiken suhle ich mich im Glauben einig, wo ich unter den aber­ gläubigen Verhüllungen sein Herz in Andacht auf Gott sich richten sehe, ich könnte getrost das heilige Mal der Liebe mit ihm feiern, wo­ fern nur ihm das möglich wäre. Ich meinestheils bin grundsätzlich auf Gemeinschaft gerichtet, soweit ich Gemeinsames wahrnehme; und bin Willens bestehende Gemeinschaft niemals um Differenzen willen aufzukündigen, so lange Gemeinsames bestehen bleibt, halte vielmehr alle solche Aufkündigungen für die Unart des alten Exkommunikations­ wesens, das sich aus der römischen Kirche in die protestantische Streit­ theologie mitherüberverzogen hat, und jetzt glücklicherweise fast nur noch bei Theologen angetroffen wird, während die Christenheit im Großen und Ganzen zu einem höher» Grade des sittlichen Gemeinschaftssinnes sich aufgeschwungen hat. Ich also und diejenigen Freunde, die mir gleich denken, wir wollen wahrlich nicht weniger auf kirchliche Gemein­ schaft mit den Orthodoxen gerichtet sein als diejenigen Freunde, deren Anschauungen Sie ausgesprochen haben. Ich setze vielmehr diese ge­ meinschafthaltende und gemeinschaftsuchende Gesinnung bei allen vor­ aus, die sich zu unserer Richtung bekennen, und könnte mir einen solchen, dem diese Gesinnung fehlte, recht eigentlich noch nicht unter denUnsrigen denken. Zu einer thatsächlichen Vereinigung indeß ist doch erforderlich, daß auf beiden Seiten dieselbe Möglichkeit der Gemeinschaft gegeben sei. Wenn nun ich allerdings den abergläubigen, aber frommen Katho­ liken als einen

christlichen Glaubensgenossen

zu

lieben vermag, hat

262

Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

darum auch

er

als

echter römischer Katholik schon

die Möglichkeit

in mir etwas anderes zu sehen als einen verdammten Ketzer?

Wenn

ich allerdings den orthodoxesten Protestanten für einen solchen betrachte, zu dem ich im Verhältnisse der Kirchengemeinschaft stehen soll und will, läßt denn auch ihm seine Orthodoxie es zu, mich für einen Gegen­ stand seiner Kirchengemeinschaft zu halten und nöthigt ihn nicht etwa vielmehr auf mich mit Bekümmerniß zu blicken als einen solchen, der den Weg zur Bereammniß wandelt?

An unserm Willen mit den

Orthodoxen Gemeinschaft zu halten, zweifle ich in keiner Weise; und unsre Union muß stets so construirt sein, daß sie in ihrem Gebiet auch den Orthodoxen vollen Raum und volles Recht gewährt.

Aber

ob auch die Orthodoxen an ihrem Theile die Möglichkeit haben mit uns Gemeinschaft zu halten; ob nicht vielmehr die Natur

der Orthodoxie etwas

an

sich habe,

das sie

daran hindere, und uns nöthige — eben um der Gemein­ schaft willen— sie unablässig zu bekämpfen: das ist die Frage, gegen deren

Verneinung

uns

erhebliche Bedenken

aufsteigen.

erscheinen hier die Hindernisse der Einigung sehr bedeutend.

Uns

Und wenn

ich Sie dem Rudolph Stier so begeistertes Lob spenden sehe, der doch seine „unlutherischen Thesen" wol nicht zur Einigung mit den Orthodoxen geschrieben hat, sondern sich ja viel lieber mit rechtschaffe­ nen Rationalisten untren will, so will es mir vorkommen, als ob auch bei Ihnen der Wunsch der Einigung stärker sei als der Glaube an seine Erfüllung. Ich folge Ihrer Betrachtung. Sie stellen zunächst neun Hauptsätze auf, in welchen nach Ihrer Meinung unzweifelhaft „das Wesen einer christlichen Theologie" bestehe; und sagen von diesen aus, daß sie für unsere freiere Theologie so wie für die Orthodoxie in gleicher Weise die Grundlage bilden. Sie verhehlen dann weiterhin nicht die bedeu­ tenden Lehrabweichungen beider Standpunkte, finden aber, daß sie doch nur Differenzen seien auf derselben wesentlichen Grundlage, und des­ halb darüber Einigung müsse möglich sein. Bei dieser Lehrvergleichung tritt uns sogleich eine Schwierigkeit entgegen, die Sie scheinen nicht in Anschlag gebracht zu haben.

Wir

haben unter den Unsrigen Männer von sehr verschiedener theologischer Anschauung, solche die sich im Schleiermacherschen Lehrshstem bewegen, solche die von Hegel oder Daub hergekommen sind, und solche die dem alten Rationalismus treu anhangen; Männer, von denen in der Stel­ lung zur Schrift und Urgeschichte die einen mehr Reander folgen, die

Unsere Stellung zur Orthodoxie.

andern mehr Baur, und noch

263

andere eine mittlere oder selbständige

Stellung einnehmen. Sollte es wirklich allen diesen so unzweifelhaft sein, daß in den von Ihnen aufgestellten neun Sätzen „das Wesen einer christlichen Theologie" bestehe? Wir meinen, eine einzige Erinne­ rung an die verschiedenen Grundlagen der bezeichneten Systeme genügt, um das Gegentheil unzweifelhaft zu machen, daß nemlich jedes dieser Systeme, wenn es sich über das Wesen der christlichen Theologie auSsprechen müßte, Sätze aufstellen würde, die sowol von den Ihrigen, als von denen jedes andern Systemes nicht unwesentlich abweichen würden, ja daß es überhaupt wol schwerlich gelingen dürfte, die Männer dieser verschiedenen Systeme unter irgend welche wenn auch nur wenige und grundlegende Lehrsätze zu vereinigen. Sollten Sie nun etwa daraus schließen wollen, daß diese Wirklichkeit nicht gut sei, daß es nicht so sein sollte wie es ist, vielmehr zu den Unsrigen nur solche gezählt werden sollten, die sich zu jenen wesentlichen Sätzen bekennen: so müßten wir dem auf daö entschiedenste widersprechen, indem wir vielmehr das thatsächliche Verhältniß für das unsern Prinzipien angemessene erachten. Wir halten dafür, daß unser kirchliches Princip die verschiedensten theologischen Richtungen auf seinem Grunde trage, auch solche die über keine grundlegenden Lehrsätze einig werden können, daß in unsrer kirch­ lichen Richtung Tübinger und Neandersche, Rationalistische und Hegelsche und Schleiermachersche und andere Theologen und zwar jeder zu vollem Recht miteinander sein sollen. Wir rechnen uns eben diese theologische Mannigfaltigkeit, um derentwillen die Gegner sich für be­ rechtigt halten uns alle Verachtung zu beweisen, zu besonderem Ruhme und würden mit jeder Beschränkung dieser Wirklichkeit nach dem Maße grundlegender Lehrsätze von unserm kirchlichen Princip abzuweichen meinen. Verhält es sich aber so mit unserm Princip wie wir es auf­ fassen, wie übrigens auch unser Eisenacher Programm im Grunde dasselbe besagt; gehört eö geradezu zum Bekenntniß unsres Standpunktes solche theologisch unvereinbare unter uns vereinigt zu haben, wie wir denn dies Bekenntniß durch die Aufforderung solcher Unvereinbaren zur Mitwirkung an unserer Zeitung thatsächlich abgelegt haben: so erwächst hieraus der Vereinigung auf dem Wege der Lehrvergleichung eine un­ überwindliche Schwierigkeit, da ja das Verhältniß unsrer Theologie zu der Orthodoxie wegen der Unfaßbarkeit in gemeinsame Lehrsätze, welche die mistige wenigstens gegenwärtig noch an sich hat, ein Verhältniß zweier incommensurabler Größen ist. und daher höchstens zwischen ein-

264

Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

zelnen theologischen Systemen und dem System der Orthodoxie eine Vergleichung stattfinden könnte. Indeß ich will einmal annehmen, diese Schwierigkeit wäre nicht vorhanden, es ließen sich wirklich die Männer unserer Richtung allesammt unter Ihre neun Sätze vereinigen, oder aber doch, es handelte sich um eine Einigung mit der Orthodoxie nur für diejenigen von uns, die diese Sätze annehmen können. So wird Ihnen zunächst Niemand die Meinung zuschreiben dürfen, als wollten Sie die Einigung so zu Stande bringen, daß die beiden Theile von den gemeinsamen Grund­ sätzen auS sich zuvor auch über die Differenzen theologisch verglichen und die gewonnene theologische Vergleichung zur Grundlage der dann zu bewirkenden praktischen Einigung machten.

Es müßte ja sonst die

praktische Einigung noch weit hinausgeschoben werden; oder richtiger, da die theologische Einigung überall nur schwer, ja der Erfahrung nach niemals vollständig zu Stand kommt, gänzlich unterbleiben. Wenn ich Sie recht verstehe, so soll vielmehr das Bewußtsein um die große Gemeinsamkeit des theologischen Grundes eben schon genügendes Motiv für die praktische Vereinigung sein, ohne Rücksicht darauf wann und ob die bestehenden theologischen Differenzen ausgeglichen werden möchten. Schon aber wenn ich dasjenige ansehe, welches Sie als das Uebereinstimmende zwischen der orthodoxen Theologie und der Ihrigen bezeichnen, besorge ich, daß schon um dieser Sätze willen keinem richtigen Orthodoxen gegeben sein möchte sich mit Ihnen und ähnlich theologisirenden praktisch zu vergleichen. Wenn Sie in Ihrem vierten Satze die „Erlösung" „in, die Aufhebung der Sünde selber setzen, welcher die Aufhebung ihrer Wirkungen unausbleiblich folgen müsse;" wenn Sie im siebenten Satze die Menschheit „nach Aufhebung der Sünde in das (rechte) Verhältniß zu Gctt zurückkehren" lassen; wenn Sie im achten Satze den Glauben als die „selbstthätige Aneignung des Heils auffassen, und die „Lösung von der Schuld der Sünde" von dieser menschlichen Selbstthätigkeit abhängig machen, und von der Orthodoxie behaupten, daß auch sie mit der Aufstellung deS Glaubens als Heilsbedingung „die Theilnahme am Heil an sitt­ liche Bedingungen angeknüpft" habe: meinen Sie wirklich, daß unter denjenigen, welchen eö mit der Orthodoxie ein rechter Ernst ist, irgend jemand gefunden werde der gegen diese Sätze „keinen Widerspruch entgegenstellen könne oder wolle," oder gar in denselben grundlegende Sätze

seiner Orthodoxie

wiedererkennen

würde?

Orthodoxe wird Ihnen entgegenhalten, daß

Wir meinen, der

ja die Kirchenlehre den

265

Unsere Stellung zur Orthodoxie.

Glauben ausschließlich als eine göttliche Wirkung fasse, und darum das Heil niemals an eine Bedingung menschlicher Selbstthätig­ keit genüpft, vielmehr jede menschliche Mitwirkung auf das Nachdrück­ lichste verworfen habe; daß ebenso die Kirchenlehre niemals die Erlö­ sung von der Aufhebung der Sünde abgeleitet, sondern umgekehrt diese immer erst als eine Wirkung der bereits vorangegangenen ausschließlich durch Gott gewirkten Erlösung dargestellt habe; und daß daher Ihre Sätze die Heilsordnung geradezu auf den Kopf stellen, und recht eigent­ lich die grundstürzenden Irrlehren des Pelagianismus enthalten: und wir hegen gerechte Zweifel, ob er Neigung haben weroe mit einem, der so tief im Pelagianismus stecke, christliche Brüderschaft zu machen. Und wenn er in Ihrem vierten Satz liest — „wir erkennen die Schwierigkeit, ja fast Unmöglichkeit, daß diese Erlösung von der Menschheit selbst ausgehe": so wird das einzige Wörtchen „fast" ihm genügen, Sie für einen solchen zu halten, der noch nicht wisse, ob er an sich selbst oder an Christum glauben solle, und mit dem daher über christliche Lehre noch gar nicht zu verhandeln sei. Und dann die Differenzen, die Sie selber als solche angeben. Die Erfahrung lehrt, daß schon die Verneinung der anerschaffenen Gerechtigkeit, die Verwerfung der Erbsündenlehre und dergleichen in den Augen des Orthodoxen Ketzereien sind, denen er nimmermehr den Zu­ gang in das kirchliche Lehramt glaubt gestatten zu dürfen. Die Erfah­ rung lehrt, daß er meinen wird der Abweisung noch einigen Hohn hinzuthun zu müssen, wenn er liest, daß Sie in dem Erlösungswerk „zwar eine göttliche Unterstützung dankbar anerkennen, aber die Sündentilgung selbst als einen ethischen und also subjectiven Vor­ gang denken." Aber wenn Sie Christum zwar als schlechthin heilig, doch wesentlich als einen Menschen fassen, der eben nur „in seinem Wollen eins mit Gott gewesen", während die Orthodoxie eine „gött­ liche Wesenheit" annehme: so wird der Orthodoxe diese Unterscheidung ohne Zweifel anerkennen, aber eben als eine solche, an der christliche und unchristliche Theologie, Glaube und Unglaube sich scheiden, er wird es sich nicht ausreden lassen, daß wer die Gottheit Christi leugnet, zu den Ungläubigen gehöre. Und wenn Sie in Bezug auf die Schrift sagen — „wir halten sie in hohen Ehren, geben uns mit Freuden dem geistbelebenden Eindruck hin, den sie in ihren vornehmsten Theilen auf unö macht, wir lernen Christus aus ihr kennen und erkennen an Paulus, was der Glaube an ihn aus einem Menschen machen kann; in vielfacher Beziehung ist sie uns ein Buch, das wir

um

keinen Preis

266

Sammlung ausgewählter Schriftstücke-

hingeben möchten" —: so wird er nur darüber zweifelhaft sein, ob er in solcher Ausdrucksweise die vermessene Ueberhebung des Unglaubens oder die lichtfreundliche Verhöhnung des Wortes Gottes für größer halten solle; unzweifelhaft werden ihm Ihre Ausführungen, daß Sie Ihre Theologie

nicht aus der Schrift gewinnen,

selben Quellen,

aus welchen alle andere Wissenschaften

sondern

aus den­

fließen, und

Ihre vier beweisenden Sätze ebenso viele sichre Beweise sein, daß Sie in Ihrem Glauben und Wissen Sich nicht auf das Wort Gottes gründen, sondern auf Ihre eigne Vernunft, daß Sie demnach ein­ fach zu den Nationalisten d. h. zu den Ungläubigen gehören.

Haben

Sie jemals diese Ihre Stellung zur Schrift und zur Vernunft bekannt, haben Sie dazu bekannt, wie Sie es thun, daß Sie die Offenbarung weder für übernatürlich noch für unbegreiflich erkennen; haben Sie die göttliche Wesenheit Christi geleugnet, und dazu die Erlösung von der menschlichen Selbstthätigkeit abhängig gemacht:

so

können

wir uns

keinen Orthodoxen vorstellen, der dann noch die geringste Lust haben könnte, sich mit Ihnen einzulassen, und nicht vielmehr mit Gering­ schätzung sich von Ihnen abwenden würde als von einem gemeinen Rationalisten und Pelagianer. Es erscheint uns dies Verhalten des Orthodoxen auch sehr natür­ lich. In Ihrem herzlichen Verlangen nach Verständigung scheinen Sie doch die Bedeutung der bezeichneten Differenzen ein wenig niedriger angeschlagen zu haben, als sie in Wirklichkeit für die verschiedenen Systeme es sind. Ob Christus wahrhaftiger Gott und Mensch in einer Person, oder lediglich heiliger Mensch sei; ob Gott als der allwirksame das Heil in dem lediglich empfänglichen Menschen ausschließlich selber wirke, oder ob dasselbe in einer Wechselwirkung zwischen Gott und dem in Freiheit relativ selbstständigen Menschen zu Stande komme; ob die Erscheinung Christi als ein übernatürliches und unbegreifliches Herein­ brechen göttlicher Causalität in den Lauf der Natur und der Geschichte, oder als eine vollkommen begreifliche natürliche und geschichtliche That­ sache zu fassen sei; ob alle christliche Erkenntniß und auch alles christ­ lich theologische Denken

an der Schrift als

dem

absoluten Worte

Gottes ihre einzige Quelle und ihren untrüglichen Maßstab habe, oder wie alle andere Erkenntniß aus Begriff und Erfahrung herzuleiten und die Schrift nur als die historische Urkunde von dem Urchristenthum anzusehen sei: wir denken, das sind Fragen von so grundlegender Be­ deutung für ein theologisches System wie nur irgendwelche andre es sein können; und wo theologische Systeme in diesen Punkten nach ver-

267

Unsere Stellung zur Orthodoxie.

schiednen Richtungen auseinandergehn, da dürfte, wenn eine verhältnißmäßige Lehreinheit Bedingung und Motiv für die praktische Einigung sein sollte, für diese wenig Aussicht gegeben sein. Und diese wird uns noch geringer: wenn wir in Rechnung bringen, daß es sich bei solcher Lehrvergleichung für die praktische Verständigung nicht sowol darum handelt, ob in dem, was wirklich die Prinzipien der verschiedenen Systeme ausmacht, die Einheit oder die Differenz überwiege, als viel­ mehr darum, wohin in den Augen derjenigen, die einem Systeme anhangen die Schwerpunkte fallen. Denn da kann wol nicht geleugnet werden, daß gemeiniglich und insbesondre von jeder Orthodoxie gerade immer den Differenzen eine übergebührliche Bedeu­ tung beigelegt wird, wie ja die verschiedene Auffassung des Abendmahles als fundamentaler Grund gelten mußte und noch heute wieder dafür gelten soll, die evangelische Kirche in zwei feindliche Lager zu spalten; und kann nicht geleugnet werden, daß die Sätze von der Gottheit Christi, von der ausschließlichen Leidentlichkeit des Menschen sowie von der absoluten Dignität der Schrift unsrer heutigen Orthodoxie gerade als die Grundlagen und die entscheidenden Kennzeichen einer christlichen Theologie gelten. Es müßte also — so scheint uns — mit der Ein­ heit in den Fundamenten der Lehre sehr viel günstiger bestellt sein, wenn diese Hoffnung zu einer praktischen Verständigung gewähren sollte zwischen den Orthodoxen

und solchen, die in Aehnlichkeit mit Ihnen

theologisiren. Die theologischen Differenzen indeß könnten immerhin sehr viel geringer sein als sie es wirklich sind, ohne schon eine praktische Eini­ gung zu ermöglichen. Sie werden nicht in Abrede stellen, daß in Be­ zug auf die Prinzipien der Lehre die altprotestantische Dogmatik, wie sie z. B. in der Augsburgischen Konfession auftritt, mit der römischkatholischen unvergleichlich mehr Gemeinsames hatte als Ihre Theologie mit eben der protestantischen Orthodoxie, und doch werden Sie der Geschichte Recht geben, die mit göttlicher Gewißheit über alle theolo­ gischen Einigungsversuche hinwegschritt.

Worin hatte doch das seinen

Grund? — Sie selber sagen gelegentlich, daß ja doch „das Wesen des Christen nicht in seinem Denken, sondern in seinem Wollen, daher auch nicht in seiner Vorstellung von Christus,

sondern

in seiner

Liebe zu Christus ruht", und wollen damit doch darauf hingedeutet haben, daß bei aller theologischen Differenz für den Christen noch Einheitsgründe vorhanden sind,

die tiefer liegen als alle Theologie.

In diesem Satz ist der Grundgedanke ausgesprochen, auf welchem wir

268

Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

den ganzen Nachdruck legen, und von welchem sich uns in Bezug auf die vorliegende Frage folgende Gedankcnreihe aufuöthigt. Leben und Denken, religiöses Leben und theologisches Denken sind ganz verschiedene Dinge, und sind für die Betrachtung streng ausein­ anderzuhalten. Religiöses Leben und theologisches Denken entwickeln sich nicht immer gleichmäßig: nicht selten bleibt das eine hinter dem andern zurück, nicht selten gehn sie bis zum Gegensatz auseinander. Daher geschieht es, daß bei hoher Ausbildung theologischen Denkens ein geringer Grad religiösen Lebens angetroffen wird, und daß das religiöse Leben sehr mächtig sich zeigt, wo das Deuten völlig unentwickelt geblieben. Daher geschieht es, daß bei gründlicher Einheit des religiösen Lebens die theologischen V orstellungenzu scharfen Gegensätzen auseinandergehn; und daß hinwiederum anderwärts eine große Gleichmäßigkeit theologischen Vor­ stellens sich kundgiebt, wo dock die religiöse Stellung dieser gleichartig theologisirenden Subjekte im innersten Grunde entgegengesetzt ist. Das religiöse Leben eines Menschen liegt tiefer als sein theolo­ gisches Denken, das Wesen des religiösen Menschen liegt nicht im theologischen Denken, sondern im religösen Leben d. h. in der Stellung seines Gemüthes zu Gott. Das religiöse Leben eines kirchlichen Ge­ meinwesens liegt tiefer als seine Theologie; nicht in seiner Theologie hat es sein Wesen, sondern in seinem religiösen Gemeinschaftsprinzip. Für die Beurtheilung des Verhältnisses religiöser Menschen und des Verhältnisses religiöser Gemeinwesen, für die Frage nach ihrer Einheit und Unterscheidung, kommt daher nicht sowohl die Stellung der Theologie in Betracht als vielmehr und vor allem die Stellung des religiösen Lebens, die Tbeologie giebt nur ein Moment für die Beurtheilung aber nicht das entscheidende. Es ist eben so verkehrt als herkömmlich, wenn man nach den Unterschieden der verschiedenen Konfessionen fragt, daß einem vor allen die theologischen Lehrunterschiede vorgezählt werden: Konfessionen leiten ihre unterschiedene Gestaltung tiefer her als aus Lehrdifferenzen, sie leben aus unterschiedenem kirchenbildenden Prinzip. Der wesentliche Unter­ schied zwischen dem Katholizismus und Protestantismus kommt in den Differenzen der beiderseitigen Lehrshsteme

so gut wie gar nicht zum

Vorschein; der Schwerpunkt der Unterscheidung zwischen lutherischem und reformirtem Wesen liegt ganz wo anders als in der Prädestinations- und Abendmahlstheorie. Will man die Unterschiede begreifen, so muß man vor allem die innere religöse Stellung des Gemeinschaft-

Unsere Stellung zur Orthodoxie.

269

lebens beobachten, und in dem individuellen historischen Lebenstrieb nachforschen, aus dem die Gemeinwesen geboren sind. Handelt es sich daher um die praktische Einigung religiöser Men­ schen oder religiöser Gemeinwesen, so wird zwar ibre unterschiedliche Theologie mit in Betracht gezogen werden, aber keineswegs die Ent­ scheidung geben; die Entscheidung wird davon abhängen, ob dort die religiöse Lebensstellung der Subjekte, hier die Gemeinschaftsprinzipien der Gemeinwesen so gleichartig oder so ungleichartig sind, daß sie sich einigen lassen oder nicht. Ist die religiöse Lebensstellung so verschieden, stehen die kirchenbildenden Prinzipien in so unvereinbarem Gegensatz, wie das zwischen der römischen und der evangelischen Kirche der Fall ist, so kann von einer praktischkirchlichen Vereinigung weder des einzel­ nen echten römischkatholischen mit dem einzelnen echten protestantischen Christen noch gar beider Kirchen irgend die Rede sein, wenn es auch gelänge die Unterschiede ihrer Lehrshsteme völlig auszugleichen. Ist dagegen die Lebensstellung zum Wesen des Christenthums so gleichartig und sind die kirchenbildenden Prinzipien so sehr verwandt, wie bei der reformirten und der lutherischen Kirche das der Fall ist, so wird und muß die praktischkirchliche Vereinigung beider Theile zu Stande kommen, möchte auch die Lehrentwicklung weit verschiedenere Wege gegangen sein. So auch ist für unsre kirchliche Richtung zur praktischen Vereini­ gung mit andern kirchlichen Personen und Richtungen Aussicht vorhan­ den, wo die beiderseitige religiöse Stellung und die beiderseitige Stel­ lung zum kirchlichen Gemeinschaftsprincip gleich oder verwandt ist, mit solchen können und werden wir uns vereinigen, und möchten wir auch nicht über einen Lehrsatz einig werden. Und darum eben einigen wir uns thatsächlich mit Männern der verschiedensten theologischen Richtungen, in welchen die protestantische religiöse Gemüthsstellung und der kirchliche Grundtrieb des Protestantismus lebendig sind. Wo dagegen die religiösen und kirchlichen Prinzipien anderer Personen und und Richtungen von den unsrigen weit abgehn, da ist auch bei größer Lehrverwandtschaft die Aussicht auf Einigung nicht gegeben. Betrachten wir nach diesen Grundsätzen unsre Stellung zur Ortho­ doxie, so kommt natürlich vor allem das in Frage, ob denn die Ortho­ doxie ihren Schwerpunkt mehr in der Theologie habe oder in den kirchlichen Principien. Ueber unsre Richtung nemlich kann in der Beziehung ja wol kein Zweifel obwalten: sie ist eine kirchliche, nicht eine theologische. Wir sind uns bewußt eine gemeinsame Stellung zu den Prinzipien des kirchrichen Gemeinschaftslebens zu haben, das haben

Sammlung ausgemahlter Schriftstücke.

270 wir mit dem

Eisenacher Programm

bekannt, dazu

haben wir uns

Männer verschiedener theologischer Denkweise vereinigt.

Unsre Rich­

tung ist so sehr eine kirchliche, daß wir als Richtung gar keine Theologie haben und wie ich hoffe niemals haben werden. Wäre nun die Orthodoxie eine überwiegend oder ausschließlich theologische Richtung, so müßten wir die Frage nach unsrer Stel­ lung zur Orthodoxie von vornherein für eine ungeschickte halten, eS fände, wie schon bemerkt, zwischen ihr und unsrer Richtung gar keine Vergleichung statt, weil eben

beide unvergleichbaren Gebieten ange­

hörten, es könnte höchstens die Orthodoxie mit der Theologie dieses oder jenes Mannes unserer Richtung verglichen werden; so könnte von einer praktischen Vereinigung der Orthodoxen mit unsrer Richtung gar nicht geredet werden, sondern nur etwa von der praktischen Vereinigung dieses oder jenes orthodoxen Mannes mit unS, deren Gelingen oder Mißlingen aber dann lediglich von seiner Stellung zu unsern kirch­ lichen Prinzipien

abhängen

und mit seiner Orthodoxie nichts

schaffen haben würde. Wir indeß können die gegenwärtige Orthodoxie

zu

nicht für eine

theologische Richtung halten, wir finden als ihren Grund eine kirchliche Stellung. Wer die Orthodoxie für eine theologische Richtung nehmen wollte, den würden wir zunächst an die gegenwärtige Wirklichkeit erin­ nern, daß ihm nemlich für diese Richtung geradezu die Leute fehlen würden. Gegenwärtig wenigstens nehmen die Orthodoxen allesammt eine praktisch, kirchliche Stellung; und ich wüßte in der That in Deut­ schen Landen keinen orthodoxen Mann aufzuweisen, dessen Orthodoxie nicht mit seiner kirchlichen Stellung in innigem Zusammenhang stände. Gegenwärtig ist das kirchliche in ihrer Stellung so überwiegend und maßgebend, daß sie, um ja nur die kirchliche Position nicht irgendwie zu alteriren, gar gerne, was sie auö der Geschichte und Kritik und Philosophie vormals gelernt hatten, wieder vergessen, oder andre auch froh sind niemals was gelernt noch gedacht zu haben. Und das halten wir nicht etwa für zufällig an der gegenwärtigen Orthodoxie, unS scheint es in der Natur aller Orthodoxie zu liegen, daß sie einen kirchlichen Grund habe. Sie selber, wenn Sie (S. 180) die Ortho­ doxen als diejenigen Gläubigen bezeichnen, „welche ihren Glauben auf dem Grunde der Schrift zu erbauen und in der Form des kirchlichen Lehrbegriffs zu fassen streben", scheinen

uns

damit die Orthodoxie

überwiegend als eine kirchliche Richtung zu deuten. Und eben darin erkennen wir ihr Wesen. Uns hat die orthodoxe Theologie ihr

Unsere Stellung zur Orthodoxie.

271

Wesen in der Uebereinstimmung mit dem kirchlichen Lehrbegriff, und zwar

eben

weil

er der kirchliche ist.

Nicht daß ein Theo­

loge in seiner Theologie mit dem kirchlichen Lehrbegriff gerade zusammentrifft, macht ihn zum orthodoxen, son­ dern daß er den kirchlichen Lehrbegriff hat, weil es der kirchlich gültige

ist.

Nicht auf Uebereinstimmung mit einer ge­

wissen theologischen Substanz kommt es an für Orthodoxie, sondern auf Uebereinstimmung mit dem kirchlichgültigen. Und daher eben kommt es und nur daher kann es kommen, daß in jeder Kirche eine andre Lehre die orthodoxe ist; und das was an dem einen Orte als Orthodoxie gelehrt werden muß, an dem andern als Ketzerei ver­ worfen wird. zurück

Selbst also die Theologie des Orthodoxen weist uns

auf einen

kirchlichen Grund.

Und gleicherweise die anderen

Symptome. Uns ist es Ueberzeugung: das Wesen des Orthodoxen lieg t in seiner Stellung zur Kirche. Haben wir nun darin Recht, daß wir die Orthodoxie als eine kirchliche Richtung auffassen, und kann und muß sie daher allerdings mit der unsrigen verglichen werden, so kommt es uns dann für diese Vergleichung natürlich nicht sowohl darauf an, ihren Lehrgehalt als vornehmlich die Grundlagen ihrer kirchlichen Stellung ins Auge zu fassen, ob sie verwandtschaftlich oder gegensätzlich zu den unsrigen sich verhalten. Und da urtheilen wir, daß die kirchlichen Grundsätze der Orthodoxie in unvereinbarem Gegensatz zu den unsrigen sich befinden. Gerade in der Stellung, welche sie der Lehre in der Kirche giebt, will uns das besonders einleitdjtenb erscheinen.

Die Orthodoxie will

Einheit der Lehre, ein und dieselbe von der Kirche festgestellte Lehre soll in der ganzen Kirche herrschen: wir wollen daß weite Mannig­ faltigkeit der Lehre in der Kirche berechtigt sei, wie sie die Ent­ wicklung natürlich hervorbringt.

Die Orthodoxie will Reinheit der

Lehre, die einige bestimmte Lehre soll eine gegebene und fertige sein: wir wollen die fortschreitende Entwicklung der Lehre, daß die kirch­ liche Lehre in stetiger Wechselwirkung mit der menschlichen Gesammtentwickelung unablässig in ihren Grund sich vertiefe und aus ihrem Grunde sich nach allen Seiten reinige berichtige umbilde. Die Ortho­ doxie will die Lehre der Vergangenheit, das was die Kirche in ihrem Ursprünge als die Wahrheit begriffen und im Bekenntniß fest­ gestellt hat, soll maßgebend sein für alle Perioden ihrer Entwicklung: wir wollen die Lehre der Gegenwart, dag der jedesmalige Stand der religiösen Ueberzeugungen, wie er in dem Einzelnen und dem Ganzen

272

Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

thatsächlich sich vorfindet, den berechtigten Inhalt der jedesmaligen kirchlichen Lehre ausmache. Mit einem Wort die Orthodoxie will Kirchenlehre: wir wollen die Lehre der Ueberzeugung. Allein nicht nur im Gebiete der Lehre zeigt sich diese Verschieden­ heit, sondern gleicherweise in allen Zweigen des kirchlichen Wesens. Wie die Lehre als einige fertige gebietende gegeben ist im alten kirch­ lichen Bekenntniß: so muß

auch

der Kultus dem Bekenntniß

gemäß

gestaltet sein, die „Kernlieder" des Reformationsjahrhunderts, die alten Liturgieen und Formulare und Gebräuche sollen den Gottesdienst der evangelischen

Gemeinde für alle Zeiten beherrschen.

Wir dagegen

verlangen auch im Cultus die eigenthümliche Mannigfaltigkeit und die freie Entwicklung und die Gegenwärtigkeit, die ihn so treu als möglich zum angemessenen Ausdruck des jederzeit vorhandenen religiösen Lebens machen. Die Orthodoxie giebt dem kirchlichen Amt eine Autoritäts­ stellung außer und über der Gemeinde und dem Kirchenregiment eine Autoritätsstellung außer und über der Kirche: wir verlegen Amt und Regiment mitten ins Gemeinwesen als Ordnungen am Gemeinwesen als Glieder an dem Leibe der Kirche, die mit demselben sich entwickeln und ihre Aufgaben erfüllen, wenn sie der höhere Ausdruck des Gemein­ lebens sind.

Die Orthodoxie verwirft alle und jede Union, und scheidet

und spaltet mit ibrem Maßstab die reinen Lehren weiter und weiter: wir suchen die Union in immer weiterem Umfange mit allem, was auf demselben christlich-religiösen Grunde lebt. Die Orthodoxie ist eifrig bemüht ihr kirchlich konfessionelles System dem Staat, der Wissenschaft und der Schule als alleinherrschendes Gesetz aufzulegen: wir dagegen wollen die Selbständigkeit des Staatswesens, die Freiheit der Religions­ übung, die Freiheit der wissenschaftlichen Bewegung, und die Unab­ hängigkeit des Unterrichts vom kirchlichen System, und lassen für diese Gebiete nur das Verhältniß freier sittlicher Wechselwirkung gelten. In allen wichtigen Punkten gehn beide Richtungen auseinander: an allen Seiten kommt eine grundverschiedene Stellung des reli­ giösen Subjekts zur Kirche und eine grundverschiedene Anschauung vom Wesen Kircke zum Vorschein.

und

von

der

Bedeutung

der

Dort ist es die Kirche, die den einzelnen durch ihre Autorität zum Christen macht: hier ist es die christgläubige Persönlichkeit, welche durch religiöse Gemeinschaft mit den andern aus demselben christlich-religiösen Gemeinschaftsgrunde lebenden Persönlichkeiten die Kirche wirkt und gestaltet. Dort ist die Kirche ein zwingendes Gesetz,

Unsere Stellung zur Orthodoxie.

273

das alles einzelne und jeden einzelnen nach seiner fertigen Norm regelt und das unfügsame abschneidet: hier eine freie sittliche Gemeinschaft von eigenthümlichen aus demselben religiösen Grunde lebenden Persön­ lichkeiten, ein Gemeinwesen mit mannigfaltigen aus demselben religiösen Grunde wachsenden Ordnungen. Dort ist die Kirche eine fertige Institution, die als göttliche Autorität über der Gemeinde und dem einzelnen Christen schwebt: hier ist die Kirche die Summe der Christen und christlichen Gemeinden selber in ihrem religiösen Gemein­ schaftsverhältniß, deren Ordnungen und Formen nicht mehr und nicht weniger als den Gehalt und den Grad des religiösen Gemeinschafts­ lebens ihrer Glieder darstellen; ein lebendiger Leib, der in seinen Gliedern lebt und wächst und sich erneuert. Dort ein unveränderlicher Mechanismus

mit

schlechthin

unselbständigen

Theilen:

hier

ein

Organismus d. h. eine lebendige Einheit von mannigfaltigen Gliedern, die auö dem gemeinsamen Grunde lebend in relativer Selbständigkeit mit einander und mit dem Ganzen in Wechselwirkung stehn, und in stetigem Wachsthum jedes sich selber und die anderen und das Ganze aus dem gemeinsamen Lebensgrunde erneuern und vervollkommnen. Und diese Verschiedenheit hängt zusammen mit einer grundver­ schiedenen Anschauung vom Wesen des Christenthums. Wir gehn ja aus von der Unterscheidung zwischen Theologie und Religion, und setzen das Wesen des Christenthums in das religiöse Leben, von welchem die Erkenntniß und die Lehre erst Erzeugnisse sind, die wie alle Aeußerungen des Lebens dem fortschreitenden Strome der geschichtlichen Entwicklung anheimgegeben sind und darin an der Jndividualisirung sowie an der Mangelhaftigkeit und Vervollkommnung alles sich entwickelnden Theil haben. Und diese Unterscheidung ist eS ja eben, welche die Orthodoxie nun und nimmermehr begreifen kann. In der Theorie zwar hat sie sich der Unterscheidung zwischen Glauben und Lehre nicht ganz erwehren können; aber der Satz bleibt ohne alle Wirkung für ihr weiteres Denken und Thun; sie denken und thun und gestalten durchweg so, als ob Glaube und Glaubenslehre dasselbe wären, als ob nicht der heilige Geist sondern die fertige Bekenntniß­ formel daö Wesen der Kirche machte. Wo sie aus ihrem eignen reden, da sagen sie immer und immer ganz nackt, das

Bekenntniß ist die

Grundlage der Kirche. Wenn wir in dem Christenthum ein neues sittlich-religiöses Leben sehen, welches in fortschreitender geschichtlicher Entwicklung alle Gedanken und alle Thätigkeiten der Menschen neu­ gestaltet: so ist ihnen das Christenthum wesentlich oder doch zugleich Spaeth,

Protestantische Bausteine.

18

274

Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

die Summe der übernatürlichen übervernünftigen gottgeoffenbarten Heils­ wahrheiten, die der Mensch als unwandelbare Autorität und Norm für alles Denken und Thun fertig zu übernehmen hat. Wo einmal diese Verschiedenheit der Grundanschauung

gegeben

ist, da sind die bezeichneten Unterschiede nothwendige Folgen. Wird einmal die Offenbarung als die zum Heil nothwendige Summe un­ wandelbarer göttlicher Lehren und Vorschriften gedacht, so versteht es sich von selbst, daß man die Schrift als schlechthin untrügliches und jeder Kritik unzugängliches Wort Gottes, und eine reine und sichere Äarlegung des Wortes Gottes im Kirchenbekenntniß hat und haben muß; so versteht es sich von selbst, daß diese untrügliche Lehre jeder Lehrende einfach ohne Abweichung zu lehren und jeder Hörende einfach ohne Zweifel anzunehmen hat; so versteht es sich von selbst, daß nach diesem untrüglichen Compaß nicht nur die Kirche alle ihre Ordnungen, sondern auch alle Wissenschaften ihr Denken, alle Schulen ihre Erziehung, alle Staaten ihre Gesetze und Einrichtungen zu regeln haben. Ist da­ gegen unsre Grundanschauung vom Christenthum als einem religiösen Leben und von der Kirche als einem lebendigen Organismus einmal ordentlich in ihren Wirkungen ergriffen, so wird ohne viel Mühe klar wie wir nicht nur die verschiedenen großen Lebensgebiete in ihrer Selbständigkeit und ihr Verhältniß lediglich als freie moralische Wechsel­ beziehung auffassen, sondern auch innerhalb der Kirche die eigenthüm­ liche Gestaltung und die freie Bewegung sowie die weitgreifende Einigung auf dem gemeinsamen Grunde verlangen müssen. Die einzel­ nen Gegensätze sind nur nothwendige Folgen des entgegengesetzten Grund­ gedankens. Und dieser Gegensatz des Grundgedankens ist wesent­ lich kein anderer als der von Protestantismus und Katho­ lizismus. Unsre Richtung gedenkt mit dem Princip des evangelischen Protestantismus in allen seinen Folgerungen vollen Ernst zu machen. Die Orthodoxie steht wie jede Orthodoxie mit beiden Füßen in dem unevangelischen gesetzlichen Kirchenprinzip, von welchem die römischkatholische Kirche die consequenteste Ausbildung ist. Noch hat unsre Orthodoxie nicht alle Folgerungen gezogen, noch hat sie viele Halbheiten und Unhaltbarkeiten an sich, noch hat sie nicht Energie und Muth genug zur vollen Autorität des Amtes und zur Untrüglichkeit des Bekenntnisses; die meisten ihrer Jünger schwanken und schweben, sie können zur gottgegebenen Autorität sich noch nicht ganz aufschwingen und der wissenschaftlichen Bewegung noch nicht ganz

Unsere Stellung zur Orthodoxie.

275

los werden, konsequentere Erscheinungen des Systems kommen erst sporadisch vor. Aber das Princip vollzieht sich mit innerer Noth­ wendigkeit, und kann auf halbem Wege nicht stehn bleiben. Wie reißend und unwiderstehlich es seine Jünger mit sich forttreibt: dafür brauchen wir nicht nach dem englischen Pusehismus hinüberzusehen, dafür liefert unsere deutsche Orthodoxie in der Geschichte ihrer letzten zwanzig Jahre den schlagenden Beweis. Nicht daß unsre Orthodoxie in ihrem Verlauf nothwendig der römisch-katholischen Kirche anheimfallen müßte: es kann eben sowohl das Gegentheil stattfinden, daß nemlich eine lutherische Kirche bei vollende­ ter Ausbildung ihrer Orthodoxie in um so schrofferen Widerspruch zur römischen Kirche sich stellt, da ja das Princip der Orthodoxie ein spal­ tendes ist und eine einzige Lehrabweichung genügenden Grund für ewige Feindschaft giebt, wie das die Trennung der griechischen und römischen Kirche, die Trennung lutherischer und reformirter Orthodoxie beweisen. Aber demselben kirchenbildenden Prinzip ist sie anheimgefallen, in welchem die römische Kirche wurzelt; sie wäre, wenn sie es auf Grund ihres Prinzips zur vollen kirchlichen Organisation d. h. zu einer fertigen orthodox-lutherischen Kirche gebracht hätte, im Wesen durchweg der römisch-katholischen Kirche gleich, um so gleicher vielleicht, je feind­ seliger sie sich derselben gegenüber stellte. Ist das die Orthodoxie, und ist unsre Richtung diejenige, wie wir sie beschrieben haben, so ist der Gegensatz der kirchlichen Prinzipien und die praktische Unvereinbarkeit beider Richtungen nicht zu bezweifeln. Wir können in unsrer Kirchengemeinschaft schon solche Schwache tragen, die mit ihrer Theologie und ihrem Cultus in den Formen des 16. Jahrhunderts hangen geblieben sind: sie aber, wenn sie Orthodoxe sind können uns mit unsrer gegenwärtigen Theologie und unserm zeitgemäßen Cultus nicht tragen noch dulden. Wir können in unsrer Kirchenge­ meinschaft unter den mannigfaltigen Erscheinungen auch solche Unfreie tragen und dulden, die sich an das alte kirchliche Bekenntniß binden, sie aber, wenn sie Orthodoxe sind, dürfen nimmermehr uns mit unsrer Mannigfaltigkeit und freien Bewegung anerkennen. Sind sie nemlich richtige Orthodoxe, die in ihrem Prinzip leben, so können sie sich nicht damit begnügen, selber für ihre Person orthodox sein zu dürfen und in Gemeinschaft mit allen, die ihre Ueberzeugung theilen; sondern müssen nach der Natur der Orthodoxie verlangen, daß ihr kirchliches Princip über den ganzen Umfang der Kirchengemeinschaft herrsche und alle Abweichungen ausschließe, und können eine Gemeinschaft wo, sich

276

Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

das nicht verwirklicht oder gar unsre Grundsätze sich verwirklichen, gar nicht als Kirche anerkennen. Dann aber, wenn sie so als bewußte Vertreter des Princips Ernst machen mit dem Princip für die evan­ gelische Kirche: dann müssen wir sie, die wir als Schwache und Un­ freie tragen könnten, nunmehr natürlich als grundsätzliche Gegner nicht nur unsrer persönlichen Freiheit sondern vor allem als grundsätz­ liche Gegner des protestantischen Prinzips im Namen des Protestantismus mit ganzer Energie bekämpfen. Gegenüber solchem prinzipiellen Gegensatz kommt eine größere oder geringere Lehreinheit kaum in Betracht. Wenn auch die theologische» Differenzen zwischen uns und den Orthodoxen ungemein geringe wären, wie ich Ihnen denn bei der Gelegenheit nicht verhehlen will, daß nicht wenige der Freunde, in deren Sinn ich rede, in ihren theologischen An­ schauungen dem Lehrshstem der reformatorischcn Bekenntnisse unver­ gleichlich näher stehn als die von Ihnen aufgestellten Sätze; ja wenn wir uns auch die Theologie der reformatorischcn Bekenntnisse voll­ ständig aneignen könnten, sodaß jeder theologische Unterschied zwischen uns und den Orthodoxen aufhörte: die Orthodoxen und wir wären dennoch, wofern jeder Theil entschieden und mit Bewußtsein in seinem kirchlichen Princip stände, geborne Gegner, die sich auf Leben und Tod zu bekämpfen haben. Und umgekehrt gegenüber so tiefer prinzipieller Einheit kommen theologische Lehrunterschiede wenig oder gar nicht in Betracht. Mit dem äußersten Rationalismus und der freiesten Kritik können die­ jenigen von uns, welche dem kirchlichen Bekenntniß am verwandtesten theologisiren, kirchliche Gemeinschaft machen: wofern beide Theile in unserm gemeinsamen protestantischen Kirchenprinzip gewurzelt sind. Selbst der religiöse Radikalismus, der nach unserm Urtheil die Grund­ lagen der christlichen Theologie so gut wie ganz verlassen hat, ist nicht überall so unbedingt unser Gegner, indem ein gut Theil desselben anö demselben protestantischen Prinzip mit uns geboren ist, und nur eine einseitige extreme Verirrung desselben darstellt, die aus dem eignen Prinzip wieder berichtigt werden mag. Wie ich das anderwärts an­ geführt habe*). Unsre Orthodoxie repräsentirt das widerprotestantische, das römischkatholische Kirchenprinzip innerhalb der evangelischen Kirche: zur Ortho­ doxie haben wir daher dieselbe Stellung wie zu Rom. Mit Rom giebtö keine Union: mit der Orthodoxie keinen Frieden. Das Christ*) Vrgl. bett Artikel der „Protestant" 1853 Nr. 12.

Protestantismus

als

Humanismus

im

Unsere Stellung zur Orthodoxie.

277

liche in der römischen Kirche und in der Orthodoxie willig anerkennen, den einzelnen Römisch-katholischen und den einzelnen Orthodoxen nach Maßgabe seiner persönlichen Christlichkeit lieben und ehren und suchen: aber

das

Prinzip

orthodoxe

müssen

wir

und

römisch-katholische

Kirchen-

im Namen des Protestantismus be­

kämpfen bis zur Vernichtung*).

*) ES ist begreiflich, daß der Artikel und namentlich diese Stelle tief in's Fleisch schnitt und dadurch höchst unangenehm berührte. Nicht bloß in „halbortho­ doxen" Kreisen fühlte man sich schwerverletzt, sondern manche von der eigenen Partei erschracken über diesen schneidigen Gegensatz gegen eine etwas zu wett getriebene Friedensliebe. Im Jahre 1872 würde es überflüssig sein, für Krause erst noch rechtfertigend einstehenzu wollen, da uns dieKirchenregimente eindringlich genug in den letzten Jahren gelehrt haben, was Regieren im Sinn der Orthodoxie zu bedeu­ ten hat. Was Krause damals unter viel Aufregung geltend machen mußte, ist heute der liberalen Parte: zur feststehenden Ueberzeugung geworden. — Es dürfte übrigens von Interesse sein in's Gedächtniß zurufen, wie der vor zwei Jahren abgerufene, nicht weniger bedachtsame als entschiedene Ztttel damals für Krause eintrat (Prot. K. Z. 1854 Nr. 33), Mißverständniß abwehrend und über die Parteistellung aufklärend. „Der gewöhnliche Sprachgebrauch, sagt er, versteht unter orthodoxen Männern solche, welche von verschiedenen Seiten her in ihrer wissenschaftlichen und religiösen Auf­ fassung der christlichen Kirche dem kirchlichen Lehrsysteme des 16. Jahrhunderts sehr nahe kommen. Dieser Sprachgebrauch mag nun richtig sein oder nicht (ich halte ihn selbst für unrichtig). daß er aber üblich ist, darf man nicht übersehen. Es haben sehr Diele, welche sich nach dem iiblichen Sprachgebrauche den Orthodoxen zuzählen, sich sehr verletzt gefühlt durch die Kriegserklärung auf Tod und Leben gegen die Orthodoxie, während diese Kriegserklärung, von einem ganz anderen Begriffe der Orthodoxie ausgehend, weit entsernt gewesen ist, sie in die Reihe der Orthodoxen zu stellen." Lichtvoller und überzeugender kann das Ziel, welches die liberale Partei nothgedrungen zu verfolgen hat, kaum gezeichnet werden, als Zittel in dem ange­ zogenen Artikel „unsere Partheistellung" gethan. „Die Zeitfrage, welche unsere Parthei erzeugt hat, ist zwar aus den dogmatischen Kämpfen hervorgegangen, aber sie ist jetzt eine ganz und gar kirchlich-sociale geworden, ist aus dem Gebiete des Glaubens und der Wissenschaft in das der Kirchenordnung hinübergerückt. Darum handelt es sich jetzt, ob wir, wieweit rechts oder links wir in dogmatischer Be­ ziehung auch stehen mögen, ein Recht haben sollen, in der evangelischen Kirche mit unsrer Ueberzeugung zu sein, diese in derselben zu bekennen und für sie zu wirken. Wer dieses Recht uns zugesteht , und stände er für seine Person auch auf jedem einzelnen Worte der reformatorischen Bekenntnisse, der gehört zu uns; wer es uns verweigert, und wäre sein theologischer Standpunkt noch so freisinnig, der ist unser Gegner. Dieses Recht nehmen wrr innerhalb unserer Kirche für alle diejenigen in Anspruch, welche mit ihrer Ueberzeugung auf christlich-protestantischem Boden stehen, d. h in Jesus Christus den Grund ihres Glaubens und ihres Heils anerkennen und zu den Grundsätzen des Protestantismus sich bekennen. Dieses Recht wollen wir mit vereinten und ehrlichen Waffen nicht nur gegen diejenigen vertheidigen, welche uns ans der Kirche hinausweisen wollen, sondern auch gegen diejenigen, welche uns einstweilen noch eine gnädige, aber zweifelhafte Duldung zugestehen. Das gute Recht wollen wir haben und behaupten, und darum führen wir einen unversöhnlichen Krieg gegen alle kirchlichen Grundsätze, welche uns dasselbe nehmen oder zweifelhaft machen wollen. Eben weil wir die Entwicklung des christlichen Glaubens und Lebens nach allen Richtungen hin wollen, so wollen wir vor Allem, daß die Mög­ lichkeit dazu gegeben, daß für die Thätigkeit des christlichen Geistes auch nach allen Richtungen eine freie Bahn geschafft werde."

Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

278

Und weil die Orthodoxie den Protestantismus in seinem Eigen­ thum angreift, weil sie das protestantische Prinzip auf seinem eignen Grund und Boden zu vernichten sucht: so ist sie von beiden der nähere, für das Leben des Protestantismus gefährlichere Feind.

Hier handelt

es sich um die Existenz des Protestantismus, und jede weitere Mission für die Weltgeschichte kann der Protestantismus nur dann erfüllen, wenn das Gesetz seines Lebens zuvor in seinem eignen Hause zur Gel­ tung gekommen.

Das römische Wesen innerhalb unserer Mauern ist

viel bedrohlicher als das Rom da draußen: Rom jenseits der Berge wird am erfolgreichsten bekämpft, wenn wir das orthodoxe Kirchenshstem im eignen Lager überwältigen. Und darum ist es recht, und darum ist es geboten, daß wir vor allem mit ganzer Energie die Orthodoxie bestreiten, und nichts in der Welt energi­ scher

und

nichts

unermüdlicher als

eben die Orthodoxie.

Und diesen Vernichtungsstreit gegen die Orthodoxie eben zum Zweck der Verständigung mit den Orthodoxem. Denn nur wo und gerade soweit als das spaltende Princip der fertigen Autoritäts- und Lehrkirche vernichtet wird: nur da und soweit wird der Union Raum geschafft. Nur wo und soweit wir den Wahn der un­ wandelbaren geoffenbarten Kirchenlehre in den Gemüthern zu zerstören vermögen, haben wir die erste unerläßliche Bedingung für praktische Vereinigung gewonnen. Wo wir dagegen ohne Behebung dieses prin­ zipiellen Widerspruchs auf dem Wege irgend welcher Lehrvergleichung, sei es durch einen „Consensus" oder durch eine Summe von „Grund­ wahrheiten und Grundthatsachen" oder dergleichen etwas, die Verstän­ digung mit der Orthodoxie versuchen wollten: da würden wir theils etwas Fruchtloses ja Unmögliches zu unternehmen meinen, theils zugleich als solche erfunden zu werden, die dem eignen Prinzip etwas vergebend einen Fuß in das gegnerische Gebiet des Lehrkirchenthums setzen zum Schaden der

gemeinen protestantischen Sache.

Aus Union — zum

Zweck der Einigung mit den Orthodoxen scheint uns der Vernichtungs­ kampf wider die Orthodoxie geboten. So etwa denken wir über das Verhältniß beider Richtungen und über unsere sittliche Aufgabe. Nun halte ich es nicht für unmöglich, daß mir am Schluß dieser Auseinandersetzung mancher sagen möchte: aber wozu denn die lange Rede? Im Grunde seid ihr doch mit Dr. Rückert einig, Ihr habt im Wesentlichen dieselbe evangelische Stellung mit ihm. Was er gegen den Orthodoxismus mehr andeutend gesagt hat, habt Ihr nur weit-

Unsere Stellung zur Orthodoxie.

läufiger ausgeführt und gegen die Orthodoxie gewendet.

279 Es handelt

sich zwischen Euch überwiegend um einen Wortstreit: daß Dr. Rückert, was ihr Orthodoxie nennt, als Orthodoxismus bezeichnet,

und die

Orthodoxie davon unterscheidet und scheidet. Dem würde ich so antworten. Allerdings haben wir das Bewußt­ sein in der evangelischen Grundstellung mit Dr. Rückert einig zu sein, und hegen die Hoffnung, indem freilich die Bezeichnungen von uns verschieden gebraucht werden, daß wir in konkreten Fällen, wo be­ stimmte Gegner uns gegenübertreten, auch über das sittliche Verhal­ ten zu denselben mit Dr. Rückert gemeinhin wol einig werden möchten. Einmal indeß bliebe immer der Unterschied bestehen: daß wir auf die Lehreinheit einen viel geringeren Werth legen als es Dr. Rückert zu thun scheint.

Alle Eintrachtsformeln

der Welt sind noch immer

Zwietrachtssaaten geworden: das scheint uns in der Natur des Weges zu liegen. Was immer Dr. Rückert unter Orthodoxie verstehen, wo immer ihre Vertreter suchen möge: die Lehrvergleichung erscheint uns unter allen Umständen für die praktische Einigung nur als ein neben­ sächliches Moment, das erst in Betracht kommt, wenn die Frage über die kirchliche Grundstellung entschieden ist. Sodann aber können wir die Verschiedenheit der Bezeichnung nicht für so unwichtig ansehn. Es ist überhaupt niemals gleichgültig, ob man herkömmliche Bezeichnungen in anderem als dem herkömmlichen Sinn gebrauche; es wird das aber von ungemeiner Bedeutung, wo es sich um praktische Stellungen handelt; von entscheidender, wo man sich in einem Kampf auf Leben und Tod befindet. In einem solchen Kampf hängt alles davon ab: ob wir die Natur und den Plan des Feindes, die Stellung und Stärke seiner Truppen richtig erkennen und mit dem rechten Namen bezeichnen; eine Täuschung über seine Ab­ sichten und seine Stellungen, eine falsche Parole muß verderblich wir­ ken für unser eignes Heerlager. Die Verschiedenheit im Gebrauch der Bezeichnungen zwischen Dr. Rückert und uns weist auf eine verschiedene Auffassung der praktischen Sachlage zurück, auf eine verschiedene Ansicht von der Natur und der Stellung unsers Feindes, die für unsere Haltung in dem verordneten Kampf und für das Resultat von ungemeiner Wichtigkeit ist. Ob das, was wir energisch bekämpfen zu müssen beiderseits ein­ verstanden sind und was Dr. Rückert den Orthodoxismus nennt, lediglich ein Auswuchs sei an der Orthodoxie oder der richtige Ausdruck der orthodoxen Richtung selber, und zwar ob nur ein Auswuchs an einem

280

Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

guten Fruchtbaum oder vielmehr das gesunde Blatt einer Giftpflanze, cs ist einleuchtend, denke ich, aus dem Verlauf unserer Ausführungen, daß die verschiedene Auffassung dieses Verhältnisses unserm Kampf eine verschiedene Richtung und eine verschiedene Weise geben muß. Ist Dr. Rückerts Bezeichnung die richtige: so haben wir uns nur gegen die bezeichneten praktisch-kirchlichen Auswüchse zu richten, und mit ihrer Vernichtung wäre der Kampf beendet. Haben wir in unsrer Auffassung Recht: so wäre mit dieser Kampfesweise nichts zu erreichen, die giftige Wurzel würde stets dieselben giftigen Sprossen neu hervortreiben; wir hätten vielmehr das Princip der Orthodoxie selber anzugreifen und die ganze Pflanze mit der Wurzel auszurotten. Wir nun halten dafür, daß Dr. Rückerts Bezeichnung nicht zutreffend sei. Schon sprachlich bezeichnet uns die Endung ismus nicht ursprünglich die Entartung einer Sache, sondern ähnlich unserm thum eine Sache als Ganzes als System gefaßt. So Christianismus, Paganismus, Rationalis­ mus, Pelagianismus, Deismus, Atheismus u. s. w. So würden wir unter

Orthodoxismus das

System

der Orthodoxie verstehn,

unter

Orthodoxie aber die Lehrstellung, welche die kirchlichgültige Lehre als maßgebend annimmt; und würden meinen, damit in dem herkömmlichen Sprachgebrauch zu sein. Und wenn dann eben so herkömmlich die Wörter auf ie sowohl als auf ismus so übertragen werden, daß sie zugleich auch die Richtung oder Genossenschaft als geschicht­ lich gegebenes Ganzes, welches das betreffende System vertritt, bezeichnen: so würden wir in dem Falle, wo Orthodoxie und OrthodoxiömuS zur Bezeichnung der Genossenschaft gebraucht wird, beide gradezu als gleichbedeutend nehmen, die Orthodoxie sowol als der OrthodoxiSmus — die historische Gesammtheit der Orthodoxen als Vertreter eines Prinzips. Zur Sache aber meinen wir: daß die Ortho­ doxie als diese Lehrstellung wesentlich dasselbe ist, was die von Dr. Rückert unter dem Orthodoxismus befaßten Erscheinungen auf dem Gebiete des Cultus und der Kirchenordnung 'und der Sitte, nur ver­ schiedene Aeußerungen eines und desselben Prinzips, nur verschiedene Triebe einer und derselben Wurzel, ans welcher sie alle mit gleicher Nothwendigkeit hervorwachsen; und daß diese Wurzel die Wurzel einer Pflanze ist, die wir im Garten der evangelischen Kirche für ein giftiges Unkraut halten müssen; und daß wir darum alle Triebe dieser Wurzel in gleicher Weise als feindselige

zu bekämpfen

haben, und zwar zu

bekämpfen durch Ausrottung der ganzen giftigen Wurzel des widerprote­ stantischen orthodoxen Kirchenthums.

Unsere Stellung zur Orthodoxie.

281

Ferner wie gleichgültig es auch ist, wo es sich um Beurtheilung von Begriffen und Systemen handelt, ob irgend ein Mensch in der Welt existire, der die betreffenden Begriffe oder das betreffende System verträte: so hängt in einem praktischen Kampf alles ab von der Existenz des Gegners und der Bundesgenossen. Wenn nun Dr. Rückert zwei unterschiedliche Richtungen annimmt, und von diesen die eine als eine mit uns zur Bnndesgenossenschaft vereinbare: so erblicken wir in Wirklichkeit nur eine einzige und zwar grundsätzlich uns feindliche Richtung, das widerprotestantische orthodoxe Kirchenthum, von dessen Jüngern zwar die einen besser und die andern schlimmer, die einen konsequenter und die andern inconsequenter sind, in denen aber ihre Lehrstellung und ihre praktisch-kirchlichen Bestrebungen nothwendig zu­ sammengehören als Wirkungen derselben Grundstellung, in denen sogar gewisse sittliche Gebrechen wie andauernde Selbsttäuschung Fanatismus und Gewaltthätigkeit mit einiger Nothwendigkeit aus der einseitigen Grundstellung hervorgehen; und eine von dieser Richtung zu unterscheidende Orthodoxie, die lediglich eine Lehrstellung wäre, und bleiben könnte, existirt in der gegenwärtigen Wirklichkeit gar nicht, soweit unsere Wahrnehmung reicht, und kann nach der innern Nothwendigkeit des Princips und nach dem praktischen Charakter der Gegenwart nicht existiren. In der praktischen Wirklichkeit nehmen wir nur eine Richtung wahr, und diese ist unsre Gegnerin auf Tod und Leben. Es ist einleuchtend, daß für die richtige Führung des Kampfes viel darauf ankommt, ob wir hierin recht sehen oder nicht. Bedenklich endlich ist es den herkömmlichen Namen eines bekannten Feindes zur Bezeichnung von etwas anderm zu gebrauchen; und ge­ fährlich gradezu, wo dieser Feind als der Erzfeind unsrer eigensten Ausgabe dasteht. Thatsächlich aber nach dem herrschenden Sprachge­ brauch versteht man doch allgemein, wenn von der Orthodoxie und von den Orthodoxen geredet wird, die vorhandene sehr wirkliche Richtung, die wir beschrieben haben als unsre Erzgegnerin. Wenn wir nun mit dem Namen Orthodoxie eine andere Richtung bezeichnen, vielleicht gar eine solche, die in Wirklichkeit nicht existirt; und wenn dann „unsre. Stellung zur Orthodoxie" natürlich wesentlich anders ausfallen muß, als sie ausfallen würde, wenn wir sie zu dem, was in Wirklichkeit die Orthodoxie ist, bezeichneten: muß nicht die veränderte Redeweise die große evangelische Gemeinde, die doch immer in herkömmlicher Weise bei dem Wort an die wirklich vorhandene gegnerische Richtung denkt.

282

Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

irre machen über unsre Richtung und unsre Haltung; muß sie nicht selbst die Kampfgenossen verwirren über die Stellung des Feindes und unsern Operationsplan? Wir meinen, unsrer eignen Sache würde wesentlich geschadet werden, wollten wir von dem herkömmlichen Sprach­ gebrauch abweichen.

Wir bleiben daher bei dem herkömmlichen Ge­

brauch, wir verstehen unter der gegenwärtigen Orthodoxie die bekannte wirkliche confessionelle Richtung, und diese bekämpfen wir

als eine

widerprotestantische katholisirende auf Leben und Tod. Daß wir es bei diesem Streit in Wirklichkeit

nur mit einer

Richtung zu thun haben, daß diese Richtung ihr Wesen habe in einer kirchlichen Grundstellung, daß diese kirchlicheGrundstellung wesentlich das widerprotestantische römischkatholische Kirchenprinzip inner­ halb der evangelischen Kirche repräsentire, daß wir daher diese Rich­ tung als den Erzfeind des Protestantismus auf Leben und Tod zu bekämpfen haben, und zwar zu bekämpfen an seinen widerprotestan­ tischen Kirchenprinzip: das sind die Punkte, auf deren Erkenntniß wir für den verordneten Kampf Werth legen, so sehr, daß wir um deßwillen unsre Auseinandersetzung nicht für ganz über flüssig halten. Wir sind in der protestantischen Grundstellung allerdings mit Dr. Rückert einig; wir sind auch überzeugt, daß er den wirklichen Gegner in jedem concreten Fall mit demselben Eifer bekämpfen würde, den wir bei uns voraussetzen: aber wir fassen die gegebene Wirklich­ keit, den Plan und die Stellung des feindlichen Heeres anders auf, als Dr. Rückert, und halten das für unsere eigne Stellung von Wichtigkeit. Das würde ich antworten. geschlossen haben.

Und damit könnte ich meine Rede

Denn was unsererseits

über

unsre Stellung zur

Orthodoxie Ergänzendes und in Folge dessen Gegensätzliches zu sagen war, ist der Hauptsache nach gesagt worden, oder kann doch aus dem Gesagten leicht hergeleitet werden. Sie haben indeß, verehrter Herr, auch unser praktisches Christenthum mit dem praktischen Christen­ thum der Orthodoxen in kurzen Vergleich gebracht, und ich darf daher diesen Punkt nicht ganz mit Stillschweigen übergehn. Zwar bringen Sie selber in Erinnerung in Bezug auf diese „eigenthümlich christlichen Thätigkeiten" der Orthodoxen, unter welchen Sie ja wol nach dem Zusammenhang überwiegend die Thätigkeiten verstehn, welche man mit dem Namen der „äußern und innern Mission" zusammenzufassen pflegt, daß nicht die Orthodoxie an den Ortho­ doxen eö sei, welche zu solchen Werken treibt, wie denn der „ christlichen

Unsere Stellung zur Orthodoxie.

283

Thätigkeiten" nie weniger geschehn sei als in dem Jahrhundert der blühendsten Orthodoxie.

Und da es damit seine Richtigkeit hat, da

auch noch heute die Orthodoxesten nicht immer

als die Eifrigsten in

diesen Thätigkeiten, viele sogar als grundsätzliche Gegner aller „innern Mission" erfunden werden; da jedenfalls dieselben nicht in der Ortho­ doxie ihren Ursprung haben, sondern im Pietismus und Methodismus, bei den Orthodoxen also nur zufällige Erscheinungen sind,

sofern sich

in ihnen mit der Othodoxie von jenem Pietismus oder Methodismus einige Züge verbinden: so kommen dieselben recht eigentlich bei der Frage über unsre Stellung zur Orthodoxie nicht in Betracht, und kann daher für diesen Zweck das beiderseitige Verhalten kein entscheidendes Moment abgeben.

Sie reden indeß von diesen Thätigkeiten und von

unsrer Aufgabe in Bezug auf dieselben in einer solchen Weise, wie es mir sehr leid wäre, wenn sie bei den Unsrigen üblich würde, und die mich deshalb veranlaßt auch hierüber anhangsweise noch einige Worte zu sagen, um so mehr als ich nicht selten unter den Unsrigen eine ähnliche Redeweise vernommen habe. Sie geben nemlich

ohne

Zweifel uns

in Beziehung auf die

„eigenthümlich christlichen Thätigkeiten" gleichsam eine defensive Stellung gegenüber den Orthodoxen, und meinen uns diese zum Vorbild aufstellen zu müssen (S. 185—186). Die Ortho­ doxen haben lange durch die That bewiesen, welche praktischen Kräfte in ihrem theologischen Denken liegen, und das „nie überzeugender als in den herrlichen Bestrebungen der Gegenwart, und jeder Zweifel und noch

mehr jede Verdächtigung wäre schreiende Ungerechtigkeit".

Wir

dagegen hätten erst noch thätig zu beweisen, daß in unsrer Theologie allerdings dieselben Kräfte liegen, die gleiche Thätigkeiten erzeugen: bisher aber müßten wir „unsre Schuld bekennen", bekennen, „daß hinsichtlich thätigen Christenthums wir weit zurückstehen hinter denen, die uns als die Orthodoxen gegenüberstehen, und viel viel von ihnen lernen möchten." Diese defensive entschuldigende Stellung aber gedenken wir nimmermehr uns gegen die Orthodoxen zu geben; wir würden meinen gegen uns selber

und unsern Beruf eine Ungerechtigkeit zu

begehen. Nimmermehr sind wir gesonnen in Bezug auf „thätiges Christenthum" den Orthodoxen einen Vorzug einzuräumen vor den Unsrigen. Sie aber gar mit diesem „Christenthume" als Vorbild aufstellen zu wollen für die Unsrigen: das würden wir für eine theilweise Verkennung unsrer sittlichen Aufgabe und einigermaßen für eine Abweichung von dem weltgeschichtlichen Gange des Protestantismus halten.

284

Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

Es ist ja wol unbestritten, daß die Thätigkeit der Heidenbekehrung, der Armen- und Krankenpflege, der rettenden Liebe gegen die schwachen und verwahrloseten und verkommenden Glieder der menschlichen Gesell­ schaft wahrhaft christliche Thätigkeiten sind; und wo der christliche Glaube in den Gliedern der Kirche

wahrhaft lebendig wird, raß er überall

dergleichen Thätigkeiten erzeugen wird und zu allen Zeiten erzeugt hat. Und es ist Thatsache, daß die Orthodoxen unserer Tage seit etlichen Jahren zum großen Theil einen ziemlichen Eifer und eine ungemeine Rührigkeit in derartigen Thätigkeiten bekunden, sodaß ja die JnnereMissions-Vercine und Rcttungshäuser wie Pilze aus der Erde schießen, vielleicht auch — wie Pilze verschwinden werden. Wir brauchen nicht mit Ihnen darüber zu rechten, wiefern die Kräfte zu solchen Werken in ihrem

„theologischen Denken" liegen oder nicht; nehmen vielmehr

an, daß Sie aus diesen Ausdruck wol nicht einen besonderen Accent werden legen wollen, und erkennen die Thatsache an.

Aber daß sie

darin einen Vorzug vor den Nnsrigen haben sollen an „thätigem Christenthum": das werden wir nimmermehr Wort haben. Erstlich nemlich erlauben wir uns

allerdings

recht gründlichen

„Zweifel" zu haben gegen die „Herrlichkeit" dieser Bestrebungen, mit dem sichern Bewußtsein, keine „schreiende Ungerechtigkeit" zu begehen. Wer das Ding nahebei gesehen hat, wie es getrieben wird, und die Leute gesehen, die es betreiben, und die Weise, wie man Genossen und Geld hinzubringt, und die Gesinnungen, aus denen, und die Zwecke, zu denen sie es anfangen: der wird gerade „die Bestrebungen der Gegen­ wart" nicht mehr so „herrlich" finden, und von dem großartigen Wesen ungeheuer viel Wust und Lärmen und Politik und Eigennutz abziehen müssen, um bis auf den geringen christlichen Kern zu dringen. Wie wir das anderweitig mehrmals ausgeführt haben. Zweitens. Erkennen wir gleichwohl an, daß unter den Orthodoxen nicht wenige treffliche Männer leuchtend dastehn, die alle diese Werke aus rechtem christlichen Herzen thun und darin wahrhaft Außerordent­ liches leisten: so können wir doch nicht zugeben, daß solche unter den Unsrigen nicht anzutreffen seien, daß bei den Nnsrigen der Glaube in dieser Beziehung sich unbezeugt gelassen habe. Ich wünschte, Sie hätten ein­ mal Gelegenheit durch die Gemeinden der Männer von den Unsrigen zu wandern, welche gerade am entschiedensten in unsern kirchlichen Prinzipien stehen, wie mir eine ganze Reihe derselben vor Augen schweben: und Sie würden durch eine tiefe Arbeit der Seelsorge durch eine Fülle von Liebes-

Unsere Stellung znr Orthodoxie.

285

thatigkeiten überrascht werden, wie Sie dieselben bei Orthodoxen nicht größer finden können. Aber freilich das Trommeln und Posaunen und Beten auf den Gassen, das Klappern mit Zahlen von Hausbesuchen und Krankenkommunionen und

aufgedrungenen Traktaten, das

öffentliche

Buchführen und die Bekehrungs- und Sterbeseufzer, dieses schamlose Wesen, das man gerade bei den

gegenwärtigen Vertretern jener,

Bestrebungen so häufig wahrnehmen muß, das verstehen die Unsrigen nicht, und — um gerecht zu sein — auch von den alten und recht­ schaffenen Orthodoxen keiner.

Auch daö verstehen die Unsrigen nicht,

den Gegnern des Apostels Paulus gleich so in die fremde Arbeit zu dringen, und als kämen sie in neuentdecktes unbewohntes Land, von allen vorgefundenen Werken frischweg Besitz zu ergreifen, indem sie einfach überall ihre Zettel ankleben mit ihrem Namen und den zwei Worten „innere Mission", und einen mit der Trompete dabei stellen, der aus­ ruft, daß sie angekommen sind. Dieser Mangel aber soll ja wol dem wirklichen Gewicht ihrer Wirksamkeit nicht gerade was abbrechen. Drittens. Aber ich nehme an, die Unsrigen würden wirklich von den Gegnern in diesen Thätigkeiten bei weitem übertroffen, ■— wie ich denn bei nüchterner Betrachtung nicht leugnen kann, daß, wenn auch nicht vou den Orthodoxen, so doch von denen, die zum Pietismus oder Methodismus neigen, einige dieser Thätigkeiten mit größerem Eifer und größerem Erfolg geübt werden als von den Unsrigen: müßte denn das wirklich ein größeres Maß „thätigen Christenthums" bei ihnen bedeuten? Müßten wir nicht dann, wenn das richtig wäre, der katho­ lischen Kirche, die ja ohne Zweifel mit ihren kirchlichen Anstalten und Genossenschaften und Vereinen und Werken alle protestantischen Be­ strebungen der „innern Mission" hinter sich läßt, den Vorzug einräumen im „thätigen Christenthum", und damit ja wol im Christenthum über­ haupt? Und muß nicht dieser Vergleich uns sofort das Einseitige dieser Betrachtungsweise zu Gemüthe führen? Ich denke, Verehrter, wenngleich wir jene Thätigkeiten anerkennen und diejenigen ehren, welche sie thun: so können wir doch die gegnerische Vorstellung uns nicht aneignen, als ob vornemlich oder lediglich diese Thätigkeiten die „eigenthümlich christlichen" wären, und diejenigen die „ Christen", welche sie thun. Wir denken ja wol größer und höher vom Christenthum, wir verstehen ja wol unter dem „thätigen Christenthum" nichts Ge­ ringeres als die ganze große Arbeit der Weltversittlichung; und halten darum alle Thätigkeiten, welche an dieser großen sittlichen Weltaufgabe sich betheiligen nicht minder für „eigenthümlich christliche", als jene

286

Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

besagten, wenn auch nicht gerade der Name „christlich" dabei geschrieben wird.

Wir müssen ja wol noch weiter gehn: die bezeichneten Thätig­

keiten gehören uns im untergeordneten.

thätigen Christenthum

überwiegend

zu den

Wie das Ausroden einer Wildniß und das Aus­

räumen des Hinderlichen eine untergeordnete Thätigkeit ist im Vergleich zur Cultur der darauf wachsenden menschlichen Gesellschaft, wie die Handlanger- und Handwerkerarbeit ein Geringeres als die Arbeit des Künstlers und Denkers und des Staatenlenkers: so sind auch die Thätigkeiten der äußern und innern Mission überwiegend nur die Rudimente deS thätigen Christenthums, und untergeordnet im Vergleich zu denjenigen, welche für die Cultur der menschlichen Gesellschaft die positiv schaffenden bildenden ordnenden leitenden sind. Die Bildung einer christlich sittlichen Familie ist uns eine unvergleichlich höhere christliche Thätigkeit als ein Rettungshaus und ein Traktatenränzel; die Erziehung einer religiössittlichen Persönlichkeit ein

unvergleichlich

höheres christliches Werk als tausende von Almosen, eine ganze Liste von Krankenbesuchen. Die Belebung des ganzen bürgerlichen Gemein­ wesens mit christlichem Geiste, daß es seiner schwachen und bedürftigen Glieder in rechter Liebe sich annimmt, ist uns eine unvergleichlich höhere christliche Thätigkeit als die Aufrichtung aparter „christlicher" Armen- und Krankenvereine; die Gestaltung und Regierung eines Staatswesens nach den Regeln christlicher Sittlichkeit unvergleichlich christlicher als die Organisation von Centralausschüssen für innere Mission mit allem Zubehör. Und wie es denn verschiedene Gaben und Aufgaben giebt für die verschiedenen Personen, wie auch unter­ schiedliche Zeiten bald mehr die innerlich anbauende und umbildende, bald mehr die verbreitende Thätigkeit fordern; wie es in der Natur der Sache liegt, daß diejenigen, welche lebendiger in dem innern Umwandlungs- und Fortschrittsprozeß eines Gemeinwesens mitwirkend verflochten sind, weniger die verbreitenden Thätigkeiten üben als die andern, welche sich einer gewissen fertigen Abgeschlossenheit erfreuen: so folgt natürlich daraus, daß jemand an jenen Thätigkeiten sich weniger oder gar nicht betheiligt, keineswegs, daß das Maß seines „thätigen Christenthums" ein geringeres sein müsse; im Gegentheil er kann vielleicht gerade darum an jenen sich weniger oder gar nicht be­ theiligen, um seinen eignen innerlicheren und höheren Aufgaben um so besser nachzukommen; wie ja auch die Apostel nicht „zu Tische dienen" wollten, um ihrem apostolischen Beruf nichts abzubrechen. So wenn ein Mann wie Sie in unermüdlichem Fleiß mit Ergründung der

Unsere Stellung zur Orthodoxie.

alten Sprachen

287

und Geschichten dem Worte der Schrift nachforscht,

und in unerschütterlicher Wahrhaftigkeit, was auch herauskommen möge, auf die Ideen des Christenthums hinschaut um das System der Theo­ logie auszubilden; und wenn Sie niemals zu einem Werke der innern Mission die Hand noch einen Groschen böten: wir sind gewiß, Sie hätten in dieser sittlichen Arbeit wahrhaftigen wissenschaftlichen Denkens ein höheres Maß von „thätigem Christenthum", als derjenige Professor der Theologie, der mit der Klapper der „innern Mission" und der Posaune der „ Christlichkeit" durch die ganze Welt liefe, und nur darum dazu Zeit hätte, weil er auö Mangel an Gewissen für die Wahrheit oder aus feiger Flucht vor den mächtigen kämpfereichen sittlichen Auf­ gaben des wissenschaftlichen Denkens mit seiner Theologie schnell fertig geworden. Nein, sollte auch noch weniger von den bezeichneten Thätig­ keiten bei den Unsrigen sich vorfinden, als in Wirklichkeit vorhanden ist: über das Maß ihres „thätigen Christenthums" wäre damit gar nichts ausgesagt.

Gerade je mehr die Unsrigen zu dem Bewußtsein

kommen, daß sie den Beruf haben, innerhalb der protestantischen Welt die Prinzipien des Protestantismus energisch kämpfend zum Durchbruch bringen zu helfen: desto weniger werden sie in jenen elementaren Thätigkeiten ihre besondere Aufgabe finden, und sie vielmehr Berufe­ neren überlassen. Wir wollen wahrhaftig jene Thätigkeiten hochhalten, wir wollen die wackern Männer ehren, die mit redlichem Gemüth in denselben arbeiten. Wo sie aber sich anmaßen in diesen Thätigkeiten das ganze Christenthum zu befassen, und allem übrigen, was sich nicht darin bewegt, die Christlichkeit .abzusprechen: da sollen wir uns nicht zu ihnen so stellen, als hätten wir uns zu enschuldigen und zu vertheidigen; da sollen wir vielmehr aus dem vollem Bewußtsein eines höheren Ver­ ständnisses sie in ihre Schranken zurückweisen, indem wir ihnen die ganze Höhe der sittlichen Aufgabe des Christenthums und die ganze Armseligkeit ihres eignen Verständnisses entgegenhaten. Und viertens endlich kommt hierbei ein Unterschied zum Vor­ schein, der große Wichtigkeit hat. Wenn zwei dasselbe thun, ists doch nicht dasselbe, sagt ein altes Sprüchwort. Das gilt auch von den Unsrigen und den Gegnern in Bezug auf die bezeichneten Thätigkeiten. Wenn die Unsrigen sie thun, und wenn jene sie thun: ist es keines­ wegs dasselbe. Es ist bekanntlich eine grundverschiedene Anschauung von der sittlichen Aufgabe deö Christenthums: ob man sie faßt älS die Aufgabe die ganze Welt mit allen ihren Verhältnissen anzueignen und mit Christlichkeit zu durchdringen, oder nur etliche Personen und

288

Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

etliche Verhältnisse als christliche abzusondern und sich mit diesen aus der Welt als einer im Großen und Ganzen für Christenthum undurch­ dringlichen Masse herauszuziehen; die asketische Weltflüchtigkeit — und die schaffende Weltgestaltung.

Es ist ebenso bekannt, daß jene An­

schauung von der sittlichen Aufgabe des Christenthums die katholische ist, diese die protestantische. Es leuchtet ein, daß diese beiden An­ schauungen int entschiedenen Gegensatz stehn, und einander zu bestreiten haben auf jedem Schritt, und daß sie selbst wo sie zufällig in gewissen Thätigkeiten zusammentreffen, diese doch im entgegengesetzten Sinne thun.

Wenn die weltflüchtige Sittlichkeit z. V. eine „christliche" oder

„kirchliche" Armenpflege organisirt: so thut sie das, weil sie die Armen­ pflege eben für eine christliche Thätigkeit ansieht im Unterschied von andern nicht christlichen Thätigkeiten, und muß daher darauf aussein dies Gebiet in seiner kirchlichen Besonderheit befestigen und zu erweitern.

soviel als möglich zu

Wenn dagegen die weltverklärende Sitt­

lichkeit eine besondere „kirchliche" Armenpflege einrichtet: so thut sie das, weil sie das öffentliche Wesen noch nicht so ganz von christlich­ sittlichem Geist durchdrungen sieht, daß es selber für Armenpflege die genügende Sorge trüge; und muß daher, weil sie die hohe Aufgabe der Verchristlichung des Ganzen stets sich vorsetzt, zugleich sich vorsetzen jene absonderlich kirchliche Einrichtung als eine Nothanstalt allmählig überflüssig zu machen. Die katholische weltflüchtige Sittlichkeit muß überall darauf hinarbeiten ein besonderes Gebiet herauszusetzen, das als christlich sich von der nichtchristlichen Welt unterscheidet; die prote­ stantische weltüberwindende Sittlichkeit muß unablässig darauf hinarbei­ ten durch allgemeine Verchristlichung jedes, apartchristliche Gebiet über­ flüssig zu machen.

Sehen wir uns nun diejenigen an, welche auf die

in Rede stehenden Thätigkeiten einen besondern oder ausschließlichen Werth legen: so läßt sich gar nicht verkennen, daß sie vom Pietismus her einigermaßen in jener katholisirenden weltflüchtigen Anschauung befangen sind, und eben darum jene Thätigkeiten als die „eigenthüm­ lich christlichen" bezeichnen. Es läßt sich auch nicht verkennen, daß sie nach dieser Seite hin Fortschritte macheu: denn schon giebt es „christ­ liche "Schriften und „christliche"Buchhandlungen, sofern sie sich nemlich mit Missions- und Erbauungsgegenständen beschäftigen, schon hört man von „christlichen" Handwerkern und „christlichen" Dienstmägden d. h. solchen, welche die Missionsstunden besuchen und bei „christlichen" Krankenvereinen thätig sind; schon werden „christliche" Gymnasien und „christliche" Pensionen angelegt.

Wenn aber dies Aussondern aparten

289

Unsere Stellung zur Orthodoxie.

christlichen und kirchlichen Wesens systematisch so fortschreitet, wie eS gegenwärtig der Fall ist; wenn die Unsrigen mit Bewußtsein im Princip des Protestantismus stehn, und als solche sich berufen fühlen in der weltdurchdringenden Richtung ihn fortzuführen: so müssen sie natürlich in jenem absonderlichen „Christenthum" eine rückläufige Bewegung deS Protestantismus erblicken; und müssen, so sehr sie auch die einzelne Thätigkeit und den einzelnen Mann ehren, doch dies ganze Absonderungs­ system als widerprotestantisches katholisirendes Wesen von Grund auS bekämpfen.

Nun aber ist Thatsache, daß unser orthodoxes Kirchenthum

neuerdings immermehr mit jenem absonderlichen Christenthum sich ver­ bindet, immermehr sich bemüht die betreffenden „eigenthümlich christ­ lichen" Thätigkeiten in seine Hand zu bekommen, und daß die Ortho­ doxen, die sich dagegen sträuben, immer seltener werden: weil man wol fühlt, daß es zur Legitimation vor der Welt über seine Christlichkeit doch noch weiteres bedurfte als dogmatische Zänkereien: Und darum wird das orthodoxe Kirchenthum auch nach dieser Seite hin immer mehr der Vertreter des katholischen Princips, und darum auch auf diesem

Gebiet

nicht

unser

Vorbild,

sondern

unser

entschiedener

Gegner. Wie der Katholizismus wesentlich ist eine Verbindung deS AutoritätSkirchenthums mit der weltflüchtigen Sittlichkeit: so wird unser orthodoxes Kirchenthum dem Katholizismus immer ähnlicher, je mehr es mit seinem kirchlichen Prinzip jene sittliche Weltanschauung verbin­ det. Je vollständiger eS diesen Verbindungsprozeß vollzieht, je consequenter eS sich auS diesen Prinzipien entwickelt: desto vollständiger repräsentirt es innerhalb der evangelischen Kirche das römischkatholische System. Und je lebendiger wir im kirchlichen tismus stehn, und je mehr wir mit demselben liche Weltanschauung verbinden: desto gewisser daß wir jenes ganze System als den vollen

Prinzip des Protestan­ die protestantische sitt­ werden wir überzeugt, Widerspruch gegen den

Protestantismus unverwandten Blickes zu bekämpfen haben.

Also noch

einmal: nicht Frieden mit der Orthodoxie, sondern Kampf auf Leben und Tod. Nur meinen Wunsch möchte ich noch aussprechen, daß Sie, ver­ ehrter Herr, in diesen Ausführungen den Sinn empfinden möchten, aus welchem sie geflossen sind. In der evangelischen Gesinnung fühlen wir uns durchweg mit Ihnen einig; wir erkennen in Ihrer Rede die­ selbe protestantische Grundstellung, auS der wir leben; und ich wieder­ hole Ihnen die Versicherung, daß wir Gemeinschaft und Verständigung Spaeth, Protestantische Vckustmie.

19

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Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

in demselben Umfange suchen, wie wir es in Ihren Worten wahrnehmen: aber wir fassen die wirkliche Sachlage, Charakter, Plan und Stellung des Gegners anders aus als Sie, so verschieden, daß wir eine wesentlich andere Aufgabe für uns daraus ableiten zu müssen meinen. Und da werden Sie nicht 'anstehn uns Recht zu geben, daß in so ernstem Kampfe diese abweichende Anschauung von der Wirklich­ keit wichtig genug ist unsre Ausführung zu rechtfertigen, sowie auch den Wunsch, daß diese zur Orientirung über die Sachlage irgend etwas beigetragen haben möchte. In herzlicher Verehrung der Ihrige H. Krause.

Das Christenthum und die Naturwissenschaften. Die Reformation hat die Wissenschaften von der Autorität der Kirche emancipirt: im Protestantismus stehen die Wissenschaften auf eigenen Füßen, schöpfen aus ihren eigenen Quellen, und entwickeln sich nach den eigenthümlichen Gesetzen des Wissens. Als man sich mit der Zeit dieser Wirkung des protestantischen Geistes bewußt wurde, konnte es nicht ausbleiben, daß die Resultate der freigewordenen Forschung vielfach in offenen Konflikt geriethen mit den Satzungen der Kirche, oder doch wenig zusammenstimmen wollten mit den herkömmlichen Vor­ stellungen, welche ausschließlich als die christlichen galten. Die groß­ artigen Gedankenshsteme der neueren Philosophie, die sich unbekümmert um die christliche Dogmatik aus spekulativen Prinzipien aufbauten, sind weit Hinweggerathen von den überlieferten Anschauungen der Kirche, und nicht wenige unter ihnen haben sich in Widerspruch mit der gesammten Ueberlieferung gesetzt. Die historische Kritik ist neuerdings so schneidend und zersetzend in die geschichtlichen Ursprünge des Christenthums eingedrungen, daß die Fundamente dieses Tempels der Menschheit einer Erschütterung kaum entgehen zu können scheinen. Und was Geschichte und Philosophie noch übrig lassen, das meint die Naturwissenschaft vollends beseitigen zu können, indem sie den Grundkräften, aus welchen das Christenthum lebt, geradezu das Dasein abspricht. Die Spannung ist groß geworden zwischen den modernen

Das Christenthum und die Naturwissenschaften.

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Wissenschafteil und demjenigen, was herkömmlich als Christenthum gilt; und die weitverbreitete Indifferenz gegen Kirche und kirchliche Dinge, wenn sie auch aus andern Ursachen, insonderheit aus der veralteten Beschaffenheit der kirchlichen Institutionen herstammt, hat doch ein starkes Motiv für ihre Dauer in dieser Disharmonie, welche zwischen den überlieferten religiösen Vorstellungen und den Anschauungen der modernen Bildung besteht. Ihre größeste Ausdehnung hat in der Gegenwart die Spannung zwischen den naturwissenschaftlichen und den specifisch kirchlichen Kreisen gewonnen. Die Männer der Naturwissenschaft mit dem breiten An­ hang, welchen die praktischen Lebensgebiete ihnen zuführen, verhalten sich in der Regel gleichgültig gegen das Christenthum, und betrachten es höchstens mit den Augen der Toleranz als eine unvollkommene, aber durch tausendjährigen Bestand eingewurzelte Denkweise, der sie Berechti­ gung zuschreiben für diejenigen Schichten des Volkes, in welche daö Licht der Naturforschung noch nicht einzudringen vermag; die energi­ scheren oder doch die fanatischeren Apostel der neuen Weisheit kündigen dem veralteten Christenthum offene Fehde an, und gedenken es zu Gunsten freier menschlicher Gesittung vom Erdboden zu vertilgen. Natürlich ist in specifisch-kirchlichen Kreisen die entgegengesetzte Stimmung herr­ schend geworden. Man findet bei Männern, die auf Kirchlichkeit An­ spruch machen, gewöhnlich eine gewisse Scheu gegen die Naturforschung; die vorzugsweise Kirchlichen, die modernen Bibelgläubigen und Be­ kenntnißtreuen erklären öffentlich und geflissentlich ihren Abscheu: die Naturwissenschaften führen zum Unglauben, ein frommer Christ und insonderheit ein gläubiger Theolog soll mit denselben nicht mehr zu schaffen haben als unumgänglich nöthig ist. Der Zwiespalt durchdringt bereits das praktische Leben. Wer von den Gesetzen der Natur etwas versteht oder zu verstehen meint, der ist überzeugt, für seine Person der Kirche entwachsen zu sein; Und diejenigen, welche in der christlichen Kirche das Salz der Erde erblicken, halten es für ihre Pflicht, die gesammte Volksbildung nicht nur vor Philosophie und Weltgeschichte, sondern namentlich vor den Resultaten der Naturforschung zu behüten, wie das in den preußischen Schulregulativen seinen klassischen Ausdruck gefunden hat. Und fürwahr beide Theile sind im Recht, wenn der Gegensatz so unversöhnlich ist. Wer von dem christlichen Glauben hält, daß er die Kraft Gottes zur Seeligkeit sei, der muß als ungött­ lich und gottlos verwerfen, was diesem Glauben die Wurzeln abzu­ schneiden begehrt. Wem dagegen die Errungenschaften der NaturIS*

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Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

forschung

als

unentbehrliche

Momente

der fortschreitenden Bildung

erscheinen, der wird auf daö Christenthum verzichten müssen, wofern die erweiterte Kenntniß der Natur keinen Raum für dasselbe läßt. Die Wahrheit kann nicht zwiespältig sein: von unvereinbaren Gegensätzen muß die eine Seite fallen. Aber ist denn der Gegensatz wirklich so unversöhnlich?

Müßte

wirklich von beiden Seiten die eine fallen, wenn die andere bestehen soll? Schleiermacher warf vor mehr als dreißig Jahren die Frage auf: „Soll denn der Knoten der Geschichte so auseinandergehn, das Christenthum mit der Barbarei und die Wissenschaft mit dem Unglau­ ben?"

Das war ein prophetisches Wort.

Er sah bereits die Geister

herannahen, welche Beides, Christenthum und Wissenschaft nicht gleich­ zeitig zu fassen vermögen; und die Elemente sind weiter auseinander gegangen, als er es ahnte, die Frage ist gegenwärtig unvergleichlich berechtigter und dringlicher. Derjenige namentlich, der Beides für gleich unentbehrlich hält, das Christenthum und die Wissenschaft, der da überzeugt ist, daß das richtig verstandene Christenthum niemals die Wissenschaft und ihre Resultate zu scheuen, und daß umgekehrt eine rechtschaffene Wissenschaftlichkeit durch das wahre Christenthum nirgends in ihrer freien Entwickelung Hemmungen zu befürchten hat, daß viel­ mehr beide Theile zu ihrem Gedeihen einander bedürfen: kann sich un­ möglich bei dem bestehenden Zwiespalt beruhigen, findet vielmehr in dem Anblick der gewaltigen Kluft den Antrieb wieder und wieder zu prüfen, ob nicht die eine oder auch beide Seiten in falsche Bahnen gerathen, ob nicht die Wissenschaft und insonderheit die Naturwissen­ schaft sich in Einseitigkeiten verirrt habe, und ob nicht auf der anderen Seite für Christenthum ausgegeben werde, was lediglich eine zeitweilige Schale desselben ist. Es muß geprüft werden, ob die Widersprüche wirklich das Wesen beider Gebiete betreffen, so daß sie unversöhnlich einander ausschließen, oder ob nur die einseitigen Ausläufer es sind, die so hart widereinander gerathen. Dazu ist vor allen Dingen nöthig, sich Stand und Umfang deS Konflikts zu vergegenwärtigen. Im geschichtlichen Verlauf desselben lassen sich

deutlich

zwei Stadien unterscheiden.

In dem

früheren

Stadium beschränkt sich die Naturforschung darauf, einzelne Satzungen der Kirche anzufechten und gewissen Vorstellungen der Bibel die Wahr­ heit abzusprechen: in der Gegenwart richten sich die Angriffe systematisch gegen alles, was Christenthum heißt, und vermeinen seine Fundamente

DaS Christenthum und die Naturwissenschaften.

in die Luft zu sprengen.

293

Wir unterziehen jedes der beiden Stadien

einer besonderen Betrachtung. Eine Basis und größere Dimensionen gewannen die naturwissen­ schaftlichen Anfechtungen erst durch das kopernikanische Weltsystem. Auf Grund desselben wurden alle Vorstellungen der Bibel und im Zusammenhang damit die Satzungen der Kirche bestritten, welche auf der alten ptolemäischen Anschauung von dem Universum ruhen, nach welcher die Erde den Mittelpunkt des Ganzen bildet, um welchen die Sterne kreisen und auch die Sonne sich dreht.

Der Himmel konnte

nicht mehr über der Erde sich wölben, und die Hölle fand unter der Erde keinen Raum. Der Thron Gottes da droben mit seinen Engeln und himmlischen Heerschaaren, die Wohnsitze der seligen Geister und ihre Beschaffenheit, der Verkehr der himmlischen Welt mit ihrem irdi­ schen Jammerthal — alles das sollte nach der neuen Weltanschauung andere Gestalt empfangen. Die Fortschritte der ^Geologie und Geognosie mußten dann weiter mit der biblischen Darstellung von der Welt­ schöpfung in Streit gerathen; sie konnten weder die Zeitmaße noch den Hergang noch die Voraussetzungen der Genesis anerkennen.

Bei den

Wahnsinnigen wollte die neuere Physiologie die Dämonen des Neuen Testaments nicht mehr zulassen; und die gesammte Naturforschung schüttelte zu den Heilungen und Auferweckungen und Himmelfahrten, ja wohl auch zu der ganzen biblischen Wunderwelt bedenklich den Kopf; die Meinung verbreitete sich, daß vor der durchgreifenden Gesetzmäßig­ keit der Natur das Wunder überhaupt werde fallen müssen.

Im Zu­

sammenhang damit erwuchsen natürlich auch Bedenken gegen dieses und jenes Dogma, welches die katholische und die protestantische Kirche gleicherweise festhielten; und man konnte sich nicht verhehlen, daß die Wirkungen der völlig neuen Weltanschauung bis in den Mittelpunkt deS herkömmlichen Dogmenkreises dringen müßten. DaS etwa sind die Grenzen, in welchen die Angriffe der früheren Periode sich bewegten. Wie soll man denselben begegnen? Wir müssen zwei ältere Methoden der Abwehr zurückweisen. DaS eine ist die Methode der römischen Kirche: sie schlägt todt,

waS sich ihre

Ordnungen nicht

fügen will. Sie vernichtet die Naturforschung, wo sie den Satzungen der Kirche widerspricht, indem sie vormals den Träger solchen Frevels verbrannte, gegenwärtig wenigstens ihm Schweigen auferlegt unter An­ drohung ewiger Verdammniß. Diese Methode ist erfolglos: aus dem Blute der Erschlagenen ersteht ein Rächer, das gilt für alle Zeugen

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Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

der Wahrheit; die unterdrückte Wissenschaft hat in der römischen Kirche den Glauben in viel größerem Umfange unterwühlt, als es die offene Fehde in protestantischen Ländern vermochte. Noch mehr, die Methode ist unchristlich. Das Christenthum will Weltreligion sein; und wenn eö das will, muß es sich die Kraft zuschreiben. Alles was in der Ent­ wickelung der Menschheit aus natürlichen Bedürfnissen erwächst anzu­ eignen und mit seinem Geist zu durchdringen. Die rationalistische Methode verfällt in den entgegengesetzten Fehler.

Man eignet sich die

Erkenntnisse der fortschreitenden Wissenschaften an, und sucht sie da­ durch mit den Vorstellungen der Bibel und der Kirchenlehre in Ein­ klang zu bringen, daß man sie in den Text der heiligen Schriften hineindeutet und das kirchliche Dogma im Sinne der fortgeschrittenen Erkenntniß umdeutet. Da müssen denn die Verfasser der heiligen Schriften dieselben Vorstellungen vom Weltenbau bereits besessen haben, die uns geläufig sind, und werden gepreßt Dinge auszusagen, von welchen sie keine Ahnung haben; gegen die biblischen Schriften erlaubt man sich jede Gewalt, und es ist allbekannt, was Jesus und seine Apostel von dem aufklärenden Rationalismus sich haben gefallen lassen müssen, um aus den Wundern des Neuen Testaments das Wasser trivialer Vor­ gänge herzustellen. Diese Ausgleichung besteht nicht vor der Wahrheit, es ist ein unredliches Verfahren. Die sogenannte Freiheit der Aus­ gleichung hat die Theologie in den üblen Ruf gebracht, daß sie die Kunst sei aus Allem Alles zu machen, und dieser Kredit ihrer Priester gehört zu dem Schlimmsten, was der Kirche begegnen konnte. Eine gesunde Theologie hat sich gegen nichts so ernst zu verwahren als gegen die Freiheit der Auslegung: es existirt keine Freiheit in Sachen der Auslegung, nur eine Auslegung ist bei jedem Wort berechtigt, die­ jenige allein, welche den Sinn des Verfassers wiedergiebt. Die erste Bedingung zur Heilung ist die Anerkennung des Schadens. Die Theologie muß ohne Clausel anerkennen, daß die Vor­ stellung der biblischen Schriftsteller über die Vorgänge der Natur andere sind als die Ergebnisse der neueren Naturforschung. Alle Propheten

und Apostel, Jesus mit eingeschlossen, denken sich die Erde

als feststehenden Mittelpunkt des Weltganzen, und sind überzeugt, daß die Sonne sammt allen Sternen auf und untergehn, — das darf eine gesunde Auslegung der biblischen Schriften nicht bestreiten. Die bibli­ schen Schriftsteller schreiben wirklich die Geisteskrankheiten der Besessen­ heit durch böse Geister zu; sie glauben wirklich an Wunder, welche die natürlichen Ordnungen durchbrechen, und wollen ohne Zwifeel solche

DaS Christenthum und die Naturwissenschaften.

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Wunderthaten erzählen; ja es herrscht überhaupt in der Welt und in den Zeitaltern, wo die biblischen Schriften entstanden, eine Anschauung von der Natur und ihrem Verhältniß zum allmächtigen Gott, welche diesem gestattet unbehindert so ziemlich alles und jedes aus der Natur zu machen. Der Gedanke der Gesetzmäßigkeit, welchen die heutige Naturforschung für die ganze Naturwelt in Anspruch nimmt, war in jenen Zeiten so gut wie noch gar nicht vorhanden. Die gewaltige Differenz von damals und heute kann von dem Unbefangenen nicht geleugnet werden; und sie wird in demselben Maße unzweifelhafter, als sich jemand die Mühe nimmt sie in die Einzelheiten zu verfolgen. Diejenigen unter den protestantischen Theologen sind nun übel daran, welche mit ihrer Wissenschaft umgekehrt sind zur alten Ortho­ doxie, und gemäß der orthodoxen Jnspirationslehre die Bibel mit Haut und Haaren für das ewige untrügliche Gotteswort und für den vollkommnen Inbegriff des Christenthums erklären. Sie brauchen viel Dreistigkeit oder viel Künste, um in der Sache zurecht zu kommen. Die Analogie ihres Standpunktes mit der römisch-katholischen Position nöthigt sie immer zu einem analogen Verfahren. Entweder müssen sie die Augen zumachen gegen den wirklichen Stand der Dinge, und sich offen zu solchen Absurditäten bekennen wie der Generalsuperinten­ dent Dr. Hoffmann in seinem famosen Vortrag über den Bibelgebrauch, den er 1854 auf dem Frankfurter Kirchentag hielt, der es dort vor einer Versammlung wissenschaftlich gebildeter Männer aussprach, daß in den ersten Kapiteln der Bibel die ewig wahre Vorstellung von der Schöpfung gegeben sei, zu der alle geogonischen Theorien zurückkehren müßten, und mehr Psychologie enthalten als in sämmtlichen philosophi­ schen Werken des Alterthums und der Gegenwart zusammengenommen. Oder sie. müssen klüglich schweigen und dafür sorgen, daß vor dem Volk von den Dingen der Natur geschwiegen werde. Wäre diese orthodoxe Lehre von der Bibel wahr, so wäre eine Lösung der Differenz nicht möglich, das darf man sich nicht verhehlen. Aber diese Lehre ist glücklicherweise weder wahr noch christlich. Die Bibel ist nicht ein von Gott inspirirter Codex der ewigen göttlichen Wahrheit, an welchem der Glaube und alle Wissenschaften ihre unwandelbare Norm haben. Die Bibel ist eine Sammlung historischer Urkunden, welche über die Geschichte der jüdischen Religion und über die Ursprünge der christlichen Auskunft geben, und welche nachweislich die Unvoll­ kommenheiten aller menschlichen Geschichtschreibung an sich tragen. DaS Neue Testament insonderheit ist nicht der Inbegriff des Christenthums,

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Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

es ist ein Produkt des Christenthums, ein Zeugniß von seinen ur­ sprünglichen Wirkungen. DaS Christenthum ist weder ein Buch noch eine Lehre: das Christenthum ist Religion, eine innere Thatsache deS Gemüths, die Stellung des menschlichen Gemüths zum lebendigen Gott und die sittlichen Gesinnungen, welche daraus erwachsen.

Das

Reich der Gottesfurcht und der sittlichen Gesinnungen, welches in Jesus seinen Anfang genommen und seine Zweige über die Menschheit aus­ gebreitet hat, das ist das Christenthum.

Das Neue Testament ist die

Sammlung der geschichtlichen Urkunden, welche uns die Gestalt und das Wesen des Christenthums in seinen Ursprüngen und in seinem Urheber beschreiben.

Was darin nicht Religion ist noch sittliche Idee,

gehört nicht zum Christenthum.

Die wissenschaftlichen Vorstellungen,

welche wir bei den Schriftstellern der Bibel antreffen, sind gar nicht Bestandtheile des Christenthums, nicht einmal ihre theologischen und dogmatischen sind das, wieviel weniger ihre Begriffe von Dingen der Natur.

Die biblischen Schriftsteller, die übrigens gar nirgends den

Anspruch erheben eine wissenschaftliche Erkenntniß von den Vorgängen der Natur zu besitzen, haben in diesen Dingen keine anderen Vorstel­ lungen als ihre Zeitgenossen: und es ist darum verkehrt, diese Vorstel­ lungen biblische oder gar christliche zu nennen. Die Vorstellung der Apostel von dem Weltganzen oder von dem Ursprünge der Krankheiten ist ebensowenig eine christliche, als der See Genezareth ein christlicher ist, weil Jesus seine Werke an den Ufern desselben vollbrachte, oder der Esel ein christlicher, auf welchem er in die Stadt Jerusalem hin­ einritt.

Die Naturvorstellungen, welche in der Bilbel vorkommen, sind

weder biblische noch christliche: sie sind nichts weiter als die Vorstel­ lungen der Völker des Alterthums zu den Zeiten, in welchen die ver­ schiedenen Schriften der Bibel geschrieben wurden. Und darum wird das Christenthum gar nicht davon berührt, ob diese Vorstellungen be­ stehen oder sich ändern, ünd für einen ordentlichen protestantischen Theologen hat es nicht die mindeste Schwierigkeit anzuerkennen, daß diese Vorstellungen der alten Welt, welche auch in den biblischen Büchern angetroffen werden, zum großen Theil veraltete sind und ohne Frage der erweiterten Kenntniß der neueren Naturforschung weichen müssen. Die Theologie hat vielmehr diese Fragen gänzlich aus ihrem Gebiet zu verweisen, und ausschließlich der Naturforschung zu überlassen. Schon hier indeß entsteht auch für die Naturforschung eine Mahnung. Die Mahnung ergeht an sie, daß sie ihre Grenzen nicht überschreite. Offenbar nämlich überschreitet sie die Grenzen,

wenn sie bis dahin

vorgeht, daS Wunder überhaupt zu leugnen. Für eine freisinnige Theologie unserer Tage hat eS allerdings keine Schwierigkeit sich mit anderen gebildeten Menschen über den Begriff des Wunders zu ver­ ständigen: sie leugnet gleich diesen das absolute Wunder der orthodoxen Theologie, welches eine Durchbrechung allgemein gültiger Gesetze und Ordnungen bezeichnen würde, und beschränkt daö Wunder auf That­ sachen, welche das Maß des Gewöhnlichen überschreiten und nicht jedesmal aus der Summe gegebener Erkenntnisse begriffen zu werden vermögen. Der Begriff deS Wunders aber ist ein Gegenstand der Philosophie: ob die Gesammtheit der natürlichen Erscheinungen von dem Gesetz der absoluten Nothwendigkeit beherrscht werde oder nicht, von wo tiefe Nothwendigkeiten stammen, bis wohin sie reichen und ob sie je durchbrochen werden können, das sind metaphysische Fragen, im Gebiete der empirischen Naturforschung können sie nicht vorkommen. Diese hat eS mit den einzelnen Thatsachen zu thun, und die Regeln zu entdecken, nach welchen sie geschehen. Auch in Bezug auf die ein­ zelnen Thatsachen muß sie zur Vorsicht ermahnt werden. Gewissen über­ lieferten Thatsachen ist sie berechtigt ohne Weiteres die Existenz zu bestrei­ ten, weil dieselben mit allgemeingültigen fundamentalen Naturgesetzen in Widerspruch stehen würden. In Bezug auf andere Erzählungen darf sie sehr wohl auS ihrer umfassenderen Kenntniß der natürlichen Vorgänge Be­ denken geltend machen, und die Theologie darf sich nicht leichtfertig dagegen verschließen. Wohl aber hat sie sich zu hüten, geschichtlich wohlverbürgte Thatsachen wie z. B. die biblischen Heilungen ohne Weiteres zu läugnen, weil ihr etwa AehnlicheS im Kreise ihrer Erfahrung nicht bekannt geworden ist. Was sie nicht kennt, ist darum noch nicht un­ möglich; die Erfahrungswissenschaft überhaupt und die noch sehr junge Naturwissenschaft insbesondere muß doch gestehen, daß der Kreis deS von ihr Erkannten noch ein sehr mäßiger ist. Und wenn sie ja doch die Erfahrung machen muß, daß alljährlich überraschende Thatsachen in ihren Gesichtskreis eintreten, die noch vor Kurzem für Unmöglich­ keiten

gehalten wären: so wird es historischen Berichten gegenüber

sicher die korrektere Stellung sein, wenn sie bedenkliches noch nicht Er­ kanntes einstweilen bestehen läßt für spätere Erkenntniß, als wenn sie, was sich bekannten Analogien entzieht, ohne weiteres streicht. Auch das Andere muß von einer ehrlichen Theologie anerkannt werden, daß sich nämlich die Differenz

von der Bibel aus

Gebiet der herkömmlichen Kirchenlehre verbreitet. läugnet

werden, daß die

in das

Es kann nicht ge-

überlieferten kirchlichen Vorstellungen von

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Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

Himmel und Hölle und allen Jenseitigkeiten solche sind, wie sie bei der Annahme der neueren Naturerkenntniß nicht Bestand haben.

Der Be­

griff des Wunders muß unzweifelhaft, tote wir schon andeuteten, ein anderer werden, wo man die Gesetzmäßigkeit in der Natur erkannt hat, als in Zeiten, wo die Natur noch ausschließlich mit den Augen der Phantasie angesehen wird. Aber nicht bloß die Außenwerke der Kirchen­ lehre werden angerührt, die Differenz greift bis in das Centrum der Dogmatik. haben

Wir wollen es frei heraussagen, und wir als Theologen

den Beruf offen zu sagen, was die Naturforschung in dem

früheren Stadium zu sagen mit Recht eine gewisse Scheu trug: die kopernikanische Weltanschauung, welche unsere Erde zu einem winzigen Planeten der Sonne — einer unter Millionen Sonnen — herabsetzt, leidet nicht, daß dem Menschen Jesus Christus fernerhin eine centrale Stellung für das Universum und seinem Werk eine universelle Bedeu­ tung für die gesammte vernünftige Geisterwelt zugeschrieben werde. Wenn wir alle übrigen Gründe bei Seite lassen, welche zu gleichen Ergebnissen führen: die Lehre von der Gottheit Christi, und im Zu­ sammenhang damit die Lehre von der Dreieinigkeit in der überlieferten kirchlichen Gestalt sind mit der neuen Weltanschauung nicht in Einklang zu bringen*). Und wer sich das gesteht, der wird weiter schließen, daß die kirchlichen Dogmen von der Versöhnung und Erlösung, von der Genugthuung und Rechtfertigung demgemäß eine wesentliche Umgestal­ tung erfahren müssen. Auch diesen Gegensatz vermögen unsere modernen orthodoxen Theo­ logen nicht zu lösen. Wenn sie nicht diplomatisches Schweigen und Verdecken der Differenz erwählen, wenn sie ehrlich und fanatisch genug sind, so bleibt ihnen nichts übrig, als nach dem Vorbilde ihres be­ wunderungswürdigen Franz**) von Sangerhausen in die seligen vorkopernikanischen Zeiten Erde laufen zu lassen.

zurückzukehren und die Sonne wieder um die Nach protestantischen Begriffen aber ist nicht

die Kirchenlehre das Christenthum: Dogma und Dogmatik, Kirchenlehre und Theologie sind im Protestantismus nur Aeußerungen des christ­ lichen Geistes, zeitweilige Auffassungen und Fixirungen der herrschenden Auffaffnngen, und haben den Beruf sich im Zusammenhange mit allen

*) Sinnt. Wie das schon Melanchthon zu seiner Beunruhigung erkannte, «18 die Entdeckungen des Copernikus bekannt wurden. **) Schöpfer, Euen u. A.

DaS Christenthum und die Naturwissenschaften.

übrigen Wissenschaften zu entwickeln und zu verbessern.

und

fortschreitend

299 zu erweitern

Wenn daher im Lauf der Entwicklung eine Differenz

entsteht zwischen einem überlieferten Satz der Kirchenlehre und einem Satz der Naturlehre, so kann sehr wohl das Christenthum dabei völlig unberührt bleiben, die Differenz bezeichnet in vielen Fällen, und zwar für das vorliegende Stadium in

allen Fällen, lediglich dey Konflikt

zweier Wissenschaften, der Theologie und der Naturwissenschaft; und da bietet für eine gesunde protestantische Theologie die Lösung keine Schwierigkeiten.

Die Theologie 'hat die Ergebnisse der Naturwissen­

schaft wie aller anderen Wissenschaften sich anzueignen, und die über­ lieferten Sätze der Kirchenlehre darnach unterwerfen.

einer stetigen

Revision zu

Andererseits hat die Naturforschung ihre Sätze stets von

neuem zu prüfen, ob nicht die Schuld der Differenz auf ihrer Seite Dabei kann sehr wohl der dritte Fall vorkommen, daß beide

liege.

Theile trotz ehrlicher Revision in Positionen verharren, zusammenstimmen.

welche nicht

Da muß die Differenz einstweilen bestehen bleiben,

eben um der Wahrheit willen, wie die Theologie und Philosophie sehr häufig in dieser Lage sich befinden; nur muß dann nicht vergessen werden, daß das nicht eine Differenz zwischen Christenthum und Wissenschaft, sondern lediglich ein Konflikt zweier Wissenschaften ist. In unserem Fall liegt die Schuld überwiegend an der geltenden Kirchenlehre, sie ist gegen die anderen Wissenschaften zurückgeblieben, und hat darum die Aufgabe, das Versäumte nachzuholen. Sie kann das getrost thun, sie kann getrost die neuere Naturanschauung in ihre dogmatischen Begriffe reformirend eindringen lassen, wie denn die freiere Seite der protestantischen Theologie sich stets diesem Einfluß ausgesetzt hat; das Christenthum wird dadurch nicht beschädigt, viel­ mehr muß auch die Revision dazu beitragen, das Wesen von seinen zeitweiligen Aeußerungen schärfer zu unterscheiden. Die Theologie kann getrost den alten Himmel und die alte Hölle darangeben: es ist sehr unerheblich, wo und wie man sich die zukünftigen Dinge denkt, sogar besser, daß wir concrete Vorstellungen gar nicht darüber haben; denn das wahre Christenthum hat es vor Allem Wirklichkeit zu thun.

mit der

gegenwärtigen

Sie kann dem wissenschaftlichen Proceß ruhig

zuschauen, der sich mit den biblischen Wundern beschäftigt: das Christen­ thum ist unabhängig davon, ob sie vor der Kritik bestehen oder fallen. DaS Christenthum ist Geist und Leben; die Wunder gelten heutzutage auch in den Augen derjenigen, welche sie anerkennen, als Beiwerk. Die Lehre von der Dreieinigkeit ist vorwiegend ein Produkt metaphysischer

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Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

Spekulation; die protestantische Theologie muß es unter allen Umstän­ den für einen Fortschritt halten, wenn solche Lehrstücke, die noch dazu gar nicht in die Glaubenslehre gehören und das Christenthum in den Verdacht des Intellektualismus bringen, auö ihrer prätentiösen Stel­ lung verdrängt werden. Die Gottheit Christi bleibt zwar die Grenz­ scheide zwischen Orthodoxie und freier Theologie, aber durchaus nicht das Centrum christlicher Vorstellungen, wie von der Orthodoxie be­ hauptet wird: die göttliche Begabung und die göttliche Gesinnung sind in Christus das Wesentliche, und Christus ist nur daö geschichtliche Centrum; die fortschreitende Vergöttlichung der Menschheit durch christ­ liche Gottesfurcht

und göttliche

Gesinnung

bilden daS

Wesen deS

Christenthums. Dieses besteht, wie verschieden auch die Vorstellungen über Christus und sein Verhältniß zu Gott sein mögen; und wiederum die korrekteste Vorstellung von diesem Verhältniß macht keinen Christen, wenn dieses Wesen nicht in ihm ist.

Wer dies erkannt hat, dem fällt

eS nicht schwer die herkömmlichen Theorien von der Dreieinigkeit und der Gottheit Christi fahren zu lassen, und im Zusammenhang damit auch auS den Lehrstücken von der Rechtfertigung, Erlösung und Ver­ söhnung alles metaphysische Beiwerk zu entfernen. Die Verringerung des dogmatischen Materials wird er nicht als einen Verlust empfinden, vielmehr erscheint eS ihm als ein erheblicher Gewinn, wenn in diesem Proceß das reine Gold des Christenthums, seine ausschließlich sittliche Natur, von den Schlacken befreit wird. Solche Revision der dogmatischen Begriffe ist die Aufgabe, welche für die Theologie aus den Ergebnissen der Naturforschung entsteht; und wer die Entwickelung der anderen Wissenschaften verfolgt, wird wissen, daß von da her dieselbe Aufgabe gestellt wird.

Eine Aufgabe

der Theologie ist es aber, nicht der Naturforschung, das darf nicht vergessen werden. Die Naturforschung hat den Beruf, unbekümmert um Dogma und Theologie die Vorgänge der Natur zu erforschen und ihre Regeln hinzustellen; sie kann auch, wenn sie sich an andern Wissen­ schaften orientirt, die Stellen wahrnehmen und bezeichnen, an welchen ihre Ergebnisse z. B. mit Vorstellungen der Theologie in Streit ge­ rathen.

Weiter indeß geht ihre Aufgabe nicht: die Revision der an­

gefochtenen Sätze muß sie den betreffenden Wissenschaften, in unserem Falle der Theologie überlassen; sie ist eben weder Theologie noch Philo­ sophie. Sie hat. eben aus diesem Grunde auch keine Fähigkeit, solche Revision auf fremden Gebieten vorzunehmen, und verrichtet dies Geschäft, wenn sie sich denuoch dahin versteigt, ungeschickt und zu ihrem eignen

301

DaS Christenthum und die Naturwissenschaften.

Schaden.

ES begegnet ihr dann, wie gewöhnlich dem Außenstehenden,

daß sie aus Mangel an Sachkunde zeitweilige Formen und Begriffe mit dem dauernden Wesen der Sache verwechselt und

mit schadhaft

gewordenen theologischen Formeln das Christenthum selber meint ver­ werfen zu müssen.

Diese Erscheinung der neuesten Zeit wäre gewiß

nicht so häufig, wenn die Naturfcrschung sich streng innerhalb ihres Gebietes gehalten hätte. Soweit das frühere Stadium. Wäre der Streit in diesen Grenzen geblieben: so könnte von unversöhnlicher Gegnerschaft nicht die Rede sein, beide Theile dürften sich wohl vertragen.

Eine gesunde protestan­

tische Theologie würde nicht von Angriffen der Naturforschung gegen das Christenthum reden, vielmehr die Ergebnisse derselben als heilsame Motive für ihre Selbsterkenntniß und fortschreitende Selbstberichtigung begrüßen.

Und die Naturforschung wiederum würde bei einer entgegen­

kommenden freisinnigen Theologie sich nicht so isoliren und gegen alle ideale Betrachtungen absperren, würde auch durch diese Theologie selbst wissen, daß sie nicht zu dem Christenthum im Kriegsverhältniß sich befinde, sondern lediglich zu veralteten theologischen Formeln; und dies Offenhalten der Angen nach der idealen Seite hin würde wahrlich nicht zu ihrem Schaden gereichen. Neuerdings indeß gilt das für einen überwundenen Standpunkt. Der Streit um einzelne Dogmen erscheint als unerheblich: das ganze System, aus welchem Christenthum und Kirche erwachsen, soll mit der erweiterten Naturerkenntniß, welche die letzten Jahrzehnte ge­ bracht haben, unvereinbar sein. Diese neueste Naturforschung hält sich für berechtigt alle Jenseitigkeiten zu streichen, alles Ideale und Uebersinnliche aus dem Reich der Existenzen zu verbannen. Nicht nur Himmel und Hölle und unsterbliches Leben sind Traumbilder der menschlichen Phantasie: auch Gott existirt nicht, göttliche weltschaffende und weltgestaltende Ideen existiren nicht, und der menschliche Geist existirt nicht mehr als idealer Gestalter und Herrscher, er wird höchstens noch als veränderliches und vergängliches Produkt des leiblichen Orga­ nismus zugelassen.

Das ist der gegenwärtige Standpunkt.

Man hat diese Weisheit in ein System gebracht, oder doch in eine Form, die den Anspruch erhebt ein System zu sein, und bezeichnet es als das System des Materialismus. Die Summe desselben besteht etwa in folgenden Sätzen. Alle unsere Erkenntniß stammt auö der sinnlichen Wahrnehmung, eine andere Quelle gibt eS nicht, UebersinnlicheS hat noch nie ein Mensch erkannt.

Es existirt schlechterdings

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Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

nichts Uebersinnliches; was man mit diesem Namen bezeichnet hat, sind Einbildungen und leere Abstractionen. Wenn wir den mannichfaltigen Erscheinungen, welche wir durch sinnliche Warnehmung auf­ nehmen, auf den Grund gehen: so finden wir in allem Wechsel als das Bleibende Stofs und Kraft.

Und diese beiden so, daß

sie un­

trennbar verbunden, daß Eines ohne das Andere nicht existirt: Stoff ohne Kraft ist ein Unding und desgleichen eine Kraft ohne Stoff; die Grundstoffe Phosphor, Schwefel, Stickstoff u. s. w. sind ohne die ihnen anhaftenden Kräfte nicht zu denken.

Der Stoff und die Materie

besteht in unzähligen Atomen d. h. in kleinsten untheilbaren Theilchen; diese treten durch die ihnen innewohnenden Kräfte in mannichfaltige Verbindungen, und bilden dadurch die verschiedenen Produktionen der Natur.

Der ewige Wechsel dieser Verbindungen, das Entstehen und

Vergehen derselben bildet den ganzen Verlauf der wirklichen Welt in ihrer bunten Mannichfaltigkeit: so entsteheil die unscheinbarstrn Er­ zeugnisse und ebenso die höchsten Organismen bis zu dem Menschen hinauf. In diesem unabänderlichen Fluß und Wechsel ist das Ewige, das Bleibende, Unabänderliche der Stoff: und außer diesem ewigen und sich ewig gleichbleibenden Stoff mit seinen wechselnden Processen existirt nichts; das höchste, was wir kennen, der menschliche Geist mit allen seinen Thätigkeiten, ist eine Modifikation des Stoffes, eine Secretion der Nieren. Dieser Stoff mit seinen wechselnden- Erscheinungen ist von Ewigkeit her und bleibt in alle Ewigkeit, nicht ein Atom davon kann vergehen, nicht ein Atom neu hinzukommen; ein Entstehen aus Nichts und ein Vergehen in Nichts ist ein widersinniger Gedanke. Das etwa sind die Grundgedanken, die in den mannichfaltigsten Variationen, aber auch mit mannichfaltigcn Abweichungen und Inkon­ sequenzen bei den Hauptvertretern des Systems, bei Moleschott, Vogt, Büchner u. a. wiederkehren. Es ist wahr, diese Anschauung räumt gründlich auf mit allem Idealismus. Sollte sich erweisen, daß diese Gedanken Berechtigung haben: Christenthums nicht zweifelhaft.

so wäre freilich das Schicksal des Nicht blos geschichtliche Traditionen

und Dogmen, nein Alles, was auch die freieste Theologie und der einfältige Christ unter Christenthum verstanden hat, müßte ohne Gnade dahinfallen als tausendjährige

Träume des menschlichen Geschlechts.

Noch mehr, es wird sich Niemand verhehlen können: vor der konsequen­ ten Durchführung dieser Gedanken könnte fernerhin nichts von dem­ jenigen bestehen,

was bisher

unter dem Namen von Religion und

Sittlichkeit befaßt worden ist; und wo man dennoch das Eine oder

DaS Christenthum und die Naturwissenschaften.

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das Andere bestehn ließe, bedeutete da nur einen Mangel an Consequenz. Man müßte denn die Materie auf den Thron Gottes setzen, und die unbedingte Hingebung an die Sinnlichkeit als das ewige Sittengesetz proclamiren. Das aber wäre ein Hohn auf diese heiligen Namen: denn es bedeutet genau das Gegentheil von dem, was sie bisher in der Menschheit gegolten haben.

Diese Gebiete behaupten in jeder ihrer

geschichtlichen Formen höheren übersinnlichen Ursprungs zu fein; sie erheben den Anspruch die sinnlichen Dinge zu beherrschen und zu ge­ stalten,

und setzen sich mit ihren Forderungen vielfach

in scharfen

Widerspruch zu denselben. Wo könnten sie eine Stelle finden in dem System, in welchem die Sinnlichkeit Eins und Alles, Ausgang und Ziel ist? Was soll das Wort Gewissen fernerhin bedeuten? Es be­ zeichnet ja sittliche Forderungen aus der Idee im Widerspruch mit den sinnlichen Antrieben, die bis zur Vernichtung der Sittlichkeit, zur Selbstopferung sich steigern können.

Nach diesem System muß es als

eine reine Selbsttäuschung bezeichnet wdrden; denn was kann im mensch­ lichen Geist vorkommen, das. nicht ein Erzeugniß der sinnlichen Antriebe wäre?

Wie kann überhaupt von sittlichen Ausgaben noch geredet wer­

den, wo doch alles nach den ewigen Naturgesetzen des Stoffwechsels verläuft, und in diesem Verlauf nichts geändert werden kann? Was soll die Vernunft mit ihren ewigen Ideen und übersinnlichen Begriffen? In diesem Gedankensystem hat sie keinen Raum, man müßte denn auch diesen ehrwürdigen Namen zur Bezeichnung des Gegentheils umtaufen. Alles Ideale, alles was selbständigen höheren Ursprungs sein will, muß fallen, das verhehle man sich nicht; denn höhere Regionen als die sinnlichen Dinge existiren eben nicht, und die höchsten geistigen Thätig­ keiten sind eben nichts weiter als vergängliche Erscheinungen in dem ewigen Wechsel an dem ewigen Stoff. Und das wäre der Gipfel der Weisheit, den zu erklimmen die Menschheit so lange Jahrhunderte gerungen? Diese Vorstellungen, welche dem sinnlichen Menschen vor der Einkehr in die Hallen der Erkenntniß eignen, diese gemeine Denkweise, mit welcher die rohe Bru­ talität zu allen Zeiten sich gegen das Heilige und Erhabene spreizt, sollte nunmehr berufen sein in die Erbschaft christlicher Gesittung und philosophischer Bildung einzutreten? — Nun wie steht eö mit der Berechtigung und Haltbarkeit dieses Systems, das die gesammte frühere Weltbetrachtung verächtlich auf die Seite wirft, und alles, was die Völker in den Religionen geglaubt und verehrt, alles was ihre erhaben­ sten Geister in gewaltiger Arbeit geschaffen und im Kampf mit den

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Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

sinnlichen Mächten gewirkt haben, zu kindischen Phantasien und thörich­ ten Bestrebungen herabsetzt? Dieses System muß wohl sehr feste Fundamente haben, und die Konsequenzen aus dem Prinzip müssen wohl evident sein, daß sich kein vernünftiger Mensch denselben zu ent­ ziehen vermag? — Seltsam, so weit unsere Begriffe reichen, findet das Gegentheil statt: die Haltbarkeit deö Gedankenbaues scheint uns zu der Prätention in umgekehrtem Verhältniß zu stehen. Wir nehmen einmal die Voraussetzung an, die sinnliche Wahr­ nehmung soll die ausschließliche Erkenntnißquelle sein: wie kommt daS System von dieser Quelle zu seinen materialistischen Grundbegriffen? Die sinnliche Wahrnehmung zeigt unS eine Manichfaltigkeit von Erscheinungen, die wir durch Ausdehnung, Farbe und Gestalt von einander unterschei­ den; sie zeigt unS, daß die Erscheinungen verschieden sind, und in der Zeitfolge sich verändern und mit einander wechseln; aber „den Stoff" zeigt sie uns nicht. Sie zeigt uns überhaupt nur die Erscheinung, nicht das Ding an sich, am allerwenigsten das allen Dingen zu Grunde liegende Gemeinsame.

Dies müssen die Urheber wohl wo anders her

haben, aus der sinnlichen Wahrnehmung haben sie es nicht. Der Stoff — die Materie — sind unzweideutig metaphysische Begriffe, die auf dem Boden der sinnlichen Wahrnehmung nicht wachsen; und darum haben die Materialisten kein Recht sich ihrer zu bedienen, müssen sie vielmehr als leere Abstraktionen verwerfen. — Noch einleuchtender ist daS bei der Annahme von „Kräften": Kräfte hat doch noch nie ein Mensch gesehen, gehört oder getastet, nur die Wirkungen der Kräfte, nur die Erscheinungen, welche aus ihnen hervorgehen, fallen in die sinnliche Wahrnehmung. Von Kräften und auch von „Eigenschaften" darf ein System nicht reden, das sich ausschließlich auf die sinnliche Wahrnehmung stützt. — Und nun die „Atome." Woher stammen denn diese, und wer hat sie je gesehen? Was man sieht, und was je ein Mensch gesehen hat, sind gewiß keine Atome; was man sieht, hat Ausdehnung, und jedes Ausgedehnte kann getheilt werden in Bestandtheile von kleinerer Ausdehnung. Aber sie gehen in ihrer Gedanken­ losigkeit noch weiter, sie reden von der „Ewigkeit" des Stoffes und von der Unmöglichkeit des „Nichts"; wo es doch bei der geringsten Ueberlegung in die Augen springt, daß die Begriffe des Ewigen und deS Nichts im Bereiche der sinnlichen Wahrnehmungen nicht gefunden werden. Die sinnliche Wahrnehmung zeigt unS doch nur den Wechsel und die Veränderungen; und es gehört schon ein Schluß dazu, um überhaupt in dem Wechsel etwas Gleichbleibendes anzunehmen. Schon

Das Christenthum und die Naturwissenschaften

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solcher Schluß kann, wie der Kundige weiß, ausschließlich mit der sinn­ lichen Wahrnehmung nicht bewirkt werden; das Gleichbleibende aber als ein Ewiges anzunehmen, das wird wohl nicht angehen, wenn man nicht noch andere Erkenntnißquellen voraussetzt.



Merkwürdig, das

System, welches nichts Uebersinuliches dulden will und auf die Aus­ schließlichkeit der sinnlichen Wahrnehmung pocht, arbeitet gleich im Be­ ginn mit lauter metaphysischen Begriffen, und sucht sein Fundament im Gebiet der Uebersinnlichkeit! Das erweckt nicht eben ein günstiges Vorurtheil. Und welches ist denn nun eigentlich das Prinzip? Ist es der Stoff oder die Kraft, sind es die Atome oder die chemischen Urstoffe? Unzweideutigen Aufschluß geben uns die Bertreter des Systems nicht. Sie sagen, die Materie — der Stoff; aber kaum haben sie es aus­ gesprochen, so fügen sie hinzu, daß der Stoff ohne die Kraft nichts sei, Stoff und Kraft seien untrennbar Eines, existirten gar nicht jedes für sich, seien auch nicht für sich zu denken, vielmehr einzeln gedacht zwei leere Abstractionen. — „Was sind denn das nun aber für zwei Begriffe, die beide an sich leer sind, von denen keiner für sich gedacht werden kann, die aber zusammen etwas geben, was gedacht werden kann? So lange Menschen denken, hat man einen Begriff, der nicht für sich gedacht werden kann, niemals für einen Begriff geachtet und nimmermehr angenommen, daß aus der Verbindung von zwei Un­ denkbaren sich ein Denkbares ergeben könne." — „Und was sind das für zwei Dinge, die beide nichts sind, sich aber ergänzen und voraus­ setzen dergestalt, daß dann Etwas ist?"*) — Abgesehen also davon, daß beide Begriffe Kraft und Stoff metaphysische sind, und daß das System der absoluten Sinnlichkeit kein Recht hat, solche Begriffe als Fundament zu gebrauchen, kann doch ein System nicht wohl mit zwei grundlegenden Begriffen anfangen, die beide noch dazu für sich nichts sind; das hieße von vornherein sich für bankerut erklären. Ehe sich der Materialismus darüber nicht erklärt hat, was denn das beiden Gemeinsame oder aus beiden Bestehende sei, dürfen wir diesen beiden Begriffen die Stellung von Prinzipien nicht beilegen.



Aber auch

darüber läßt man uns in Zweifel, ob denn der Stoff und die Kraft das Fundament bilden sollen, oder diese in ihrer unendlichen Gespaltenheit d. h. die Atome. Sind es aber die Atome, so kehrt zunächst die*) Schell wie». Kritik des Materialismus. Berlin G. W F. Müller 1858. S. 7. Eine vortreffliche Schrift, der wir in ihrer kritischen Seite durch­ weg zustimmen. Spaelh. Protestantische Bausteine.

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Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

selbe Schwierigkeit wieder, denn

sic

sind Kraft

und Stoff

dann aber bringen sie noch ihre eignen Gebrechen dazu.

zugleich;

Die Natur-

forschung kennt keine Atome, wie das Autoritäten des Materialismus ganz naiv eingestehen, ohne sich übrigens ihres Gebrauchs zu enthalten; für die sinnliche Wahrnehmung existirt kein Untheilbares, wie wir schon sahen; und in der Philosophie hat dieser Begriff den

übelsten

Ruf. Am besten zu den materialistischen Voraussetzungen würde es noch stimmen, wenn sie die Summe der chemischen Urstoffe für das Fundamentalprinzip erklärten, denn das sind doch greiflichc wahrnehm­ bare Dinge.

Aber freilich das hieße zugleich auf ein Prinzip verzich­

ten: denn die Vielheit unterschiedlicher konkreter Dinge in den Anfang und Grund verlegen, heißt eben nichts anderes als das Denken und Begreifen aufgeben, und der Materialismus tritt ja doch mit der Prätention heran uns alle wirklichen Dinge erklären zu wollen. Dies gilt in gleicher Weise von den Atomen Woher ist die unendliche Gespaltenheit?

und

von den Grundstoffen.

Woher die Mehrheit von Ur-

stoffen und ihre Verschiedenheit? Und was ist denn überhaupt ein schlechthin einfacher Stoff, der doch von einem anderen ebenso schlecht­ hin einfachen Stoff verschieden sein soll? Auf diese Fragen muß das System erst Antwort geben. Weist es uns hier von der konkreten Vielheit auf die Einheit deö Stoffes zurück: so haben wir gesehen, was davon zu halten wäre. Also mit dem Prinzip des Systems ist es schlecht bestellt. Entweder weist es auf Begriffe hin, die im Wider­ spruch mit seiner Voraussetzung übersinnlicher Natur und theilweise dazu widersinniger Natur sind; oder aber cs verweist uns an die konkrete Vielheit und Verschiedenheit, die doch das Gegentheil eines Prinzips bezeichnet. Denn im menschlichen Denken lebt unverlöschlich das Bedürfniß nach einem einheitlichen Grunde aller Erscheinungen; und diesem Bedürfniß muß der Materialismus auch nach seinen Vor­ aussetzungen genügen, wenn doch nach seiner Ansicht im Denken nichts erscheinen kann, was nicht die sinnliche Welt in ihm abspiegelt. Wir wollen indeß annehmen, es wäre mit dem Prinzip besser be­ stellt, oder es gelänge doch einem Vertreter des Materialismus eS haltbarer zu formuliren und ein Einverständniß über seine Annahme zu erzielen: so entsteht immer die weitere Frage, wiefern das Prinzip sich eignet die Gedantenreihe des materialistischen Systems aus sich hervorgehen zu lassen. Um ein Prinzip abgeben zu tonnen, muß ja der Grundgedanke von so umfassendem Inhalt oder von solcher Frucht­ barkeit sein, daß die besonderen Gedanken sich daraus ableiten lassen.

DaS Christenthum unb die Naturwissenschaften.

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d. h. der Grundgedanke muß die fundamentale Realität bezeichnen, aus welcher alle Realitäten mit allen ihren Eigenschaften entspringen. An­ genommen nun, der Begriff des Stoffes oder der Materie wäre scharf und sicher formulirt und richtig gewonnen: ist er bei irgend welcher Definition geeignet das Universum mit seinen mannichfaltigen Existen­ zen aus sich hervorgehen zu lassen? — Seine Urheber halten ihn selbst nicht für geeignet, das beweisen sie dadurch, daß sie die Kraft oder die Kräfte sofort hinzunehmen müssen, um etwas entstehen zu lassen. Aber aus Stoff und Kraft zusammengenommen

entsteht

auch

noch

nichts,

das wissen sie sehr wohl; darum verwandeln sie beides sofort in Stoffe und Kräfte, d. h. in eine Mehrheit von Urstoffen mit verschievenen Beschaffenheiten und verschiedenen Kräften, und diese Mehrheit in eine unendliche Summe untheilbarer Atome zerspalten.

Sie fangen also

gleich mit einer ganzen Reihe von Begriffen an: zum Stoff nehmen sie die Kraft und die Vielheit und die Verschiedenheit und die unend­ liche Getheiltheit hinzu. Sie nehmen sie hinzu; denn daß sie dieselben nicht aus dem Begriff des Stoffes ableiten noch abzuleiten vermögen, wird niemand leugnen. Ist denn nun mit diesen Voraussetzungen etwas anzufangen, wird daraus die Welt der Erscheinungen erklärbar sein? — Wie kommt es denn, daß gerade diese bestimmten Stoffe vorhanden sind, daß nicht der eine oder der andere fehlt? Wie wäre cs, wenn z. B. der Sauer stoff fehlte oder in sehr geringer Quantität vorhanden wäre? — Wie kommt cs denn, daß gerade diese bestimmten Stoffe existiren, die so vortrefflich mit einander umzugehn wissen, und nicht statt ihrer lauter wilde unverträgliche Gesellen, die einander ewige Feindschaft geschworen haben? Wie kommt es, daß die Grundstoffe mit ihren Kräften so zu einander gestellt sind, daß sie die Möglichkeit haben durch Anziehung etwas zu gestalten; und warum liegen sie nicht im Gegentheil so durch­ einander und wider einander, daß schlechterdings nichts anderes möglich wäre als einen wüsten chaotischen Haufen zu bilden?

Denn daß

sie

so aneinander gelagert sein könnten, die Möglichkeit wird niemand be­ streiten. Auf alle diese und ähnliche Fragen gibt das Prinzip keine Antwort. Trotz ihrer fünf oder sechs Grundbegriffe müssen sie schon bei dem ersten Schritt, wenn irgend etwas entstehen soll, sogleich still­ schweigend einen Faktor in Rechnung ziehen, der wichtiger ist als alle jene zusammen genommen. Daß die vorhandenen Stoffe grade als diese und in dieser Zahl und Quantität vorhanden sind, daß sie diese bestimmten Eigenschaften und Kräfte auf einander wirksam zu werden

20*

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Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

vermögen und diese wirkliche Welt der Erscheinungen zu Stande bringen, — das ist entweder ein Werk des reinen Zufalls — oder es setzt einen Faktor voraus, in welchem sowohl die Stoffe als ihre Kräfte und Eigenschaften sowie das Verhalten derselben zu einander ihren höheren Ursprung haben. Man begreift eben nicht ein Moment des Werdens und Geschehens ohne einen höheren Ordner; und wenn man nicht den

Zufall d. h. die absolute Unvernunft

Regierer der vernünftigen Weltordnung

zum Schöpfer und

erheben will, so

wird man

wohl der ewigen Vernunft die Zügel wieder anvertrauen müssen. kann in den ersten Anfängen

nichts begreifen, wenn

man

Man

nicht den

Gedanken von ursprünglichen Ordnungen und dauernden Naturgesetzen hinzunimmt. Hinzunehmen muß man diese Gedanken, denn in den Begriffen des Stoffes und der Kraft liegen sie nicht, zumal die Vor­ stellung von der Kraft noch eine überaus dunkele Region bildet. Man muß sogleich weiter ven Begriff der Bewegung, den des Wechsels oder der Veränderung hinzunehmen; denn sonst wäre ebensowohl möglich, da ja der Stoff ewig sein soll und die Kräfte ewig, daß sie in den ein­ mal vorhandenen konkreten Verbindungen ewig und bewegungslos ver­ harrten. Wollte man uns entgegnen, daß die Bewegung und der Wechsel schon in dem Begriff der Kraft gelegen seien: so würde man nur beweisen, daß man dieses unbegreifliche und begrifflose x, welches man Kraft nennt, nur darum so unbestimmt und dunlel gelassen, um aus diesem dunklen Raum jedesmal die Vorstellungen plötzlich erscheinen zu lassen, die man grade an der betreffenden Stelle gebraucht. Man definire uns den Begriff der Kraft, so wird sich zeige» was sich daraus herleiten läßt; ohne diese Definition müssen wir dabei bleiben, daß jeder Fortschritt entweder ein erschlichener sei, oder durch Hinzunahme neuer Momente geschieht, die in dem Prinzip nicht liegen. Doch wie kommen wir weiter? Wir haben Stoffe und Kräfte, Vielheit und Verschiedenheit, Ordnung und Naturgesetz, Bewegung und Veränderung: winnen?

werden wir daraus Bildungen

Wir glauben es

höherer Ordnung

ge­

nicht; nicht die untergeordnetste Pflanze

kann daraus begriffen werden. Wäre die Pflanze nichts anderes als eine gewisse Mischung von Grundstoffen mit ihren Kräften gemäß den wirkenden Gesetzen dieser Kräfte: so

müßte sich das Ding herstellen

lassen, ein guter Chemiker müßte die Pflanze bereiten können, ja — daß wir es gleich heraussagen — es müßte seine Kunst dahin gelangen, daß er den Menschen in der Retorte erzeugen könnte. Aber sie können eben nichts. Man nehme doch alle Stoffe die eine Pflanze bilden.

Das Christenthum und die Naturwissenschaften.

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man thue sie nach genau abgewogenen Quantitäten zusammen und lasse sie mit ihren Kräften wirken: ja wir wollen ihnen freiwillig noch eins hinzugeben, man vertraue diese Mischungen dem Schooße der Erde an und lasse diese mit ihren lebendigen Kräften auf das Kunstprodukt wirken: wird eine Pflanze entstehen oder auch nur ähnliches?

etwas Pflanzen­

Nimmermehr, nicht einen Grashalm vermögen sie wachsen

zu lassen; nicht einmal Obst, Wein, Milch vermögen sie so nachzubil­ den, daß das Nachbild dem Naturgebilde einigermaßen entspräche. Das liegt eben darin, daß auch in diesen Gebilden noch etwas Anderes ist als eine Summe von Stoffen und Kräften unter der Wirkung gewisser Naturgesetze: dieses Alles bildet nur das Residuum des Organismus, wenn er dem Tode verfallen ist, das heißt, wenn dasjenige geschwunden ist, was sein specifisches Leben ausmacht. So lange er lebt, ist ein ge­ wisses eigenartiges Etwas in ihm, welches eben jenen Stoffen und Kräften diese besondere Gestalt verleiht und sie zu diesen besonderen Processen, Ent­ wickelungen und Erscheinungen nöthigt. Und dieses lebendige Etwas, das in den verschiedenen Organismen ein besonders geartetes ist, bewirkt, daß aus denselben Stoffen mit ihren Kräften so verschiedenartige orga­ nische Gebilde in der reichsten Mannigfaltigkeit erwachsen. Und darum kann einen Organismus sowie auch dasjenige, was noch irgend etwas vom organischen Leben an sich hat, nicht Herstellen, wer dieses organische Etwas nicht besitzt, das heißt, es kann nur auf dem Wege des organi­ schen Lebens fortgepflanzt werden. Und darum müssen, wenn das Gebiet des organischen Lebens begriffen werden soll, wiederum die neuen Begriffe deö Organismus und des Lebendigen, die Begriffe der Gattung und ihrer individuellen Modifikation und für jede höhere Stufe besondere Momente hinzugebracht werden; denn ohne diese bleibt das Gebiet des Organischen der Erkenntniß verschlossen. Gedächte man aber etwa den organischen Lebensproceß wiederum unter die Kate­ gorien von Kräften und Naturgesetzen zu subsumiren, so wäre das eben das schon gerügte Versteckspiel, das heißt die Annahme unbestimm­ ter Bezeichnungen, die alles Mögliche in sich begriffen,

und darum

weder Begriffe sind noch etwas begreiflich machen. Und nun der menschliche Geist — wie wird er denn aus der Materie geboren? Haben die Materialisten das irgend begreiflich ge­ macht? Er ist eine Secretion des Gehirns, sagt der eine. Da aber noch niemand ein Secret oder auch nur eine Veränderung des Gehirns durch die geistige Thätigkeit nachgewiesen hat, so bezeichnet ein anderer den Vorgang des Denkens als einen Proceß, der sofort wieder der-

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Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

zehrt was er erzeugt; und noch Andere reden von immateriellen Thätig­ keiten, kommen.

welche durch das materielle Organ Nun sie mögen

des Gehirns

zu

das unter einander ausmachen;

letzteren überdies darüber nachdenken, in dem System des Materialismus

Stande und

die

wie sie immaterielle Vorgänge unterzubringen

vermögen.

Die

materiellen Vorgänge des Gehirns mögen nun sein was sie wollen und wirken was sie wollen: daß sie der Geist seien mit seinen Thätig­ keiten, daß sie den Geist wirken, das heißt ein Selbstbewußtsein, ein Ich, hat noch niemand nachgewiesen. Mag immerhin das Gehirn phosphoresciren, wiefern ist denn dieses die Thätigkeit eines Selbst­ bewußtseins?

Die Gewitterwolken blitzen fort und fort: aber kein Ich

wird in dem elektrischen Nebel geboren. Die magnetischen Strömungen erleuchten seit Jahrtausenden den Himmel: und der Erdball beginnt nicht einmal sich selbst zu erkennen.

Man mag den Phosphor mit

allen Stoffen und Gebilden der Welt in Verbindung setzen, und es wird kein Gedanke entstehen: wie sollten Gedanken eines selbstbewußten Ich entstehen durch das Phosphoresciren des menschlichen Gehirns, das aus denselben Stoffen besteht wie viele andere Dinge?

Wenn

man den Begriff des Organismus hat, so läßt sich wohl begreifen, daß äußere Einwirkungen sich in dem Centrum sammeln und von da aus wiederum Thätigkeiten nach außen erzeugen; daß aber dieses Cen­ trum ein Bewußtsein wäre, erhellt daraus in keiner Weise. Es ist noch nicht einmal der Versuch gemacht worden, das Bewußtsein als ein organisches Erzeugniß des Gehirns nachzuweisen; und wenn daher die Materialisten den menschlichen Geist mit allen seinen Fähigkeiten ohne Weiteres als ein Erzeugniß des materiellen Organismus bezeichnen, so ist das nichts weiter als eine unvergleichliche Dreistigkeit.

Wer die

Natur des Selbstbewußtseins kennt, wird im voraus wissen, daß der Versuch gar nicht gemacht werden kann, ja daß es eine reine Absurdi­ tät wäre ihn zu machen. — Und nun dieses Selbstbewußtsein, wenn es doch nach dem System lediglich ein Spiegel der materiellen Welt sein kann, woher kommen ihm denn

übersinnliche Vorstellungen

und

Begriffe, woher ewige Ideen und der Gedanke Gottes? Woher sittliche Gedanken, das heißt doch Gedanken, die ihn über die sinnlichen Dinge erheben und zum Theil mit denselben in Widerspruch zu setzen be­ gehren? Und wenn dreiste Vertreter dieses Systems dieses ganze Reich der idealen und ethischen Welt für Illusionen erklären, die ab­ gethan werden müssen: wie ist es denn doch nur möglich geworden, daß alle diese Illusionen entstehen konnten? Aus der Welt der mate-

Da« Christenthum »nd die Naturwissenschaften.

311

riefle« Dinge tonnten doch die übersinnlichen Gedanken schlechterdings nicht erwachsen; und wenn sie auch irrthümlich wären, daß sie über­ haupt entstehen konnten, dafür wird der Materialismus den Beweis schuldig bleiben. Nicht einen Gedanken wird der Materialismus er­ klären, geschweige denn das Wesen der Vernunft oder die ewige ver­ nünftige Ordnung, wie sie sich im Universum spiegelt und vollzieht Das Prinzip des Materialismus erweist sich also als vollkommen unfruchtbar, es läßt sich aus demselben nichts herleiten. Jeder Fort­ schritt muß gewonnen werden durch Hinzunahme eines neuen Gedankens, der in dem Prinzip nicht gegeben ist. Daraus erhellt seine völlige Unbrauchbarkeit für die Erkenntniß. Wer übrigens das Universum von anderen Gesichtspunkten aus betrachtet hat, und den verschiedenen Versuchen nachgedacht seine Erscheinungen in ein System von Erkennt­ nissen zusammenzufassen: der mußte das Ergebniß vorher wissen; denn er weiß, daß von allen Begriffen der Begriff der Materie am wenigsten sich eignet das Prinzip zu sein. Denn die Materie ist das Schlechteste, das Unterste im Universum, die Schlacke eigentlich, welche übrig bleibt, wenn man alles Ideale, Lebendige und Lebenwirkende aus dem Uni­ versum hinwegdenkt. Endlich aber, wie verhält es sich mit der Voraussetzung des Materialismus, die wir einstweilen bestehen ließen? Ist die sinnliche Wahrnehmung wirklich die ausschließliche Quelle aller Erkenntniß? Nun, wir haben nicht nöthig uns auf eine Erörterung dieses Gegen­ standes einzulassen. Wer nach Kant und Fichte das behaupten kann, für den sind die gewaltigen Geistesarbeiten unserer Nation auf diesem Gebiet vergeblich geschehen, der beweist seine völlige Unwissenheit in Sachen der Erkenntnißlehre. Jeder, der das ABC der neueren Philo­ sophie tnnc hat, weiß, daß die Erkenntniß auf dem Wege der sinnlichen Wahrnehmung nicht zu Stande kommt, daß Begriffe, Urtheile, Schlüsse gar nicht und die Vorstellungen nicht ausschließlich aus b'er Sinnlich­ keit stammen, ja daß selbst die sinnliche Wahrnehmung nicht vor sich gehen könnte, wenn nicht ein über aller Sinnlichkeit erhabenes Selbst­ bewußtsein mit seinem übersinnlichen Inhalt schon vorhanden wäre und gegen die von außen kommenden Sinneseiudrücke reagirte. Die größeste und sicherste Errungenschaft der neueren Philosophie wirft der Mate­ rialismus über Bord, stellt das Verhältniß auf den Kopf obne jeden Versuch der Begründung, ja ohne auch nur um einige Kenntniß der Sache sich bemüht zu haben. Summa. Der Materialismus ruht auf Unwissenheit in seinen

312

Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

Voraussetzungen, verfährt gedankenlos in der Aufstellung seines Prinzips, erweist sich als unfruchtbar in seinen Grundgedanken, und bietet statt Erkenntniß die Willkür dreister Behauptungen. Dieses System, welches das Reich der Ideen zu Gunsten der sinnlichen Welt zu vernichten und die Erbschaft der deutschen Philosophie anzutreten gedenkt, ist ein Armuthszeugniß für seine Urheber, eine Beleidigung für die deutsche Nation, und konnte überhaupt nur auskommen in dem Interim, wo die Philosophie genöthigt war zeitweilig sich zurückzuziehen.

Dies System,

dessen Summa auf die Weisheit der rohen Brutalität hinausläuft, kann weder der Philosophie noch dem Christenthum ernstlich Abbruch thun. Das deutsche Gemüth läßt sich die idealen Mächte nicht rauben und selbst in den realistischen Perioden ist bei uns so viel philosophische Erkenntniß verbreitet, daß der wissenschaftlich Gebildete die Nichtigkeit der materialistischen Argumentationen begreift.

Lediglich dem Halb­

gebildeten und dem beschränkten Fachmanne mag die Dreistigkeit eine Weile imponiren, im Uebrigen wird nur der rohe Mensch sich brüsten, daß seine Grundsätze den hochklingenden Namen eines Systems empfangen haben. Zur Ehre der Naturforschung müssen wir aber bemerken, daß wir diesen Widerspruch gegen das Christenthum als einen Angriff der Naturwissenschaft gar nicht betrachten. Es ist ja eine Philosophie: der

Materialismus, der die Resultate der

neueren Naturforschung

durch philosophische Lappen und Reminiscenzen zusammenflickt, erhebt ja den Anspruch ein System der Erkenntniß darzubieten. Die deutsche Philosophie, der wir diesen Sprößling überlassen müssen,

wird

mit

ihm kurzen Prozeß machen; und wir vermuthen, die Naturforschung, soweit sie wissenschaftlichen Sinn bewahrt, wird nicht Lust haben sich des Ausgestoßenen anzunehmen und ihren durch eminente Leistungen wohlbegründeten Ruf durch Adoption solcher Mißgeburt zu beschädigen. Die Naturwissenschaft ist nicht Philosophie: sie erforscht die Vorgänge und Gesetze der Natur, und überläßt es der Philosophie ihre Ergebnisse für die andern Gebiete der Erkenntniß zn verwerthen. Als System ist also der Materialismus ungefährlich, cs fehlt ihm die Legitimation in Sachen der systematischen Erkenntniß mitzureden. Dieselben materialistischen Anschauungen sowie dieselben Abneigungen gegen das Reich des Idealen sind indeß auch unabhängig von einer Systematisirung in naturwissenschaftlichen Kreisen weit verbreitet; und die Möglichkeit ist ja nicht zu läugnen, daß das System zwar grund­ schlecht, und doch wesentliche Bestandtheile von seinem Inhalt in der

313

Das Christenthum und die Naturwissenschaften.

Wahrheit begründet sein könnten.

Die Naturforschung hat sich aus­

schließlich der Empirie ergeben; und sie meint, daß die empirische Er­ kenntniß zu Resultaten führe, welche keineswegs für die idealen Mächte, auf denen das Christenthum ruht, günstig ausfallen.

Insonderheit die

Männer der Specialforschung, die in einzelnen Zweigen der exacten Wissenschaften Ausgezeichnetes leisten, wollen

gemeiniglich

von dem

Christenthum gar nichts wissen: sie finden es eben nicht in ihrer Chemie oder Mathematik; und ihre Kollegen in andern einzelnen Fächern sagen ihnen, daß sie es auch nicht gefunden haben. Der eine hat alle Räume des Himmels durchforscht, und nirgends eine Spur Gottes wahrge­ nommen; der andere fragt höhnend seine Zuhörer, ob sie schon jemals bei der Section eine Seele gefunden hätten. Das sind so allbekannte Aeußerungen, wie sie die Stimmung hervorragender Specialforscher in diesen Gebieten charakterisiren. Wir Forschung;

unsererseits

sind

wahrlich

nicht

Gegner

der

empirischen

wir halten diese Seite der Erkenntniß für unentbehrlich,

und im gegenwärtigen Zeitalter vorzugsweise berechtigt. Die idealistische Philosophie hat im verflossenen Jahrhundert Großartiges für die Er­ kenntniß geleistet, aber in ihren aprioristischen Konstructionen des Universums war sie in Gefahr den Boden unter den Füßen zu ver­ lieren, indem der Energie ihrer Speculation durchaus nicht eine gleiche Energie in der Erforschung der concreten und positiven Dinge entsprach. Die bedeutenden Fehlgriffe, die daraus hervorgingen, der Mangel an Fruchtbarkeit ihrer Ergebnisse mußten den Umschlag bewirken.

Und

es ist darum vollkommen in der Ordnung, daß namentlich wir Deut­ schen, die wir uns in idealistischer Speculation etwas übernommen hatten, uns nunmehr eifrig bemühen ganz nüchtern in den weiten Räumen der wirklichen Dinge aus dem Wege der erfahrungsmäßigen Forschung das Material zu erobern, auf welches jeder weitere Fort­ schritt der Erkenntniß sich gründen muß. Die Geschichte namentlich und die Naturwissenschaften mit allen ihren Specialforschungen stehen auf der Tagesordnung; und derjenige verkennt die Signatur unserer Zeit, der sich diesem Gang widersetzen wollte. Also die empirische Richtung mit allen ihren Specialforschungen ist ein gesunder Trieb des Zeitalters. Sollen wir die Menschheit in allen ihren Entwickelungen kennen lernen, so müssen eine große Anzahl von Forschern ihre Kraft und ihr Leben daran setzen, beschränkte Ge­ biete der Geschichte in's Einzelne zu durchdringen; und das Material, welches der Naturforschung vorliegt, ist von so ungeheurem Umfang

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Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

daß nur eine strenge Arbeitstheilung und Selbstbeschränkung für das Fortschreiten der Wissenschaft das Erforderliche zu leisten vermag. Je mehr einer indeß darauf angewiesen ist, sich mit seiner Forschung in einem beschränkten Beruf zu concentriren, um so unerläßlicher wird es für ihn sein Auge nach allen Richtungen für die anderen Lebens­ gebiete offen zu halten, und sich stets seiner Schranken bewußt zu bleiben. Der Specialforscher ist allerdings in seinem Recht, wenn er während der eignen Forschung von den Thatsachen andrer Gebiete einstweilen keine Notiz nimmt, um nicht durch Uebertragung auswärtiger Voraus­ setzungen die Resultate der eignen Forschung von vornherein zu fälschen. Aber eben so muß er sich bescheiden nur sein Fach ordentlich zu ver­ stehn, und hat keinen Beruf mit seinem Urtheil in andre Gebiete über­ zugreifen.

Wenn er dennoch sich anmaßt über alle Dinge abzusprechen,

oder wenn er sich gar mit seiner Fachwissenschaft so isolirt und ab­ sperrt, daß er seinen Antheil für das Ganze nimmt und allem klebrigen die Anerkennung versagt: so habe» alle seine desfallsigen Urtheile keinen andern Werth als die Behauptungen eines unwissenschaftlichen und ungebildeten Menschen.

Der Chemiker, der nichts weiter wissen will

als seine Chemie, der Mathematiker, der in den algebraischen Formeln sein volles Genüge hat: sie und, wofern sie sich gegen Alles, was in ihrer Mathematik oder Chemie nicht vorkommt, gleichgültig oder ab­ sprechend verhalten, wenn auch vielleicht vorzügliche Mathematiker und Chemiker — dennoch Menschen ohne Bildung und Wissenschaftlichkeit. Denn die Bildung besteht eben darin, daß man von allen Erkenntnissen und Bestrebungen, welche in der Zeit circuliren, sich durchdringen, und auch für seine besondere Berufsthätigkeit erleuchten läßt; und die Wissen­ schaftlichkeit ist die Weise des Forschens, welche dem Specialforscher das Bewußtsein erhält, daß seine besondere Wissenschaft ein einzelner Zweig ist an dem Baume der Wissenschaften, und daß dieser Zweig nur gedeihen kann, wenn er sich stets mit den Arbeiten und Ergebnissen aller Erkeuntnißgebiete in Zusammenhang erhält. Anmaßliche Ans­ sprüche und höhnische Leugnungen, wie wir sic mittheilten, müßten wir geradezu als Aeußerungen der Rohheit bezeichnen. Es ist ja die Art des rohen Menschen, mit seinem kleinen Besitzthum oder seinen Wissens­ brocken sich aufzublähen, und seinen beschränkten Gesichtskreis mit den Grenzen des Universums zu identisiciren. Vor solchen rohen Aeuße­ rungen könnte überdies ihre eigene Wissenschaft sie zur Genüge be­ wahren; den,, sie haben täglich mit Dingen zu schassen, welche sie weder mit dem Fernrohr noch bei der Section entdecken, welche weder auf

Das Christenthum und die Natnrwissenschaften

315

der Wagschale noch als Bestandtheile der chemischen Analyse wahrge­ nommen werden. Wer hat denn die Electricikät, den Magnetismus, das ?icht jemals gewogen oder als ein Besonderes in seinen Händen gehabt?

Wer hat denn namentlich die „Kräfte" jemals gesehen oder

gehört oder geschmeckt, mit welchen doch diese Anschauung so zuverlässig rechnet? — Nein die Sprüche dieser ungebildeten und unwissenschaft­ lichen Specialforschung haben keine Bedeutung, und werden den wirk­ lich Gebildeten nicht irre machen. Welcher Gebildete wird sich von dem Chemiker über die Existenz des Geistes und von dem Astronomen über das Dasein Gottes belehren lassen? Der Empirismus aber, die Form der Erkenntniß, cte sich überall auf Erfahrung gründet, begünstigt er etwa die materialistischen An­ schauungen? — Wir haben die Berechtigung dieser Erkenntnißweise namentlich für die Gegenwart anerkannt, wir beschränken die Berechti­ gung nicht auf das Gebiet der exacten Wissenschaften, wir dehnen sie aus auf alle Kreise des Wissens, und verlangen selbst für die Philo­ sophie durchweg eine empirische Unterlage.

Aber wir leugnen, daß die

Erfahrung die materialistischen Vorstellungen begünstige.

Es ist nicht

wahr, daß ausschließlich die sinnlichen Dinge von der Erfahrung wahr­ genommen werden. Die übersinnlichen Thätigkeiten des Geistes, die vernünftigen Begriffe und ewigen Ideen, die Existenz des persönlichen Selbstbewußtseins sind ebenso unzweifelhaft Thatsachen der Erfahrung wie die Vorgänge des leiblichen Organismus, ja sie sind es noch un­ zweifelhafter, weil sie dem erfahrenden Ich unmittelbar angehören, während die sinnlichen Vorgänge erst durch Vermittlungen in den Bereich seiner Wahrnehmungen fallen. Wie kommt nun diese Anschauung dazu, die sinnlichen Dinge für den Grund und Ursprung aller anderen an­ zunehmen, oder gar diesen ausschließlich die Existenz zuzusprechen? Durch die Erfahrung gewiß nicht; die Erfahrung bezeugt die Existenz beider Seiten, und sagt schlechterdings nichts darüber aus, wo Ursprung oder Princip gelegen sei. Es ist also mit nichte» jene Annahme ein Ergebniß der Erfahrungswissenschaft,

sie ist vielmehr eine speculative

Voraussetzung, die sich von anderen wie wir sahen nur durch ihre absolute Wiükürlichkeit und Unbrauchbarkeit unterscheidet. Die Erfahrung bezeugt ebenso gewiß das Dasein des lebendigen Gottes, wie sie uns die sinnliche Welt mit ihren mannigfaltigen concreten Gebilden

kennen

lehrt.

Woher

stammte denn

alle Religion,

woher fände sie sich vor in allen Völkern und in allen Generationen, wenn nicht der lebendige Gott sich selber überall wirksam bezeugte in

316

Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

seinen Werken und in dem Heiligthum

des menschlichen Gemüths?

Wer mag die Thatsache bestreiten, daß die Menschen von jeher sich genöthigt gesehen haben in den Werken der Sfchöpung, in ihren Ge­ bilden und Ordnungen und Ereignissen einen schaffenden ordnenden regierenden Gott wahrzunehmen? Und wer die andere Thatsache, daß alle religiösen Menschen aller Zeiten, die frommen wie die unfrommen, in ihrem Gewissen die gebietende Stimme des heiligen GotteS erken­ nen zu müssen meinten? Wie kommt nun die materialistische Anschau­ ung dazu, die Thatsachen zwar, welche sie mit Fernrohr und Retorte in der sinnlichen Welt entdeckte, anzuerkennen, jene anderen aber im menschlichen Gemüth, welche die Geschichte von Jahrtausenden durch alle Religionen und Philosophien bezeugt, zu bestreiten? Durch die Erfahrung gewiß nicht; denn die Erfahrung bestätigt beide, und zwar die Thatsachen der Religion in unvergleichlich reicherem Maße und allgemeinerem Umfang, als die noch sehr relativen Ergebnisse der noch sehr jungen Naturforschung. Es ist die Verneinung nicht ein Ergebniß der Erfahrungswissenschaft: es ist eine speculative Willkür. Wenn die Erfahrung überhaupt entscheiden könnte: so würde sie in der Alternative zwischen Materie und Selbstbewußtsein sich viel eher gegen die Mate­ rialisten und für Fichte, und in der Alternative zwischen Welt und Gott sicherlich für Christenthum und Philosophie entscheiden, d. h. für dasjenige, was durch die Erfahrung aller Jahrhunderte und die Erkennt­ niß aller großen Geister als wahr bezeugt ist. Aber die Erfahrung kann überhaupt nicht entscheiden, die Entscheidung liegt eben in einem anderen Gebiet. Um wenn die Männer der exacten Wissenschaften behaupten auf Grund ihrer Erfahrungen die sinnlichen Dinge bejahen und die übersinnlichen verneinen zu müssen: so finden sie sich einerseits im Widerspruch mit aller Erfahrung, und greifen anderseits in Gebiete über, welche in das Bereich ihrer Erfahrung nicht fallen. Denn das ist das andere,

was gegen sie spricht, daß die Er­

fahrungswissenschaft nur die eine Seite der Erkenntniß bildet, zu welcher das Denken aus Ideen und durch Vernunftbegriffe als die unentbehr­ liche andere Hälfte hinzukommen muß.

Wir haben schon erinnert, daß

keineswegs die sinnliche Wahrnehmung, wie die Materialisten behaupten, die Quelle unserer Erkenntniß ist, daß vielmehr unabhängig von allen sinnlichen Dingen und über aller sinnlicher Wahrnehmung das persön­ liche Selbstbewußtsein mit seinen Ideen Begriffen und Kategorieen ge­ geben ist, durch welches allein Erkenntniß möglich wird, welches auch sinnliche Wahrnehmung und Erfahrung

nicht

und

ohne

geschehen

Das Christenthum und die Naturwissenschaften.

könnten.

317

Gerade die Erfahrung d. h. eine gründliche Erforschung der

innern Vorgänge des denkenden Selbstbewußtseins hat zu dieser Ein­ sicht

geführt.

Der sinnlichen Wahrnehmung steht die

übersinnliche

Wahrnehmung der geistigen Thatsachen unabhängig zur Seite;

und

beiden, der äußeren und inneren Erfahrung, steht als der andere Pol das vernünftige Denken gegenüber. Das ist das wirkliche Verhältniß. Die Erfahrung schlechthin für sich ist nichts und vermag nichts.

Sie con-

statirt lediglich die Thatsachen, wie sie ihr erscheinen, und muß sie ein­ fach constatiren, mögen sie zu einander stimm eit oder im Widerspruch stehn.

Sobald sie beginnt zu urtheilen, zu combiniren und durch Com­

bination Regeln aufzufinden: so thut sie das schon auf Grund von Begriffen und vermöge Operationen,

die nicht

aus

der Erfahrung

stammen. Wie vermöchte sic gar von sich selber zur Annahme von Naturgesetzen zu gelangen? Naturgesetz ist ein Vernunftbegriff, ewiges Naturgesetz ein Urtheil auö der Idee. Alle solche Urtheile und An­ nahmen setzen das vernünftige Denten voraus. Und sobald die Er­ fahrungswahrnehmungen auch nur den Ansatz machen Erfahrungs­ wissenschaft zu werden, die Wahrnehmungen auf dem Gebiete der Natur zur Naturwissenschaft sich zu erheben, so vermögen sie das wiederum nur durch die andere metaphysische Voraussetzung von der Selbigkeit des vernünftigen Bewußtseins in allen Menschen; nicht eine encyclopädische Classification kann ohne diese Hülfe zu Stande kommen. Die Erfahrung, die von sich selber nicht einmal urtheilen kann, hat, auch wo sie sich zur Erfahrungswissenschaft gestaltet, bekanntlich niemals das Recht allgemeine Urtheile zu fällen; und wo das dennoch in dieser Wissenschaft geschieht, fließt es aus anderen Quellen und höheren Voll­ machten.

Die Erfahrungswissenschaft hat daher alle Ursache sich zu

bescheiden uitd ihrer Schranken sowie ihrer auswärtigen Hülfsquellen bewußt zu bleiben; sie hat schleck terdings keinen Beruf über die An­ gelegenheiten derjenigen Wissenschaft zu Gericht zu sitzen, in der sie eine Schkvester höheren Ursprungs anerkennen muß, mit deren Mitteln sie arbeitet und die ihr selber ihre Stellung und ihre Grenzen anweist. Wo sie es unternimmt über das Reich der idealen Existenzen absprechende Urtheile zu fällen: da ist das eine anmaßliche'Verkennung ihrer Stel­ lung und Ueberschreitung ihrer Befugnisse. Das Alles gilt in gleicher Weise von der Naturforschung, sofern sie ausdrücklich als eine empirische Wissenschaft sich ausgiebt. Es steht ihr als solcher z. B. nicht zu, über das Wesen und den Ursprung des Geistes zu urtheilen. Zu dem Kreise ihrer Aufgaben gehört es aller-

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Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

dings, den innigen Zusammenhang an allen Punkten nachzuweisen, welcher zwischen dem Geist und der leiblichen Organisation besteht, nachzuweisen den Einfluß der leiblichen Organisation auf die geistige Individualität und die geistigen Functionen, sowie die stetige Abhängigkeit des Geistes und aller feiner Thätigkeiten von den Beschaffenheiten der leiblichen Organe und allen organischen Vorgängen: die Psychologie sowie alle Wissenschaften, welche auf psychologischen Voraussetzungen ruhen, werden jeden Fortschritt der Naturforschung in diesem Verhält­ niß dankbar entgegenzunehmen haben.

Weiter jedoch reicht hier ihre

Befugniß nicht: ob der Geist vor der leiblichen Organisation existirte, ob er fortleben wird, wenn der leibliche Organismus dem Tode ver­ fällt, ob in dem Leibe oder in dem Geiste der Ursprung des anderen, oder ob beider Ursprung gleicherweise in einem höheren Dritten zu suchen sei, darüber weiß sie nichts, das sind Fragen, die über die Er­ fahrung hinausliegen. Sobald sic sich mit diesen Fragen beschäftigt, Hort sie auf Erfahrungswissenschaft zu sein und wird Philosophie; mit der Philosophie aber haben wir es hier nicht zu thun, wollen indeß gelegentlich daran erinnern, daß sich auf Grund empirischer Natur­ forschung eben so häufig eine idealistische Naturphilosophie gebildet hat als eine materialistische, und unbestritten von größerem philosophischen Werth als diese, Die empirische Naturforschung hat auch ihrerseits viel Gelegen­ heit in ihrem eigenen Gebiet das Dasein und die Wirkung der idealen Mächte wabrznnehmcn, wenn sie nur ohne Vorurthcil und Einseitigkeit sich der reinen und vollen Erfahrung hingibt. Cs kann ihr nicht ent­ gehen, daß das Verhältniß des Geistes und Leibes ein gegenseitiges ist: wie die Einwirkungen der leiblichen Vorgänge auf die Seelenzu­ stände, hat sie eben so häufig Gelegenheit die mannichfaltigen und handgreiflichen Wirkungen zu erkennen, welche die Individualität des Geistes und sein Temperament, welche seine Anlage, seine Beschäftigung, seine Nahrung, seine sittlichen Begriffe und religiösen Vorstellungen auf die leiblichen Zustände, auf Gesundheit und Krankheit, auf Energie und Schlaffheit der organischen Thätigkeiten hervorzubringen vermögen. Sie besitzt nur die eine Hälfte der Erfahrung, wenn sie alles dieses übersieht; und ihre Jünger, die Aerzte bleiben Stümper, wenn sie diese Seite nicht verstehen oder nicht in Anschlag bringen. — Die empirische Naturforschung vermag überall den lebendigen Gott zu finden; und eigentlich hat niemand soviel Anlaß, seinen Geist zu vernehmen als gerade der Naturforscher.

Bei jedem Blick in die Vorgänge der Natur

Das Christenthum und die Naturwissenschaften.

319

treten ihm die Wunder der Schöpfung in unvergleichlicher Herrlichkeit entgegen: die Sicherheit der Gesetze, die Vollendung der Formen, die wundervolle Harmonie der Organe, die erhabene Weisheit in der Stufen­ reihe der Schöpfungen von dem einfachsten Gebilde bis zur Gotteben­ bildlichkeit des vernünftigen Menschen und ihre wundersame Verkettung und Beziehung auf einander, rie freie eigenthümliche Entwickelung in unerschöpflicher Mannichfaltigkeit und die unwandelbaren Nothwendig­ keiten der großen Fundamente, alles das kann demjenigen am wenigsten verborgen bleiben, der täglich berufen ist in die geheime Werkstatt der Natur einzutreten. Die Betrachtung zwingt ihn überall die ewige Ver­ nunft und Weisheit zu entdecken, welche das Ganze der Natur trägt und ordnet, und alle ihre einzelnen Gebilde mit schaffenden gestaltenden Ideen durchdringt.

Die Himmel erzählen die Ehre Gottes, ihn preist

das Firmament — das gilt zu allen Zeiten für die einfältige Be­ trachtung; nur daß wir heute einen Lobgesang auf die Wunder des Mikroscops hinzufügen müßten. Entweder zeugt es von moderner Blasirtheit, wenn man sich diesen unwillkürlichen Betrachtungen ver­ schließt, weil es ja ein so altherkömmlicber und darum trivialer Ge­ danke ist Gott in seinen Werken zuerkennen; oder aber die Erfahrungs­ wissenschaft, die sich für solche ausgicbt, ist dieses Namens nicht werth, ist ein Erfahren mit philosophischen Vorurtheilen oder ein ungesundes zerstreutes Erfahren, das die Welt nur in ihren Elementen orer ii't ihren Excrementen wahrnimmt. Wer in der Natur nichts weiter sieht als Phosphor, Schwefel, Stickstoff, Sauerstoff und ihre Verbindungen, erfährt eigentlich von der großen Gotteswelt so gut wie nichts: er gleicht dem Manne, dem eine Welthauptstadt nichts weiter ist als eine Summe von Mauersteinen, und der die vollkommenste Eiche nur darauf ansieht, wie viel Klafter Holz sich daraus schlagen lassen. Also der Empirismus als solcher und auch die empirische Naturforschung sind nicht Gegner der idealen Mächte, in denen alle Religionen und auch das Christenthum besteht. Im Gegentheil, die gesunde, empi­ rische Naturforschung, wenn sie nur ohne Vorurtheil und Blasirtheit sich auf's volle ganze Erfahren und Erforschen verlegt, findet überall in ihrem Gebiet die Spuren und Ordnnngen höherer Mächte, und kommt überall an die Grenzen, wo die Natur und die Naturforschung ihren Ursprung und ihre Abhängigkeit von den Ordnungen einer höheren Vernunft wahrnehmen muß. Gesunde empirische Naturforschung wird sich darum niemals erlauben, in das Reich der ewigen Ideen aburthei-

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Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

lend einzugreifen, vielmehr sich bewußt bleiben, daß sie selber ohne dieses nichts ist. Also der Materialismus ist nichtig,

und der Empirismus

mit

seinen Specialforschungen führt nicht zu antireligiösen materialistischen Anschauungen. Wenn daher dennoch die neuere Naturforschung von der Neigung beherrscht wird die idealen Existenzen zu leugnen, so ist das eine gründliche Verirrung; weder philosophische Betrachtung noch ihre empirische Richtung berechtigen sie dazu.

Dem einseitigen Idea­

lismus unserer großen philosophischen Epoche ist ein noch viel einseiti­ gerer Realismus gefolgt; die dreisten Aufstellungen des materialistischen Systems durch Notabilitäten der Naturforschung vermochten der großen Masse der Jünger bei der herrschenden realistischen Richtung um so mehr zu imponiren, als die Empiriker und Specialforscher in ihrer Abneigung gegen die Speculation auch die Rudimente philosophischer Bildung sich anzueignen versäumten, und als sie auf der anderen Seite eine Kirche und Theologie sich gegenübersahen, deren Satzungen zum großen Theil bereits thatsächlich dem Gericht der gebildeten Welt ver­ fallen sind. Aber es ist eben eine Einseitigkeit, eine Verirrung, das darf der Naturwissenschaft nicht vorenthalten werden. Sie hat einzu­ lenken in die Bahn eines gesunden Empirismus, und muß sich die Aufgabe stellen, sich selber und ihre Schranken zu erkennen. Das kann den Männern der Naturwissenschaft auch gar nicht schwer fallen; denn bei den meisten von ihnen ist es ja nicht eine posi­ tive Feindschaft gegen das Reich des Idealen, was sie in diese Stel­ lung getrieben hat, vielmehr vorwiegend die Abneigung dem Empirikers gegen die bisherige Form des speculativen Denkens und die relative Gleichgültigkeit des Specialforschers gegen auswärtige Erkenntnißgebiete, und nur ver imponirende Vorgang materialistischer Notabilitäten hat diese Stimmung zur activen Gegnerschaft gesteigert. Werden die Empiriker und Specialforscher sich eifriger als eine Zeit lang bemühen, ihren besonderen Beruf mit dem Strom allgemein wissenschaftlicher Bildung in Verbindung zu erhalten, werden sie die philosophische Nichtigkeit und die zweideutige Bundesgenossenschaft des materialistischen Systems begreifen: so hat es keine Noth, ein gesunder Empirismus wird ohne Zweifel die Schärfe der Verstimmung bald in das richtige Maß zurückführen, so daß sie nur noch gerichtet bleibt gegen veraltete Formen der Kirche und überlebte Formeln der Theologie, nicht aber gegen die ewigen Grundlagen der Religion. Und daß der Conflict, sobald er in diese Grenzen zurückgekehrt ist, für eine echte protestantische

Das Christenthum und die Natnrwiffenschafteu.

321

Theologie keine Schwierigkeiten der Lösung bietet, haben wir oben deS Weitern erörtert. Damit es aber der Naturwissenschaft möglich werde auf den richti­ gen Weg einzulenken, hat die Theologie vor Allem die Aufgabe die Vorurtheile, welche vornehmlich durch ihre Schuld entstanden sind, hin­ wegzuräumen.

Sie hat unablässig darauf hinzuweisen, daß die christ­

liche Religion etwas Anderes sei als Dogma und Theologie, daß Dogma und Theologie allen Veränderungen des wissenschaftlichen Processes unterworfen sein müssen. Sie muß selber vorangehen in der schärfsten Kritik gegen die überkommenen theologischen Vorstellungen, und muß zu dem Zweck bereitwillig wie von allen Wissenschaften so auch aus den Händen von Naturforschern die Fortschritte der Erkenntniß entgegen­ nehmen, und nicht nur nach dem kopernikanischen Weltsystem ihre eschatologischen und trinitarischen Vorstellungen, sowie nach der Erkennt­ niß der Naturgesetze ihre Vorstellung von der göttlichen Wirksamkeit umgestalten, sondern auch z. B. der bessern Erkenntniß von dem innigen Verhältniß des Leibes zur Seele auf ihre psychologischen ethischen und pädagogischen Sätze den gebührenden Einfluß gewähren. Geschieht dies von beiden Seiten, erweist sich die Theologie bereit in Anregung der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse sich selbst zu reformiren, und besinnt sich andererseits die empirische Naturforschung darauf, daß sie nur ein Glied ist am Organismus der Wissenschaften, das nur aus dem Ganzen sein Leben hat: so kann die gegenwärtige Spannung so nicht bestehen bleiben. Der Gegensatz wird als das erkannt werden, was er ist: nicht ein Conflict der Naturforschung mit dem Christen­ thum, sondern die unvermeidliche Friction zweier Wissenschaften, die nach entgegengesetzten Polen sich strecken, die aber beide berufen sind einander zu dienen und zu fördern, und diesen gegenseitigen Dienst am besten erfüllen, wenn jede in ihrer eigenen Sphäre das Mögliche zu leisten sucht. Theologie und Naturforschung mögen in Streit gerathen, und ihre Einseitigkeiten in unvereinbare Gegensätze: Christenthum und Natur, Sittengesetz vertragen sich zu allen Zeiten.

322

Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

Glauben und Wissen. Was wir der Naturforschung nicht einräumen, werden wir es der Philosophie versagen dürfen? Ist es nicht eben die Philosophie, welche diejenigen Gebiete zu bearbeiten hat, die für die Naturforschung als unzugänglich erklärt werden mußten, die höchsten Gegenstände mensch­ licher Erkenntniß, Denkens?

die Ursprünge des Lebens

und

die Urgründe des

Hat die Philosophie nicht dieselben Ziele der Erkenntniß,

und stammt sie nicht aus denselben Trieben und Bedürfnissen, welche zu allen Zeiten die Religionen erzeugt haben? Und werden die Reli­ gionen diese Konkurrenz bestebcn, die Konkurrenz des systematischen begrifflichen Denkens? Was wird aus dem Christenthum, wenn die Philosophie seine Dogmen zersetzt, wenn vor der unwiderstehlichen Kraft und Klarheit des Gerankens die kirchlichen Vorstellungen dahinfallen, wenn selbst die christliche Gottesirce vor ihren Begriffen nicht Stand zu halten vermag? Es ist ja Thatsache, daß die Philosophie der Naturforschuug darin vorangegangen ist, den christlichen Vorstellungskrcis zu zersetzen. Vor­ mals überwiegend indirekt: indem die Philosophie von ihren eigenen Prinzipien aus selbständig ihre Gcdankeugcbäude entwickelte, die dann, wie sie ohne Rücksicht auf das kirchliche Dogma entstanden waren, in ihren Resultaten demselben vielfach widersprachen, nicht selten seine Fundamente erschütterten. Später wurde das Verhältniß ein polemi­ sches: die linke Seite der Hegclschen Schule war es insbesondere, welche sich die Aufgabe stellte mit philosophischen Waffen das Christenthum zu entwurzeln, um ein neues Wcltaltcr der Erkenntniß heraufzuführen; und Feuerbach setzte dem Werk die Krone auf, indem er meinte unwidersprechlich die Stelle und den Vorgang im Geiste nachgewiesen zu haben, aus welchen die Illusionen und Wahngcbilde entspringen, die das Wesen aller Religion ausmachen. Ueberdies hat die Philosophie in ihrer absolutistischen Periode, und zwar nicht allein die verneinende sondern auch die konservative Fraktion, das Verhältniß zur Religion in der Regel so dargestellt, daß diese der Philosophie als der höheren Erkenntniß zu weichem habe wie das Licht der Sterne dem Glanz der aufgehenden Sonne. Was dann freilich nicht verfehlen tonnte den Gegensatz hervorzurufen, daß nämlich die Männer der Religion immer

Glauben und Wissen.

323

mehr der Philosophie ihr Vertrauen entzogen, und auch von den Phi­ losophen nicht wenige in die Stellung zurückkehrten, die Schranken der philosophischen Erkenntniß enger zu zieh».

Neuerdings, wo der philo­

sophische Absolntismus weit und breit in Mißkredit gerathen ist, hat der Gegensatz einen andern Rainen erhalten; die neue Formel, wie sie der breiteren und flacheren Erkenntniß unserer Tage entspricht, lautet: die Bildung ist an die Stelle der Religion getreten, in demselben Maß, als die Bildung sich verbreitet, wird die Religion überflüssig. Und es ist nicht zu leugnen, in dieser Formel klingt der Angriff viel bedroh­ licher, da

die philosophische Erkenntniß

immer nur das Eigenthum

weniger auscrwählter Geister werden konnte, die Bildung dagegen mit der Elastizität der atmosphärischen Luft in alle Schichten eindringt, so daß kein Mensch gefunden wird, der nicht gebildet wäre, also auch ge­ bildet genug um der Religion eutrathen zu können. In unserer specifisch philosophischen Periode bis etwa zum Beginn des politischen Zeitalters wurde diese Frage gemeiniglich unter dem Thema „Glauben und Wissen" behandelt, und die Parteien standen einander so gegenüber, daß die einen den ganzen Accent auf das Wissen legten, und auf das Glauben als einen untergeordneten Standpunkt vornehm herabsahen; die anderen dagegen immer mehr auf den Glauben als die centrale Funktion des Geistes und den ausschließlichen Weg der Gottescrkenntniß sich zurückzogen, und das Wissen als eine Gabe von sehr zweideutigem Werth zu betrachten sich gewöhnten. Ich habe mir vorgenommen den Gegenstand unter demselben Gesichtspunkt zu ver­ handeln: weil nach meiner Meinung grade diese Fassung des Themas hauptsächlich die hier herrschende Verwirrung erzeugt hat, und darum nichts so sehr dazu beitragen kann dieselbe zu beseitigen, als wenn man an der Hand der besagten Begriffe ihren Ursprüngen nachgeht. Namentlich das vieldeutige Wort „Glauben" hat die Sprachverwirrung verschuldet, oder vielmehr war vorzüglich geeignet die entgegengesetzten Standpunkte zu begünstigen: da seine verschiedenen Bedeutungen jeder Partei gestatteten ihre Ansicht damit zu stützen, den Gegnern der Religion, indem sie mit sprachlicher Berechtigung

das Stadium

des Glaubens

als eine untergeordnete Entwicklungsstufe bezeichneten, den Vertheidigern, indem sie in dem Glauben das Höchste erkannten, was der menschliche Geist zu erringen vermag, — mit derselben sprachlichen Berechtigung. So nämlich steht es wirklich mit dem Glauben. Unsere deutsche Sprache bezeichnet mit diesem Wort sehr verschiedenartige Thätigkeiten

324

Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

und Zustände, verschiedenartig nicht

nur in Bezug auf Werth und

Bedeutung, auch in der Richtung der geistigen Funktion liegt dasjenige, was wir mit dem gemeinsamen Wort bezeichnen, weit auseinander, so weit, daß man unfehlbar in Mißverständnisse geräth, wenn man in der Verhandlung nicht jedesmal genau bestimmt, in welcher Beziehung man das Wort gebraucht haben will. Ich glaube etwas, das bedeutet: ich nehme etwas für wahr an, ich bin überzeugt, daß

ein Ereigniß ge­

schehen ist, daß eine Sache oder Thatsache sich so oder so verhält. Ich glaube einem etwas, damit will ich sagen, daß ich zu dem betreffen­ den Menschen das Vertrauen habe, daß er mir in dem vorliegenden Falle über ein Ereigniß oder eine Thatsache die Wahrheit gesagt, auf Grund des Vertrauens zu ihm, nehme ich seine Aeußerung für wahr. Ich glaube einem, das will dann im umfassenderen Sinne besagen, daß ich überhaupt zu dieser Person und insbesondere zu ihrer Wahr­ haftigkeit Vertrauen habe, ich vertraue ihm, ich habe zu ihm die Zu­ versicht, daß er überall und grundsätzlich wahr redet und nicht lügt. Endlich noch die Formeln „an etwas glauben" „an einen glauben." Dies An (das griechische eig) drückt allemal eine persönliche Beziehung des Glaubenden zu dem Geglaubten aus. Am klarsten tritt das her­ vor, wo der Gegenstand des Glaubens ein. persönlicher oder noch dazu der höchste Gegenstand für die Verehrung und Hingebung ist. An Gott glauben, heißt nicht etwa nur von seinem Dasein und seinem Wirken überzeugt sein, die ist allerdings die Voraussetzung; es heißt im Inner­ sten deS Gemüthes mit dem lebendigen Gott sich einig fühlen, an ihn und seinen Willen persönlich hingegeben sein. An Jesum Christum glauben wir, wenn wir auf Grund des empfangenen Eindrucks oder der Ueber­ zeugung von seiner Bedeutung und Stellung in der Menschheit in vollem Vertrauen Herz, Gemüth und Willen zur Erneuerung, Gestaltung ihm hingeben.

Die persönliche Hingebung ist bei dieser Bezeichnung

die Hauptsache, die intellektuellen Ueberzeugungen gelten dabei nur als Voraussetzungen.

Auch in der Formel „an etwas glauben"

persönliche Beziehung immer mitgedacht, wenn auch emphatisch, wenn auch in verschiedenen Graden der glaube an das Perdienst Jesu Christi: da tritt das hältniß scharf hervor, denn das Fürwahrhalten ist die Hauptsache das Vertrauen.

ist die

nicht immer so Intensität. Ich persönliche Ver­ hier Nebensache,

Ich glaube an die Erbsünde, besagt

nicht lediglich, daß ich die kirchliche Vorstellung von der Erbsünde für eine der Wahrheit entsprechende halte, sondern es liegt darin immer noch mitauSgedrückt, daß diese Vorstellung eine Beziehung hat zu meinem

Glauben und Wissen.

325

religiösen Leben, einen Bestandtheil bildet meines religiösen Glaubens, der in einem tiefen persönlichen Bedürfniß wurzelt.

Dasselbe gilt von

der Formel „ich glaube an den Teufel": sie kann ja in ganz intensiver Weise gebraucht werden, so daß sie wie bei manchen wilden Bölkerstämmen ausschließlich ein persönliches Verhalten zu dem Teufel ausdrücken soll, wenn auch nicht der Liebe und des Vertrauens, doch der Furcht und Unterthänigkeit: aber auch wo sie ganz kühl und objektiv gebraucht wird zur Bezeichnung einer dogmatischen Vorstellung, liegt in dem „an" immer etwas von persönlichem Interesse, sollte es zuweilen auch nur das Bedürfniß sein einen Pastoralen Popanz zu besitzen. Dasselbe gilt für Gegenstände, die außerhalb des religiösen Gebietes liegen, z. B. „ich glaube an Preußens weltgeschichtlichen Beruf." Selbst wo es sich um ein Faktum handelt, das an sich ohne Bedeutung ist, wollen wir, sobald wir das An gebrauchen, ein persönliches Interesse an der Sache ausdrücken.

„Ich glaube an die Geschichte" sagt immer etwas mehr

als das bloße „ich glaube die Geschichte", es ist immer eine persönliche Stimmung oder Empfindung oder Mitleidenschaft dabei im Spiel. Betrachten wir diese verschiedenen Bedeutungen des Sprachgebrauchs im Verhältniß zu den Grundthätigkeiten unseres Geistes: so werden wir sie in zwei Klassen vertheilen müssen. Ein Theil gehört entschieden dem intellektuellen Gebiet an, und drückt eine Art und Weise der Er­ kenntniß und Gewißheit aus. Die andre Hälfte unzweifelhaft iy das sittliche Gebiet; Vertrauen, Liebe, Hingebung drücken ein sittliches Ver­ halten zu dem Gegenstände auö.

In der Wirklichkeit kommen natür­

lich beide Richtungen an einander und mit einander vor, und steben in stetiger Wechselwirkung: man entschließt sich zur persönlichen gläubigen Hingebung auf Grund von Ueberzeugungen und Erkenntnissen; man gewinnt umgekehrt Ueberzeugungen, hält Thatsachen und Vorstellungen für wahr auf Grund persönlichen Vertrauens. Und nirgends eigentlich kommt in Wirklichkeit die eine Seite schlechthin für sich vor: keine intellektuelle Ueberzeugung ist der Art, daß nicht noch ein Moment des Vertrauens mitgesetzt wäre; und keine persönliche Hingebung des Ver­ trauens ist dies so ausschließlich, daß nicht ein intellektuelles Fürwahr­ halten voran oder nebenher ginge. Dies besagt indeß nichts weiter, als was überhaupt von unseren geistigen Funktionen gilt: in concreto kommt nie eine allein für sich vor, nie ein Erkenntnißact ohne Mit­ wirkung des Willens, nie ein Willenöact ohne begleitende Erkenntniß. Wie nun diese Thatsache unS nicht hindern darf, dennoch die geistigen Funktionen begrifflich scharf von einander zu sondern, indem ohne solche

Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

326

Sonderung ein Verständniß unseres geistige» Gebens nicht gewonnen wird: so müssen wir auch speciell in Bezug auf den Glauben scharf unterscheiden, was davon ins iutellcltucllc und was ins ethische Ge­ biet gehört, wenn die Erkenntniß seiner Bedeutung nicht in heillose Verwirrung gerathen soll. Der Begriff des Wissens ist ja einfach und klar: es bezeichnet die Gewißheit der Erkenntniß, die Gewißheit aus Gründen, und wird höchstens im engeren und weiteren Sinne ge­ braucht, so daß man entweder all und jede auf Gründen beruhende Gewißheit darunter versteht oder nur die höhere Stufe streng begriff­ licher und shstematischer Erkenntniß.

Wollen wir daher den Gegen­

stand zur Klarheit bringen, so müssen wir seine zwei Seiten gesondert betrachten: einmal das Verhältniß des Wissens zu dem, was wir auf intellektuellem Gebiete Glauben nennen, »nd sodann das Wissen in seinem Verhältniß zu dem sittlichen Glauben. Glauben sowohl wie Wissen sind auf

intellektuellem Gebiet

Ausdrücke, welche ein Fürwahrh alten, ein Ueberzeugtscin bezeichnen im Gegensatz zur Läugnnng. Beide drücken gleichermaßen eine Ge­ wißheit anö gegenüber der Ungewißheit und dem Zweifel. Und zwar nicht etwa, wie manche von vornherein annehmen, einen verschiedenen Grad der Gewißheit, so daß dem Wissen eine höhere Gewißheit zukäme als dem Glauben. - Es kann dies der Fall sein, daß man ncmlich mit dem Wort Wissen eine vollkomnicne Gewißheit bezeichnen will, welche die dem vorangehenden Glauben noch anhaftende Ungewißheit über­ wunden habe; aber man bezeichnet auch mit dem Wort Glauben den stärksten Grad der Zuversicht, einen so starken, wie ihn das Wissen um der nie ganz überwundenen Relativität seiner Gewißheit willen niemals erreichen kann. Der Sprachgebrauch nimmt beide Ausdrücke in sehr weitem Umfang. Wir sagen: ich glaube etwas, wo wir die betreffende Thatsache unmittelbar annehmen, ohne uns irgendwie der Gründe bewußt zu werden; ja wir nennen cs Glauben, weil wir nicht erkannt haben oder weil es uns unmöglich

erscheint zu erkennen.

Aber wir reden auch von dem Glauben, wo wir erkannt haben, und zuweilen, weil wir erkannt haben; ich glaube das, denn ich habe gute Gründe, cs zu glauben; nun glaube ich die Thatsache, denn ich habe mich durch eigenen Augenschein von der Richtigkeit überzeugt. Ich weiß es, besagt in der Regel: ich nehme es für gewiß, weil ich die Gründe erkannt habe.

Aber es drückt auch die unmittelbare Zuversicht aus,

wo die Gründe erheblich zurücktreten: ich weiß cs ganz bestimmt, daß

Gott mich nicht verläßt, — ich weiß, daß mein Erlöser lebt — ist mehr emphatische Vcthenermig der unmittelbaren Zuversicht, als ein Erkennen aus Gründen.

Wenn mm gleich der Sprachgebrauch durch beide Aus­

drücke eine Gewißheit bezeichnen will, und zwar ohne Unterschied des Grades: und wenn er gleich von beiden Ansdrücken einen so umfassen­ den Gebrauch macht, daß sie in Bezug auf den Umfang einander fast decken, so hält er dennoch einen Unterschied fest, den wir überall hin­ durch fühlen.

Mit dem Worte Glauben soll immer verwiegend die

Zuversicht, die Gewißheit betont werden abgesehen von Len Gründen, mögen solche vorhanden sein oder nicht; mit dem Worte Wissen da­ gegen vorwiegend der Grund der Gewißheit, der Zusammenhang des Fürwahrhaltbaren ohne Rücksicht auf den größeren oder geringeren Grad der Gewißheit. Mit dem Worte Glauben soll immer vorwiegend die Zuversicht, die Gewißheit betont werden

abgesehen von den Gründen,

mögen

solche vorhanden sein oder nicht; mit dem Worte Wissen dagegen vor­ wiegend der Grund der Gewißheit, der Zusammenhang des Für­ wahrgehaltenen ohne Rücksiebt auf den größeren oder geringeren Grad der Gewißheit.

Und nur darum können beide Ausdrücke in so weitem

Umfange gebraucht werden, daß sie scheinbar sich decken; weil eben jedes Wissen auf zuversichtlichen Annahmen und Boraussetzungen beruht, und wiederum kein Glauben ganz ohne Grund ist. Wollen wir daher eine für die Wissenschaft brauchbare Unterscheidung machen, so müssen wir dem Jnstinct des Sprachgebrauchs folgen, und werden demgemäß unter Glauben die unmittelbare Gewißheit verstehen, unter Wissen die vermittelte Gewißheit. Glauben bezieht sich auf die Gewißheit der Empfindung als unmittelbaren Bewußtseins ohne Rücksicht auf vorhandene Gründe und nicht selten ohne die Möglichkeit von Gründen; Wissen bezeichnet die Gewißheit, welche ans dem Wege des Denkens, der begrifflichen Erkenntniß zu Stande gekommen ist und Wissenschaft darum ist das zusammenhängende begriffliche Denken. Je strenger und vollkommener etwas der begrifflichen Deduktion sich

unterzieht, desto

mehr gilt es uns als Wissen; je weiter es sich der Reflektiern und begrifflichen Begründung entzieht, desto mehr gilt uns solche unmittel­ bare Gewißheit als Glauben. Das Reich des Glaubens besteht in dem Kreis derjenigen Gewißheiten, welche den instinctiven Hintergrund und die feste Ratnrbasis unsres Selbstbewußtseins ausmachen, sowie in dem Material von Vorstellungen

und Ueberzeugungen, welches wir als

traditionellen Bestand vorangegangener Entwicklungen in uns vorfinden.

Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

328

deren Gewißheit also durchweg auf einem ebenso unmittelbaren Ver­ trauen ruht: die Summe der Erkenntnisse dagegen, welche aus dem Pro­ zeß deS reflectirenden begrifflichen Denkens hervorgehn, Reich des Wissens.

bilden das

Selbstverständlich übrigens eine relative fließende

Unterscheidung, wie aus dem Nachfolgenden erhellen wird. Verhalten

sich

nun

diese

beiden

etwa wie Grenznachbarn,

welche sich theilen in die Gegenstände unserer Erkenntniß, so daß das Gebiet des einen da anfängt, wo das andere aufhört? So wird das Verhältniß nicht selten aufgefaßt; und doch daß es nicht so ist, kann Niemandem verborgen bleiben, der sich die Mühe giebt, das Ding

ein wenig schärfer in's Auge zu fassen.

Richten wir unsern

Mick auf daS große Gebiet der Natur, so ist sie nicht weniger Gegen­ stand deS Glaubens als des Wissens. Zunächst treten ihre Erschei­ nungen in unsere Anschauung, ihre Kräfte und Gesetze in unsere Empfindung: wir glauben an das Dasein derselben, an ihre Beschaffen­ heiten und Wirkungen und Regeln, wir leben und handeln durch ihre Kräfte und nach ihren Gesetzen in gutem Glauben, ehe wir von den­ selben etwas erkannt haben. Die Kenntniß, die wir sodann gewinnen, ist lange und vorwiegend ein Glauben; denn der Einzelne nimmt ja mit seinen Sinnen nur den geringsten Kreis von Erscheinungen wahr, und weiß bei Weitem den größeren Theil lediglich auf die Autorität anderer hin, also auf Glauben. Das Wissen bemächtigt sich jedoch dieses Gebietes, der Verstand beginnt die mannichfaltigen Erscheinungen und Erzeugnisse zu sondern und zu ordnen; er dringt hindurch zu-den Regeln, nach welchen die Erscheinungen sich wiederholen, sowie zu den Substanzen und Kräften, aus welchen die mannichfaltigen Naturgebilde entstehen und vergehen und bemüht sich schließlich, die ganze Summe der natürlichen Thatsachen und Bildungen in ein Ganzes zusammen­ zufassen und dessen durchgehende Gesetzmäßigkeit und Organisation zu begreifen. Nicht anders verhält es sich mit der Geschichte. Alles was wir von ihr wissen, wissen wir ursprünglich in der Form deS Glaubens; wir nehmen ihre Ereignisse für wahr auf die Autorität der Lehrer, die sie uns erzählen, und diese auf die Autorität der Geschichtsschreiber, welche zur Zeit der Begebenheiten lebten, und diese auf die Auto­ rität der Zeitgenossen, welche Augenzeugen der Begebenheiten waren; der Glaube durchzieht das ganze Gebiet der Geschichte. Dessenunge­ achtet erheben wir unsere GeschichtSkenntniß zu einer Wissenschaft: wir prüfen die Glaubwürdigkeit der Historiker und Augenzeugen, wir prüfen den Bestand der Thatsachen nach äußeren und inneren Wirkungen, wir

Glauben und Wissen.

329

setzen die einzelnen Begebenheiten in Verbindung, und stellen schließlich einen organischen Zusammenhang derselben her, so daß wir von der Geschichte der einzelnen Völker wie von der Entwicklung der gesammten Menschheit nicht nur ein anschauliches Bild zu zeichnen, sondern auch von den Hauptpunkten ihrer Entwickelung die innere Nothwendig­ keit darzustellen versuchen. Vielleicht aber giebt eS doch andere Gebiete, die nicht in dieser Weise dem Glauben und dem Wissen gleichermaßen zugehören: fällt nicht die Philosophie gänzlich dem Wissen anheim, und die Religion gänzlich dem Glauben?

Doch nicht.

Daß die Gegen­

stände der Philosophie nicht ausschließlich der Form dem Wissens eignen, erhellt schon daraus, daß ja die Philosophie für alle Wissenschaften die Prinzipien festzustellen hat, und alle Wissenschaften ihre empirische Seite haben, die zunächst, wie wir so eben bemerkten, alö Glauben in unser Bewußtsein tritt. Aber auch diejenigen Gegenstände der philosophischen Erkenntniß, die man zuweilen im engeren Sinne derselben zuweist, die Erscheinungen, Zustände, Funktionen der menschlichen Seele, die Ver­ nunftbegriffe und logischen Gesetze, die Prinzipien des sittlichen Handelns, alles dieses ist uns ursprünglich als Glaube» gegeben: wirkennen sie, wir leben und denken nach ihnen, ehe wir eine Wissenschaft von ihnen besitzen; und auch wenn unsere Wissenschaft auf diesem Gebiete den höchste» Grad der Vollendung erreicht hat, ruht sie immer noch auf Voraussetzungen des Glaubens, wie z. B. auf der Annahme von der Congruenz unseres Erkenntnißvermögens mit dem Wesen seiner Objekte, auf der Annahme von der Selbigkeit des vernünftigen Denkens in allen vernünftigen Ge­ schöpfen. Und andererseits sind wieder die Gegenstände der Religion keinesweges von solcher Beschaffenheit, daß wir sie ausschließlich dem Medium des Glaubens zuzuweisen vermöchten. Ganz von der wissen­ schaftlichen Erkenntniß wird sie auch nicht leicht Jemand ausschließen wollen, es wäre daS widersinnig. Der Glaube auf dem religiösen Ge­ biet enthält ja schon immer die Keime des Wissens in sich: er entsteht ja gar nicht anders alö mit einer Summe von Vorstellungen über seine Objekte, nur daß dieselben ursprünglich die Form der unmittel­ baren Anschauungen in sich tragen, nur daß diese ursprünglichen Vor­ stellungen Noch nicht so zerlegt, geordnet und begründet sind, wie es die Wissenschaft verlangt. Aber das Wissen kommt mit unwidersteh­ licher Macht auch über das ursprüngliche Material der religiösen Vor­ stellungen, und bringt sie in eine wissenschaftliche Form, jede Religion hat ihre Theologie. Gewisse Grenzen indeß soll hier doch das Wissen haben, und gewisse Gegenstände sollen von demselben ausgeschlossen

330

Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

sein: Gott und alles Ueberwcltliche und Jenseitige kann doch wohl nicht tut

eigentlichen

Sinne Gegenstand des Wissens werden?

Auch das

müssen wir bestreiten, eine solche Ausschließung widerspricht der Natur deö Wissens. In der Natur des Wissens liegt cs. Alles zu wissen. Denn Wissen heißt gar nichts anderes als, den Zusammenhang erken­ nen, in welchem die Dinge mit einander stehen und die Verschiedenheit ihrer wesentlichen Momente, durch welche sie von einander sich unter­ scheiden.

Wenn ich aber den Zusammvithamg eines Dinges mit dem

anderen und den Unterschied desselben vo.n>den anderen erkenne, so er­ kenne ich damit zugleich das andere, mit dem cs zusammenhängt und von welchem es sich unterscheidet. Wer die diesseitige Welt von einer Jenseitigkeit, wer die wirkliche Welt von einem wirkenden Gott unter­ scheidet: kann nicht umhin, wofern er die eine Seite erkennt, auch die andere

in seine Erkenntniß aufzunehmen, weil er ohnedies von der

einen Seite gar nichts auszusagen und überhaupt eine solche Unter­ scheidung gar nicht zu machen vermöchte.

Die Welt ist ein Organis­

mus von göttlichen Ideen: die menschliche Vernunft ist darauf angelegt, den Organismus dieser göttlichen Gedanken in ihrem glicdlichen Zu­ sammenhange so wie ihren Zusammenhang mit dem Haupte in sich abzubilden. Sie muß sich entweder zutrauen alles zu erkennen, oder sie vermag nichts zu erkennen. Für daö Vermögen des einzelnen Menschen, für die Fassungskraft eines jeden Zeitalters muß allezeit anerkannt werden, daß sein Wissen ein überaus beschränktes sein wird: aber die jeweilige Schranke ist nicht die Schranke der menschlichen Vernunft. Auch von der menschlichen Erkenntniß überhaupt werden wir bereitwillig einräumen, daß sie in Formen sich vollzieht, über die sie nicht hinaus kann, und auf Voraussetzungen ruht, die sie nicht be­ seitigen kann: aber in der Form, welche ihr eignet, vermag sie und muß sie alle Existenzen zum Gegenstände des Wissens machen, selbst ihre eigenen Schranken und Voraussetzungen.

Es

ist nichts

so

un­

mittelbar, daß das Wissen es nicht in seinen Bereich ziehen müßte, seine eigenen Grundlagen muß es als solche zu erkennen suchen, das heißt ihren organischen Zusammenhang mit dem, was daraus erwachsen ist. Wie denn unsere gegenwärtige Betrachtung über die Bedeutung deö Glaubens nichts anderes ist als eben der Versuch die Unmittelbarkeit als Voraussetzung des Wissens zu

begreifen, d. h. ihren organi­

schen Zusammenhang mit den Vermittlungen zu erkennen.

Es ist ein

überspannter Begriff des Wissens, der demselben die Fähigkeit abspricht die höchsten Gegenstände zu erkennen: die richtige Consequcnz wäre,

331

Glauben und Wissen.

jede Möglichkeit des Wissens zu verneinen; denn in diesem absolute» Sinne giebt es für uns Menschen überhaupt kein Wissen auf keinem Gebiet- Wird aber das Wissen gemäß den Schranken menschlicher Natur und Vernunft richtig bestimmt: so giebt es keinen Gegenstand, der überhaupt in den Kreis des Bewußtseins fällt, der nicht auch Gegenstand unsres Wissens werden könnte und müßte.

Vertheilen a'fo können wir

nicht die Gegenstände der Wahrnehmung zwischen Glauben und Wissen: alles und jedes, was ein Object deö Wissens wird, ist ursprünglich in rer Form des Glaubens gegeben; alles und jedes, was wir int Glau­ ben zu erfassen vermögen, tritt mit Nothwendigkeit auch in den Kreis des Wissens.

Beide umfassen das ganze Erkenntnißgebiet, und sind

nur verschiedene Formen der Erkenntniß. So hat denn wohl diejenige Ansicht Recht, welche daö Glauben und das Wissen für verschiedene Entwicklungsstufen unserer Erkenntniß hält, die auf einander folgen, dergestalt, daß die frühere Stufe der späteren weicht, und in demselben Maße und Umfange das Gebiet des Glaubens schwindet, als das Wissen zur Herrschaft gelangt? Wir können auch diese Ansicht nicht theilen; die Erfahrung lehrt, daß sie der Wirklichkeit nicht entspricht.

Wir haben schon

bemerkt, daß

in allen Wissenschaften auch bei dem vollendetsten Wissen GlaubensVoraussetzungen bestehen bleiben: nicht nur für die Geschichte und Naturforschung gilt cs, daß ihre Erkenntnisse vom Autoritätsglauben abhängig bleiben; auch die Philosophie behält ihre Voraussetzungen, und der Gedanke einer voraussetzungslosen Philosophie ist ein wider­ sinniger. Es sind indeß nicht allein diese einpirischeit und spekulativen Voraussetzungen, welche für alles Wissen bestehen bleiben: die Unmittel­ barkeiten überhaupt schwinden thatsächlich nicht, da wo die Wissens­ vermittlungen eintreten. Was da weicht und schwindet, das sind höchstens einseitige unklare Vorstellungen, welche von der Klarheit des Denkens berichtigt und überwunden werden d. h. welche in klarere sich verwandeln: die »»mittelbaren Thatsachen und Anschauungen unseres Bewußtseins hören eben so wenig aus, wo das Denken beginnt, wie das Leben beim Eintritt der Wissenschaft. Wenn wir unsern leiblichen Organismus zum Gegenstand einer physiologischen Betrachtung machen: so bleibt er bekanntlich

unversehrt, das Leben pulsirt ruhig weiter

während der wissenschaftlichen Betrachtung, amb keine der natürlichen Funktionen wird durch die Wissenschaft absorbirt. Genau so geschieht eS im Gebiet des Geistes: unser Geist lebt und regt sich und entwickelt sich nach seinen innewohnenden Gesetzen,

auch

während wir ihn in

332

Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

allen seinen Bestandtheilen und in seinen Gesetzen kritisch beobachten und zerlegen und wissenschaftlich construiren, und die unmittelbare Selbst­ gewißheit dieses Lebens leidet keinen Abbruch durch die wissenschaftliche Betrachtung.

Wir denken logisch, wir handeln ethisch, während wir im

Begriff stehen vom logischen Denken und ethischen Handeln Theorieen aufzustellen: die unmittelbare logische Gewißheit, der sichere sittliche Jnstinct verläßt uns nicht etwa, wo wir vom Denken und Handeln eine wissenschaftliche Erkenntniß gewinnen.

Die Unmittelbarkeiten

unseres

Selbstbewußtseins gehen überall bei dem wissenschaftlichen Prozeß neben­ her, und wirken als solche auf denselben mit ein; und das Ziel der wissenschaftlichen Vermittlung ist ja wiederum die Herstellung der Un­ mittelbarkeit, die reine Anschauung und die volle Zuversicht, welche alle Vermittlungen des Denkprozcsses hinter sich hat und derselben nicht mehr bedarf, wie das vollendete Gebäude des Baugerüstes nicht mehr bedarf. Beide Erkenntnißformen, das Glauben und das Wissen, lösen nicht ein­ ander ab, noch weniger heben sie eine die andere ans, sondern bestehen mit und neben einander zu gegenseitiger Ergänzung. Daraus erhellt zugleich unser Urtheil über diejenige Ansicht, welche das

Wissen so

sehr betont,

als

ob

es ausschließlich

im

Besitz der Wahrheit sich befände, und allein im Stande wäre eine genügende Gewißheit der Erkenntniß zu gewähren, und dem gegenüber die Form deS Glaubens als lediglich einer untergeordneten Bildungs­ stufe eignend tief herabsetzt. Wir erblicken darin eine völlige Ueberschätzung dieser Erkenntnißform, die wir Wissen nennen; und möchten, um die Schätzung auf das gebührliche Maß zurückzuführen, nur folgende Thatsachen in Erinnerung bringen. Die Gewißheit, welche wir auf dem Wege des Denkens erlangen, ist immer eine nachfolgende, fällt überall in ein spätes Entwickelungsstadium,

und tritt bei der

über­

wiegenden Mehrzahl der Menschen so gut wie gar nicht ein; es wäre schlimm um die Menschen bestellt, wenn die Sicherheit ihrer Thätig­ keiten von dieser Denkgewißheit abhängig sein sollte. Wir essen und verdauen ganz regelrecht, ehe wir Chemie und Physiologie studirt haben; wir gehen, springen, klettern mit derselben Sicherheit ohne die Theorie von der Schwere und vom Fall.

Wir können mit dem sittlichen

Handeln nicht warten, bis wir die Sätze der Ethik begriffen haben: wir bearbeiten das Feld, wir organisiren unser Hauswesen auf sittlichen Grundlagen, wir üben unsere bürgerlichen und politischen Pflichten so wie die Werke der Menschenliebe, alles mit der Sicherheit des unmittel­ baren sittlichen Bewußtseins, wo wir die Wissenschaft der Sittenlehre

333

Glauben und Wissen.

noch nicht kennen und zumeist gar nicht kennen lernen.

Unsere Volks-

thümlichkeit in Sprache, Sitte und Recht, in der wir mit der Sicher­ heit deö Instinkts uns bewegen, aus der wir volksthümlich schaffen, dichten und denken, ist nicht der Wissenschaft

entsprungen.

Unsere

Religion stammt nicht aus der Theologie, und wartet am allerwenigsten mit ihrer Zuversicht auf die Erkenntniß, welche die Theologie hinzu­ bringt; die Theologie kommt hinterher und für die meisten religiösen Menschen niemals. — Das Wissen ist ferner stets unvollkommen und mangelhaft.

Als ein stetig werdendes erreicht es niemals die

Vollendung, und ist überdies innerhalb seiner Laufbahn vielen Fährlichkeiten und Verirrungen ausgesetzt.

Wem

wäre

es nicht bekannt,

daß eS keine Grundlage des Seins oder Denkens giebt, die nicht von irgend einem System der Wissenschaft geleugnet worden wäre, und umgekehrt wiederum, daß sich kaum etwas so widersinniges denken läßt, daß nicht irgend ein wissenschaftliches System dasselbe in den Kreis seiner Sätze aufgenommen und seine Wahrheit bewiesen hätte. Nicht nur die Grundvoraussetzungen des religiösen Glaubens, Gott, Persönlich­ keit, Unsterblichkeit hat das Wissen vielfältig bestritten, auch die sitt­ lichen Grundlagen hat es verkehrt, und statt der göttlichen Liebe den Egoismus oder die sinnliche Lust zum Prinzip des sittlichen Handelns erhoben. Die Bewegung hat man für leeren Schein erklärt, die objec­ tive Realität der Dinge außer uns geleugnet, das eigne Dasein in Zweifel gezogen, und was dergleichen Abnormitäten mehr sind. Und wenn auch das Wissen nur hie und da in solche extreme Abirrungen geräth: so ist doch die Möglichkeit und die Gefahr deö Abirrcns die unvermeidliche Zugabe für alle diejenigen, welche den Weg des Wissens betreten.

Nur oberflächliche Denker können sich in Hochmuth über die

Sicherheit ihres Wissens blähen: der ernst und energisch Denkende wird in demselben Maß, als er tiefer in das Reich der Erkenntniß eindringt, aller Orten die Grenzpfähle des Zweifelhaften, des Nichtwissens, deö Nichtwissenkönnens erblicken, und nichts so sicher wissen, als daß es mit der Gewißheit seines Denkens überaus mangelhaft bestellt ist. Man thut in diesem Gebiet kaum drei Schritte, daß nicht ein Fehltritt dabei wäre. Man geht von einer richtigen Voraussetzung aus, aber die­ selbe stellt nur eine Seite der Sache dar; wir nehmen die eine Seite für das Ganze, und die Folgerung, die wir machen, ist ein Irrthum; wir halten den Irrthum natürlich für Wahrheit, und die Schlüsse, die wir consequent daraus ziehen, führen uns -völlig von der Wahrheit ab, biö uns die Absurdität der Folgerungen zur Besinnung bringt.

Wir

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Sammlung ausgewählter Ichriftstücke.

steigen rückwärts in die Tiefe: wir halten eine Annahme für ein un­ zweifelhaftes Wissen, denn sie ruht auf llaren und sicheren Gründen; wir prüfen diese Gründe, und nehmen wahr, daß da schon manches nicht so klar und sicher ist wie wir voraussetzten, daß eine Reihe von Wahrnehmungen ohne Weiteres für eine feste Regel oder gar für ein unwandelbares Gesetz genommen wird; wir gehen noch einen Schritt weiter, und finden nichts als Hypothesen

oder Voraussetzungen des

Glaubens, und müssen so erkennen, daß die ganze vermeintliche Sicher­ heit unseres wissenschaftlichen Satzes dahinfällt, wenn die Hypothesen und Voraussetzungen der Wirklichkeit nicht entsprechen sollten. — Dazu kommt ferner, daß all unser Wissen, auch wenn es den höchsten Grad der Vollendung erreicht hat, immer auf Glaubensvoraussetzungcn ruht, und von der Sicherheit derselben abhängig bleibt;

und

sobald wir diese Voraussetzungen eben nicht mehr im Glauben festhal­ ten wollten, würde alles und jedes Wissen den Grund seiner Sicher­ heit verlieren, und in Phantasiegebilde sich verflüchtigen, wie wir schon mehrfach bemerken mußten. — Endlich darf nicht vergessen werden, daß das Wissen lediglich mit dem Material des Glaubens arbeitet. Das Wissen produzirt nichts, ebenso wenig wie der Bleu sch mit seiner Kunstfertigkeit den Stoff hervorbringt. Die Kunsttheorie schafft keine Dichtungen und Bildwerke, die Rechtsthcorie keine Staaten, die Theo­ logie keine Religion. Den Stoff des Wissens bilden überall die gottgegebenen Unmittelbarkeiten, die wir als natürliche nationale oder ge­ schichtliche Mitgift in unserem Bewußtsein vorfinden, sowie die tradi­ tionellen und empirische» Wahrnehmungen, die wir auf Autorität empfangen haben: das Wissen verarbeitet den gegebenen und empfange­ nen Stoff, organisirt ihn und bildet ihn aus zu einem kunstreichen System von Gedanken. Daß daö Wissen seinen Stoff aus sich selber zu erzeugen vermöge, das ist eine von den nichtigen Anmaßungen, mit welchen ein philosophischer Absolutismus seiner Zeit sich blähte. — Das Wissen ist ohne Zweifel eine herrliche Gottesgabe; aber die Er­ innerung an diese Thatsachen wird genügen zu der Erkenntniß, daß die Menschheit sich in einer trostlosen Lage befände, wenn sie mit der Wahrheit und Gewißheit lediglich auf dies seltene und spätgeborene mangelhafte und fehlbare Wissen angewiesen wäre, welches überall auf dem Glauben als seiner Voraussetzung ruht und desselben als zu seiner unentbehrlichen Ergänzung bedarf. Während die Wissenschaft noch sinnt die Gesetze der Sprache und des Denkens zu ergründen, während sie sich bemüht in die Geheimnisse des künstlerischen Schaffens

und

der

Glauben und Wissen.

335

schaffende» Natur einzudringen, während sie darnach ringt den lebendi­ gen Gott und sein Verhältniß zur Welt ahnend zu begreifen, und dabei bekennen muß, daß ihre Resultate vielfach der Sicherheit entbehren, einander widersprechen oder gänzlich ausbleiben: wohnen derweilen die Menschen und Völker und die wissenschaftlichen Forscher.dazu in Ge­ bäuden, welche Gott auf dem Fundamente der gemeinsamen geistigen Naturbasis ans den unveräußerlichen Errungenschaften der menschheitlicheu Cultur und Entwicklungsmomenten der religiösen Wahrheit aus den starken Pfeilern nationaler Sprache und Literatur, Sitte und Ge­ schichte wie aus den eigenthümlichen Begabungen und Berufsweisen zusammengefügt hat, und erfreuen sich in denselben für den Genuß der natürlichen Dinge wie für die Pflege ihrer Heiligthümer einer unver­ gleichlichen Sicherheit, welche den Wirbelwinden der Speculation und den Wogen der andringenden Kritik Trotz bietet. Und wehe ihnen wo sie der Kri­ tik gestatten in die festen Fundamente und Pfeiler zersetzend einzudringen. Nicht minder einseitig indeß verhalten sich diejenigen, welche um der bezeichneten Beschaffenheit des Wissens willen nunmehr der Form des Glaubens gewissermaßen einen absoluten Werth bei­ legen, wobei das Wissen so ziemlich überflüssig erscheint. Diesen wollen wir doch die gegenseitigen Momente in Erinnerung bringen. DaS Glauben ist ja allerdings die unentbehrliche andere Seite der Erkenntniß, die Grundlage und Voraussetzung und Substanz alles WiflenS; aber für sich allein bezeichnet es nur den instinctiven Zu­ stand des geistigen Lebens. Der menschliche Geist ist aber berufen, zur vollen Klarheit des Lichts hindurchzudringen, und das Mittel zu diesem Ziele bildet die Energie deS Denkens, das sich eben darum in jedem nicht mißrathenen oder entarteten Menschen als unwiderstehlicher Trieb vorfindet. Das Material des unmittelbaren Bewußtseins besteht sodann zunächst in einem Aggregat von Vorstellungen, die un­ verbunden, zufällig oder schlecht verbunden neben einander lagern und über deren Zusammenhang und Verhältniß doch ein Bewußtsein nicht gegeben ist. Die geistige Aufgabe besteht darin: die ganze Summe der Gegebenheiten, die Vorstellungen, Axiome und Jnstincte in dialek­ tischen Fluß zu bringen, das Material zu lösen, zu sondern, zu ver­ binden, bis daraus ein Organismus vernünftiger Gedanken sich gestaltet, der allein erst den Namen des Geistes und einer Persönlichkeit mit ganzem Rechte verdient.

Und zwar nicht allein diese Verarbeitung der

Unmittelbarkeiten zu einer bewußten persönlichen Gestalt ist die Arbeit des Denkens, sondern auch die Prüfung und Sichtung des Gege-

336

Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

betten, das Material der Unmittelbarkeiten muß durch das Feuer der Kritik hindurchgehen. Denn die unmittelbare Gegebenheit unseres Bewußtseins besteht nicht allein in den unwandelbaren Grundlagen unserer Natur, in den natürlichen und vernünftigeti, in den sittlichen und religiösem Jnstincten und Bedürfnissen; wir finden gleichzeitig als gegebenen Bestand eine Masse von Vorstellungen, die sich mit dieser Grundlage verschmolzen haben und die doch lediglich eine aufgetragene oder aufgeschwemmte Schicht bedeuten, welche als ein Niederschlag vor­ angegangener geistiger Entwickelungen sich angesetzt haben, welche durch Autorität oder Tradition über das Ursprüngliche gekommen sind. Die Aufgabe der Erkenntniß besteht darin: das Ursprüngliche und das un­ wandelbar Vernünftige von dem Hinzugekommenen, und in diesem wieder das Bleibende und Unverlierbare von dem bloß Zeitlichvergänglichen sowie auch von den Trübungen und Störungen zu sondern, welche dasselbe durch die zeitweiligen Zusätze erfahren hat, und festzu­ stellen, was in uns als bleibende Naturbasis, als unwandelbares Ge­ wissen und ewiges Bernunftgesetz zu gelten habe, und was wir dagegen lediglich als zeitliche, nationale, persönliche wie auch einseitige Aeußerun­ gen dieser Grundlagen zu betrachten und darum der Entwicklung und Berichtigung zu überweisen haben. Diese Sichtung geschieht lediglich durch den kritischen Denkproceß; das Wissen ist das spezifische Mittel, das Feste von betn Flüssigen scheiden zu lernen. Das unmittelbare Glauben vermag nicht sich selber zu helfen, durch das Wissen erfährt eS erst von sich selber, wird erst über sich orientirt, und das rechte Wissen erst ist es, welches dem Glauben als der unmittelbaren Ge­ wißheit seine Stellung und Bedeutung im Gebiet der Erkenntniß an­ weist. Während ein einseitiges Wissen dem Glauben seine Zuversicht zu rauben sich bemüht: erhöht das rechte Wissen ihm diese Zuversicht, indem es ihm seine Bedeutung zum Bewußtsein bringt. Also nur wenn man den Begrifs des Glaubens abschwächt, und damit eine Masse von Meinungen bezeichnet, welche in ungebildeten Schichten zufällig gründ- und zusammenhanglos sich angehäuft haben, darf man dem Glauben eine untergeordnete Stellung anweisen; dem aber läßt sich als vollkommen ebenbürtig die atomistische massenhafte Gelehrsamkeit gegenüberstellen, die ohne jede Energie eines Gedankens den Geist zu einem Notizenspeicher herabwürdigt, und dennoch vorzugs­ weise liebt für Wissen sich auszugeben. Nimmt man Glauben und Wissen in voller angemessener Bedeutung: dann sind beide Erkenntnißformen wesentliche Faktoren, die einander ergänzen und bedürfen, deren

337

Glauben und Wissen.

einer ohne den anderen schlechterdings nicht bestehen kaun, durch deren stetiges Zusammenwirken allein die Gesundheit der Erkenntniß erhalten wird. lich.

Sie gerathen zeitweilig in Streit miteinander, das ist natür­ Denn wenn die Kritik in das vorfindliche Material von Vorstel­

lungen eindringt: so muß sie vielem, was in der Form des Glaubens gegeben war, widersprechen, manches für wahr gehaltene als Borurtheil verwerfe»; und darum soll das Glauben stets bemüht sein sich das Wissen beizugesellen, um durch dasselbe seinen Bestand zu sichten und zu läutern.

Ebenso aber geräth das Wissen auf mancherlei Abwege,

und zwar werden die Einseitigkeiten und Abirrungen in demselben Maße größer sein, als geistige Energie und Consequenz gewisse grund­ legende Prinzipien nach allen Seiten rücksichtslos verfolgt. Da soll wiederum das Wissen sich dessen erinnern, daß es nicht für sich allein die Erkenntniß bildet, und ans seine andere ursprünglichere substanzielle Hälfte zurückblicken, um sich an unveräußerlichen Grundlagen des Glau­ bens zu orientiren und zurecht zu finden; gleichwie dem reslectirenden und räsonnirendcn männlichen Verstände zu rathen ist, seine Ergebnisse vor das Forum der ursprünglicheren weiblichen Empfindung zu bringen und zu beachten, wieweit sie dies Gericht bestehn. Wo das Wissen wahrnimmt, daß es mit Thatsachen unseres Bewußtseins in Streit geräth, welche als unbestrittene Natur- oder Vernunftgesetze, als allge­ mein menschliche Triebe und Bedürfnisse, als bleibende Resultate der Entwicklung gelten müssen: da hat es sich zu besinnen, seine Rechnung zu revidiren, bis es den Fehler in der Rechnung oder vielleicht schon im Ansatz findet.

Der Absolutismus des Wissens und Absolutismus

des Glaubens sind beide gleich weit von der Wahrheit entfernt; das Richtige ist: beide haben sich mit einander zu entwickeln, zu berichtigen, um durch zeitweiligen Widerstreit hindurch zur völligen Einheit zu ge­ langen. Der vollendete Zustand der Erkenntniß ist: wo beide in gleicher Kraft und Klarheit vorhanden sind und in voller Harmonie sich befin­ den; wo alles, was im unmittelbaren Glauben gegeben ist, zum Licht deS Wissens hindurchgedrungen; wo alles waS zum Wissen geworden ist, noch immer oder schon wieder geglaubt wird. WaS wir mit dem Worte Schauen bezeichnen, enthält eigentlich beide Momente in sich: es ist die volle Unmittelbarkeit der Anschauung, und doch zugleich das Resultat der denkenden Vermittlung. Ein Beispiel mag das richtige Verhältniß anschaulich machen. Der gesunde Mensch hat ursprünglich ein unmittelbares Gefühl von seiner Gesundheit, ohne sich dessen im Einzelnen bewußt zu

werden.

Lpaelh, Pll)testantlsche Bausteine.

Die

wissenschaftliche Erkenntniß 22

deö

338

Sammlung ausgewählter Schriftstücke

menschlichen Organismus lehrt ihn die Gesundheit im Ganzen und- int Einzelnen erkennen. Mit der wissenschaftlichen Erkenntniß schwindet nicht das Gefühl der Gesundheit; der gesunde Mensch, der zugleich ein gebildeter Naturforscher oder Arzt ist, hat dann beides zusammen und zugleich, das unmittelbare Gefühl der Gesundheit und das volle wissen­ schaftlich vermittelte Bewußtsein über dieselbe bis in die äußersten Spitzen des Organismus. Gleicherweise ist der vollendete Zustand der sittlichen Erkenntniß derjenige, wo das ursprüngliche sittliche Be­ wußtsein in das Licht der wissenschaftlichen Erkenntniß getreten,

und

in dieser wiederum zur unmittelbaren Anschauung geworden, welche mit instinctiver Sicherheit das sittliche Handeln erzeugt. Die andere Hälfte dessen, was wir Glauben nennen, liegt auf sittlichem Gebiet, Vertrauen und Hingebung sind Erscheinungen des sittlichen Lebens.

Dahin gehört denn nach unserer Ansicht, die wir

später ausführlicher begründen werden, in allem religiösen Glauben dasjenige, was recht eigentlich sein Wesen ausmacht. Es ist ja schon ein alter theologischer Satz, wenn auch selten eine durchgreifende An­ wendung von ihm gemacht wird: daß der Glaube, welchen die Theologie als den „rechtfertigenden" bezeichnet,

welchem man die seligmachende

Kraft beilegt, nicht in einem Fürwahrhalten bestehe, sondern tu einem Vertrauen, und zwar in einem Vertrauen, das im letzten Grunde immer auf Gott gerichtet ist. Theoretisch nehmen es neuerdings fast alle Theologen an, daß der religiöse seligmachende Glaube sein Wesen habe in der persönlichen Hingebung an Gott und an Gottes Offenbarungen, nur daß sie seltsamer Weise nicht wahrzunehmcn pflegen, wie sie damit den Glauben als einen sittlichen Act, als eine sittliche Gesinnung be­ zeichnet haben. Uns nun steht das fest, und wir werden es nachher ausführen: das Wesen der Religion, das heißt der subjektiven Fröm­ migkeit — und das ist eben der religiöse Glaube — besteht weder in Vorstellungen noch in Empfindungen oder Gefühlen, sondern in einer Richtung des Willens, in welcher der Mensch sich dem lebendigen Gott hingibt, um sich in seinem ganzen Gemüth und Wesen von ihm erfüllen und durchdringen zu lassen. Dieser Glaube ist die sittliche Grundrich­ tung, in welcher alle Sittlichkeit wurzelt und gipfelt, die Krone des sittlichen Lebens. Es fällt also der Glaube in dieser Bedeutung wesentlich in die Funktion des menschlichen Geistes, welche der Erkennt­ niß gegenüber liegt, in das Gebiet des Willens.

Und wenn nun das

Wissen nach seinem intensiveren Begriff, wo es die Substanz der Un­ mittelbarkeiten in sich aufgenommen und die Resultate des dialektischen

Glauben und Wissen

Processes in

einen

Organismus

von

339

Gedanken

zusammenfaßt, die

Blüthe bezeichnet im Bereich des Erkenntnißvermögens:

so verhalten

sich Wissen und Glauben in diesem Sinn wie die höchsten Spitzen, in welche die beiden Grundfunltionen des Wollens und Erkennens auslaufen. Natürlich ist das kein gleichgiltiges Nebeneinanderbestehen; denn unser Geist ist der lebendigste Organismus, in welchem kein Glied auch nur einen Moment ohne die andern zu bestehen vermöchte, in welchem jede Erregung und Thätigkeit den ganzen Organismus in Bewegung setzt und seinen gesammtenBestand affizirt. So hat es der religiös sittliche Glaube an sich, daß er mit Nothwendigkeit zum Wissen treibt. Die sittliche Hingebung an einen Gegenstand ist nur dann eine rechte, wenn die Person sich völlig mit dem Objecte zusammen­ schließt und dasselbe nach allen Richtungen auf sich wirken läßt- Das Resultat solcher Hingebung wird nicht lediglich

eine Richtung

oder

Steigerung der Thatkraft, sondern immer zugleich eine erhöhte Erkennt­ niß des Gegenstandes sein.

Vor allem von einer Hingebung an Gott

kann nur da die Rede sein, wo man sich ihm, dem Urquell des Lebens mit allen Kräften rückhaltlos darbringt, um sich nach allen Richtungen vom dige

göttlichen Leben und Wirken erfüllen energische Glaube an den lebendigen

Gotteserkenntniß in

seinem Schooß;

zu lassen. Der leben­ Gott birgt immer die

und wo er solche Erkenntniß

nicht erzeugt over zu erzeugen gar nicht den Trieb hat, ist die Hin­ gebung mindestens keine unbedingte; eine Hingebung aber mit Vor­ behalt, etwa um verkehrte Ansichten

oder Neigungen

zu müssen, ist ein Glaube, an dem der Unglaube

nicht

ausgeben

und die Selbst­

sucht haften. Der wirklich religiöse Mensch hat immer das Verlangen das ursprüngliche Bewußtsein um den Gegenstand seiner Hingebung zur völligen Klarheit zu bringe», und die Sicherheit unv Beständigkeit der Hingebung wächst mit der zunehmenden Klarheit. Und nicht allein seinen Gegenstand in der Erkenntniß zu ergreifen hat der religiöse Glaube das Bedürfniß; er dringt auch auf Erkenntniß seiner selbst, und findet erst völlige Ruhe für seinen Erkenntnißtrieb, wenn er zuletzt noch sein eignes Wesen, das heißt seine Bedeutung im Organismus des Geistes und seine Stellung im Reich der Realitäten begriffen hat. Der Glaube, mit welchem der Trieb nach Gottes- und Selbsterkenntniß nicht verbunden ist, mag jedes andere sein, fromme Hingebung an Gott ist er nicht. Ebenso wiederum macht das Wissen seinerseits auch den religiösen Glauben zu einem Ge'genstarNe seiner Erkennt-

340 niß.

Sammlung ausgewählter § christstücke.

Nicht etwa nur die religiösen Vorstellungen

und Handlungen

und Empfindungen, nicht etwa nur die empirische Seite und das ge­ schichtliche Material der Religion: die innerste Gemüthsthatsache selbst, welche wir Frömmigkeit oder Glauben nennen, ist cs bemüht und muß es bemüht sein zu begreifen. Die Wissenschaft kann darauf nicht ver­ zichten auch die Religion und den Glauben zu begreifen, so wahr sie Wissenschaft ist, das heißt so wahr ihr Wesen darin besteht die ganze Summe der gegebenen Realitäten in ihrem organischen Zusammenhang zu erfassen. Sie kann um so weniger darauf verzichten ohne sich selber aufzugeben, als der Glaube auf die höchsten Gegenstände sich richtet, welche den Mittelpunkt einer richtig gestellten Wissenschaft abgeben müssen. Der Gegenstand des Glaubens, wie er auch in der konkreten Erscheinung verdeckt oder verhüllt sein mag, ist doch in Wahrheit immer Gott; und die Wissenschaft, sie mag nun Gott definiren wie sie will, kann doch ohne Gottesbegriff als Centrum aller ihrer Begriffe nicht bestehen; eine Wissenschaft, die keinen Gottesbegriff hätte, dürfte den Namen der Wissenschaft nicht mehr beanspruchen, weil ihr das Band der organischen Einheit fehlte, welches sie zur Wissenschaft macht. Und wiederum bildet der Glaube als sittliche Grundrichtung gefaßt die höchste Concentration des menschlichen Handelns, und bietet damit der Wissenschaft vom menschlichen Handeln ihren obersten Gegenstand, der ihr so unentbehrlich ist, daß gleichermaßen eine Ethik ans Wissenschaft­ lichkeit nur Anspruch hat, sofern sie es eben vermag die mannigfaltigen sittlichen Thätigkeiten in einer einheitlichen Grundrichtung zusammen­ zufassen.

Wie also der Glaube, wenn er lebendig ist, darauf angelegt

ist das höchste Wissen hervorzurufen: so ist das Wissen, sofern esseinen Namen verdienen will, immer darauf angewiesen den Glauben und den Glaubensinhalt zum centralen Gegenstände seiner Erkenntniß zu machen. Ferner wie ein Glaube in dieser sittlichen Bedeutung nicht ge­ dacht werden kann, ohne daß schon in irgend einem Maße ein Wissen über seinen Gegenstand mitgegeben wäre: so

hat alles

und jedes

Wissen ein Glauben zu seiner Voraussetzung, wie wir schon sagten, und dieses Glauben als unmittelbare Gewißheit birgt in seinem Kerne überall einen sittlichen Glauben, ein Vertrauen, im Grunde ein Gottvertrauen.

Es ist im Grunde ein ursprüngliches Vertrauen

auf eine ewige göttliche Weltordnung, wenn wir ohne Weiteres vor­ aussetzen, daß das Universum nicht einen wilden chaotischen Haufen von Existenzen, sondern einen wohlgegliederten Organismus bildet, daß

341

Glauben und Wissen.

Erkenntniß möglich sei, das heißt daß unsere Vorstellungen gleichfalls Fähigkeit und Beruf zu organischem Zusammenhange in sich tragen, daß unser Erkenntnißvermögen und unsere Grundbegriffe den Realitäten entsprechen, dieselbe,

und

und daß

daß diese

geistige

Grundlage in

allen Menschen

diese selbige menschliche Vernunft wiederum nach

dem Urbilde der göttlichen Vernunft angelegt sei.

Alle diese Voraus­

setzungen sind Gottvertrauen, sie setzen das Walten und Ordnen einer ewigen Vernunft im guten Glauben voraus: man nehme dies Vertrauen hinweg, und alle Wissenschaft stürzt zusammen; denn sie kann in keinem Acte des Wissens diese Vertrauensvoraussctzungen entbehren und nicht einen Moment ohne sie bestehen.

Der sittliche religiöse Glauben, auf

dem alles Wissen ruht, begleitet daö Wissen in seiner ganzen Lauf­ bahn; und wo cs von ihm einen Moment verlassen wird, verfällt es in bodenlose Skepsis. Das Verhältniß ist indeß noch inniger. und Begleitung des Wissens

Nicht blos Voraussetzung

ist der sittliche Glaube: das

rechte

Wissen ist selber in jedem Act zugleich ein Act deö sitt­ lichen Glaubens. Zum Erkennen der Gegenstände gelangt ja der menschliche Geist nur so, daß er mit Lust

und Liebe rückhaltlos sich

in dieselben versenkt, um sie ganz wie sie sind in sich aufzunehmen und abzubilden: nur dieser unbedingten Versenkung und Hingebung an den Gegenstand ist die Frucht der Erkenntniß beschieden. Nur die Liebe hat ein Verständniß für die Vorgänge des menschlichen Gemüths und für die eigenthümlichen Erscheinungen der Geschichte, an dem indifferenten so wie an dem feindseligen Kritiker gehen die Gestalten als wesenlose Schat­ ten vorüber, daß er nichts von ihnen versteht. Solche Hingebung an den Gegenstand, solch Verlangen das Wesen der Dinge und ihren Zusam­ menhang zu ergründen, bedeutet zuletzt immer ein Verlangen der Seele nach dem Urgründe der Dinge, nach Gott, und darum liegt in jeder höheren Erkenntniß ein Zug des religiösen Glaubens. Gott aber, der lebendige Gott der Liebe und Wahrheit, bleibt der Erkenntniß völlig verschlossen: wenn sie nicht als vertrauende Hingebung, als Eindringen der Liebe in sein Wesen und Wirken an ihn herantritt. Das auf­ richtige Verlangen nach Gotteserkenntniß, das gesunde wissenschaftliche Streben die höchste Wesenheit zu begreifen birgt den frommen Glauben in sich, grobeso wie der ächte fromme Gottesglaube nothwendig zur Glaubenserkenntniß führt. Das Wissen ruht auf dem religiösen Glau­ ben, wird von ihm getragen und begleitet, und wenn es ein recht­ schaffenes ist, trägt es den religiösen Glauben in sich. Baco hatte

342

Recht:

Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

halbes Wissen

führt

zum

Unglauben,

ganzes Wissen zum

Glauben. Glauben und Wissen also, wenn wir beit Glauben in dieser sitt­ lichen Bedeutung nehmen, sind zwei gleichberechtigte ebenbürtige Erscheinungen unseres geistigen Lebens, in Bezug auf welche die Frage widersinnig wäre, ob der einen oder der anderen der Vorzug gebühre, gradeso als ob man fragen wollte, was besser sei, Verstand oder Wille. Beide nämlich bilden für die Geistes ihren höchsten Gehalt.

gleich wesentlichen Funktionen unseres In der Wirklichkeit kommen sie selten

in gleicher Kraft und Intensität vor.

Wie es in Bezug auf die indi­

viduelle Begabung eine unendliche Reihe eigenthümlicher Naturen gibt, welche zwischen zwei Endpunkten liegen, an deren einem die Willens­ kraft fast absolut und die Erkenntniß beinahe gleich Null, an deren anderem fast der ganze Mensch in die Erkenntniß aufgeht, während der Wille bei geringfügigen Ansätzen stehen geblieben: so stehen auch Glau­ ben und Wissen selten in einem harmonischen Verhältniß, der

eine

Mensch ist mehr auf's Wissen, der andere mehr auf den Glauben an­ gelegt.

Fehlen aber kann in keinem lebendigen Menschen der

eine

Faktor gänzlich, so wenig als einem menschlichen Organismus das Ge­ hirn oder das Rückenmark fehlen kann; und es beruht überall auf einem Mißverständniß, daß man sich eben von Glauben und Wissen eine ganz unangemessene Vorstellung macht, wenn man zuweilen meint, man könne sich des einen von beiden entäußern und sehr wohl

ohne das

eilte oder das andere bestehn. Selbst wo die eine Seite sehr schwach ent­ wickelt sich zeigt, da wird sie durch die andere, wenn diese nur kräftig vorhanden ist, ergänzt und gefördert werden .Ist der Glaube als sitt­ liche Grnndkraft energisch in einem Menschen vorhanden, so kann auf die Dauer das Wissen nicht ausbleiben; und bleibt cs dennoch ans, so ist das nur ein Beweis, daß es mit dem Glauben, das heißt mit seinem sittlichen Grunde nicht richtig bestellt war. Ist in einem Menschen das Wissen wahrhaftig und mäcbtig, das heißt als Trieb zur Wahrheit jttr höchsten Wahrheit vorhanden: so ist in demselben der sittliche fromme Glaube schon irgendwie mitgesetzt, und es kann nicht aus­ bleiben, daß die dauernde Richtung der Seele auf die Wahrheit auch den schwächsten Keim der Glaubens befruchtet und zum Wachsthum nöthigt.

Führt das Wissen nicht- zum Glauben, nicht schließlich zur

Hingebung an den lebendigen Gott, so ist es gar nicht ein wahres Wissen, sei es nun, daß es zu einer Gesammtanschauung sich überhaupt gar nicht erhebt, sondern sich darauf beschränkt eine Masse von Brocken

343

Glaube» und Wissen

in einem Magazin aufzuspeichern, sei es daß es unter dem Vorwände deS Wissens sich zu den gegebenen Realitäten nicht hingebend, sonder» feindselig verhält. Das richtige Verhältniß ist immer, wenn beides in einem Menschen in gleicher Kraft vorhanden ist.

Der gesunde nor­

male Mensch besitzt Frömmigkeit und Wahrheit in gleicher Stärke. Es gerathen beide zeitweilig auch in Widerspruch, das Wissen nimmt eine andere Richtung als der Glaube. Das Wissen versteht zuweilen den Glauben nicht oder mißversteht ihn auch wohl, und meint ihn bestreiten zu müssen; und der Glaube hinwiederum hält sich nicht selten für berechtigt das Wissen zu gering zu taxiren, und verhält sich demnach abstoßend zu demselben.

Solcher Widerstreit

ist

indeß

nur

ein zeitweiliges Resultat der Entwickelung und bedeutet nichts weiter als daß überhaupt Verstand und Wille, Erkenntniß und sittliche Thätig­ keit im Laufe der Entwicklung mannichfach in Kollision gerathen, weil eben jedes von beiden nach eigenen Gesetzen sich entwickelnd bei ver­ schiedener Kraft der Anlage und Verschiedenheit der Bildungsverhält­ nisse eine einseitige Richtung zu nehmen vermag. Wie es aber wider­ sinnig wäre Verstand und Willen als widerstrebende Funktionen zu bezeichnen, so ist auch der Widerspruch zwischen Glaube» und Wissen nur ein unwesentlicher

und vorübergehender.

Beide sind auf volle

Harmonie angewiesen und angelegt, und besitzen die Kraft vorkommende Differenzen auszugleichen. Wenn nur beide redlich ihren eigenen Ge­ setzen nachgehn, und keines von beiden vergißt, daß sie beide wesentliche Glieder des einen und selbigen persönlichen Geistes sind: so ist keine Einseitigkeit so stark, daß nicht eins an dem andern sich zu orientiren und wieder zurechtzufinden vermöchte. Im gesunden normalen Zustand stimmt das Wissen von dem Wesen der Dinge bis zur höchsten Wesen­ heit völlig zusammen mit der hingebenden Gesinnung) die wir Glauben nennen, und ist wiederum die Gesinnung von der Beschaffenheit, daß die Hingebung sich auf alles richtet und nur auf das richtet, was vor dem Wissen als Wahrheit sich bewährt. Nach diesen Ausführungen wird sich leicht ergebe», was wir von dem Anspruch der Philosophie halten die Religion aufzuzehren, und von der Besorgniß der Religiösen, daß dem Glauben von der Wissenschaft Gefahr drohe. Man braucht wirklich nur in jedem Falle sich klar ma ben, was unter Glauben und unter Religion verstanden sein soll, um eine Antwort zu finden, welche jede Gefahr beseitigt. Man vergegenwärtig: sich nur, ob der religiöse Glaube gemeint sei, der im innersten Gemüth als die sitt-

344

Samnilung ausgewählter Schriftstücke.

liche Grundrichtung des Menschen seinen Wohnsitz hat, oder dasjenige, was wir trotz der Glaubensrechtfcrtiguiig der Reformation noch immer mit dem Namen Glauben bezeichnen, nämlich die Summe der überkommenen kirchlichen Borstellungen nnd Dogmen; ob es sich von der Religion als subjektiver Frömmigkeit handelt, oder von den religiösen Vorstellungen, Sitten, Gebräuchen, Einrichtungen und Institutionen, welche als ein historisches Gewächs aus einer gewissen Art von Frömmigkeit hervor­ gegangen sind und deren Complex wir gleichfalls mit dem Namen Religion bezeichnen. Für die subjektive Seite liegt die Sache sehr einfach. Der Glaube, die Frömmigkeit, die Religion als sittliche Grundrichtung gehört ja so wesentlich und unabtrennlich zur Substanz einer vollständigen mensch­ lichen Persönlichkeit, daß dieselbe gar nicht hinwcggedacht werden kann, ohne das Wesen des Menschen zu vernichten. Sie kann der Wissen­ schaft gegenüber mit ihrer Existenz gar nie in Gefahr kommen, muß vielmehr durch ihre Verbindung mit derselben stets gewinnen. Der Ge­ danke einer solchen Gefährdung kann überhaupt nur entstehen, wo man immer und immer wieder unversehens mit den Worten Glauben und Religion ganz andere Vorstellungen verbindet. Man sage sich nur jedesmal, daß es sich um die sittliche Grundrichtung des Menschen handelt, um sofort den Widersinn der Besorgniß zu erkennen, als ob die sittliche Gesinnung jemals in die Lage kommen könnte von der Erkenntniß absorbirt zu werden. Aber wenn nun die Wissenschaft den Gegenstand dieser sittlichen Hingebung modifizirt, wenn nun die Kritik den Gott, auf welchen die Hingebung gerichtet ist, wesentlich umwandelt? — Dann wird die sitt­ liche Hingebung selber noch keinesweges gefährdet. Wir Habens ja in Wirklichkeit immer so, daß die Menschen ihren Gott sehr verschieden sich vorstellen, und daß sie ihre Hingebung auf die mannichfaltigsten Gegenstäude der Natur und der Geschichte richten, welche ihnen für besondere Gottesoffenbarungen gelten: und dennoch ist in aller dieser Mannichfaltigkeit d.ie Richtung eine und dieselbe, cs ist bei allen der lebendige Gott gemeint, mit welchem das Gemüth sich zu einigen be­ gehrt. Es mögen also durch die Wissenschaft immerhin die Vorstellungen von Gotteö Wesen und Wirken, von Gottes Walten und Offenbaren andere, vielleicht vollkommnere werden: cs wird dadurch wohl das Bewußt­ sein modifizirt, die auf das höchste Wesen gerichtete Hingebung bleibt dieselbe. daß

Doch

wenn die Kritik der Philosophie bis dahin schreitet,

sie der religiösen Hingebung

ihren Gegenstand

gradczu raubt,

445

Glauben und Wissen.

wenn sie den Gottcsgedanken überhaupt für ein Phantasiegebilde und alle Religion ohne Ausnahme für Illusion und Wahn erweiset? — Da hat's erst recht keine Noth. Zunächst werden wir bei genauerer Beobachtung gemeiniglich wahrüehmen, daß der Gottesgedanke, den man auf der einen Seite hinauswirft, unter andrem Namen durch die Hinter­ thür wieder hereinkommt; wie denn in Wahrheit kein System des Wissens ohne einen einheitlichen Grundgedanken, daS heißt ohne die Annahme einer höchsten Realität bestehen kann, und, wenn man die Sache hat, auf den Namen nicht allzuviel ankommt.

Wir werden

wahrnehmen, daß der Kampf gewöhnlich nur gegen gewisse Arten von Gottesbegriffen, gegen den persönlichen, gegen den überwcltlichen Gott und dergleichen gerichtet ist, und dafür andere Begriffe eingesetzt werden, welche die Stelle des Gottesbegriffs vertreten.

Und so lange das der

Fall ist, und wir nur festhalten, daß wir unter Religion die sittliche Grundrichtung verstehen: so werden wir uns mit solchen Gegnern leicht verständigen können, daß auch in ihrem System diese sittliche Grund­ richtung gefordert und auf das höchste Wesen gerichtet sein müsse. Könnte es aber wirklich einer Wissenschaft Ernst damit sein, Gott in jeder Gestalt und unter jedem Namen zn läugncn, das heißt, wie ja allerdings der Materialismus dazu Ansätze macht, die Existenz eines einheitlichen Urwesens in Abrede zu stellen, und das Universum aus einem göttlichen KoSmos in einen Sand- oder Misthaufen von Atomen zu verwandeln: — nun dann ist für den Glauben als sittliche Grund­ richtung gar keine Gefahr vorhanden. Er verhält sich dann wie der Storch, dem eine Wissenschaft beweisen will, daß der Instinkt von Zeit zu Zeit nach Süden oder nach Norden zu ziehen eine veraltete Gewohnheit sei, die auf einer Illusion beruhe; der Storch zieht nach wie vor, und läßt die alberne Weisheit stehen.

Der sittliche Glaube

als Gottesgemeinschaft stellt sich mit ganzem Bewußtsein seiner Wirk­ lichkeit und Wahrheit einer solchen tollgewordenen Wissenschaft gegen­ über, und siebt es ruhig mit an, wie sie in Macht der Realität sich den Kopf einrennt.

ihrer Blindheit an der Wer mir einreden will,

daß die Nahrung dem Körper keine Kräfte gibt, den lache ich aus. Und wer mir beweisen will, daß Gott nicht existirt, den halte ich für einen Narren, und wäre er der berühmteste Philosoph. So macht es jeder gesunde Mensch, der im wirklichen Leben steht: alle haben das Bedürf­ niß der Religion, und alle haben Religion, wenn man sich nur mit ihnen darüber verständigt, daß es die sittliche Grundrichtung des Menschen ist. Wird dagegen unter Religion der Complex von Glaubcnsäußerungen

346

Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

und Einrichtungen verstanden, und unter Glauben der kirchliche dog­ matische Bestand von Glaubensvorstellungen: so gilt alles das, was wir über das Glauben und Wissen auf intellectuellem Gebiet gesagt haben. Das traditionelle Material von Vorstellungen und Einrichtungen muß sich die Kritik der Wissenschaft gefallen lassen; und die richtige Religio­ sität, die da weiß, daß ihr unwandelbares Wesen viel tiefer liegt und daß jenes Material

nur zeitweilige Aeußerungen ihres Wesens

sind,

fordert die Hilfe der Wissenschaft für die Reinigung, Berichtigung und Vervollkommnung der Glaubensäußeruugen, weil sie den Trieb hat im vollen Lichte zu wandeln.

Der ächte fromme Glaube erzeugt immer

eine Theologie, und verlangt von seiner Theologie, daß sie im Zu­ sammenhang mit den andern Wissenschaften und namentlich in Wechsel­ wirkung mit der Philosophie stetig fortschreite. Alle Glaubensvorstellungen, auch die höchsten, müssen Gegenstand der Diskussion werden, nicht allein für die Theologie, sondern auch zwischen der Theologie und Philosophie: das verträgt der richtige Glaube, das verlangt er. Wenn nun aber die Philosophie die Glaubensvorstellungen kritisch so zersetzt, oder in ihren selbstständigen Systemen von Begriffen von den gegebenen Glau­ bensvorstellungen sich so weit entfernt, daß deren Grundlagen für sie dahinfallen; wenn sie z. B. einen Gott lehrt, von dem man weder Weis­ heit und Allmacht noch Güte und Liebe aussagen, und dem man nicht Bewußtsein noch Willen beilegen kann, wenn sie einem Determinismus huldigt, vor dem nicht nur die Begriffe von Sünde und Gnade, sondern jede menschliche Freiheit und Verantwortlichkeit unmöglich bestehen können; wenn sie sich so oder anders mit dem spezifischen Vorstellungskreis unsers christlichen Glaubens in offenen Widerspruch setzt? — Nun dann steht cs doch wiederum nicht so, daß wir zu Gunsten dieser Philosophie unsern christlichen Vorstellungskreis daranzugeben hätten; dann tritt alles das in unsere Erinnerung, was wir über die Gebrechlichkeit und Beschränktheit des menschlichen Wissens wie über die Bedeutung der Unmittelbarkeiten und Gegebenheiten gesagt haben. Einer abirrenden Wissenschaft, welche allgemeine Forderungen des unmittelbaren Bewußtseins verkennt, welche die erhabensten und wirksamsten Kundgebungen des göttlichen Geistes in der Geschichte verwirft, weicht die gegebene Wirklichkeit keinen Schritt, macht vielmehr gegen dieselbe das Gefühl der eignen Ursprünglichkeit und Erfahrungsgewißheit geltend. Sie weiß, daß die allgemeinen Thatsachen unsres Bewußtseins und insonderheit die religiösen Grundvorstellungen eine unmittelbare Offenbarung Gottes im menschlichen Gemüth bedeu­ ten; sie weiß, daß alles Große, Herrliche, Epochemachende, allcö was

347

Glauben und Wissen.

bestimmt ist der Menschheit ihre Ziele vorzuhalten, den Rationell ihre Charaktere zu prägen, der Kunst ihre Ideale zu schaffen, zunächst durch durch die ursprüngliche Begabung gottberufener genialer Geistesfürsten mit der Naturnothwendigkeit des Jnstincts sich offenbart; und daß so die religiösen Grundvorstellungen, welche dem gottinnigsten Gemüthe und dem erhabensten Genius der Geschichte entstammen, das Siegel der göttlichen Wahrheit unvergleichlich sicherer an sich tragen als irgend ein immerhin Religion und

der Reflexion entsprungenes Religionswissenschaft werden

philosophisches System. stets die verschiedenen

Systeme der Philosophie sich anzueignen haben, um in diesem Verkehr ihre eignen Begriffe zn vervollkommnen und zu läutern; aber -zurück­ zutreten und zu weichen haben sic vor den Ergebnissen und Erfindungen philosophischer Systeme ebenso wenig, wie die sittlichen Realitäten der Ehe, der Familie, des Volkslebens mit ihren positiven Gliederungen vor den Aufstellungen einer abstracten Ethik oder Theorie des Naturrechts. Der Konflikt der Philosophie mit den christlichen Vorstellungen ist auch zu solcher Schärfe nur gediehn durch einen ganz einseitigen philo­ sophischen Standpunkt. Eine Philosophie, welche sich unterfing die ganze Gedankenwelt aus dem Selbstbewußtsein ihres Urhebers a priori zu erzeugen, nnd die Welt der objektiven Realitäten noch dazu: diese geräth in ihrem Dädulusflug allerdings in Regionen, von welchen aus die religiösen Wahrheiten des Christenthums als nichtige Geistcsprodukte elenden Erdengewürms erscheinen konnten. Das aber war keine gesunde Philosophie. Eine gesunde Philosophie weiß, daß sic nicht Gedanken und Realitäten zu erschaffen, sondern lediglich wissenschaftlich nachzu­ bilden und zu organisircn hat, nimmt die ganze Summe der jedesmal gegebenen empirischen Kenntnisse in möglicher Vollständigkeit in sich auf, steigt ans der Leiter der Realitäten von der sicheren Erde

zu

ihrer

hohen Warte hinauf, um von da aus die Welt zu überschauen und ihre Gedanken zu ordnen. Verschmäht die Philosophie die Leiter der Wirklichkeiten, und meint ohne dieselbe von obenher bauen und schaffen zu können, so werden ihre Systeme Luftschlösser und Phantasiegebäude. Eine gesunde Philosophie, die sich von den Realitäten nährt, hat viel zu großen Respect vor den Realitäten der Natur und Geschichte, als daß sic sich mit diesen ursprünglichen Gottesoffenbarungen so leichthin in

radikalen Widerspruch

zu

setzen geneigt sein

könnte.

Sie wird

immerhin mit allen Mitteln der Erfahrungswissenschaften und mit aller Energie des kritischen und organisirenden Denkens auch an den reli­ giösen Vorstellungen arbeiten und zu ihrer Sichtung und Vollendung

448

Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

beitragen: aber vor den Aeußerungen des unmittelbaren religiösen Be­ wußtseins, vor den in den epochemachenden Trägern der Geschichte offen­ bar gewordenen Grundzügen und Grundzielen unsrer religiösen Natur wird sie als Gottesoffenbarungen ehrerbietig stehen bleiben, und sie als Thatsachen betrachten, welche ihrer Erkenntniß als Aufgaben vorliegen, und deren Existenzrecht ihr nicht in beit Sinn kommt zu bezweifeln, auch wo ihr die Auffassung noch nicht gelungen ist.

Vor allem aber

die Religion selber, die sittliche Grundrichtung des menschlichen Geistes auf das Urwesen wird eine gesunde Philosophie anzufechten niemals in Versuchung gerathen, vielmehr stets als höchste und allgemeinste geistige Thatsache erkennen, als wesentlichste Funktion des gesund organisirten Geistes begreifen. Die Religion, welche somit Kraft und Beruf hat, gegen die Philo­ sophie Stand zu halten, und zur Noth selbst dieser höchsten Leuchte deS wissenschaftlichen Geistes ihr eignes Licht zu leihen, wird wol noch weniger der Bildung ihren Ehrenplatz einräumen, diesem breiteren Niederschlage des wissenschaftlichen Prozesses, der oft von sehr zweifel­ haftem Werth und Gehalt, zuweilen nicht höher steht als das Glauben im gemeinsten Sinne des Wortes. Es gehört die ganze Oberflächlich­ keit unsres Zeitalters dazu, welches mit der Breite des Wissens alle Tiefe verloren zu haben scheint, daß der Gedanke aufkommen konnte, die „Bildung" sei berufen die Religion abzulösen, und die Menschheit werde sich entschließen einer bloßen geistigen Politur die Heiligthümer des Gemüths, zu opfern, aus welchen sie lebt und liebt und denkt und dichtet.

Wahre Bildung nämlich im tieferen Sinne des Wortes ist

nicht möglich ohne die sittliche Grundrichtung des Gemüths, welche wir Religion nennen.

Christliche Armenpflege. Ein Vortrag im Gustav-Adolf-Frauen-Verein. Geehrte Versammlung.

Ich werde wohl zunächst über die Wahl

des Thema mich rechtfertigen müssen.

Denn cs kann allerdings als

eine Anmaßung erscheinen, wenn ich mir erlauben will über den bezeich­ neten Gegenstand vor einem Kreise zu sprechen, dessen Mitglieder viel­ leicht zum größeren Theile praktisch mit dem Gegenstände mehr befaßt

Glauben und Wissen.

und vertraut sind als der, welcher zu ihnen reden will.

349 Ich weiß zu

meiner Entschuldigung nichts zu sagen, als daß ich mir dachte, grade in einem solchen Kreise von praktisch Betheiligten dürfte eS immerhin nicht unwillkommen erscheinen, wenn wir einmal eine Stunde darauf verwendeten um uns die großen Grundsätze zu vergegenwärtigen, nach welchen diese wichtige Thätigkeit praktisch geübt wird, und namentlich den Zusammenhang dieser Grundsätze und ihr christliches Fundament. Eine solche Rekapitulation zur Orientirung dürfte für uns alle um so mehr ein Bedürfniß werden, je umfassender neuerdings das Gebiet der Armenpflege anwächst, und je großartiger die Mittel und Thätigkeiten sind, welche darauf verwendet werden müssen, und je mehr neuerdings gewisse Parteibestrebungen sich bemühn den einfachen klaren Gang der Sache zu verwirren. Die Sache hat ja an sich erhebliche Fragen genug, die täglich an uns herantreten und die wohl bedacht sein wollen. Wer sind denn die Armen, denen man geben soll, und wem soll man nicht geben? Das ist in größeren Städten eine harte Frage, die namentlich weicheren Ge­ müthern viel Noth macht. Wieviel soll man denn und darf man denn von seinen Besitzthümern an die Armen geben, und wo soll man auf­ hören? Sie wissen, die Lösung dieses Problems fällt so verschieden aus, daß sie schwankt zwischen dem gutherzigen Idealisten einerseits, der so lange gibt bis er selber nichts mehr hat, und dem kalten Egoisten, der da jeder Noth gegenüber findet, daß er noch immer die Mittel für eigene persönliche Zwecke nothwendig gebraucht, die ja den Vorzug haben. Wer hat den Beruf sich der Armen anzunehmen, das Gemeinwesen oder der einzelne? Und wie kommen die freien Vereine zu stehen? Diese und ähnliche Fragen sind erheblich genug, aber durch Einmischung moderner Parteitendenzen soll uns die Sache noch erschwert werden. Die Männer der inneren Mission etabliren eine besondere „christliche Armenpflege", und darin liegt doch wohl der Anspruch, daß die ge­ wöhnliche Armenpflege eine christliche nicht sei, wenn nicht gar eine unchristliche; und damit die Verwirrung vollständig werve, verlangen die Männer des kirchlichen Amtes, daß die Armenpflege in die Hände der Kirche zurückkehre, die Kirche sei die rechte Stelle, von der allein gedeihliche Armenpflege auSgehn könne. Nun mit den Kirchlichen werden wir uns auseinandersetzen müssen und prüfen, ob wirklich dieser Anspruch begründet sei. Die Prätention der christlichen Armenpflege dagegen wollen wir von vornherein mit wenigen Worten zurückweisen. Schlech­ ter Wein wird doch nicht zum Johannesberger, wenn man drauf schreibt:

350

Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

Johannesberger; und edler Wein verliert nichts an seinem Werth, wenn gar nichts darauf geschrieben steht, er macht sich durch Gehalt und Geschmack geltend. So wird doch kein Mensch und keine Thätigkeit dadurch christlich, daß man diesen Namen anheftet. Die Christlichkeit erkennen wir lediglich daran, ob sie aus dem Fundament des Christen­ thums erwachsen, und die Grundsätze, nach welchen sie geübt wird, dem Wesen des Christenthums entsprechen. Dabei kommt cs auf den Namen gar nicht an. Die christliche Armenpflege ist nicht eine besondere Art, sondern diejenige, die nach christlichen Grundsätzen geübt wird. Nicht mit Namen und Phrasen, allein mit den Grundsätzen haben wir es hier zu schaffen.

__________

Es erscheint zunächst unerläßlich, daß

wir uns das Gebiet der

Thätigkeiten, welche wir unter dem Namen der Armenpflege zusammen­ fassen, scharf abgrenzen. Wir müssen uns also die Frage beantworte»: was ist denn Armuth, wer ist denn der Arme? Ist derjenige arm zu nennen, der eine Reihe von Bedürfnissen hat, die er aus seinen Mitteln nicht befriedigen kann? Mit den Bedürfnissen ist es solche Sache, sie wachsen und mehren sich bekanntlich mit dem zunehmenden Besitz, und der Fall ist nicht selten, daß der Wohlhabende unvergleich­ lich mehr Bedürfnisse hat, für deren Befriedigung seine Mittel nicht ausreichen, als der Arme. Mit dieser Bestimmung kommen wir nicht zurecht. Vielleicht aber gehört ein gewisses Maß von Besitz und Vermögen dazu, um nicht unter die Armen gezählt zu werten; vielleicht müssen wir die besitzlosen Tagearbeiter, die von der Hand in den Mund leben, als die Armen bezeichnen, oder das sogenannte Proletariat? Auch diese Bestimmung trifft nicht zu. Die Tagearbeiter sind nicht ohne weiteres die Besitzlosen.

Es gehört schon Eigenthum dazu, und zwar

in unsern Tagen ein nicht unbedeutendes, um überhaupt arbeiten zu können, und überdies besitzt der Arbeiter in seiner Arbeitskraft ein Vermögen, das ein nicht geringeres Kapital aufwiegt. Die bloße Unsicher­ heit des Besitzes kann die Entscheidung nicht geben, zumal sie gar nicht immer auf die Seite der Arbeitenden fällt, sondern eben so häufig der Fall vorkommt, daß Vermögen und Kapital eine geringere Sicherheit darbieten, als die Arbeitskraft eines gesunden Menschen. Arm nenne ich denjenigen, welcher die Mittel nicht besitzt, die zu einem menschenwürdigen Dasein schlechterdings unentbehrlich sind, und der eben darum an fremde Hilfe

351

Christliche Arnieiipflege.

gewiesen ist.

Sie werden mir sagen, daß auch diese Bestimmung

als eine fließende erscheint, und ich gebe Ihnen zu, daß auch nach dieser Definition die Grenzen verschieden ausfallen in verschiedenen Zeitaltern, wie auch in derselben Zeit nach Maßgabe der verschiedenen Bildung und Wohlhabenheit.

Immerhin ist sie bestimmt genug, um für eine

bestimmte Zeit und bestimmte Verhältnisse die Grenze scharf zu be­ zeichnen. Unter unsern gegenwärtigen Verhältnissen sind für jeden Menschen unentbehrlich

Kleidung,

Nahrung,

Wohnung

Unterricht, daß er in der bürgerlichen

und

soviel

Gesellschaft ver­

kehren kann. Für uns gilt demnach als arm ganz unzweifelhaft derjenige, dem diese Grundlagen des Lebens ganz oder theilweise fehlen, mag er nun dauernd oder nur zeitweilig sich in diesem Zustande be­ finden. Als Armenpflege bezeichnen wir demnach diejenige Thätigkeit, welche auf die Beseitigung der Armuth gerichtet ist, oder, wenn wir's positiv ausdrücken, auf die Beschaffung der unentbehrlichen Mittel, auf welchen eine menschenwürdige Existenz ruht. Wir fügen sogleich hinzu, daß die Armenpflege als solche es nur mit den bezeichneten Grundlagen, nur mit der leiblichen Noth in dem bezeichneten Umfange zu thun hat. Sie hat es als solche nicht zu thun mit der ganzen Schicht von Bedürfnissen, welche über dieser Grund­ lage liegen. Sie hat es nicht zu thun mit demjenigen, was zur An­ nehmlichkeit, Erleichterung, Besserung und Verschönerung des Lebens gereicht, nicht mit der Verbreitung von Bildung und Kenntnissen, nicht mit der sittlichen Erziehung und Ausrottung von Lasterhaftigkeit. Es ist wichtig diese Unterscheidung festzuhalten, denn alle diese Thätigkeiten, so gewiß sie auch überall im Zusammenhang mit der Armenpflege vor­ kommen müssen, wollen doch nach ganz anderen Grundsätzen gehandhabt werden als die Armenpflege. Nicht weniger nöthig indeß ist es, das Andere im Auge zu behal­ ten, daß die Armenpflege doch nur eine sittliche Thätigkeit ist unter vielen, und daß sie daher richtig nur geübt wird, wenn sie im Zu­ sammenhang und im Einklang mit den andern sittlichen Thätigkeiten sich erhält. Eine richtig gestellte Armenpflege darf niemals die sittlichen Aufgaben weder der Empfangenden noch der Gebenden noch des Ge­ meinwesens stören oder beschädigen, muß vielmehr dazu beitragen, die anderweitigen und höheren Aufgaben ihrerseits zu fördern.

352

Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

Ist eS denn aber überhaupt eine sittliche Aufgabe die Noth zu beseitigen, welche wir Armuth nennen?

Diese Frage darf nur aufge­

worfen werden um allgemein die Empfindung zu erzeugen, daß eine Erörterung derselben als überflüssig erscheint. Die ganze christliche Welt antwortet einmüthig darauf mit Ja. Seitdem das Christenthum die Welt regiert, fühlen sich die Menschen als Glieder an einem Leibe, als Glieder einer Gemeinde, die durch den Geist der Liebe mit einander verbunden sind; und wo ein Glied leidet, leiden alle Glieder mit, und beruhigen sich nicht, bis das leidende Glied wiederhergestellt ist.

Und

das gilt natürlich in erster Linie von derjenigen Noth, wo die ersten Grundlagen der Existenz nicht gegeben sind. Nein über die Pflicht der Armenpflege hesteht kein Zweifel, aber wie dieselbe geübt werden soll und nach welchen Grundsätzen, darüber sind mancherlei Meinungen. Die hauptsächlichste Differenz gründet sich auf einen durchgreifen­ den Gegensatz in der Behandlung von Sünde und Uebel im allge­ meinen. Es war bekanntlich die alte kirchliche Methode, die auch noch heute in Pietistischen Kreisen in Anwendung gebracht wird, die Sünde in der Weise zu bekämpfen, daß man sie direkt angriff, ihr an jeder Stelle immer von neuem mit den gütigen Arzneimitteln von Betrach­ tung, Gebet, Buße, Enthaltung u- s. w. entgegentrat. Man mußte indeß nur zu häufig die Erfahrung machen, daß diese Mittel nicht aus­ reichten, daß die unsittlichen Zustände und Neigungen, wenn auch zeit­ weilig zurückgedrängt, dann mit desto größerer Kraft wieder hervorbrachen, wenn nicht gar das traurige Resultat erfolgte, daß die eifrige Beschäfti­ gung mit der Sünde um so tiefer in dieselbe hineinführte. Und nicht anders machte man es mit den Uebeln. Man stopfte die einzelnen Durchbrüche momentan zu, und das Resultat waren immer gewalt­ samere Durchbrüche an anderen Stellen. In unsrer Zeit namentlich in der protestantischen Welt hat man sich durch die lange Erfahrung von der Verkehrtheit dieser Methode überzeugt, und auf allen Gebieten der sittlichen Thätigkeit die entgegengesetzte Methode als die richtige erkannt. Man ist allgemein überzeugt, daß man das Ding am andern Ende angreifen muß.

Will man die sittlichen und natürlichen Uebel,

die in engem Zusammenhang mit einander stehn, bekämpfen, so geschieht das nicht durch direkten oder gar vereinzelten Angriff, sondern man schafft mit allen Kräften positiv Gutes und positive Güter, welche die Neigungen, Triebe und Kräfte der Menschen

für sich in Anspruch

nehmen und dadurch dem Gebiet der Unsittlichkeit entziehen. Das ist daö einzig wirksame Mittel die Uebel zu beseitigen. Enthaltsam-

353

Christliche Armenpflege

keitsvereine verdrängen nirgends den Brandwein, ganz zu geschweigen daß sie gemeiniglich größere sittliche Schäden im Gefolge haben, als das Brandweintrinken selbst; aber gutes Bier, kräftige Nahrung und lohnende Arbeit, die rotten den Brandwein unwiderstehlich auö. Vor­ schriften und Verbote, Schelten und Schlagen machen keine guten Kin­ der; vielseitiger Unterricht dagegen, Richtung der vorhandenen Neigungen und Kräfte

auf nützliche

entsprechende hochstrebende Beschäftigungen

inmitten eines wohlgeordneten sittlichen Hauswesens, das gibt gute Kin­ der, und die Neigungen zum Bösen müssen aus Mangel an Nahrung vertrocknen. Diese allgemeine Regel gilt auch für die Bekämpfung der Armuth, die ja nicht ausschließlich ein materielles, sondern zugleich ein sittliches Uebel ist. steht.

Man muß ihre Quellen verstopfen, daß sie gar nicht ent­

Man muß das öffentliche und häusliche Leben so organisiren,

daß im regelmäßigen Lauf der Dinge die Armuth unmöglich wird, und daß, wo sie dennoch entsteht, die Kräfte und Mittel gegeben sind, welche sie wieder beseitigen. Nach dieser Regel ergibt sich die positive Auf­ gabe: überall die Selbstthätigkeit in den Menschen dergestalt anzu­ regen, daß sie durch dieselbe sich die Mittel erwerben, welche ihnen den Lebensunterhalt gewähren. Es erscheint mir nicht überflüssig, hier mich gegen ein Mißver­ ständniß. zu verwahren. Ich möchte Sie bitten, mir nicht die aller­ dings verbreitete Meinung zuzuschreiben, daß in einer guten sittlichen Ordnung eigentlich alles Eigenthum aus der Selbstthätigkeit stammen und das Maß des Eigenthums dem Maß der Selbstthätigkeit ent­ sprechen müsse. Ich kann diese Meinung hier nicht ausführlicher be­ kämpfen, muß aber erklären, daß ich sie für ganz einseitig halte. Ich bin überzeugt, daß nicht nur in unserm dermaligen Zustande, sondern auch in der bellen sittlichen und socialen Ordnung zu jeder Zeit wesent­ liche Faktoren derselben widerstreiten werden und müssen d. h. daß eö immer Eigenthum geben wird, das nicht aus Selbstthätigkeit stammt Und immer Selbstthätigkeit, welche nicht zum Eigenthum führt; daß auch in der besten Ordnung das Eigenthum niemals dem Maß und der Intensität der Thätigkeit ensprechen kann, der gewöhnlichere Fall vielleicht sogar das umgekehrte Verhältniß von sittlicher Thätigkeit und Besitz sein wird, so sehr daß die höheren Thätigkeiten geringen odergar keinen Besitz zur Folge haben, die höchste, das ist die prophetische, statt deö Besitzes sogar das Martyrium. Auch meine ich, daß jener Grundsatz vergißt, daß zwar die Thätigkeit der sittlichen Kraft unseres Spaelh,

Protestantische Bausteine.

29

354

Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

Willens anheimgegeben ist, die materielle Frucht derselben aber aus­ schließlich von Gottes Segen abhängt.

Immer bleibt die Selbstthätig­

keit ein wesentlicher unentbehrlicher Faktor für den Erwerb, und wo die anderen Quellen des Besitzes fehlen, sind wir ausschließlich und in erster Linie an die Selbstthätigkeit gewiesen.

Wenn es nun gewiß ist,

daß Eigenthum und namentlich der Besitz des zum Leben Unentbehr­ lichen die Basis für die sittliche Selbständigkeit eines Menschen bildet und der Mangel desselben ihm diese Basis zum guten Theil raubt: so erhellt immerhin als die erste Aufgabe der Armuth gegenüber, dahin zu arbeiten, daß durch Selbstthätigleit die unentbehrlichen Mittel ge­ wonnen werden und damit zugleich die Basis für die sittliche Selbst­ ständigkeit der Menschen. Diese Aufgabe hat zwei Seiten; wer durch Selbstthätigkeit die Armuth beseitigen oder unmöglich machen will, muß zwei Dinge be­ schaffen, Arbeit und Arbeitskraft. Die Arbeit wird beschafft durch Pflege von Ackerbau und Gewerbe, von Handel und Industrie, von Wissenschaft und Kunst, durch Veranstaltung öffentlicher Arbeiten, durch Organisation der Arbeit, so daß der Arbeitende die Arbeit finde und die vorhandene Arbeit auch den Arbeiter zu finden vermöge, d. h. durch Arbeitsnachweisung und im Nothfall durch Beschäftigungsanstalten. Zur Arbeit gehört ein angemessener Arbeitslohn. Ich weiß sehr wohl, daß auf dem großen Gebiet des Fabrikwescns die Arbeitslöhne von den Conjunkturen abhängig sind und die Höhe derselben von niemandem will­ kürlich festgestellt werden kann. Aber es gibt Gebiete genug, auf denen dies nicht der Fall ist, wo der Lohn lediglich nach lokalen Bedürfnissen bemessen werden kann. Da muß es Grundsatz sein, die Höhe des Lohnes so zu stellen, daß der redliche Arbeiter mindestens den unentbehr­ lichen Lebensunterhalt für sich und die ©einigen bestreiten kann. Ich möchte namentlich an den weiblichen Theil der arbeitenden Klasse erinnern. Da gibt es gewisse Kategorien von Arbeiterinnen, die einen so unzureichen­ den Lohn empfangen, daß sie davon schlechterdings nicht bestehen können und darum entweder auf unsittliche Abwege gedrängt oder auf Almosen angewiesen werden. Es ist aber unwürdig, daß der mangelhafte Lohn des redlichen Arbeiters durch Almosen ergänzt werde, das einzig richtige Mittel ist den Lohn so zu erhöhen, daß Almosen nicht nöthig werden. Das zweite ist die Arbeitskraft.

Die schaffen wir durch gesunde

tüchtige Volkserziehung, wenn wir den öffentlichen Unterricht auf alle Kinder ausdehnen, und ihn so einrichten, daß jedem Menschen die

Christliche Armenpflege.

355

Möglichkeit geboten wird, soviel Kenntnisse und Geschicklichkeiten zu erlangen, daß er in den Stand gesetzt wird, einen Beruf zu ergreifen, der seinen Mann ernährt. Und als Aushilfe zu diesen schaffenden Faktoren bringe man hinzu die Vereinigungen, welche geschlossen wer­ den zum Zweck des Schutzes und der Abwehr unvorhergesehener zeit­ weiliger Nothstände, die Genossenschaften, die Vorschuß- und Darlehns­ vereine, die Assekuranzen und Sparkassen und Sterbekassen u. dgl. m.: dann hat man dahin gewirkt, Armuth nicht entstehen zu lassen.

Wo

wir gesunde gut unterrichtete in mancherlei Fähigkeiten geschickte Men­ schen erziehen, wo wir endlich durch schützende Bereinigungen der zu­ fälligen Noth vorbeugen: da treten wir der Armuth aus die richtige Weise entgegen, indem wir ihr von vornherein die Wurzeln abschneiden. Also eine tüchtige gesunde Organisation unsres gesammten öffent­ lichen Lebens und die Erziehung der Menschen zur Selbstthätigkeit, das ist die richtige protestantische und allein wirksame Methode die Armuth zu bekämpfen. Und wo sie dennoch hier und da entsteht, muß immer in erster Linie der Versuch gemacht werden, durch Selbstthätigkeit sie zn beseitigen. Und erst wenn und wo die Erzeugung von Selbstthätig­ keit nicht möglich ist, wo Mittel und Kräfte dazu fehlen, erst da kommt die andere Weise in Betracht, — die Armenunterstützung. Diese Armenpflege im

engeren und eigentlichen Sinne d. h. die

Unterstützung, wer ist das Objekt derselben? Wer soll Unterstützung empfangen und wer nicht? Oder soll dieselbe allen Armen ohne Aus­ nahme zu Theil werden? Da kommen zunächst die, welche sich rühmen vorzugsweise die christlichen zu sein, und machen Einschränkungen. Die christliche Liebe erstrecke sich doch nur auf Christen, und Christen seien doch nur die Gläubigen. Der Ungläubige möge die Strafe seines Unglaubens tragen, man hindre Gottes heilsame Zucht an ihm, wenn man die Noth, welche ihm Gott zu seiner Besserung auferlegt, beseitige, ohne daß er sich von seiner Sünde bekehrt habe. Die christliche Armen­ unterstützung habe es nur mit den Gläubigen zu thun. — Dieser Grundsatz ist überdies nicht selten im Dienst des Parteiwesens und zwar nicht blos des kirchlichen sondern auch des politischen in Anwen­ dung gebracht worden: man hat nur solche Arme unterstützt, welche sich in den Dienst der Partei stellen, die andern läßt man hungern. Nun über dies Verfahren ist wenig zu bemerken. Wer so sehr daö Parteiwesen obenanstellt, daß ihm alle Pflichten durch dasselbe bedingt

356

Sammlung ausgewählter Schriftstücke

Werden,

wer sich nicht schämt, selbst die Noth und Armuth als ein

Mittel für seine Parteizwecke zu mißbrauchen, der darf wohl nicht sagen, daß er von christlichen Grundsätzen beherrscht wird, den erinnern wir lediglich an das Wort: „segnet die euch fluchen,

thut wohl denen die

euch hassen und verfolgen." Der Grundsatz wird indeß von

manchen ehrlich

Rücksicht auf Parteiwesen; aber auch

so ist er nach unserm Urtheil

verkehrt und widerstreitet der christlichen Weltanschauung.

gemeint

ohne

Wir wollen

nicht so sehr betonen die Engherzigkeit der ganzen Auffassung, wonach nur die wenigen, welche in den Augen dieses Standpunktes als Gläu­ bige erscheinen, für wirkliche Christen zu halten wären, so daß man von dem wirklichen lebendigen weltgestaltenden und weltbeherrschenden Chri­ stenthum nichts wahrnimmt: auch wenn man die Kategorie der Gläubigen in weitherziger Weise ausdehnte, der Grundsatz wäre doch verkehrt. Einmal treibt er zur Heuchelei. Es ist ganz natürlich, daß wenn nur die Gläubigen empfangen, alle Armen sehr bald als Gläubige dastehn werden, um durch dies leichte Mittel des Leibes Nahrung und Nothdurst zu erlangen, die sie nun doch, einmal nicht entbehren können. Und die Heuchelei hat natürlich sittliches Verderben nach allen Rich­ tungen in ihrem Gefolge. Sodann stellt diese Auffassung die göttliche Weltordnung auf den Kopf: soll man denn wirklich erst glauben und dann essen? soll man denn wirklich nicht eher Nahrung und Kleidung bekommen, als bis man zum christlichen Glauben gelangt ist? Habt ihr Gläubige denn so lange gehungert und gefroren, und lasset ihr eure Kinder so lange hungern und frieren? In der göttlichen Weltordnung geschieht es umgekehrt. Da empfangen wir alle ohne Ausnahme zuerst die Güter des sinnlichen Lebens, und nirgends wird das Dasein oder das Maß derselben von Glauben und Unglauben abhängig gemacht. Und ebenso machen wir's in unserm Hauswesen, die sinnlichen Güter theilen wir aus nach dem Maß der verschiedenen Bedürfnisse und nach Maßgabe unseres Vermögens. Glaube und Gesinnung kommen dabei nicht in Betracht, die liegen auf einem andern Gebiet. So sollen wir uns auch den Armen gegenüber verhalten.

Der erste Grundsatz christ­

licher Armenpflege liegt in den Worten Jesu: Unser Vater im Himmel lässet seine Sonne aufgehn über Gute und Böse, und läßt regnen über Gerechte und Ungerechte. Damit ist zugleich eine andre Einschränkung abgewiesen, die von einem andern Standpunkt aus gemacht wird. Man stellt nicht selten die Würdigkeit als maßgebende Kategorie auf: die Würdigen sollen

357

Christliche Armenpflege.

Unterstützung empfangen, die Unwürdigen nicht.

Du lieber Gott, ein

einziger Blick ins eigne Herz und Leben: bin ich denn würdig der überschwenglichen Fülle von Gütern und Gaben, welche Gottes Güte und Barmherzigkeit

mir

täglich zufließen

läßt?

Wer einmal

diese

Frage an sich gerichtet hat, kann niemals darauf verfallen, die Gaben an die Armen von deren Würdigkeit abhängig zu machen. Wie wir alles, was wir haben, ohne alles Verdienst und Würdigkeit von Gott empfangen haben, wie wir unsern Kindern von unsern Gaben mit­ theilen, ehe von Würdigkeit die Rede sein kann:

so

sollen auch die

Armen des Leibes Nahrung und Nothdurft empfangen, gleichviel ob würdig oder unwürdig. Die unentbehrlichen Mittel zu besitzen ist in GotteS Augen jeder Mensch

für würdig

erachtet.

Und

grade

um

würdige Menschen werden zu können, müssen sie diese Nothwendigkeiten vorher empfangen, darohye können sie's nicht. Aber eine Klasse von Armen werden wir doch ausnehmen müssen? Man darf doch denen nicht geben, welche die Gaben verschwenden, man darf doch die Lüderlichkeit und Arbeitsscheu nicht unterstützen? diese Ausnahme ist nur scheinbar.

Auch

Wo die Gaben gemißbraucht oder

lüderlich verschwendet werden, da entsteht nicht die Aufgabe das Noth­ wendige vorzuenthalten, sondern die Gabe so einzurichten, daß man den Mißbrauch und die Verschwendung möglichst verhütet. Dem Säufer gibt man natürlich kein Geld, sondern seiner Familie Kleidung und Brod. Den arbeitsscheuen Vagabonden bringt man in eine Anstalt, wo er arbeiten muß und zugleich Wohnung, Kleidung und Nahrung findet. Nein auch dem Lüderlichen und Vagabonden sollen die noth­ wendigen Mittel nicht entzogen sein. Den Hunger kann man zuweilen als pädagogisches Mittel in Anwendung bringen, aber verhungern läßt man Niemand, auch nicht den Arbeitsscheuen und Vagabonden. Die christliche Liebe sucht ihn zu retten, immer aber gibt sie ihm Nahrung, Kleidung und Wohnung. Hier erhellt die Wichtigkeit der Unterscheidung, welche wir zwischen der Armuth und der darüberliegenden Schicht von Bedürfnissen gemacht haben. In diesem höheren Gebiet von Bedürfnissen, wo es darauf ankommt, das Leben über die ersten Nothwendigkeiten zu erheben, eS freundlich und angenehm zu gestalten, wo es sich handelt um Förderung des materiellen Wohlbefindens, um Verbreitung von Kenntniß und Bil­ dung, um Veredlung der Sitte:.da ist es in der Ordnung, daß das christliche Herz, welches sich gedrungen fühlt von seinem Besitz mitzu­ theilen, mancherlei Unterscheidungen macht, da öffnet cs mit Recht seine

358

Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

Besitztümer nach persönlichen Verhältmffen, nach Urtheil und Neigung, nach Gemeinschaft der Gesinnung und der Bestrebung. Aber für das Gebiet der Armuth d. h. im Bereich der Nothwendigkeiten,

da gilt

nicht Partei noch Genossenschaft, da gilt nicht Glaube noch Würdigkeit: allen ohne Ausnahme, welchen die unentbehrlichen Lebensmittel fehlen, müssen sie gewährt werden. Das allein ist der christliche Standpunkt, und unser öffentliches Leben ist nur dann vollkommen christlich organisirt, wenn allen Nöthen dieser Art abgeholfen wird, jeder Hungernde und Obdachlose und nicht Unterrichtete ist eine Anklage gegen unsere Christlichkeit. „Gott läßt seine Sonne aufgehn über Gute und Böse und läßt regnen über Gerechte und Ungerechte": dies große Wort sollte mit goldnen Buchstaben über dem Portal einer jeden Armenverwaltung geschrieben stehn. Also alle Armen sollen empfangen, aber wie oft, wie viel, nach welchem Maße? Hier treffen

wir auf eine Differenz

zwischen katholischer und

protestantischer Frömmigkeit. In der katholischen Frömmigkeit spielen bekanntlich die guten Werke eine große Rolle, sie helfen den Himmel verdienen, und unter diesen guten verdienstlichen Werken nimmt das Almosengeben eine hervorragende Stelle ein. Bedarf man so des Almosengebens zu seinem Himmel, so bedarf man natürlich dauernd der Almosenempfänger. Die Wohlthätigkeit wird so geübt, daß die Gegenstände derselben nicht ausgehn, man kouservirt sich Almosen­ empfänger. Darum finden wir in katholischen Ländern die Bettelei im Schwünge und an besuchten Orten, in Bädern und bei Wallfahrtskirchen große Schaaren von Bettlern. Almosen und Bettelei sind ein charak­ teristischer Zug der katholischen Weise der Armenpflege. Unsern prote­ stantischen Augen erscheint die Sache in wesentlich anderm Licht. Wir bedürfen der verdienstlichen Werke nicht, wir bedürfen am wenigsten der Bettler zu unsrer Seligkeit, wir halten überhaupt die Armenunter­ stützung für eine der untergeordnetsten sittlichen Thätigkeiten, für einen Nothbehelf, wie wir die Armuth als einen Nothstand ansehn, der möglichst zu beseitigen

ist.

Wir streben darnach, daß die Armuth

gänzlich verschwinde, und halten unser

öffentliches Leben

am besten

organisirt, wenn die Armuth gar nicht oder nur ausnahmsweise entsteht. Darnach urtheilen wir auch völlig anders über Almosengeben und Bettelei.

Das Almosengeben ist in unsern Augen die schlechteste Form

der Armenunterstützung.

Es gleicht der Methode des Arztes, der seinen

Patienten so behandelt, daß er sicher ist ihn als Patienten zu behalten. Es ist eine solche Art der Noth

abzuhelfen,

daß

sie mit Sicherheit

immer wieder entstehn muß, um immer auf's neue Abhilfe zu fordern. Treibt aber die christliche Liebe

wirklich die Noth zu beseitigen, so

fordert sie dauernde Hilfe, und verwirft darum die Form des Almosens. Müssen wir aber die Form des Almosens mißbilligen, so folgt schon daraus, daß wir die Bettelei verwerfen. Denn beides gehört zusammen, die Almosen bedürfen der Bettler und die Bettelei geschieht eben um Almosen zu erlangen. Schon aus diesem Grunde, weil diese Form der Armenunterstützung nicht wirkliche und wirksame Hilfe schafft, sondern die Noth offen erhält, muß ein wohlgeordnetes Gemeinwesen die Bettelei nicht dulden, ungerechnet die starken sittlichen Gründe, von denen wir nachher reden werden. Allerdings aber erwächst für das Gemeinwesen, welches das Betteln untersagt, naturgemäß die Pflicht dafür zu sorgen, daß es nicht nöthig werde, das heißt die Pflicht seinen Armen ausreichende und dauernde Unterstützung zufließen zu lassen. Es ist nun einmal eine Forderung des christlichen Gemüthes, daß kein Glied der Gemeinde an dem Unent­ behrlichen Noth leiden soll, gleichviel ob es durch Schuld oder unschul­ dig in die Noth gerathen ist. Es kann an der Forderung nichts er­ mäßigt werden, die christliche Menschheit ist ihren nothleidenden Glie­ dern schuldig ausreichende und dauernde Hilfe zu gewähren, eine fehlende oder unzureichende Hilfe weist immer auf einen Mangel christlicher Liebe zurück. Für denjenigen Theil der Armen, welcher nur zeitweilig in Noth gerathen ist, stellt sich die Aufgabe so, daß für diese Zeit eine ausreichende Unterstützung gewährt und so eingerichtet werde, daß die etwa fehlende Gesundheit wiederhergestellt, die geschwächte Arbeitskraft gestärkt, die fehlende Arbeit beschafft, und etwanige sittliche Mängel gehoben werden, damit die betreffenden möglichst bald in den Stand gesetzt werden aus der Kategorie der Armen zu verschwinden. Für diejenigen Armen, bei welchen die Armuth dauernder, habitueller Zustand geworden, bei denen die Möglichkeit nicht mehr gegeben ist diesen Zustand zu beseitigen, muß die Unterstützung den Charakter des Ganzen und Dauernden haben. Am besten geschieht das durch Er­ richtung öffentlicher Anstalten, in welchen Waisen und Alte, Arbeits­ unfähige, Kranke und Sieche ein dauerndes Unterkommen finden: die Hospitäler, die Armen- und Waisenhäuser, die Kranken-, Siechen- und Rettungsanstalten, das ist die beste Form, und es muß dahin gestrebt werden, daß möglichst alle habituelle Armuth ein solches Unterkommen

360 finde.

Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

Soweit diese Anstalten nicht ausreichen, bleibt dann die Pflicht

übrig den Armen und armen Familien eine gleichmäßige und regel­ mäßige Unterstützung zu Theil werden zu lassen, um dem Uebel gründ­ lich und systematisch zu steuern. Die Armenpflege hat endlich, wie wir schon andeuteten, noch eine sittliche Bedingung, sie muß mit den anderen und höheren sittlichen Aufgaben in Einklang sich erhalten. Noth muß so geschehn, daß die

Die Beseitigung der materiellen sittliche Aufgabe des Nothleidenden

sowie auch die sittliche Aufgabe des die Noth Beseitigenden ins Auge gefaßt und gefördert wird; und darf nicht so geschehe», daß die leibliche Besserung eine Beschädigung der Sittlichkeit mit sich führe weder bei dem Empfangenden noch bei dem Gebenden. Was hülfe cs dem Armen, wenn seine Blöße gedeckt und sein Hunger gestillt wird, und er nähme doch Schaden an seiner Seele, würde faul und niederträchtig.

Und

was hülfe dem Reichen alle seine Wohlthätigkeit, wenn sie ihn hochmüthig machte und als Mittel diente Menschenseelcn zu knechten. Also die Armenunterstützung ist verwerflich, wenn sie in einer Form geschieht, welche unsittliche Zustände erzeugt. Neben den schon ange­ gebenen Gründen ist dies der Hauptgesichtspunkt, welcher uns nöthigt die Bettelei zu verwerfen, weil dieselbe auf Wohlthäter und Empfänger demoralisirend wirkt. Ich unterscheide davon sehr bestimmt eine gewisse Art des Bittens, die durchaus zulässig erscheint. Das Bitten kann unter Umständen sehr richtig sein, und richtig bitten ist viel schwerer und viel größer als richtig geben. Aber dies Bitten des Bedürftigen hat einen zulässigen Sinn nur bei einem persönlichen Verhältniß zwischen Empfangenden und Gebenden, und zwar einem solchen Verhältniß, wo auf der einen Seite ein wirkliches Vertraue» und auf der andern reine uneigennützige

Liebe obwaltet.

Davon ist das öffentliche handwerks­

mäßige Straßen- und Hausbetteln völlig verschieden, diesem fehlt alle sittliche Basis, ja es ist durchgehends der Ausdruck sittlicher Nieder­ trächtigkeit und Schamlosigkeit und hat Lüderlichkeit und Arbeitsscheu in seinem Gefolge. Das gilt von dem literarischen Landstreicher nicht weniger als von dem zerlumpten Vagabonden. Und eben um dieser sittlichen Entartung willen, welche das Betteln und das die Bettelei befördernde Almosengeben nothwendig hervorbringt, darf es in einem wohlgeordneten Gemeinwesen nicht geduldet werden; womit ja einzelne Ausnahmen in besonderen Nothfällen nicht ausgeschlossen sind. Sodann soll die Armenpflege so geschehn, daß sie die Sittlichkeit

fördert. Wo sie mit der Armuth zugleich unsittliche Zustände vorfindet, Unordnung, Unreinlichkeit, Arbeitsscheu und Laster: da ist es ihre Weis­ heit, die Unterstützung in einer Form, in einem Maß und in einer Ordnung zu gewähren, daß sie nicht nur nicht gemißbraucht werden kann, sondern auch dazu beitragen muß die Ordnung unv die Gesund­ heit und die Arbeitsamkeit des Hauswesens zu fördern. Das geschieht theils durch Beschaffung von Arbeit, soweit noch Arbeitskräfte vorhan­ den sind, theils durch gesunde Wobnung und Kleidung, theils durch Naturalgabcn, die dem unmittelbaren Bedürfniß entsprechen, und vor allen Dingen durch Nöthigung der Kinder zum regelmäßigen Schul­ besuch. In vielen Fällen ist freilich das einzige Mittel, namentlich bei gewohnheitsmäßigem Vagabondiren, daß die betreffenden Subjekte einer Anstalt einverleibt werden, welche ihnen eine gute Hausordnung gewährt und sie zu der noch möglichen Thätigkeit anhält. Vor allen Dingen darf bei der Armenpflege niemals vergessen wer­ den, daß nach christlicher Anschauung der Arme Gottes Ebenbild an sich trägt wie der Reiche, und daß des Armen Seele in Gottes Augen keinen geringeren Werth hat als die Seele des reichsten und mächtig­ sten. Die Unterstützung darf niemals so geschehn, daß die Gottebenbildlichkeit und die Ebenbürtigkeit mit allen Menschen in der Seele des Armen verletzt werde. Es ist schon schwer genug für den Armen, daß er die Selbständigkeit entbehrt, welche das Leben aus eigenem Be­ sitz und Mitteln gewährt; um so mehr ist es die Pflicht der Unter­ stützung, das Gemüth des Armen nicht zu drücken sondern zu heben. Die Gaben müssen so an ihn kommen, daß er bei aller Demuth sich doch niemals abhängig oder erniedrigt füblt, sondern mit derselben Freudigkeit zu Gott und den Menschen aufblicken kann wie alle andern. Und von den Wohlhabenden müssen die Unterstützungen in solcher Weise auögehn, daß sie bei aller Freude an der Mittheilung dennoch in ganzer Demuth sich bewußt bleiben, daß sie alles, was sie besitzen, ganz und ausschließlich von Gottes Gnaden besitzen, unter keinem andern Titel als welcher auch den Armen die Mittel der Unterstützung zufließen läßt. Nur wenn so das sittliche Bewußtsein auf beiden Seiten gleich ist, wenn Armuth nicht als Schande und Reichthum nicht als Ehre empfunden wird, nur dann trägt die Armenpflege einen sittlichen Charak­ ter an sich. Ich möchte bei dieser Gelegenheit einen Zug erwähnen als Bei­ spiel von einer verschiedenen sittlichen Behandlung des Armen. ES ist an vielen Stellen üblich die Weihnachtsbescheerung armer Kinder in einer

362

Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

gewissen Oesfentlichkeit zu veranstalten, und mit derselben dann noch eine kirchliche oder auch patriotische Ansprache zu verbinden. diese

Form

niemals zugesagt.

Der Arme

wird in

Mir hat

seiner Armuth

gleichsam öffentlich vorgestellt, und wenn er noch feineres Gefühl besitzt, muß ihn das beschämen, und zugleich muß er sich für die Gaben eine Rede gefallen lassen, die ihn vielleicht seine Armuth recht bitter empfin­ den läßt.

Ich finde einen entschiedenen Fortschritt in der Behandlung,

welche diese Angelegenheit neuerdings in einigen hiesigen Bezirksver­ einen erfahren hat.

Die Weihnachtsgaben für arme Kinder, welche

man gesammelt hat, werden den Müttern derselben einzeln und priva­ tim übergeben, und diese mögen sie dann zu Hause ihren Kindern schenken. So fällt alle Beschämung weg und so haben die Kinder wirklich ein Weihnachtsfest, nämlich im Hause der Eltern. Hier erkenne ich christlichen Sinn, wenn auch die christliche Phrase etwa fehlt, die bei der andern Form so sehr in den Vordergrund tritt. Nun kommt noch die große Frage: wer hat denn den Beruf die Armen zu unterstützen, in wessen Händen soll die Armenpflege ruhn? Da treten namentlich zwei Auffassungen sich entgegen. Die einen er­ klären unbedingt die Kommune für das berufene Subjekt der Armen­ pflege, andre dagegen können sich hierin nicht finden, meinen vielmehr, daß die Armenpflege vorwiegend von einzelnen Persönlichkeiten geübt werden müsse, welche von dem Drange christlicher Liebe getrieben wer­ den sich aller Noth hilfreich anzunehmen. Sie behaupten, daß die Sache nur in dieser Form gedeihe, die Kommune habe ja doch kein Herz für die Noth. Diese müssen wir zunächst daran erinnern, daß es ohne die Kommune nicht abgeht. Wer soll denn alle die lichen Anstalten errichten, wenn es die Kommune nicht wenn wir nun den Grundsatz aufgestellt haben, daß es menste Zustand wäre, wo alle dauernd Arme in solchen

doch immer vielen öffent­ thäte? Und der vollkom­ Anstalten ein

Unterkommen fänden, so würde schon daraus folgen, daß wir uns principiell und vorwiegend auf die Seite der Kommune stellen müssen. Doch davon abgesehn, es bleibt ja faktisch ein weites Gebiet für die Unterstützungen übrig. Wie aber soll es möglich werden, daß Privat­ personen das Bedürfniß befriedigen? In einer Gemeinde von kleinem Umfang kann man sich darüber täuschen, die Bedürfnisse lassen sich übersehn und in vielen Fällen auch durch die Mittel einzelner begüter­ ter Familien befriedigen. In jeder größeren Stadt und namentlich in

Christliche Armenpflege.

363

jeder großen Stadt wird die Unhaltbarkeit dieses Systems leicht hand­ greiflich. Wem soll man geben und wem nicht, und wo soll man auf­ hören? diese Frage ist schlechterdings nicht zu beantworten. Soll ich den Armen geben, die mir bekannt sind? Nun Sie wissen, wer nicht gern gibt, lernt wenig Arme kennen, und wer gern gibt, den lernen die Armen bald kennen und dem werden bald so viele Arme bekannt sein, daß seine Mittel nicht ausreichen. Oder soll ich mir äußerlich eine Grenze abstecken nach Straßen und Häusern?

Da sind in einem

Bezirk viele Reiche und wenig Arme und in einem andern Bezirk fast lauter Arme.

Und warum soll ich dem Armen nichts geben, der ein

Haus weiter wohnt, und dessen Noth ich vielleicht als die größere er­ kenne? Du sagst: dem sollen andre geben. Wenn nun aber die andern nicht geben? Die müssen geben.

Wer so antwortet, beweist damit un­

willkürlich, daß es ohne gemeinsame Ordnung nicht geht. Bei dem ganz freien persönlichen Geben ist wirklich eine andre Grenze nicht zu entdecken, als daß man so lange gibt als man etwas besitzt, denn das christliche Gemüth erträgt es schlechterdings nicht, daß man sich dem Genuß hingibt, während andre hungern und frieren. Und doch ist dieses Verfahren schlechterdings unzulässig; denn man hat das Eigenthum von Gottes und Rechts wegen in erster Linie dazu die Bedürfnisse der eignen Person und Familie zu befriedigen, und es ist unsittlich dasselbe diesen Zwecken zu entziehn. Es ist darum auch gar nicht zu verwun­ dern, wenn diese weichherzige Gutmüthigkeit, die im Grunde eine sitt­ liche Schwäche bedeutet, andre die einen ausgeprägteren Sinn für die Bedeutung des Eigenthums besitzen, immer mehr dahin treibt sich deS Gebens ganz zu enthalten, weil sich ja doch nicht erkennen lasse, wo man geben solle und wo nicht. Ist dagegen die Gemeinde das unter­ stützende Subjekt, so ist die Sache ausführbar. Der Kreis des Bedürf­ nisses, der in ihren Bereich fällt, ist scharf abgegrenzt, und die Größe desselben übersteigt mit seltener Ausnahme nicht die Kräfte der unter­ stützenden Kommune. In den meisten Fällen sogar, wo die Kommune die Armenunterstützung in der Hand hat, fällt auf das einzelne Glied derselben nur eine sehr mäßige Steuer, die ihm meistens noch viele Mittel für freiwillige Verwendung übrig läßt. Hier findet auch der bezeichnete christliche Grundsatz einen Halt, denn wenn es richtig ist, daß Luxus und Ueberfluß so lange keine Berechtigung haben als noch Glieder der Gemeinde da sind, welche in der bittersten Noth sich be­ finden: so kann die Kommune diesem Grundsatz leicht genügen durch mäßige Opfer, welche sie dem Einzelnen auferlegt; während er da, wo

364

Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

der Einzelne, ihn zur Norm seines Gebens macht, allemal in die Ab­ surdität ausläuft, daß er so lange den Armen gibt, bis er selber in die Kategorie der Armen gerathen ist. Wo die Unterstützung an die Liebesthätigkeit der einzelnen gewiesen ist, da kann es in einem größeren Gemeinwesen ohne Unregelmäßigkeit und Verwirrung nicht abgehn.

Es ist nicht möglich für den einzelnen

das Maß der Bedürfnisse zu übersehn, es ist auch nicht möglich zu wissen, in welchem Maße sie anderweitig Befriedigung finden. Die natürliche Folge ist, daß solche Arme, welche die bekannte Betriebsamkeit besitzen, reichlich empfangen, andere dagegen in der Noth verbleiben. Die Kommune dagegen kann ohne große Mühe das Bedürfniß in seinem ganzen Umfang erkennen und darnach die Höhe der nöthigen Unterstützung bemessen.

Sie ist im Stande die Bedürfnisse in geord­

neter Weise zu befriedigen und einen Etat aufzustellen für die Armen­ unterstützung, nach dem dann auch jeder einzelne weiß, was er für diesen Zweck beizutragen hat. Hier vermag denn auch jeder nach richtiger Erwägung seiner Verhältnisse sich zu berechnen, wieviel er im Stande sei an freiwilligen Opfern darzubringen, wie doch eine solche Berechnung in einem geordneten Hauswesen unentbehrlich erscheint. Bei dem vereinzelten persönlichen Geben ist das alles nicht möglich, da kommt nothwendig eine Unregelmäßigkeit auch in den eignen Haus­ halt des Wohlthätigen. Aber das Herz! Die Kommune hat kein Herz. Nun es ist mit dem Herzen so ein eigen Ding. ES mag paradox klingen, aber ich muß bekennen, ich wollte, bei allen denen, welche mit der Armenpflege zu schaffen haben, existirte gar nichts von dem, waS man Herz nennt. Man versieht darunter eine gewisse Weichheit der Em­ pfindung für die Nothleidenden und ihre Zustände, und die wirkt in den meisten Fällen schädlich. Die Gaben gerathen dahin, wo die Kunst vorhanden ist diese Weichheit oder Schwäche deö Herzens gehörig in Anspruch zu nehmen. Die Armenunterstützungen müssen aber schlechter­ dings nur nach Maßgabe des vorhandenen Bedürfnisses vertheilt wer­ den, und da ist eine nüchterne objektive Betrachtung die beste Stim­ mung. Das Herz hat hier nur soweit Berechtigung als es die be­ sonnene christliche Liebe ist, welche gesonnen und bemüht ist der Noth abzuhelfen. Diese christliche Liebe dokumentirt aber die Kommune schon dadurch, daß sie die Armenpflege organisirt; und es ist schlechterdings kein Grund anzunehmen, daß die Organe der Gemeinde mit weniger Liebe

und Einsicht dies Gebiet verwalten als Privatpersonen.

Und

Christliche Armenpflege.

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wenn dennoch hie und da eine solche Besorgniß gerechtfertigt erscheint, nnd wenn Privatpersonen einen unwiderstehlichen Drang empfinden, der Noth der Armen sich anzunehmen: was hindert sie denn mit ihrer Liebe, ihrer Thätigkeit und ihren Mitteln sich in den Dienst der Kommune zu stellen? Das ist zugleich der Probirstein für die Aechtheit ihrer Liebe. Wer die Selbstverläugnung nicht besitzt seine Gaben und seine Thätigkeit dem Gemeinwesen zur Verfügung zu stellen, wer es nicht ertragen kann, daß der Arme nicht die Gaben persönlich aus seiner Hand empfängt, dessen Liebe ist doch nicht frei von Eitelkeit und Ehr­ geiz, er will bei den Armen etwas gelten, und darum ist er nicht der richtige für diese Thätigkeit. Und das ist wiederum ein Grund, der zu Gunsten des Gemein­ wesens spricht, nämlich die sittliche Seite. Bei der lediglich persön­ lichen Armenpflege ist es gar nicht zu vermeiden, daß auf Seite der Gebenden vielfach Eitelkeit und Hochmuth entstehen und auf Seite der Empfangenden Niederträchtigkeit und Beschämung: Tyrannei in den Gebenden und Servilität in den Empfangenden sind gewöhnliche Er­ scheinungen. Und doch ist ein christlicher Hauptgrundsatz für die Armen­ pflege: daß die Linke nicht wissen soll, was die Rechte thut. DaS ist im vollen Sinn nur durchzuführen, wenn man seine Gaben an die Ge­ meinde gibt; und die unentbehrliche Selbständigkeit und Selbstachtung ist bei den Armen nur zu erhalten, wenn sie die Gaben aus der Hand der Gemeinde empfangen. Da können sie ungetrübt dem Gefühl sich hingeben, daß sie durch Gottes Güte die Gaben empfangen; und auch daö beschämt sie nicht, wenn noch das andre Gefühl hinzukommt, näm­ lich der Freude und des Dankes, daß Gott die christliche Gemeinde mit solcher Liebe erfüllt, daß sie der nothleidenden Brüder rechtschaffen sich annimmt. Bei der lediglich persönlichen Armenpflege erwächst aus der Unmöglichkeit einer übersichtlichen Ordnung die bekannte Betriebsamkeit und Verschlagenheit der Armen, die alle Quellen aufzufinden und zu benutzen versteht, die jede Gesinnung, jede Haltung und jede Phrase annimmt, welche dem Standpunkt oder der Stimmung der verschiedenen Geber wohlgefällig erscheint. Also Unwahrhaftigkeit, Gesinnungslosig­ keit und Arbeitsscheu. Alle diese unsittlichen Folgen werden zum großen Theil vermieden bei der kommunalen Armenpflege, wo lediglich die objektiven Bedürfnisse inö Auge gefaßt werden und jedes Bedürf­ niß seine bestimmte Stelle hat sich kund zu thun. Ich entscheide mich unbedingt zu Gunsten des Gemeinwesens, das Gemeinwesen ist die berechtigte uud berufene Stelle. Davon hatten

366

Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

schon die ersten Christen in Jerusalem eine richtige Empfindung, in ihrer überschwenglichen Opferwilligkeit gaben sie die Mittel nicht den einzelnen Bedürftigen, sie brachten ihre Güter auf den Altar der Ge­ meinde. Vielleicht sind aber dann die freien Vereine die beste Form die Sache zu betreiben, in ihnen verbindet sich die persönliche Thätigkeit mit der Gemeinsamkeit. Ich sage nein, entschieden nein. Die Unter­ stützung der Armen, die Beschaffung des Unentbehrlichen ist eine Pflicht, die geübt werden muß. Sie darf nicht dem Zufall und der Unregel­ mäßigkeit der freien und freiwilligen Liebesthätigkeit überlassen werden, sie muß in einer festen Ordnung geschehn, und das vermag nur die Kommune. Das ist auch so sehr ins allgemeine Bewußtsein gedrungen, daß der Staat neuerer Zeit die Kommunen verpflichtet ihre Armen zu erhalten. Das ist ein wahrhaft christliches Gesetz. Um so mehr ist es zu verwundern, daß der Staat für sich selber diese Pflicht in manchen Stücken noch nicht erkannt zu haben scheint. Mir scheint es ausgemacht, wie die Ortsgemeinde mit Recht verpflichtet wird für ihre Armen einzustehen, so fällt die Noth, welche allgemeine Calamitäten wie Ueberschwemmungen, Epidemien, Krieg und Feuers­ brunst hervorrufen, mit Recht auf die Schultern des Staates. Der Staat als Vertreter der Volksgemeinde ist hier recht eigentlich der Verpflichtete, und es ist ein Mangel an Einsichk, wenn man dergleichen öffentliche Kalamitäten vorwiegend der Privatthätigkeit mit ihren Zu­ fällen überläßt, zumal dieselbe immer wieder in die geschilderte Ver­ legenheit gerathen muß. Denn wenn ich bei Gelegenheit einer Feuers­ brunst in Schlesien einen Thaler hinschicke, so ist schlechterdings nicht einzusehen, warum ich nicht bei jeder größeren Feuersbrunst, die in preußischen oder deutschen Landen entsteht eben so einen Thaler schicken soll. Der Staat ist ja doch in erster Linie ein Schutz- und Trutzbündniß zu Erhaltung von Leben und Eigenthum, und ich wüßte nicht, warum er weniger Ursach hätte seine Schutzpflicht zu üben, wenn Leben und Eigenthum durch die bezeichneten Calamitäten zu Grunde gehen, als wenn sie durch innere oder äußere Feinde bedroht sind. Nament­ lich war'S mir unbegreiflich, wie bis vor kurzem der Staat nicht ein­ mal für die Invaliden diese seine Pflicht erkannte. Man sollte doch meinen, diejenigen, welche für die Existenz des Staates ihr Leben ein­ gesetzt und ihre Arbeitskraft verloren haben, hätten den ersten An­ spruch vom Staat mindestens dasjenige ganz und voll zu empfangen, was sie zu ihrem Lebensunterhalt bedürfen. Nicht einen unzureichenden

Christlicke Armenpflege.

367

Almosen und diesen etwa noch als Gnadengeschenk, im Gegentheil sie können mit vollem Selbstgefühl die ganze Unterstützung in Anspruch nehmen als das Blindeste, was das Gemeinwesen ihnen schuldig ist. So kommt also nach unserm Urtheil die Sache zu

stehen: die

Ortsgemeindc ist verpflichtet ihre Ortsarmen zu erhalten, die Volksge­ meinde, wie sie im Staat sich darstellt, muß bei allgemeinen Calamitäten Abhilfe gewähren,

und dem einzelnen Hauswesen bleibt lediglich

die Noth der ihm Angehörigen oder Zugewiesenen, sofern seine Mittel dazu hinreichen. Wo aber bleibt der persönliche Dienst und die freie Verein Sthätigkeit? Wir erinnern wiederholt, wen die Liebe treibt, persönlich in diesem Gebiet thätig zu sein, der stelle sich mit seiner Kraft und seinen Mitteln in den Dienst des Gemeinwesens, da wird er am besten wir­ ken.

Sodann läßt natürlich das Gemeinwesen mancherlei zu wünschen

übrig, es werden sich immer Mängel und Lücken finden, da mag die Thätigkeit von einzelnen und Vereinen ergänzend eingreifen. Aber auch hier muß es als Grundsatz gelten, Vereine und Personen, welche sich einen Zweig der Armenpflege zur Aufgabe stellen, sollen das thun auf Grund und im Zusammenhang mit der öffentlichen Armenpflege, d. h. sollen sich mit den Organen derselben in solche regelmäßige Ver­ bindung setzen, daß sie überall über die wirklichen Bedürfnisse und deren Befriedigung genau orientirt sind. Thun das die Vereine nicht, wirken sie ohne Beziehung und Verständigung mit der öffentlichen Armenpflege, und dazu etwa noch ohne Beziehung zu einander, so ent­ steht immer wieder aus Mangel an Kontrole die ganze Unregelmäßig­ keit mit allen ihren sittlichen Nachtheilen, die wir geschildert haben, und es wird im Grunde mehr geschadet als genützt. Für die Vereinsthätigkeit und für den Dienst persönlicher Liebe ergibt sich ein anderes Feld, sie hat recht eigentlich ihr Gebiet in der Schicht von Bedürfnissen und Thätigkeiten, welche über der Armenpflege liegt. Hier wo es sich darum handelt, die Menschen materiell und sittlich in aller Weise zu fördern, hier wo der Gemeinde eine Pflicht nicht auferlegt werden kann, hier findet das wohlthätige christliche Herz reiche Gelegenheit seine Liebe zu beweisen, hier ist die eigentliche Stelle der freien Vereinsthätigkeit. Da mag jeder dem Drange seines Herzens genügen, da mag jeder von seinem Ueberfluß soviel mittheilen, als er nach seiner wirthschaftlichen Berechnung entbehren kann: aber auch da würde ich es vorziehn, daß die persönliche Liebe sich in den Dienst einer Vereinigung stellt, weil die sittlichen Gefahren am sichersten vermieden

368

«Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

werden, wenn die freundlichen Gaben im Aufträge einer Gemeinschaft dargebracht werden; es' wird so besser dafür gesorgt, daß richtig gegeben und richtig empfangen werde. Nun Ware ich eigentlich fertig.

Ich habe die Grundsätze in ihren

Hauptzügen dargestellt. Aber ich habe freilich so geredet, daß ich ohne weiteres voraussetzte, die Armenpflege gebühre dem bürgerlichen Ge­ meinwesen, der Ortsgemeinde und dem Staat. Diese Voraussetzung soll indeß nicht mehr gelten. Die Männer des kirchlichen Amtes ver­ langen neuerdings, daß die Armenpflege in die Hände der Kirche zu­ rückkehre.

Die Kirche habe die Armenpflege erzeugt, die Kirche allein

habe auch ein rechtes Herz für die Armen; und so etabliren sie in den Kirchspielen eine kirchliche Armenpflege unter Leitung der Pastoren. Wir wollen davon absehn, daß die Sache ja doch unausführbar ist, daß es für die Kirche in ihrem gegenwärtigen Verhältniß als eine reine Unmöglichkeit erscheint, alle die Anstalten und Thätigkeiten auf­ zunehmen, welche heutzutage die Armenpflege erfordert: woher aber hat denn die Kirche mehr ein Herz für die Armen als die bürgerliche Ge­ meinde? Haben denn unsre Mitbürger, welche doch beiderlei Gemein­ den angehören, mehr christliche Liebe sofern sie Mitglieder der Kirchen­ gemeinde sind, als wo sie in ihrem bürgerlichen Berns dastehn? Oder haben die Pastoren und ihre Organe mehr Einsicht in die Verhältnisse und Bedürfnisse der Armuth als die Männer, welche Jahr aus Jahr­ ein mit bürgerlichen Geschäften betraut sind? Es ist daö eine leere Prätention. Die bürgerliche Gemeinde ist in ihren Organen unzweifel­ haft besser darauf eingerichtet dieser Pflicht zu genügen. Aber die kirchliche Armenpflege hat eine ganz andre Art, da wird mit der leiblichen Gabe das Evangelium gebracht und mit der Armen­ pflege die Seelsorge verbunden. — Das ist allerdings eine andre Art, aber eine bessere? Ich halte sie für eine schlechtere, ich halte die Verbin­ dung für eine sehr bedenkliche. Sie erzeugt die Gefahr der Heuchelei. Wenn die leibliche Gabe in Verbindung mit der seelsorgerlichen Er­ mahnung kommt, und wenn die Möglichkeit vorliegt, daß sie etwa aus­ bleiben könnte, wofern der Ermahnung nicht Folge geleistet würde: da ist nichts natürlicher, als daß der Empfänger, der in seiner Noth die Gabe nicht entbehren kann, sich äußerlich den Wünschen der Ermahnung anbequemt und eine Haltung annimmt, wie sie von ihm erwartet wird. Ich wollte, daß bei einer Gabe niemals ein Wort der Ermahnung ge-

Christliche Armenpflege,

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sprechen würde und daß hinwiederum eine Ermahnung niemals von einer Gabe begleitet würde; die Verbindung ist zu bedenklich. Und warum soll denn beides mit einander verbunden sein? Traut man dem Evangelium keine Kraft zu, wenn man ihm nicht Geschenke in die Hand legt? So sieht es doch aus; nun dann lasse man es ruhig fahren. Und wenn man materielle Gaben bringt, hat man auf Grund derselben größeren Anspruch sittliche Forderungen an den Empfänger zu stellen? Und was werden das für sittliche Früchte sein, die auf diesem Boden wachsen? Etwa solche wie die Tugenden der Kinder, die man durch Kuchen und Zuckerwerk erzeugt. Nein wer es mit dem Evangelium ernst und mit den Armen Wohl meint, der halte beides von einander, der predige ihnen das Evangelium, aber ohne Geschenke, und gewähre ihnen die Unterstützung, die sie bedürfen, aber ohne Ver­ mahnungen. Die sogenannte kirchliche Armenpflege ist die bedenklichste Form derselben. Aber auf welche Gründe stützt denn die Kirche ihren Anspruch? Sie hat die Armenpflege vormals lange Zeit besessen und ursprünglich erzeugt. 9{uu die Kirche hat auch rohen Völkern den Ackerbau gelehrt Universitäten und Schulen gegründet und Staaten regiert. Söller darum die Wissenschaften wieder umkehren unter das Regiment bei Kirche, und die Staaten von der Kirche wiederum das Gesetz und ihr« Politik sich diltiren lassen? Der geschichtliche Proceß geht unzweifelhaf dahin, alle die Thätigkeit, welche die Kirche vormals erzeugt und geüb hat, die aber zu ihrem Wesen nicht gehören, in die Selbständigkeit z> entlassen. Dieser geschichtliche Proceß ist zum größten Theil vollzogen wir sind an dem Punkt angekommen, wo die Kirche sich auf die Thätig leiten zu beschränken und zu konzentriren hat, welche ihrem Wesen eignen Ihre wesentliche Aufgabe ist aber, religiöses Leben zu erzeugen, zu pflegen und zu verbreiten. Sie soll in allen ihren Gliedern die Gesinnunge erzeugen und pflegen, welche sie tüchtig machen, auf allen Lebensgebiete im christlichen Sinne wirksam zu sein. Sie soll und wird auch da bürgerliche Geweinwesen in allen seinen Gliedern mit christlich-religic fern Geist erfüllen, aber sie soll dasselbe weder selbst regieren ttoi irgend eine der ihm eignenden Thätigkeiten selber üben wollen. D leibliche Erhaltung der nothleidenden Glieder ist aber doch wohl in zweideutig ein wesentlicher Theil in der Thätigkeit des Gemeinwesen welches mit der Erhaltung von Leben und Eigenthum betraut ist. Wen also auch die Kirche in alten Zeiten, wo das anderweitig nicht gescha die Armenpflege erzeugt und geübt hat, so fällt sie doch ihrem Wes« L p ll eil', U)vvtcftanhj\f>f 33.i psteitv.

24

370

Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

nach in den Bereich des bürgerlichen Gemeinwesens, welches in der neuen Zeit seinen Beruf in diesem Stuck klar erkannt hat.

Eine be­

sondre kirchliche Armenpflege in der heutigen Zeit ist, abgesehn von den andern Bedenken, ein Rückschritt auch in kirchlicher Beziehung, weil sie zu den Maßregeln gehört, welche bezwecken der Autorität des geistlichen Amtes auf eine äußerliche Weise aufzuhelfen. Und dazu kommt noch die Prätention, daß doch die bürgerliche Armenpflege eigentlich nicht christlich genug sei. Nach unsern Aus­ führungen aber ist sie viel christlicher als die kirchliche, wenn sie nach den Grundsätzen verwaltet wird, die wir darzustellen versucht haben. Wir wollen es aber laut bekennen, daß unsre öffentliche Armenpflege in der reichen Fülle ihrer Anstalten und Organe, in der Großartigkeit ihrer Mittel und Thätigkeiten fast überall in einem hohen Grade von den bezeichneten christlichen Grundsätzen durchdrungen ist, und daß diese christlichen Grundsätze immer mehr des öffentlichen Bewußtseins sich bemächtigen. Diejenigen, welche in unserer Zeit das Christenthum nicht zu entdecken vermögen, die möchten wir bitten, sich nur einmal unsre Armenpflege in allen Zweigen zu vergegenwärtigen; und wenn sie auch dann nicht wahrnehmen, daß der Geist deS Christenthums unsre Zeit beherrscht, dann möchten wir glauben, daß ihnen das Organ fehlt für christliche Dinge. Wir erblicken in unsrer Armenpflege durchweg die Macht des Christenthums und die Herrschaft seiner großen Grundsätze, und können nur wünschen, daß sie in der geschichtlich vorgezeichneten Bahn fortschreite, ohne sich durch die Prätentionen einer Pastoralen Kirchlichkeit oder engherzigen Gläubigkeit stören z» lassen.

Ludwig Jonas. Der Tod unsers Jonas ist in weiten Kreisen auf eine ganz un­ gewöhnliche Weise empfunden worden. Nicht die Theilnahme für die Familie, der dieser Tod das geliebte Haupt in rüstiger Manneskraft plötzlich entriß; nicht der Gedanke an das bürgerliche und kirchliche Gemeinwesen, welche einer bedeutenden Kraft beraubt wurde», waren die vorherrschenden Empfindungen: überall vielmehr, wo Jonas gelebt

und gewirkt hatte, wurde sein Tod von Jedem zunächst als ein per­ sönlicher Verlust empfunden, und Jeder nahm die Theilnahme für sich in Anspruch für das, was er persönlich verloren. I» vielen Gemüthern wirkte die Todcsbotschast wie ein Blitzschlag, der sie plötzlich des Besten beraubt, was sie besitzen, der sie arm und Waise macht; in Allen, denen Jonas jemals persönlich näher getreten war, entstand das Gefühl einer leeren Stelle, welche kein Anderer unter den sterblichen Menschen ihnen auszufüllen vermochte. Auch in solchen Kreisen, wo ganz andre Inter­ essen die Herrschaft haben und wo Jonas nur von fern gekannt war, erschien sein Tod als ein Ereigniß, das Alle berührte und ans eine Weile die allseitige Aufmerksamkeit in Anspruch nahm. Wer war denn dieser Jonas, daß sein Tod so ungewöhnliche Erscheinungen hervor­ brachte? Er war eben ein ungewöhnlicher Mann, das beweisen diese ungewöhnlichen Erscheinungen; und seine Bestattung, die überaus zahl­ reiche Betheiligung, die tiefe und herzliche Trauer aller sich Betheiligen­ den, die ehrfurchtsvolle theilnehmende Haltung der Bevölkerung bekun­ deten es auch dem Fernerstehenden, daß es ein ungewöhnlicher Mann sein müsse, der hier zu Grabe geleitet wurde. Ein solcher ist unser Jonas gewesen: Jonas war in seiner Art ein Großer, der um eines Hauptes Länge hervorragte über andern Menschenkindern. Es giebt Große im öffentlichen Völkerleben, denen es gegeben ist, durch gewaltige Thatkraft die Grenzen der Völker zu bestimmen, ihre Ordnungen zu gestalten, und sie zu Macht und Ehre zu führen: zu diesen gehörte bekanntlich unser Jonas nicht. Jonas war unter den Bürgern des Staates der besten einer, Jonas war tüchtig und untadelig in der Verwaltung jedes Amtes, das ibm übertragen ward: aber weder hat er glänzende und entscheidende Thaten gethan, noch hat er eine hohe Stellung erreicht im öffentlichen Leben. Sein Leben ist einfach dahin geflossen, und er ist gestorben als ein schlichter evangelischer Geistlicher, der niemals eine äußere Auszeichnung erlangt hat — außer den Doktor der Theologie; und Manchen, die ihn besonders lieb haben, will daö eine günstige Schickung erscheinen, welche um so unzweifel­ hafter seinen wirklichen Werth erkennen läßt. Es giebt Heroen des Geistes, welche der Menschheit auf der Bahn ihrer geistigen Entwickelung voranschreiten, solche die durch außerordent­ liche Forschungen oder durch ideale Gebilde des künstlerischen Genius zu Säulen der nationalen Bildung werden und zu bleibenden Quellen, aus welchen das nationale Leben für alle Zeiten fließt und sich er­ neuert: auch unter diese Größen darf Jonas nicht gerechnet werden. 24*

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Sammlung aiisgewähller ©rfniftstiicfv.

Unserm Jonas war die Kunst nicht ein fremdes Gebiet, er besaß viel­ mehr die Kunst der Rede in einem seltnen Grade, und noch mehr die Kunst der Wissenschaft d. h. das Vermögen der harmonischen und erschöpfenden Organisation eines Gedankens. Ionas hatte treffliche Gaben für die Wissenschaft, insbesondere einen bedeutenden dialectischen Verstand und eine gewaltige Conseqnenz, die es ihm möglich machten jedes Gedankenshstem bis in seine obersten practischen Ausläufer zu verfolgen. Aber wenn anch nicht gewöhnlich, groß war Jonas aus diesem Gebiete nicht, er war weder ein wissenschaftliches noch ein künstlerisches Genie, seine schöpferische Kraft auf diesen Gebieten war nicht hervorragend. Der Schwerpunkt seiner Persönlichkeit, das Gewicht seiner Bedeutung ist auf einem andern Gebiete zu suchen. Unter dem thatkräftigen Handeln und dem schöpferischen Denken liegt ja noch eine Stätte verborgen, das Allerheiligste int Menschen, und in dieser heiligen Stätte ein Leben, dessen Erscheinungen zwar nicht mit großem Geräusch in die Welt treten und nicht so hellen Glanz verbreiten, dessen Kräfte aber dennoch die gewaltigsten und wirksamsten sind für das Wachsthum der Menschheit, und dessen Gesundheit und Stärke allem Großen erst Werth und Weihe geben. Hier wo Himmel und Erde sich berühren, wo Gott sich im Menschen offenbart, hier im Reich der sittlichen Gesinnungen war die Kraft und Bedeutung unseres Jonas gelegen. Jonas war ein Character im eminenten Sinne des Worts, ein Character von seltener Reinheit und Stärke. Als reli­ giös-sittlicher Character war er hervorragend unter den Zeitge­ nossen; und wenn wir in Sch lei er mach er einen religiösen Genius erkennen von epochemachender Bedeutung für die Entwicklung des Protestantismus, so war Jonas der Character zu diesem Genius. Der dieses schreibt, hat manchen Mann im deutschen Lande kennen gelernt, und liebt und verehrt und bewundert nicht Wenige: aber er kann nicht umhin freimüthig zu bekennen, von allen Männern, mit denen ihn je sein Lebensweg zusammengeführt, war Jonas ihm der beste Mann. Ludwig Jonas ist geboren am 11. Februar 1797 zu Neustadt a. D., von wo seine Eltern sehr bald in das benachbarte Städtchen Wusterhausen a. D. übersiedelten. Sein Vater war Kaufmann; seine Mutter geborne Stellen, eine Mecklenburgerin aus einem kleinen Ort am Müritzsee, eine Frau von festem und ehrenfestem norddeutschem Gesicht, wie wir sie bis in ihr hohes Alter im Hause des Sohnes ge-

Ludwig Jonas.

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sehen haben. In Wusterhausen vermochten die Eltern ihm einen tüchtigen Unterricht geben zu lassen durch treffliche Lehrer, den Rector Ossent, den Organisten Hoßbach, Later des nachmaligen Consistorial-Raths Hoßbach, und den Superintendenten Baldenius, welche ihre Schüler bis zur Secnnda des Gymnasiums ausbildeten. Von Ostern 1812 bis Ostern 1815 besuchte Jonas das Joachimsthalsche Gymnasium in Berlin unter Snethlage's Directorat, und erwarb sich daselbst bei seinen trefflichen Gaben durch andauernden Fleiß eine tüchtige classische Bildung.

Als im Frühjahr 1815 abermals der Ruf zu den Waffen

erscholl, trat Jonas als freiwilliger Jäger in das zweite pommersche Regiment, machte den Feldzug des Jahres mit durch und war nament­ lich an den Schlachten bei Ligny und Belle-Alliance betheiligt. Er zog fröhlichen Muthes in den Kampf, und schrieb seiner Mutter, die in­ zwischen im Jahre 1814 Wittwe geworden, sie sollte nicht klagen und trauern, die jungen Männer, welche in den Kampf zögen, seien alle fröhlich und voll Zuversicht. Heimgekehrt studirte er von Ostern 1816 bis Ostern 1819 zu Berlin die Theologie; er hörte sämmtliche Vor­ lesungen Schleiermachers, die geschichtlichen bei Reander, exegetische bei de Wette, und daneben eine ganze Reihe philologischer bei Wolff, und erwarb sich in der theologischen Prüfung einen vorzügliches Zeugniß. 1819 wurde er Gouverneur im Cadettencorps zu Berlin, und als diese Stellen aufgehoben wurden, kam er als Lehrer an das große MilitairWaisenhaus zu Potsdam. Daselbst blieb er, bis er sein Pfarramt in Schwerinsburg in Pommern antrat im Herbst 1823. Der Graf Schwerin, Vater des gegenwärtigen Ministers, war nehmlich bei Er­ ledigung der Schwerinsburger Pfarre durch Schleiermacher auf Jonas hingewiesen als einen ungemein tüchtigen jungen Man», bei dem er nur Zweifel habe, ob er sich entschließen werde in eine abgelegene länd­ liche Pfarre zu gehen. Graf Schwerin machte sich nach Empfang des Schleiermacherschen Empfehlungsbriefes sofort persönlich auf die Reise, um sich beii Jonas in Potsdam anzusehen, und kaum hatte er eine Stunde mit ihm verhandelt, als er mit sich einig war, diesen und keinen Anderen zu erwählen. Und er hatte alle Ursache in seinem Entschlüsse fest zu bleiben, denn unserm Jonas wurde wegen seiner Betheiligung an den burschenschaftlichen Bestrebungen die Anstellungs­ fähigkeit verweigert, und erst anderthalb Jahre nach der Wahl wurde es dem Grafen möglich, seinen Jonas sich wirklich für das Pfarramt zu erobern. Vielleicht durch Vermittlung des damaligen Kronprinzen, der Gouverneur von Pommern war; wenigstens gratulirte dieser dem

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Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

Grafen, daß „der Wallfisch seinen Ionas wieder ausgespieen" habe. Die Schwerinsburger Pfarre hat Ionas vom Herbst 1823 bis zum Schluß des Jahres 1832 verwaltet; und sich während dieser Zeit im Jahre 1829 mit der Gräfin Elisabeth von Schwerin vermählt. Am 1. Januar 1833 trat dann Jonas in das Amt eines Diaconus

an

der St. Nicolaikirche in Berlin, in welchem er bis an sein Lebensende verblieben ist. Unser Jonas muß frühzeitig eine besondere Reife und ein überaus einnehmendes Wesen gehabt haben, das ihm schnell alle Herzen gewann. Schon in seinem Abgangszeugniß vom Ghmnasium wird ausdrücklich hervorgehoben, daß er bei allen Mitschülern wegen seiner angenehmen Sitten und bei allen Lehrern gleicher Weise durch den Ernst wie durch die Liebenswürdigkeit des Eharacters und durch Sinn für vas Schöne und Edle beliebt war (commilitonibus, quod sciamus, ob commodos mores carissimus, praeceptoribus et facilitate et sevcritate morum, itemque sensu quodam pulclni ac honesti dilcctissimus). So finden wir ihn auch in der Zeit seiner Studien von allen Genossen geliebt und geehrt, und überall an der Spitze seiner Genossen. Als im Jahre 1817 das Jubelfest der Reformation gefeiert lvurde, und auch die Studirenden eine besondere Feier veranstalteten, ist cs JonaS, den wir als Festredner antreffen. Als auch in Berlin eine Burschen­ schaft gegründet wurde, ist Jonas unter den Begründern einer der ersten, uud wird auch zum Abgeordneten derselben erwählt auf den allgemeinen Burschenschaftstag zu Jena und auf das Wartbnrgfest. Auch in specifischen Studentensachen ist unser Jonas voran. Es sollte einmal das bekannte Stück „die Weihe der Kraft" im Schauspiel­ hause gegeben werden.

Die Studenten waren darüber empört, denn

sie sahen in dem Auftreten Luthers auf der Schaubühne und noch dazu in der Person eines katholischen Schauspielers eine Profanalion des Heiligen, und beschlossen deshalb in Masse hinzugehen und das Stück auszutrommeln. Sie führten ihren Vorsatz aus, wurde» aber dafür tut Raume des Schauspielhauses auf eine ziemlich lustige Weise über die Bänke hinweg von der Polizei gefahndet, und vom Senat für diesen jugendlichen und gesetzwidrigen Ilebcrmnth mit einer leichten Ahndung bedacht. Es war aber nur einem Theil von ihnen gelungen in's Schauspielhaus zu kommen, und nun fühlten sich die Andern, die draußen geblieben waren, zurückgesetzt, daß sie nicht bestraft werden sollten. Da ist es unser Jonas, der im Namen aller Genossen eine

Ludwig Jonas.

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Zuschrift an den Senat verfaßt, worin die Namen aller derjenigen angegeben werden, welche wirklich ins Schauspielhaus gelangt waren, und ebenso die Namen derjenigen, welche die Absicht gehabt hatten hin­ einzugehen, aber hatten draußen bleiben müssen, und worin dann mit prächtigster Naivetät dem Senate auseinandergesetzt wird,

daß

wenn

sie nun einmal im Gefühle ihres Unwillens etwas gethan hätten, was nach dem Gesetz Strafe verdiene, sie dann doch Alle strafbar wären, die draußen Gebliebenen nicht minder als die Andern, da sie Alle die gleiche Absicht gehabt hätten, und die Einen nur ohne ihre Schuld an der Ausführung verhindert worden seien; und schließlich dann um gleiche Bestrafung aller Bezeichneten gebeten wird. Es waren indeß nicht allein Genossen und Lehrer, deren Liebe und Vertrauen sich unserm Jonas überall unwillkürlich zuwendete: sein herzgewinnendes Wesen muß mit einem ganz besonderen Zauber um­ geben gewesen fein, daß es selbst in Kreisen Eindruck machte, wo man am wenigsten gewohnt ist sich fortreißen zu lassen. Einen interessanten Zug, der ihm selber mertwürdig war, hat er in späteren Jahren zu­ weilen erzählt. Auf der Rückkehr von Paris kommt der junge frei­ willige Jäger mit einem Kameraden zu Weihnachten auf die Wilhelms­ höhe bei Cassel. Der Kamerad bedauert, daß man doch jetzt um die Weihnachtszeit die Wasser des Hercules nicht könne springen sehen. Da äußert Jonas: wir wollen den Kurfürsten bitten, daß er sie springen läßt. Der Wirth hält das für Scherz, und als er wahrnimmt, daß es ernst gemeint ist, giebt er zu verstehen, der junge Mann sei wohl nicht recht bei Sinnen. Unser Jonas aber geht frischweg aufs Schloß und läßt sich beim Kurfürsten melden, und trägt demselben mit jugend­ lichster Naivetät seine Bitte vor. Der Kurfürst betrachtet den jungen blühenden Man mit einiger Verwunderung, geht dann in's Nebenzim­ mer, und giebt Befehl, man solle den beide» freiwilligen Jägern die Wasser des Hercules springen lassen. Als cs nachher im Jahre 1819 gilt dem aus Berlin verbannten de Wette zum Abschied ein Zeichen der Liebe

und Verehrung von

Seiten der Studircndcn zu geben, ist es wiederum unser Jonas, der dem geliebten Lehrer in der Wohnung des damaligen Cadettenpredigers Hoßbach beim Abschicdsmahle den Ehrenbecher überreicht, und den Akt mit einer so herzlichen und herzhaften Ansprache begleitet, daß der Eindruck den Anwesenden für alle Zeiten unvergessen geblieben ist. Welchen Eindruck Jonas auf de Wette gemacht hat, beweisen dessen Briefe an ihn. De Wette schreibt unterm 7. November 1819 an ihn:

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Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

„Leb wohl. Du wackrer, treuer, tapferer Jüngling und bleibe mir und Dir getreu.

Ich bin auf Tod und Leben der Deinige, der Eurige."

Derselbe am 1. April 1821 von Weimar aus: Wie gern möchte ich mich einmal mit dir besprechen. Daß Du nicht zu den Wetterfahnen gehörst, bin ich fest überzeugt; wenn Du abfallen leimtest, so wüßte ich nicht, auf wen ich bauen sollte." Frühzeitig erwarb sich Jonas auch Schleiermachers Liebe. Characteristisch ist die erste persönliche Begegnung, wie sie uns Jonas selber erzählt hat.

Jonaö hatte wohl Schleiermacher schon als Primaner

gesehen in dem gräflich Voß'schen Hause, wo er Privatunterricht gab; war wahrscheinlich auch schon durch seinen älteren Freund und Lands­ mann Hoßbach auf dessen Predigten hingewiesen, wie denn auch eine Gymnasialarbeit aus dem letzten Jahre einen Einfluß

der Schleier-

macherschen Theologie bereits zu verrathen scheint; er hatte dann regelmäßig mit größestem Fleiß die Schleiermachcrschcn Borlesungen gehört: aber zu einer eigentlichen persönlichen Berührung mit Schleier­ macher kam es erst im dritten Jahre seines Studiums. Schleiermacher las Catechetik, und ließ, nachdem er über die Regeln des Eatechisirens hin und her gesprochen, endlich in seinem Humor die Bemerkung fallen: „Ach, meine Herren, eigentlich nutzen Ihnen doch alle die Regeln nichts, die ich Ihnen vorgetragen habe, damit lernen Sie doch nicht catechisiren. Das Beste ist, Sie gehen zu einem tüchtigen Manne, der das Catechi­ siren practisch versteht, und sehen zu, wie der es macht." Nach wenigen Tagen geht der Studiosus Jonas in die Wohnung Schleiermachers, und wünscht den Herrn Professor zu sprechen. Der Professor kommt mit einem Blick, der bekundet, daß er in die tiefsten Gedanken versunken ist. Der Studiosus sagt: Herr Professor, erlauben Sie mir, daß ich Ihren Catechisationen im Consirmandenunterricht beiwohnen darf. Der Pro­ fessor antwortet kurzweg: Nein. Darauf erklärt ihm der Studiosus Jonas ganz bündig: Nun, Herr Professor, dann sagen Sie wenigstens in Zukunft, wenn Sie wieder Catechetik lesen, ihren Zuhörern nicht, daß sie zu einem bewährten Catecheten gehen sollen, um dessen Catechi­ sationen beizuwohnen. Da verzieht der Herr Professor das Gesicht zu freundlichem Lächeln: Sie können kommen, lieber Jonas.

Von dem

Tage an war die Freundschaft geschlossen. Schleiermacher scheint mit seinem scharfen Auge schnell die Bedeutung des jungen Mannes er­ kannt zu haben. Der junge Jonas verstand aber auch mit Schleier­ macher umzugehen. Augenzeugen erzählen von den Studentenabenden in Schleiermacher's Hause, derselbe habe oft von der Last des Tages

Ludwig Ionas.

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mürbe und müde still in der Sophaecke gesessen, wenn aber Jonas hereingekommen, sei er sogleich munter geworden, dieser habe es ver­ standen ihn so zu fassen, daß sein Geist schnell in hellen Farben zu strahlen begann.

Schleiermacher schätzte ihn frühzeitig so hoch, daß er

ihn zuweilen in Potsdam besuchte, um einige Zeit mit ihm zu verleben, und ihm auch mehrere Male während der Ferienzeit, wo er zu verreisen pflegte, seine Predigten übertrug, Nach Pommern hin blieb dann Schleiermacher mit ihm in lebendigem brieflichem Verkehr.

Er schreibt

ihm unter dem 29. December 1823: „Ja recht schön wäre es gewesen, wenn Sie hätten unter uns sein können, und auch noch den vortreff­ lichen Landsmann mit verzehren helfen, allein ich war von der Un­ erfüllbarkeit dieses Wunsches schon vorher überzeugt.

Nun, das wissen

wir doch, daß.es mit uns beim Alten bleibt, da oder nicht da, und daß wir Beide mit treuem Herzen dem einen treuen Herzen nachgehen, welches Alle nach sich ziehen will und dies auch dleiit- wollen darf." Und am Schluß des Briefes, «achtem er ihm allerlei kirchliche Mit­ theilungen gemacht, schreibt er: „Doch wie komme ich nur darauf Ihnen den Jahresschluß durch lauter odiosa zu versalzen? Es liegt doch dabei zum Grunde, daß ich schon weiß, cs sind Ihnen keine odiosa, sondern Sie denken. Streit und Aergerniß muß kommen. In Ihrer Gemeinde werden Sie sich wie in Ihrem Herzen den Frieden schon zu erhalten wissen und Alles kann ja nicht anders auSschlagen als zur Ehre Gottes und zur Förderung des Guten, welches Beides einerlei ist. An diesem Glauben ivollcn wir festhalte» und an der Liebe, so wird alles gut werden." Als Jonas sich dann mit der Gräfin Elisabeth v. Schwerin verlobt hatte, war Schleiermacher, der überdies zu dem v. Schwerinschen Hause ein freundschaftliches Verhältniß hatte, ungemein darüber erfreut. Er schrieb den Verlobten, daß ihm bei dieser Kunde die hellen Freudenthränen über die Backen gelaufen, und auf ihren Wunsch, von ihm getraut zu werden, antwortet er: „und Ihr Wunsch, Ihrer und B—s, Sie können denken, welche Freude er mir ist, und ich denke auch, da Sie sich selbst doch nicht trauen können, bin ich eben der Nächste dazu nach dem Rechte des Herzens." Schleiermacher hat dann die Trauung in Putzar vollzogen, und erwähnt dieser Thatsache selbst in einem Briefe an Gaß. In die Zeit des Hommerschen Aufenthaltes fielen nicht nur die liturgischen Bewegungen, über welche Schleiermacher mit Jonas brieflich verhandelt hat; es war das auch die Zeit, wo Hengstenberg sein Verketzerungsgeschäft begann, und Neander sich um deswillen in den bekannten Sendschreiben von jeder Verbindung mit

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Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

der Evangelischen Kirchenzeitnng lossagte. Ionas meinte den Neanderschen Sendschreiben noch etwas hinzufügen 31t müssen, und ließ gleich­ falls ein Sendschreiben an Hcngstenberg ausgehen. Schleicrmacher schreibt ihm darüber unter dem 15. August 1830: „ George (das

ist

Reimer) schickt mir einen schönen Morgen Dein Sendschreiben herüber, ich fange an zu lesen und sinne hin und her, lvas ich hier wohl für einen jungen Freund und Schüler habe, der die Sache so anzugreifen weiß, aber ich finde keinen heraus.

Endlich auf der dritten Seite fällt

mir ein hinten hin zu sehen, ob da nichts steht, und wie ich Deinen Ramen sehe, sage ich: das ist keine Kunst! nicht gleich erkannt.

So habe ich Dich

also

Aber wie konnte mir auch einfallen, u. s. w."

Seit der Ilebersicdelung »ach Berlin im Anfang des Jahres 1833 traten die beiden Familien in den lebendigsten Verkehr, und das Ver­ hältniß zwischen Schleiermacher und Jonas gestaltete sich zur innigsten Freundschaft, so daß Schleiermacher ihm ein Vertrauen schenkte, wie er es wohl kaum einem andern Manne geschenkt hat. Wer Jonas auch nur in seinen späteren Jahren nahebei gesehen hat, dem war diese Erscheinung vollkommen erklärlich. Wer ihn nur einmal gesehen hat, wo es galt eine ernste Sache ernst zu vertreten, wie sich da auch in dem schon Alternden die ganze Mannheit aufrichtete, und wunderbare Kräfte des Geistes und des Gemüthes entfaltete, und wie dann diesem Manne, in dem die Wahrheit seiner Sache gleichsam persönlich wurde, alle für Wahrheit empfängliche Gemüther im Sturm zufielen: der wird sich nicht mehr wunder» über die Allgemeinheit der Liebe und des Vertrauens, die diesem Manne zu Theil wurden, als er noch mit der Kraft der Mannhaftigkeit die ganze Frische der Jugend­ lichkeit verband. Fürwahr die Natur hatte in unserm Jonas einen glücklichen Wurf gethan, und ei» wohlwollendes Geschick hat alle Sorg­ falt darauf verwendet die gelungene Natur zu einem vollendeten Manne zu gestalten. Ein tüchtiger kräftiger Leib von ächt norddeutschem Ge­ präge; eine kernige, dauerhafte Gesundheit; ein jugendlich feuriges Blut, das den jungen Alaun im Gefühl der überschüssigen Kraft zuweilen trieb in Sturm und Wetter hinauszurcitcn und den Elementen zu trotzen; ein blühendes Antlitz von starken und doch feinen Zügen und mit wunderbar schönen blauen Augen, fähig jedes Moment der ganzen Scala seines reichen Gemüths wirksam auszudrücken, fähig in einer Gewalt zu glänzen, die an den Donnerer erinnerte, und wiederum in anderen Momenten eine Milde und eine Fülle von Barmherzigkeit

379

Ludwig Ionas.

spiegelnd, die unwiderstehlich wirlle.

Und in diesem glücklich organi-

sirten Leibe, der ihn biö ins hohe Mannesalter hinein wie einen Jüngling erscheinen ließ, und dem der Geist ohne Schaden Alles bieten durfte, die gewaltigsten Erregungen des Gemüthes nicht minder als die andauerndsten Anstrengungen der Arbeit, in diesem Leibe wohnte ein Geist von ungewöhnlicher Mischung. Ein Heller Verstand war ge­ paart mit einem tiefen Gemüth, eine große dialektische Beweglichkeit mit noch größerer Nnerschütterlichkeit der Anschauung und Ueberzeugung; ein glühendes in Affcctcn aufloderndes und dem Ziel nachstürmendes Feuer, mit einem noch viel gewaltigeren Willen, der das Feuer gleich­ sam wie ein unbändiges edles Roß mit festester Hand im Zügel hielt, der im höchsten Sturm sich vollkommen beherrschte, und dann erst über die ganze Fülle der Kräfte, welche der Sturm in der Seele ausrief, mit einer göttlichen Sicherbeit gebot; ein frischer fröhlicher Sinn, der sich bis zum prächtigsten Humor steigern konnte, verbunden mit einem so massiven Ernst, daß er, der Fröhlichkeit und dem heitern Lebensge­ nuß rückhaltlos hingegeben, nicht einen Grad von seiner sittlichen Höhe herunterfiel, vielmehr immer und immer als ein Fels dastand, dessen Fuß Frohsinn und Scherz und Humor gleichsam nur wie die lieb­ lichen Wellen eines Baches umspielte». Mit Einem Wort, ein Reich­ thum gewaltiger Triebe und Kräfte von noch gewaltigerer Kraft des Willens zur schönsten Ordnung und Harmonie gebändigt; und dieses ganze reiche, schön geordnete Gemüth ausschließlich auf daö gerichtet, was von Oben stammt, in Begeisterung den Idealen des Schönen und Sittlichen und Wahren hingegeben, und schlechthin unfähig zu Allem und Jedem, was in das Reich des Gemeinen gehört. Diese Natur von ursprünglicher naturwüchsiger Hoheit,

Reinheit und Stärke, in

früher Jugend sich nährend an den noch frisch sprudelnden Quellen unserer großen literarischen Epoche, wurde zur rechten Zeit der Empfängniß befruchtet von den Gesinnungen und Gedanken der großen nationalen Bewegung, die den Jüngling für das ganze Leben über alle Kleinlichkeiten und Parteilichkeiten zur unwandelbaren Ergebenheit an das große Ganze des öffentlichen Gemeinwesens hinaushoben; und wurde auf ihre innersten Gründe vertieft und zur vollen evangelischen Freiheit und Weitherzigleit erweitert durch die Tiefe der Schleicrmacherschen Religiosität mit ihrer freien protestantischen Theologie. Unter diesem glücklichen Himmel gedieh der treffliche Jüngling zu dem voll­ kommenen Manne, den wir in späteren Jahren gekannt, bewundert haben.

geliebt und

380

Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

Wahr und klar, daß ihm Jedermann bis auf den Grund feines Herzens schauen konnte, und doch nie — was man so sagt — offen­ herzig, daß er nur sagte, was er sagen wollte, und ihn nichts bewegen konnte zu sagen, was er verschweigen wollte. Gerecht gegen Freund und Feind, man möchte sagen leidenschaftlich gerecht, so daß er den Gegner besser verstand, als dieser sich selber, und besser darstellte, als er war. Tapfer und muthig, überall der Vorderste unter den Genossen, keinem Menschen und keiner Macht weichend, außer der Wahrheit; wer ihn beseitigen wollte, mußte ihn brechen, zu beugen war er nicht. Und bei aller voranbringenden Tapferkeit stets besonnen, ja stets der Be­ sonnenste unter allen Freunden und Genossen, der nie einen unbedach­ ten Schritt that, und nie ein unbedachtes Wort sprach; nur den klein­ sten Kleinigkeiten des täglichen Lebens gegenüber konnte er zuweilen die Geduld, und gegen gemeine Gesinnungen im Zorn wohl einmal das Maß verlieren.

Und mit einer ausdauernden Beharrlichkeit sein wohl­

erwogenes Ziel verfolgend, und seinen Beruf erfüllend, welche dürch nichts ermüdet werden konnte. Und dazu voll Liebe und Weisheit, voll Milde und Barmherzigkeit:

er wußte

für

Alles

Rath

und

Trost,

und Niemand war ihm zu gering oder zu unwerth oder zu gegnerisch, daß er ihm nicht in aller Freundlichkeit liebreich die Hand geboten hätte; aber auch Niemand war ihm so lieb und so freund, daß er nicht dem liebsten Freunde in aller Kraft, ja bis zum Schein der Schroffheit den ganzen Ernst der Wahrheit gegenüberzustellen vermocht hätte. Streng gegen sich selber, voll Nachsicht und Milde gegen Ändere: alle­ zeit eifrig bedacht, daß er im Kampf niemand persönlich verletze, und wenn es ihm doch hie und da begegnete, daß der Andere durch seine Rede sich verletzt fühlte, so war er in tiefster Seele betrübt darüberllnvergleichlich liebenswürdig gegen Schwache und Geringe: aber vor­ nehm und stolz gegen Hochmüthigc und Aufgeblasene, und für gemeine Naturen völlig unnahbar.

Unermüdlich bereit zu dienen, aber äußerst

vorsichtig, ja schwierig, Dienste anzunehmen: er wies Alles und Jedes zurück von freier Gabe, wo er nicht von der uneigennützigsten Liebe überzeugt war, oder wo auch nur der leiseste Schein sich zeigte, daß durch Annahme seine persönliche Selbständigkeit Abbruch erleiden könnte. Auf die sittliche Selbständigkeit seiner Person war er eifersüchtig bedacht, gleichwie er diese in jedem andern ehrte. Niemals von außen her, weder durch sinnliche Antriebe noch durch menschliche Willensmächte bestimmt zu werden, stets und überall sich selber zu bestimmen, und alle sittliche Thätigkeit aus göttlicher Vollmacht ureigenen persönlichen

Ludwig Jonas.

381

Charakters fließen zu lassen: das war das höchste Ziel seines Herzens. Ein Freund, der seine kirchlichen Anschauungen nicht theilt, aber seinen Charakter bewundert, nannte ihn einmal in Bezug auf seinen Charakter einen Heros, und der Ausdruck ist treffend. Denn Ionas hatte in seinen Tugenden gewissermaßen einen antiken Ton, eine plastische Ob­ jektivität, und ein gleichsam stählernes Gepräge, das keinerlei Weich­ lichkeit und Schwächlichkeit duldete.

Aber die Bezeichnung ist nur die

halbe Wahrheit; denn Ionas verband mit der Kraft und Dauerhaftigteit antiker Tugenden ein durch und durch

christliches Gemüth, voll

Liebe und Liebenswürdigkeit, voll Zartheit und Feinheit bis zur An­ muth; und der ganze Organismus seiner Tugenden mit den vielseitigen Thätigkeiten eines mannigfaltig bewegten Lebens war getragen und durchzogen von stetiger Gottesfurcht und Gottinnigkeit, und ruhte auf dem unbewegten Grunde ewigen Gottesfriedcns. Im Herbst des Jahres 1848, als die politische Restauration über unser Vaterland hereinbrechen wollte, predigte Jonas einmal über den Knaben, von welchem die Schrift sagt, daß er bald iu's Wasser bald i n's Feuer fiel, und die Jünger vermochten den Geist nicht auSzutreibenJesus selbst treibt ihn dann aus und spricht zu den Jüngern: diese Geister gehen nicht aus denn durch Fasten und Gebet. Er verglich in der Predigt mit dem Knaben das Geschlecht dieser Zeit, das, wenn die Wogen des öffentlichen Lebens hoch gehen, sich mit fortreißen läßt zum feurigsten schrankenlosesten Enthusiasmus; wenn aber die Strömung nachläßt und der Enthusiasmus verraucht, wenn dann die Mächte des Veralteten wieder auflebe» und sich mit aller Kraft dem

neuen Geist

widersetzen, dann fallen die Menschen dieses Geschlechtes in's Wasser, d. h. sie bieten den Anblick der kläglichsten Kraftlosigkeit und Matt­ herzigkeit dar, die der Feind widerstandslos vor sich her treibt. Dieser Geist der Schwachheit und Charakterlosigkeit kann nur ausgetrieben werden durch Fasten und Gebet: durch Fasten, d. h. der vernünftige Geist muß über alle Antriebe der Sinnlichkeit Herr sein, und in keinem Momente sich von diesen bestimmen lassen; durch Gebet, d. h. der über die sinnlichen Antriebe und Neigungen herrschende vernünftige Geist muß mit seinen tiefsten Wurzeln gegründet sein in dem ewigen un­ wandelbaren Gott. Nur der Mann ist frei von jenen Geistern der Schwachheit, der in kräftigem Glauben mit seinem ganzen Gemüth ge­ gründet ist, in Gott, und der aus diesem unwandelbaren Grunde den unerschütterlichen Willen gewinnt alle Neigungen und Elemente seiner Natur durch die sittliche Idee zu beherrschen und zu gestalten.

Nur

382

Sammlung ausgewählter Schriftstücke-

dieser Mann ist unangefochten von jenen Geistern, ihnen zu gebieten und sie auszntreibe».

mifc

hat Macht

Dieser Mann läßt sich nicht

mit fortreißen von den Wogen des EiithusiasmuS, so-ndern bleibt nüch­ tern und sich selbst getreu, wemr sie auch alle schwärmen; dieser Mann fällt nicht in Verzagtheit, wenn er die Andern verzweifeln sieht, auf seinem unwandelbaren Grunde steht er unerschrocken und unverzagt, sich selbst und seinem Gott getreu, der zagenden und zitternden Masse gegen­ über, und offenbart ihnen die Stärke seines Lebens, daß sie sich daran aufrichten mögen.

inwendigen, göttlichen Der wahrhaft in Gott

gegründete Blaun läßt sich nicht von den Bewegungen des öffentlichen Lebens ziehen und treiben, sondern ist ein Herr über die Bewegungen, und berufen die wogenden und gährenden Elemente aus göttlicher Idee zu gestalten. — Ich habe nie in meinem Leben eine Rede gehört, die den Redner selbst besser charakterisirt hätte als diese Predigt. Dieser Mann war unser Jonas: stets aus eigenster Willensmacht Alles denkend und gestaltend und darstellend, wie cs ihm Gott verliehen; immer der­ selbe in sich einige, mochte er viele oder wenige Freunde haben, und mochte er das- was in ihm lebte auch gegen die Mächtigsten vertheidigen müssen. Ja eö ist richtig von ihm gesagt worden: Jonas wäre der­ selbe geblieben, auch wenn er nicht einen Genossen mehr gehabt und die ganze Welt sich wider ihn gestellt hätte. So sicher und fest und treu war dieser Mann: man konnte auf ihn rechnen gleichsam wie auf ein Ereigniß der Naturnothwendigkeit. Es war natürlich, daß ein Mann von diesem Charakter und mit solchen Gaben, wenn er wie Jonas in den Jahren bester Manneskraft in ein geistliches Amt der Hauptstadt gestellt wurde, eine reiche Thätig­ keit finden mußte; und Jonas hat sie gefunden in so reichem Maße, daß in den letzten Jahren die Arbeit ihm über den Kopf zu wachsen drohte. Kaum war Jonas ein Jahr in Berlin, als Schleiermacher starb, und damit ihm zum großen Theil die amtliche Nachlassenschaft desselben zufiel. Diese amtliche Thätigkeit an der von Schleiermacher datirenden gebildeten Gemeine, die er anfangs überwiegend mit Hoßbach und in späteren Jahren mit Shdow theilte, wuchs in demselben Maße als die kirchliche Atmosphäre trüber, und deren immer wenigere wurden, welche ihr kirchliches Amt nach dem Vorbilde Schleiermachers im Geist eines freien universellen Protestantismus verwalteten. Und dazu kam dann seine Vertrauen erweckende Persönlichkeit, und dazu sein universeller Sinn, der ihn in der Weise Schleiermachers trieb stets

Ludwig JonaS.

383

alle Gebiete des Lebens in seinem Geist zu umfassen und stets in allen Kreisen der menschlichen Gesellschaft thätig zu sein, um zu bewirken, daß seine Wirtsamkeit für das Ganze der evangelischen Kirche und für kirchliche Vereine, für die theologische Wissenschaft und auch für die Politik eine von Jahr zu Jahr zunehmende Masse von Arbeit und Verkehr ihm zuführte. Character hinein.

Hub in alle die Thätigkeit legte Jonas seinen

Ja cs war seine Art, jeden Moment der Thätigkeit

mit ganzer Kraft auszufüllen, und Jedes was er that ganz und voll­ ständig zu thun.

Seine Gewissenhaftigkeit und Sorgfalt erstreckte sich

bis auf die kleinsten Dinge, und ging soweit, daß wenn man ihn in Sachen des'Gustav-Adolf-Vereins oder in einer Landtagspetition oder in ähnlichen Dingen arbeiten sah, man hätte glauben sollen, der Mann habe in der Welt weiter nichts zu thun als eben diese Arbeit, und doch war ja selten ein Mann von Arbeit so überbürdet als er. Sein geistliches Amt faßte Jonas ganz im Sinne Schleiermachers auf. So sehr er demgemäß darauf hielt die Religion in ihrem eigenthümlichen Gebiet gesondert und »»vermischt zu erhalten: ebenso sehr stand es ihm fest, daß die Religion von ihrem eigenthümlichen Ort aus berufen sei alle Zweige und Gebilde des menschheitlichen Lebenö zu durchdringen, und daß sie selber Schaden nehmen müsse, wo sie nicht mit allen übrigen Sphären in lebendiger steter Wechselwirkung bleibe. Und darum verwaltete er alle amtliche Thätigkeit so, daß er die gcsammte wirkliche Welt als Material und Gegenstand für diese Thätigkeit betrachtete. DaS Amt stand ihm nicht über der Gemeinde, mit besonderen Vollmachten und Autoritäten: es galt ihm lediglich als eine Ordnung in der Gemeinde, aus der Gemeinde hervorgehend, als ein Dienst an der Gemeinde. Er kannte keine specifischen Unterschiede in der Gemeinde, sondern nur verschiedene und mannigfaltige Be­ gabungen, und das geistliche Amt lediglich dazu da, daß Solche, welche durch eigenthümliche Begabungen und besondere Ausbildung einen höhe­ ren Grad von Erkenntniß und Lehrgabe erworben, diese Gaben zum Dienst der anderen ihnen ebenbürtigen Gemeindeglieder verwendeten und verwertheten. In allen amtlichen Thätigkeiten sah er sich an als einen Priester unter Priestern, und als ein Glied der Gemeinde, das eben nur grade zur Thätigkeit berufen war.

Darum begehrte er auch nie­

mals etwas zu wirken durch amtliche Autorität, und wirkte eben darum ungemein viel durch die Macht der Wahrheit und durch seine persön­ liche Würde. Darum war er in allen amtlichen Reden fern von jeder aufgetragenen Salbung und aparten Heiligkeit, frei von eigenthümlichen

385

Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

Priestergeberden und Kanzelton: Jonas sah genau so ans und redete genau so, wenn er amtlich zu reden hatte, wie man ihn zu jeder Stunde des TageS und in jeder andern Angelegenheit sehen und reden hören konnte.

Er konnte in seinen amtlichen Reden ganz trocken und nüchtern

sein, wenn es der Gegenstand und die Nmstände so mit sich brachten; aber er konnte auch im häuslichen und im geselligen Leben mit durch­ dringendem Ernst und dem heiligen Affect eines Priesters reden.

Er

vergaß auf der Kanzel und am Altare nie, daß er ein Glied der Ge­ meinde sei, gleich den anderen Gemeindemitgliedern; aber auch im Hause und im Gottes war.

er

vergaß

fröhlichen Genuß nicht, daß er ein Priester

Immer und überall derselbe, der au jedem Ort und in

jeder That nichts wollte als das offenbaren, was Gott in ihn gelegt, und in der Weise und mit dem Ausdruck offenbaren, den der Gegen­ stand und die Verhältnisse unwillkührlich in ihm erzeugten. Und davon war die natürliche Folge, daß er bei Allen die ihn kannten nicht weniger Ehrfurcht und Achtung erweckte, wenn er in seinem bürgerlichen

oder

in seinem Hausrock vor ihnen stand, und daß ihm beim Glase Wein Niemand etwas zu bieten wagte, was er nicht auch dem Geistlichen im Talar hätte zumuthen dürfen. Und im Hause bei seinen Hausgenossen war er nicht weniger geachtet und verehrt als draußen in seiner öffent­ lichen Wirksamkeit.

Das ist das beste Zeugniß für einen Geistlichen,

wenn seine Hausgenossen das volle Vertrauen zu ihm haben, und wenn seine erwachsenen Kinder von ihm sagen, wie wir es aus ihrem Munde gehört haben, daß sie bei unbefangenster Sclbstprüfung sich doch immer hätten sagen müssen, sie wüßten keinen ManN, gegen den sie eine reinere und höhere Verehrung empfänden, als gegen ihren Vater. Seine Predigten waren im Großen und Ganzen eine Fortsetzung der

Schleiermacherschen

Predigtweisc.

Jonas sprach immer frei,

war nicht gewohnt seine Reden aufzuschreiben.

er

Es wäre ihm das auch

nicht möglich gewesen, er hatte weder Zeit noch Geschick dazu. So leicht es ihm wurde zu reven, so unermeßlich schwer war es ihm eine Rede zu schreiben.

Er selbst drückte sich einmal über diese seine Begabung

etwa so aus.

„Reden kann ich zu jeder Zeit, zum Reden bin ich alle­

zeit fertig, und wenn mir Jemand jetzt

sagte.

Du

sollst nach

zwei

Stunden eine Rede halten, von der Dein Leben abhängig ist, so weiß ich bestimmt,

ich werde zu der bezeichneten Zeit reden können,

und

zwar gut und vernünftig und so reden, wie es der Sache angemessen ist.

Wenn mir aber Jemand sagte, Du sollst dies oder das schreiben

und sollst damit in vier Wochen fertig sein, so sage ich ihm, ich ver-

pflichte mich nicht dazu, denn ich kann nicht wissen, ob es mir so geräth, daß ich es kann öffentlich ausgeben lassen."

Und so verhält es

sich. Er arbeitete die Sache immer und immer von neuem durch, und konnte sich im Ausbessern niemals genug thun, so daß er zuweilen Wochen dazu brauchte für den Druck niederzuschreiben, was er in einer Stunde geredet hatte.

Dagegen war er schon frühzeitig als Candidat

dafür bekannt, daß er niemals eine Predigt ausschlug, wenn er auch nur eine Stunde vorher aufgefordert wurde. Er konnte in der kürzesten Frist mit seiner Vorbereitung fertig werden, und nicht selten waren das die vollendetsten unter seinen Reden, zu denen ihm nur eine Viertelstunde der Sammlung vergönnt war. Solche schnell concipirte Reden fielen gewöhnlich so klar disponirt, so abgerundet und den Ge­ danken so erschöpfend aus, daß der Zuhörer meinen mochte, es sei eine lange schriftliche Vorbereitung vorangegangen. Diese Bereitschaft und Fähigkeit zur freien Rede beruhte auf eigenthümlicher Begabung. Eine logische Gewißheit herrschte in seinem Geist, nach welcher sich jeder Ge­ danke in allen seinen Elementen mit dialectischer Nothwendigkeit ent­ faltete; und er besaß die Fähigkeit ohne äußere Hülfsmittel einen Ge­ danken nach allen Richtungen bis in die individuellsten Züge still für sich zu durchdenken. Und dazu käm, daß er in jedem Moment seiner selbst mächtig war, und über die Kräfte und das Material seines Geistes gebieten konnte; so daß er gewiß war, er werde das zu sagen vermögen, was er sagen wollte, und es werde ihm weder jemals die Phantasie mit dem Willen durchgehen, noch auch der Gedanke oder das rechte Wort für den Gedanken ausbleiben. Inhalt und Form seiner Predigten ließen das Vorbild Schleiermachers nicht verkennen.

Nicht

Dogmatik oder gar Metaphysik, Religion war der Inhalt seiner Pre­ digt: die Religion aber wiederum nicht nach Art des Pietismus aus­ schließlich als Gegenstand und Zustand der einzelnen Seele, sondern stets zugleich im Hinblick auf die großen geistigen und sittlichen Orga­ nismen der Menschheit. Der Blick auf das Gemeinwesen war so vor­ herrschend, daß von den kleinlichen Persönlichkeiten, welche so häufig die Predigten würzen müssen, bei ihm niemals die Rede sein konnte, wenn eö nicht schon seine sittliche Natur schlechthin verboten hätte: und doch verstand er es meisterhaft den allgemeinen sittlichen und religiösen Ge­ danken so zu wenden, daß der Einzelne ihn leicht für seine persönliche Erbauung verwenden mochte. Die Form war vorherrschend die lehr­ hafte: er verschmähte nicht nur jeden künstlichen Schmuck der Rede, außer wo ihn der sittliche Asfect seines Gemüthes unwillkürlich erzeugte; Spar 1b,

tyu'teftantiidu '-Bausteine.

25

Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

386

er gestattete sich auch niemals den Hörer zu überraschen oder zu über­ listen oder gar zudringlich auf ihn loszugehen; er wollte nichts weiter als die Wahrheit, so weit sie ihm gegeben war, mit allem Ernst vor den Augen des Hörers ausbreiten, und es dann dieser überlasset!, wie schnell oder wie langsam und wie weit Willen desselben für sich ^it gewinnen.

sie

vermöchte den sittlichen

Seine Predigten konnten unter

diesen Umständen bei dem Mangel oratorischer Construktion in gewöhn­ lichen Zeiten oft recht nüchtern ausfallen, und fast den Charakter von Abhandlungen annehmen: immer aber waren sie belehrend, und hinter­ ließen nicht selten bei der Vollendung ihrer Organisation für das Er­ kenntnißvermögen den Eindruck vollkommener Befriedigung.

Und für

den, der Ionas kannte, wirkten auch die trockensten und lehrhaftigsten Predigen allezeit erbaulich, weil die Predigten aus dem Munde eines Mannes kamen, dosten ganze Erscheinung eine erbauliche war. Wenn dann kam,

wenn

aber sich

in

das Leben

der evangelischen Kirche Bewegung

besondere Richtungen

aufthaten

oder

ungewöhnliche

Ereignisse eintraten, oder wenn besondere Erlebnisse und Geschicke, wenn Hoffnungen oder Besorgnisse in dem öffentlichen nationalen Leben die Stimmungen der Menschen lebhaft erregten: dann nahmen Ionassenö Predigten einen gehobenen Charakter an, dann stellte er sich mit der ganzen Wucht seines Charakters in die Bewegungen hinein, und es war ihm dann Macht gegeben die Gedanken und Empfindungen der Versammlung zu richten und zu gestalten. Und in eigentlich großen Momenten des öffentlichen Lebens stieg seine Rede bis zur Erhaben­ heit, daß man des Schriftwortes gedachte, „er redete gewaltig und nicht wie die Pharisäer und Schriftgelehrten."

Er

stand

in

solchen Mo­

menten da als ein Prophet, der sich selbst vollkommen vergessend dem göttlichen Gedanken seine Seele stille hält, und aus dem dann der göttliche Gedanke mit einer Macht und Einfalt und Bündigkeit her­ vorströmte oder hervordonnerte, daß ihm alles Volk gegeben.war.

in

seine Hände

In solchen Reden erschien dann der sonst so nüchterne

abhandelnde Prediger als ein Redner erster Größe, der Seinesgleichen kaum hat in deutschen Landen; und eö wurde dann die tiefe Wahrheit einleuchtend,

welcbe

in

der

immerhin

einseitigen Formel Theremins

liegt, „die Beredsamkeit ist eine Tugend". Die eigentliche Kraft der Rede war ja die sittliche That eines mächtigen Charakters, ihre Ge­ waltigkeit lag darin, daß der Mann, der hinter dem Worte stand, immer noch besser war als auch seine beste Rede. Eine eigene Virtuosität besaß Jonas für die Gelegenheitsrede.

Ludwig IonaS.

387

Wir meinen a»ch hier, in besonderen Lagen, während auch diese Reden bei gewöhnlichen Gelegenheiten ihm zuweilen etwas lehrhaft geriethen. Seine Fähigkeit im Moment fertig zu sein und die Gedanken schnell zu ordnen, und die Gewißheit, daß er in allen Lagen seiner Gedanken und Empfindungen mächtig bleibe, gewährten ihm die Möglichkeit die Form dieser Reden zumeist erst nach dem Hörerkreise zu gestalten, den er vorfand; ja nicht selten entstand die ganze Rede erst in dem Mo­ ment, wo er eine Versammlung und deren Stimmungen erblickte, und darum wirkten diese Reden oft so einschlagend und durchgreifend. Er war noch nicht lange in Berlin, als ihm eine ganz absonderliche Ge­ legenheit geboten wurde diese Gabe zu bethätigen. Er sollte am Sarge der Stieglitz reden, welche sich selbst entleibt hatte, um wie sie meinte durch eine ungewöhnliche Liebesthat ihren Mann zu retten. Er kommt in die Trauerversammlung und findet daselbst alle die jungen Schrift­ steller beisammen, welche als das junge Deutschland bezeichnet wurden, und diese sind voll Rühmens und voll Begeisterung über die göttliche That des Weibes. Da entschließt er sich kur; seine Rede für diese Versammlung einzurichten; und er hat über den Selbstmord mit einer christlichen Gewalt geredet, daß die Hörer, wenn sie ihm auch nicht zu­ stimmen konnten, doch tief ergriffen und von Bewunderung für den Redner erfüllt wurden; und als er dann zehn Jahre später vor der­ selben Versammlung, an dem Sarge des schwachen Mannes, für den sich das Weib geopfert hatte, reden mußte, da mögen sie wohl auch seiner ersten Rede Recht gegeben haben. Für die Leichenreden kam ihm noch das Talent zu Statten, daß er es verstand Persönlichkeiten zu characterisiren. Er stellte sich für diese Reden die Aufgabe, mit Uebergehung des Schwachen und Mangelhaften das eigentliche Wesen und den eigenthümlichen Character des Verstorbenen in großen Zügen zu zeichnen, um den Nachbleibenden das Bild dessen, was sie an dem Verstorbenen im Leben gehabt unauslöschlich in die weich gestimmte Seele zu prägen. Und das ist ihm oft so meisterlich gelungen, wie einige von ihm nachträglich in Druck gegebene Leichenreden beweisen, von denen wir namentlich die über den Grafen von Schwerin und über Beuth als classische bezeichnen zu dürfen glauben. Und fürwahr dies Talent war ihm sehr nöthig, denn die Aufforderungen zu solchen amt­ lichen Thätigkeiten nahmen mit jedem Jahre zu, je mehr die kirchliche Restauration in der Geistlichkeit um sich griff. Wie viele seiner Jugend­ genossen hat IonaS in den letzten zehn Jahren müssen zu Grabe ge­ leiten! Wie viele Männer von gutem Namen und von Bedeutung, die

388

Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

sich aus alter guter Zeit eine freie Geistesrichtung bewahrt hatten, und bereu Angehörige sie nicht noch an ihrem Sarge harten und lränkcnben Worten aussetzen mochten, hat JonaS die letzte Nachrede halten müssen, und hat sie gehalten zur Ehre der Gestorbenen und zur Ehre des Christenthums! Auf den Confirmandenunterricht legte Jonas einen hohen Werth: er hielt diese Thätigkeit für den Schwerpunlt der geistlichen Wirlsamkeit in der Gegenwart. Für seine Predigten hatte er ja immer nur einen Zuhörerkreis von mäßigem Umfange, die ihm freilich mit unwandelbarer Anhänglichkeit zugethan waren. Das rührte nicht allein her von dem rauhen Organ und der schweren Zunge, welche für einen eigentlich großen Kreis entschieden nicht ausreichten; auch nicht von der lehrhaften Beschaffenheit der Predigten, welche immerhin ein tüchtiges Denken voraussetzte, und sie darum für eine große Masse nicht geeignet erscheinen ließ: der Grund lag tiefer, es war vornämlich die Unkirch­ lichkeit, welche namentlich in der gebildeten protestantischen Welt einer freieren Richtung noch immer vorherrschend ist, aus Gründen die wir hier nicht zu erörtern haben.

So legte

er denn einen besonderen

Accent auf die religiöse Bildung der Jugend. Er hatte in seinem Unterricht die Söhne und Töchter aus den gebildetsten Familien und zwar in dem Alter von 15—17 Jahren; diesen jungen Gemüthern, wie er sie zur Freiheit und Mündigkeit erzog, prägte er zugleich die religiösen Grundlagen des Christenthums mit dem Ernst und der Kraft ein, welche seiner frommen Seele zu Gebot standen. Und man hatte öfter Gelegenheit die Wirkungen des Unterrichts wahrzunehmen. Während in der Gegenwart nichts gewöhnlicher

ist, als daß junge

Männer mit dem Schluß des Confirmaiidenunterrichts auch mit der Religion fertig sind, und von da an der Kirche den Rücken wenden: so haben wir in Jonassens Schülern nicht nur eine dauernde Ehrfurcht für die Person des Mannes, sondern auch für die von ihm vertretene Sache zu erblicken oftmals Gelegenheit gehabt.

Sein Unterricht war

so geschätzt, daß sich zuweilen Eltern die Erlaubniß ausbaten demselben beiwohnen zu dürfen, und in früheren Jahren, wo sie das noch wagen durften, auch junge Theologen. Unter diesen Verhältnissen kam natürlich von dem, was man ge­ wöhnlich die seelsorgerliche Thätigkeit nennt, auf ihn ein be­ deutender Antheil. Er hatte ja keine örtliche Gemeinde, sondern in seine Predigten und seinen Unterricht kamen ja aus der ganzen Stadt diejenigen, welche durch die von ihm vertretene Richtung und durch

Ludwig JonaS.

389

seinen persönlichen Charakter angezogen wurden.

Bei diesen genoß er

aber auch ein Vertrauen wie eS nur wenigen Menschen zu Theil wird, und darum pflegten

sie

sich

in

allen

ernsten Angelegenheiten

Seele und ihres Herzens gern an ihn zu wenden;

ja Viele

ihrer suchten

seinen Rath auch in vielen andern Sachen, weil sie teilten Menschen wußten, zu dessen Weisheit und Dienstwilligleit sie so großes Vertrauen haben lönnten.

Und darum waren seine Nachmittagstunden,

wo

er

nicht zu unterrichten hatte, fast immer von Rath und Trost Suchenden in Anspruch genommen:

es

gab Tage,

Stunden von solchen nicht leer wurde. übrig behielt, und nicht Eonferenzen

wo

sein Zimmer drei,

vier

Und wenn er dann noch Zeit oder Amtshandlungen

angesetzt

waren, so pflegte er wohl gegen Abend auszugehen, um Diejenigen in ihren Wohnungen aufzusuchen, welche des freundlichen Zuspruchs am meisten bedürftig waren.

Er wies Keinen zurück, der seines Rathes

begehrte, und duldete sogar mit Gelassenheit die wunderlichsten und abenteuerlichsten Leute; er vergaß Niemanden, der ihm sein Herz an­ vertraut hatte, und wurde niemals müde den Schwachen und Bedürf­ tigen zu suchen und zu tragen.

Wenn er sich einmal der Noth eines

Menschen angenommen hatte, so ließ er dieselbe nicht eher von seinem Herzen kommen, als bis sie vollständig erledigt war, und es gereute ihn feine Arbeit' und teilte Ungelegenheit, welche diese Sache mit sich führte. Wie vieler Menschen wichtigste Angelegenheiten hat er so lange Jahre hindurch auf seinem Herzen und in seiner thatkräftigen Hand gehabt: und es war teilte noch so hohe Stelle vor seiner schwer widerstehlichen Vermittlung sicher, wenn es galt die gerechte Sache eines Unschuldigen gegen Willkür zu vertreten. Ja es ist vorgekommen, daß er einen Unschuldigen, zu dessen Schutz er sich berufen hielt, aus den Händen der allmächtigen Hinkeldeyschen Polizei rettete: und wer da weiß, was es int Jahre 1819 besagen wollte, einen politisch Angeklagten vor der Ausweisung zu schützen, der wird ermessen können, was für ein Mann dazu gehörte, um der Polizei bis an das Herz zu kommen. Wie viele Schwache hat er immer und immer wieder auf­ gerichtet; und wie Bielen war es recht eigentlich der Anker ihres LebensmntheS, daß sie wußten, Jonas ist ja noch da, und du kannst zu ihm gehen, und dich an seiner Rede erbauen, und an seiner Stärke auf­ richten.

Ja Solche gingen wieder mit neuem Muth an ihren Beruf,

wenn sie von Jonas kamen; und die Tage leuchteten ihnen wie Fest­ tage, wo der freundliche Jonas in ihr Haus getreten war. Mancher Müde und mancher Schwermüthige war in tiefster Seele erfrischt, wenn

390

Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

ihm brr JonaS auf brr Straße begegnete,

mib ihm herzlichen Händc-

bruck bot, imb mit beut touubcrbar frrunblichen Blick seines

treuen

und liebreichen Auges anschaute. Aber wie verstand es der Mann auch zu trösten und aufzurichten, zu rathen und zu helfen, wie verstand er es auch die Sünde zu strafen, den schwachen renmuthigen Sünder zu heben, den frechen und leichtfertigen Sünder dagegen niederzudonnern. (5r hatte ja nicht Categorieen für die Seelsorge, und machte sic auch nicht mit Bibelsprüchen ab: er nahm jeden einzelnen Fall in sein Herz und Gewissen, und ließ jeder besonderen Lage die individuellste Pflege angedeihen, »nd legte in jeden Fall die ganze Reinheit seines Charak­ ters und die ganze Stärke seiner Liebe hinein.

Wir wissen Fälle, wo

ein einziger Blick von diesem Jonas hinreichte in schwerer Roth den Betreffenden vollkommen zurecht zu bringen. Es war eben nicht allein die Weisheit

seines Rathes

und die Wahrheit seines Trostes, was

solche Wirkungen that: es war mehr als dieses, cs war der unmittel­ bare und unwillkürliche Einfluß, welchen die Atmosphäre seiner sittlichen Hoheit und Reinheit unwiderstehlich ausübte. Es hat ein Weib von ihm ausgesagt, als er noch Jüngling war, er sei in solcher Reinheit erschienen, baß cs in seiner Nähe unmöglich gewesen wäre, etwas Un­ reines zu denken.

Das gilt in höherem Maße von dem reife» Mann:

die persönliche Berührung mit dieser Persönlichkeit wirkte mehr als jedes seiner Worte und jede seiner Thaten, sie wirkte unwillkürlich tragend, hebend, reinigend, versittlichend. Er war eben ein starker Baum, an welchem Andere in die Höhe zu wachsen vermochten. Und darum war cs ihm auch beschieden ein blühendes und ge­ segnetes Hauswesen um sich erwachsen zu sehen. Gott hatte seinen Ehestand reich gesegnet mit zwölf Kinder», gesund an Leib und Seele, und er hat deren keines durch den Tod verloren. Gott hatte ihn mit seiner Familie zugleich in einen großen Kreis der Berwandtschaft ge­ stellt, in welchem Ehre und Sitte, frommer und vaterländischer Sinn die Herrschaft haben: und Jonas hat in herzlicher Demuth allezeit Gottes Gnade gepriesen, die ihn durch solchen Familiensege» so unaus­ sprechlich reich gemacht. Aber Gott hatte ihn auch berufen selber ein Träger zu werden, für den guten Famliengeist,

und ein Quell, aus

welchem derselbe frische Nahrung schöpfen könnte;

und hatte ihm die

Gnade hinzugefügt, daß sein Hauswesen trefflich gedieh, und der Geist, der in ihm lebte, auch seine Hausgenossen durchdrang. Es ist das so natürlich: die beste Erziehungskunst ist die, selber gut sei», gleich wie die beste Predigt die ist, welche vom heiligen Geist durchdrungen er-

scheint.

Der

flute

und fromme

Geist

eines

solchen Mannes

wirkt

unausbleiblich aus seine Umgebung, und läßt einen gegenteiligen Geist nicht leicht in einem Genossen

aufkommen.

Und Ionas war ja der­

selbe Mann in seinem Hause wie int öffentlichen Leben. An seinem starken Willen hatte jedes Glied seines Hauswesens einen sicheren Halt und kräftigen Hebel, aber auch eine unüberwindliche Schranke: und vor seinen klaren Augen, welche in heiligem Zorn zu glühen vertnochten, hätte jeder untante.e Gedanke zurückweichen müssen, ehe er Gestalt gewinnen konnte.

So stand denn sein Hauswesen

in

hohem

Ansehn; und Jeder rechnete eS sich zur Ehre unb zum Segen, dem es vergönnt war, mit diesem Hauswesen in Gemeinschaft zu treten, und es werden viele gern bekennen, daß ihm von diesem Hauswesen liebliche und gute Gaben gekommen sind.

Jonas selbst legte großen Werth auf

den Verkehr. Wie er seinem Hanswesen zu seinem Wachsthum feste Ordnungen gab, und sichere Schranken zog; so öffnete er andererseits gern die Thore des Hauses, um Andre Theil

nehmen

zu lassen an

seinen Gaben, und ging eben so gern mit seinen Hausgenossen in andere Familien ein, von deren Gemeinschaft er sich wohlthätigen Einfluß ver­ sprach. Ionas hatte von Schleiermacher her eie Geselligkeit als ein hohes Gut schätzen gelernt. Sie war eben in Schleiermacher's Sinn nicht ein bloßer Genuß,

am allerwenigsten

ein bloß sinnlicher

Genuß, sie war ihm vielmehr ein unentbehrliches Gebiet sittlicher Thätigkeit: der Punkt, wo Alles, was Jeder in seinem Beruf und durch seine Arbeit geworden und geschaffen, so wie was das öffentliche Ge­ meinwesen an Ereignissen und an Früchten der Wissenschaft und Kunst hervorgebracht, in freier ungezwungener Form der Darstellung einan­ der berühren, einattder beleben und sich aneinander ausgleichen soll. Und darum machte er es sich zur besonderen Aufgabe, dies Gebiet der Geselligkeit, dessen Bedeutung für das sittliche Zusammenleben noch viel zu wenig gewürdigt wird, seitterseits mit rechtem sittlichem Geist durch­ dringen zu helfen. Der eigenthümliche Geist und Sinn der Geselligkeit, welcher von Schleiermacher und seinen Genossen ausgegangen war, fand in unserm Jonas eine ebenbürtige Fortsetzung. Und er hat gerade auf diesem Gebiet außerordentlich viel geleistet: der überaus reiche ge­ sellige Verkehr, welchen ihm seine amtliche Thätigkeit, seine vielen ander­ weitigen Beziehungen und seine allgemein geehrte und geliebte Persön­ lichkeit zuwege brachten, bot ihm die allermeiste Gelegenheit seinen Charakter und seinen sittlichen Geist in viele Kreise hineinzutragen; und von demjenigen

was in diesen Kreisen Berlins der gesellige Ber-

392

Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

kehr neuerdings an sittlichem Gehalt gewonnen hat, wird ein nicht geringer Beitrag unserm Jonas auf die Rechnung zu schreiben sein. Jonas hatte von Schleiermacher gelernt alle Dinge im Zusam­ menhang anzuschauen, und kannte Hauswesen und Amt nicht anders, als daß sie lebendige Glieder an den großen Gemeinwesen des Staates und der Kirche sind. Er hielt es für unmöglich, daß das einzelne Glied gedeihen könne, wenn es sich nicht als lebendiges Glied des Ge­ meinwesens auffasse und bethätige. Und wie er sich demgemäß als einen Bürger des Staates ansah, der an jedem Ort dem staatlichen Gemeinwesen kräftig zu dienen verpflichtet sei, so faßte er auch das geistliche Amt nicht als seinen ausschließlichen Beruf, sondern stets im Hinblick auf das Ganze der evangelischen Kirche als den Punkt auf, an welchem er den Hebel seiner sittlichen Kraft in das religiöse Gesammtleben einzusetzen habe. Zudem wußte er, daß er einen besonderen Be­ ruf habe, für das Ganze der evangelischen Kirche wirlsam zu sein: seine Anschauung und seine Begabung nöthigten ihn dazu, um so mehr, je weniger die Wirklichkeit der Kirche dem Bilde entsprach, das in seinem Herzen geschrieben stand. Der Gedanke der Kirche war ja erst wieder durch Schleiermacher in das Bewußtsein der evangelischen Christenheit eingeführt worden; bis dahin batte man sich lange Zeit gewöhnt den Protestantismus lediglich als eine Summe einzelner Christen und einzelner Gemeinden zu betrachten; der Gedanke des organisirten Gemeinwesens war ver­ loren, und in den Staatsabsolutismus aufgegangen. Dieser Gedanke nun, welchen Schleiermacher neu belebte, der Gedanke der evaygelischen Kirche als eines gesonderten vom Staat unterschiedenen und ihm gegenüber selbständigen Gemeinwesens, welches in organischen Gliederungen das religiöse Leben darzustclleil und zu pflegen habe, dieser Gedanke hatte in dem Gemüth unsers Jonaö tiefe Wurzeln geschlagen und war das Centrum aller seiner kirchlichen Thätigkeiten. Zugleich lebte derselbe in ihm in der scharf protestantischen Ausprägung, welche ihm Schleiermacher gegeben, und gewann natürlich mit den Jahren noch eine schärfere Ausbildung, als der Urheber sie zu haben vermochte. Jonas faßte die evangelische Kirche unausgesetzt unter dem Gesichts­ punkt der fortschreitenden Reformation; und dieser Gesichts­ punkt war ihm gleichbedeutend mit den beiden anderen Grundvorstelllungen, der positiven von dem allgemeinen Priesterthum, und der negativen von der allgemeinen Unvollkommenheit aller Christen. „Einer

ist euer Meister, ihr aber seid alle Brüder", der Satz stand ihm oben an. Christus allein der absolut Vollkommene: alle Christen mit allen ihren Gedanken und Ordnungen

und Einrichtungen und Sitten an

jedem Punkt und zu jeder Zeit einzeln und insgesammt stets unvoll­ kommen, und der fortschreitenden Besserung bedürftig; aber auch alle Christen und alles was an dem Baume des Christenthums gewachsen, an jedem Punkt der geschichtlichen Entwicklung des Christenthums irgend­ wie und in irgend welchem Maße des christlichen Geistes theilhaftig, und darum zur Mitwirkung befähigt.

Somit Alles und Jedes in der

Kirche einzig und allein an dem einzig vollkommenen Jesus Christus zu messen und zu richten, und unablässig auö diesem Lebensquell zu reinigen und zu erneuern: dagegen kein Glied und keine Stelle im Organismus der Kirche ein fertiges und festes Maß und Gericht für die Andern, vielmehr Jeder und Jedes aller übrigen Glieder sowie deö ganzen Leibes zu seinem Wachsthum und seiner stetigen Besserung be­ dürftig. Der Gedanke der fortschreitenden Reformation gehörte ihm unabtrennlich zum Princip des Protestantismus, und in jedem Punkt, wo derselbe verletzt und verleugnet werde, sah er eine Verleugnung des protestantischen Princips. Darum war er ein geschworner Feind jedes Confessionalismus wie jedes Hierarchismus, in welchen er die Erbfeinde des Protestantismus erblickte. Ein anderer großer Gesichtspunkt hing damit unmittelbar zusammen: zum Wesen der evangelischen Kirche ge­ hörte ihm der Gedanke der Union. Weil die ganze Christenheit als ein Leib an demselben Haupte Christus hange', und in allen ihren Gliedern von demselben Geist des Hauptes beseelt sei, und jedes ein­ zelne Glied in seiner eigenthümlichen Begabung und Mangelhaftigkeit aller übrigen Glieder mit ihren besonderen Gaben zu seinem Leben und Wachsthum bedürfe: darum müsse die Christenheit sich zu allen Zeiten als ein Ganzes wissen und bethätigen, und jede Zertrennung des Leibes sei als eine Sünde anzusehen, welche die Wirksamkeit des heiligen Geistes störe, und die getrennten Theile derjenigen Geistesgaben beraube, welche sie an einander und für einander haben sollten. Darum müsse, wo die Christenheit gespalten sei, von jedem lebendigen Christen unablässig auf ihre Einigung gearbeitet; und wo in irgend einem Theil derselben eine Einigung erreicht sei, mit aller Kraft den spaltenden Bestrebungen entgegengewirkt werden. Union und Reformation ge­ hörten ihm zusammen; und so wie es ihm feststand, daß die unprote­ stantischen Mächte des Confessionalismus und Hierarchismus immer auch den Separatismus und die Sectirerei in ihrem Gefolge haben.

eammtmtß ausgewählter Echriststücke.

394

so galt ihm die Union der evangelischen Kirchen

recht

eigentlich

as

eine Fortsetzung des Reformationswerks. Als aus dem Wesen der christlichen Kirche entsprungen, als die rechtmäßige Erbin und richtige Fortsetzung der Reformation war ihm die Union Herzens- und Ge­ wissenssache, und Herzens- und Gewissenssache ihre Erhaltung urd Ausbildung und die Bestreitung aller ihrer Gegner als Gegner der Reformation.

Zu

diesen beiden

gehörte noch ein Drittes.

Momenten seines Kirchengedanl'ers

Eine Kirche, welche sich in Nnterschiedenheit

und Selbständigkeit dem Staatswesen gegenüber entwickeln soll, bedarf einer eigenen Oganisation; eine Kirche in welcher das Princip der fortschreitenden Reformation herrschen, und der lebendige Zusammen­ hang aller ihrer Glieder in der Union stets sich ausdrücken so daß eine nie ruhende Wechselwirkung zwischen dem Ganzen seinen

einzelnen

untereinander

Gliedern

stattfindet,

sowie eine

zwischen

solche

aus

den

soll, und

einzelnen Gliedern

evangelischen

Principien

lebende Kirche bedarf einer evangelischen, einer repräsentativen Or­ ganisation. Die Organisation ist die nothwendige Form, in welcher das evangelische Leben sich

ausprägen muß; und wo die Or­

ganisation unevangelisch gestaltet stets Gefahr für die evangelischen

wird oder gar fehlt, da ist auch Principien und da treten stets die

feindlichen Mächte des Confessionalismus und Hierarchismuö, des Sepa­ ratismus und der Sectirerei hervor. licher

So hingen in Ionassens kirch­

Anschauung die drei Vorstellungen von der Reformation,

der

Union und der Organisation als drei Momente des einen und selbigen evangelischen Grundprincips zusammen, und er vertrat in jedem ein­ zelnen dieser Momente immer zugleich das Ganze der reformatorischen Principien. Diesem Gedanken einer selbständigen und in sich frei und weit und einheitlich

organisirten evangelisch-protestantischen Kirche hatte Jonas

sein Herz ergeben, und diesem hohen Ziele widmete er die größte That­ kraft seines Lebens. Er begrüßte jedes Streben und jedes Unternehmen mit Freude, welches auf dieses hohe Ziel hinausging. Als der König durch Kreis- und Provinzialshnoden eine Organisation der evangelischen Kirche in Angriff zu neunten schien, hat Niemand eifriger und that­ kräftiger als unser Jonas dafür gewirkt, daß diese Organisation in rechtem evangelischem Sinne ausfalle. An der Entstehung der freien Vereinigungen, soweit solche damals in den engen Schranken unsers öffentlichen Lebens möglich waren, nahm er den lebhaftesten Antheil, sofern diese sich auf freie und weite Grundlagen stellten. Denn er sah

Lildwiq AvnaS

395

in denselben wenigstens einen kleinen Ersatz für die mangelnde Organi­ sation, eine Vorbildnngsschule für dieselbe,

einen Ort

der

den

ver­

schiedenen Richtungen Gelegenheit böte durch Berührung sich aneinander auszugleichen und in practischer Einheit zu bleiben.

Es war natürlich

und selbstverständlich, daß ein Mann von seinem umfassenden und über­ legenen Geist und von seinem alle Genossen weit überragenden Character in den Genossenschaften und Vereinigungen, welche das gleiche kirch­ liche Ziel erstrebten, überall der Führer wurde.

Es war das bei allen

Genossen und Freunden, welche der Sache ergeben waren, stets außer allem Zweifel: er war eben ein geborner Feldherr, ein rechter Kirchen­ fürst.

Einen bessern und würdigern, einen unbestrittenern Führer hat

nie eine kirchliche Genossenschaft gehabt, als diejenige, welche der Leitung unsers Jonas anvertraut war. Als 1844 die märkische Provinzialshnode zusammentrat, hielt Jonas zur Zeit ihrer Eröffnung eine seiner gewaltigen Predigten, sich auch in

den Verhandlungen

bald

so

hervor,

und

daß Alle,

dix

that ein

freieres Kirchenwescn wollten, in ihm ihr Haupt erkennen mußten. Er ist dann während der ganzen Dauer der Synode das Haupt dieser Richtung geblieben, und die freieren Ergebnisse derselben sind vornäm­ lich seiner Kraft zuzuschreiben.

Wir zweifeln in allem Ernst, daß die

Generalshnode des Jahres 1846 den bekannten Verlauf hätte nehmen können, wenn es ihr vergönnt gewesen wäre nur diesen einzigen Mann noch zu ihren Mitgliedern zu zählen. In dem märtischen Pastoralverciu, der sich um die Zeit der Pro­ vinzialsynoden bildete, kam Jonas bald an die Spitze; und Vorsitzende geblieben bis zu seinem Ende.

er ist der

Er hat seine Führergaben

in diesem Verein mannigfach bewiesen, seine Kraft wird Allen, welche diesen Verein besucht haben, unvergessen sein.

Er

konnte

fünf, sechs

Stunden hören, ohne ein Wort in die Discussion zu mischen, und ließ Rede und Gegenrede weit und breit nach allen Richtungen sich ergehen. Wenn sich dann aber die Discussion erschöpft hatte,

und Jonaö sich

aufrichtete, um das Gesprochene zusammenzufassen; wenn er dann jede Aeußerung berücksichtigte, und jeden ausgesprochenen Gedanken bis in sein Princip verfolgte, und die noch fehlenden Glieder selber ergänzte, und

den Gehalt

der

gesammten Discussion

mit der Präcision

logischen Organisation einer vollendeten Abhandlung vortrug,

in

und der

alle Gegensätze mit unparteiischer Gerechtigkeit gegeneinander abgewo­ gen wurden; wenn dann also der ganze Mann in voller Rüstung mit gebietenden Augen vor der Versammlung stand: dann fühlten Alle die

396

Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

Neberlcgenheit dieses Geistes, und Viele wurden von immer steigender Bewunderung hingerissen. Aber denjenigen, welche es etwa wagten die Discussion auf fremdartiges Gebiet abzuleiten, oder gar den Ver­ ein von seinem freien weiten Grunde herunter zu drängen, denen hat er zu verschiedenen Malen seine unerschütterliche Stirn gezeigt, daß sie bald wahrnahmen, an diesem Felsen müßten ihre feindlichen Bemüh­ ungen zerschellen, und ihnen nichts übrig blieb als sich von dem Verein loszusagen, den sie unter diesem Führer nicht zu überwältigen ver­ mochten. Dem Gustav-Adolf-Verein hat Jonas von Anfang an, seit sich Zweige desselben in preußischen Landen bildeten, angehört, und dem­ selben eine außerordentliche Thätigkeit gewidmet. Dieser Verein war so recht ein Werk nach seinem Herzen, und wie er überzeugt war, nach dem Herzen Gottes. Nicht nur, daß er ein tiefes Bedürfniß seines Herzens befriedigte, wenn er den entfernten und zerstreuten evangeli­ schen .Brüdern die Mittel darbot, welche zur Begründung und Pflege eines gottcsfürchtigen Lebens unentbehrlich sind, und die Verlassenen damit zugleich wieder in lebendigen Zusammenhang mit dem Ganzen der evangelischen Kirche setzte, so daß sie der Kräfte des religiösen Gemeinlebcns theilhaftig werden konnten: der Verein war ja auch ein rechtes Unionswerk, in welchem sich nicht allein Glieder verschiedener Landeskirchen,

sondern

auch

Männer

verschiedener

kirchlichen Rich­

tungen die Hand zur gemeinsamen Liebcsthat reichten, und in lebendigem Verkehr, die Gemeinschaft des evangelischen Geistes be­ kundeten; der Verein war ja auch ganz nach seinem Sinne organisirt, ganz so wie er cs den evangelischen Grundsätzen entsprechend hielt. Alles aus dem Vertrauen der Vereinsgenosscn heraus, und überall bei festester Gemeinschaft doch die möglichste Selbständigkeit der einzelnen Glieder gewahrt; er sah in dem Verein ein Vorbild und eine Vorbedeutung für die zukünftige Organisation der evan­ gelischen Kirche. In dieser Gemeinschaft fühlte er sich Wohl und heimathlich, und darum wendete er auf die Ausbildung derselben so viel Sorgfalt und Thätigkeit. Er hat zu jeder Zeit kräftiglich die Sache des Vereins vertreten, er ist unermüdlich gewesen dem Verein Mittel, Mitglieder und Zweigvereine zu gewinnen; er hat für den Verein gearbeitet wie nur Wenige. Er hat aber auch das Vertrauen der Vereinsmitglieder unbedingt und unwandelbar bis an's Ende ge­ nossen, so daß er nicht nur unausgesetzt Vorsitzender des Berliner Ortsvereinö und Mitglied des Hauptvereius-Vorstaudes, so wie des

preußischen

Gesammtausschusses

und viele

Jahre als Mitglied deö

Centralvorstandes so wie in den Vorständen der beiden Berliner Frauen­ vereine wirksam blieb, sondern auch zu allen Provincial- und zu allen Hauptversammlungen

abgeordnet

wurde.

Der

Gustav-Adolf-Verein

wurde zugleich das Mittel diesen Mann und seine kirchliche Bedeutung weitesten Kreisen im deutschen Lande persönlich nahe zu bringen. Es wird wohl kaum Einen geben, der den Hauptversammlungen der GustavAdolf-Vcreine beigewohnt hat, und der nicht an irgend einem Punkte von der gewaltigen Charakterkraft des Mannes eine Erfahrung gemacht hätte.

Sie haben ihn ja in seiner Kraft sehen können, überall wo es

galt die Ehre, die Freiheit und die Einheit des Vereins in Gefahren zu vertreten; sie haben ihn gesehen in seiner Rüstung, als eö nicht vermieden werden konnte Schlachten zu schlagen; sie haben ihn predigen gehört auf der Wartburg, und einen Eindruck gewonnen, was es heißt vom Geist Gottes getrieben zu sein. Genug, soweit die Verzweigungen des Gustav-Adolf-Vereins reichen, soweit steht Jonassens Gedächtniß in hohen und reinsten Ehren. Mit dem Jahre 1845 nahmen die kirchlichen Dinge in Preußen eine veränderte Gestalt an: durch die Proteste gegen die reactionäre Strömung des Kirchenregiments, insbesondere die Berliner Erklärung vom 15. August 1845, sowie durch die Generalsynode des Jahres 1846, und die sich an beide Thatsachen knüpfenden vielseitigen Erörterungen fingen die kirchlichen Parteien an sich schärfer zu sondern; und die Männer einer freieren Richtung, welche für Union und Organisation stritten, schufen sich ein Organ ihrer Ansicht vom Jahre 1846 in der „Zeitschrift für die unirte evangelische Kirche", welche sie im Jahre 1848, als die Bewegung lebhafter wurde, aus einer Monatsschrift in eine Wochenschrift umwandelten, und 185*1 noch durch ein volksthümlicheres, mehr auf die Gemeinde berechnetes Blatt unter dem Titel „der Protestant" vermehrten. Beide Blätter gingen bekanntlich mit dem Anfange des Jahres 1854, als die kirchlichen Zustände das Be­ dürfniß hervorriefen, daß die Männer dieser kirchlichen Richtung in Preußen mit den Gesinnungsgenossen in andern deutschen Ländern in Verbindung träten, in die „protestantische Kirchenzeitung" über, welche nunmehr Organ für die gleiche kirchliche Richtung im ganzen deutschen Lande wurde.

Mit der zunehmenden Reaction nahmen auch die Ver­

sammlungen deö märkischen Pastoralvereins an.

einen

anderen Charakter

Diejenigen, welche der Orthodoxie oder dem officiellen Kirchen­

wesen sich zuneigten, zogen sich von diesen Versammlungen zurück; und

398

Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

so wurde der Verein, obwohl er grundsätzlich

die verschiedenen Nie­

tungen in sich vereinigen wollte, thatsächlich doch immer mehr nur der Sammelpunkt für die eine bestimmte Richtung. Seit dem Jahre 1848, wo die kirchlichen Fragen practischer zu werden begannen, trat der erörternde lehrhafte Charakter des Vereins mehr in den Hintergrund und der Verein nahm nicht nur selbst mehr einen beschließenden Charak­ ter an, sondern schuf sich auch noch eine lediglich auf die practischen Fragen gerichtete Ergänzung in dem Unionsverein. Der Unionsverein sog nach und nach den Pastoralverein gänzlich in sich auf, und wurde immermehr ein engerer Kreis von Vorkämpfern, in demselben Grade als es bei der stür­ misch und terroristisch vorschreitenden Restauration für die Geistlichen be­ denklicher wurde, Versammlungen solcher Richtung zu besuchen. Dieser Unionsvcrein setzte es sich bekanntlich zur Aufgabe, für die von der Orthodoxie und den Kirchenbehörden gefährdete Union practisch einzu­ treten, und für die Verwirklichung der Organisation der Kirche zu arbeiten, für welche man endlich in dem fünfzehnten Artikel der Staats­ verfassung eine rechtliche Bürgschaft erlangt hatte: und der Verein hat nicht nur in seiner Kirchenzeitung unablässig für dies Ziel gestritten, er hat auch die feindseligen Bestrebungen und Maßnahmen Schritt für Schritt verfolgt, und hat sich durch seinen Ausschuß von 1848—1858, so oft ein Anlaß vorlag, mit Vorstellungen, Denkschriften und Petitionen an die Kirchen- und Staatsbehörden an den König und die Kammern gewendet, um die Union zu erhalten und Selbständigkeit der Kirche zu bewirken. Von allen diesen Bestrebungen war Jonas recht eigentlich die Seele. Er hat in unsere kirchlichen Zeitungen nur selten einmal etwas geschrieben: sein unüberwindliches Bedürfniß Allem, was er in den Druck ausgehen ließ, eine solche formelle Vollendung zu geben, daß er nicht das Geringste mehr daran zu ändern wüßte, hinderte ihn an der leichtfüßigen Schriftstellerei eines Journals sich thätig zu betheiligen. Und doch hat für die Kirchenzeitung kein Mitarbeiter so viel gethan als Jonas. Er hat der Redaktion von Anfang bis zu Ende beigestandcn mit Rath und That. Es ist in den vierzehn Jahren Wohl kaum eine Arbeit, welche für die Stellung der gemeinsamen Sache von Be­ deutung war, in die Oeffentlichkeit ausgegangen, die nicht zuvor seinem besonnenen Urtheil vorgelegen hätte. Er stand gleichsam da, wie das Gewissen der Genossenschaft; er wachte mit strengstem Auge über, die Reinheit der Bestrebungen int Innern und über die sitttliche Haltung des Kampfes gegen die Gegner. Sein Dasein und sein Name bezeich-

Ludwig IonaS.

399

ncten Unwillkürlich die Bahn der Zeitschriften: und es haben später in den Confercnzen, welche die Freunde der protestantischen Kirchcnzeitung alljährlich ziisaimnensührten, auch Fernerstehcnde Gelegenheit gehabt, wahrzunehmen, wie der Schwerpunkt der Kirchenzeitung in Jonas ge­ legen war, und cs unmöglich gewescu wäre ihre gerade Bahn auch nur zu biegen, so lange er sich zu ihr bekannte. Auch von den Denkschriften und Petitionen hat Jonas weniges geschrieben, aber auch in diesen ganz vorncmlich war Jonas der eigentliche Träger. Es kam ja Alles zu Stande unter seinem Rath und seiner Leitung; es ist kein Schritt geschehen, der nicht entweder von ihm veranlaßt worden wäre, oder doch vor der Ausführung die nachhaltigste Kritik seiner eminenten Besonnen­ heit erfahren hätte. Es wußten ja auch nicht blos die Freunde, es war ebenso allen denjenigen Stellen bekannt, gegen welche diese Schritte gerichtet wurden, daß Jonas der Träger derselben war, und für jeden derselben zunächst mit seiner Person einzustehen bereit sei. Jonas ließ es niemals zu, daß für die gemeinsame Sache ein Schritt gethan wurde, den man hätte zurückthun müssen: er war unerschöpflich im Zaudern und Zurückhalten, wo ihm die Sache noch nicht richtig oder der Zeitpunkt noch nicht gekommen schien; er ließ sich durch keine Un­ geduld der Freunde noch durch Besorgniß um Gefahren bestimmen etwas Uebereiltcs zu thun: und wenn er sich mit seinem Gewicht einer Sache hindernd in den Weg legte, so versuchten es die Freunde sicher­ lich nicht über ihn hinwegzuschrciten. Was er aber zu Gunsten der gemeinsamen Sache für geboten hielt, da gab es in aller Welt auch fein Mittel und keine Macht, die ihn hätte bewegen können es zu unter­ lassen; er fragte nichts nach der Zahl und Macht der Gegner, und wie viele Freunde mit ihm gingen oder wie wenige, er ging eben den richtig erkannten- Weg und stellte alles klebrige Gott anheim. Wenn dann so nach reifer Erwägung in Weisheit und Besonnenheit ein gemeinsamer Schritt zu Stande gekommen war, dann war Jonas nicht nur der Vorderste ihn zu vertreten, er war auch in der Ausdauer für die ge­ meinsame Sache nicht zu ermüden. Wie er es nie zu eilig hatte mit der gemeinsamen That, so kannte er noch weniger Ungeduld in Bezug auf den Erfolg. Er begehrte ja nichts für sich, der reinste Eifer für die Gestaltung der Kirche beseelte ihn, und darum täuschte er sich nie­ mals über die geringe Aussicht auf baldigen Erfolg seiner Arbeit; er hat eö oft genug ausgesprochen, daß er nichts erleben werde von dem, wofür wir gemeinsam wirkten. Dem glühenden Eifer daS Rechte für die Kirche zu wirken ging eine unbeschreibliche Gelassenheit zur Seite.

Sammlung ausgewählter Schristfliicke.

400

Er konnte warten, er konnte ein ganzes Leben hindurch warten,, ohne den Erfolg zu sehen, die Ungeduld würde ihn niemals verleitet haben, einen unsittlichen Schritt zu thun, um den Erfolg zu beschleunigen. Wie ein Moses stand er da, der sein Volk durch die Wüste führt, feurigen Gemüths, voll Sehnsucht nach dem gelobten Lande, aber Alles so leitend, daß die ©einigen fähig würden, in das Land einzugehen, nichts übereilend, wenn auch der Genosse» immer weniger würden, und ihm selber niemals vergönnt würde das ersehnte 'Land zu betreten. Je mehr cs deshalb in der Kirche Winter wurde, und die Last des traditionellen Kirchenthums alles Leben erstarrte, je mehr eö des­ halb nur darauf ankommen konnte, die äußersten Uebel zu verhüten, und den Samen des freien Protestantismus in die Zukunft hinüber zu retten, desto nachdrücklicher legte Jonas seine sittliche Kraft in den Kreis der engeren Genossenschaft. Um das gemeinsame Organ und durch gemeinsames öffentliches Handeln hatte sich von 1846 her, ein engerer Kreis von Freunden gebildet, zu welchem Jonas der Mittel­ punkt war.

Das war eine Freundschaft, wie sie nicht alle Tage vor­

kommt; und wen Gott gewürdigt hat diesem Kreise anzugehören, der wird für das ganze Leben von unaussprechlichem Dank erfüllt sein, als für das Beste, was ihm zu Theil geworden. In diesem Kreise galt nichts als die gemeinsame Sache, an der gemeinsamen Sache und für die gemeinsame Sache entwickelten sich die Gedanken der Genossen. Was der gemeinsamen Sache nicht förderlich erschien, mochte es noch so geistreich sein, es wurde verworfen, und wenn es auch treffen mochte, daß sein Gedanke, sein Vorschlag, seine Arbeit verworfen wurde. Jeder fügte sich willig dem gemeinsamen Spruch. Kleinliche persönliche Eitel­ keit auf geistreiche Einfälle oder originelle Erfindung hatten in diesem Kreis kein Recht: und wenn noch in Irgend Einem etwas von solcher Neigung gewesen wäre, Jonas hätte sie ihm mit seiner objektiven Hal­ tung ausgetrieben. Jonas ging ja in Selbstverläugnung voran, indem er, der in dogmatischen Grundanschauungen allerdings an einer gewissen Unbeweglichkeit litt, in Bezug auf die kirchlichen Fragen stets bereit war, nicht stichhaltige Gedanken fallen zu lassen, und die Gedanken der Freunde, welche die gemeinsame Sache weiter entwickelten sich anzueignen. Es war aber nicht eine solche Unterwerfung unter einen gemeinsamen Zweck, welche die freie Bethätigung der Individualität hinderte. Sehr verschiedene scharf ausgeprägte Eigenthümlichkeiten, welche in ihren dogmatischen Anschauungen bis in die Principien hinein weit ausein­ ander gingen, waren hier beisammen, und die Anschauungen geriethen

nicht selten in den lebhaftesten Kampf: aber Niemand begehrte der Anschauung des Andern Gewalt anzuthun; es herrschte der heiligste Respect vor dem Recht der freien persönlichen Entwicklung, und Niemand war tiefer von der Scheu durchdrungen, einen Eingriff in des Andern Persönlichkeit zu thun, als unser Jonas. Je frischer und freudiger Jemand seine persönliche Ueberzeugung geltend machte, je energischer er sie ihm gegenüber vertrat, desto mehr stieg sein Werth in den Augen unsers Jonas.

Die

Freunde standen zuweilen

in dem lebhaftesten

Kampf mit einander, und Niemand scheute sich, seinen ganzen Gedanken herauszusprechen, aber dieser Streit störte nicht die Freundschaft, er er­ höhte dieselbe, denn jedesmal kam in demselben die Hingebung Aller an die gemeinsame Sache um so deutlicher zum Vorschein. Am wenig­ sten konnte darum irgend Einem einfallen den Kreis

oder die Sache

zu. verlassen, aus dieser oder jener persönlichen Rücksicht, oder weil ihm sein Wille nicht geschehen: das würde Jonas für ein unmännliches Verfahren gehalten haben. Das hatte er aber auch nicht zu befürchten, er war ja von vorne herein bemüht. Alle zur vollen Mannhaftigkeit herauf zu bilden, daß sie für Gemeinleben und Gemeinwirken tüchtig wäre», und Alle wußten, was sie an Jonas hatten. Weil er keine Ehre für sich suchte von den Genossen, und nichts begehrte durch seine Ge­ meinschaft, als daß in Jedem seine ganze eigenthümliche Persönlichkeit mit allen ihren Kräften zur vollen Entfaltung komme, weil er in Jedem stets nur den ebenbürtigen und gleichberechtigten Freund sehen und nichts in ihm wirken oder bewirken mochte, was nicht durch die Wahrheit seines Gedankens oder durch die Ueberlegenheit seines sittlichen Characters unwillkürlich bewirkt wurde: darum waren ihm auch die Freunde und Genossen mit unwandelbarer Treue und mit unbeschreiblicher Liebe und Verehrung zugethan. Er galt ja bei Allen als der Beste, Reinste, Tiefste und Größeste, und wie Jeder geneigt war seinem Urtheil sich zu fügen, wo es nicht billigend ausfiel, so war Jeder hoch erfreut, wenn er aus Jonassens Munde ein Wort der Billigung oder des Lobes hören konnte. Ein Freund, der der Sache sehr ernst ergeben ist, gestand, daß ihm in allen Dingen gemeinsamer Ueberzeugung das Urtheil von Jonas von entscheidender Bedeutung sei, und daß er in seiner Seele nie glücklicher gewesen wäre, als wenn Jonas ihm gesagt, das hast dn gut gemacht, das hast du so gemacht, wie ich es gemacht haben würde. Und dies Geständniß gilt für alle näheren Freunde: Jonas war ja der, den keiner überwuchs, Jonas war ja der unbestechliche sittliche Regu­ lator des Kreises. Lpoelh, Plotkstontlsche B.iilsleine.

Sammlung ausgewählt«- SchrWinle.

402

Dieser Genossenschaft froh, und durch deren gleiche Viebe für die gemeinsame Sache allezeit erquickt

und getröstet hat

Jonas seinen

schweren Kampf für die bedrängte Union mit starker Hand gegen das moderne Kirchenthum geführt. Und fürwahr, seine starken Hände waren erforderlich für solche Arbeit: wer will sagen, wie lvcit die kirchliche Restauration vorgeschritten wäre, wenn ihr nicht dieser Fels im Wege gestanden hätte. Die Gegner tonnten ihn so gut wie die Freunde, sie wußten, daß seine Kraft unberechenbar war, wenn sie sie zum völligen Losbruch reizten; sie wußten, daß keine Stelle der Welt vor seinem persönlichen Erscheinen sicher war, wenn es die Sache gebot; sie wußten daß er sich im durch die sich

gewinnen

Mann

öffentlichen Kampf keine

Reinheit und werde.

persönlich

Hoheit

Darum

anzutasten,

seines haben und

Blößen

geben, 'vielmehr

Characters sie

sich

es

alles

niemals

allezeit

Volk für

gewagt

gescheut,



den zum

offenen und öffentlichen Kampf mit ihm zu bringen. Ja es haben von diesen Gegnern, welche in die confcssionelle hochkirchliche Bahn gerathen waren. Einige freimüthig bekannt, daß sie trotz des schärf­ sten Gegensatzes für den Mann eine unauslöschliche Liebe im Herzen trügen. Zu seiner Wirksamkeit für die Kirche gehört auch seine politische Thätigkeit. Jonas war auch ohnedies ein politischer Mann. Die groß­ artigen Bestrebungen seiner Jugend, die politisch-nationale Bedeutung Schleiermachers hatten ihn so gebildet, daß es ihm unmöglich war sich nicht an allen Bewegungen des nationalen Lebens zu betheiligen. Sein Herz gehörte dem Vaterlande wie der Kirche. ES war sein ernstes Bestreben, ein guter und bewußter Bürger des Staates zu sein, und er hatte sich für alle großen Fragen eine ausgebildete politische An­ schauung angeeignet. Darum verschmähte er es auch nicht, als es sich darum handelte, daß die Vesten sich der Sache des innerlich bedrängten Vaterlandes annähmen, dem Ruf desselben zum zweiten Male zu folgen und sich 1848 in die preußische Nationalversammlung wählen zu lassen. Er ist damals als Redner wenig öffentlich hervorgetreten, die damali­ gen Zustände und die damalige Handlung ließen ihn nicht zur ganzen Freudigkeit kommen: aber die llnbeweglichtcit seiner politischen An­ schauung und die Nnerschüttcrlichkeit seines CharacterS ist Allen kund geworden; solch' eine Bewegung wie die des Jahres 1848 vermochte an seinen politischen und sittlichen Grundsätzen nichts zu ändern. Die Schwierigkeit eine derartige politische Thätigkeit mit seinen amtlichen Funktionen zu vereinigen würde ihn in späteren Jahren bestimmt haben

Suhvifi

403

su'iuiS.

fein Mandat wieder anzunehmen, wenn nicht schon seine politische Richtung in dem Stadium der Reaction das verhindert hätte. Nur das Interesse für die evangelische Kirche konnte ihn bewegen, feint Be­ denken zu überwinden. Er sah die Angelegenheiten auf das Geschickteste in der Kammer vertreten, während nur wenige Männer gefunden wur­ den, welche mit dem Interesse Sach- und Fachkunde genug verbanden, um die gegenwärtig so wichtige politische Seite der evangelischen Kirchenfrage im freien protestantischen Sinne durchzufechten. Darum stellte er sieh 1858 der Berliner Wahlmannschaft zur Disposition, und ging als Abgeordneter für Berlin in die zweite Kammer. Er hat auch in dieser Session nicht viel öffentlich geredet, waö er aber für die Sache gewirkt, durch seine Thätigkeit in der Fraction und in den Commissionen, wie er das Interesse für die Sache in den Mitgliedern derselben er­ weckt, und wie er durch seine streng sittliche Politik und durch seine charactervolle Haltung eine Macht in der Kammer zu werden begann, welche den Einen Ehrfurcht, den Andern Respect einflößte, das ist allen Betheiligten und Kundigen in frischer Erinnerung; seine Genossen wer­ den Alle die ernste und freundliche Erscheinung des würdigen charactersesteii, Ehrfurcht gebietenden Mannes, wenn sie wieder ihre Plätze ein­ nehmen, mit Schmerz vermissen. Zum vollständigen Bilde unseres Jonas gehört noch ein wesent­ licher Zug, der eigentliche Schlüssel zu seinem Verständniß, das ist seine Stellung zur Schleiermacherschen Theologie und seine Thätigkeit für dieselbe. Als er noch in Pommern war, rieth ihm Schleiermacher in einem Brief, daß er sich eine bestimmte wissenschaft­ liche Aufgabe stelle» solle, da die Thätigkeit an einer Landgemeinde seine geistigen Kräfte unmöglich genügend beschäftigen könne. Jonas hatte sich indeß wohl schon seine wissenschaftliche Aufgabe gestellt, aller­ dings in einem andern Sinne; er hat, wie es scheint, seinen ländlichen Aufenthalt dazu benutzt, sich die Schleiermachersche Theologie vollkom­ men anzueignen, ntnb nach allen Richtungen hin, in seinem Geiste durchzuarbeiten. Da§ Resultat wenigstens spricht für diese Vermuthung, denn seit er hier in Berlin aufgetreten ist, erschien er nicht nur von der Schleiermacherschen Denkweise völlig durchdrungen, sondern hatte sich auch den gesammten Gedankenkreis des großen Lehrers in einem solchen Maße zn eigen gemacht, daß er mit. größter Sicherheit über das Material desselben verfügte. Jonas war nicht nur in unauslösch­ licher Verebruug der Person des großen Lehrers, sondern auch seinen 26*

404

Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

Anschauungen im Großen und Ganzen völlig hingegeben, ohne jeroch kleinlich an seinen Formeln zu hangen; und es ist ihm keine nachfol­ gende Erscheinung so mächtig geworden, daß sie ihn hätte bewegen können, von seiner ersten Liebe zu lassen. Bei lebendigerem Berkehr sn Berlin konnte das Schleiermachern nicht verborgen bleiben;

er er­

kannte nun Wohl in rem zum Manne gereiften Jonas den bedeutendsten und zuverlässigsten Träger seines Geistes, und vertraute es ihm daher an seiner wissenschaftlichen Thätigkeit diejenige Wirksamkeit zu ver­ schaffen, zu welcher sie noch für die Zukunft berufen war. Er ver­ traute ihm seinen wissenschaftlichen Nachlaß an, und überließ es ihm zu entscheiden, was er davon für würdig halten werde, auf die Nach­ welt zu gelangen.

Jonas'hatte die Anschauung von Schleiermachers

Bedeutung, und gewann sie durch Einsicht in den Nachlaß immer mehr, daß seine wissenschaftlichen Schöpfungen noch eine Mission für lange Zeiten haben, und daß es daher geboten sei, dieselben in möglichster Vollständigkeit der wissenschaftlichen Welt vorzulegen. Er machte sich daher die Herausgabe sämmtlicher Schleiermacherschen Werke zu seiner wissenschaftlichen

Lebensaufgabe.

Wie er diese Aufgabe gelöst, liegt

öffentlich zu Tage. Es wurde auch bei dieser Thätigkeit seine außer­ ordentliche Strenge und Gewissenhaftigkeit kund, die sich niemals genug thut: die von ihm selber bearbeiteten Werke, namentlich die Dialektik und die Sittenlehre, tragen den Stempel einer so hohen formellen Vollendung an sich, daß sie den von Schlcicrmacher selbst herausgege­ benen Werken durchaus ebenbürtig erscheinen, und Manche sogar be­ haupten, daß sie dieselben an Präcision übertreffen. Es ist ein Irrthum wenn neuerlich behauptet ist, daß mit dem Eintreten der kirchlichen Parteikämpfe im Jahre 1846 die Herausgabe der Schleiermacherschen Werke ins Stocken gerathen sei. Es sind ja seitdem noch mehrere bedeutende Werke erschienen; und wenn Anderes nicht erschienen ist, so hat das theils seinen Grund in Mangel an Material, theils weil die Sach- und Fachkundigen, denen z. B. die exegetischen Schriften über­ geben waren, erklärten, daß der wesentlichste Gehalt derselben schon durch die Arbeiten von Schleiermachers Schülern erledigt sei. Wie wenig Jonas seine Aufgabe aus den Augen verlor, erhellt daraus, daß

er

noch in den letzten Jahren trotz Ueberbürdung mit amtlicben Arbeiten unermüdlich in den Nachtstunden damit beschäftigt war, die andere Hälfte der Schleiermacherschen Briefe als Ergänzungen zu den schon mitgetheilten für die Veröffentlichung zuzubereiten, die hoffentlich bald erfolgen wird.

Ludwig Jona-. Ionas faßte Wiewohl

405

indeß diese seine Aufgabe noch

er nämljch große Stücke

hielt

auf die

hoher

und tiefer.

Schleiermachersche

Wissenschaft, und große Hoffnungen hegte für ihre zukünftige Mission, so legte er doch noch größeren Werth auf den Schleiermacherschen Geist. Der Geist tiefer unwandelbarer Frömmigkeit, der aus Gottinnigkeit und Gottgebundenheit die größeste Freiheit gegen alles Endliche und Menschliche erzeugt; der Geist ächter protestantischer Freiheit im Glau­ ben und Denken und Leben; der Geist strenger und reiner Sittlichkeit, der überall bemüht ist, alle großen sittlichen Sphären, Wissenschaft und Staatsleben und Kirche zu umfassen; dieser tiefe, reine, große und weitherzige Geist, der in Schlciermacher lebte und der in Jonas seinen edelsten persönlichen Ausdruck gefunden hatte: dieser Geist wurde ihm immer bedeutungsvoller, je mehr derselbe aus der Kirche verbannt wurde, je kleiner, kleinlicher und engherziger die Zeiten und Menschen wurden. So fühlte denn Jonas seine Mission: diesen Geist in seiner Person und in seiner Wirksamkeit durch dürre und dürftige Zeiten hindurch­ zutragen. Er hat das heilige Feuer solchen Geistes in seinen Freunden genährt und gekräftigt; er hat die Funken desselben hineingeworfen in alle Kreise, mit welchen ihn seine Thätigkeit in Berührung brachte; er hat den Samen des Geistes in jugendliche Gemüther gestreut, wo ihm nur immer Empfängliche entgegenkamen, und seine Saaten sind in vielen Seelen aufgegangen. Für diese Thätigkeit gab es einen Tag von eigenthümlicher Bedeutung. Der Tag war unserm Jonas wohl der liebste im ganzen Jahr und manchen Freunden mit ihm, das war der 21. November, Schleiermachers Geburtstag. An dem Abend dieses Tages, wenn sich die Freunde und Verehrer Schleiermachers ver­ sammelten, stand Jonas in ihrer Mitte als die Tradition Schleiermacherschcr Theologie, als der persönliche Träger Schleiermacherschen Geistes. Ich habe Jonas nie größer, nie herrlicher, nie mächtiger ge­ sehen. An diesen Abenden faßte Jonas alle Strahlen seines Characters und Geistes in den Brennpuntt zusammen, jedes Wort was er sprach war voll Geist und Kraft, und in jedem Zuge erschien dann der vollkommene, seiner selbst schlechthin mächtige Mann. Und wenn dann um Mitternacht aus dem größeren Kreise ein engerer zurückblieb, dann pflegte Jonas zum zweiten Male sein Amt zu verwalten. Dann hat er in der Nacht zu den näheren und zu den jüngeren Freunden Worte heiligen Gedächtnisses geredet, dann hat er dagestanden wie ein Hoherpriester, der da verkündet, was er im Heiligthum geschaut.

Und die­

jenigen, welche an diesen heiligen Weihestunden Theil genommen, haben

406 sie

Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

tief

in

ihr

Herz

gegraben

mit

unverlöschlicber

Schrift,

und

werden in allen Schickungen ihres Gebens den Ionas nicht vergessen, dessen Antlitz sie in solchen Stunden geschaut und an dessen kippen sie gehangen haben. Fürwahr, unser Jonas war ein Großer und Gewaltiger. Er mußte aber auch groß sein, denn Gott hatte eine große Last auf seine Schul­ tern gelegt. Ein ganzes Vierteljahrhundert hindurch dem Strom der kirchlichen Restauration sich entgegen zu stellen, und den Geist freier protestantischer Religiosität, sowie den Gedanken kirchlicher Union und Organisation durch das Meer

und die Wüste des modernen Kirchen­

thums auf seinen starken Schultern hindurchzutragen, das war die Mis­ sion, die ihm Gott auferlegt, und er hat das göttliche Gebot treu er­ füllt, bis an den letzten Tag seines Lebens. Winter bald einen warmen Frühling,

daß

Gebe Gott nach langem die Saaten wachsen

und

gedeihen mögen, welche der treue Säemann ausgestreut hat. Das Ge­ dächtniß aber des getreuen und frommen Knechtes bleibe in Ehren und Segen!

Gruß. Wachet und betet, auf daß ihr nicht in Anfechtung fallet. Denn der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach. Mit trüben Gedanken gehen wir dem kommenden Jahre entgegen, in ernsten Zügen steht vor unsern Augen die Zukunft. Was ist es denn, das so trübe Gedanken uns macht? Ist eö die bbse Perfassung, in der sich unser kirchliches Wesen noch immer befindet? Daß die evangelische Kirche von der ihr durch die Staatsverfassnngen verbürgten Selbständigkeit noch immer nichts, gar nichts erreicht hat? Daß sie von einer ihrem Wesen entsprechenden Verfassung ferner ist als vielleicht je, und in diesem Augenblick auf Verfassung gar keine Aussicht hat, wenn nicht auf eine unevangclische? Daß Parteien die Kirche inwendig zerreißen, und bei dem Mangel evangelischer Verfassung und evangelischen Regiments sie sichern Spal> tungeit entgegenführen?

Gruß

407

Selbstänrigleit, d. h. Unabhängigkeit vom Staate zur freien Selbstbewegung ist die Lebenslust der Kirche, ohne die sie nicht athmen mag. Evangelische Berfassung ist ihr Leib, dessen der Geist bedarf um wirk­ sam zu werc-en. Einheit ist so sehr ihr Grundtrieb, daß alle Spal­ tung ihr Wesen verleugnet. Aber so hoch diese Güter uns stehen, so schmerzlich wir den Mangel empfinden, so hat doch diese Zeit Uebel in ihrem Schooß, gegen die sie als unbedeutende Mängel in den Hinter­ grund treten. Ist es die drohende Macht des Katholizismus? Daß Rom eine Kraft entfaltet wie seit Jahrhunderten nicht? Daß es seine alten Be­ sitzungen wiedererobert, und seine Vorposten vorschiebt bis in das Herz der protestantischen Kirche Daß viele Gemüther unter uns von dem Glanze seiner Erscheinung angezogen werden, und unser ganzes Kirchen­ wesen in Gefahr ist sich römisch zu färben? Wir verhehlen cs uns nicht, der Katholizismus hat derzeit gute Aussichten. Er findet immer seine natürlichen Bundesgenossen an der großen Masse derer, die ohne Wiedergeburt der Gesinnung durch aller­ lei Aeußcrlichkciten sich mit Gott abfinden mögen; er findet überall seine natürlichen Bundesgenossen an allen, welche äußere Autorität und Gewalt für die Mächte halten, die die Welt zu regieren haben. Und dieser Zusammenhang des Katholizismus mit jeder Art solcher Gewalt­ herrschaft, und des Protestantismus mit jederlei Freiheit der Kinder Gottes wird gegenwärtig tiefer erkannt und gründlicher beherzigt als je zuvor. Darum bietet die gegenwärtige Weltlage dem Katholizismus alle Freiheit sich auszubreiten, während sie dem Protestantismus alle Hindernisse in den Weg legt. Darum' fallen so viele hochgeborne und hochgestellte dem Katholizismus zu. Darum ist die ganze evangelische Kirche in Gefahr, von Seiten derer, welche die Aeußcrlichkeit und die Gewalt lieb haben, in eine Form gebracht zu werden, die sie im Wesen der römischen gleich machen würde, möchten anch alle Bezeichnungen evangelische bleiben. Wir leugnen cs nicht, der Streit zwischen Katholi­ zismus und Protestantismus,

zwischen Gewalt und Freiheit, zwischen

Autorität und Gewissen ist ein gewaltig ernster. nicht, jeder Sieg, den die Gewalt, die Autorität,

Wir verhehlen es der Katholizismus

über evangelische Freiheit erringt, erfüllt unsre Seele mit Trauer. Aber das ist es nicht, was uns den Blick fesselt: der Ernst der Zeiten ist viel gewaltiger nock. Wir schauen eine finstre Gestalt, vor deren Zügen wir uns entsetzen.

Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

408

Aus dem Abgrunde der Bosheit hat der Antichrist sein schwarzes Haupt erhoben, daß wir sein Gesicht deutlich wahrnehme», und hat seine Arme ausgebreitet über Europa. In den Völkern herrscht weit

und breit roher Unglaube.

Der

Unglaube der rohen Masse ist das

natürliche Herz, dem noch

nicht

die Stunde der Wiedergeburt durch die Gnade Gottes in wandelt zu werden.

geschlagen hat; ihm steht noch bevor Glauben und sittliches Leben umge­

Der Unglaube der rohen Masse ist noch nicht der

Antichrist. Die offenbaren Feinde der Kirche mehren

sich

alle Tage.

Sie

lästern alles was Kirche heißt, und verfolgen alles, was zur Kirche ge­ hört. Aber viele von ihnen stoßen sich nur an der Knechtsgestalt der Kirche, sie sündigen wider den Menschensohn, und diese Sünde wird ihnen vergeben werden.

Jesus selber betet für sie — „Vater vergieb

ihnen, denn sie wissen nicht was sie thun." Sie werden sich bekehren, wenn sie den heiligen Geist werden wahrnehmen in der Kirche. Wie einst Saulus der Verfolger der Kirche sich bekehrte, als ihm der Menschensohn in der Herrlichkeit des Sohnes Gottes entgegenleuchtete. Die offenbaren Feinde der Kirche sind noch nicht der Antichrist. Der Antichrist sündiget wider den heiligen Geist; der Antichrist ist ein Kind des Satans und kleidet sich als ein Engel des LichtS; der Antichrist ist der vollendete Heuchler. Die welche im Namen des Christenthums Christum und seine Jünger verfolgen, die welche zur Ehre Gottes alles was göttlichen Ursprungs ist vernichten: das ist der Antichrist. Im Namen Christi speisen sie die Hungrigen, und tränken die Durstigen: sie die den Armen unerhörte Lasten auflegen, die sie selber mit keinem Finger anrühren. Im Namen Christi kleiden sich die nackten Waisen und bauen den Wittwen Häuser: sie die unablässig Wittwen machen und die Waisen mehren. Ihr Heuchler, wie könnt ihr Gutes thun, so ihr doch selber arg seid.

Der Herr wird zu euch sprechen:

weichet von

mir ihr Uebel­

thäter, ich habe euch nie erkannt. Im Namen Christi predigen sie dem Volke Gehorsam gegen das Gesetz und Vertrauen gegen die Obrigkeit: sie die alles Recht und Gesetz mit Füßen

treten,

und

durch Eidbrüchigkeit alles Vertrauen

vernichten. Wehe euch, ihr Uebelthäter, die ihr Gottes heilige Ordnungen zcr-

409

©uifi.

tretet, und verführet auch das Volk zu gleicher Uebertretung. Ihr werdet zwiefältige Pein leiden, für eure Uebertretung, und für das Volk das ihr verführt habt. Den Namen Christi breiten sie aus

über alle Lande:

sie die

die Wahrheit aller Orten unterdrücken, und jeden, der ans der Wahr­ heit ist und von der Wahrheit zeugt, verfolgen. Die Kirche Christi machen sie hoch und herrlich; sie die Nieman­ den dulden mögen in der Kirche, der in der Freiheit der Kinder Gottes steht und sich allein regieren läßt vom heiligen Geist. Verlorne Seelen wollen sie retten in das Reich Gottes: sie die selber Kinder der Finsterniß sind und des Verderbens. Ihr Otterngezüchte, wer hat euch denn gewiesen, daß ihr dem ewigen Zorne entrinnen werdet. Ihr schließt andern das Himmelreich zu, und kommt selbst nicht hinein. Der Geist der Lüge hat in Europa sein Haupt erhoben. Das ist es, was uns mit Entsetzen erfüllt. Der Vater der Lüge hat seine Propheten ausgesendet, daß sie in heuchlerischer Larve die ersten Grundlagen der göttlichen Weltordnung Recht, Wahrheit und Sittlichkeit untergraben. In einem leuchtenden Beispiele charalterisirt sich die ganze furcht­ bare Lage der europäischen Welt. Ein Mensch in Frankreich, der alles, was Ehre und Gewissen heißt, von sich abgethan, der Recht und Wahrheit mit nie gesehener Unver­ schämtheit verhöhnt: der ist es der die Gottesdienste fördert und die Kirche unterstützt wie kein andrer. Und die Kirche, welche sich die allein seligmachende nennt, hebt ihre Hände im Gebet empor für das Gelingen der Pläne dieses Menschen, und verkündiget Sündenvergebung denen, die zu solchem gotteslästerlichen Gebet sich entschließen. Und un­ zählige Stimmen durch ganz Europa jauchzen der größten Schandthat, die in unserm Jahrhundert geschehen, ihren Beifall zli. Nicht weniger der Lüge ist im übrigen Europa, nur noch nicht so offenbar. Darum verziehet Gott noch eine Weile mit seinen Gerichten, daß die Lüge Zeit habe an alle» Orten ihr Maß voll zu machen und in ganzer Nacktheit sich zu offenbaren. Furchtbar werden die Gerichte sein, die über Europa kommen müssen. Denn die Strafgerechtigkeit Gottes geht ihren unwiderruflichen Gang.

So hoch du den Stein in die Höhe

wirfst:

so

tief fällt

er

herab. Furchtbare Tage werden über uns kommen um unsrer Bos­ heit willen: wehe denen, durch die sie kommen.

410

Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

Die Menschen hatten sich ein Haus gebaut, artig

und

stattlich

und

groß­

wohleingerichtet, und meinten darin bequem und sicher zu

wohnen. "Aber siehe ein leiser Abendwind tam, und erschütterte das Haus bis in seine Grundvesten.

Denn eS war auf den Land gebaut und

seine Wände und sein Dach von leichtem Rohr.

Da erschraken

die

Menschen sehr, und nahmen sich vor, das Haus fester zu machen. Sie erhöheten den Sand des Fundaments und Wanden und auf dem Dache.

mehrten das Rohr in den

Was geschah?

Der nächste Wind zer­

schmetterte das ganze Hans. Ihr Thoren. Der Herr wird euren Kinderbau mit dem Hauch seines

Mundes

hinwegblasen

wie ein Kartenhaus.

Er wird

euren

Vügentempel zerschmeißen wie einen irdenen Topf, daß kein Stein auf dem andern bleibt. Der Herr wird alle irdischen Fundamente hinwegnehmen und alle Verhältnisse der Welt durcheinander schütteln.

Die Drangsale werden

groß sein, daß man sich wünschen wird nie geboren zu sein. So laßt uns denn würdig den schweren Zeiten entgegengehn. Gott wollte an Sodom und Gomorrha die Zerstörung vorübergehen lassen, wenn nur einige Gerechte in

ihnen gefunden

würden.

So

auch unser Volk vor dem Untergang bewahren, so lange eine Anzahl Gerechter in seinem Schooß birgt. Könnte

wird

er

es noch die Ge­

rechtigkeit in ihm ersterben: so wäre es sicher dem Verderben geweiht. Darum, soll das Feuer nicht ein Feuer der Vernichtung werden, sondern der Läuterung zur Erlösung unsres Volts von seinen Sünden: so muß die Gerechtigkeit zunehmen in allen die noch Gott fürchten; der schwache Funken der Gerechtigkeit, der noch lebt in gottesfürchtigen Herzen, muß angeblasen werden zu einer mächtigen Flamme. Wie der tapfre Krieger am Tage der Schlacht seine Seele Gott befiehlt: so müsse ein jeder von uns im Angesichte des drohenden Un­ wetters das heilige Gelübde thun, ganz und unbedingt sich Gott zu ergeben. Gott mehr gehorchen als den Menschen, Gottes Worten unbedingt folgen,

an

Wegen

niemals

Gottes

Ordnungen

weichen,

was

unverbrüchlich auch

die

halten,

Menschen

von

sagen

seinen mögen.

Uud willig die beiden über sich nehmen, die um der Wahrheit willen kommen. Wer ein Glied der Obrigkeit ist: der müsse das rechtmäßige Ge­ setz halten und schützen mit eisernem Arme, möchte auch alle Welt-sich dawider empören,

sollte er auch Rüb

und Vcfreii darüber

einbüßen.

411

Gruß

Denn er ist von Gott gesetzet 3um Wächter des Gesetzes, und seiner Seele Seligkeit hängt an der treuen Erfüllung seines Berufes. Wer ein Richter ist, der spreche Recht nach dem

rechtmäßigen

Gesetz unter allen Umständen: und gehe lieber um der Gerechtigkeit willen in das Gefängniß, als in die Qualeu des bösen Gewissens. Wer ein Unterthan ist, der than dem rechtmäßigen Gesetz: drehen

und deuten,

und

sei unter allen Berhältuissen Unter­ möchten auch Obrigkeiten das Gesetz

Richter das Recht beugen.

Denn Obrig­

keiten und Richter können seine Seele nicht retten vor der gewaltigen Hand des richtenden Gottes. Er lasse sich lieber zum Lande hinaus­ jagen, als daß er das Land verderben helfe durch Ungerechtigkeit. Wer ein Prediger des Evangeliums ist durch die Gnade Gottes: der

soll unter allen Umständen

nach seinem Gewissen,

nicht

das Wort Gottes frei verkündigen,

wie die Menschen cs

vorschreiben, und

nichts verschweigen und nichts dazuthun aus Menschenfnrcht- Der soll die Sünden mannhaft strafen, der Kleinen nicht nur, sondern auch der Großen; der soll das Heiligthum hüten vor der Entweihung, nicht nur der kleinen sondern auch der großen Frevler. Denn Gott hat ihn be­ rufen zum Propheten seines Willens, nicht zu reden, wie den Menschen die Ohren jüäen. Und wenn sie ihn darüber verfolgen, so soll er wissen, daß der Schüler nicht ist über den Meister, und Gott danken, der ihn würdigt für seine Wahrheit zu leiden. Und wenn sie ihm das Amt der Bertündigung nehmen: so soll er wissen, daß durch Einen, der das Amt verliert um des Gewissens willen, das Reich Gottes mehr gefördert wird, als durch hundert, welche um des Amtes willen die Wahrheit beugen oder verschweigen. Täusche sich Niemand. Wer da will stehen in diesen Zeiten auf der Seite der Gerechtigkeit und Wahrheit: der muß den Kelch der Lei­ den trinken. Denn das ist die Ordnung der göttlichen Gerichte, daß sie an­ heben am Hause Gottes. Das ist das Gesetz der Leiden, daß der Gerechte leiden muß für das Voll.

Wie Jesus leiden mußte für die

Sünden der Welt: so müssen noch immer seine rechten Jünger zuerst das Kreuz auf sich nehmen, wo Gott Strafe verhängt über die Sünden eines Volkes. Wer mein Jünger sein will, der nehme sein Kreuz auf sich. Und wer nicht absagt allem das er hat, der lann nicht mein Jünger

sein.

Dies Wort Jesu gilt in demselben Maße für unsre Zeiten. Wer

412

Sammlung ausgewählter Schriftstücke.

es will wohl haben in dieser Zeit: der verzichte nur sofort auf die Ge­ rechtigkeit und Wahrheit. Und wer da halten will zu der Wahrheit und Gerechtigkeit: der verzichte nur sofort auf Wohlergehen. Da ist kein Vermitteln, es kommt für jeden der Punkt, wo er wird eins von beiden ergreifen müssen.

Denn die Lüge hasset den Gerechten, und ist

geschäftig jeden in die Entscheidung zu. drängen. gewähren.

Und Gott läßt sie

Denn er will wackere Streiter haben, die nicht gebnnden

sind durch die Netze weltlicher Behaglichkeit. Darum mache ein jeder, der die Gerechtigkeit lieb hat, bei Zeiten sein Herz los von den Dingen der Welt, und besitze sie so, als besäße er sie nicht; daß sie ihn nicht hindern an dem freien Lause auf dem Wege der Wahrheit. Darum sei ein jeder, der zu der Wahrheit hält, gefaßt ans

ein

voll gerüttelt Maß von Leiden; denn Leiden sind die nothwendige Taufe für die Jünger der Wahrheit. Wer aber um der Wahrheit willen Vater und Mutter und Häuser und Aecker und Ehre und Amt verläßt; der wisse, daß er alles solches im Reiche der Wahrheit hundertfältig wiederempfangen werde. Das Reich der Wahrheit ist ein beiliger Bund:

und

ihre Ge­

nossenschaft seliger als Mutterliebe. Die Kinder der Wahrheit sollen immer mehr von sich abthun die Fäden, durch welche sie noch zusainmenhaiigen mit dem Bündniß der Lüge, und immer enger sich zusammenschließen zu dem Bunde der Wahrheit. Nicht eine gemachte und gesuchte Verbindung: Gott wird die Wege zeigen seiner Zeit,

und

die Gerechten zusammenschmelzen

durch

das

heilige Feuer der Trübsal. Wer aus der Wahrheit ist, der halte sich zu denen, die aus der Wahrheit sind. Ein jeder fördre den andern in der Wahrheit. Ein jeder ermuntre den andern zum kräftigen Zeugniß für die Wahrheit durch Wort und That.

Ein jeder tröste und stütze den andern, wo die

Leiden der Wahrheit ihn treffen. Es handelt sich dermalen nicht um dies und das: es handelt sich um die

ersten

Grundlagen

der

göttlichen Weltordnung.

Ob Recht,

Wahrheit und Sittlichkeit ferner unter uns gelten sollen, oder ob wir der Lüge und Ungerechtigkeit die unbeschränkte Herrschaft einräumen wollen: das ist die entscheidende Wahl.

Werden wir treu erfunden,

so wird unser Volk gerettet, wenn auch durchs Feuer.

Werden wir

weichen: so geht das Volk ins Verderben, und wir mit ihm.

Brüder, wer aus der Wahrheit ist, lasset uns stehen zur Wahr­ heit unerschütterlich und zu einander. Lasset uns für den schweren Streit absagen allem das wir haben, und willig das Kreuz auf unS nehmen. Lasset uns im Angesicht der hereinbrechenden Nacht wachen beten, daß wir nicht in Anfechtung fallen;

und

denn der Geist ist willig,

aber das Fleisch ist schwach. Du aber Gott im Himmel,

erfülle

uns

mit

deinem Geist

der

Weisheit und der Kraft und der Zucht, daß wir nicht unterliegen in dem Streit; und wende gnädig das Verderben ab von uns und unserm Volke.