Propaganda des „Islamischen Staats“: Formen und Formate [1. Aufl.] 9783658287504, 9783658287511

Die Propaganda der terroristischen Miliz „Islamischer Staat“ hat für Aufsehen gesorgt und die Debatte um das Internet un

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German Pages VI, 411 [414] Year 2020

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Table of contents :
Front Matter ....Pages I-VI
Einführung: Der ‚Islamische Staat‘ und seine Propaganda (Bernd Zywietz)....Pages 1-20
Protest zwischen Aktivismus und Propaganda. Formen und Differenzierungen strategischer Protestkommunikation im Netz (Kathrin Fahlenbrach, Bernd Zywietz)....Pages 21-53
Vom Analogen ins Digitale. Eine kurze Geschichte der dschihadistischen Propaganda und ihrer Verbreitung (Martin Zabel)....Pages 55-74
Mediale Formen und Formate der IS-Propaganda. Ein Analyseansatz und Überblick (Bernd Zywietz)....Pages 75-137
Ṣalīl al-Ṣawārim: Ein Nashīd und seine Aneignungen (Larissa-Diana Fuhrmann, Alexandra Dick)....Pages 139-160
Playing Propaganda. Die Games-Appropriationen des IS (Andreas Rauscher)....Pages 161-184
Animationen in jihadistischer Videopropaganda: Bewegung unter dem Gebot des islamischen Anikonismus (Yorck Beese)....Pages 185-216
Selfie-Video als Format propagandistischer Bekennerbotschaft. Bildstrategien im Fall Anis Amris (Lydia Korte, Bernd Zywietz)....Pages 217-241
Der Fall John Cantlie. Parasozialität als Mittel der Propaganda (Sophia Maylin Klewer)....Pages 243-272
Die Spektralität medialer Bedrohung am Beispiel John Cantlie (Anne Ulrich)....Pages 273-306
Medienakteure. Parallele Fragmente (Kevin B. Lee)....Pages 307-331
Framing terroristischer Medieninhalte: Eine videografische Autoethnografie (Chloé Galibert-Laîné)....Pages 333-362
Inside the Islamic State’s Media: Eine kollaborative Videoanalyse (Simone Pfeifer, Yorck Beese, Alexandra Dick, Larissa-Diana Fuhrmann, Christoph Günther, Bernd Zywietz)....Pages 363-411
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Propaganda des „Islamischen Staats“: Formen und Formate [1. Aufl.]
 9783658287504, 9783658287511

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Aktivismus- und Propagandaforschung

Bernd Zywietz Hrsg.

Propaganda des „Islamischen Staats“ Formen und Formate

Aktivismus- und Propagandaforschung Reihe herausgegeben von Bernd Zywietz, Johannes Gutenberg-Universität Ethnologie und Afrikastudien, Mainz, Deutschland

„Propaganda“ ist nicht zuletzt angesichts der nationalsozialistischen Indoktrination und Agitation sowie eines gewandelten medienethischen Menschenbilds ein heute negativ konnotierter, abwertend gebrauchter Begriff. „Aktivismus“ assoziiert hingegen kritisch-emanzipatorischen Ausdruck und basisdemokratischen, auch künstlerischen Protest. Scheinbar zwei entgegengesetzte Pole im Spektrum öffentlicher und politischer Kommunikation verwischen ihre Grenzen gerade im Web 2.0: Beide setzen darin auf neuartige digitale Möglichkeiten individueller medialer Beteiligung sowie auf attraktive Nutzungs-, Ausdrucks und Gestaltungsformen der Medien- bzw. Web-, Populärund Jugend(sub)kulturen. Die Reihe „Aktivismus- und Propagandaforschung“ widmet sich diesem Themenkomplex und zwischen Meinungslenkung und subversiver Aktion, Extremismus, Counter-Speech und Participatory Culture. Der Schwerpunkt liegt mit aufklärerischem, medienkompetenzförderndem Ziel auf theoretischen Überlegungen und empirischen Untersuchungen zu ästhetischen und rhetorischen Praktiken sowie (audio-)visuellen Textformen. Der Begriff der „Propaganda“ wird dabei kritisch-reflektiert, zugleich als analytisch sinnvoll erachtet und mit dem Ziel der Versachlichung eingesetzt. Wertneutral meint er eine weltanschauliche, auf politische Gestaltung abzielende Form systematischer persuasiver Kommunikation bzw. die dafür eingesetzten Medientexte.

Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/16006

Bernd Zywietz (Hrsg.)

Propaganda des „Islamischen Staats“ Formen und Formate

Hrsg. Bernd Zywietz Institute für Ethnologie und Afrikastudien, Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Rheinland-Pfalz, Deutschland

ISSN 2524-3004 ISSN 2524-3012  (electronic) Aktivismus- und Propagandaforschung ISBN 978-3-658-28750-4 ISBN 978-3-658-28751-1  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-28751-1 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Barbara Emig-Roller Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Inhaltsverzeichnis

Einführung: Der ‚Islamische Staat‘ und seine Propaganda . . . . . . . . . . . 1 Bernd Zywietz Protest zwischen Aktivismus und Propaganda. Formen und Differenzierungen strategischer Protestkommunikation im Netz . . . . . . . 21 Kathrin Fahlenbrach und Bernd Zywietz Vom Analogen ins Digitale. Eine kurze Geschichte der dschihadistischen Propaganda und ihrer Verbreitung . . . . . . . . . . . . . . . . 55 Martin Zabel Mediale Formen und Formate der IS-Propaganda. Ein Analyseansatz und Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 Bernd Zywietz Ṣalīl al-Ṣawārim: Ein Nashīd und seine Aneignungen . . . . . . . . . . . . . . . . 139 Larissa-Diana Fuhrmann und Alexandra Dick Playing Propaganda. Die Games-Appropriationen des IS . . . . . . . . . . . . . 161 Andreas Rauscher Animationen in jihadistischer Videopropaganda: Bewegung unter dem Gebot des islamischen Anikonismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 Yorck Beese Selfie-Video als Format propagandistischer Bekennerbotschaft. Bildstrategien im Fall Anis Amris . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 Lydia Korte und Bernd Zywietz

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Inhaltsverzeichnis

Der Fall John Cantlie. Parasozialität als Mittel der Propaganda . . . . . . . 243 Sophia Maylin Klewer Die Spektralität medialer Bedrohung am Beispiel John Cantlie . . . . . . . . 273 Anne Ulrich Medienakteure. Parallele Fragmente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 Kevin B. Lee Framing terroristischer Medieninhalte: Eine videografische Autoethnografie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 Chloé Galibert-Laîné Inside the Islamic State’s Media: Eine kollaborative Videoanalyse . . . . . 363 Simone Pfeifer, Yorck Beese, Alexandra Dick, Larissa-Diana Fuhrmann, Christoph Günther und Bernd Zywietz

Einführung: Der ‚Islamische Staat‘ und seine Propaganda Bernd Zywietz

„Mit dem Verlust des syrischen Dorfes Baghuz am Euphrat endete im März 2019 die fast fünfjährige Geschichte des ‚Islamischen Staates‘ (IS) als Quasistaat mit eigenem Territorium“, so schrieb im Sommer des gleichen Jahres Guido Steinberg (2019, S. 98) in der Zeitschrift Internationale Politik. Tatsächlich hatte sich mit der Ausrufung des Kalifats am 29. Juni 2014 (zu Beginn des Fastenmonats Ramadan) der IS an die Spitze des internationalen Dschihadismus1 gesetzt.

1Dschihadimus

(vom religiösen Konzept des ‚Dschihad‘ im Sinne von „Anstrengung“, „­Sich-Bemühen“ auf ein erstrebenswertes Ziel hin) ist die „radikalste Form des zeitgenössischen Islamismus“ (Armborst und Attia 2014) und „kann definiert werden als eine Form des sunnitischen Fundamentalismus, der den Islam gegen jede Form von Beeinflussung durch Andersdenkende gewaltsam verteidigt bzw. seine Verbreitung mit Gewalt durchsetzen will. Im Vergleich zu den anderen islamistischen Strömungen legt der Dschihadismus keine besonders hohen ideologischen Hürden an den Einsatz von Gewalt. Seine religiöse Legitimität beansprucht er […] durch eine unverfälschte Auslegung der islamischen Rechtsquellen“ (ebd., S. 218). Zu berücksichtigen ist, dass Dschihadismus weniger als Spielart des Glaubens, sondern als politisch-ideologische heterogene Bewegung mit verschiedenen Gruppierungen zu begreifen ist. Als solche weist sie eigene Vordenker (z. B. Abdallah Yusuf Azzam, vgl. Hassan 2014) und eine transnationale Historie der Militanz mit zentralen Ereignissen und Konflikten wie dem Kampf der Mudschaheddin (‚den Dschihad Betreibenden‘) gegen die russischen Invasoren in Afghanistan (1979–1989) auf. Vgl. dazu z. B. Peters 2016; Lohlker 2009 sowie den Beitrag von Martin Zabel in diesem Band. Unter ‚Islamismus‘ lässt sich wiederum allgemein „Bestrebungen zur Umgestaltung von Gesellschaft, Kultur, Staat oder Politik anhand von

B. Zywietz (*)  Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Mainz, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 B. Zywietz (Hrsg.), Propaganda des „Islamischen Staats“, Aktivismus- und Propagandaforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28751-1_1

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In Folge ist er zu einem Inbegriff des unmenschlichen religiösen Fanatismus geworden, indem er u. a. ein Regime des „Tugendterrors“ (Steinberg 2015, S. 120) in den von ihm besetzten Gebieten in Irak und Syrien errichtete, seine Scharia-Rechtsordnung im Alltag drakonisch durchsetzte, Kunst- und Kulturschätze zerstörte, Jesidinnen und Jesiden sexuell versklavte und genozitär Säuberungen und öffentliche Exekutionen durchführte. Zugleich erschien er in den Augen vieler als Anziehungspunkt. Er bereitete den ‚Boden der Ehre‘, auf dem man sich – vor allem mit der Waffe in der Hand – beweisen sowie Ruhm, aber auch materielle Dinge wie Autos und Häuser erlangen konnte. Das ‚Kalifat‘, „Sehnsuchtsvision militanter Islamisten seit Generationen, untergegangen im Konkurs des Osmanischen Reiches 1924, war auf einmal wieder da“ (Reuter 2015, S. 191). Es galt als Verwirklichung der wahren göttlich gebotenen und verkündeten Herrschafts- und Lebensordnung. Eine Gemeinschaft, die nicht nur Zuflucht vor den Unterdrückungen der Muslime und einem spirituell leeren, gar unsittlichen Leben in ‚westlichen‘ Ländern in Aussicht stellte: Als Avantgarde und Opposition attackierte der IS die in seinen Augen und denen seiner Anhänger abtrünnigen und heuchlerischen Regierungen im Nahen und Mittleren Osten, die das Wort des Propheten missachten und sich zum Büttel Israels und vor allem der USA machen. Das verkündete Ziel des IS war (und ist) eine globale Umma, eine nationenübergreifende Gemeinschaft und schließlich die apokalyptische Endschlacht. So fungiert(e) der IS in vielerlei Hinsicht als Inspirationsquelle für überzeugte Radikalislamisten oder auch nur Unbedarfte, die nach einem Lebenssinn oder autoritären Orientierungsangebot such(t)en. Aus dieser ‚spirituellen‘ oder erfüllungshistorischen Perspektive war der IS bzw. seine Vorgängerstufen seit 2011 und in den fast zwei Jahren nach seiner offiziellen Konstitution gottgewollt erfolgreich, nicht wegen der Fehler der Regierung Nuri al-Malikis im Irak (2006–2014) oder anderer Möglichkeitsbedingungen und situativer Kontexte wie dem syrischen Aufstand und dann Bürgerkriegschaos. Auch die regionalen und überregionalen Konflikte spielen in der IS-Selbstwahrnehmung ein eher geringe Rolle: die zwischen dem ­Assad-Regime und den zahlreichen, verschiedenartigen Oppositionsgruppen, zwischen Kurden

Werten und Normen, die als islamisch angesehen werden“ (Seidensticker 2016, S. 9), verstehen. Oder eben eine Ideologie, die auf die entsprechende Durchsetzung dieser Werte und Normen in den genannten Bereichen als maßgebliche und mithin die Errichtung eines oder Umgestaltung des politischen, juristischen, sozialen oder kulturellen Systems abzielt.

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und Türken, Sunniten und Schiiten, verschiedenen Milizen und Stämmen oder zwischen den konkurrierenden geopolitischen Ambitionen Russlands, ­ SaudiArabiens, der Türkei oder des Iran. Tatsächlich agierte der IS unter der dschihadistischen ideologischen Oberfläche seines fundamentalistischen Alleinvertretungsanspruchs, seiner manichäischen Vision oder dem emphatischen Todes- und Jenseitskult sowohl als Untergrundgruppe wie als Miliz geschickt, pragmatisch und strategisch flexibel. Ehemalige Militärs und Geheimdienstler Saddam Husseins brachten als zentrale Kader professionelles Wissen (etwa über Unterwanderungsstrategien), Erfahrung aus zwei Irakkriegen und alte Seilschaften bis nach Syrien hinein mit und wussten sie nutzen. Dass jedoch nicht nur hierzulande das Bild eines IS als Horde tyrannischer, irrationaler und mörderischer Verblendeter auf Toyota-Geländewagen und mit Kalaschnikow-Sturmgewehren vorherrscht und ihm auch jenseits seiner enormen Militär- und Mobilisierungserfolge eine Sonderstellung gegenüber den übrigen Bürgerkriegsparteien, Guerillas und internationalen dschihadistischen Gruppen (einschließlich seiner einstigen formalen Mutterorganisation al-Qaida) beigemessen wurde, mag an vielerlei liegen. Es kann mit den Terroranschlägen im Namen des IS begründet werden, u. a. jenen in Deutschland und England, in der Türkei, in den USA, in Spanien, Russland, Belgien und, immer wieder, in Frankreich. Womit die unzähligen Attentate in für uns weniger ‚nachrichtenwertigen‘ Ländern noch gar nicht berücksichtig sind. Ein weiterer Grund für seine Besonderheit sind die tausend Personen aus Deutschland, die sich ihm anschlossen, neben den vielen anderen Europäern, „Kaukasiern, Türken […], Zentral-, Süd- und Südostasiaten sowie Afrikanern, die den IS zur vielleicht ersten tatsächlich multinationalen, multiethnischen und polyglotten Terrororganisation der Weltgeschichte gemacht haben“ (Steinberg 2019, S. 103). Das kollektivgedankliche Konstrukt des IS fußt aber nicht zuletzt auch auf einer offen oder unterschwellig kultur- und religionsrassistischen Vorstellungswelt, einem Orientalismus (Said 2017). Ein solcher sieht im IS mustergültig sein groteskes Klischee vom glutäugigen, blutrünstigen, bärtigen Moslem bestätigt, Zwangsverschleierung und strategische Bevölkerungspolitik qua Geburtenrate inklusive. Bei alledem und darüber hinaus ist allerdings die Selbstdarstellung des IS bzw. seine Propaganda insgesamt elementar. In ihr bedient der IS punktuell und gezielt (wenn auch mit anderem Hintersinn und im Bewusstsein um andere Konnotationen aufseiten seiner primären Adressatengruppe) stereotype Erwartungen mit Bildern von öffentlichen Exekutionen, Geiselhinrichtungen – mit der des Journalisten James Foleys im August 2019 als erstem drastischen Höhepunkt – oder Kindern

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in Uniform als künftige „Löwen“. Diese Propaganda in Form von Videos, Fotos, PDF-Magazinen oder Audiodateien flutete die Sozialen Netzwerke in unbekannter Menge und Qualität und war spektakuläres Thema in den redaktionellen Medien. So gelangten IS-(Re-)Präsentationen per Displays, Monitore und Fernsehbildschirme in die Wohn- und (so die Befürchtung) Kinderzimmer des Landes – mithin unbequem nahe. Wenn 2019 von Guido Steinberg und vielen anderen das Ende des IS konstatiert wurde – etwas, das der Tod des IS-Anführers Abu Bakr al-Baghdadi im Norden Idlibs Ende Oktober 2019 in Zuge einer nächtlichen US-Militäraktion symbolisch unterstrich –, so ist dies richtig und zugleich falsch oder zumindest irreführend. Zunächst ist da nämlich die Gruppierung ‚Islamischer Staat‘ vom ‚Islamischen Staat‘ als ‚Kalifat‘ zu unterscheiden. Unter verschiedenen Namen hat der dschihadistische Personenverbund IS seine eigene Geschichte, die über das Jahr 2014 zurückreicht und wohl noch nicht beendet ist. Zurzeit (Oktober 2019) sind seine syrischen und irakischen Überreste im Untergrund, führen Guerilla- und Terroroperationen durch – und profitieren erneut von der Uneinigkeit seiner Feinde. Das zeigt sich aktuell besonders an der Invasion der Türkei im nordsyrischen Kurdengebiet. Rund 80.000 (Ex-)IS-Mudschaheddin und deren Angehörige sind angeblich in Lagern und Gefängnissen der von der Kurdenmiliz YPG (Yekîneyên Parastina Gel / Volksverteidigungseinheiten) geführten Syrian Democratic Forces (SDF) inhaftiert, und den von der Regierung Erdoğan beorderten Einmarsch haben Gefangene bereits zum Ausbruch genutzt. Hinzukommt, dass das ‚Kalifat‘ im syrisch-irakischen Kerngebiet als theokratisch-politische und administrative Einheit zwar zerschlagen ist. Seine ­ übrigen „Wilayat“, die ‚Verwaltungsbezirke‘ (bzw. die Gruppen, die sich dem IS angeschlossen haben wie „Boko Haram“ in Nigeria) erhalten jedoch Idee und Namen am Leben (u. a. in Ägypten, Algerien, Somalia, Kongo, Aserbaidschan, in Kaschmir, Afghanistan oder auf den Philippinen). An dieser Stelle wichtiger ist aber eine andere ‚Region‘, in der das schwarze Banner des IS hochgehalten wurde und wird: die des Virtuellen. Damit sind nicht nur die Digitalsphären oder ‚Räume‘ des Internets gemeint2, sondern auch der Bereich des Imaginären. Drei korrespondierende heuristische Dimensionen sind auszumachen, die meist – wenn auch in der Regel den letzten Punkt ausklammernd oder nur implizit adressierend – in pointierten Schlagworten wie dem

2Zur Charakteristik bzw. Metaphorik des Internets als Raum vgl. u. a. Becker (2004); Budke et al. (2004).

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des „Digitalen“ oder „Virtuellen Kalifat“ zusammengefasst werden (vgl. u. a. Atwan 2016; Gambhir 2016; Winter 2015). Das meint – erstens – den IS-dschihadistischen Online-Kosmos mit seinen Foren und Websites, aber auch Profilen, Unterseiten, Postings und Threads in/ auf den Services und Plattformen des Social Web, über die sich eine internationale Netzwerk-Gemeinschaft konstituiert, in der sie interagiert und sich ihrer selbst vergewissert. Es werden darin ideologische und propagandistische Schriften geteilt, persönliche Einstellungen geformt, aber auch terroristische und nicht-terroristische Aktionen (persönliche Treffen, öffentliche Veranstaltungen, ­ die Reise ins Kriegsgebiet) geplant, vorbereitet, koordiniert. Zweitens ist da das (nicht nur digital-)mediale ‚Kalifat‘, das in den Videos, Fotos, Grafiken, Ansprachen, Gesängen etc. existiert, illustriert und in doppelter Hinsicht erklärt (begründet und erläutert) wird und fortbesteht. Sympathisierende Aktivisten und Unterstützer sammeln das Propagandamaterial, kompilieren und archivieren es, stellen es immer wieder im Internet bereit, um für kommende Generationen von Dschihadisten ein verklärtes Mosaikbild des IS zu bewahren. Auch in den Datenbanken westlicher Geheimdienste oder Rundfunkredaktionen führt dieses Kalifat sein Phantomleben. Denn es sind die IS-eigenproduzierten Medientexte, die die meisten und prägnantesten Bausteine des Gesamtbilds ausmachen.3 Hieraus speist sich dann – drittens – das ‚imaginierte‘ Kalifat als Kollektivprojektion der imagined community (Anderson 2016): ein idealisiertes, romantisiertes Vorstellungskonstrukt in den Köpfen von Gleichgesinnten, das wiederum seine eigenen Medientexte und Erzählungen hervorbringt und zukünftige fundamentalistische Extremisten inspirieren und motivieren wird. Aber auch die entgegengesetzte Fiktion aufseiten des ‚Westens‘ ist hierunter zu fassen, die eines dämonischen oder durch und durch pathologischen Terrorstaats. Diese Imagination hat bei aller realer, teils unvorstellbarer Grausamkeit und Wahnhaftigkeiten des IS häufig mit der historischen Wirklichkeit so viel (oder wenig) zu tun wie gängige Hollywood-NS-Regime-Phantasien mit dem tatsächlichen Alltag im Nazi-Deutschland der 1930er und 1940er Jahre. Das gilt etwa für die Reduktionen und Unterkomplexitäten: das Ausblenden der inneren, auch blutigen Machtkämpfe (was z. B. die internen Richtungsstreitigkeiten zwischen ‚Gemäßigten‘ und Takfir- bzw. Exkommunikationsextremisten betrifft – vgl.

3Die

wenigen alternativen Einsichten aus dem ‚Kalifat‘ stammten von den privaten SocialMedia-Aktivitäten der Mudschaheddin sowie von einzelnen oder organisierten Aktivisten bzw. Bürgerjournalisten wie jenen der Gruppe Raqqa Is Being Slaughtered Silently, die meist unter Lebensgefahr Berichte, Fotos und Videos aus den besetzten Gebieten übermitteln.

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Bunzel 2019) oder dem banalen Mitläufertum der accidental guerilleros (vgl. Kilcullen 2009). Die Bedeutung, die eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Propaganda des IS hat, liegt so auf der Hand. Trotzdem lässt sich fragen, inwiefern das Thema der näheren Betrachtung wert ist – jenseits seiner Brisanz im öffentlichen und politischen Diskurs, des Schockierenden und vielleicht doch auch der düsteren Faszinationskraft. Konkreter gefragt: Was unterscheidet die IS-Propaganda von anderen ‚Propaganden‘ extremistischer, terroristischer oder dschihadistischer Gruppen? Denn schließlich wirkt das Neue und Bemerkenswerte, vor allem das der hochaffektiven HD- und Hochglanzvideos mit ihren eindrucksvollen Computeranimationen, weniger neu und bemerkenswert im Kontext und Vergleich. Etwa in und mit • der Geschichte der dschihadistischen, terroristischen und aktivistischen Medienarbeit. Schon immer hat diese die jeweils neuesten Ausdrucksformen und Techniken der sprachlichen, bildlichen und akustischen Rhetorik, Produktion und Distribution von Inhalten für sich zu nutzen gesucht; • der Propaganda-Historie (nominellen) IS-Vorläuferstadien (s.  u.) selbst: Ebenso wenig wie der ‚Islamische Staat‘ 2014 aus dem Nichts erschien, gibt es einen radikalen Bruch in seiner Propaganda, selbst wenn die Entwicklung seit den frühen 2010er Jahren frappierend war. Diese freilich korrespondiert mit • einer allgemeinen globalen medientechnischen und mediengestalterischen Revolution, die von der hochauflösenden Handykamera, kostenlosen Digitalfotofiltern und Videoschnittprogrammen bis zum Breitband-Livestream einfache und massenverfügbare Mittel des ästhetischen Ausdrucks und der technologischen Kommunikation zur Verfügung stellt. Die Dimensionen und Effekte dieses Umbruchs scheinen wir immer noch weder in der Alltagseinordnung, noch in der Sozial- und Kulturanalyse so recht zu erfassen. Das beinhaltet nicht nur den rasanten Austausch oder das Migrieren von Bildern, Bildmotiven und Tönen in einer „Konvergenzkultur“ (Jenkins 2008), sondern auch • eine rasante, hochdynamische Fluktuation bzw. Übernahme oder (auch imitative oder ironische, zitathafte) Aneignung vielfältiger Ansprache-, Präsentations- und Repräsentationsformaten und damit deren Übertragung in neue Sinnzusammenhänge, mithin Wahrnehmungsrahmen und -raster.

Einführung: Der ‚Islamische Staat‘ und seine Propaganda

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Gerade letzteres ist für die Relevanzerfahrung der IS-Propaganda zentral. Beispielsweise kennen wir die immersiven Videoaufnahmen mittels Action-Cam, die Helm-, Körper- oder Gewehrlauf-Ego-Perspektiven bieten, sogar auf dem Gebiet militärischer Operationen bereits von den Bodycams der US-Soldaten im irakischen Häuserkampf der 2000er Jahre. Selbst andere paramilitärische Einheiten, die Konkurrenten und Gegner des IS nutzen diese und andere Mittel zur propagandistischen Dokumentation neben etwa Schreck- und Gräuelerzählungen, die die Respektfurcht vor einem selbst schüren und die Abscheu vor dem Feind befördern sollen.4 Die vielbeschriebenen und vielbeschworenen stilistischen und stylischen Anleihen bei ‚Hollywood‘, der Markenwerbung und dem Musikfernsehen, bei Computerspielen, Web- und Fernsehjournalismus, Reality-TV und Infotainment mögen a) im Sinne etwa der zielgruppenspezifischen Ansprache strategisch gewollt und kalkuliert sein, b) quasi ‚natürlich‘ der medien- und popglobalkulturellen Sozialisierung und Enkulturation, mithin der Attraktionsmaßstäbe der dschihadistischen Medienschaffenden entstammen, oder c) assoziativ durch uns auf die Texte projiziert werden. Womöglich gilt auch alles zugleich. Das Innovative und Faszinierende wie Besorgniserregende der IS-Propaganda ist so oder so aber weniger Sache des kategorischen, inhaltlichen ‚Was‘, sondern des ‚Wie‘ und des ‚Dass‘.

4Vgl.

hierzu etwa den Dokumentarfilm Mosul (USA 2019) des Ex-CIA-Mitarbeiters Daniel Gabriel, der den irakischen Journalisten Ali Maula bei seiner Reportage-Reise durch die verschiedenen Anti-IS-Fraktionen in der Zeit der Rückeroberung von Mossul begleitet. Maula und Gabriel (letzterer als Executive Producer) arbeiteten bereits zuvor gemeinsam an der US-finanzierten arabischsprachigen Fernsehserie Life after Daesh (2017). Maula tritt hier vor der Kamera auf, um ehemalige inhaftierte IS-Mitglieder oder -Kollaborateure in einer Mischung aus sensationalistischen Reality-TV und ­‚Ent-IS-isierungs‘-Propaganda zu befragen. Strukturell unterscheiden sich die bislang dreizehn Folgen in weiten Teilen kaum von jenen IS-Videos, in denen Gefangene des ‚Islamischen Staats‘ zur Schau gestellt werden oder Mitglieder gegnerischer oder eroberter (Bevölkerungs-)Gruppen dem ‚falschen‘ Glauben ab- und der islamistischen Staatsordnung die Treue schwören. Aktuell ist die Life after Daesh mit dem Alternativtitel Daesh – Exiting Hell mit englischer Untertitelung noch auf der AlHurrah-TV-Website zu finden (https://www.alhurra.com/ s?k=Daesh%20Exiting%20Hell. Zugegriffen: 28.10.2019).

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Das meint erstens eine bislang nicht dagewesene Konsequenz und handwerkliche Professionalität, was neben der sinnlich-ästhetischen Qualität die der Koordiniertheit, der Konsistenz und Eingängigkeit der Marke „Islamischer Staat“ einschließt. Zweitens bezieht sich das auf die Grenzüberschreitungen, was die Inszenierung und Ästhetisierung von Grausamkeiten vor und für die Kamera, von indoktrinärer Kriegsverherrlichung und Menschenverachtung betrifft. Transgressionen sind das, die als Phantasmen am (v. a. digital-)medialem Möglichkeitshorizont erahnt wurden oder höchstens (z. B. als echte oder gefakte Snuff-Movies und kuriose Flugschriften) in abseitigen Ecken ein subkulturelles Schattendasein pflegten. Sie hat der IS nun in großer Zahl, aufwendig und ohne Zurückhaltung verwirklicht und damit die Grenze dessen, was auf einem bestimmten Reichweiten- und Anspruchsniveau artikulierbar und machbar ist, fürs breite öffentliche Bewusstsein verschoben. Drittens betrifft die Besonderheit der IS-Propaganda die Aneignung, und zwar die spezifischen resemiotisierenden bzw. resemantisierenden Appropriationen von Formen und Formaten als Rekontextualisieren im Sinne ­propagandistisch-rhetorischer Praxis. Die animierten Titelsequenzen der Videos, die extremen Zeitlupen, Soundeffekte und in der Postproduktion zum Leuchten gebrachten Farben, die Gattungsimitationen (z. B. von Erklärvideos oder Fernsehinterviews): all diese Mittel, Techniken und Referenzen sind mehr als Verpackung, weil sie einen Widererkennungseffekt erzeugen und den medienvermittelten IS mit seinen radikalen Ansichten und extremen Bildern beim geneigten Publikum normalisieren helfen. Ansonsten haben sie etwas vom Unheimlichen Freud’scher Art, also etwas, das uns in erster Linie verstört und provoziert. Nicht weil es radikal neu oder fremd ist, sondern, im Gegenteil, altbekannt und längst, fast bis zur Unsichtbarkeit, vertraut oder verdrängt. In ihrem Verwendungszusammenhang, in der Kombinatorik von dschihadistischer Botschaft/Weltsicht und uns geläufigen Formen/Formaten verstören uns nicht nur das fremde dschihadistische Gedankengut und die fürchterlichen Bild-, Schrift- und Toninhalte, die es hervorbringt, sondern auch die Erscheinungs- und Vermittlungsweisen, die ‚unseren‘, ‚eigenen‘ Kulturen und Gesellschaften entstammen. Wir sind hier schon beim Gegenstand dieses Sammelbandes: den Formen und Formaten (in) der Propaganda des ‚Islamischen Staats‘. Entsprechend geht es in diesem Buch nicht um die religiöse Ideologie des IS, deren Geschichte und Facetten, und auch der Fokus auf die Formen und Formate ist darüber hinaus ein vorbedingter und eingeschränkter. Dies nicht zuletzt aufgrund der Herkunft oder des kulturellen Backgrounds der Autorinnen und Autoren. Selbst wenn im

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Einzelnen arabistische, islamwissenschaftliche oder dschihadismustheoretische und -historische Fachkenntnisse vorhanden sind, gilt das Interesse doch nicht oder nur nachrangig den glaubens- oder regionalkulturspezifischen Formen und Formaten, sondern denen einer transnational und -kulturell präsenten, prägenden und geprägten Medien- und Populärkultur. Manche zentralen Aspekte der IS-Propaganda und ihre Bedeutung für die primären Zielgruppen werden folglich vernachlässigt. Das betrifft beispielsweise die IS-Bildwelt mit ihrer Motivik, Symbolik und Ornamentik in ihrem Verhältnis zum Grafikdesign salafistischer5 Theorietextpublikationen (vgl. Krawietz 2014, S. 97 ff.) oder in Bezug auf die spezifische dschihadistische visuelle (Sub-)Kultur mit ihrer Kriegs- und Paradiesmetaphorik (vgl. Ostovar 2017). Ein eminenter Punkt kulturreligiöser Verortung des IS und seines Auftretens stellt ja bereits die Eigenbezeichnung „Islamischer Staat“ (daula al-islamiya) und „Kalifat“ dar. Beide gehen mit bestimmten Vorstellungen, historischen Geltungs- und Führungsansprüchen einher.6 Wie andere Titel (etwa Baghdadi als „Amir al-Mu’minin“, als „Anführer der Gläubigen“, was eine militärische statt spirituelle Leitung konnotiert; vgl. Pennell 2016) erfüllen sie nach innen wie nach außen propagandistische Funktionen. Dementsprechend wird mit dem ­ Daula-Islamiya-Akronym Daesh, das im Arabischen an die Begriffe „zertrampeln“, „zertreten“ gemahnt, als herabsetzende Fremdbenennung

5„Salafismus

lässt sich grob als Reformbewegung von Muslimen der letzten rund hundert Jahre beschreiben, die darauf abzielte, zum Recht und zur Theologie gemäß dem Verständnis der ersten Generationen von Muslimen (salaf) zurückzukehren“ (Görke und Melchert 2014, S. 27). Kennzeichnend sind die fundamentalistische, buchstabengetreue Auslegung des Koran und der Sunna sowie eine strenge lebensstilistische, verhaltenshafte Ausrichtung an den Altvorderen, deren Sitten und Gebräuchen (vgl. zu dem Begriff und seinen Facetten Schneiders 2014; Said und Fouad 2014). Gängig ist die typologische Unterscheidung von ­quietistisch-puristischen (also politisch nicht engagierten), politischen (oder aktivistischen) und dschihadistischen bzw. militanten Salafisten (vgl. Farschid 2014; Wiktorowicz 2006). Farschid (2014) geht auf zentrale politisierte Religionsbegriffe des Salafismus ein, die eine zentrale Rolle auch in der Ideologie und folglich der Propaganda des IS spielen: tauhid (Monotheismus, auf dessen Basis Gott auch die alleinige Herrschafts- und Gesetzgebungsgewalt zukommt), shirk (Vielgötterei, Götzenanbetung, worunter auch Demokratie als ‚Gegenreligion‘ fällt), bid’a (unerlaubte religiöse Innovation, mithin liberalere und reformerische Auslegungen und Neuerungen), taghut (Götze, Tyrann), takfir (Exkommunikation, jemanden zum Ungläubigen erklären), al-wala‘ ­wa-l-bara‘ („Loyalität und Lossagung“, Doktrin, mit der auch die Abwendung und Abgrenzung von allen NichtMuslimen, allem Un-Islamischen gefordert und begründet wird) (vgl. ebd., S. 167 ff.). 6Vgl. etwa zur wechselvollen Ideengeschichte des islamischen Kalifats Kennedy (2016).

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die Legitimität verneint, die Selbstautorisierung zurückgewiesen und die Selbstrepräsentation des IS zu kontern gesucht (vgl. Schulte von Drach 2015; Dearden 2014). In diesem Band erfolgt nun jedoch die Beschäftigung aus einem dezidiert ‚westlichen‘ Blickwinkel und einer entsprechenden restringierten medienkulturellen und -ästhetischen Orientierung heraus. Die ist nicht aus dem tatsächlich bestehenden Mangel an Expertise geboren, die Fachwissen auf den Gebieten Islam, Islamismus und Dschihadismus mit dem zu medialen und stilistischen Formen und Formaten (etwa was Computerspiele oder filmsprachliche Mittel und deren populärkulturellen Kontexte und Bezüge betrifft) kombiniert. Letzteres scheint ebenso notwendig wie Kompetenz in Sachen arabischer Sprache, lokalund szenespezifischer Codes oder Koran- und Hadith-Referenz bzw. -Auslegung. Zumindest wenn man die IS-Propaganda als transnationales und -kulturelles Phänomen des 21. Jahrhunderts verstehen will. In diesem Sinne ist dieser Reader in erster Linie gedacht als medienkultur- und -geisteswissenschaftliche Ergänzung zu den kommunikations- und politwissenschaftlichen, soziologischen, religions-, regions- und landeskundlich informierten Untersuchungen, in denen sich dem ‚Islamischen Staat‘ und seiner Propaganda bisher primär angenommen wurde. Überdies wird die hier thematisierte ‚Öffentlichkeitsarbeit‘ des IS bewusst in skizzierter Weise als unheimliche Herausforderung für eine ‚deutsche‘, im Falle des Beitrags von Chloé Galibert-Laîné ‚französische‘ oder bei Kevin B. Lee ‚sino-US-amerikanische‘ Wahrnehmung und Empfindung untersucht – soweit es natürlich überhaupt Sinn macht, von Derartigem auszugehen. Allen Beiträgen ist, wenn auch in unterschiedlichen Graden, ein Moment des Hypothetischen und Explorativen in der Einordnung und der Rekonstruktion von Sinn, Bedeutung und deren Generierung in der Auseinandersetzung mit den dschihadistischen Medienerzeugnissen einreflektiert. Was nun die vier Zentralbegriffe gemäß dem Buchtitel betrifft, sind mit ‚Formen‘ zunächst schlicht die Erscheinungsarten und -weisen der IS-Propaganda gemeint, in denen sie uns kommunikativ-medial entgegentritt. Spezifischer dann geht es um die jeweilige sinnlich-affektive und sinnbildende oder -vermittelnde Gestaltung, ihre Anmutung oder ihre designhandwerkliche Individualstruktur. ‚Format‘ bezieht sich auf die Zugehörigkeit der Propagandamedien(texte) zu und ihre v. a. zweckdienlichen Bezüge auf mediale Gattungen und Genres. Im weiteren Sinne können hierunter auch technische und materiale Standards und Normen sowie, vermittels dieser, technische Werkzeuge, Hilfsmittel und Infrastrukturen der Medienproduktion, -bearbeitung, -verbreitung und ­ -aufführung gefasst werden. Der Beitrag von Bernd Zywietz befasst sich eingehend mit

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dem Form-Format-Doppelbegriff als Basis einer möglichen Untersuchungsperspektive. Es bleiben daher die beiden anderen Wörter bzw. die mit ihnen bezeichneten Untersuchungsobjekte näher zu erläutern. Auch bei diesen können und müssen allerdings einige wenige Verweise, Bestimmungen und Ausführungen genügen. Zum ‚Islamischen Staat‘ als einer salafistisch-dschihadistischen, mithin sunnitischen Gruppierung, Terrormiliz oder terroristischen Organisation wurde in dieser Einleitung bereits einiges gesagt. Daneben liegt eine Fülle erhellender Fachbücher (u. a. Reuter 2015; Said 2015; Steinberg 2015) oder akademischer Studien (z. B. Günther 2014) zur IS-Entstehungsgeschichte oder IS-Weltanschauung vor (vgl. zu Letzterem u. a. Wasserstein 2017; Manne 2017; Bunzel 2015 oder der Reader mit zentralen Texten der IS-Bewegung, Ingram et al. 2020). Darauf basierend lässt sich folgende rudimentäre Entwicklungshistorie nachzeichnen: Um die Jahrtausendwende gründete der gebürtige Jordanier Abu Musab al-Zarkawi die Organisation Jama‘at at-Tauhid wa-l-Jihad („Gemeinschaft ­ der Einheit Gottes und des Dschihad“). Nach der US-Invasion im Irak war seine Gruppierung eine von vielen nationalen Widerstandsgruppen. Wie ein Jahrzehnt später sich Gruppierungen in Afrika, Zentral- oder Südostasien dem IS anschließen, so erklärte sich Zarkawi mit seiner Organisation zur irakischen Dependance al-Qaidas, leistete bin Laden den Treueeid und firmierte von 2003 bis 2006 als al-Qaida im Irak (bzw. „al-Qaida in Mesopotamien“ – ­al-Qaida fi Bila ar Rafidain). Schon früh kam es zu Spannungen zwischen der Mutterorganisation bzw. Osama bin Laden und Aiman al Zawahiri auf der einen und Zarkawi auf der anderen Seite, vor allem wegen Zarkawis expliziter Hinrichtungsvideos7 und seines Terrorfeldzugs gegen die schiitischen Teile der Bevölkerung. Die al-Qaida-Zentrale sah beides als strategischen Irrweg, insofern

7Besonders

die Aufnahme von der Enthauptung des ­US-Amerikaners Nicholas Berg 2004, die auch über das im selben Jahr im Irak eingeführte Breitband-Internet Verbreitung fand, erregte international Aufsehen und Abscheu. Der Vergleich des terroristischen Films in seiner verwaschenen, ungelenken Videoqualität mit dem zehn Jahre später entstandenen und veröffentlichten Aufzeichnung der Exekution James Foleys, für die u. a. mehrere HD-Kameras und Clip-on-Mikrofone eingesetzt wurden, demonstriert drastisch die Veränderungen. Dies nicht nur, aber besonders im Bereich dschihadistischer Videopropaganda, für die der IS paradigmatisch steht – vom Setting und dramaturgischen Aufbau über die Bildkomposition bis zum technisch-rhetorischen und -‚ästhetischen‘ Realisationsaufwand und -anspruch.

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etwa seine Brutalität zu viel Sympathie unter potenziellen Unterstützern kosten und mit den interkonfessionellen Angriffen unnötig eine weitere Front eröffnet werde. Die Radikalität Zarkawis und seiner Gruppe sowie die Bedeutung, die ihnen durch die USA zugesprochen wurde, setzen sie schließlich an die Spitze des (sunnitischen) Widerstands gegen die US-Besatzung und die neue schiitisch dominierte Staatsführung. Nach einem kurzfristigen Zusammenschluss mit anderen Gruppen zum Schura-Rat der Muslime im Irak (Madschlis Schura ­al-Mudschahidin fi’l-Iraq, 2006), Zarqawis Tod im selben Jahr sowie diversen Rückschlägen geriet die Gruppierung Ende der 2000er Jahre an den Rand der Auslöschung. Unter dem Kommando vor allem von Abu Bakr al-Baghdadi al-Husseini al-Hashimi al-Qurashi alias Ibrahim Awad Ibrahim al-Badri (ab 2010) entwickelte sich die Truppe über verschiedene Bezeichnungen hinweg (Islamischen Staat im Irak – ISI [2006 bis 2013] und Irakischen Staat im Irak und al-Sham (Großsyrien) – ISIS [2013–2014]) zum Islamischen Staat (seit 2014). Den Aufstieg und Siegeszug des IS markiert vor allem die Einnahme Mossuls im Juni 2014, mit fast drei Millionen Einwohnern die zweitgrößte Stadt des Irak. Die Eroberung wurde vorbereitet durch eine Kampagne in der Provinz Ninawa (Ninive), in der der IS zuvor immer mehr an Boden gewonnen hatte. Neben militärischen Aktionen und einer Welle demoralisierender Anschläge auf Soldaten und Polizisten wurden Medien operativ eingesetzt: Warnung in Sozialen Medien gegen all diejenigen, die sich dem IS in den Weg zu stellen gedachten, wurden verbreitet, ebenso das spektakuläre Video Salil al-Sawarim 4 („Klirren der Schwerter“; vgl. Steinberg 2015, S. 99 f.) im Mai 2014.8 In dem fast einstündigen Film feiern die Dschihadisten ihre Triumphe, ihre Vision und den Anschluss ehemaliger sunnitischer Gegner. Es werden jedoch auch die Morde an den Funktionsträgern, als Angriffe von Heckenschützen, Schüssen aus vorbeifahrenden Autos oder nach dem Eindringen ins Familienheim, zwecks Mahnung und Abschreckung dokumentiert. Und wie die Eroberung Mossuls den IS auf die internationale Agenda setzte, war es besonders das Video Salil al-Sawarim, das die Aufmerksamkeit westlicher Medien auf die Propaganda des IS lenkte. Mit ‚Propaganda‘ sind wir beim letzten der vier Zentralbegriffe dieses Bandes. Es ist eine umstrittene Bezeichnung, wird damit doch eine negative, weil in

8Die

ersten drei Teil der Reihe, alle produziert von ISI-/ISIS-/IS-Medienstelle al-Furqan, stammen aus den Jahren 2012 und 2013.

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Mitteln und Zielen unethische Manipulation öffentlicher Meinung assoziiert. Zur Definition, Wort- und Gegenstandsgeschichte findet sich eine unüberschaubare Literaturfülle (übersichtshaft: Arnold 2003; Zurstiege 2016 und umfänglich Bussemer 2008). Partiell von gängigen Lehrauffassungen abweichend sei Propaganda wertneutral verstanden als kommunikative bzw. mediale Mittel, Werkzeuge und Handlungen der Erzeugung und (Um-)Formung von Einstellungen, Haltungen, Werten, Sichtweisen u. Ä.9 Zu den Mitteln (aus anderem Blickwinkel: Erzeugnisse) zählen die angefertigten und eingesetzten Medientexte (Bilder, Videos, Schriftpublikationen etc.). Propaganda ist in diesem Sinne nicht nur etwas, das betrieben, sondern auch verbreitet wird. Sie steht zudem in erster Linie für ideologische Beeinflussung, d. h. sie zielt auf größere politische, soziale, religiöse oder ökonomische weltanschauliche Modelle und Projekte, auf Anstrengungen zu deren Durchsetzung und Realisierung oder deren situative Bedingungen und Möglichkeiten ab. Propaganda ist nicht per se unethisch, etwa unwahr oder verlogen. Fakten und ‚Wahrheit‘ sind ihr aber nicht Selbstzweck oder Zielgrößen, sondern instrumentell und funktional. Freilich können Propagandisten von dem, was sie propagieren selbst vollends überzeugt sein. Generell scheint es sinnvoll, Propaganda in Bezug auf medientextuelle Mittel nicht kategorisch, also als eine definitive Art Gattung oder Textsorte zu konzipieren, sondern als etwas Perspektivisches sowie Graduelles. Jede Rede, ein Film, ein Traktat oder Online-Report kann auf ihre/seine rhetorische Eigenschaft(en) hin betrachtet werden (unbenommen ihrer übrigen Merkmale und, z. B. selbstexpressiven, Funktionen). Auch kann der Grad der ‚Propagandivität‘ verschiedenartig und verschieden stark ausgeprägt sein. Diese ist abzuschätzen nach 1. der persuasiv-rhetorischen Absicht und (u. a. Aussage-, Gestaltungs- bzw. Vertextungs- und ‚Aufführungs-‘) Praxis auf Seiten der Textproduzent*innen und Distributor*innen, 2. den Eigenschaften und Strukturen des Medientextes hinsichtlich seiner Wirkungspotenziale, Argumentationsformen, ästhetischen Gestaltung etc., 3. der (empirisch erfassbaren) rezipientenseitigen Nutzung,

9Hierzu

wie zum Folgenden vgl. Zywietz (2018).

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4. der Intertextualität bzw. diskursiven Einbettungen, den teilkulturellen und generischen Nutzungsmustern und Konventionen, den medial-situativen Kontexten, materiellen und technisch-dispositiven Affordanzen etc. (Zywietz 2018).10 Die Bezeichnung „Propaganda(text)“ meint dann sinnvollerweise jene Kommunikate, die ganz besonders auf die ideologische Überzeugung, Überredung, damit verbundene Affekte, Stimmung, Kognitionen abzielen (bzw. wenn mit ihnen darauf abgezielt wird). Weitere Ausführungen zur möglichen Konzeptionierung von Propaganda finden sich im Beitrag von Bernd Zywietz in diesem Band. Was die Struktur des Readers betrifft, so gliedert sich dieser in vier thematische Bereiche. Da sie jeweils durch – sowohl dem einen wie dem anderen zuordbare – Brücken- oder Scharniertexte verbunden sind, wird auf eine explizite Kapitelgruppierung jedoch verzichtet. Unter der ersten gedanklichen Überschrift „Übersichten und Einordnungen“ befasst sich der Beitrag von Kathrin Fahlenbrach und Bernd Zywietz mit der Verortung und Abgrenzung von Propaganda und symbolischem Gewalthandeln in den Begriffs- und Handlungsfeldern ‚öffentlicher ziviler Protest‘ und ‚politischer Aktivismus‘ einerseits sowie ‚Terrorismus‘ andererseits. Der Text ist als vorläufiges Ergebnis eines fortlaufenden Dialogs zu betrachten, der von unterschiedlichen Richtungen aus – der der Bewegungs-, Protest-, Propaganda- und Terrorismusforschung – ein auch definitorisches Orientierungsund Koordinierungsangebot zu entwickeln sucht. Was den IS als Teil einer ­militant-islamistischen Gesamtbewegung betrifft, so spannt Martin Zabel einen spezifischeren Rahmen auf. In seinem Beitrag bietet er, auf Basis seiner eigenen langjährigen Recherchearbeit in Sozialen Medien, eine kursorische Einführung in die mediale Geschichte dschihadistischer Propaganda vom Afghanistankonflikt der ausgehenden 1970er Jahre bis in die Gegenwart (Vom Analogen ins Digitale. Eine kurze Geschichte der dschihadistischen Propaganda und ihrer Verbreitung). Anschließend befasst sich Bernd Zywietz im Beitrag Mediale Formen und Formate der IS-Propaganda. Ein Analyseansatz und Überblick – wie bereits erwähnt – mit Formen und Formaten als deskriptiven und analytischen Dimensionen eines propagandatextzentrierten Untersuchungsansatzes.

10Für

eine umfassendere Systematik der verschiedenen Ebenen und Dimensionen von Propagandaforschung und mithin Propaganda als Untersuchungsgegenstand und -feld siehe Frischlich (2018).

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Davon ausgehend bietet er eine umfängliche Übersicht der IS-Medienarbeit und deren Facetten, geht auf einige zentrale Aspekte ein – und leitet damit über zu den Studien einzelner medialer Gattungen, Gestaltungsverfahren und Praxen der Appropriation von IS-Propaganda. Letzteres meint im Beitrag von Larissa-Diana Fuhrmann und Alexandra Dick (Ṣalīl al-Ṣawārim: Ein Nashīd und seine Aneignungen) allerdings zunächst die, teils ironisierende, Aneignung von IS-Material – konkret des Lieds Salil ­alSawarim – auf YouTube. Vorangestellt ist dem die kulturhistorische Einführung in und Kontextualisierung von dschihadistischen und nicht-dschihadistischen Naschids als Musik- bzw. Gesangsgenre. Wie der IS und seine Unterstützer selbst Computerspiele und -spielformen übernimmt, ist Gegenstand des Beitrags von Andreas Rauscher (Playing Propaganda. Die Games-Appropriationen des IS), der auf Basis von Ian Bogosts Konzept der procedural rhetoric die Möglichkeiten, aber auch die Grenzen ‚spielerischer‘ Propaganda auslotet. Yorck Beese beschäftigt sich in Animationen in jihadistischer Videopropaganda: Bewegung unter dem Gebot des islamischen Anikonismus mit Bild-‚Belebungen‘ und der Generierung visueller Elemente in dschihadistischen Videos allgemein und jenen des IS im Besonderen. Neben einem Überblick zu den verschiedenen Einsatzformen geht er dabei auf die Frage nach den regulativen Rahmen des islamischen Abbildverbots ein. Die Implikationen, Assoziationen und Ausdrucksmöglichkeiten, die Videos im Selfie-Format für terroristische (Einzel-)Täter und für das Genre der audiovisuellen Selbstbezichtigung und -erklärung im Kontext digitaler visueller (Netz-)Kultur mit sich bringen und eröffnen, ist Gegenstand des Beitrags von Lydia Korte und Bernd Zywietz (Selfie-Video als Format propagandistischer Bekennerbotschaft. Bildstrategien im Fall Anis Amris). Objekt ihrer Analyse und Ausgangspunkt für ihre theoretischen Einordnungen ist titelgemäß der Clip des Attentäters vom Berliner Breitscheitplatz 2016. In Der Fall John Cantlie: Parasozialität als Mittel der Propaganda schlägt Sophia Maylin Klewer den Bogen von den Schwerpunktbetrachtungen einzelner Form- und Formataneignungen zum dritten Schwerpunkt: den Medienpräsenzen des Journalisten und IS-Gefangenen John Cantlie, der zwischen 2014 und 2016 in mehreren Videos der Gruppe in Erscheinung trat und vorgeblich mehrere Kommentarartikel für das Dabiq-Magazin verfasste. Klewer befasst sich mit parasozialer Interaktion bzw. Beziehung mit/zur Medienpersona Cantlie als potenziellem Effekt und instrumenteller Ressource der Propaganda, wie sie nicht zuletzt von bestimmten Gestaltungsmerkmalen befördert werden. Cantlies gespensterhaften Status der Verundeutlichung in puncto Präsenz und Absenz, Realität und Imagination thematisiert Anne Ulrich auf Basis von Theoremen v. a. Jacques Derridas und Boris Groys’ (Die Spektralität medialer Bedrohung am

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Beispiel John Cantlie). Die Autorin zeigt dabei auf, wie die Auftritte der Geisel herrschende mediale Ordnungen irritieren. Der dritte Beitrag zu John Cantlie (Medienakteure. Parallele Fragmente) fragt nach dessen medialer Agency und verschiedenen Formen und Positionen der Zuschauerschaft. Medienessayist, Filmkritiker und Hochschulprofessor Kevin B. Lee eröffnet damit zugleich das vierte Themenfeld des Bandes, in dem es um die gedanklichen, emotionalen und methodischen Umgangs-, Verarbeitungs- und Analysemöglichkeiten bezüglich der nicht nur bedeutungskomplexen, sondern auch seelisch und ethisch-moralisch herausfordernden IS-Bild- bzw. -Video-Propaganda geht. Wie Lees Text ist jener von Chloé Galibert-Laîné ein selbstreflexiver Arbeits- und Erfahrungsbericht über die künstlerisch-analytische Auseinandersetzung vor dem Hintergrund eines videoessayistischen Projekts (Framing terroristischer Medieninhalte: Eine videografische Autoethnografie.). Über die Diskussion u. a. Susan Sontags zum Umgang mit Gewaltbildern und Judith Butlers Frame-Begriff stellt ­Galibert-Laîné Videoessayistik als kreative Form video-/autoethnografischer Erkenntnisschöpfung und -präsentation vor. Im letzten Beitrag demonstrieren Simone Pfeifer, Yorck Beese, Alexandra Dick, Larissa-Diana Fuhrmann, Christoph Günther und Bernd Zywietz die Möglichkeiten und Grenzen der kollaborativen, interdisziplinären Analyse eines IS-Videos, das sich selbst um die Medienarbeit des IS dreht. Wie der Auftakttext von Fahlenbrach und Zywietz stellt dieser weniger ein finales Ergebnis dar, sondern bildet einen Austausch- und Entschlüsselungsprozess in ausgearbeiteter Momentaufnahme ab: die Iterationsschritte des Beschreibens und Interpretierens aus islamwissenschaftlicher, ethnologischer, film- und medienwissenschaftlicher Sicht in dialogischer Darstellungsform. Die rekonstruierte Gruppendiskussion als mögliches Format der Propagandatext- und -kontextUntersuchung gibt dabei Einblick in die Arbeit der Nachwuchsforschergruppe Dschihadismus im Internet, die am Institut für Ethnologie und Afrikastudien der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz angesiedelt und vom Bundesministerium für Bildung und Forschung finanziert wird.11 Auch dieser Sammelband ist in diesem Rahmen entstanden. Abschließend noch einige Worte zu den Formalia.

11Förderung

im Programm Forschung für die zivile Sicherheit (Bekanntmachung: „Zivile Sicherheit – Nachwuchsförderung durch interdisziplinären Kompetenzaufbau“), Förderzeitraum: 06/2017–05/2022, Fördersumme: 2,7 Mio. EUR. Weitere Informationen unter: www.jihadism-online.de.

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Wie die Leserinnen und Leser schnell feststellen werden, variiert die Transliteration arabischer Wörter von Beitrag zu Beitrag, also etwa die Übertragung von ‫ داهج‬in jihād, ǧihād, Djihād oder Dschihad. Die Schreibweisen arabischer und islamischer, meist aber auch islamistisch und dschihadistisch (­um-)interpretierter Wendungen und ‚Fachtermini‘ gehen mit einer bestimmten Auffassung von, Sichtweise auf und Haltung gegenüber dem Betrachtungsgegenstand einher. Sie sind von der jeweiligen Untersuchungsfrage und -perspektive mitbedingt. Soll etwa jihād als Fach- und Fremdwort mit eigener Geschichte und spezifischer Herkunft ausgewiesen und respektiert werden? Oder geht es darum, mit Dschihad die Ablösung der Vokabel aus dem Ursprungskontext, ihre Migration, Verengung, ‚Normalisierung‘ und ‚Profanisierung‘ zu betonen; ihrer politisch nicht unerheblichen (Re-)Exotisierung entgegenzuwirken (mithin jene all derer, die das Wort ideologisch-aktivistisch als Losung und Programmbegriff gebrauchen, ohne selbst womöglich Arabisch zu sprechen)? Auch eine bestimmte diskursive Selbstverortung, Herkunft oder Gewohnheit kann in der Entscheidung eine Rolle spielen (internationales bzw. englischsprachiges „j“, alltagsdeutsches „dsch“ oder das „ǧ“ der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft bzw. der DIN-Norm 31635). Aus diesen Gründen ist die Wahl der Umschriftart ebenso wie das Gendern der Sprache bewusst den einzelnen Autorinnen und Autoren bzw. Autorenteams freigestellt geblieben. Was hingegen die besprochenen Propagandamaterialien und Bildauszüge als Belege betrifft, wurde einheitlich darauf verzichtet, konkrete Quellen- als Bezugsangaben aufzuführen. Dies hat praktische Gründe (eine Auffindbarkeit an einzelnen Stellen kann nicht gewährleistet werden), mehr aber noch ethisch-moralische: Ebenso wenig wie wir dschihadistische Medientexte bzw. Werke weiterverbreiten wollen und dürfen, möchten wir deren Auffindbarkeit im Netz befördern, selbst wenn das an ihrer Verfügbarkeit nichts, zumindest nichts signifikant, ändern dürfte. Alle thematisierten, analysierten oder beispielhaft herangezogenen Materialien liegen jedoch den Autorinnen bzw. Autoren und/oder in der Sammlung der Forschungs- und Informationsplattform Online-Propaganda als Teil des Projekts Dschihadismus im Internet vor. Dank: Ganz herzlich danke ich allen Autorinnen und Autoren dieses Buches, die viel Zeit und Energie in ihre Texte und damit in diesen Band investiert haben. Mein Dank gilt zudem Thomas Nolte für sein unermüdliches, sorgfältiges Textkorrektorat – etwaige vorhandene Fehler gehen zu Lasten des Herausgebers – sowie Barbara Emig-Roller von Springer VS für ihre stets professionelle und dabei immer freundliche, aufgeschlossene, geduldige und inspirierende

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Begleitung des Buchprojekts. Schließlich danke ich Prof. Dr. Matthias Krings, der den grundlegenden Rahmen für diese Publikation überhaupt erst ermöglichte. Judith „Evo“ Schroeder danke ich für die geduldige Nachsicht und seelische Unterstützung, wenn die Arbeit an diesem Buch auf Kosten des Privaten ging, sowie Hans Wolf für das notwendige stets offene Ohr zur rechten Zeit. Mainz, Oktober 2019.

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Protest zwischen Aktivismus und Propaganda. Formen und Differenzierungen strategischer Protestkommunikation im Netz Kathrin Fahlenbrach und Bernd Zywietz Zusammenfassung

Der Artikel diskutiert das Verhältnis von Aktivismus, Propaganda und Terrorismus. Am Beispiel liberal-zivilgesellschaftlicher und extremistischer (v. a. dschihadistischer) Gruppierungen stehen dabei Formen der strategischen Kommunikation, Protest und Gewalt im Mittelpunkt. Die schwindende Grenze von Aktivismus und Propaganda unter den Bedingungen sozialer ­Online-Medien und einem damit verbundenen strukturellen Populismus 2.0 werden beleuchtet sowie eine heuristische Typologie von Protestvideos und deren Gemeinsamkeiten und Unterschiede hinsichtlich der Videopropaganda des ‚Islamischen Staats‘ vorgestellt. Schlüsselwörter

Protest · Propaganda · Kommunikation · Aktivismus · Social Web · Web 2.0 ·  Videoaktivismus · Beeinflussung · Netzkultur · Islamischer Staat · Terrorismus

B. Zywietz  Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Mainz, Deutschland E-Mail: [email protected] K. Fahlenbrach (*)  Universität Hamburg, Hamburg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 B. Zywietz (Hrsg.), Propaganda des „Islamischen Staats“, Aktivismus- und Propagandaforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28751-1_2

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1 Aktivismus versus  Gewaltaktivismus Es provoziert wenig Widerspruch, den sogenannten ‚Islamischen Staat‘ (IS) eine Terrororganisation oder -miliz und seine auf Beeinflussung angelegte (teil-)öffentliche Kommunikation bzw. deren Medientexte Propaganda zu ­ nennen. Dies nicht obwohl, sondern weil ‚Terror‘ bzw. ‚Terrorismus‘1 und ‚Propaganda‘ negativ konnotierte Bezeichnungen sind. Seine Mitglieder und Anhänger hingegen als ‚Aktivisten‘ zu titulieren und ihre (v. a. digital-) medialen und ‚analogen‘ (Live-)Auftritte als ‚Aktionen‘ oder ‚Protest‘ dürfte weit weniger Akzeptanz finden. Bei ‚Aktivismus‘ denken viele an Bürgerrechtsdemonstrationen, an das Engagement von Tierschützern, den Einsatz für Homound Transsexuellenrechte und gegen Ausländer- oder Islamfeindlichkeit, konkret vielleicht an die Besetzung des Hambacher Forsts, an „Netzaktivisten“ wie Julian Assange oder Markus Beckedahl, die Proteste in Hongkong, an Occupy, Greenpeace, die Gelbwesten in Frankreich, das Zentrum für politische Schönheit oder die Fridays-for-Future-Bewegung. Den IS hier einzureihen, schiene unpassend. Er steht für Terrorherrschaft in den von ihm besetzten Gebieten, öffentliche Hinrichtungen, die grausame Versklavung von Jesidinnen, für Anschläge und Kriegsverbrechen. Damit steht er antithetisch zu Aktions- und Beteiligungsformen zivilgesellschaftlichen Engagements, öffentlichen Protests bzw. Meinungsäußerungen (z. B. Märschen oder Demonstrationen, Aufrufen zum Boykott) oder auch künstlerischen Aktionen und aktivistischer Kunst (Stichwort ‚Artivism‘, vgl. Elliott et al. 2016). Diffuser gerät der Protest- und AktivismusBegriffsbereich allerdings, wenn linkes, rechtes oder sonstiges populistisches und extremistisches Engagement (z. B. das von PEGIDA oder der Identitären Bewegung) sowie Gewalt(orientiertheit) einbezogen wird. Und sind nicht die Kunstzerstörungen in Palmyra wie dereinst die der Buddha-Statuen von Bamiyan durch die Taliban 2001 ‚irgendwie‘ auch ikonoklastische ‚Aktionen‘? Was unterscheidet Propaganda von politaktivistischem Campaigning? In Abgrenzung zu v. a. staatspropagandistischer Indoktrination, von Desinformation, ‚bezahlter‘ Public Relation und ‚opportunistischem‘ Lobbyismus steht Aktivismus – unabhängig von der Art der Anliegen – für freiwilliges

1‚Terror‘

lässt sich von ‚Terrorismus‘ insofern unterscheiden, als Terror kommunikative einschüchternde Gewalt von ‚oben‘, von einem (vor-)herrschenden Regime, gegenüber der Bevölkerung oder Teilen davon ist, während ‚Terrorismus‘ von ‚unten‘, aus der militärischen und politischen Unterlegenheitsposition ausgeübt wird. Vgl. dazu Zywietz (2016), S. 35 ff.

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Überzeugungshandeln, für ethisches, politisches oder soziales Verantwortungsbewusstsein und einer Einsicht in die Notwendigkeit des Tuns. „Die Neigung zur Aktivität und die Abneigung gegen jede Haltung des passiven Hinnehmens kann man ‚Aktivismus‘ nennen“, so Karl Popper (1974 [1960], S. 6). Dabei lässt sich der Begriff gegenwärtig wohl kaum auf eine innere Disposition reduzieren. Aktivismus kann unterschiedlich klassifiziert werden, u. a. nach der politischen Richtung (rechts, links), nach thematischem Gegenstand oder Anliegen (für Bürgerrechte oder Umwelt, gegen Krieg, Fremdenfeindlichkeit, ‚Islamisierung‘ oder Atomkraft), nach demografischen oder sonstigen Akteurseinteilungen (z. B. Studenten, Schüler, Arbeiter) oder Betätigungsfeldern (Internet- oder Cyber-Aktivismus). Zugleich sind Definitionen – wie die folgende von Athina Karatzogiannis zum Digital-Aktivismus – selbst in der Fachliteratur zu Protestund sonstigen sozialen und politischen Bewegungen bisweilen erstaunlich rar. Digital activism is defined here as political participation, activities and protests organized in digital networks beyond representational politics. It refers to political conduct aiming for reform or revolution by non-state actors and new socio-political formations such as social movements, protest organizations and individuals and groups from the civil society, that is by social actors outside government and corporate influence (Karatzogianni 2015, S. 1).

Hier, aber auch in anderen und vor allen unspezifischeren ­ AktivismusDefinitionen2, wird nichts über die Mittel ausgesagt und besonders nichts über deren Legalität oder Gewaltfreiheit. Lässt es sich nicht auch zumindest von Gewaltaktivismus dort sprechen, wo in entsprechender kommunikationsstrategischer Symbolisierungs- und Agitations-, oder Mobilisationsabsicht Sachen beschädigt, sogar Menschen verbal und körperlich attackiert, entführt oder im Extremfall getötet werden? Man denke etwa an Beschimpfungen von Abtreibungsärzten als ‚Babymörder‘, oder Hetzrufe auf ‚Volksverräter‘ oder ‚faschistische‘ Repräsentanten eines ‚Schweine-‘ oder sonstigen vermeintlichen Unrechtsregimes. Sind nicht auch Straßen- oder ‚Konfrontations‘-Gewalttäter (etwa des „Schwarzen Blocks“) und mehr noch Terroristen jedweder Couleur von der Statthaftigkeit ihrer Anliegen und Angemessenheit ihrer Mittel überzeugte, nicht staatliche und wirtschaftliche Akteure? Es sind Akteure, die

2Beispielsweise

der in der Encyclopedia of Public Relations: „Activism is the process by which special interest groups of people exert pressure on corporations or other institutions to change polices, practices, or conditions that the activists find problematic“ (Smith 2013, S. 6).

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sich, mit Karatzogianni gesprochen, außerhalb des repräsentativen politischen Systems bewegen und auf Reformen oder gar Revolutionen hin agieren? Es ist natürlich legitim, Aktivismus pauschal dort enden zu sehen, wo Militanz beginnt – wie auch immer man sie definieren mag. Theoretisch, analytisch wie historisch und genealogisch war und ist Aktivismus stets eng mit dem Aktionismus affiliiert gewesen – damit mit Subversion, Provokation und Konfrontation (auch auf dem und über das Gebiet der Kunst, mit Formen des Happenings, des Fluxus, des Situationismus)3. Der Schritt zum bewaffneten Kampf ist von dort aus bisweilen klein. Allein schon in der Bezeichnung zieht sich eine gedankliche Linie von Pjotr Alexejewitsch Kropotkins „direkter Aktion“ bis zu den Attentaten der linksextremistischen französischen, zwischen 1979 und 1987 aktiven Action directe. Ist dieser Schritt aber auch ein unerheblicher? Die Grenzen und Grauzonen zwischen gesellschaftlich anerkanntem Einstehen für die eigene Meinung und bestimmte Grundwerte sind in vielfacher Weise problematisch zu ziehen. Das gilt ebenso für die Trennung von öffentlichem und organisiertem Protest, politischer oder demonstrativ ideologischer Beeinflussung sowie für ethisch fragwürdige Aktionsgewalt. Die Problematik der Grenzziehung ist besonders herausforderungsreich für den Konfliktkomplex zwischen muslimischer Identität, Islamismus und Dschihadismus seit den Anschlägen des 11. September 2001. Die Herausforderungen reichen dabei von der Frage individueller Radikalisierung über die Angst vor einer Menschenmasse, deren öffentlicher Protest ins Pogrom umschlagen kann4, bis zur unglücklichen Verwandtschaft zwischen zivilen Aktivisten einerseits und Vertretern eines ‚bewaffneten

3Hecken

(2006) sieht etwa Gruppen wie die Subversive Aktion, die Kommune I und die linken Aktionisten um 1968 als Bindeglied zwischen historischer künstlerischer Avantgarde und terroristischen ‚Gewaltaktivisten‘, die sich ebenfalls als Vorreiter, wenngleich einer anderen Praxis sahen. Zum Verhältnis von Kunst und Terrorismus s. auch Baden (2017), Hakemi (2006); zu den künstlerischen und medialen Protestformen der 1968er-Revolte Klinke und Scharloth (2007). 4Allerdings: „Was bei flüchtigem Anblick als gesichts- und strukturlose Masse erscheinen mag, entpuppt sich bei näherem Hinsehen als ein strukturiertes Kompositum, das durch das Wirken und die zumindest partielle Präsenz von Gruppen, Organisationen und Netzwerken, teilweise auch vermittelt über Hinweise und Ankündigungen der Massenmedien, vorübergehend zustande kommt. Den Kern derer, die sich an einem Massenprotest beteiligen, bilden organisatorisch eingebundene Mitglieder beziehungsweise Aktivisten. Ihnen kann sich eine mehr oder weniger große Zahl organisatorisch ungebundener Einzelpersonen beigesellen. Aber auch diese haben sich in aller Regel erst aufgrund von vorangehenden Informationen, Aufrufen und Gesprächen zur Beteiligung entschieden“ (Ruch 2012, S. 5).

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Kampfes‘ oder ‚Widerstands‘ andererseits. Zu nennen wäre der Nordirlandkonflikt, die Bürgerrechtsbewegung der Schwarzen in den USA, die ‚Linken‘ der BRD der späten 1960er- und 1970er Jahre oder der Widerstand des muslimischen oder gar salafistischen Spektrums hierzulande. „Unglücklich verwandt“ sind die friedlichen und die militanten Gruppierungen und Fraktionen bei aller Distanz und allen manifesten Unterschieden, weil sie von denselben Missständen ausgehend zumindest ähnlich ausgerichtete Großziele verfolgen. Zugleich aber werden die eingesetzten Mittel und Arten der Aktion (mithin auch die der Mobilisierung) als unethisch und als schädlich für die ‚Sache‘ – oder, von der anderen Warte aus, als zu konziliant und ineffektiv – erachtet. Hinzu kommt eine bestimmte Asymmetrie: Aktivisten versuchen in der Regel, sich gegen Gewaltaktivisten abzugrenzen, während Extremisten gerne Gemäßigte vereinnahmen. Sie tun dies, um den eigenen Stellvertreteranspruch zu stärken, die für radikale und damit heterogenitätsunverträgliche Positionen notwendige Einigkeit, kollektive Ge- und Entschlossenheit zu demonstrieren. Extremisten bilden damit eine stille Allianz mit offensiven Vertretern der politischen oder sozialen Gegenseite, die Aktivisten zu diskreditieren trachten – etwa eben über eine attestierte Nähe oder gar strategisch behauptete Zugehörigkeit zum illegalen oder illegitimen militanten Außenrand. Erinnert sei in dem Zusammenhang an den ‚Sympathisanten‘-Diskurs in der BRD der 1970er Jahre.5 Wenn nun im Folgenden von liberalem und anti-liberalem Aktivismus die Rede ist, bleibt zu berücksichtigen, dass sich solcher nicht nur von vornherein

5Im

Deutschland der späten 2010er Jahre ist hier bezüglich eines islamischen/ islamistischen Zivil- und Gewaltaktivismus nichts Vergleichbares auszumachen. Zwar besteht die Sorge hiervor und kommt es zu Maßnahmen gegen extremistische ‚Gefährder‘ und ‚Hassprediger‘ sowie gegen islamistische Betätigungen. Beispiele sind die Verurteilung des Predigers und Aktivisten Sven Lau oder das Verbot der Vereinigung Die wahre Religion im November 2016. Die dominanteren islamskeptischen bis -feindlichen Diskurse und Übergriffe scheinen sich aber auf die allgemeine Flüchtlings- und Zuwanderungssituation, auf vermeintlichen Kulturverlust und Überfremdungsängste zu konzentrieren oder sich daraus zu speisen. Radikalislamistische Militanz oder gar dschihadistischer Terrorismus wie der Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt 2016 spielen hierbei natürlich eine wichtige – auch strategische bzw. rhetorische – Rolle, z. B. im Feindbildrepertoire nicht nur rechter und rechtsradikaler, sondern auch bürgerlicher Kreise. Gleichwohl lag und liegt das Hauptzentrum dschihadistischer Aktionsgewalt – auch was Täter aus Deutschland betrifft – außerhalb Deutschlands (etwa in Syrien), anders als dies bei den Aktionen der Roten Armee Fraktion oder der Bewegung 2. Juni der Fall war. Mit der erwartbaren Rückkehr von (ehemaligen) IS-Kämpfern könnte sich der Diskurs und das gesellschaftliche Klima allerdings schnell ändern.

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auf Basis undemokratischer, antipluralistischer und autoritärer Weltsichten, Wertmuster und Anliegen konstituiert: Auch aus ursprünglich freiheitlich gesinnten und zielorientierten Bewegungen heraus können sich extreme bis extremistische Formen von Aktivismus entwickeln, verbunden mit der Herausbildung und Absplitterung entsprechender Fraktionen. Dies betrifft nicht nur die Anwendung von physischer Gewalt, sondern auch den Einsatz von Propaganda oder immer propagandistischer, immer unwahrhaftiger, verhetzender und manipulativerer bzw. überwältigungskommunikativer Mittel. Das führt uns zum Hauptthema dieses Beitrags und zugleich zurück zur Eingangsfrage. Denn selbst wenn man dem IS oder den sich ihm zugehörig erklärenden Dschihadisten aufgrund ihres Gewalteinsatzes nicht den Status eines Aktivisten zuerkennen möchte, kommt es doch insofern zu Annäherungen, als die extremistische und mithin die dschihadistische Medienarbeit in ihren Formen und Formaten und die des Aktivismus sich immer mehr überschneiden und vermischen.

2 Form-Aneignungen strategischer Kommunikation Mit der zunehmenden Prägung öffentlicher Diskurse durch die sozialen ­Online-Medien haben sich nicht nur aktivistische, sondern auch propagandistische Formen der strategischen Mobilisierung von Öffentlichkeit entscheidend ausgeweitet und verändert. Militante und nicht-militante Gruppierungen wie der Islamische Staat oder die Identitäre Bewegung in Europa verbreiten ihre autoritär-ideologischen Botschaften in Form populärer Mediengattungen und -genres wie TV-Nachrichten, Action-Games, Kampf-Videos, Musikvideos oder ­Internet-Memes.6 Wie es Anne Ulrich (2017 [2019], S. 110 ff.) treffend konstatiert, erzeugen sie „epistemische Irritationen“ im postmodernen Spiel mit kollektivem Medienwissen, um breitenwirksam Aufmerksamkeit zu erzielen.7 Die aufklärerische Tradition linker Kommunikationsguerilla aufgreifend (vgl. Fahlenbrach 2019), werden vertraute Formen gewissermaßen subversiv mit doktrinären und häufig gewalthaltigen Botschaften resemiotisiert (vgl. Bogerts und Fielitz 2018). Vor allem Bildmedien eignen sich in ihren diversen populären

6Vgl. 7Vgl.

hierzu auch den Beitrag von Bernd Zywietz in diesem Band. hierzu auch den Beitrag von Anne Ulrich in diesem Band.

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Erscheinungsweisen dazu, den propagandistischen Charakter einer Botschaft zu verschleiern und diese auf unterhaltsame und eingängige Weise einem breiteren Publikum nahe zu bringen. Die Irritation wird noch gesteigert, wenn nicht nur populäre, sondern auch aktivistische Bildformen und ihre Ästhetik (wie ‚linke‘ ­Agitprop-Ästhetik) adaptiert werden, die traditionell von liberalen, emanzipativen sozialen Bewegungen bekannt sind. Während sich also die Propaganda radikaler und terroristischer Gruppierungen in ihren ästhetischen und medialen Erscheinungsweisen zunehmend bereits vertrauter medialer Formen und Konventionen bedient, leisten die kommunikativen Infrastrukturen des Web 2.0 mittels personalisierter Netzwerke dieser Verschleierung zusätzlich Vorschub. Indem individuelle Nutzer gewissermaßen zu ‚Portalen‘ der Kommunikation werden (vgl. Castells 2015), werden propagandistische Botschaften als Ausdruck subjektiver Überzeugungen und Emotionen beglaubigt. In ihrer kollektiven, diskursiven Dynamik erscheinen sie als Äußerungen eines sich im Netz formierenden Bürger-, Volks- oder Glaubensgruppenwillens. Im Folgenden werden die Voraussetzungen im Web 2.0 skizziert, welche die strategische Bildkommunikation von sozialen Bewegungen, Aktivisten, aber auch radikalen Gruppierungen – die allerdings selbst auch aktivistisch auftreten können – entscheidend prägen. Dabei wird berücksichtigt, wie gerade auf der phänomenalen Ebene von Online-Videos die Grenzen zwischen aufklärerischem Aktivismus und ihre Doktrin verschleiernde Propaganda verschwimmen. Ausgangspunkt dieses Beitrags ist eine heuristische Unterscheidung dieser beiden Bereiche Aktivismus und Propaganda und der Frage, wie sich die Propaganda des „Islamischen Staats“ (IS) darin einordnet. Das Anliegen ist dabei, Propaganda als Begriff und Objekt der Untersuchung nicht als etwas Gesetztes, Gegebenes und Voraussetzungsloses zu konzipieren, sondern die enge Verwandtschaft zwischen ihr und anderen Formen politisch-persuasiver und aktivistischer Kommunikation aufzuzeigen. Dabei ist deutlich zu machen, dass diese Formen auch jenseits konkreter Anliegen, die mit ihnen verfolgt werden, schlichtweg nicht gleichzusetzen sind.

3 Aktivismus und Propaganda: Einige Unterscheidungen Bevor das tendenzielle Verwischen der Grenzen zwischen strategischer Kommunikation im Aktivismus (auch: öffentliche Mobilisierung) und Propaganda im Web 2.0 näher betrachtet wird, seien einige prototypische

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Unterscheidungen dieser beiden Bereiche knapp skizziert.8 Ausgangspunkt ist hierbei die einschlägige Definition von Propaganda, wie sie Bussemer (2013) vorgeschlagen hat: Propaganda kann (…) als die in der Regel medienvermittelte Formierung handlungsrelevanter Meinungen und Einstellungen politischer oder sozialer Großgruppen durch symbolische Kommunikation und als Herstellung von Öffentlichkeit zugunsten bestimmter Interessen verstanden werden. Propaganda zeichnet sich durch die Komplementarität vom überhöhten Selbst- und denunzierendem Fremdbild aus und ordnet Wahrheit dem instrumentellen Kriterium der Effizienz unter. Ihre Botschaften und Handlungsaufforderungen versucht sie zu naturalisieren und mit vorhandenen Frames zu verknüpfen, damit diese als selbstverständliche und nahe liegende Schlussfolgerungen erscheinen (Bussemer 2013, S. 7).

Hier wird einerseits ein generell strategischer Charakter von Propaganda benannt, der in dieser Allgemeinheit auch auf andere Formen der Mobilisierung öffentlicher Meinung wie PR oder Werbung zutrifft. Als wesentliches Unterscheidungsmerkmal bezeichnet Bussemer daneben gezielt eingesetzte manipulative Aspekte, mittels derer das eigene Selbstbild und Interesse öffentlich durchgesetzt werden soll. Propaganda ist aber nicht nur mit Blick auf ihre textuellen Formen und Strategien zu unterscheiden, sondern auch mit Blick auf die Sender und kommunikativen Kontexte. In Anlehnung an Bussemer lässt sich zwischen starker und schwacher Propaganda differenzieren.9 Starke Propaganda kann als strategische Kommunikation von meist hegemonialen politischen Akteuren aufgefasst werden, die auf die wirkungsstarke Beeinflussung grundlegender handlungsrelevanter Einstellungen großer (z. B. nationale oder politische) Kollektive abzielt und der (z. B. politischen oder militärischen) Machtsicherung bzw. dem Machterhalt dient. Starke Propaganda setzt voraus, dass die Infrastrukturen öffentlicher Kommunikation von Machthabenden gesteuert und kontrolliert werden, was v. a. in autoritären und totalitären Systemen der Fall ist. Schwache Propaganda ist hingegen mit Bussemer (vgl. ebd., S. 11) ein ubiquitäres Phänomen, das in der Regel als Public Relations (PR) bezeichnet

8Aus

pragmatischen Gründen wird auf eine umfassende epistemologische und kommunikationstheoretische Diskussion verzichtet, wie sie an anderer Stelle geführt wird (vgl. Zywietz 2018; Ulrich 2017 [2019]; Bussemer 2013). 9Bussemer (2013) unterscheidet in der Begriffsgeschichte von Propaganda dementsprechend eine enge von einer weiten Auffassung von Propaganda.

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wird. Hierbei handelt es sich um strategische Kommunikation hegemonialer und marginaler gesellschaftlicher Akteure (z. B. Politik/PR, Wirtschaft/Werbung, Aktivismus/Mobilisierung), die auf die Beeinflussung partikularer handlungsrelevanter Einstellungen großer Gruppen abzielt (z. B. Kaufverhalten oder umweltbewusstes Alltagshandeln). In demokratischen Mediengesellschaften wirkt solche Propaganda i. d. R. relativ schwach, da sie dort nur eingeschränkt planbar und steuerbar ist und mit alternativen Stimmen und Sichtweisen konkurriert. Sie ist aus diesem Grund in solchen Gesellschaften meist auf spezifische Zielgruppen ausgerichtet. Während sich die Akteure und die sozialen, kommunikativen Bedingungen von starker und schwacher Propaganda in ihren prototypischen Erscheinungsweisen wesentlich unterscheiden, sind sie hinsichtlich ihres Arsenals an rhetorischen Mitteln und ihrer textuellen Eigenschaften durchaus eng verwandt (vgl. Zywietz 2018; Bussemer 2013). Daher lässt sich in Anschluss an Zywietz (2018) von Propaganda mit Blick auf ihre Medientexte als einer „graduellen Eigenschaft“ sprechen, die unterschiedlich stark ausgeprägt sein kann.10 Zywietz unterscheidet vier Dimensionen von Medientexten, auf denen sich der Grad der „Propagandivität“ manifestiert: a) die persuasiv-rhetorische Absicht der Autoren; b) die textuellen Wirkungspotenziale sowie die argumentationslogischen und ästhetischen Strukturen eines Textes; c) die empirische Nutzung durch die Rezipienten und d) die intertextuellen und diskursiven Einbettungen eines Textes, die verwendeten generischen Medienkonventionen sowie der medial-situative Kontext (vgl. ebd.). „Propaganda wären demnach solche Texte oder solche Texthandlungen, die etwa in besonderem Maße auf politisch-ideologische Persuasion abzielen oder ein derartiges hohes persuasives Potential aufweisen“ (ebd.). Dieser Vorschlag bietet den Vorteil, essenzialistische Festschreibungen einzelner Mediengattungen und rhetorischer Mittel als ‚propagandistisch‘ zu vermeiden, zumal dies in der Regel mit pejorativen Wertungen einhergeht. Vielmehr lassen sich somit propagandistische Formen und Stile im medialen Wandel über Mediengattungsgrenzen hinweg beschreiben. Dies scheint umso sinnvoller, als zwar seit jeher Propaganda sich jedweder Mediengattungen, -formen und -formate bedienen kann, mit den medientechnischen und -technologischen Umbrüchen der letzten Jahrzehnte und vor allem dem Web 2.0 die notwendigen Produktions-, Distributions- und Präsentationsmittel aber massenverfügbar sind. Gerade für die Unterscheidung von aktivistischer und propagandistischer Mobilisierung in den Online-Sphären ist die Differenzierung textueller Eigenschaften

10Siehe

hierzu wie im Folgenden auch die Einleitung dieses Bandes.

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und prototypischer Grundzüge von Akteursgruppen ausschlaggebend. Typische Akteure starker Propaganda sind entweder machtvolle Eliten in autoritären bzw. gleichgeschalteten Systemen oder Anhänger und Vertreter a­ nti-liberaler Bewegungen und Gruppierungen. Rechtsextreme Bewegungen etwa oder radikalislamistische, darunter v. a. salafistische Organisationen wie der Islamische Staat zielen darauf ab, freiheitliche Grundwerte rückgängig zu machen oder zu verhindern. Sie kämpfen etwa für die Abschaffung gesellschaftlicher Pluralität, von Minderheitenrechten und emanzipativer Frauenbilder, wobei sie sich an autoritären, anti-liberalen Gesellschaftsmodellen orientieren. Demgegenüber zeichnen sich liberale Bewegungen durch ein Eintreten für liberale, progressive und emanzipative Werte aus – eben jene, die von den anti-liberalen Bewegungen abgelehnt werden. Historisch sind sie wesent­ lich geprägt von linksgerichteten sozialen Bewegungen wie Frauenbewegung, Schwulenbewegung oder Umweltbewegung, aber auch antikolonialistischen Bestrebungen. In Form schwacher Propaganda zielen sie auf die Änderung kultureller, alltagspraktischer oder politischer Einstellungen und Handlungen und deren Möglichkeitsräumen, wobei sie sich auf zivilgesellschaftliche Grundwerte demokratischer Gesellschaften beziehen (z. B. Meinungsfreiheit, Entfaltung individueller Freiheit, soziales und historisches Verantwortungsbewusstsein). Da sie sich auf einen gesellschaftlichen Grundwertekonsens beziehen, können sie hieran ethisch und politisch offen appellieren. Auch orientieren sie sich an kommunikationsethischen Grundregeln. Die ideellen Handlungsmotivationen und Ziele werden daher nicht – wie in starker Propaganda – verschleiert, sondern offensiv und transparent vorgetragen. Auch wird hier demonstrativ die eigene Stimme bzw. die eigene Person expressiv eingebracht (s. 4.0), statt sich auf allgemeine überzeitliche Glaubensgrundsätze, unhinterfragte Gewissheiten und überindividuelle Autoritäten bzw. historische oder metaphysische Autorisierung (i. S. v. ‚Berufung‘) zu stützen. Die Verwendung von PR- oder Propagandatechniken wird damit im Aktivismus primär in den Dienst von Aufklärungsarbeit gestellt, um demokratische Gesellschaften mit ihren eigenen Grundwerten zu konfrontieren. Was zeichnet nun im Engeren öffentliche Mobilisierung im Aktivismus aus, die auch als schwache Propaganda bezeichnet werden kann? Ein übergreifendes Kernanliegen ist die Mobilisierung von Unterstützern, Allianzpartnern (z. B. in der Wissenschaft) und von öffentlicher Meinung, um Druck auf Entscheidungsträger auszuüben und Veränderungen herbeizuführen. Mobilisierung kann dabei etwa über Lobbyarbeit, die gezielte Aktivierung bereits vorhandener Unterstützernetzwerke geschehen (etwa über Online-Petitionen) oder über publikumswirksame öffentliche (Medien-)Aktionen und Kampagnen. Die Bewegungsforschung

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(vgl. Fahlenbrach 2010; van den Donk et al. 2004) unterscheidet hierbei zwei generelle Aspekte, die in der Praxis gleichwohl zusammenlaufen: zum einen instrumentelle Mobilisierung als strategische Handlungen, die v. a. an Adressaten außerhalb einer Bewegung oder eines Netzwerkes gerichtet sind (v. a. politische, journalistische oder wirtschaftliche Entscheidungseliten) und durch die gezielt Veränderungen herbei geführt werden sollen; zum anderen expressive Mobilisierung als strategische Handlungen, die v. a. intern an bereits vorhandene oder potenzielle Teilnehmer und Unterstützer gerichtet sind, deren Werte, Weltund Selbstbilder angesprochen werden. Expressive Mobilisierung zielt daher auch auf Bindung und die Stärkung vorhandener Netzwerke ab. Typischerweise ist instrumentelle Mobilisierung mittels Bilder und Sprache mit dem Gestus der Information, Aufklärung und dem Bestreben verbunden, über Faktenaustausch und Argumente die Einstellungen und Entscheidungen ihrer Adressaten zu ändern (auch: consensus mobilization, vgl. Klandermans 1997, s. u.). Daneben zeichnet den expressiv-mobilisierenden Einsatz von Bildern und Sprache aus, dass sie Protestaktionen auf der Straße dokumentieren (auch: action mobilization, vgl. ebd., s. u.), physische Konfrontationen während Demonstrationen, aber auch affektiv nachbearbeitetes Bildmaterial (z.  B. Mashup-Videos oder Foto-Memes) aufweisen. In der von den linearen Massenmedien dominierten Öffentlichkeit haben auch die expressiven Formen der Mobilisierung unmittelbar instrumentelle Funktionen (vgl. Fahlenbrach 2010). Dies gilt vor allem für die strategische Berücksichtigung der journalistischen Selektionsfilter, für welche expressiv aufgeladene Bilder und Aktionen im ‚natürlichen‘ Fokus der Aufmerksamkeit stehen. Diese Vermischung von instrumentell nach außen und expressiv nach innen gerichteter Mobilisierung hat sich in den Online-Sphären des Web 2.0 nochmals zugespitzt, wo die Grenze zwischen Sendern und Empfängern sowie zwischen ‚innen‘ und ‚außen‘ eines aktivistischen Netzwerkes fließend geworden sind. Wie weiter unten argumentiert wird (s. Punkt 5), sind dabei auch die Grenzen zwischen visueller Mobilisierung im Online-Aktivismus und Online-Propaganda diffuser geworden.

4 Protest und öffentliche Expressivität Wenn von expressiver Mobilisierung die Rede ist, ist zu betonen, dass Expressivität selbst wiederum – idealtypisch – sowohl strategisch-performativer als auch spontaner und ‚aufrichtiger‘ Selbstausdruck innerer Haltungen und Überzeugungen sein kann.

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Beides sind zwei ‚Pole‘ derselben Performativität (ob die einer Kunstperformance, medientextueller ‚Sprechakt‘ oder Lifestyle-Entscheidung) und damit nur heuristisch oder als analytisch-kategorial voneinander abzulösen. Mit Blick auf die Idee einer graduellen Propaganda oder unterschiedlicher Grade der „Propagandivität“ macht es allerdings einen Unterschied, ob ökologisch bewusstes Auftreten oder das Tragen salafistischer oder anderweitig kodierter Haar- und Kleidungstracht eher ‚authentische‘ Selbstpräsentation ist oder bloße Inszenierung. Dies insbesondere, wenn mit letzterer Zugehörigkeit und Gleichgesinntheit zum Zwecke der (Schein-)Authentizität, der Glaubwürdigkeit und Sympathie lediglich vorgespielt werden. Das Überzeugungskalkül, die Intentionalität und der Grad des Bewusstseins dafür können sich in einzelnen rhetorischen Situationen jedoch stetig ändern und changieren. Bei der Bestimmung der Ausdrucksmotivation handelt es sich daher weitgehend um eine Zuschreibung von Motiven und Kalkülen und damit um eine ­analytisch-methodische Frage. Gerade was den Aspekt der Expressivität im Sinne der Selbstausdruckshaftigkeit betrifft, ist zudem ein Begriff näher zu betrachten, der im Folgenden eine Rolle spielt: der des Protests. Er kann dazu dienen, das Verhältnis zwischen Aktivismus, Gewalt und Propaganda zu akzentuieren. Mithin wird über ihn spezifischer beschreibbar, inwiefern terroristische und propagandistische Praxis aktivistisch ist. Protest lässt sich in unserem Zusammenhang definieren als „a form of contesting communication by the use of different media and strategies and in the broad context of different social and cultural institutions and actors“ (Fahlenbrach et al. 2016, S. 1). Dabei ist abermals der Status der ihnen zugrunde liegenden Anliegen und Doktrinen zunächst irrelevant. Zentral ist, dass es sich um „contesting“ (kontestative), d. h. anfechtende oder infragestellende Kommunikation handelt. Protest wendet sich stets gegen etwas, wie etwa gegen die Gesetzespläne 2019 in Hongkong oder gegen größere politische Machtstrukturen und gesellschaftliche Zustände in einem oder mehreren Ländern wie im Arabischen Frühling ab 2010. Nicht-kontestative Kommunikation ist hingegen die interne Planung und Organisation, das Umwerben potenzieller Anhänger oder das Darlegen konstruktiver, als positiv erachteter Gestaltungsoptionen. Charakteristisch für Protest ist eine zweifache, gleichwohl verschränkte Performativität: im Sinne der handlungstheoretischen Sprech- bzw. Medientextakte (das Anklagende oder Unmutsäußernde der Plakate, der Slogans, des Skandierens und Marschierens im Demonstrationszug) sowie im Sinne einer öffentlichen Performance (des Aufführens oder des Vollzugs jener Akte). Was das Verhältnis zu Gewaltaktivismus betrifft, sind Protestaktion von militanten Aktionen dahin

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gehend unterscheidbar, dass sie einer anderen Logik der Öffentlichkeit, Aufmerksamkeit und Beeinflussung folgen. Auch wenn beispielsweise Terrorismus in hohem Maße symbolisch-kommunikativ ist (vgl. Zywietz 2016, S. 36 f.), ist etwa ein Bombenanschlag unmittelbar weniger anklagend und Missstände offenlegend als eine Protesthandlung, sondern aktionistisch im Sinne der Erpressung, der Eskalation oder der Aufwiegelung. Das bedeutet nicht, dass Protest per se gewaltfrei ist. Mit Ruch (2012, S. 3 f.) lässt sich etwa quantitative Mobilisierung (Massenauftritte und Massenaktionen) mit kurzfristigen, relativ unaufwendigen bzw. gefahrlosen Protestformen von qualitativer Mobilisierung unterscheiden, bei der „das intensive, riskante und/oder opferbereite Engagement“ (ebd., S. 4) von Wenigen vorherrscht, das entsprechend hohe Entschlossenheit und Betroffenheit signalisiert. Die Gewalt, die hierbei ausgeübt werden kann, ist gegen die eigene Person gerichtet, kann reale physische Eigenschädigung darstellen und ist mithin überaus aufmerksamkeitspotent und nachrichtenwertig, weil stark affizierend und emotionalisierend. Drastische Beispiele bietet dafür der russische Politkünstler Pjotr Pawlenski, der u. a. gegen die Verhaftung der ­Aktivisten-Punkband Pussy Riot protestierte, indem er sich in Stacheldraht wickelte und sich den Mund zunähte oder wider Polizeiwillkür sich auf dem Roten Platz in Moskau seine Hoden auf dem Boden festnagelte (vgl. Bota 2016). Eine klassische Protestform der Selbstgewalt ist der Hungerstreik. Sie kann, wie prominent im Fall der inhaftierten RAF- und IRA-Mitglieder Holger Meins oder Robert „Bobby“ Sands in Nordirland, gar zum Tod führen. Andere Fälle einer ‚Selbstaufopferung‘ in Form der Selbstverbrennung praktizierten der Mönch Thích Quảng Đức in seinem Protest gegen die gegen die Unterdrückung der buddhistischen Bevölkerung in Vietnam 1963 oder der tunesische arbeitslose Händler Mohamed Bouazizi, dessen demonstrativer Suizid am 17. Dezember 2010 als Auslöser des Arabischen Frühlings gehandelt wird.11 Es scheint nur ein kleiner Schritt, der von Akten der Selbstaufopferung zu einer terroristischen Militanz und extremen Protest vereinigenden Taktik führt: die des Selbstmordattentats. Dazu zählen auch die Aktionen von Dschihadisten (inklusive denen, die sich dem IS zugehörig erklärten), die sich selbst als Shahid erachten bzw. von Gleichgesinnten als solche erachtet werden. Analog zur Wortbedeutung gelten sie damit als ‚Märtyrer‘ und „Bezeugender“, womit auch etymologisch die Brücke zwischen Protest und Terrorismus geschlagen ist, zumal sich ‚Protest‘ vom Spätlateinischen protestor ableitet: öffentlich bezeugen oder versichern.

11Vgl.

zur „kommunikativen Dimension des politisch motivierten Suizids“ Graitl (2012). Zum Thema Suizidattentat und Bekennervideo siehe auch den Beitrag von Lydia Korte und Bernd Zywietz in diesem Band.

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Gerade im Selbstmordattentat verbinden sich Militanz- und Protestlogik. Ihr Unterschied wird jedoch u. a. anhand der Abschieds- oder Bekennerbotschaften explizierbar. In ihnen kann z. B. der militärische ‚Erfolg‘ (die Tötung einer bestimmten Person, etwa eines hochrangigen Politikers) vom terrorisierenden Schrecken und Bedrohen (z. B. explizit im Verweis darauf, dass genügend Anhänger dem Beispiel des Suizidattentäters folgen werden) differenziert werden. Davon wiederum zu unterscheiden ist die kontestative Selbsterklärung der Täterperson und der Erläuterung ihrer Handlungsmotive. Entsprechend differenziert Graitl (2012, S. 243 ff.) gemäß seiner Typologie der Abschiedsbriefe verschiedene defensive und offensive Akteurstypen, in der auch Suizidattentaten eine Mobilisierungs- und Protestfunktion zugesprochen wird. Dabei sind selbst jedoch wieder die heterogenen Adressatengruppen (die eigene Gemeinschaft, die/eine Öffentlichkeit und der Feind) und verschiedene Arten des Auftretens zu unterscheiden: demütig, verzweifelt, aber auch stark/unbesiegbar oder – im Falle des „Racheengel“-Typus – vollstreckend. Die Frage, inwiefern es sich im Fall des Aktes selbst- und fremdmordendem Protest um (starke oder schwache) Propaganda handelt, ist schwer pauschal zu klären. Der zentrale demonstrative Gewaltakt stellt selbst zwar ein Überwältigungssignal dar, das sich mit dem Schlagworttheorem der „Propaganda der Tat“ (vgl. Elter 2008, S. 63 ff.) fassen lässt. Tatsächlich aber braucht es stets eine quasi paratextuelle Einordnung, in der die konkreten kontestativen oder terroristischen Beweggründe, Ziele und weiteren Deutungsinformationen mitoder nachgeliefert werden. Die einordnenden Medientexte können vom (­ Gewalt-) Aktivisten selbst produziert sein, aber auch von anderen Akteuren. Diese können etwa die Mitglieder der militanten oder non-militanten Gemeinschaft sein, in deren Name der Handelnde bzw. Terrorist agierte, oder Vertreter des attackierten bzw. angeklagten Feindes (etwa einer Regierung). Hier muss die Frage nach der Propagandastärke oder -charakteristik ansetzen, vor allem, wenn wir die strategische Kommunikation im Netz in den Blick nehmen. Leitfragen sind u. a.: Wie sehr wird ein Protestakt als solcher aufbereitet und vereinnahmt? Werden Ambivalenzen zugelassen und Faktoren jenseits der ‚Sache‘ anerkannt? Erfolgt eine extreme Heroisierung und Verklärung oder aber Dämonisierung und Pathologisierung des protestierenden ‚Täters‘, seiner Biografie und seines Charakters? Ersteres ist stark verbreitet in der dschihadistischen Propaganda und ihren Märtyrer-Eulogien im Videoformat oder in der Rubrik Among the Believers Are Men in dem IS-Onlinemagazin Dabiq.

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Gerade hinsichtlich der Kommunikation im Web 2.0 ist aber nicht nur die ‚offizielle‘ Begleitkommunikation und ihr Framing relevant, sondern auch, wie sie vom Publikum aufgenommen wird und im Netz mit anderen medialen Äußerungsformen und -formaten diskursiv interagiert.

5 Voraussetzungen und Probleme strategischer Protestkommunikation im Web 2.0 Die partizipative Netzkultur hat nicht nur populäre (vgl. Jenkins 2006), sondern längst auch politische und aktivistische Diskurse wesentlich verändert. Besonders die sozialen Online-Medien haben neue diskursive Formen und Dynamiken hervorgebracht – auch und vor allem in der Protestkommunikation. Während öffentliche Sichtbarkeit in modernen Mediengesellschaften schon immer ein zentrales Kriterium für den Erfolg einer sozialen Bewegung war (vgl. u. a. Fahlenbrach 2010), prägten lange Zeit die linearen Massenmedien die Strukturen und Strategien öffentlicher Mobilisierung (ebd.). Die damit einhergehende hegemoniale Vormachtstellung journalistischer Presse- und Rundfunkmedien schien mit dem Aufkommen von Internet und sozialen Online-Medien überwunden und eine „Kultur der Freiheit“ (Castells 2015, S. 259) eingeläutet, in der öffentliche Diskurse nicht mehr nur von einzelnen Akteuren, sondern von jedem einzelnen Nutzer potenziell mitgestaltet werden können – so wie es einst Brecht in seiner Radio-Utopie entworfen hatte. Wie sich längst beobachten lässt, gehen mit dieser strukturellen Freiheit ungeteilter Partizipation allerdings Grenzen und Risiken einher, die besonders für soziale Bewegungen und Aktivisten folgenreich sind. An erster Stelle ist die Zersplitterung von aktivistischer und politischer Öffentlichkeit in unzählige Teilöffentlichkeiten zu nennen, die über personalisierte Netzwerke generiert werden (vgl. Bennet und Segerberg 2014). In der Protestkommunikation sind es immer seltener zentral agierende Bewegungsakteure (wie Nichtregierungsorganisation bzw. Non-governmental organizations, kurz NGOs), die öffentlichkeitsübergreifend für politische und gesellschaftskritische Positionen einstehen. Protestdiskurse werden vielmehr im Zusammenspiel von dezentral und individuell kommunizierenden Aktivisten, von sympathisierenden Meinungsführern im Netz (v. a. Blogger, Influencer) sowie von individuellen Nutzerbeiträgen geprägt, die durch virale Effekte kurzfristig öffentliche Meinungen prägen. Dies gilt verstärkt auch für extremistische und propagandistische Kommunikation im Netz. Im dynamischen Zusammenspiel dieser verschiedenen

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Akteure können sich ad hoc temporäre Netzwerke um ein Protestthema ausbilden, deren ‚Knoten‘ nur lose über gemeinsame Werte und Ziele miteinander verbunden sind. In den Kanälen der sozialen O ­ nline-Medien verschmelzen dabei Formen der individuellen Interaktion (wie persönliche Kommentare, Likes und Nutzer-Beiträge) mit denen der massenmedialen Adressierung eines dispersen Publikums. Treffend charakterisiert Castells (2015, S. 248) diese Art der hybriden Kommunikation als „mass-self-communication“, in der aktivistische Massenkommunikation aus personalisierten Interaktionen hervorgeht, die implizit oder explizit ein breites Publikum adressieren. Ihre emergente Dynamik bringt es mit sich, dass sie nur bedingt strategisch geplant werden kann. In den zersplitterten öffentlichen Online-Sphären ist eine breitenwirksame Sichtbarkeit schwer zu erzielen – trotz der massenmedialen Disposition der sozialen Online-Medien. Aufgrund ihrer starken Personalisierung (vgl. Bennett und Segerberg 2014) hängt der Erfolg in den Netzöffentlichkeiten v. a. davon ab, eine große Menge an Individuen zu aktiven positiven Resonanzen zu bewegen. Dies impliziert, dass jene aktivistischen Themen, Ziele und Bilder besonders erfolgreich sind, die die Weltsichten, Lebensentwürfe und Emotionen individueller Nutzer ansprechen. Damit einher geht tendenziell eine sogar größere Bedeutung von affektgeladenen, spektakelhaften Bildern und Nachrichten, als dies in den linearen journalistischen Massenmedien bisher der Fall war (abgesehen von Boulevardpresse und RealityTV). Während die Selektionsfilter der Massenmedien und ihre Gatekeeper eindeutig adressierbar waren und sind, sind die Online-Publika in ihrer viralen Dynamik fluide und nur diffus identifizierbar. Wie es diverse Studien zeigen (z. B. Kavada 2015; Razsa 2014; Guadagno et al. 2013; Thorson et al. 2013), setzen sich im Online-Aktivismus daher längst kommunikative Praktiken durch, die affektgeladenes, expressives Bildmaterial nutzen (z. B. Gewaltdokumentationen, Mashup-Videos, Bildcollagen und Memes), womit sie habituelle und emotionale Dispositionen der Nutzer ansprechen. Zudem vermischen sich strategische Kommunikationen aktivistischer Sender mit ad hoc geäußerten persönlichen und individuellen Beiträgen in den Online-Protestdiskursen. Damit wird gerade emotionalen Wertungen zusätzlich Vorschub geleistet. Strategisch adressierte und subjektiv artikulierte Emotionen können damit wesentlich Protestdiskurse im Netz prägen. Im Mittelpunkt stehen in der Regel moralische Emotionen wie Wut, Ekel oder Stolz, die ein soziales oder politisches Problem bereits intuitiv und reflexhaft moralisch bewerten lassen (s. u.). Besonders Bilder sind geeignet, in den ­Online-Sphären Menschen grenzüberschreitend und schnell emotional zu

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mobilisieren. Sie erhöhen die Chance auf aktive Weiterverbreitung aktivistischer oder propagandistischer Beiträge, was im Netzzeitalter eine wesentliche Ressource darstellt. Die Tendenz zu Emotionalisierung und Personalisierung von Protestkommunikation geht einher mit einer anderen Kerneigenschaft partizipativer Netzkultur: eine strukturelle Disposition zum Populismus (vgl. Gerbaudo 2015). So dominiert im Online-Aktivismus diskursübergreifend (bei liberalen wie anti-liberalen Bewegungen und Gruppierungen) das Ethos, das Internet als einen freien und autonomen Kommunikationsraum aufzufassen, in dem graswurzelbasierte Formen direkter Demokratie praktiziert werden können. In dieser öffentlichen Sphäre sollen Bedürfnisse, Interessen und Meinungen der breiten Netzgemeinschaft sichtbar werden – unbehelligt von politischen und kommerziellen Zwängen und im Zweifel in Opposition zu den herrschenden Entscheidungseliten. Wie es Gerbaudo (2015) beobachtet, hat sich damit ein Populismus 2.0 etabliert, der das Internet als öffentliche Sphäre des ‚gemeinen Nutzers‘ und einer sich im Netz artikulierenden zivilen Mehrheit auffasst, als deren Sprachrohr sich aktivistische Netzwerke gerne betrachten. Diese idealisierte Idee einer „Kultur der Freiheit“ (Castells 2015, S. 259) kann als mobilisierendes Argument eingesetzt, aber auch propagandistisch instrumentalisiert werden. Im Unterschied zu den sozialen Bewegungen in der Ära der linearen Massenmedien richtet sich Protestkommunikation daher nicht primär an Eliten, sondern in erster Linie an die ‚Netzbürger‘, von deren Anteilnahme, Sympathiebekundungen und personalisierter Verbreitung der virale und politische Erfolg einer Aktion wesentlich abhängig ist. Dies gilt sowohl für liberale wie anti-liberale Bewegungen, die in ihren Online-Kampagnen mit Einheitsappellen ‚im Namen des gemeinen Netzbürgers‘ auftreten (vgl. Gerbaudo 2015). Beispielhaft sei die Occupy-Bewegung mit ihrem eingängigen Slogan „we are 99%“ genannt oder die Pegida-Bewegung mit ihrem an die DDR-Revolte erinnernden Slogan „Wir sind das Volk“. Unter diesen Voraussetzungen sind auch die Grenzen zwischen aktivistischer Protestkommunikation und propagandistischer Kommunikation diffuser geworden. Genauer gesagt, lassen sich die aktivistischen Formen der medialen Mobilisierung im Web 2.0 leichter propagandistisch instrumentalisieren, wobei der manipulative Charakter einfacher als zuvor kaschiert werden kann. Umgekehrt stehen Protest- und anderen Bewegungen verstärkt propagandistische Verfahren zur Verfügung.

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6 Zu islamistischem und dschihadistischem W ­ ebProtest und ‚IS-Aktivismus‘ Wie die Rede von einem ‚Populismus 2.0‘ findet sich auch in Wendungen wie ‚Dschihad 2.0‘12, ein besonderer Bezug zum Web 2.0. Dies betrifft sowohl islamistische sowie inter- und transnationale dschihadistische Bewegungen (vgl. Khosrokhavar (2016 [2009]). Im Gegensatz zu ‚dem Populismus‘ zielt ‚der Dschihadismus‘ als „largest utopian, anti-Western, and anti-democratic movement“ (ebd.) aber nicht oder nur marginal auf eine zivile Mehrheit innerhalb einer Meinungsöffentlichkeit ab. Vielmehr richtet er sich vor allem an salafistische Dschihadisten in ihrer autoritären politreligiösen Doktrin, die Gottes Wort an höchster Stelle setzt und die auch Parlamentarismus und Volkssouveränität ablehnt. Gleichwohl spielen natürlich die Verbreitung der ‚rechten‘ Lehre über Online-Netzwerke sowie die Rekrutierung und Mobilisierung in und über das Internet eine eminente Rolle. In Web-Foren etwa finden sich Gleichgesinnte und tauschen sich (und Medienmaterialien) untereinander aus. Eine Gruppierung wie der IS bzw. ihre offiziellen Medienstellen wie das al-Ḥayāt Media Center13 betreiben oder produzieren in erster Linie ‚nur‘ Propaganda. Demgegenüber finden sich weitergehende ‚aktivistische‘ Formen vor allen bei assoziierten Verbünden oder dschihadistischen Netzwerken und vernetzen Individuen, die das Material weiterbereiten und sich und ihren Austausch selbst organisieren. Selbst wenn diese Art von Social-Media-Aktivismus innerhalb der Propaganda des IS als eine Form des Dschihad beworben wird14 und personale oder medientechnische Kontinuitäten und Übergänge bestehen, ist es adäquat, etwa den IS eher als militant-terroristische Gruppierung sowie als eine Art Produktmarke zu betrachten, mit der (und mit deren Medientextmaterial) selbst in Pro-IS-Kreisen demonstrativ und agitatorisch umgegangen wird. Propaganda wird zu einer Ressource oder zum instrumentellen Objekt protestdiskursiver Praxis. Unter ‚dschihadistischen Medienaktivisten‘ sind denn auch weniger diejenigen Personen treffend zu fassen, die über Dienste wie WhatsApp Individuen ansprechen, rekrutieren und die Ausreise ins ‚Kalifat‘ organisieren oder jene, die als Kämpfer in ihren Instagram-Bildern auf dem ‚Boden der Ehre‘ posieren. Es

12Etwa

als Titel einer Anhörung vor der Commitee on Homeland Security and Governmental Affairs des US-Senats („Jihad 2.0: Social Media in the Next Evolution of Terrorist Recruitment“; vgl. US Government Publishing Office 2015). 13Vgl zu den Medienstellen des IS den Beitrag von Bernd Zywietz in diesem Band. 14Vgl. dazu etwa den Beitrag von Simone Pfeifer et al. in diesem Band.

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sind vielmehr jene, die das offizielle propagandistische Material verbreiten oder in Verbindung mit vorgefundenem Material – etwa popkulturellen Bild- und Ton-Versatzstücken – eigene Kommunikate erstellen und lancieren. Ein Beispiel für eine Massenmobilisierungsaktion im typischen Format solidarischen Web-Aktivismus war die Social-Media-Kampagne „Eine Milliarde Muslime“ im Sommer 2014. Unterstützung und Sympathie wurde dabei v. a. auf Facebook bezeugt, indem selbstgestaltete Schilder, idealerweise samt Hinweisen auf die Herkunft bzw. den Wohnort der teilnehmenden Person, angefertigt, fotografiert und online gepostet wurden (vgl. Tartaglia 2014). Nicht alle, die dem Aufruf folgten – vielleicht nicht mal die Initiatoren und Organisatoren – sind als Aktivisten zu bezeichnen, wenn dafür ein wiederholtes oder kontinuierliches, ‚haupt-‘ oder ‚ehrenamtliches‘ Engagement Kriterium ist. Wie schwierig hier die Differenzierung hinsichtlich Propaganda wird, zeigt sich zudem daran, dass ein Pro-IS-Auftreten auch immer einen, wenn vielleicht auch naiven oder überzogenen oder allzu undifferenzierten Protest gegen Vieles und Verschiedenes (etwa eine ‚westliche‘ Nahostpolitik) artikulieren kann. Die aufsehenerregende Twitter-Kampagne unter dem Hashtag #NichtOhneMeinKopftuch verdeutlicht, wie hochproblematisch die Grenzziehung zwischen Dschihadisten, Islamisten und schlicht sozial- und politisch engagierten Muslimen als Muslime ist (etwa in der ­ Anti-IS-Social-Media-Kampagne #NotInMyName 2014 und 2015 der Londoner Active Change Foundation). Das Gleiche gilt für die Einteilung von Personen und Handlungen in die jeweiligen Kategorien entlang web-kontestativer Betätigung. Die Kampagne war von der islamistischen Gruppierung Generation Islam im April 2019 initiiert worden (vgl. dazu Hass im Netz 2018). In der Offenheit des Sozialen Netzwerks fanden aber ebenso liberale wie autoritäre Positionen zum Thema Kopftuchverbot unter dem Stichwort ihren Platz. Den Hashtag kaperten auch Rechtradikale, mit „FakeProfilen, Social Bots und reichweitenstarken Aufrufen gelang […] in kurzer Zeit, eine Vielzahl an muslimfeindlichen Tweets zu streuen“ (ebd.), woraufhin zeitweise solche „rechtsextremen Profile die Mehrheit der Tweets unter dem Hashtag“ ausmachten. So belegt das Beispiel zwar wie „[i]slamistische Gruppierungen und Rechtsextreme gleichermaßen nicht nur an die Sehgewohnheiten junger Menschen an[knüpfen], sondern […] auch Themen aus ihrer Lebenswelt [aufgreifen]“ (ebd.). Es illustriert jedoch ebenso, wie schnell derartige Online-Propaganda selbst wiederum appropriiert oder assimiliert werden kann. Zudem wird deutlich, wie Formen und Formate der Protestkultur durch extremistische Propagandisten geprägt werden – oder wie sie, zusammen mit piktoralen Motiven, durch den Mainstream oder die kommerzielle Werbung wandern (etwa Che Guevaras ikonisches Konterfei für eine Europcar-Kampagne) (vgl. Maier 2016).

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Wie auf dem Gebiet des Videoaktivismus bzw. der Videopropaganda (speziell des IS) Gemeinsamkeiten und Unterschiede auszumachen sind, wird im Folgenden betrachtet.

7 Online-Videos im liberalen Aktivismus und in der IS-Videopropaganda. Ein heuristischer Vergleich Im Online-Aktivismus des Web 2.0 ist das Video als Medium öffentlicher Mobilisierung besonders verbreitet.15 Zwar sind daneben auch dokumentarische Fotografien (etwa Pressefotos oder Handyfotos von Nutzern) oder Einzelbilder für die visuelle Mobilisierung im Netz bedeutsam, die in der Zirkulation im Netz mehrfach überarbeitet, rekontextualisiert und diskursiv mit symbolischen Bedeutungen aufgeladen werden. Beispielhaft sei das Pressefoto vom toten Jungen Aylan Kurdi genannt, das die grausamen Folgen europäischer Flüchtlingspolitik dokumentiert. Es zirkulierte in kürzester Zeit durch die personalisierten Online-Netzwerke und wurde durch zahlreiche Bearbeitungen, Kommentare und Nachstellungen rasch zu einem symbolischen Schlüsselbild und einer Netzikone, die als solche von Menschrechtsaktivisten mobilisierend eingesetzt wurde (vgl. Goriunova 2015). Der IS bzw. sein al-Ḥayāt Media Center griff das Bild, wohl nicht zuletzt aufgrund dieser traurigen Prominenz, wiederum auf, um in Ausgabe 11 der Zeitschrift Dabiq vor den Gefahren aus den ‚islamischen‘ Territorien zu warnen und den Fluchtbewegungen aus seinem ‚Kalifat‘ propagandistisch entgegenzuwirken (vgl. Zywietz in diesem Band). Im Folgenden werden Online-Videos als eines der wichtigsten Bildmedien öffentlicher Mobilisierung zwischen Aktivismus und Propaganda betrachtet. Im Mittelpunkt steht eine heuristische Typologie von Aktivistenvideos, die hinsichtlich ihrer Funktionen, Erscheinungsweisen und kommunikativ rhetorischen Strategien unterschieden werden.16 Dabei werden folgende drei kommunikative Funktionen aktivistischer Online-Videos unterschieden (vgl. auch Askanius 2014):

15Vgl.

hierzu das von der Volkswagenstiftung geförderte Forschungsprojekt Aufmerksamkeitsstrategien des Videoaktivismus im Social Web von Britta Hartmann, Jens Eder und Chris Tedjasukmana: https://videoactivism.net/de/. 16Der folgende Abschnitt zur Typologie von Aktivistenvideos basiert auf Fahlenbrach (2019).

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• mobilisieren, • dokumentieren und • informieren. Diese drei Funktionen kommen selten isoliert vor, sondern greifen meist ineinander. Gleichwohl scheint es für die systematische Untersuchung unterschiedlicher rhetorischer Strategien sinnvoll, sie kategorial zu differenzieren. Vor allem Mobilisierung stellt eine häufig übergreifende Funktion dar. Wie es die Protestforschung einschlägig unterscheidet (Fahlenbrach 2010; Klandermans 1997; Hellmann 1996), kann Protestkommunikation über Argumente und Aufklärung Personen dazu zu bringen, Initiativen, Bewegungen, Gruppen oder konkrete Protestaktion zu unterstützen oder mit ihnen zu sympathisieren (consensus mobilisation). Handlungsmobilisierung (action mobilization) zielt hingegen auf konkrete Aktionen ab, wobei nur noch das Mit-Handeln über Zugehörigkeiten entscheidet. Dokumentarisches Bildmaterial etwa kann argumentativ mobilisierend sein, wenn es Informationen vermittelt, die in hegemonialen Öffentlichkeitsdiskursen nicht thematisiert werden. Die Dokumentation von Protesthandlungen zielt dagegen verstärkt auf Handlungsmobilisierung, wobei die Masse an Demonstranten als politisches Argument eingesetzt wird (s. u.). Dies impliziert auch die affektive Mobilisierung von Sympathisanten und Teilnehmern. Insofern verbindet sich mit der mobilisierenden Funktion aktivistischen Bildmaterials häufig die informierende und dokumentierende Funktion. Gleichwohl sind hiermit jeweils unterschiedliche Zeige-Gesten verbunden, die sich in der rhetorischen Struktur niederschlagen: dokumentierendes Informieren (als argumentierende Mobilisierung) und dokumentierendes Handeln (als Handlungsmobilisierung). Mit anderen Worten: sowohl informierende als auch dokumentierende Bilder haben in der Regel eine mobilisierende Funktion – weshalb Mobilisierung eine übergreifende Aufgabe aktivistischer Bilder darstellt. Folgende drei Typen aktivistischer Videos können unterschieden werden, die sowohl im Hinblick auf ihre kommunikativen Funktionen als auch auf ihre rhetorischen Merkmale wiederkehrende Charakteristika aufweisen: • dokumentarische Aktivistenvideos, • informative Aktivistenvideos und • expressive Aktivistenvideos.

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Wir wollen auf diese drei Typen im Folgenden kursorisch und in Relation zu ­IS-Videos eingehen.17

7.1 Dokumentarische Videos Dokumentarische Aktivistenvideos dienen primär der Evidenzführung durch das (digital-)fotografische Bild als ‚unverfälschtes Dokument‘. Der indexikalische und damit physikalische Kausalbezug zur abgebildeten Wirklichkeit machte sie seit den Anfängen des Films zu bevorzugten Evidenzmedien kritischer Gesellschaftsanalyse (vgl. u. a. Askanius 2014). In Bildern und Videos werden Demonstrationen, Aufstände und andere Formen des Protests festgehalten, wobei sie häufig mit Mobiltelefonen aufgenommen werden. Die Dokumentation wird selbst zu einer Form des Protests. Wie Wilson und Serisier (2010) betonen, lässt sich denn auch mit der Wende zu digitalem Videoaktivismus eine signifikante Deprofessionalisierung beobachten. Waren Videoaktivisten zuvor professionelle oder semi-professionelle Filmer, die nicht nur die Apparate, sondern auch die filmische Sprache des Dokumentierens beherrschten (vgl. Wilson und Serisier 2010; Askanius 2014) und sich um eine wirksame Ästhetik und Dramaturgie bemühten, sind es heute meist unprofessionelle Filmer. Der individualisierte Do-it-Yourself-Gestus ist verbunden mit dem Moment der subjektiven Augenzeugenschaft, der gerade in den sozialen Online-Medien einen höheren Grad an Glaubwürdigkeit mit sich bringt als die professionell komponierten Dokumentationen von Fernsehjournalisten oder Filmern. Gleichwohl sind auch sie geprägt von überindividuell tradierten Kodes und Konventionen des ‚Authentischen‘, die bei der Gestaltung und Wahrnehmung solcher Videos zum Tragen kommen, wie wackelnde Handkamera oder spontane O-Töne. Auch die dschihadistische Propaganda macht sich das Unmittelbarkeitsgefühl zunutze und schafft so einen Ereignischarakter. Allerdings geht der IS insofern einen anderen Weg, als mit der Amaq-Nachrichtenagentur dokumentarischen Aufnahmen etwas Offiziöses verliehen werden soll, was die Aufnahmen stärker im Bereich des professionellen Journalismus zu verankern sucht, um damit von dessen entsprechenden Gütekriterien wie der Seriosität zu profitieren. Eine Gemeinsamkeit lässt sich hingegen hinsichtlich der körperlich affektiven Effekte konstatieren. Wie Razsa (2014) auch anhand von Interviews

17Für

eine eigene IS-Videogenre-Typologie, in der sich ähnliche Funktionsstrukturen wiederfinden, siehe Zywietz (in diesem Band).

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mit Aktivisten feststellen konnte, findet mit dem Schau- und Erlebniswert von Gewalt („Riot Porn“) körperliche Mobilisierung vor den Bildschirmen oder Displays statt, die in aktive Protestaktionen münden können. Diese Wirkung der Dokumentation von Protestaktionen beruht nicht zuletzt auf ihrer audiovisuellen Darstellungsrhetorik. Der selektive Blick auf die protestierende Menge vermittelt diese als eine kollektive körperliche Kraft. Dementsprechend zeigen diese Dokumentationen die protestierenden Körper metonymisch für eine Gesamtheit widerständiger sozialer Gruppen in der Gesellschaft. Damit wird eine Protestaktion nicht nur ‚objektiv‘ dokumentiert, sondern auch ihre gesellschaftliche Macht im Sinne einer kollektiv physischen Kraft rhetorisch und damit inszenatorisch gestaltet. Vergleichbares findet sich in IS-Videos spezifisch in den Aufnahmen von Kampfhandlungen. Ganze Filme dienen dazu, den Betrachter inmitten der Mudschaheddin etwa am Häuserkampf oder Schusswechseln im offenen Gelände teilhaben zu lassen. Eher in einzelnen Passagen wird jedoch derlei Material in rhythmisierter Montage, mit Naschid-Untermalung und pathetischen Voice-over-Kommentaren, affektiv genutzt, um ein heroisches Kollektiv zu ­ beschwören und eine Art Erhabenheit des Kampfrausches zu suggerieren. Neben der Dokumentation von Protestaktionen stellen Augenzeugenvideos eine weitere Kategorie dokumentierender Aktivistenvideos dar, die in der jüngeren politischen Geschichte immer wieder eine wichtige Rolle gespielt haben. So etwa der Mitschnitt von US-Polizisten, die im Jahr 2011 Studenten der University of California, Davis, mit Pfefferspray besprühten, weil sie auf dem Campus eine Occupy-Sitzblockade formiert hatten. Das sich schnell viral verbreitende Video entwickelte sich sogar zu einem populären Internet-Meme, wobei das Standbild des Pfefferspray sprühenden Polizisten mit markanten staatskritischen Slogans versehen wurde. Wie Huntington (2015) argumentiert, wird dabei der einzelne Polizist rhetorisch zur Metonymie für die US-Polizei und ihr menschenverachtendes Verhalten. Damit löste das Video eine internationale Debatte um Polizeigewalt in den USA aus und wurde zu einem identitätsstiftenden Bestandteil der Occupy-Bewegung. Auch in dschihadistischen und islamistischen Videos – etwa in Fitra – The West Behind the Mask (Al Muhajirun Media, 2017) – finden sich vergleichbare Dokumentationen von Übergriffen auf Muslime, um die auch physisch ausgelebte Islamfeindlichkeit zu belegen. In Fitra werden mehrere derartige Szenen, die etwa von Überwachungskameras stammen, zusammengeschnitten, um in der Massierung vom Einzelfall den Schluss auf das übergreifende Klima zu eröffnen, das wiederum entsprechende Gegenreaktionen legitimiert. Ansonsten sind vor allem teils explizite Aufnahmen von Kriegsfolgen, die durch Luftanschläge

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etwa des Assad-Regimes zerstörte Häuser und Leichen (gar die von Kleinkindern und Neugeborenen) zeigen, ein häufig eingesetztes Mittel. Schock und Trauer dienen aber weniger dem Beweis – insofern die ‚Schuld‘ und Unmenschlichkeit im Medientextensemble ohnehin gegeben ist –, sondern zur starken Emotionalisierung. Bestenfalls als zynische hyperbole Mischung aus Augenzeugenbericht und ‚Aktionsdokumentation‘ sind häufig auch von den Kämpfern mit Handys gefilmte Videos, die die eigenen Grausamkeiten etwa an Kriegsgefangenen festhalten.18 Für solche Protestvideos gilt häufig, dass ihre diskursive Verarbeitung in der Online-Sphäre relevanter ist als die Autorenschaft, sprich ob die Bilder von Aktivisten, von zufällig am Ort des Geschehens Anwesenden oder einer ‚operativen‘ Body- oder Dash-Cam angefertigt wurden.

7.2 Informative Videos Im Mittelpunkt informativer Aktivistenvideos steht die instrumentelle Mobilisierung über Argumente (consensus mobilisation): Aufklärung und Information zu politischen, sozialen, wirtschaftlichen oder ökologischen Problemen und Krisen, häufig verbunden mit der Vermittlung von Lösungsvorschlägen. Bis zum Aufkommen des Internets als Protestsphäre war diese Form der Mobilisierung v. a. die Domäne von Bewegungsorganisationen, NGOs oder anderen professionell organisierten Gruppen, die Expertenwissen gesammelt und dieses über ausgewählte Gatekeeper in den Institutionen und Massenmedien verbreitet haben. Damit war argumentative Mobilisierung eng mit professioneller PR (auch: schwache Propaganda) und Lobbyarbeit verbunden – wie dies bis heute bei den großen Organisationen der Fall ist (z. B. Amnesty International, Greenpeace, BUND). Dementsprechend war erfolgreiche Aufklärungsarbeit und argumentative Mobilisierung aber auch kostenintensiv und erforderte professionelle Netzwerke, die weit in die gesellschaftlichen Institutionen hineinreichen. Eine Möglichkeit, öffentliche Meinung durch gezielte Informationen zu verändern und damit Druck auf politische Entscheidungsträger auszuüben, stellen selbst produzierte Videos dar. Um ein Video zunächst innerhalb der Netzsphäre viral erfolgreich zu lancieren und dann auch in der massenmedialen Öffentlich-

18Vgl.

dazu den Beitrag von Chloé Galibert-Laîné in diesem Band.

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keit, nutzen die Videoaktivisten i. d. R. gezielt bildrhetorische Strategien. Häufig werden dabei Informationen mittels Animationen und Grafikdesign visualisiert, die teilweise durch zugrunde liegende Storyplots zusätzlichen Anschauungscharakter erhalten. Ein Beispiel ist das Video The Story of Broke. Es ist Teil einer Video-Serie mit dem Titel The Story of Stuff Project, die im Jahr 2011 auf YouTube publiziert wurde. Bei den Produzenten handelt es sich um eine konsumkritische Gruppe in den USA, die u. a. Aktivisten, professionelle Mitarbeiter von NGOs und Künstler versammelt. Die Gruppe hat es sich seit 2007 zur Aufgabe gemacht, ihre Mitbürger im Internet über die ökologischen, wirtschaftlichen und politischen Zusammenhänge und Probleme neoliberaler Wirtschaftssysteme aufzuklären und ihnen Lösungen anzubieten, wie sie diesen durch ihr eigenes Handeln und Konsumieren entgegenwirken können. Ihre Videos verbreitet sie sowohl über ihre eigene Web-Seite als auch über YouTube. Das genannte Video erklärt die ökonomischen und sozialen Folgen neoliberaler Steuerpolitik, wie sie in den USA praktiziert wird und die v. a. transnational agierende Konzerne, die ‚alte Industrie‘, aber auch das Militär begünstigen. Um den Betrachtern den Zugang zu derart abstrakten und voraussetzungsreichen Zusammenhängen zu erleichtern, werden metaphorische Animationsbilder geschaffen. Mit solchen Übertragungen komplexer Zusammenhänge und Informationen in einfach zu erfassende metaphorische Bilder kann es informativen Aktivistenvideos visuell und argumentativ gelingen, gezielt Aufklärung über einen Missstand – hier Steuerungerechtigkeiten – zu betreiben und Veränderungen im Bewusstsein und Handeln konkreter Zielgruppen zu bewirken.19 In der Propaganda des IS finden sich ebenfalls ‚Erklärvideos‘, die die Formatformen als Überzeugungsmittel appropriieren bzw. imitieren. In dem 55-minütigen Rise of the Khilafah – Return of the Gold Dinar (al-Ḥayāt Media Center, 2015) zum Beispiel werden animierte Statistiken und Infografiken neben Expertenstatements eingesetzt, um in der Form populärer finanzkapitalismuskritischer Kino- und Webdokus die Geschichte des Geldes und des Petro-Dollar-System aufzubereiten und schließlich die eigenen Edelmetall­ münzen des ‚Kalifats‘ als Alternative zu präsentieren. Dazwischen wird die Nobilität der IS-Kämpfer und ihre Professionalität und Gemeinschaft gelobt. Dies wirkt wie eine Art befreiende Eruption, in der sich Propaganda durch die angeeignete Erscheinungsform des Informationsvideos Bahn bricht und sich selbst entlarvt.

19Für

eine ausführlichere Analyse vgl. Fahlenbrach (2019).

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Andere islamistische und dschihadistische Videos sind hier raffinierter, wie Der neue Jude: Der ewige Moslem (2015) der islamistischen Initiative Generation Islam. Entfremdungs- und Ablehnungserfahrungen werden darin aufgegriffen und die aktuelle Situation von Muslimen in Deutschland mit der der Juden vor dem Holocaust verglichen. Im Stil der Whiteboard-Animation und mit einer Voice-over-Mädchenstimme ist das Video eingängig und eindringlich konzipiert und gestaltet, bewegt sich in seinen Aussagen im Bereich des Statthaften und stellt nichttriviale Anforderungen an die medientextkritische und argumentativerhetorische Kompetenz, um die Schlüsse und Argumente (etwa hinsichtlich der Verkürzungen und Aussparungen) zu durchschauen bzw. ihnen etwas entgegensetzen zu können.

7.3 Expressive Videos Expressive Aktivistenvideos haben im Kern ebenfalls argumentative Mobilisierung zum Ziel, entwickeln aber ausdrucksstarke audiovisuelle Ausdrucksformen, die Haltungen, Ideologeme, Werte, Ideale und kollektiv emotionale Dispositionen von Zielgruppen ebenso ansprechen wie sie einen besonderen formalgestalterischen oder narrativen Erlebnisgehalt bieten. Damit sind sie in doppeltem Sinne expressiv: mit Blick auf die Betonung ihrer audiovisuellen Ästhetik sowie auf die interne Mobilisierung durch ausdrucksvolle Formen, die auf identitäre Interessen und Bedürfnisse potenzieller Sympathisanten und Unterstützer abzielen. Rhetorische Strategien wie Überraschung, Übertreibung, Personalisierung und Symbolisierung stehen im Vordergrund, die zur audiovisuellen Argumentation verwendet werden und die Überzeugungen und Sympathien der Betrachter ansprechen sollen. Meist geht dies auch hier mit einem eingängigen Narrativ einher, wobei Institutionen und Akteuren, die in einen Konflikt oder ein strukturelles gesellschaftliches Problem einbezogen sind, häufig metaphorisch die Gestalt von Protagonisten und Antagonisten gegeben wird, auf die Betrachter empathisch bzw. ablehnend reagieren sollen. Dies verbindet sich mit konkreten Argumenten und Botschaften sowie häufig mit einem Aufruf zum Handeln und Engagement (Teilnahme an einer Protestaktion, Unterzeichnen einer Online-Petition, Spenden von Geld). Drei besonders prominente Subtypen sind hierbei auszumachen: M ­ ashup-Videos, Kampagnenvideos und Musikvideos. In ersteren werden gemäß der Mashup-Praxis (Mundhenke et al. 2015) in Online-Archiven oder anderen Stellen im Netz vorgefundenes Bild-, Text- und Videomaterial für die eigenen kommunikativen Zwecke aufgegriffen, geschnitten,

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gemixt und diskursiv neu gerahmt – manchmal auch in Verbindung mit selbst produzierten Kommentaren oder grafischen Bearbeitungen. Askanius betrachtet (politische) Mashup-Videos gar als eine der wichtigsten Kategorien aktivistischer Videos im Internet: Contemporary forms of video activism – within which political mash-up videos represent a particular prevalent mode of creating a political argument – are about a mix of not only new and found material but of genres, actors and different degrees of political intentionality (Askanius 2014, S. 10).

Wie Driscoll et al. (2013) feststellen, ist die diskursive Resemantisierung von vorgefundenem Material durch Mashup-Techniken wesentlich erfolgreicher, wenn sie ihr Material rhetorisch und narrativ aufbereiten. Die Autoren vergleichen etwa unbearbeitete Mitschnitte von Occupy-Demonstrationen, die auf YouTube nur relativ selten aufgerufen wurden, mit dem expressiven Sampling-Video I AM NOT MOVING – Short Film – Occupy Wall Street, das die Aufnahmen polizeilicher Gewalt gegen Occupy-Demonstranten alternierend mit Videomaterial montiert, das US-Regierungsmitglieder zeigt, die gegenüber diversen autoritären Staaten Meinungsfreiheit einfordern und Gewalt gegen Demonstranten ablehnen. In der IS-Propaganda findet sich hingegen zwar ebenfalls Material, das aus Spielfilmen oder Fernsehnachrichten entnommen wurde. Dies wird aber ins eigene Material illustrativ eingebunden oder bisweilen kommentiert bzw. gestalterisch abgesetzt und als extern reflektiert. Vielmehr ist es das IS-Material selbst, das geremixt und in affirmativer (von IS-Medienstellen selbst; von I­S-‚Fanboys‘ und ‚-girls‘), oppositioneller (z. B. engagiert-parodistischer) und kritisch-reflexiver (etwa künstlerischer) Weise verarbeitet und online präsentiert wird.20 Kampagnenvideos werden häufig von NGOs und anderen Organisatoren produziert und sind auch Teil größerer PR-Kampagnen. Sie nutzen rhetorische Strategien der Werbung, narrative Strategien von Spielfilmen sowie ästhetische Kodes unterschiedlicher audiovisueller Gattungen und Genres. Rhetorisch wird audiovisuelle Evidenz hier wesentlich erzeugt durch die Verwendung von Metonymien. Die metonymische Bezugnahme auf Fakten und dokumentarische Bilder ist eine typische Strategie, um expressiven und narrativen Szenarien eine faktische Dimension zu verleihen, die ihre Argumentation unterstützt (vgl. auch Huntington 2015). Ein Beispiel für ein expressives Kampagnenvideo ist Estelles

20Vgl. hierzu die Beiträge von Larissa-Diana Fuhrmann und Alexandra Dick, Chloé Galibert-Laîné und Kevin B. Lee in diesem Band.

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Story (2013). Das Video wurde von der Organisation refunite.org verbreitet, die Flüchtlingen hilft, verlorene Angehörige wiederzufinden. Das Video präsentiert in animierten Bildern eine Geschichte – in diesem Fall die reale Geschichte einer Frau, Estelle, und ihrer Flucht vor dem Krieg. So wird ein individuelles Schicksal aufgegriffen, um die Betrachter auf affektiv appellierende Weise zur Spende für die Organisation aufzufordern. Eine zentrale Strategie, um diese Geschichte expressiv ansprechend zu gestalten und bei den Betrachtern Empathie für ihre Protagonistin zu evozieren, ist die starke Betonung ihrer subjektiven Erfahrung und Erinnerung. Hierzu wurde Animation als eine Gattung gewählt, die hohe bildgestalterische Freiheiten erlaubt.21 Zusammen mit der Personalisierung, die auch in der Radikalisierungsprävention und in Deradikalisierungskampagnen häufig vorkommen22, kann hier auch Fiktionalisierung eine überaus effektive Rolle spielen, wie in den Fundraising-Videos Most Shocking Second a Day Video und Still the Most Shocking Second a Day, das vom Kinderrechtsnetzwerk Save the Children beauftragt wurde. In einer Art Zeitraffer wird darin das Schicksal eines ‚typischen‘ syrischen Flüchtlingskindes erzählt, allerdings übertragen auf ein neunjähriges Mädchen in London.23 In der IS-Propaganda findet sich Personalisierung vor allen in der Porträtierung von ‚Märtyrern‘, aber auch einzelne Opfererzählungen. Dieser Typ bietet aber, v. a. was letztere betreffen, kein eigenständiges expressiv-affektives ‚Genre‘. Die IS-Propaganda verbleibt hier eher in einem journalistischen Duktus. Fiktionale (exemplarische) Storys finden sich praktisch nicht oder nur ansatzweise in der Medienarbeit des IS. Sehr präsent in der IS-Videopropaganda sind hingegen Naschid- bzw. Musikvideos (als Hauptvertreter affektiv-ästhetischer Erlebnis-Propaganda – vgl. Zywietz, in diesem Band). Sie können wie Protestsongs im Zeichen argumentativer Mobilisierung und Handlungsmobilisierung stehen. Indem Protestlieder faktische Informationen über Missstände zum Thema von Popmusik machen, zielen expressive Musikvideos durch starke Emotionalisierung in der Verbindung von affektgeladenen Bildern und Musik meist auf breitere virale Zirkulation in der popkulturellen Online-Sphäre, jenseits von – im engeren Sinne – politischen Öffentlichkeiten. Angesichts der Tatsache, dass Protest ein prominentes Thema und auch einen Gestus in der Popmusik darstellt – etwa im Punk oder

21Für

eine ausführlichere Analyse s. Fahlenbrach (2019). das österreichische Online-Filmprojekt Jamal al-Khatib – Mein Weg!, in der verschiedene Radikalisierungsbiografien in einer fiktiven Figur verdichtet wurden (https://www. boja.at/projekte/flucht/jamal-al-khatib-paedagogisches-paket/, Zugegriffen: 04.10.2019). 23Ausführlich zu den Videos Eder (2016). 22Etwa

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HipHop – ist es nicht immer einfach, spezifisch aktivistische Musikvideos von anderen Musikvideos mit rebellischem Gestus zu unterscheiden. Auch bei den dschihadistischen Naschids des IS und anderer Gruppierungen finden sich etwa gestalterische Anschlüsse an die populären, popkulturellen nicht-dschihadistischen Arten dieser Musikrichtung (vgl. Fuhrmann und Dick in diesem Band). Neben Bildern und der Musik ist in der Propaganda- wie in den Protestsongs natürlich der Liedtext von erheblicher Bedeutung. Auf der visuellen Ebene können zudem neben starken Symbolbildern auch Geschichten erzählt werden, was an die oben genannte Form der Kampagnenvideos anschließt. Für die IS-Propaganda ist als Beispiel der französischsprachige Clip Sang pour Sang (al-Ḥayāt Media Center 2016) zu nennen, in dem die Geschichte eines Jungen vom Kriegsopfer zum Mujaheddin im Sinne einer militarisierenden Mannwerdungs- und Vergeltungsfantasie zum titelgebenden Naschid erzählt wird.24 Hier wie in Aktivismusvideos, die – etwa unter Verwendung vorgefundenen Medienmaterials nutzergeneriert oder aber professionell oder gar prominent produziert sein können – erfolgt eine affektive audiovisuelle Verdichtung. So können kollektive Empörung, Wut oder Empathie, im Fall der IS-Clips auch heroisches Pathos und Rachefantasien unter Gleichgesinnten und Sympathisanten multimodal mobilisierend angesprochen werden. Wie oben geschildert, gehören derartige Mashup-Videos zu den am häufigsten über soziale Online-Medien verbreiteten Videos, wo sie ephemere Protestdiskurse affektiv und atmosphärisch prägen können – aber auch, zumindest kurzzeitig, eine breitere öffentliche Aufmerksamkeit auf ein gesellschaftliches Problem (z. B. Rassismus oder Waffengewalt) lenken können.

8 Schluss Liberale Bewegungen und Aktivisten haben es vor allem in Zeiten des Web 2.0 und angesichts der Möglichkeiten, die es zusammen mit digitalen Mediengestaltungsund Verbreitungstools für die Öffentlichkeitsarbeit, für Protestaktionen und Propaganda bereitstellt, schwer, sich gegen populistische wie extremistische

24Vgl. dazu das Video-Essay Children in ISIS Videos (https://vimeo.com/233304439; Zugegriffen: 04.10.2019) von Jenny Zimmermann, in dem die Darstellung und die rhetorischen Mittel von Kindern in Sang pour Sang mit jener in Videos von Hilfsorganisationen wie Amnesty International verglichen und Gemeinsamkeiten wie Unterschiede herausgearbeitet werden.

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Strömungen abzugrenzen. Dies betrifft vor allem die medialen Erscheinungsformen, deren kommunikative Formate illiberale Akteure kopieren. Doch auch wenn Propaganda im Sinne einer graduell ausgeprägten Charakteristik in stark und schwach einteilbar ist, lassen sich darüber hinaus Kriterien für eine Differenzierung bestimmen. Bezugs- und Differenzierungsgrößen sind der demonstrative Selbstausdruck und das Protestieren im Sinne eines öffentlichen moralischen Anklagens. Falls also selbst einer Gruppierung wie dem IS oder einiger seiner Anhänger der Status von (Gewalt-) Aktivisten und ­ -Protestlern zugestanden werden bzw. mobilisierende Protestaktionsformen nicht per Definition gewaltlos sein müssen, ist extremistische Gewalt umgekehrt nicht automatisch kontestativ oder aktivistisch. Selbst in Fällen, in denen politisch motivierte, symbolische und mobilisierende Gewalt gegen Sachen, gegen andere oder einen selbst ausgeübt wird, lässt sich (u. a. terroristische) Militanz von Protest auf der Handlungs- und speziell der Kommunikationsebene unterscheiden. Gleiches gilt für Propaganda, insbesondere dann, wenn Terrorismus als „Propaganda der Tat“ konzipiert wird oder Propaganda als eine Art ‚kommunikative Gewalt‘. Dies ist etwa der Fall, wenn Autorenschaft verschleiert, Lügen verbreitet, Fakten erfunden oder Wahrheiten autoritär und unüberprüfbar gesetzt werden. Auch in denselben medialen Formaten wie Videos als Instrumente der Artikulation und der Öffentlichkeitsarbeit, aber auch der doktrinären Manipulation, lassen sich so zumindest analytisch und heuristisch Protest und Propaganda hinreichend auseinanderhalten, um beides nicht (oder selbst wieder nur diskursstrategisch) in eins zu setzen.

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Vom Analogen ins Digitale. Eine kurze Geschichte der dschihadistischen Propaganda und ihrer Verbreitung Martin Zabel

Zusammenfassung

Der Beitrag bietet eine kurze Einführung in die Geschichte dschihadistischer Propaganda von den 1980er Jahren bis in die Gegenwart. Nicht nur die medientechnologische und -kulturelle Entwicklung, sondern auch geopolitische Konfliktgeschichte mit wichtigen Stationen wie der sowjetischen Intervention in Afghanistan und dem ersten Tschetschenienkrieg sind hier ausschlaggebend. Was die Entwicklung auf dem Feld der Online-Propaganda betrifft, stützt sich der Verfasser auch auf eigenen Erfahrungen im Rahmen der Beobachtung und Analyse dschihadistischer Internet-Auftritte und -Kommunikatverbreitung. Schlüsselwörter

Dschihadistische Propaganda · Medientechnik · Propagandageschichte ·  Kommunikation · Video · Soziale Medien · Internetforen · Telegram Messenger · Erfahrungsbericht

M. Zabel (*)  Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 B. Zywietz (Hrsg.), Propaganda des „Islamischen Staats“, Aktivismus- und Propagandaforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28751-1_3

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1 Einleitung Abbildungen kriegerischer Auseinandersetzungen finden sich in jahrtausendealten Höhlenmalereien, auf Tongefäßen und seit neuestem auf Smartphones in FullHD. Seit jeher werden Ereignisse und Narrative aufgezeichnet und sollen den Zuschauenden die eigenen Sichtweisen auf Konflikte näherbringen. Doch die zur Verfügung stehenden Mittel haben sich stets verändert, sodass heutige Kommunikation durchdachter und interaktiver ist als je zuvor. Der ‚Islamische Staat‘ (IS) und seine Vorgängerorganisationen spielten und spielen eine wichtige Rolle dafür, wie dschihadistische Propaganda im Jahre 2019 wahrgenommen wird und zum Einsatz kommt. Der stark angeschlagene und dezimierte Medienapparat des IS wird auch weiterhin Trends setzen können und wichtiger Teil der Entwicklungen dschihadistischer Propaganda sein. Allerdings ist die IS-Propaganda Teil einer größeren, auch medientechnischen Innovation und Tradition dschihadistischer Medienproduktion. Anhand verschiedener Kriegsschauplätze wird dieser Beitrag die Entwicklung dschihadistisch-gesinnter Medienarbeit und ihrer Verteilmechanismen nachzeichnen. Zwischen über Bergketten geschmuggelte Mikrofonaufnahmen bis hin zu gigabytegroßen Studioproduktionen, die aus verschlüsselten Chats runtergeladen werden, liegen nicht nur einige Jahrzehnte der Professionalisierung, sondern gleichzeitig signifikante technologische und militärische Veränderungen. Die Produktion von Medien, die eigene Narrative verbreiten sollen, ist unumstößlich verbunden mit Distributionsmechanismen – Mechanismen, die nicht-staatlichen Akteuren je nach Konfliktzone unterschiedlich zur Verfügung stehen. Als Beobachter und Analyst habe ich die Entwicklungen seit 2003 selbst mitverfolgt. Die hier genannten Distributionsformen sind deshalb aus dem Feld bekannt und werden aus meiner Position des stillen Beobachters erläutert. Dies geschah einige Jahre lang ohne tiefgründige Kenntnisse der arabischen Sprache, weshalb ich primär nach englisch- und französischsprachigen Angeboten Ausschau hielt, mich auf Übersetzungen verlassen musste und später unter gewissem Aufwand selbst Teile der Forenkommunikation und Videos übersetzte. Die großen Foren auf Arabisch und Englisch waren auch für mich über Jahre hinweg die Hauptquelle, um Zugang zu Inhalten über unterschiedliche Kriegsschauplätze zu erhalten, die ich analysierte und archivierte. Mit der Weiterentwicklung digitaler Technologien verlor das Internet-Forum als Medienformat und virtueller Ort zunehmend seine Bedeutung gegenüber neuerer Software, Diensten und Kommunikationsformen.

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Dieser Beitrag gibt einen knappen Überblick über die Geschichte dschihadistischer Medienarbeit und bietet einige Beobachtungen zu aktuellen Trends der Online-Propaganda in diesem Bereich. Er basiert dabei maßgeblich auf meiner Erfahrung als Forscher im Bereich der digitalen Sphäre.

2 Analoge Medienführung – Krieg und Propaganda im globalen Osten Das letzte Jahrzehnt der bipolaren Weltordnung brachte eine ideologische Verschiebung von Nationalismen und Amalgamen verschiedenster politischer Denkströmungen hin zu religiös motivierten politischen Ideologien. Die sowjetische Intervention und Invasion Afghanistans ab 1979 hat bis heute spürbare Auswirkungen. Eine davon ist das Erstarken bewaffneter islamistischer Gruppierungen und Individuen, die gegen die Regierung der Demokratischen Republik Afghanistans, primär aber gegen die Truppen der Sowjetunion kämpften. Die Taliban-Bewegung ist eine der direkten Folgen dieser Verschiebungen. Poster nahmen im sowjetisch-afghanischen Konflikt eine wichtige Rolle ein, die „Nationale Islamische Front Afghanistans“ veröffentlichte regelmäßig Darstellungen, die sich an Motiven orientierten, die in der Sowjetunion oder in NATO-Ländern bekannt waren. Prominent wurden Begriffe wie Dschihad oder Mudschahidin in Szene gesetzt und Topoi wie das Leiden der Zivilbevölkerung und der bewaffnete Kampf gegen sowjetische Truppen bedient.1 Wie auch im sogenannten „Kalifat“ des IS wurden für die Indoktrination von Kindern zudem ­militant-islamistische Schulbücher eingesetzt (vgl. Davis 2002).2 Zugleich kamen immer mehr filmische Aufnahmen aus Afghanistan. Sowohl die Sowjetunion als auch internationale Medien und unterschiedliche Kämpfer veröffentlichten häufig in schwarz-weiß gehaltene bewegte Bilder. Printmedien, Video- und Tonaufnahmen auf VHS- und Tonbandkassetten dienten nicht nur der Anwerbung (meist arabischer) Freiwilliger und der Suche nach Spenden, sondern verhalfen Personen wie Abdallah Azzam (1941–1989) dabei, zu noch einflussreicheren Vordenkern der sich ausbreitenden dschihadistischen Szene

1Beispiele

dafür finden sich u.  a. auf Pinterest (etwa: https://www.pinterest.nz/ pin/407505466273051871, Zugegriffen: 04.02.2020). 2Vgl. dazu auch den Beitrag von Bernd Zywietz in diesem Band.

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a­ ufzusteigen (vgl. El Difraoui 2012, S. 10). Ausschnitte von Reden Azzams werden immer noch regelmäßig in zeitgenössischer Propaganda recycelt und themenbezogen neuveröffentlicht. In den 1980er und frühen 1990er Jahren war eine flächendeckende Verbreitung dieser Materialen mit den technischen Gegebenheiten nicht möglich. Dennoch verbreiteten sich viele Tausend Audio- und Videokassetten im gesamten arabischsprachigen Raum.

2.1 Beirut und der Balkan Da schiitisch-geprägte Gruppierungen im Themenfeld des „Dschihadismus“3 meist nicht oder nur am Rande betrachtet werden, soll der libanesische Bürgerkrieg (1975–1990) zumindest kurz in der Propaganda-Entwicklung erwähnt werden. Im Jahre 1983 starben in Beirut mehrere Hundert US-amerikanische und französische Soldaten bei SVBIED4-Anschlägen. Diese Angriffe führten zum Abzug ausländischer Soldaten, die im Libanon eine Friedensmission durchführten (vgl. Soussi 2018). Jenseits dieser „terroristischen“ Propaganda begannen im weiteren Verlauf des Bürgerkrieges die ­ Amal-Bewegung (die „Bewegung der Benachteiligten“) und die daraus entstehende, vom Iran unterstützte Hizbollah Szenen ihres bewaffneten Kampfes gegen israelische Einheiten im Süden des Landes aufzunehmen und zu publizieren. Die propagandistischen Anstrengungen der Hizbollah kulminierten 1991 in der Gründung des eigenen offiziellen und bis heute ausstrahlenden TV-Senders namens al Manar TV (vgl. Schleifer 2004). Auch mit die ersten dschihadistischen Bilder toter Geiseln finden sich in dem Konflikt: Die Gruppes Islamischer Dschihad, ebenfalls eine Vorgängerorganisation der Hizbollah, entführte den französischen Soziologen und Arabisten Michael Seurat, verkündete seine Hinrichtung aufgrund von angeblicher Spionagetätigkeit und veröffentlichte am 10. Juni 1986 ein Foto von der Leiche (vgl. O’Ballance 1997, S. 108). Hauptsächlich kam durch die Neunziger Jahre hindurch dem medialen Format der VHS-Kassette in der Verbreitung von Propaganda eine zentrale Rolle zu. Mit den Zersetzungsprozessen im ehemaligen Jugoslawien und den daraus resultierenden Kriegen im westlichen Balkan nahm sich die dschihadistische Szene eines weiteren Konfliktes an.

3Im

Feld werden darunter meist vermeintlich ‚sunnitische‛ Bewegungen subsumiert. Suicide Vehicle Born Improvised Explosive Device (motorisierter Selbstmordanschlag).

4SVBIED:

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Auf allen Seiten des Konfliktes kämpften Freiwillige; so zogen Veteranen des Krieges in Afghanistan nach Bosnien und beteiligten sich an Kämpfen gegen serbische und kroatische Verbände und begangen Kriegsverbrechen gegen Zivilisten. Bis heute finden sich Aufnahmen ausländischer Mudschahidin, die vor allem durch al-Qaida-nahe Personen in London bearbeitet, produziert und verbreitet wurden (vgl. Kohlmann 2004, S. 232).5 Abgesehen von Videokassetten, Fotografien und Tonaufnahmen kam gegen Ende des Bosnienkrieges ein neuer Verbreitungsmechanismus auf: das Internet. Prominentestes Beispiel für eine der frühen Webseiten, die für dschihadistische Ziele Werbung machte, war azzam.com, sowie deren Veröffentlichungen unter dem Namen „Azzam Publications“ (vgl. Kohlmann 2004, S. 232).

2.2 Tschetschenien: Analoge Medienführung und digitale Anfänge Ab 1994 kämpften Separatisten in Tschetschenien nach dem Zerfall der UdSSR um die Unabhängigkeit der Republik. Die Machtunterschiede, die gewaltvollen Bilder und Nachrichten aus dem Kaukasus brachten nicht nur weltweite Sympathien, sondern zogen auch Veteranen der Kriege in Afghanistan und Bosnien ins Land. Während des ersten Tschetschenienkrieges (1994–1996) wurde die russische Armee trotz deren theoretisch überlegener Kampfstärke mithilfe dieser ausländischen Freiwilligen geschlagen. Der prominenteste „Muhāǧir“6 unter ihnen war Habib Abdarrahman, bekannter unter seinem Nom de guerre Amir ibn ­al-Khat. Der Saudi tscherkessischer Abstammung führte militärisch erfolgreiche Guerilla-Kampagnen gegen Einheiten der russischen Armee durch und verstand es, Kameraleute in seine Kampfverbände zu integrieren. Neben den bereits aus Afghanistan und Bosnien bekannten Szenen aus Trainingslagern, in denen der Umgang mit Waffen und Sprengstoff gelehrt wurde, hatte die Serie Ǧaḥīm ­ar-Rūs – die Hölle der Russen7 einen kriegsdokumentarischen Charakter. Diese vierteilige Filmreihe

5Derartige

Filme, mittlerweile auf DVD überspielt, konnte ich im Jahre 2010 noch in Sarajewo auf der Straße erwerben. 6arabisch: Auswanderer; im postmodernen islamistischen Kontext oft mit bewaffneten Kämpfern assoziiert. 7Alle Teile der „Serie“ liegen dem Autor vor.

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d­ okumentierte erstmalig Hinterhalte, Sprengstoffanschläge, Gefechte und Szenen des Sieges – eindeutig orchestriert und ausgerichtet am Narrativ der Dschihadisten. Wie in jenen des Afghanistankriegs enthalten auch diese Filme ­Märtyrer-Eulogien, die gewisse Kämpfer besonders hervorheben und deren Tod filmisch überhöhen. In Bezug zum Kaukasus sollte besonders die zweiteilige Dokumentation über Ibn al-Khat alias Saīf ul-Islām („Das Schwert des Islams“) der Medienproduktion waislamah.net genannt werden. Die beiden Filme mit dem Titel Abṭāl al-Islām fī haḍā az-Zamān – Helden des Islams in unseren Zeiten wurden über die seit einigen Jahren nicht mehr verfügbare gleichnamige Website veröffentlicht und kursieren seither in dschihadistischen Kreisen. Mit Untertiteln in mehreren Sprachen können die Videoproduktionen, die das Leben und den Tod des gebürtigen Saudi-Arabers im „Dschihad“ des ersten und zweiten (1999– 2009) Tschetschenienkriegs nachzeichnen, bis heute heruntergeladen oder gestreamt werden.

3 Digitale Medienführung – Foren, Webseiten, Messenger und Archive Die generelle Popularisierung des Internets Ende der 1990er und in den ersten Jahren des neuen Jahrtausends führten zu einer schnelleren Verbreitung der unterschiedlichen Medienproduktionen, ob es sich um Videos, dschihadistische Anāšīd8 oder Audiobotschaften handelte. Weitere wichtige nichttechnische Entwicklungs- und Expansionsfaktoren waren die Anschläge vom 11. September 2001, die darauffolgende Invasion Afghanistans (Operation Enduring Freedom) und des Iraks (2003), insofern dschihadistische Gruppierungen an Aufmerksamkeit gewannen und die Nachfrage nach ideologischen und propagandistischen Inhalten stieg. Im Jahre 2001 gründete al-Qaida eine Medienproduktionsstelle „as-Sahāb“ („die Wolke“). Die ursprüngliche Strategie war auf die Verbreitung eigener Botschaften durch andere Medien ausgerichtet. Vor allem Osama bin Laden hat über die Jahre Interviews bei Nachrichtensendern wie CNN oder The Independent gegeben, um die eigene Sache publik zu machen und Gründe für terroristische Angriffe wie die Autobombenanschläge von Daressalam und Nairobi 1996 zu benennen. Der 1996 gestartete katarische Nachrichtenkanal Al-Jazeera

8(Oft

religiöse) Gesänge ohne jede Form von Musikinstrumenten.

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(vgl. Klausen 2015, S. 3) positionierte sich auch dadurch als wichtiger Akteur im internationalen Nachrichtengeschäft; er veröffentlicht das einzige TV-Interview mit bin Laden nach dem 11. September 2001. Generell wuchs in dieser Zeit die Faszination im Internet für gewaltvolle Videos, auch wenn die Datenübertragungsraten nur gering waren, sodass entsprechende Aufnahmen von geringer Auflösung waren und damit eine eigene, subversive und subkulturelle Anmutung aufwiesen, die sie von den Hochglanzvideos des IS deutlich unterscheidet. Webseiten wie ogrish.org oder rotten.com verhalfen gewaltanwendenden nicht-staatlichen Gruppierungen dabei, ihre Inhalte an andere Zielgruppen zu vermitteln. Der besondere Ruf der Seiten begründet(e) sich darin, dass keine Videos zu drastisch sein konnten, um dort zensiert oder gelöscht zu werden. Deshalb ist davon auszugehen, dass nicht nur Katastrophen-Voyeuristen auf der Suche nach Enthauptungen – wie jener von Nicolas Berg, die die IS-Vorgängerorganisation 2004 verbreitete – dort unterwegs waren, sondern auch Medienaktivisten des sich globalisierenden Dschihadismus, die die Websites gezielt als Vorgängerversionen von YouTube nutzten. Neben diesen relativ statischen und damit potenziell zensierbaren Webseiten wurden frühe Peer-to-Peer-Sharing-Dienste wie Kazaa dazu genutzt, Bilder, Videos und Klänge des Krieges über das Internet zu verbreiten. Hierbei wurden die jeweils hochgeladenen Inhalte mit entsprechenden Tags versehen, die über die internen Suchmaschinen Treffer generierten, jedoch keine Vorschaufunktion, also Thumbnails, boten, die einen Eindruck vom Inhalt vermitteln konnten. Im Jahre 2004 lud ich so aus Versehen ein Video herunter, dass einen IED-Anschlag gegen einen Bradley-Schützenpanzer der US-Besatzungstruppen auf der Autobahn nach Bagdad zeigte. Nutzer hatten bewusst irreführende Stichwörter für dieses Video verwendet, die größeres Interesse hervorrufen sollten. Ähnlich funktioniert bis heute der Einsatz von Schlüsselbegriffen auf Webseiten, um in bestimmten Google-Suchen auf den vorderen Trefferplätzen zu landen9, Tags bei YouTube oder Hashtags bei Twitter oder Instagram, um die Reichweite der jeweiligen Nachricht zu erhöhen oder in andere Nutzerkreise hinein zu erweitern. Wenige Jahre danach kam es durch kollaborative Filesharing-Protokolle wie BitTorrent auch dazu, dass die immer aufwendigeren Videoproduktionen militanter Organisationen schneller, übertragungssicherer (da auf mehrere Quellen oder Seeder verteilt) und einfacher weiterverbreitet werden konnten.

9Auch

wenn für der Suchalgorithmen andere Parameter für die indexierende Gewichtung und Bewertung der Seiten relevanter ist.

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Für die Mehrheit derer jedoch, die direkt auf der Suche nach dschihadistischen Inhalten waren, boten sich daneben auch Internetforen an, die sogar einen Raum schufen, in dem Platz für Diskussionen und gewisse Teilhabe war.

3.1 Jihad.org Diese Webforen waren zwischen den Jahren 2000 und 2010 die wichtigsten Distributionsorte oder -werkzeuge für die unterschiedlichen dschihadistischen und nicht-dschihadistischen Gruppen. Zur Mitte der Nullerjahre stiegen Anzahl und Vielfalt der Materialien signifikant an, ehe sie aufgrund von Berichten geheimdienstlicher Infiltrationen einerseits (s. u.) und die neuen aufkommenden Sozialen Medien bzw. Netzwerke andererseits wieder zwar an Bedeutung verloren, gleichwohl aber zentrale Stellen geblieben sind. Dies u. a., weil sie eine stärkere Abschottung ermöglichen und, gegenüber Diensten oder Firmen wie Facebook und YouTube (das seit 2006 zu Google gehört), unabhängiger betrieben werden sowie verschiedene zugangsbeschränkte Bereiche und Services (z. B. Chats) aufweisen können.10 Auch hier bieten die Kriege im Irak und Afghanistan den historischen und geopolitischen Kontext. Vor allem im Irak stieg der Medien-Output mit der Zunahme des bewaffneten Kampfes gegen die „Koalition der Willigen“ durch eine Vielzahl unterschiedlicher bewaffneter Gruppen. Zudem produzierte der noch andauernde zweite Tschetschenienkrieg auch nach al-Khats Tod 2002 weiterhin Materialien, die den Eindruck zu erwecken suchten, die Guerillaoperationen könnten noch einen Sieg im Kaukasus herbeiführen. Internetforen hatten meistens für jeden Kriegsschauplatz eigene Bereiche, die sich in Unterbereiche gliederten wie „Videos“, „Communiqués“ oder „Nachrichten“. Eines der englischsprachigen Foren namens Mujahedon.net hatte beispielsweise im Unterforum „Iraq“ für fast jede Propaganda produzierende Gruppe einen Themenbereich. Zwar bezog man sich hauptsächlich auf die ­IS-Vorgängergruppierung al-Qaida im Irak (Tanẓīm Qāʿidat al-Ǧihād fī Bilād ar-Rāfidayn) und ihre Verbündeten. Doch auch von kleineren Akteuren wie der Armee der (Recht)Geleiteten (Ǧaīš ar-Rāšidīn), Armee der Mudschahidin (Ǧaīš al- Muǧāhidīn) oder der eher nationalistisch geprägten Brigaden der R ­ evolution

10Vgl.

zu dschihadistischen Foren u. a. Torres-Soriano und de Olivade (2012).

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von 1920 (Katā’ib Ṯawrat al-ʿIšrīn) wurden Videos und Kommunikate von Angriffen auf Koalitionsziele veröffentlicht und gepriesen. Das Forum genoss eine längere Lebenszeit auf der Domain als viele andere Schwesterseiten, wurde letztlich aber gesperrt und vom Netz genommen, nachdem Teile der in Schweden ansässigen Administratoren, die sich al-Qaida in Sweden nannten, Experimente mit Sprengsätzen veröffentlichten und in Besitz von Artilleriegranaten gelangten. Zudem wurden sie mit einem gescheiterten Brandanschlag auf eine Wahlstation der irakischen Botschaft in Stockholm im Jahre 2005 in Verbindung gebracht und für die Vorbereitung eines Anschlags auf eine Kirche verurteilt (vgl. Lovelace 2008, S. 126; Sverigesradio 2006). Englischsprachige Foren hatten auch deshalb eine besondere Signifikanz, da viele englischsprechende Nutzer vom Subkontinent in die Verbreitung der Propaganda involviert waren. In vielen Foren befanden sich sogenannte „Medienbeauftragte“ der jeweiligen Gruppen, die Ankündigungen und Links zu Videos verbreiteten. Die Dissemination war dabei stets ein Top-Down-Prozess, in dem Offizielle der jeweiligen Organisationen die produzierten Videos lokal auf Sharing-Dienste im Internet hochluden und diese in den unterschiedlichen Foren verbreiteten. Oft haben Forenmitglieder die Videos nach erfolgreichem Download sofort mehrfach hochgeladen und dadurch eine höhere Anzahl an Links erzeugt. Je länger Videos oder Lieder auf Servern von zum Beispiel Megaupload gespeichert waren, desto größer war die Gefahr, dass die Inhalte gelöscht werden. Aus diesem Grund gingen diverse Propagandisten dazu über, Videos als Dateien im .rar-Format mit Passwortsicherung zu erstellen, um ein Screening der Upload-Dienste zu umgehen. In gleicher Art und Weise operierten die großen arabischsprachigen Internetplattformen wie Shumukh al-Islam oder al-Fida (Conway 2016, S. 14). Die Vernetzung von operativen Elementen terroristischer Organisationen wie al-Qaida oder später der IS-Vorstufen ISI und ISIS fand auf einer höheren Ebene der Zusammenarbeit statt, sodass oft ein direkter Austausch mit Internetaktivisten, die sich außerhalb der Krisenregionen befanden, stattfand. Dieser sich herausbildende Aktivismus ging dazu über, eigene Unterstützerformate zu kreieren und somit den bewaffneten Kampf, aber auch Terrorismus von sich aus zu bewerben. Als prominentes Beispiel ist der deutschsprachige Ableger des internationalen Propagandanetzwerks Globale islamische Medienfront (GIMF; vgl. Torres Soriano 2012) zu nennen. Die aus Österreich stammenden Hintermänner und eine Hinterfrau um Abu Usama al-Gharib alias Mohammed Mahmoud, der sich später dem IS anschloss und seit 2018 als tot gilt, wurden 2007 festgenommen. Sie begannen in ihrer aktivistischen Arbeit Inhalte zu erstellen, die nicht offiziell von

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den unterschiedlichen Terrororganisationen verbreitet, aber bis zu einem gewissen Grad toleriert wurden (vgl. Musharbash 2007). Eines der größten Probleme, sowohl für die gewaltanwendenden Organisationen und deren Medienabteilungen als auch für Mitglieder und Administratoren in dschihadistischen Foren, war das Vertrauen bzw. Misstrauen. Thomas Hegghammer (2014, S. 31) schreibt dazu: The social atmosphere on jihadi forums is characterised by distrust and paranoia: users withhold personal information, warn against intelligence agents, accuse each other of spying, and share advice on how to spot impostors. Moreover, interpersonal trust seems to have declined over time, from low levels in the mid-2000s to very low levels in the early 2010s, most likely as a result of increased government infiltration.

Viele der Diskussions- und Verbreitungsplattformen haben über die Jahre hinweg einen Passwortschutz integriert, sodass nur registrierte Nutzerinnen und Nutzer dazu in der Lage waren, Inhalte zu sehen. Hinzu kam, dass ein Forum wie das bereits erwähnte Mujahedon.net neue Mitglieder zeitweise nur auf Empfehlung hin aufnahm. Zwar war sowohl den Administratoren als auch den Nutzern bewusst, dass nicht nur (pro-)dschihadistische Personen in den Foren unterwegs waren, dennoch kam es immer wieder zu Diskussionen, die in vielen Staaten von strafrechtlicher Relevanz waren und sind. Offen wurden beispielsweise Enthauptungen gefeiert (die von anderen gleichzeitig abgelehnt wurden) oder Anschläge auf Ziele im globalen Globalen Norden und dessen Interessen gefordert und befürwortet. Dschihadistische Internetforen waren zugleich ein sicherer Raum, um Propagandamaterialien zu verbreiten, Diskussionen über Taktiken zu führen, scharia-rechtliche Inhalte zu disputieren oder gar um Straftaten vorzubereiten. Gleichsam hielten sich viele Nutzer stark im Hintergrund und blieben mehr passive Beobachtende denn aktive Teilnehmende. Ich selbst manövrierte einige Jahre durch arabisch-, englisch- und französischsprachige (Pro-)Dschihad-Foren, ohne in Verdacht zu geraten oder blockiert zu werden. Im Gegenteil fand ich mich nach einiger Zeit und einigen ‚privaten‘ Nachrichten im inneren Bereich zweier Webseiten, zu denen nur zwei bis drei Dutzend privilegierte Mitglieder Zugang hatten. Meiner Erfahrung nach war das der abgesichertste Teil des Forums und brachte vor allem den Vorteil, dass Personen mit ihrer Kunya11 nach der Löschung eines Forums über dieses Netzwerk schnell

11(im

Kontext des Dschihadismus) Deckname, Nom de Guerre, Alias oder Kampfname.

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Zugang zu neuen Foren bekamen. Daneben kam es durch ideologische Differenzen zu Neugründungen, in denen sich abspaltende Fraktionen eigene Räume schufen.

3.2 Erste Messenger, Archive, Webseiten Eine eher untergeordnete, aber nicht zu unterschätzende Rolle in der Verbreitung dschihadistischer Propaganda spielten und spielen diverse frühe ­Messenger-Dienste wie der MSN-Messenger oder Paltalk12. Technikaffine, meist junge Unterstützende dschihadistischer Ideologien, die Mitglieder in Foren waren oder beispielsweise Vorteile durch Sprachkenntnisse hatten, haben häufig in Eigenregie Netzwerke geschaffen, um Propaganda weiterzugeben. Diese Distribution erfolgte häufig in Richtung von Sympathisierenden und Interessierten aus dem persönlichen Umfeld oder an Internetbekanntschaften, die selbst über keinen direkten Zugang zu den Propagandamaterialien verfügten. Mit dem Aufkommen von YouTube ab 2006 mehrten sich die Versuche seitens der Propagandisten, die neue Video-Plattform auch für ihre Produktionen einzusetzen. Plattformen, Netzwerke und ihre Betreiber stellen in ihrem ambivalenten Umgang mit derartigen Produktionen und firmenseitiger Teil-Ignoranz aber ein eigenes Thema dar. Während etwa aufwendige Videos und Collagen von Gruppierungen wie dem IS und ihrer Vorgängerorganisationen meist nach kurzer Zeit gelöscht werden, hält sich die Propaganda anderer Terrororganisationen wie der somalischen Schabab-Miliz oder dem mittlerweile im Bündnis Hai’at Taḥrīr aš-Šām (HTS)13 aufgegangenen ehemaligen a­ l-Qaida-Ableger Ǧabhat an-Nuṣra (Nusra- bzw. Unterstützerfront) aus Syrien.14 Grob gesagt hatten und haben dschihadistische Propagandaformate dort eine überschaubare Lebensdauer. Aufgrund der starken Kommerzialisierung der Plattform und dank der Verbesserung von Filtern sowie der Möglichkeiten, Inhalte zu flaggen oder zu reporten – also zu melden –, sodass sie auf die ­Community-Guidelines überprüft werden, war YouTube allerdings nie der attraktive

12In

der nicht-dschihadistischen deutschsprachigen Salafisten-Szene wird Paltalk genutzt, um Publikum für theologische Vorträge zu gewinnen und die Reichweite zu steigern. 13Komitee zur Befreiung der Levante – eine salafi-dschihadistische Gruppierung in Syrien. 14Die „Nusra-Front“ startete als ISI-Ableger in Syrien, ehe sie sich davon lossagte und sich al-Qaida anschloss (vgl. Andraoui 2017).

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Ort, um v. a. gewalthaltige dschihadistische Propaganda zu verbreiten, der es in der Theorie hätte sein können. Ganz im Gegenteil dazu steht das kalifornische Projekt Internet Archive. In der Selbstdarstellung (Archive.org 2014) handelt es sich um ein ­Non-Profit-Projekt, „building a digital library of Internet sites and other cultural artifacts in digital form“ (ebd.) mit kostenlosem und uneingeschränktem Zugang (vgl. ebd.) zu Büchern, Filmen, Audioaufzeichnungen, Bildern und 330 Mrd. archivierten Webpages (vgl. ebd.). Inhalte zu löschen, sieht diese Plattform in der Theorie nicht vor, was zur Ausnutzung des Projekts durch Distributoren extremistischer Inhalte führte. Bis ins Jahr 2019 ist bei der Verbreitung von Download- und StreamingLinks zu Videos oder Kommuniqués von al-Qaida et al. Archive.org eine wichtige Instanz. Bereits in den Punkten 1. und 1.1 erwähnte ‚Klassiker‘ der dschihadistischen Kommunikation können seit Jahren im Internet Archive aufgerufen, heruntergeladen oder direkt gestreamt werden.15 Neben den gerade genannten und präferierten Plattformen wurde mit weniger populären Möglichkeiten wie Vimeo16 und Dailymotion gearbeitet, was jedoch bis heute eher die Ausnahme geblieben ist, zumindest wenn es um das Thema des direkten Uploads durch die unterschiedlichen Gruppen selbst geht. Als weitere Option an den Fronten der digitalen Medienführung existierten immer professionellere Websites, die mit den Vorgängern wie azzam.com nichts mehr gemein hatten, außer dass sie ähnlichen Content anboten. Da jedoch das radikalisierende Potenzial dschihadistischer Medienarbeit nach den Anschlägen vom 11. September 2001, von Madrid und London immer weiter in den Fokus verschiedener Akteure wie Sicherheitsbehörden geriet, konnten viele dieser offen zugänglichen Webseiten oft schnell abgeschaltet werden. Eine Ausnahme war u. a. der Internetauftritt der militanten islamistischen Organisation Katā’ib aš-Šahīd ʿIzz adDīn al-Qassām17. Unter alqassam.ps kann die Seite nahezu unterbrechungsfrei seit 2005 aufgerufen werden. Die vermutlich in Russland gehostete Website hat einige Domain-Wechsel hinter sich und ist doch eine der wenigen Adressen, die

15Vgl.

zu Archive.org bzw. dem Internet Archive auch den Beitrag von Kevin B. Lee in diesem Band. 16Das „Paulchen ­Panther“-Bekennervideo der neonazistischen Terrororganisation Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) (vgl. Hillrichs 2015) ist dort noch immer abrufbar (Stand 01.10.2019). 17Kassam- oder al-Quassam-Brigaden; bewaffneter Arm der palästinensischen terroristischen Hamas-Bewegung.

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noch aus den Zeiten vor dem Web 2.0 stammen und weiterhin in ihrer ursprünglichen Form existieren. Ganz gleich ob ein Forum, eine Webseite oder ein Voice-Chat-Kanal, eine große Bühne konnte aber bis dahin nicht etabliert werden, weshalb die große Massenbewegung ausblieb, die sich dschihadistische Theoretiker erhofft hatten. In der Ära des Webs 2.0 jedoch, von Twitter bis Telegram, können Millionen Menschen auf ihren Smartphones, Tablets und Laptops in Sekundenschnelle erreicht und unter Umständen mobilisiert werden.

4 Von Facebook und Twitter zu Ribat-Selfies auf Instagram Mit dem Aufkommen Sozialer Netzwerke und Social-Media-Dienste wie MySpace, Facebook und Twitter hat sich die Verteilung und Verbreitung offizieller dschihadistischer Propaganda stark gewandelt. Im Fokus des Geschehens stehen nunmehr nicht mehr ausschließlich die festgeschriebenen Kommunikationslinien der jeweiligen Gruppe. Kämpfer-, Anhänger- und offizielle Medienarbeiterrollen verschwimmen und neue Möglichkeiten haben sich aufgetan, näher an die Zielgruppen zu gelangen, aber auch, sich direkt und individuell einer (Teil-)Öffentlichkeit zu präsentierten. Statische Webseiten und Internet-Foren waren und sind ein relativ einfaches Ziel für Sicherheitsdienste oder engagierte Privatleute. Serviceanbieter können Internetseiten schnell offline nehmen und die Verbreitung von Propaganda damit effektiv stören. Die neue Generation des Online-Aktivismus im dschihadistischen Spektrum hat daher schnell das Potenzial des Social Web erkannt, sodass viele der aktiven Gruppierungen Accounts vor allem auf Facebook und Twitter eröffneten, gleichzeitig Foren und Webseiten aber weiterbetrieben. Das Voranschreiten der Kriege begünstigte die Entwicklungen in der Produktion und Verbreitung dschihadistischer Propaganda. Die sich militärisch erholenden und erfolgreichen Taliban haben über die Jahre hunderte Propagandavideos produziert. Das Lager der bewaffneten irakischen Opposition erstellte und verbreitete ebenso Videos im vier- bis fünfstelligen Bereich. Sie professionalisierten sich über die Jahre und begannen ab ca. 2010 nach und nach mit der Einführung von HD-Aufnahmen. Der langsam anlaufende Wechsel zu Soziale Medien wurde nicht nur durch die bestehenden Konflikte beschleunigt, sondern auch durch Zäsuren, Umbrüche, Revolutionen und Proteste in vielen arabischsprachigen Ländern. Sie haben ab Ende 2010 die Kraft und Wirkung internetbasierter Netzwerke eindrucksvoll bewiesen. Auch im Zuge dessen nahm die

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Anzahl und Bedeutung der dschihadistischen Veröffentlichungen in digitalen Kanälen dramatisch zu. Ein wirkungsvolles Mittel ist dabei der Hashtag. Das Rautensymbol in Kombination mit einem Stichwort oder einer Phrase kann problemlos in öffentlichen Kurznachrichten verwendet werden, um Veröffentlichungen schnell an Interessierte und Sympathisierende weiterzugeben, ohne dass ein Account eine große Anhängerschaft haben muss (Winter 2015, S. 11). Relativ unabhängig von konkreten Accounts und über die Grenzen extremistischer Diskurse und öffentlicher Debatte hinweg können so ideologische Inhalte oder Aussagen frei migrieren.

4.1 Irak, Syrien und Millenials – Generation Jihad bei Daula18 Als immer mehr Bürgerinnen und Bürger europäischer Staaten in den 2000er Jahren vor allem ins afghanisch-pakistanische Grenzgebiet reisten (vgl. u. a. Schmidt 2012), nahm das Interesse an ihnen und ihrem Leben im Exil auch in den Herkunftsländern zu. Bekannte Namen sind hier etwa die Brüder Mounir und Yassin Chouka, die 2007 von Bonn-Kessenich nach Waziristan zogen und in Videos der Islamischen Bewegung Usbekistan auftraten. Sie wie einige andere wurden schon damals durch ihre Social-Media-Auftritte zu regelrechten dschihadistischen Popstars. Dies Art der Berühmtheit und des Auftretens hat seither und insbesondere mit Blick auf den Krieg in Syrien noch zugenommen. Zu nennen ist hier etwa der türkische Niederländer Salih „Israfil“ Yilmaz, der mit seinen Auftritten auf Twitter und Tumblr im Geiste eines Influencers Werbung für den Kampf gegen das Assad-Regime machte. Yilmaz veröffentlichte Szenen seines Alltages, beim Tee trinken, mit seinen Waffen, beim Ausbilden von Rebellen oder bei der Essenszubereitung. Außerdem bediente er sich eines beliebten Mittels, um Likes und Sympathien in den Kommentarspalten zu generieren: kleinen Katzen, die ihn im Alltag begleiteten. Der generell medienaffine chechclear19 war sehr gesprächig im Kontakt mit ­Dschihad-Interessierten und -Analysten. Zwischen 2012 und 2013 stand ich einige Male mit ihm in Kontakt, erkundigte mich über

18arabisch

für „Staat“, gemeint ist der IS. von Yilmaz auf Twitter und Tumblr.

19Username

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Entwicklungen vor Ort und versuchte nachzuvollziehen, wie er zu diesen jeweils stand. In der Zeit kam es zur schleichenden Übernahme der syrischen Revolution durch islamistische und dschihadistische Elemente in der Opposition sowie zu ersten Zerwürfnissen. Yilmaz betonte in seinen Tweets und Posts stets, dass er keinen Bruderkampf zwischen Nusra und Daula haben wolle und entwickelte sich gleichzeitig immer mehr zum Anhänger des IS. Sein Beitritt bedeutete auch ein Ende seiner ­Online-Aktivitäten. Apps und Dienste wie Ask.fm, Viber oder Kik stellten und stellen weitere Plattformen dar, auf denen neben Twitter sowohl offizielle als auch inoffizielle Propaganda verbreitet wurde. Der IS hat spätestens ab 2015/16 eine ­ Social-Media-Verbotspolitik20 für seine Kämpfer entwickelt und durchgesetzt, was zu einer Vereinheitlichung der propagandastrategischen Kommunikation und weniger medialen Fauxpas in den Auftritten einzelner Kämpfer führte. Diese präsentierten sich und ihren Followern auf Twitter oder Instagram, posierten mit Waffen während ihres Dienstes in den Verteidigungsfrontstellungen (ribāt)21, zeigten sich vor erbeuteten Kriegsgeräten, vor markanter Landschaft, dokumentierten sich und die Gemeinschaft oder das Alltagsleben inklusive kleiner „Luxusgüter“ wie Süßigkeiten und andere Konsumgüter. Allerdings ist es dabei häufig zu Fällen gekommen, in denen unachtsam mit Lokalisierungs- und Ortungsfunktionen von Smartphones umgegangen wurde, was von der Anti-IS-Koalition in den OSINT- und COMSEC-Bereichen22 der (Gegen)Spionage ausgenutzt wurde, um Ziele zu lokalisieren und auszuschalten. Propagandaarbeit hatte so, wenn auch anders als sonst immer gedacht und negativ für die Propagandisten, eine konkrete Auswirkung auf die militärische Schlagkraft. Die Lokalisierungsfunktion ermöglichte es mir zudem, den Weg einiger Dschihadisten vom Norden Syriens bis nach Raqqa und in den Irak anhand der geteilten Tweets und Nachrichten rekonstruieren zu können. Private Accounts wurden primär dafür genutzt, um vom Leben in Syrien und der jeweiligen Gruppe zu berichten; sowohl Männer als auch Frauen veröffentlichten tausende „Innenansichten“ aus dem Kalifat und versuchten dadurch gleichsam neue Rekrutinnen und Rekruten zu gewinnen. Unterdessen war die Nutzung

20Dennoch

finden sich in unterschiedlichen „Provinzen“ inoffizielle Accounts von ISAngehörigen, dabei fallen „Ost-Asien“ und ­„West-Afrika“ derzeit besonders auf. 21Meint ursprünglich kleine militärische Stellung entlang der „Grenze“ bzw. Frontlinie. Der Begriff nimmt auch im abstrakten Sinn eine wichtige Rolle im Selbstverständnis muslimischer Kämpfer ein. 22Gängige Abkürzungen für Open Source Intelligence und Communications Security.

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der sozialen Medien durch offizielle Medienorgane wesentlich strukturierter und hat spätestens mit der Umbenennung des Islamischen Staates im Irak und der Levante (ISIL/ISIS) in Islamischer Staat im Juni 2014, einen erneuten Sprung bezüglich des Outputs und der Dissemination strategischer Kommunikate erreicht. Zu der Zeit steigerte sich die Verbreitung von Propaganda über die gesicherte App des 2013 gestarteten Instant-Messengers Telegram23. Dessen Chats sind nicht zwischengespeichert End-to-End-verschlüsselt, sodass es quasi unmöglich wird, herauszufinden, was die Gesprächspartner versendet haben. Telegram kann als Webplugin direkt im Browser wie Firefox integriert und einfach per Laptop oder PC bedient werden. Die unterschiedlichen IS-Agenturen waren und sind damit beauftragt, neue Channels zu erstellen, denen per Einladungslink beigetreten werden kann. Die Entwicklung der Einladung ist eine Schlussfolgerung aus den vergangenen beiden Jahren, in denen die Telegram-Betreiber regelmäßig dschihadistische Kanäle und Gruppen gelöscht und blockiert haben. Zu Beginn des Wechsels auf die Plattform betrug die Lebensdauer der jeweiligen Kanäle meiner Erfahrung nach teilweise mehrere Monate. Vor allem Follower-starke Telegram-Kanäle des IS werden nach mindestens zwei Jahren regelmäßig gelöscht, wodurch Interessierten der Zugang zu den Materialien zumindest erschwert wird. Die Hälfte der offiziellen IS-Channels, in denen ich derzeit (Stand August 2019) die Kommunikationsarbeit abschöpfe, ist jedoch seit neun bis zwölf Monaten ohne Unterbrechung aktiv, wenngleich sie weniger als einhundert Follower haben. Entgegen der klassischen Foren findet in diesen offiziellen Kanälen kaum Austausch statt, es geht ausschließlich darum, die neuesten offiziellen Meldungen, Videoproduktionen, Anašīd und Bilddateien zu verbreiten. Andererseits existiert eine große Zahl an Supporter-Channels, in denen reger Austausch zu Nachrichten, Operationen und Propaganda des IS stattfindet. Diese Form der Verbreitung hat mit der zwischenzeitlichen Quasi-Staatlichkeit des IS eine wichtige Neuerung hervorgebracht. In der Vergangenheit kümmerten sich meist jeweils eine oder zwei Medienabteilungen pro Gruppe um die Herausgabe eigener Kommunikate. Der IS etablierte die Amaq Agency, ein Medienorgan, das vor allem für die Verbreitung von Nachrichten und kurzem raw-footage zuständig ist. Im Gegensatz zu den minutenlangen und stark bearbeiteten ­IS-Videos sollen die Kurzclips dieser hauseigenen „Nachrichtenagentur“ einen direkten Eindruck vom Geschehen vermitteln, egal ob es sich dabei um die

23Zu

Telegram als bevorzugten Verbreitungsdienst des IS u. a. Bloom et al. 2017.

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Explosion eines Sprengsatzes am Straßenrand handelt oder andere erwähnenswerte Nachrichten. Derartige Clips sind stets unkommentiert und folgen dem gregorianischen Kalender in der Datumsangabe, eine nennenswerte Tatsache, da in IS-Propaganda sonst nur der Hidschrī-Zeitrechnung Verwendung findet. Die Strategie der eigenen Nachrichtenagentur, die getrennt von den anderen Medienorganen der jeweiligen Organisation berichtet, wurde von anderen Gruppen aufgenommen, zum Beispiel von HTS, die über die ‚Iba News Agency‘ Nachrichten auf Arabisch, Russisch und Türkisch veröffentlicht.

4.2 Andere Plattformen und Verbreitungstrends Häufige Löschungen und das Blockieren von Accounts führten in der Vergangenheit zur Erprobung weniger populärer Plattformen und anderer Apps. Auf Telegram wurde zu Beginn des Jahres 2019 mit Einladungslinks auf den Rocket.Chat aufmerksam gemacht. Die dem IS-nahestehende Nashir News Agency unterhielt auf der Plattform mehrere Dutzend Channels, in denen die gleichen Inhalte verbreitet wurden wie auf Telegram. Das Interesse an einem Wechsel hin zu diesem Kommunikationsdienst scheint begrenzt. Nach einigen aktiven Monaten hatten die Channels, die ich beobachtet habe, nie eine dreistellige Follower-Zahl erreicht und neue Updates wurden nicht mehr veröffentlicht, bis die Kanäle letztlich gelöscht wurden. Mit WhatsApp-Gruppen wurde ab Ende 2018, Anfang 2019 seitens der IS-Propagandisten experimentiert, doch ist der Erfolg auch dort überschaubar geblieben, sodass viele der G ­ ruppen-Chats nie eine dreistellige Mitgliederanzahl überschritten.24 Nach wenigen Monaten beendeten offizielle IS-Gruppen ab dem Frühjahr 2019 ihre WhatsApp-Aktivitäten weitestgehend. Auch Instagram-Accounts von Dschihadistinnen und Dschihadisten spielten vor allem im inoffiziellen Bereich der Propaganda-Verbreitung eine Rolle, um etwa mit Fotos und Videos aus Ribāṭ -Stellungen, vor europäischen Autos oder mit Sturmgewehren dschihadistische Gedanken zu verbreiten und dabei das Gefühl persönlicher Nahbarkeit zu erzeugen. Trotz all den anderen Optionen war Telegram, bis zu einer großen Säuberungsaktion Ende 2019, die erste Wahl bei der ­Online-Verbreitung von IS-Propaganda.

24Wissenschaftler

wie der belgische Dschihadismus-Analyst Pieter van Ostaeyen bestätigen dies in persönlichen Korrespondenzen.

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Zu erwähnen sind noch die Anstrengungen des IS, die Materialien im eigenen „Hoheitsgebiet“ analog zu verteilen.25 Immer wieder veröffentlichte die Terrororganisation Aufnahmen von Medienbeauftragten, die DVDs, CDs und ausgedruckte Pamphlete an Zivilpersonen und Kämpfer verteilten oder Medienstände an Marktplätzen und Kreuzungen aufbauten. Aufgrund des kompletten Verlustes realer territorialer Herrschaft wird die analoge Distribution vorerst keine signifikante Verteilstrategie mehr darstellen. Auch wenn Plattformen wie YouTube, Twitter und Telegram dschihadistische Inhalte immer zügiger löschen und blockieren, bleiben sie eine wichtige Anlaufstelle für Gruppierungen wie dem IS. Ebenso wie in den Foren tummelt sich in Telegram Gruppen und Channels eine Mischung aus Sympathisierenden, Analystinnen und Analysten sowie Angehörige von Sicherheitsbehörden. Die Tatsache, dass die Chats nicht offen zugänglich sind, erhöht zwar deren Lebensdauer, verringert jedoch das Verbreitungspotenzial, weshalb die Dissemination hier ein Top-Down-Prozess bleibt. Propagandisten bleiben in diesem allerdings auf eine Basis angewiesen, die zumindest die Links verbreitet. Diese Basis generiert außerdem Fan-Inhalte wie Collagen aus offiziellem Material oder Übersetzungen von Kommuniqués und Videos und verbreitet sie über eigene Kanäle. In (offizielle) Telegram-Gruppen zu gelangen stellte im Jahr 2019 eine gewisse Herausforderung dar und setzte Kenntnisse der ‚Szene‘ voraus. Trotz jahrelanger Analyse sah ich fast täglich die Notwendigkeit, auf Einladungslinks zu Back-up-Kanälen zu achten, um in sich immer wieder neuaufstellende Netzwerke adäquate Zugänge zu erhalten.26 Die reine Stringenz der Medienarbeit – sowohl offizieller Natur, als auch durch Supporter – bringt Stabilität in die zurzeit existierenden Verteilerprozesse, was die Dissemination der angeschlagenen ISPropaganda ebenso sichert wie das Verteilen florierender weiterer Gruppen des Spektrums.

25Siehe

dazu auch den Beitrag von Bernd Zywietz in diesem Band. bin ich immer dankbar für die Hilfe von Kolleginnen und Kollegen, die sich in Gruppen befinden und Links weitergeben.

26Dabei

Vom Analogen ins Digitale. Eine kurze Geschichte …

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5 Schluss Mit diesem Beitrag wollte ich einen kurzen Überblick über die mediale Geschichte dschihadistischer Propaganda geben, wohl wissend, dass dies hier nur sehr punktuell und oberflächlich möglich ist. Der IS und seine Propaganda stellten dabei nur einen Höhepunkt dar – es werden auch von seiner militärischen Niederlage Bilder, Videos und Texte kursieren, um das entsprechende Gedankengut zu verbreiten. Weitere und teils schon ältere Konfliktherde wie aktuell das Kaschmirgebiet, aus dem heraus dschihadistische Gruppen bei Telegram verstärkt präsent und aktiv sind, belegen dies. So sehr das Internet wie die Digitalisierung allgemein dschihadistische Propaganda wie unser Leben allgemein beeinflusst haben und vor allem neuen Möglichkeiten der Interaktion zwischen Personen geschaffen haben, sind gleichwohl grundlegende Aspekte über die Jahrzehnte hinweg gleich geblieben: die Rolle aufrüttelnder Bilder oder der Umstand, dass die relevanteste, aktuelle Propaganda nach wie vor in erster Linie top-down vertrieben wird. Zwar wird altes Material wie die Schriften Abdallah Azzams oder die Aufzeichnungen der Reden des populären US-Jemeniten Anwar al-Awlaki (1971–2011) mittlerweile vor allem ‚horizontal‘ im Netz verbreitet. Trotzdem müssen die Äußerungen der Ideologen und die offiziellen Kommunikate der Medienstellen von oben nach unten und zunächst durch gewisse ‚Flaschenhälse‘ der Dissemination hindurch, selbst wenn diese überaus zahlreich sind. Faktoren wie Zeit (die jüngste Ansprache, die neueste Botschaft) und Autorität spielen gerade hierbei nach wie vor eine zentrale Rolle und werden durch individuelle Lifestyle-Inszenierungen einzelner Kämpfer oder den Content von sympathisierenden Nutzerinnen und Nutzern ergänzt und erweitert.

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Martin Zabel Studium der Arabistik und Afrikanistik an der Universität Leipzig und Islamwissenschaften an der Freien Universität Berlin. Seit 2016 Referent und Dozent im Themenfeld der Prävention und politischen Bildung. Forschungsinteressen: gewaltanwendende, nicht staatliche Organisationen sowie militärische Konfliktdynamiken.

Mediale Formen und Formate der IS-Propaganda. Ein Analyseansatz und Überblick Bernd Zywietz

Zusammenfassung

Um dem Facettenreichtum etwa hinsichtlich der Multimodalität, der rhetorischen und ästhetischen Funktionen, der Gattungs- und sonstigen Erscheinungsvielfalt der Propaganda des ‚Islamischen Staats‘ Rechnung zu tragen, entwickelt der Beitrag ‚Form‘ und ‚Format‘ als Kernbegriffe eines möglichen Untersuchungsansatzes. Davon ausgehend werden ein umfassender Überblick zu zentralen Medienformen und -formaten, Medientextsorten und -genres, Aspekten der Inter- bzw. Paratextualität sowie Organisations- und Infrastrukturen der IS-Propaganda geboten. Schlüsselwörter

Propaganda · Islamischer Staat · Form · Format ·  Medientexte · Medienrhetorik · Propagandavideos · Multimodalität ·  Analyseansatz · Mediendesign · Propagandagenres

1 Einleitung Propaganda ist ein analytisch prekärer Begriff, nicht nur hinsichtlich seiner ethisch-moralischen Dimensionen. Die Abgrenzungen gegenüber anderen Arten der Einflusskommunikation fällt schwer. Vor allem aber eröffnet er ein enormes B. Zywietz (*)  Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Mainz, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 B. Zywietz (Hrsg.), Propaganda des „Islamischen Staats“, Aktivismus- und Propagandaforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28751-1_4

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Gegenstands- und Untersuchungsfeld gerade dort, wo Propaganda Werkzeug totalitärer Systeme oder eine solche Herrschaft im Entstehen begriffen ist. Das gilt nicht nur etwa für die NS-Diktatur in Deutschland der 1930er und -40er Jahre, sondern auch für das theokratische Protostaatenprojekt des sogenannten Islamischen Staats (IS). In diesem Kontext war der IS mehr als eine Terrorund (Gewalt-)Aktivistengruppe, die ihre ‚Propaganda der Tat‘ und ‚strategische Kommunikation‘ aus der politischen und aufmerksamkeitsinfrastrukturellen Unterlegenheitsposition heraus betrieb. Ob wir nun einem engeren typologischen Begriffsverständnis folgen, das säuberlich zwischen ‚Propaganda‘ und politischer ‚Aktion‘, ‚Öffentlichkeitsarbeit‘, ‚Missionierung‘, ‚Werbung‘ oder diversen Arten der ‚Aufklärung‘, ‚Information‘ oder ‚Erziehung‘ zu unterscheiden versteht, oder – wie in diesem Beitrag – einem, das breiter angelegt ist und eher unscharfe Grenzen akzeptiert1: Propaganda als Objekt der Betrachtung und Denotat der Bezeichnung bleibt allein schon deshalb unspezifisch, weil selten klar wird, worauf sich damit bezogen wird. Dabei geht es nicht nur darum, ob Propaganda als zeitlich begrenzte, gezielte, koordinierte und systematisch-strategische Kampagne gedacht wird oder als grundlegende Strukturfunktion einer sich ständig reproduzierenden Ideologie. Denn selbst wenn wir Propaganda nicht im Großrahmen einer übergreifenden Kultur-, Ideologie- oder Systemkritik verorten, bleibt offen, um welche Art ‚Ding‘ es sich handeln soll. Ist das kommunikative Handeln gemeint, also die Verfahren und Operationen der Beeinflussung?2 Das institutionelle Subsystem und seine Aktanten, die für die systematische Überredungs- und Überzeugungsart zuständig sind?3 Oder, abstrakter, mehrdimensionaler und amorpher, ein(e) spezifische(r) „Kommunikationsprozess“, „form“, „-technik“ oder „-typ“ (vgl. Bussemer 2008, S. 33; Merten 2000, S. 143; Hundhausen 1975, S. 7; Ellul 1973[1962], S. 3; 148;)? Vielleicht aber, doch auch,

1Dies

gilt etwa hinsichtlich der Trennung zwischen zeit- und themenspezifischer agitativer Propaganda, indoktrinärer ‚Bildung‘ (z. B. mittels Schulbücher des IS, s. u.) und religiösweltanschaulicher ‚Missionierung‘. 2Beispielsweise als „management of collective attitudes“ (Lasswell 1938 [1927], S. 9). Zu Propaganda und ihrer Definition siehe auch die entsprechende Passage in der Einleitung dieses Bandes. 3Auf solche Einrichtungen als Teil der Struktur des IS-‚Kalifats‘ gehe ich in Unterkapitel 3.1 ein.

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die verschiedenen propagandistischen Medientexte?4 Gerade letzteres macht das Problem deutlich, denn Propaganda nimmt über sämtliche Medien- und Textgattungsgrenzen hinweg viele Erscheinungsformen an: Sie kann Spielfilm oder Flugblatt sein, Plakat und Mauerbild, Schul- und Kinderbuch, Wissenschaftsartikel, Radioansprache und Fernsehnachrichtenbeitrag, I­nternet-Meme, WebVideo, Parlaments- und Kanzelrede. Das führt direkt zum perspektivischen Ansatz, der einerseits in diesem Buchbeitrag vorgestellt wird und der, andererseits, dazu dienen soll, einen – notgedrungen kursorischen – IS-Propaganda-Überblick zu bieten. Denn natürlich gibt es nicht nur viele Möglichkeiten, Propaganda zu konzipieren, sondern auch viele Möglichkeiten, sich mit Propaganda als Untersuchungsobjekt auseinanderzusetzen, sie dabei zu konturieren oder gar epistemisch zu konstruieren. Wir können etwa nach den diversen Adressaten- und Zielgruppen fragen oder nach den verschiedenen Zielen5: Soll Propaganda den inneren Zusammenhang der Anhänger und Unterstützer herstellen oder befördern, soll sie potenzielle Kämpfer6 gewinnen und die eigene Klientel mobilisieren? Oder ist sie intendiert, strukturiert und eingesetzt, um militärische, politische oder allgemein ‚weltanschauliche‘ Gegner, ihre Gemeinschaften und Gesellschaften unter Druck zu setzen, sie zu Überreaktionen zu provozieren und im Sinne psychologischer Kriegsführung und Desinformation zu demotivieren und zu destabilisieren? Propagandaforschung kann aber auch nach den Propagandisten als Akteuren fragen, nach ihrer Programmatik und Ideologie (dschihadistische Propaganda, im Vergleich etwa zu links- oder rechtsextremistischer). Sie kann sich konzentrieren auf bestimmte zeithistorische Ereignisrahmen (z. B. IS-Propaganda als Teil der

4‚Text‘

bedeutet in diesem Beitrag mediensemiotisch das „(empirisch vorliegende) Ergebnis aus Wahl und Kombination konkreter Zeichen eines spezifischen Zeichensystems“ (Gräf et al. 2014, S. 27), also nicht nur Schrifttexte, sondern auch Videos bzw. Filme, Bilder, Audiotexte etc. Von ‚Medienprodukten‘, ‚-artefakten‘ oder ‚Materialien‘ ist hingegen die Rede, wenn der Fokus auf diesen medialen-kommunikativen Einheiten als Objekten, Ressourcen oder Ergebnis des Handelns (der Produktion, Bearbeitung, Distribution, Rezeption) liegt. 5Adressaten- und Zielpublikum müssen nicht identisch sein, weil mit der formalen Ansprache der ersteren eine intendierte Wirkung auf letzteres beabsichtigt sein kann. Dabei ließe sich von einer angestrebten taktisch oder strategisch anvisierten Third-PersonWahrnehmung bzw. einem entsprechenden Third-Person-Effekt (z.  B. Über[abwehr] reaktionen wie Zensurmaßnahmen aufgrund von Wirkungsannahmen) sprechen (vgl. Dohle 2017). 6Aus Gründen der Lesbarkeit verwenden dieser Beitrag das generische Maskulinum; es sind jedoch stets alle Geschlechterformen gemeint.

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Propaganda im syrischen Bürgerkrieg) oder auf charakteristische (Sub-)Typen (etwa Gräuel- oder Terrorpropaganda). Dieser Beitrag wie der Sammelband, dessen Bestandteil er ist, fokussiert nun die verschiedenen Formen und Formate der IS-Propaganda. Andere Faktoren, Elemente und Aspekte sind davon natürlich nicht abzulösen: die verschiedenartigen Bedeutungs-, Wirkungs- und Diffusionskontexte, die empirischen und vor allen idealen Adressaten, Propagandisten, die Ideologie mit ihren einzelnen historischen, politischen und theologischen Ideologemen, die es zu verbreiten und zu installieren gilt etc. Sie sind aber hier in erster Linie in Relation auf eben dieses – auf den ersten Blick vielleicht seltsam anmutende – Begriffspaar und mithin die konkrete medientextuelle Realisierung oder Instanziierung von Propaganda relevant. Was mit ‚Formen‘ und ‚Formaten‘ in diesem Zusammenhang gemeint ist, erläutere ich im nachfolgenden ersten Unterpunkt. Gemeinsam mit dem Begriff der ‚Aneignung‘, der in diesem Aufsatz nicht näher thematisiert werden kann (vgl. dazu Zywietz und Beese 2020) sind sie als mehrdimensionale Beschreibungs- und Untersuchungskategorien zu verstehen, die einen eigenen Ansatz medientextzentrierter Propagandaanalyse begründen. Die weiteren Unterkapitel liefern auf Basis dieser theoretisch-konzeptionellen Modellierung eine Übersicht zu relevanten Formen und Formaten der strategischen ­IS-Kommunikation, wobei Überblick und Modellrahmen zur gegenseitigen Veranschaulichung dienen sollen. Zugleich sind beide Teile so angelegt, dass sie möglichst unabhängig voneinander bestehen können; wer sich also nicht für die Theorie interessiert und sich nur mit der IS-Propaganda befassen möchte, kann direkt zu Punkt 3 springen. Hinsichtlich des beschränkten Umfangs eines solchen Buchbeitrags können all diese thematischen Punkt nur kursorisch behandelt werden. Dies sei hier gestattet, weil es einerseits darum geht, eine Orientierung auf dem Gebiet der IS-Propaganda als Teil einer (nicht nur digital-) medialen, dschihadistischen Subkultur oder Ökosphäre zu bieten, die selbst wiederum Schnittmengen diverser anderer, sich überlagernder und überkreuzender Kulturen, Sphären, Szenen oder Felder ist (die des Internets, des politischen Aktivismus, der religiösen, nationalen oder sonstigen imaginären Gemeinschaft etc.). Andererseits soll der besondere Blickwinkel, eben die format-formale Perspektive, hier in ihrem Nutzen skizziert werden. Weitere, detailliertere Studien können dann darauf aufbauen, sind auch nötig, denn in der Auseinandersetzung mit vor allem extremistischer Propaganda spielen gattungs- und formattechnische Fragen ebenso eine noch viel zu unterentwickelte Rolle wie formalästhetische Aspekte mit ihren ganz eignen Bedeutungs-, Attraktions- und Persuasionspotenzialen. So ist denn nur

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diffus von jugendaffiner Verfasstheit dschihadistischer Botschaften die Rede oder es kommen, mit Blick auf die IS-Videos, Hilfsbeschreibungen und -vergleiche wie „Hollywood“ oder „Blockbuster“ (vgl. u. a. Kübler 2016) zum Einsatz. So werden die Problemtexte noch weiter spektakularisiert und ihre Bedrohlichkeit dramatisiert, ohne aber zu deren Verständnis und möglichen (medienkritikfähig­ keitsfördernden) Gegenmaßnahmen beizutragen.

2 Form und Format Das Verhältnis der Wörter ‚Form‘ und ‚Format‘ ist eng und kompliziert, u. a. weil sich ‚Format‘ aus ‚Form‘ ableitet. Während klassischerweise der Begriff ‚Inhalt‘ dem der ‚Form‘ beigesellt bzw. gegenübergestellt wird (vgl. Vesper 2006), ist ‚Format‘ hier weder kontrastiv noch komplementär, sondern markiert eine Konkretisierung und pragmatische dimensionale Ergänzung. Betrachten wir aber zunächst die Begriffe im Einzelnen.

2.1 Form Bei aller unüberblickbarer Vielfalt des Gebrauchs und seiner Geschichte (v. a. in der Philosophie und Kunsttheorie) lassen sich für das Wort ‚Form‘ drei Bedeutungsstufen vom Unbestimmten zum Spezifischen ausmachen. Da ist zunächst Form als „universaler ‚Abstraktionsbegriff‘“ (Städke 2001, S. 463), eine „abstrakte Kategorie für das Besondere“ (ebd.). ‚Form‘ ist hier weitgehend Synonym für Art oder Weise, eine bestimmte Ausprägung, Realisierung oder Manifestation im weitesten Sinne und so alltäglich, dass es nicht definiert werden muss.7 Reflektierter, gar ein eminenter Grundbegriff ist ‚Form‘ vor allem in der philosophischen und in der Kunstästhetik, und hier, wie erwähnt, im Dualismus ­Form-Inhalt, Form-Stoff oder Form-Materie.8 Dem (geistigen, ideellen) Gehalt wird, so die lang tradierte Vorstellung, eine Form gegeben oder er wird – noch

7Selbst

in Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen ist trotz der TitelProminenz locker gebraucht und weitgehend erläuterungslos u. a. von „sprachlicher Form“, „logischer Form“, „Einzel- und Grundform“, „Form des Begriffs“, der „Erkenntnis“ oder der „Betrachtung“ die Rede (vgl. Cassirer 1923, u. a. S. V, 13, 15). 8Vgl. Vesper 2006 für eine Übersicht.

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handwerklich-metaphorischer – in eine Form gegossen. Diese dominante Konzeptionierung gilt nicht nur für tangible Werke, sondern auch für das Erzählen als eine „form of discourse that can be filled with different contents, real or imaginary“ (White 1987, S. XI; Herv. B.Z.). Wie immer das Verhältnis aber gedacht (und der Dualismus später infrage gestellt) wurde und wird: Form bezeichnet in diesem Sinnzusammenhang die äußere, also sinnlich unmittelbarste Ebene der Erscheinungsweise und der Gestaltung, die wiederum eng mit dem Stil, der künstlerischen, individuellen oder epochalen ‚Handschrift‘, „dem Modus des Getanen, Gesagten oder Hervorgebrachten“ (Wolf 2006, S. 362) verbunden ist.9 Im spezifischeren Sinne kann von Form auch als von der charakteristischen Anordnung struktureller Einzelelemente gesprochen werden. Die Literaturtheoretiker des Russischen Formalismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts (Viktor Šklovskij, Jurij Tynjanov und andere) etwa entfernen sich vom Verständnis der Form als Oberflächendimension und bloßer (Re-)Präsentation (vgl. Städke 2001, S. 487). Form bildet bei ihnen eine Trias mit dem Material (z. B. der Sprache) und den Verfahren: „Die Eigenart des Kunstwerks besteht danach in der Summe der verwendeten Verfahren zur Formung bzw. Deformation eines bestimmten Materials“ (ebd.). Diese Sichtweise greift ab den späten 1970er Jahren der filmanalytische Neoformalismus auf.10 Dessen zwei prominenteste Vertreter, David Bordwell und Kristin Thompson, schreiben in der elften, zusammen mit Jeff Smith herausgegebenen Auflage ihres Standardwerks Film Art – An Introduction 2017: By form, in its broadest sense, we mean the overall set of relationships among a film’s parts. […] We think that every component functions as part of a pattern, big or small, that engages the viewer. So we’ll treat as formal elements many things that some people consider content. From our standpoint, subject matter and abstract ideas all enter into the total form of the artwork (Bordwell et al. 2017, S. 52).

Die Idee, Form mit (gedanklichem) Gehalt theoretisch wie ­ bildnerischkünstlerisch- und analytisch-praktisch weitgehend zusammenzudenken, ist nicht neu. Sie ist für die Propagandaanalyse aber zu betonen, weil die übergreifende

9Wenn denn etwa von Textgestaltung die Rede ist, ist u. a. aufgrund des hier breiteren mediensemiotischen Textbegriffs (s. Fn. 4) nicht – wie sonst üblich – lediglich die grafische Dimension (Typografie, Zeilenabstände etc.), sondern auch die sprachlich-stilistische, mithin die ästhetische wie rhetorische Vertextung mitgemeint. 10Vgl. für einen Überblick Hartmann und Wulff 1995.

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integrative Form wie die einzelnen Verfahren im Sinne von Mitteln und Entscheidungen der Gestaltung durchaus bedeutungshaft sein oder, in spezifischen Konstellationen, ein (instrumentalisierbares) Eigenleben führen können. Sei es, dass sie wie die (Wahl der) Zentralperspektive nach Erwin Panofsky symbolische Form oder mit Roland Barthes mythisch-metasprachlich sind. Sei es, dass wir von einzelnen übermedialen bzw. zwischen Medien migrierenden Medienformen (quasi Ausdrucks- und Darstellungsformeln) ausgehen können, wie sie der Medienphilosoph Rainer Leschke in seinem Projekt einer Medienmorphologie konzipiert.11 Freilich ist aisthetische ­(sinnlich-erkenntnishafte) und dann doch meist semiotisch erklärbare Erkenntnis sowie emotional-affektive Wirkung in diesem Kontext stark sozial, kulturell und pragmatisch-generisch konventionell (vgl. Böhme 2001; van Leeuwen 2005). Sie setzt für ihre Generierung eine (v. a. kognitiv-assoziativ) aktive Zuschauerschaft voraus (vgl. für den Neoformalismus Bordwell 1996). Auf der dritten Stufe (die der Kommunikations-, Produkt- und sonstigen Designpraxis; der Geometrie) ist der Formbegriff schließlich eingeschränkter auf die Räumlichkeit, die Kontur, den Umriss oder die Figur bezogen. Farbe etwa wäre als Gestaltungsdimension hiervon abgesondert. Allerdings findet sich nicht zuletzt dank der gemeinsamen Familiengeschichte des Designs und der Kunst auch in ersterem ‚Form‘ als Bezeichnung für die umfassende sinnliche Gesamtstruktur oder -anmutung. Aufschlussreicher für uns ist denn auch der technisch-pragmatische und arbeitsteilige Aspekt des Formbegriffs in diesem Denkzusammenhang, der schon bei der Gussform zum Vorschein kommt. Design, als ein Brückenbegriff zwischen Form und Format, und ‚sein‘ ­Ästhetik-Verständnis, sind in spezifischer Weise praktisch, auf einen Gebrauch ausgerichtet, nicht etwa autotelisch oder kontemplativ wie in bestimmten Vorstellungen von Kunst(funktionen) (vgl. Feige 2018, S. 86 ff.). Für den hier vorgeschlagenen Ansatz zur Untersuchung von IS-Propaganda spielen alle drei Verständnisse von Form eine Rolle: das abstrakt-universelle, das ästhetische sowie das praxeologisch-handwerkliche. Bei ersterem dient das Wort, recht trivial, der Unterscheidung verschiedener Erscheinungsarten

11Vgl.

Leschke 2010; Leschke und Venus 2007; zur Übersicht: Grampp 2014. Die Medienmorphologie selbst weist bei allen wesentlichen Unterschieden (wie einem kleinteiligeren, autarkeren ‚Form‘- bzw. ‚Formen‘-Begriff und dessen Transmedialität) einige Gemeinsamkeiten mit dem Neoformalismus auf, etwa die historische und technische Einbettung des Form(al)ästhetischen oder den Charakter eines genügsamen middle-ground-Ansatzes, der sich auf das konkrete Medien- bzw. Filmmaterial konzentriert.

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und -weisen, beim zweiten zum Bezug auf die gesamte sinnlich-sensuelle Anmutung oder Erscheinung, deren Wahrnehmung und die daran anschließenden Bedeutungs-, Affekt- und Emotionswirkungspotenziale (z.  B. Interpretation, Attraktion, Schock). Das dritte Formbegriffsverständnis zielt auf die mediengestalterische formalästhetische Verfertigung der Propagandatexte, mithin die funktionale Auswahl und den Einsatz von Design-Mitteln bzw. -Werkzeugen. ‚Ästhetik‘ – etwa die eines IS-Hinrichtungsvideos – stellt in diesem Zusammenhang also nicht auf das Kunstschöne ab, auch wenn Schönheitsaspekte oder Attraktivität (etwa in der Bildkomposition) durchaus relevant sind. Zudem ist das Ästhetische in erster Linie als instrumentell und strategisch bzw. medienrhetorisch der propagandistischen Beeinflussungsintention untergeordnet zu betrachten.12

2.2 Format Der Begriff des Formats gehört zu einer umfassenden Familie von Begriffen, die zwar aus verschiedenen Theorietraditionen stammen, die aber dieselbe analytische Grundfunktion erfüllen sollen: Sie sollen Ordnung in die Vielfalt kommunikativer Erscheinungsformen bringen sowie soziale Koordination erklären (Bucher et al. 2010, S. 18).

Steht Form für das Text-Individuelle, die sinnliche Wahrnehmung und das ­Künstlerisch-Gestalterische, so bezeichnet Format die Aspekte des Technischen, Konventionellen, Standardisierten, Pragmatischen und der Routine. Bucher, Gloning und Lehnen schlagen eine Hierarchisierung in Mediengattungen (z. B. Printmedien, Fernsehen, Internet), Formate (im Printbereich etwa: Tageszeitung, Fachzeitschrift; online: Weblog, Podcast) sowie Genres, Kommunikationsoder Darstellungsformen (Bericht, Kommentar, Porträt) vor (vgl. ebd., S. 19). Diesen Unterscheidungen folgen wir hier nicht, da ‚Format‘ uns als Überkategorie und breites, perspektivisch definiertes Begriffs- und Phänomenfeld dient. Die dispositiven medientechnologischen Aspekte etwa, deren Absonderung aus dem Formatbegriff in den der ‚Mediengattung‘ Bucher et al. als Vorteil ihrer Aufgliederung sehen (vgl. ebd.), sollen bei uns dezidiert miterfasst sein. Die

12Zu

Begriff und Theorie der Medienrhetorik vgl. Scheuermann und Vidal 2016; Knape 2005; speziell der des Fernsehens Knape und Ulrich 2014 oder der des Films Joost 2008. Hierin wird auch noch einmal der gebrauchspraktische und funktionale Charakter von Propagandatexten und ihrer (­ Design-)Ästhetik (s. o.) unterstrichen. Auf eine weitere Unterscheidung in Produktions-, Form- oder Rezeptionsästhetik verzichte ich hier.

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Differenzierung konfligiert zudem mit anderen gängigen Verwendungen der Termini, etwa in der (deutschsprachigen) Filmtheorie mit der Unterscheidung von Genres (z. B. Western, Horrorfilm) und Gattungen (Spielfilm, Dokumentarfilm) (vgl. Keutzer et al. 2014, S. 281 ff.). Das fiktionale und non-fiktionale Sendungs- oder Fernsehformat kann wiederum gattungs- oder genrehaft gemeint sein oder enger gefasst als detailliert festgelegte, lizenzgehandelte und adaptierbare Programmidee (z. B. die Quizshow Wer wird Millionär) (vgl. Schmidt und Klug 2017).13 Entsprechend begnügen wir uns zunächst, mit ‚Format‘ Altheide und Snow (1988, S. 201) folgend allgemein auf das „explicit and implicit understanding which joins an activity and/or actor via a medium to an audience“ abzustellen. Damit sind tatsächlich fürs Erste allgemein und ohne weitere Differenzierung ‚Gattungen‘, ‚Textsorten‘ oder journalistische ‚Darstellungsformen‘ gemeint. Analog filmischer Genres sind Formate für uns generell „Verständigungsbegriffe“ (Hickethier 2002, S. 65), kommunikative Verträge sowie ‚Schablonen‘, wie sie typologisch und ggf. morphologisch aus einer zusammengefassten Menge an Texten inferiert werden. Genres bzw. Formate „geben Orientierung vor, stiften Erwartungen und determinieren die Rezeption“ (ebd.). Sie sind, aus anderer Perspektive, medienspezifisch, als „recognised socially constructed usages of some communicative media“ (Bateman et al. 2017, S. 129) oder, medienwahlfrei, als „bundles of strategies for achieving particular communicative aims in particular ways, including selecting particular media“ (ebd., S. 131) zu verstehen. In jedem Fall gilt: „Essentially ‚genre‘ is a way of characterising patterns of conventions that some society or culture develops to get particular kinds of ‚communicative work‘ done“ (ebd.).14 Darüber hinaus ist eine nicht bloß theoretisch-abstrakte, sondern erfahrungsnahe, der wirklichen

13Von

dem Fernsehbildformat ganz zu schweigen. Beschreibung von Kommunikationsgattungen als verbindliche „Lösung“ spezifischer „kommunikativer Probleme“ vgl. Luckmann 1986, S. 202. Dazu wie zum Unterschied zwischen Kommunikations- und Mediengattung vgl. auch Ayaß (2011). Für uns ist dieser Unterschied an dieser Stelle jedoch zu vernachlässigen, denn: „Die Fragestellung einer Analyse medialer Gattungen zielt, wie die Analyse mündlicher Gattungen der Faceto-face-Kommunikation, auf die Antwort auf die Frage, wofür diese Gattung eine Lösung ist“ (ebd., S. 386; Herv. i. O.). Wichtiger schon ist der Umstand, dass „[d]er Kontext des Mediums [...] immer auch eigene Gestaltungs- und Realisierungsmöglichkeiten mit sich [bringt]“ (ebd., S. 289) – was über den technisch-materialen Format-Begriff berücksichtigt wird – sowie die Unterscheidung von medialen Gattungen und Genres, insofern „in der Gattungsanalyse von vornherein die situativen Realisierungsformen im Zentrum der Analyse“ (ebd., S. 287) stehen. 14Zur

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Formenheterogenität und Rekursivität angemessene Ordnungssystematik, die alle Medienformate integriert, kaum denkbar. Folglich verwende ich wenig präzise und rein behelfsmäßig im Folgenden Medium für die technischen Kanäle, Apparate, Einrichtungen (z. B. Fernsehen, Internet bzw. Computer), Medienformen oder Medienformate15 für die transportierten oder bereitgestellten Container- bzw. Rahmeneinheiten (Schriften, Film bzw. Video16, Audio, Bild) sowie Gattung, Textsorten, Genre und ähnliche weitere Unterteilungen und Variationen (Zeitung, Magazin, Flugschrift; Sprachund/oder Musiksendung bzw. -datei; Website, Blog etc.; beim Bild: Fotografie, Tuschezeichnung, Computergrafik etc.). Genre reserviere ich dabei allerdings für inhaltliche oder inhaltlich-kommunikationssituative Unterscheidungsdimensionen.17 Neben der pragmatischen Konventionalität verweist der Formatbegriff nun, wie angedeutet, auch auf die technisch-materiellen Dimensionen, auf die der Standardisierung und Normierung. Bis ins 20. Jahrhundert hinein bezeichnete das Wort in der Kunst vor allem bei Gemälden primär die Maße und Proportionen der Leinwand (vgl. Stallschuss 2013, S. 74), und schon in der frühen Neuzeit waren im Druckgewerbe Papier- bzw. Buch- (z. B. Folio, Duodez) und später Zeitungsformate (Broadsheet, Tabloid) als Standardmaße bekannt (vgl. ebd., S. 73). Nach Video- (VHS) oder Fernsehbildspezifikationen (PAL) agieren wir im Digitalalltag heute mit offenen oder proprietären Datei-, Container- oder Streaming-Formaten (z. B. MPEG, PDF, JPEG, MP3)18, nutzen Formatvorlagen in Textverarbeitungsprogrammen oder formatieren (vielleicht zumindest hin und wieder noch) Speicherträger wie USB-Sticks. Foto- und Video-Filter, Audio- und VideoCodecs, Vorgaben von Betriebssystemen oder Netzwerk-Protokolle als „formal

15Medienform

stellt auf die Sinnesmodalität ab, Medienformat auf die technischen und gebrauchskonventionellen Seiten derselben Unterfälle. Der Einfachheit halber verwende ich die Begriffe weitgehend synonym. 16Ich benutze Video und Film hier synonym, auch wenn Video auf die elektronische Medientechnik abstellt und weniger auf das Medienformat Film (die selbst allerdings im Namen eine bestimmte rückbindende Materialität mit sich führt). Analog zu Video (Bewegtbild und Ton) verwende ich das ad-hoc- bzw. Kunst-Substantiv Audio i.S.v. Akustikmedienform bzw. -format. 17Was damit konkret gemeint ist, wird in 3.1 deutlich. 18Sterne 2012 schlägt vor und skizziert eine technokulturelle Erforschung solcher technischen Formate unter dem Label Format Studies.

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description of messages to be exchanged and rules to be followed for two or more systems to exchange information“ (Jacobson und Lynch 1992, S. 12) schließen hieran an. Das leitet den Formatbegriff hinein in die Domäne und Strata der Applikationen, Apparate und Infrastrukturen (z. B. Glasfasernetzwerke, SocialMedia-Plattformen, S ­IM-Karten-Vertriebswege), ihre materialen, rechtlichen, politischen oder sonst wie „medienökologischen“ (vgl. Fuller 2005) Dispositive, Instanzen, Institutionen, ihre Logiken, Reglements und Routinen.19 Technische Formate können in diesem Kontext als Zwischen- und Vermittlungsphänomene zwischen der Gestaltung und Strukturierung der Medientexte einerseits und den für ihre Herstellung und Verbreitung genutzten technologischen Werkzeugen andererseits eingeordnet werden. Ähnlich wie bei Form lassen sich auf Basis dieser Entwicklung der Format-Begriffsbandbreite also drei Verständnisse differenzieren: Format als kommunikative Gattung oder Genre (genauer: als Gattungsschablone oder -template), als materiale-technische Vorgabe sowie als mehr oder minder abstrakte Basisgröße für Apparaturen, Infrastrukturen und Logistiken, ihre Praktikabilität und Funktionalität.

2.3 Form-Format-Konnex Die hier eröffneten Form- und Format-Bedeutungsfelder bieten dank ihrer Breite entsprechend viele, verschiedenartige und komplexe Beziehungsgefüge zwischen- und miteinander. Der Begriff des Designs wurde hier in diesem Zusammenhang bereits angesprochen (s. 2.1). Am stärksten überlagern und vermischen sie sich an den Schnittstellen zwischen individuellem manifesten Medientext (das konkrete ‚Werk‘) und – einerseits – Kommunikationsgattung sowie – andererseits – medienmaterialer und -technischer Produktion, Bearbeitung und Distribution. Die erste Teilschnittstelle sieht das Form-Objekt als Element einer Gruppe formativ zusammengehöriger Gegenstände. Ein Format als Vorlage kann, Bucher et al. (2010, S. 28) folgend, charakteristische Themen und Inhalte konstituieren

19„Most

crucial dimensions of format are codified in some way – sometimes through policy, sometimes through the technology’s construction, and sometimes through sedimented habit. They have a contractual and conventional nature. The format is what specifies the protocols by which a medium will operate“ (Sterne 2012, S. 8). Für den Fallbereich digitaler „verteilter“ Bilder siehe etwa Rothöhler 2018.

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(bzgl. unseres Gegenstandes z. B. Opfer- oder Utopie-Erzählungen des IS), kommunikative Handlungsstrukturen und Folgen (u. a. Handlungsaufrufe in ­IS-Videos, deren Nutzung zum Gemeinschaftserleben), aber auch konkret Mittel der Medientext-Gestaltung. Je weiter wir uns dann in der Einzelbetrachtung vom Einzeltext entfernen und je allgemeiner wir auf ein möglichst großes Korpus an Propagandabeiträgen blicken (etwa um eine Genre-Ordnung zu entwickeln), desto eher geraten wir ins Feld des nun wieder abstrakt-universellen Formbegriffs im Sinne der morphologisch-typologischen ‚Art und Weise‘. Was die technische und materiale Teilschnittstelle betrifft, so gilt: „Format denotes a whole range of decisions that affect the look, feel, experience, and workings of a medium. It also names a set of rules according to which a technology can operate“ (Sterne 2012, S. 7). 1917 schon bemerkte der Kunstkritiker Willi Wolfradt, der „blossen Abmessung des Werkes [hafte] ein ästhetischer Wert in mannigfacher Hinsicht an“ (Wolfradt 1917, S. 124).20 Denn: „Neben den Forderungen des Auges [etwa hinsichtlich der Perspektive bzw. Distanz, die die Größe dem Betrachter zuweist, B.Z.] stehen die Forderungen assoziativen Denkens und Fühlens, aus denen sich ein unzweifelhafter Zusammenhang zwischen Format und dem künstlerischen Ausdruck ergiebt“ (ebd., S. 126). Solche h­andwerklich-funktionalen Erscheinungsstrukturen können andererseits gattungsbezogenes Wissen mobilisieren und aus diesem Bedeutung generieren, nämlich insofern mit Wahl und Einsatz technischer Formate (sprich: Formatierungen) auf eine Gruppe von Medientiteln verwiesen wird. Die selbst vielleicht nur vage, assoziative Vorstellung von deren Inhalten und vor allem Qualitäten übertragen oder projizieren sich dabei auf den neuen korrespondierenden Formattext (z. B. Seriosität von Tagesschau-ähnlichen Videos qua Aufbau und Formalia) (S. 3.3.2). Das technisch-materiale und das generische Format stehen mit dem gestalterisch-ästhetischem in einem Spannungs-, Austausch- und Ergänzungsverhältnis. Die kommunikativen Gattungen bilden produktive wie rezeptive Referenzrahmen für die umfassende Text-Form oder den Einsatz der einzelnen gestalterischen Mittel und liefern die Vergleichsgrundlage, auf der überhaupt erst von Innovation oder Konventionalität gesprochen werden kann. Technische und materiale Vorgaben werden wiederum nicht nur weitgehend als gegeben und dem Text oder Werk bzw. seinem Äußerungsgehalt äußerlich, mit-

20Für Wolfradt bezieht sich – laut Stallschuss (2013, S. 74; s. o.) zeittypisch – ‚Format‘ neben dem Formverhältnis (z. B. Querformat) auf das Volumen bzw. die Flächengröße des Gemäldes (vgl. Wolfradt 1917, S. 122).

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hin als Kontextbedeutungs- und -bedingungsrahmen wahrgenommen (was strategisch-kommunikativ nutzbar ist): Sie ermöglichen oder beschränken de ­ facto, was auf welche Weise medial generiert, formuliert oder ausgedrückt, gesendet, transportiert und empfangen wird – und schließlich, was aufseiten der Rezipienten (von ihnen, kulturell und kognitiv, oder signaltechnisch von ihren Mobil- oder sonstigen Geräte) dekodiert und ‚verstanden‘ werden kann. Zur theoretischen und analytischen Unterscheidung und Verklammerung von Form und Format können wir das Konzept der semiotischen Ausdrucksund Bedeutungsressourcen, der Zeichenmodalität heranziehen.21 Während die Sinnesmodalität die medial-sensuelle (z. B. akustische, auditive, olfaktorische) Kodiertheit eines Textes oder Textelements bezeichnet, können semiotische Modalitäten innerhalb desselben Wahrnehmungskanals vorkommen und tun dies in der Regel auch (man denke an das Sehen von Buchstaben und von abgebildeten Gesichtern).22 Im Feld der Multimodalitätsforschung, die insbesondere von der Linguistik geprägt ist, finden sich verschiedene elaborierte Modelle solcher Zeichenmodalitäten (vgl. u. a. Bateman et al. 2017, S. 112 ff.; Stöckl 2016). Die dabei wohl am häufigsten analysierte Verbindung ist die von Schrift und Bild, die darauf befragt wird, wie sich die Modalitäten ergänzen, sich motivieren und aufeinander Bezug nehmen. Für unsere explorativen Zwecke der Form-Format-Untersuchung von IS-Propaganda möchte ich jedoch noch eine Ebene darunter ansetzen und von Zeichen- und Ausdruckspotenzialen und -dimensionen sprechen, also von sozialen, ggf. auch wie beschrieben assoziativen oder gar basalen ‚anthropologischen‘ Codes, die sich zu bestimmten Kodalitäten zusammenfassen lassen, ohne gleich eine komplexe lexikalische und grammatische Struktur auszubilden.23 So vage ein solches Kodalitätskonzept gegenüber komplexen Modalitätsentwürfen ist: Mit ihm kann dicht am

21Ein

anderes, das im Rahmen dieses Beitrags nicht behandelt wird, ist das der Praktik (v. a. mit Blick auf Formen der Aneignung, s. o.). Vgl. dazu Deppermann et al. 2016. 22Zu diesen wie weiteren Dimensionen der (Multi-)Modalität vgl. Sachs-Hombach et al. 2018. 23Der Begriff Kodalität wird weit weniger als der der Modalität verwendet und wenn, dann praktisch synonym. Ich wähle ihn hier mit einer etwas ‚weicheren‘ Bedeutung, um mich von den erwähnten avancierteren Entwürfen (etwa John Batemans) von Modalität abzugrenzen. Kodalität verstehe ich granularer, aber auch v. a. theoretisch ‚unbefriedigender‘, weil praktisch alles potenziell Code oder Zeichen mit entsprechenden Dimensionen sein kann. Es ist somit nicht nur, aber in erster Linie ein heuristisches Behelfsmittel zur Identifikation von Zeichenmitteln, zur Analyse konkreter Medientexte und eine erste Stufe der Systematisierung.

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Material erkundet und beschrieben werden, welche Mittel und Parameter für die Propaganda-Vertextung eingesetzt werden und wie sie zusammenspielen. Auch wird damit z. B. das Medienformat Bild von der Kodalität Abbildung unterscheidbar – letzteres bezieht sich auf die r­eferenzielle-kommunikative Funktionsweise. Natürlich schließen hier wichtige analysepraktische Fragen an: Wie lassen sich Kodalitäten voneinander abgrenzen? Gibt es Unterkodalitäten (abbildhaft vs. fotografisch)? Können Kodalitäten andere Kodalitäten beinhalten oder rekodieren? Was etwa ist mit Schrift innerhalb eines Bildes und der Bildhaftigkeit von Schrift? Es muss hier allerdings genügen, für konkrete Beispiele auf Unterkapitel 3.2 und 3.3 und ansonsten zwecks pragmatischer Ordnung und Orientierung auf das konkrete Mediengestaltungs- und Design-Handwerk mit seinen Bereichsaufteilungen etwa in den gängigen Anwendungsprogrammen (u. a. MS-Word, Adobe Photoshop und Premiere) zu verweisen. Dort werden z. B. Typografie mit der Wahl der schriftstilistischen Eigenschaften (mit/ohne Serifen; Strichstärke; Schriftschnitt oder -lage: normal oder kursiv etc.) hinreichend deutlich von der Einstellung des Seitenformats oder der Soundgestaltung und Filmmontage abgeteilt.24 Unsere Bezeichnung ‚Kodalität‘ kann allerdings irreführen, da mit ihr nicht nur semiotische, sondern auch ästhetische Potenziale miterfasst werden. Darüber hinaus sind Kodalitäten wie Modalitäten stets abhängig von Gattungs-, Genre- (vgl. Bateman 2008) und sonstigen Kontexten, die die Verwendungsroutinen stiften, sowie von der media literacy der beteiligten Personen. Gerade letzteres ist für die Analyse extremistischer Propaganda relevant, wenn es um (sub-)kulturelles symbolisches Insiderwissen geht, das in den Texten modal eingeschrieben ist und von Außenstehenden nicht oder anders verstanden und ‚erfahren‘ wird (und womöglich werden soll). Hierin zeigt sich bereits die eine Scharnierstelle des Kodalitätskonzepts hinsichtlich des Formathaften: Kodalität bezieht ihre Bedeutung und Wirkung in Relation zum Medienformat25, zur Gattung oder zum technischen Format, während zugleich Formate, wie oben beschrieben, Gattungs- und Assoziationswissen konkret mobilisieren. Dieses wiederum eröffnet verschiedene ‚Zeichen-‘ oder ‚Sprachpotenziale‘ auf der formästhetischen Ebene.

24Hier

wird allerdings schon die epistemische Rolle technischer bzw. ‚infrastruktureller‘ Formate spürbar, insofern solche Software mit ihrer Benutzerführung unser Denken von Medieneinheiten und ihren Elementen bzw. deren Einteilung und Kategorien präfigurieren. 25Erinnert sei an Marshall McLuhans Diktum vom Medium als Botschaft oder Roland Barthes Beschreibung von Fotografie als „Botschaft ohne Code“ (Barthes 1990, S. 13).

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3 Einrichtungen, Formen und Formate der IS-Propaganda Wenn auch das Medienmaterial bzw. die -texte, die Videos, Bilder, Audiofiles, Schriften im Zentrum stehen, lohnt der Einstieg in eine Übersicht der ­IS-Propaganda über die entsprechende organisatorisch-institutionelle Struktur des IS. Dies auch, wenn die wenigen vorliegenden Informationen teils widersprüchlich und erst nach und nach, z. B. durch erbeutete und veröffentlichte Dokumente oder Aussagen ehemaliger Mitarbeiter, bekannt werden.26 Auf Basis dieser Quellen, aber auch im Umgang mit den konkreten Texten, die mit entsprechenden vielen unterschiedlichen, meist offiziös klingenden Namen und Logos der Produktionsstellen versehen sind, ergibt sich das Bild des IS-Propagandaapparats als kaum überblickbares Konglomerat von Medienhäusern und Agenturen: vom zentralen Medienministerium oder -büro (bzw. Diwan)27 bis zur Online-Distributionsstelle Nashir News Agency, die Materialien vor allem über ihre Kanäle beim Messenger-Dienst Telegram ausspielt. Hinzukommen Medienproduktions-, Verwaltungs- und Sicherheitsstrukturen inklusive Institutionen wie das Medienüberwachungskomitee oder die „Information Bank“, eine zentrale Prüf- und Sammelstelle für alle Foto- und Videorohmaterialien (vgl. Almohammad und Winter 2019).

3.1 Medieneinrichtungen des IS Als zentrale Produktions-Outlets finden sich neben der bereits Ende Oktober 2006 von der IS-Vorgängerformation Islamischer Staat im Irak (ISI) eingeführten al-Furqan Foundation28 (vgl. Brachman 2009, S. 133): 26Wichtige

internationale Referenzarbeiten sind hierzu u. a. Almohammad und Winter 2019; Milton 2016, 2018; Winter 2015a, b. 27Dieses könnte teils oder ganz identisch sein mit dem „Medien-Rat“ („Media Council“; vgl. Almohammad und Winter 2019, S. 9). Ein guter Teil solcher und anderer Unstimmigkeiten, Uneindeutigkeiten und Merkwürdigkeiten dürfte in den uneinheitlichen Übersetzungen aus dem und den bisweilen großen Translationsspielräumen des Arabischen begründet sein. 28Nicht zu verwechseln mit dem Medienbüro des Wilayah al-Furat (s. u.). Foundation (arab. mu’assasat) ist in dem Zusammenhang auch schlicht mit Institut oder Einrichtung übersetzbar. Ich verwende hier wie im Folgenden die gängigen englischsprachigen Versionen der Namen, die oft vom IS bzw. der jeweiligen Stelle selbst geführt werden.

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• al-I’tisam Foundation (Videos, Schriften) • al-Ḥayat Media Centre (v. a. englische, deutsche, französische und andere nicht-arabischsprachige Videos und Schriftpublikationen wie das Magazin Dabiq) • al-Himmah Library (Printpublikationen wie Flugschriften, Schulbücher oder religiöse Traktate) • Ajnad Foundation (Audio: Naschids [Gesänge; Sg.: Naschid]29, Aufzeichnungen von Ansprachen u. Ä.) • al-Bayan Radio (Radiosendungen in verschiedenen Sprachen) Weitere überregionale Einrichtungen mit unklarem Zuordnungsstatus sind die scheinunabhängige Amaq News Agency, die Bild- und Videobeiträge sowie Nachrichtenmeldungen (v. a. als Texttafel-Bilddateien online) herausgibt, außerdem das primär russischsprachige Furat Media Center. Als wichtige Publikation ist das wöchentlich erscheinende Nachrichtenblatt al-Naba zu nennen. Auf regionaler Ebene verfügen das einzelne Wilayah (Verwaltungsbezirk oder Provinz, plural: Wilayat30) über ein eigenes Medienbüro ohne eigenständigen Organisationstitel bzw. mit der schematischen Benennung „Medieninstitut des Wilayah X“ (wobei X für den jeweiligen Provinznamen steht).31 Die volle Formulierung wird aber selten genutzt, etwa als kleine Einblendung am Ende von Videos. Die Textbildmarken bzw. Logos des ‚Corporate‘ oder ‚Marken Designs‘ führen nur den Namen des Wilayah, was eine starke Integration der Medienarbeit in den gesamten Verwaltungsapparat suggeriert, in oder hinter dem das Medien-

29Üblich

ist auch die Pluralbildung Anashid; ich verwende hier, Said (2016) folgend, die ‚eingedeutschte‘ Version. Zu Naschids siehe auch 3.3 und den Beitrag von Larissa-Diana Fuhrmann und Alexandra Dick in diesem Band. 30In englisch- und deutschsprachigen Publikationen werden für die bzw. in der Bezeichnung einzelner Departments bzw. ihrer Medienstellen die Pluralform ‚Wilayat‘ verwendet. Siehe dafür beispielsweise die Website Jihadology (www.jihadology.net), die u. a. Wissenschaftlern und Journalisten als wichtige Quellensammlung dient. Auch in den englischsprachigen Ausgaben des Dabiq-Magazins findet sich ‚Wilayat‘ (mit großem ‚W‘) als Teil des jeweiligen Eigennamens, während ‚wilayah‘ für die Gegenstandsbezeichnung verwendet wird. Im neuen Einheitslogodesign (s. u.) wird wiederum die ‚korrekte‘ Singularform ‚Wilayah‘ genutzt. Dies wird auch in diesem Beitrag so gehandhabt. 31Im Irak waren oder sind dies u. a. Kirkuk/Karkuk, al-Fallujah, Ninawa, Ṣalaḥ al-Din, Dijlah, Baghdad, al-Furat, in Syrien Ḥims (Homs), Ḥamah, Ḥalab, Dimashq, ar-Raqqah, alKhayr. Die Existenz der Wilayat und mit ihnen ihre Medienproduktion war und ist von der militärischen Lage abhängig.

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büro verschwindet. Umgekehrt steht das Medienbüro so in der Außenerscheinung stellvertretend für den gesamten Bezirk, wobei bislang Informationen darüber fehlen, wie Medienstellen in den lokalen Verwaltungsapparat formell und faktisch genau integriert und weisungsabhängig waren. Von einer großen praktischen Einheitlichkeit ist, trotz des seit Ende 2016 wilayah-übergreifend eingeführten Designs (v. a. in den Ident-Eröffnungsanimationen der Videos – vgl. 3.3.2), nicht auszugehen. Dies allein schon, weil dieses Repräsentationssystem auch außerhalb der vom IS-kontrollierten und organisierten Territorien in Syrien und Irak gilt, damit für Gruppen, die eventuell über keine vergleichbare Gebietsherrschaft und andere Ressourcen verfügen.32 Diese rudimentäre und ausschnitthafte Einführung in das Mediensystem des IS lässt erahnen, wie komplex sich die Produktion und Distribution von Medientexten gestaltet, wie viele Stellen und Akteure daran beteiligt sind, wie groß und vielfältig das Markenangebot ist, in dem uns IS-Propaganda begegnet, und wie wenig verlässliche Kenntnisse vom Innenleben des Medienapparats auch aktuell noch vorliegen. Wie hoch der Medienoutput des IS ist, ist ebenfalls nicht (verlässlich) zu sagen.33 Die Komplexität und Vielfalt finden eine Entsprechung im medialen Sortiment, zumal zu den – um in der Sprache der Absatzwirtschaft zu bleiben – Medienobjektartikeln und -sorten (also Medienformaten und Gattungen, Genres etc., s. 2.2) die Unterteilung nach Artikeln und Sorten (vgl. Springer Fachmedien 2013) verschiedener Brands (z. B. Videos und Video-Reihen der einzelnen Wilayat) hinzukommen. Der IS und das ‚Kalifat‘ selbst verbleibt dabei sowohl kommunizierende ‚Corporation‘ (Kommunikationsakteur), ‚Dachmarke‘ (übergeordneter identitärer

32Beispiele

für solche Wilayat außerhalb der IS-Kernlande Syrien und Irak, die sich per Treueschwur an den IS-Führer Abu Bakr al-Baghdadi bzw. „Kalif Ibrahim“ und dessen Annahme des Schwurs begründeten, sind u. a. Wilayah Khurasan (Afghanistan), alQawqaz (Kaukasus), Sharq Asia (Ost-Asien), Gharb Ifriqiyyah (Westafrika – Nigeria, vormals die Gruppierung ‚Boko Haram‘) und Sina‘ (Sinai, Ägypten). Mitunter fanden oder finden sich auch mehrere Wilayat im selben Land, im Jemen u. a. Sana'a und ­al-Bayḍa. Im Frühjahr und Sommer 2019 erneuerte eine große Zahl von Gruppen und Provinzen ihren Treueschwur an den Kalifen, allein zehn zwischen Mitte Juni bis Mitte Juli (u. a. in Libyen, Türkei, Tunesien und Aserbeidschan). 33Es liegen keine offiziellen Zahlen vonseiten des IS vor (und wären auch nicht vertrauenswürdig), jedoch gibt es einzelne Erhebungen (vgl. u. a. Nanninga 2019; Winter 2018; Zelin 2015), die aber nicht vergleichbar sind, etwa weil sie unterschiedliche Einheiten erfassen und verschiedene Zeiträume abdecken. Auch kann nicht gewährleistet werden, dass tatsächlich alle Medieneinheiten beim Monitoring der Distributionskanäle erfasst werden.

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Zusammenhang, v. a. über das Schwarze Banner) und vermarktetes ‚Produkt‘ (Staatsprojekt; dschihadistische Gruppierung).34

3.2 Medienformate While the results of the Islamic State’s media efforts have received a significant amount of attention from governments, scholars, and analysts, most of these research efforts have been based on the group’s end products: videos, picture reports, texts, and magazines (Milton 2018, S. 1).

Die hier von Milton genannten Videos, Bild- oder Fotoreporte, Texte (Schriften) und Magazine oder aber die vom IS selbst in einem internen Dokument genannten Veröffentlichungstypen „photo reports, videos, individual images, and statements“ (vgl. ebd., S. 6) machen allerdings nur einen Teil des Formatportfolios aus, zumindest, wenn man Propaganda breiter fasst und Medien(sub)formen wie z. B. Apps und online-werbebanner-ähnliche Grafiken einbezieht. Auch ist hinsichtlich der Gewichtung zu relativieren. So spielen in den journalistischen, wissenschaftlichen und, soweit nachvollziehbar, regierungsamtlichen Diskursen zur ISPropaganda im Vergleich zu den Videos und Schriften Fotoreporte als „collections of photos put together with a cover page that are intended to highlight a particular aspect of what is happening in the caliphate“ (ebd., S. 6) keine oder kaum eine Rolle. Wenn Stillbilder thematisiert werden, dann in nicht eigenständigen Bildkollektionen, sondern in erster Linie als Einzelbilder im Netz oder als Teil von Digitalschriften (vgl. u. a. Anfinson 2019; Yarchi 2019; Winkler et al. 2018). Hier zeigt sich die bereits erwähnte Herausforderung, dass sich keine konsistente, medienübergreifende Systematik von Medienformaten und -gattungen bilden lässt. Das liegt daran, dass mediale und kommunikative Gattungen in mehreren Formaten vorkommen, sich aber auch auflösen, transformieren, mit anderen vermischen und sich ineinander verschachteln können. So finden sich eigenständige Bilddateien auch als Abbildungen in Magazinbeiträgen. Einzelne Artikel des Dabiq-Magazins oder des al-Naba-Newsletters werden ausgekoppelt und nicht nur in andere Sprachen übersetzt oder in anderen Publikationen wiederverwertet (wie al-Naba-Beiträge im Dabiq-Nachfolgeblatt Rumiyah, vgl. Ingram 2018, S. 25 f.), sondern auch als eigenständige digitale

34Zur Vorstellung

und Selbstvermarktung des IS als Marke vgl. auch Rogers 2018.

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Broschüren (ohne ursprüngliches Zeitschriftenlayout und Bebilderungen). Ein anderes Beispiel sind Naschids (s. 3.2.2). Diese finden sich als reine ­mp3-Audiofiles, aber auch als/in Videos, wobei wiederum zu unterscheiden ist, ob ein Naschid • im Bild-Ton-Verhältnis das Hauptelement darstellt und visuell kaum mehr (und nur, um dem rein distributivem Medienformat Video gerecht zu werden) als seine Audiosignalvisualisierung, z. B. in Wellenform, geboten wird; • untermalt oder begleitet wird von schon eigenständigeren, aber gleichwohl untergeordnetem visuellem Material aus anderen IS-Videos und/oder animierten Zierelementen;35 • selbst nachrangig ist und, eventuell nur als partieller Soundtrack, einer Bildspur ‚dient‘, die eine von seinem Naschid-Wortgehalt eigenständige, ablösbare oder unverbundene Geschichte erzählt oder Botschaft vermittelt (vgl. Pieslak und Lahoud 2018).36 Zu diesen Remedialisierungsformen der Online-„Jihadisphere“ (Ducol 2012; Keating 2009) kommen noch jene der Verteilungs-, Mashup- und ­Database-Kulturen des Internets (vgl. Mundhenke et al. 2015; Jenkins et al. 2013; Manovich 2001) hinzu.37 Allerdings wird darüber schnell übersehen, dass IS-Propaganda nur im „Westen“38 praktisch ausschließlich in digitalen Formen und Formaten auftritt: Innerhalb des eigenen Operationsgebiets (in theatre – vgl. Winter 2017) bzw. im ‚Kalifat‘ selbst (was hier in den irakischen und syrischen IS-Territorien meint) wies sie in erheblichem Maße auch eine materielle oder performative ‚analoge‘

35Z. B.

in Oh Soldiers of Truth Go Forth (al-Hayat Media Center, VÖ: 02.06.2014). in Sang pour Sang (al-Hayat Media Center, VÖ: 29.04.2016). 37Naschids, wie in einem anderen Maße auch Sprachbotschaften, Still- und Bewegtbilder, können so ein Eigenleben annehmen, etwa als parodistisches Referenzmaterial oder, weitgehend herausgelöst von seinem Ursprungskontext und politisch-ideologisch entleert, als ästhetisches Genuss- und Konsumgut. 38Mit ‚Westen‘ (anstelle z. B. der Wendung ‚globaler Norden‘) übernehme ich einen (weniger geografischen als kultur- und system-ideologischen, einflusspolitischen) Identitätskonstrukt-Begriff, der nicht nur die ‚orientalistische‘ Einordnung und Abgrenzung in öffentlichen u. a. europäischen oder nordamerikanischen Diskursen kennzeichnet, sondern auch einen (u. a. arabisch oder chinesischen) „occidentalism“ (vgl. Lary 2006; Buruma und Margālît 2004) sowie konkret das Feindbild „Westen“, das sich auch terminologisch in der Sprache des IS findet. 36Z. B.

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Dimension mit entsprechend eigenen Medienformaten auf. Diese erhalten jenseits des Status des Grotesken relativ wenig Aufmerksamkeit, erscheinen sie doch mangels überregionaler Reichweite für unsere politisch-soziotechnische Risikowahrnehmung der IS-Propaganda (v. a. bezüglich Radikalisierung und Mobilisierung) wenig relevant. Zu diesen nicht-digitalen Medienformen (und -formaten) des lokalen und analogen Informierens, Inspirierens und der IS-Markenpräsenz zählen u. a. • auf Papier gedruckte Info-Broschüren, Handzettel und Flugschriften, die an Media Points ausgehändigt wurden; Schulbücher, in denen u. a. Rechnen und Schreiben anhand von Kriegssujets gelehrt wurde (vgl. Olidort 2016); • Schrift-Bild-Außenpropaganda als Poster und Plakate (bis hin zu solchen auf großformatigen Billboards); Mauerbilder; • öffentliche Inszenierungen vor der Bevölkerung als Publikum, z. B. Vollzüge von Exekutionen und Körperstrafen nach der Sharia oder Propagandaansprachen mit Live-Naschid-Vortrag. Auch die öffentliche Aufführung von Filmen an Medienkiosken oder ‚Wanderkinos‘ können hierunter gezählt werden; • Kleidung und Accessoires: neben Flecktarn-Uniformen (schon für Kinder) z. B. Stirnbänder mit dem Schwarzbanner- bzw. schwarzweißen ­Prophetensiegel-Logo. Daneben sind produktions- und distributionsdigitale, aber ‚flüchtige‘ Radio- und Fernsehausstrahlungen zu erwähnen, die des Radiosenders al-Bayan oder eines Satelliten-TV-Kanals, ausgestrahlt von einer Fernsehstation in Mossul ab 2016 (vgl. O’Neill 2016).39 Pläne für einen Islamic Caliphat Broadcast, der auch als Web-TV verfügbar sein sollte, gab es schon Anfang 2015 (vgl. Kamin 2015). Weitere Live-Angebote, etwa als Echtzeit-Videostreaming auf Facebook oder in anderen Sozialen Netzwerken, für Ansprachen oder wie es der Attentäter im neu-

39Allerdings

dürfte dessen Name nicht, wie vielfach kolportiert, „BEIN HD4“ gewesen sein, eine Vorstellung, die was auf einen Tweet der Anti-IS-Aktivistengruppe Raqqa Is Being Slaughtered Silently vom 11. Januar 2016 zurückzuführen ist (s. O‘Neill 2016), in der eine O ­ n-Screen-Fernsehsenderliste mit besagtem Kanal zu sehen ist. Viel eher sind diesbezüglich die IS-Sendungen lediglich auf der Frequenz eingespeist worden, auf der zuvor beIN HD4 bzw. ein anderer hier im Menü des Fernsehapparats entsprechend verkürzt benannter Kanal des beIn Media Group-Netzwerks (eine Ausgründung des Al Jazeera Media Networks) zu empfangen gewesen war.

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seeländischen Christchurch am 15. März 2019 nutzte (vgl. Kreienbrink 2019), sind als Teil der IS-Propaganda nicht bekannt.40 Generell gilt, dass auf der Medien- und Medienformatebene der IS sich insofern nicht von andere Politaktivisten, Widerstandskämpfern und Terroristen der letzten Jahrhunderte unterscheidet, insofern sie alle zu allen Zeiten die sich je bietenden Medienapparate (mobile Druckerpressen, Fotokopierer, Adobe Acrobat, Super-8- über VHS- bis Digital-Action-Kameras) und Medientextverbreitungswege nutzten und sich gängige formale Ausdrucksweisen, Genre- und Gattungsstrukturen aneigneten, seltener aber selbst welche erfanden.41 Hinzukommt, dass sich für den historischen Blick mit hinreichend großem Vergleichsrahmen ohnehin kaum Neues auf der Welt findet und auch der IS etwa an die Medienarbeit der al-Qaida-Zentrale oder die der jemenitischen al-Qaida auf der arabischen Halbinsel, die etwa mit dem ab 2010 veröffentlichten englischsprachigen Magazin Inspire eine Vorlage für Dabiq lieferte, anschloss.42 Die ISPropaganda ist also nur bedingt innovativ, aber sicherlich bemerkenswert (z. B. hinsichtlich der Konsequenz) auf den Ebenen der Gattungen, Genres, Stilismen, den Zeichenmodalitäten sowie deren intertextuellem Zusammenhang. Folglich wird, nach kurzen Einlassungen zu den einzelnen Medienformaten, in 3.3 das Phänomen der Paratextualität und der format-formalen Aneignung gesondert vorgestellt.

3.2.1 Videos Videos sind nicht nur das IS-Propagandamedienformat, das wohl am meisten für Aufregung gesorgt hat, nicht zuletzt, weil ihnen die größte sinnliche Suggestionsund Schockkraft zugesprochen werden kann. Filme sind Paradebeispiel „multimodaler Kommunikate, d. h., sie kombinieren bewegte Bilder (evtl. auch statische) mit Sprache (geschrieben/gesprochen) und Ton (Musik/Geräusch)“ (Schneider und Stöckl 2011, S. 18). Dementsprechend handelt dieser Abschnitt bereits vieles ab, was auch für die anderen Medienformen gilt.

40Allerdings

verwendete dieses Mittel 2016 der dschihadistische Polizeimörder Larossi Abballa 2016, der sich zum IS bekannte (vgl. Sydow 2016). 41Eine Ausnahme ist hier die im doppelten Sinne revolutionäre ‚Filmsprache‘ der sowjetischen Regisseure, Filmformalisten und Montage-Theoretiker Sergej Eisenstein und Dziga Vertov, die mithin heute tendenziell prominenter im Kontext der Filmkunst als in dem der Propaganda diskursiv verortet ist. 42Zum Vergleich der Zeitschriften Dabiq und Inspire s. Ingram 2017.

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Was die filmische Gattungs-Genre-Differenz betrifft, so ist zunächst festzuhalten, dass IS-Videos mit Ausnahme von ‚Naschid-‘ als ‚Musikvideos‘, als Erklär-, Nachrichten-, Reportage- und Dokumentarfilme auftreten, das heißt also non-fiktional. Während auch Spielfilme Teil der Nazipropaganda darstellten43, finden sich beim IS höchstens fiktionale Passagen • in Form illustrativer, audiovisueller ‚Symbolbilder‘ (z. B. ein gesichtsloser Online-Dschihadist in Inside the Khilafa 8)44, • als Ausschnitte aus Action-, Kriegs- und Historienspielfilmen (etwa zur Darstellung der muslimischen Schlachten der Altvorderen, in deren Nachfolge sich der IS präsentiert) oder, besonders perfide, • in Form von ‚Reenactments‘ von Verurteilten, die ihre vermeintlichen Missetaten als ‚Spione‘ und ‚Verräter‘ nachstellen müssen, ehe sie (wie ebenfalls im Video gezeigt) hingerichtet werden.45 Wie viele offizielle Videos des IS vorliegen, ist, wie bereits erwähnt, schwer einzuschätzen. Pieter Nanninga hat im Zeitraum von 1. Juli 2015 bis 30. Juni 2018 772 Videoveröffentlichungen erfasst (vgl. Nanninga 2019, S. 8) während Pieslak et al. (2019) für ihre Naschid-Analyse auf 755 Videoveröffentlichungen zurückgriffen, die allein im Jahr 2015 erschienen sein sollen. Auch Winter (2015b, S. 12) spricht von drei Videoveröffentlichungen pro Tag zur Hochphase des Outputs.46 Zumindest was Filme mit breiterer, internationaler und nachhaltiger Verbreitung sowie Aufbereitung (etwa einer nennenswerten Titelsequenz) betrifft, dürften Nanningas Zahlen allerdings die realistischeren sein.47 Die Laufzeiten der Videos schwanken zwischen einer Minute (v. a. bei Amaq-Clips und Trailern) bis zu einer Stunde. Länger sind die Videos seit der IS-Begründung 2014 jedoch nicht; auch die von al-Hayat Media Center produzierten englischsprachigen

43Z. B. Hitlerjunge Quex (D 1933, Regie: Hans Steinhoff) oder Jud Süß (D 1940, R: Veit Harlan). 44Vgl. den Beitrag von Simone Pfeifer et al. in diesem Band. 45Z. B. in Revelations of Satan (Wilayah al-Khayr, VÖ: 25.06.2016). 46Unklar ist, inwiefern jeweils Duplikate im Sinne von Mehrfachveröffentlichungen, unterschiedlichen Sprachfassungen desselben Videotitels, reine Naschids-Visualisierungsvideos (s. 3.2) u. Ä. miterfasst wurden. 47In Nanningas Zählung sind paratextuelle Videos (v. a. Video-Trailer – s. Nanninga 2019) und die zahlreichen, meist sehr kurzen, kaum bearbeiteten Nachrichten-Clips der Amaq News Agency (ab 2016, ca. 3000) nicht mitenthalten.

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Prestige-Filme Rise of Kilafah – Return of the Gold Dinar (VÖ: 29.08.2015), Flames of War (VÖ: 16.09.2016) und Flames of War 2: Until the Final Hour (VÖ: 29.11.2017) sind lediglich zwischen 54 und 58 Minuten lang.48 Hinsichtlich des hier verfolgten Form-Format-Ansatzes stellt sich die Frage nach der Einteilung des IS-Videoangebots in bestimmte Genres. Tatsächlich gibt es hierzu wenige Arbeiten, etwa hinsichtlich einer themenorientierten Systematik. Untersuchungen fokussieren sich bereits auf bestimmte Inhaltstypen (z. B. Geisel- und Hinrichtungsvideos, vgl. u. a. Barr und Herfroy-Mischler 2018; Tinnes 2015) oder Frames oder Themen wie Charlie Winter (2018, 2015a, b), die aus der Auswertung eines breiteren Medienformenspektrums gewonnen wurden.49 Andere Genreeinteilungen für dschihadistische Videos wurden schon in den 2000er Jahren entwickelt, wobei bisweilen kommunikative Funktion und Inhaltscharakteristik vermengt werden.50 Auf Basis der eigenen Auseinandersetzung mit IS-Videos schlage ich folgende Einteilung vor. Sie orientiert sich ­form-formatspezifisch an journalistischen Darstellungsformen, den fünf häufigen Typen affektiver Strategien in Aktivismusvideos nach Jens Eders (2017)51 und Bill Nicols (2010) Einteilung dokumentarischer Modi, die wiederum eine referenzielle Modalität (vgl. Sachs-Hombach et al. 2018, S. 15 ff.) markiert, d. h. wie die Realität dem Publikum vermittelt wird. Darüber hinaus stellt die Systematik darauf ab, in welche Art von kommunikativer Situation sie den Zuschauer versetzen, wie er adressiert wird, welche Funktion und welche Bedürfnisse die Bild-Ton-Materialverwendungsarten erfüllen. Folglich kann man hier statt von Genres (Oberbegriff für eine Kategorie von Filmen) oder aber ergänzend dazu auch von (genrekonstitutiven) Situationstypen bzw. medienvermittelten

48Die

in der Einleitung erwähnte vierteilige ISI- bzw. ISIS-Reihe Salil al-Sawarim (alFurqan, 2012–2014) etwa bringt es allerdings mit ihrem ersten, dritten und vierten Teil auf eine Lauflänger von über sechzig Minuten. 49Die Themen sind Brutality, Mercy, Belonging, Victimhood, War und Utopia, wobei Utopia und Warfare nochmals unterteilt sind (Utopie: Social Life, Economics, Governance, Landscape and Nature, Justice, Religious Life; Warfare: Defensive, Deterrence, Offensive, Preparation, Aftermath, Eulogy, Summary). Vgl. zur Übersicht Winter 2018, S. 106. 50Für einen Überblick über einige Kategorisierungsansätze vgl. Rieger et al. 2013, S. 19 ff. 51Diese sind: 1. (abstrakter oder selbstreflexiver) sensual symbolism, 2. exhibition of evidence (i.S.v. non-professioneller ungefilterter Zeugenschaft und Beleghaftigkeit), 3. visual narration (emotionales Storytelling), 4. visual argumentation (Rechtfertigungen, Beweise, Schlussfolgerungen etc.) und 5. spreadable intervisuality (vermittels Formspiele und intertextueller Bezüge) (vgl. Eder 2017, S. 70 ff.).

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kommunikationssituativen Konstellationen sprechen. Häufig kommen mehrere davon innerhalb desselben Videos vor. Fünf solcher idealtypischen Genres bzw. Situationstypen lassen sich ausmachen: 1. Erklärung: dominante Rhetor-Instanz, meist als Voiceover, präsentiert dem Zuschauer Informationen und Deutungen. Das übrige audiovisuelle Material ist dem zweckhaft illustrativ, beleghaft oder sonst wie argumentativ untergeordnet und durch Animationen, Effektfilter, Zeitlupen und Sound-Effekte meist stark ästhetisiert und stilisiert, mithin verfremdet und erlebnishaft (s. u.).52 2. Bericht: scheinneutrale, nachrichten-, bericht- oder reportagehafte Darstellung von Themen, Ereignissen und Situationen, wobei Bild- und Tonmaterial immer noch aussagehaft und rhetorisch (beleghaft, exemplarisch, argumentativ) organisiert ist, aber eigenständiger und abbildhafter (mithin weniger ästhetisiert und stilisiert), relativ zur medialen Rhetor- und Erzählinstanz, präsentiert wird. Die Kategorie vereinigt verschiedene journalismusentliehene Unterformen, z. B. Statements und Interviews (mit Mujaheddin, Befragung von Gefangenen), Straßenumfrage (‚Vox pop‘), Material aus Ereignismitschnitten (s. u.).53 Eine reduzierte Form von Bericht sind die Statistik- oder Zahlen-Daten-Fakten-Videos, die entsprechende Informationen in Animationsgrafiken präsentieren (z. B. die Reihe Harvest of the Soldiers; ­al-Hayat Media Center, ab 02.08.2018). 3. Ereignis: a) rein registrierende bzw. observative und unkommentierte Dokumentation eines authentischen Geschehens oder (nicht primär für die Kamera) inszenierter Events; keine oder nur geringe ‚Interaktion‘ mit der Kamera; keine oder nur wenig Ästhetisierung durch Visuelle Effekte u.  Ä. Dem Zuschauer wird ein erfahrungshaftes oder gar immersives Dabeisein ermöglicht, z. B. auf dem Schlachtfeld bei der Begleitung von Soldaten, bei der ‚Teilhabe‘ an öffentlichen Exekutionen oder bei Abu Bakr ­al-Baghdadis Ansprache in der al-Nur Moschee in Mossul. b) Inszenierung: ­symbolisch-demonstrative ‚Aufführungen‘ (bzw. Pseudoevents), die nur oder in allererster Linie für die Kamera stattfinden, z. B. (in) Hinrichtungsvideos,

52Zur

Ästhetisierung in IS-Videos vgl. Zywietz 2018. ist der Berichtbegriff nicht mit dem gängigen der print- und rundfunkjournalistischen Darstellungsformenunterteilung kompatibel.

53Entsprechend

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wie jenes der Ermordung von James Foley und des jordanischen Kampfpiloten Muʿadh al-Kasasba.54 Kann entsprechend Passagen der Ansprache (s. u.) enthalten und teils mäßig oder stark ästhetisiert sein. c) Audiovisueller Beleg: wie a), nur dass medienvermittelte Augen- und Ohrenzeugenschaft einer Gegebenheit im Vordergrund steht.55 4. Ansprache: Ideologische Lektionen, Aufrufe und sonstige Reden, mit denen Autoritäten, einfache Mudschaheddin, aber auch der britische IS-Gefangene und Journalist John Cantlie in der Kommentarvideoreihe Lend Me Your Ears (al-Furqan, VÖ: 19.09.–21.11.2014) direkt das Publikum adressiert und damit eine kopräsente Interaktionssituation simuliert.56 Passagen bzw. Formen der Ansprache kommen häufig u. a. in Berichtvideos oder -sequenzen sowie in Ereignis-Inszenierungen vor (Hinwendung des ‚Henkers‘ an den Zuschauer) (s. o.). Eine besondere Mischform aus Ansprache und Ereignisinszenierung sind Bay’ah-Videos, in denen der Treueeid, in die Kamera an den Kalifen gerichtet, performativ geleistet wird.57 5. Erlebnis: Videos oder Sequenzen, die, meist stark ästhetisiert, nicht oder nur nachrangig auf inhaltliche Botschaften setzen, sondern auf auditive und visuelle Reize und eine sinnlich-affektive Attraktivität: Mittel sind schnelle, rhythmische Schnitte, extreme Zeitlupen, ornamentale Grafikelemente und Animationen, Compositing verschiedenartiger (meist bereits vorgefundener eigener oder fremder) audiovisueller Materialien, expressive Tonabmischung und -effekte etc. Naschid-‚Musikvideos‘ sind die dominante Form der ­IS-Erlebnisvideos, z.  B. Oh Soldiers of Truth Go Forth (al-Hayat Media Center, VÖ: 02.06.2014); Erklärvideos (s. o.) können Erlebnisvideopassagen umfänglich nutzen oder ihren Stil in Gänze übernehmen. Nicht oder nur randständig zur dschihadistischen Propaganda zählen schließlich Instruktionen: filmische Anleitungen etwa zur Herstellung von Sprengmitteln. Als Unterfall sowohl des (dann in der Regel dezenter gestalteten) Erklärvideos (z. B. Rezitationen eingeblendeter Koran-Suren), des Erlebnisvideos (was die

54A

Message to America (al-Furqan, VÖ: 19.08.2014); Healing the Believers Chest (alFurqan, VÖ: 03.02.2015). 55Chloé ­ Galibert-Laîné befasst sich in ihrem Beitrag (in diesem Band) mit einem Video, das ein Beispiel für alle drei Ereignis-Kategorien bietet. 56Vgl. zu diesem Beispiel und diesem Aspekt die Beiträge von Sophia Maylin Klewer und Anne Ulrich in diesem Band. 57Vgl. dazu auch den Beitrag von Simone Pfeifer et al. in diesem Band.

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Erfahrung und Gratifikation betrifft) sowie – in formaler Hinsicht – Ansprache können religiös-spirituelle oder sonstige Erbauungen gefasst werden.

3.2.2 Audios Die skizzierte Genre- oder Konstellationseinteilung lässt sich teils auf andere Medienformate übertragen, z. B. im Audio-Bereich auf – erlebnis- und erbauungshafte – Naschids, erklär- oder berichthafte Radio Bulletins oder Ansprachen in Form von Audiobotschaften z. B. des IS-Sprechers Abu Mohammad al-Adnani. Tatsächlich finden sich verglichen etwa mit den vielen Videobotschaften des alQaida-Anführers Ayman al-Zawahiri allerdings wenige Wortmeldungen der IS-Oberen und wenn, dann und zumindest im Fall von al-Adnani bevorzugt als Audioansprachen.58 Auch diese werden als reine Ton-Dateien verbreitet oder eingebettet in Videos, die mit Translationsuntertitelungen versehen sein können. Was Naschids betrifft, so handelt es sich um „eine sehr alte Form des islamischen religiösen Gesangs bzw. der melodischen Rezitation religiöser Gedichte“ (Said 2016, S. 20), wobei dschihadistische Naschids „als Hymnen mit islamistisch-militanter Textbotschaft beschrieben werden“ können (ebd., S. 29) und zum Bestandteil einer eigenen ‚dschihadistischen Kultur‘ (vgl. ebd., S. 34 ff.; Lahoud 2017) geworden sind.59 Der Fokus in diesem dschihadistischen Kontext liegt inhaltlich „on war and fighting, rather than on the softer sides of life“ (Gråtrud 2016, S. 1).60 Als vier Hauptkategorien macht Said (2016, S. 864) Schlacht-, Märtyrer-, Trauer- und Lobhymnen aus. So wenig Naschids vor allem unter musikwissenschaftlichen Gesichtspunkten (vgl. Pieslak 2017) erforscht sind: unter dem Aspekt der Mobilisierung und Attraktivität sowie als Teil salafistischer und dschihadistischer Subkulturalität ist man auf sie im Kontext der Radikalisierungsforschung und -prävention auch in Deutschland aufmerksam geworden (vgl. MIK NRW 2017; Said 2016, S. 39 f.). Für den Form-Format-Ansatz sind sie in mehrerlei Hinsicht interessant. Da ist erstens der Umstand, dass der IS wie andere dschihadistische Gruppen sich eines

58Z. B.

Oh Our People, Respond to the Messenger of God (al-Furqan, VÖ: 23.06.2015) oder, die vermutlich letzte vor seinem Tod am 30.08.2016, And Those Who Lived (in Faith) Would Live Upon Evidence (­ al-Furqan, VÖ: 21.05.2016). 59Siehe zum Thema Naschid auch den Beitrag von Larissa-Diana Fuhrmann und Alexandra Dick in diesem Band. 60Für ein Beispiel siehe al-Tamimis (2018) englische Übersetzung des Liedtextes der quasioffiziellen ISIS- bzw. IS-‚Nationalhymne‘ Ummati, Qad Lāḥa Fajarun („Meine Umma, die Morgendämmerung ist angebrochen“).

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alten etablierten Kulturformats bedienen und es sich in einer spezifischen Weise aneignet – was bedeutet, dass der Begriff Naschid nicht auf dschihadistische Naschids zu reduzieren ist. IS-Naschids kombinieren Dick (2017 [2019]) zufolge drei Aspekte, die eine besondere „Anschlussfähigkeit für ein globales Publikum [gewährleisten]“ (ebd., S. 55): a) eine lange islamische und arabische Traditionslinie, die ihre Ursprünge in der Gedicht- und Koranrezitation hat und historische religiöse Authentizität und Legitimität verleiht, b) einen spezifisch ­ salafistisch-wahhabitischen Einschlag, der etwa die Verwendung von Instrumenten verbietet und zugleich c) die Verwendung moderner pop(musik)­ kultureller Verfahren akustischer Aufbereitung (Hall, Autotune) (vgl. ebd.). Als eigener Punkt d) ließen sich gesondert die dschihadistischen, also u. a. märtyrertum- und kriegsverherrlichenden Gesangstextinhalte ergänzen. Die IS-Naschids sind somit in mehrfacherweise kulturell verankert und kodiert: klassisch-kunsthistorisch, im gegenwärtigen Musikkonsum (zumal Naschid eine MusikArt ist, die auch im Alltag konsumiert wird), aber auch als Teil einer eigenen islamistischen und dschihadistischen Tradition bzw. Traditionslinie (vgl. Said 2016, S. 85 ff.). So sind etwa. [f]ür Oktober 2006 bis April 2013, als die Gruppierung [der IS, B.Z.] noch unter dem Namen Islamischer Staat im Irak, kurz ISI, operierte […] keine eigenen Anāshīd-Produktionen nachweisbar. Stattdessen griff ISI auf ­salafistisch-wahhabitisch und jihadistische Anāshīd bereits etablierter Sänger […] zurück (Dick 2017 [2019], S. 58).

Für die propagandaanalytische Perspektive ist zweitens relevant, welche Nachfragen Naschids in welcher Weise bedienen und welche sie eröffnen. Said (2016, S. 140 ff.) nennt etwa hinsichtlich der Funktionen die Faktoren Identität und Gruppenzugehörigkeit; Naschids wurden und werden als Dawa (der missionierenden ‚Einladung zum Glauben‘) ergänzend erachtet, zur spirituellen Erbauung und als Instrument, den Geist des Dschihads, der Opferbereitschaft und der Heldenhaftigkeit zu verbreiten (vgl. ebd., S. 148). Drittens ist interessant, was aus dem Naschid in seiner Medienformatierung wird, also wenn aus einem aufgeführten Gesang eine Mediendatei wird, die eben diesen Gesang um weitere musikalische Elemente anreichert, womit ein Stück weit das religiöse Instrumentalverbot herausgefordert ist. Viertens ist danach zu fragen, welche Elemente im Medientransfer oder im jeweiligen gewählten Medienformat (z. B. in der Videopräsentationsform) hinzukommen oder wegfallen oder aus dem Blick geraten, z. B. die Präsenz (oder eben Absenz) des Naschid-Sängers (Munschid) jenseits seiner Stimme – und welche rhetorische

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Bedeutung solche Reduktions-, Ergänzungs- oder Austauschprozesse bzw. -phänomene haben.61 Fünftens ist die technische Formatdimension ein häufig übersehener Aspekt. Dieser mag aber hinsichtlich der technischen Mittel der Aufzeichnung und Abmischung oder der distributiven und qualitativen Normativität der gängigen (obligatorischen) Kompressions- und Transmissionsdateiformate relevant sein. Wären etwa die Ohren, mit denen die Güte des MP3-Formats getestet wurden (vgl. Sterne 2012, S. 153 ff.), genauso offen für Naschids oder an ihnen trainiert wie für/an Jazz, Pop oder klassischer Musik?

3.2.3 Schrifttexte Zwei Punkte sind für die IS-Schrifttexte zu berücksichtigen. Der erste ist aus Sicht der Multimodalitätsforschung so wesentlich wie trivial: Schrifttexte sind nicht auf ihre Buchstaben und deren Bedeutungsgehalt zu reduzieren, denn sie treten in der Regel im Zusammenspiel mit Bildern und anderen grafischen Elementen auf und weisen selbst, typografisch, eine eminente visuelle Dimension auf (vgl. Spitzmüller 2016). Und schließlich ist das Layout (vgl. Lickiss 2019), ihre Organisation auf der jeweiligen „Sehfläche“ (vgl. Schmitz 2011), also hier die Buch- oder Zeitschriftenseite, bedeutungsstiftend und potenziell rhetorisch relevant. Der zweite Punkt ist, dass die Schriften und Schrifttexte, um die es uns geht, in digitaler, nicht-materieller Form vorliegen – ‚nicht-materiell‘ zumindest in der Art, wie die gedruckten Flugschriften und Schulbücher im ‚Kalifat‘ physisch existierten.62 Anders also als die Digitalausgabe etwa des Spiegels oder der Zeit, die u. a. historisch (noch) nachrangige Version der Druckversion ist, sind die fünfzehn Ausgaben des Dabiq-Magazins (April 2014 bis Ende Juli 2016) und die dreizehn Nummern des Nachfolgertitels Rumiyah (September 2016 bis September 2017) nicht ‚virtuell‘, aber doch von vornherein digital.63 Diese natürlich auch bei den Videos und Audios gegebene Digitalität und der Status als

61Bekannte

Naschid-Sänger des IS sind der aus S ­ audi-Arabien stammende Maher Meshaal alias Abu al-Zubair al-Jazrawi, den der IS bzw. die ar-Raqqah-Medienstelle nach seinem Tod 2015 mit einem eigenen Video ehrte (vgl. Dick 2017 [2019], S. 58 ff.), sowie, für die deutschsprachige Fraktion, Abu Talha al-Almani alias Denis Cuspert. 62Unbenommen bleibt, dass auch jede digitale Schrift (wie jede Bild-, Film- und Tondatei) ein erfahrungsfernes physisches Korrelat hat (z. B. „Magnetisierung kleinster Segmente auf ferromagnetisch beschichteten Scheiben“, Greifeneder 2011, S. 209). 63Das schließt nicht aus, dass es auch ‚inoffizielle‘ Ausdrucke bzw. Print-on-DemandExemplare gibt (vgl. BBC 2015).

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digitales Objekt „that take[s] shape on a screen“ (Hui 2016, S. 1) erlaubt eine große Band- und Versionsbreite an ‚Print‘-Publikationen des IS, wobei grob drei Arten zu unterscheiden sind: 1. Nachrichten-Periodika wie zunächst noch Islamic State News und Islamic State Report, später dann das wöchentliche Nachrichtenblatt al-Naba, das anfangs als Jahresschrift erschien. Was das digitale Magazinformat betrifft, so finden sich neben Dabiq und Rumiyah sprachspezifische, aber stilgleiche ‚E-Zine‘-Titel: Konstantiniyye (türkisch), Istok (russisch), Dar al-Islam (französisch). 2. Einzelschriften: theologische und historische Abhandlungen, Verhaltensanweisungen, Märtyrerlobpreisungen und -biografien, Statements, Gutachten und Berichte etc. Solche mit Frontcover versehenen Einzelpublikationen können auch (übersetzte) Redetranskripte und ausgekoppelte ­Periodika-Beiträge sein. 3. Kurztexte, Anzeigen und Infografiken: Hierunter fallen alle v. a. einseitigen Schrifttexte, die einzeln (und u. U. als Bilddateien) verbreitet werden, aber auch als abgrenzbarer Teil insbesondere der Periodika vorkommen können: knappe ‚Pressemeldungen‘ der Amaq-Nachrichtenagentur oder infografische al-Himma-Statistikposter mit Zahlen, Daten und Fakten etwa zu gegnerischen Verlusten (vgl. Degerald 2019; Adelman 2018). Der Übergang zu Bildformaten über Zwischenformate wie video- oder naschidaudio-begleitende ‚Werbebanner‘ ist fließend. Nicht zuletzt sprachbedingt und weil für das Magazinformat unkomplizierte (z. B. inhaltsanalytische) Methodenzugriffe vorliegen, findet sich bereits eine Fülle von Studien zu Dabiq und Rumiyah (u. a. Jacoby 2019; Ingram 2018; Droogan und Peattie 2017; Wignell et al. 2017). Abdelrahim (2019) identifiziert häufig genutzte visuelle Strategien (legitimation, false dilemma, obligation, derogation, und persuasion), Welch (2018) fünf Artikelthemenkategorien: (1) Islamic theological justification and inspiration for violence, (2) descriptions of community, belonging, and meaning, (3) stories of progress or heroism, (4) establishment of a common enemy, i.e., the West and Muslim ‘apostates,’ and (5) instructional and inspirational articles empowering individual violent action (ebd., S. 189).

Innerhalb der Magazine finden sich neben den kleinen und großen formatüblichen paratextuellen Elementen und Einheiten (z. B. das Inhaltsverzeichnis) die Texte

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bzw. Beiträge in einzelne Rubriken unterteilt, was aber selbst nicht konsequent durchgehalten oder ausgewiesen wird. Wiederkehrend finden sich in Dabiq und Rumiyah Märtyrerporträts („Among the Believers Are Men“), „Reports“ zu aktuellen Kriegsereignissen, „Features“ zu militärpolitischen Lagen, Reportagen, religiös-ideologische Betrachtungen, Interviews oder Porträts militärischer oder ideologischer Feinde und Konkurrenten. In einer eigenen Kommentarkolumne kommt auch der Gefangene John Cantlie zu Wort.64 Außer seinen und anderen ‚Gastbeiträgen‘ sind die Artikel nicht namentlich gekennzeichnet. Sie sind durchsetzt mit Segenswünschen (Eulogien), auch mit Koranzitaten und anderen argumentativen Untermauerungen, nicht selten in bzw. mit Fußnoten. Das verwendete Bildmaterial stammt aus der I­S-Propagandaproduktion, aber auch von Nachrichtenagenturen und anderen Fremdquellen, z. B. was – vermutlich einfach aus dem Internet übernommene – Motiv-Stockfotos und Bilder von Politikern oder zeitgeschichtlichen Ereignissen betrifft. Von den ‚journalistischen‘ Inhalten sind, wie erwähnt, Quasi-Anzeigen, Inspirations- und Infografiken zu unterscheiden: Ganzseitige Schau- und Motivationsbilder der al-Himma Bibliothek sowie C ­ rosspromotion-Werbungen für neueste al-Hayat-Videos und ab Dabiq Nr. 9 ‚Hitlisten‘ der ­Wilayat-Videoproduktionen (Selected 10 – oft mehrere pro Ausgabe; ab Rumiya Nr. 6: Featured Videos mit nur mehr drei herausgestellten Filmen).65 Untersuchungen der Heftgestaltung gibt es kaum. Eine Ausnahme sind Scheuermann und Beifuss (2017). Sie bescheinigen, freilich von einer Expertenwarte aus, den Dabiq-Machern bestenfalls semiprofessionelles Handwerk und eher geringe Güte, etwa was die technische Ausführung, das Layout oder die Typografie betrifft. Eine klassische Art-Direction, einen gemeinsamen Look, ein verbindliches Editorial Design gibt es nicht. […] Eher lassen sich in der Entwicklung von Dabiq eine anhaltende Fülle von Anpassungen und Veränderungen ausmachen, die das Editorial Design des Magazins mehr oder weniger in einer Art evolutionärem Prozess von Ausgabe zu Ausgabe bestimmten Wirkzielen angleichen (Scheuermann 2018).

Innerhalb des entsprechenden Formatgattungsrahmens, also verglichen mit anderen non-kommerziell produzierten und v. a. dschihadistischen Publikationen

64In

Dabiq, Nr. 4 bis 9, 12 und 14. Filmauswahlen wurden auch in einer eigenen Selected-10-Videoreihe präsentiert.

65Die

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(auch der IS-Medienstellen), die u. a. mit einer Überfülle an verschiedensten Fonts bzw. Schriften aufwarten, ist die Dabiq-Gestaltungsqualität jedoch gerade in ihrer partiellen Dezenz bemerkenswert. Auch die erwähnte Evolution des Designs ist aufschlussreich: Die ersten Ausgaben sind noch sehr bunt und unruhig bzw. experimentierfreudig. Bilder dominieren, sind der visuellen Dynamik wegen schräg zugeschnitten; einzelne Fotostrecken stellen im Grund die Übernahme des picture reports ins Format des Magazins dar, und generell ist der Einfluss einer Web-Visualität erkennbar. Dies ändert sich in späteren Ausgaben markant: Reine grafische Schmuckelemente (z. B. Hintergrund- und Transparenzflächen bzw. -bühnen) werden reduziert, die Fotos kleiner und weniger. Sie ordnen sich ins meist zwei, manchmal auch dreispaltige Textseitenraster der Artikel ein, die aus größeren und auf manchen Seiten ganz abbildlosen Textmengen bestehen. Zusammen mit der Ersetzung einer serifenlosen durch eine Serifenschrift wird auf eine nahezu langweilige Seriosität abgezielt: Dabiq, so die Implikation, ist ein ernsthaftes, glaubwürdiges Qualitätsnachrichtenmagazin wie The Economist, Der Spiegel und andere internationale Publikationsmarken. Neben der formalen Anpassung lohnt sich auch im Fall der Schrifttexte, nach den technischen Formaten zu fragen. Wie bei Audiofiles das MP3- (und bei Video überwiegend das MP4-) ist es hier das PDF-Dateiformat, das seine eigene Geschichte, Erfahrung und Bedeutung mit sich führt: PDFs present what are called page images; they look something like pictures of pages produced by one printing process or another, or by word processing. Viewed within a pdf-reader application, they are emphatically not ‘living’ documents (Gitelman 2014, S. 115).

Das Format ist geeignet, die IS-Bemühung um internationale journalistische Autorität und Seriosität, die mit der Gestaltung behauptet wird, ein Stück weit zu unterlaufen, denn bei allem „look of printedness“ (ebd.) haben PDFs. […] a special association with the category of so-called gray literature, which includes items like technical manuals, government documents, college coursepacks, reports, and – ironically – white papers. These are familiar genres of internality […] more recently called gray in the field of library and information science because they are typically produced and circulate outside more formal publishing channels […] (ebd., S. 115 f.).

Hinzu kommt das (digitale) Papierformat. Die Seiten haben ­DIN-A4-Abmessungen (210  × 297 cm). Wie üblich bei Printmagazinen werden sie im Hochformat genutzt und eine Einzel- und Doppelseiteneinteilung verfolgt.

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Das scheint selbstverständlich und basiert womöglich auf historischen internationalen ästhetischen Erlebniswerten (die selbst natürlich format-ökonomisch geprägt sind). Tatsächlich sind solche dimensionalen Formatierungen und Segmentierungen aber nicht (mehr) zwingend, insofern Dabiq, Rumiyah und ähnliche international orientierte Prestigepublikationen ohnehin nicht für den Papierdruck bestimmt sind. Fixe Seitengrößen, überhaupt das Konzept der einzelnen Seite, könnten verworfen oder zumindest alternativ die Querformatausrichtung gewählt werden, um sich demonstrativ und fundamental abzugrenzen oder andere Referenzen zu wählen – man denke an das Prinzip der Schriftrolle. Erinnert sei da an ein anderes ‚Medienformat‘, mit dem sich der IS explizit vom Rest der Welt absetzen und in die Tradition des Umayyaden-Kalifats (660 bis 750 n. Chr.) einschreiben wollte: die Golddinar-Münzwährung (mit dem silbernen Dirham als kleinerer Einheit), also die Rückbesinnung auf unmittelbare Edelmetallwertigkeit.66 Natürlich gibt es eminente Gründe, warum die Idee für solche Experimente wie alternative Seitenformate oder deren Verzicht angesichts der theoretisch räumlich unbegrenzten Digital-Sehflächen vielleicht gar nicht erst aufkommen. Seien es die Vorgaben wie Größenvoreinstellungen z. B. in Microsoft Word und Adobe Acrobat (analog den Videoformatsettings in den Programmen Adobe Premiere und After Effects, die der IS für Videoschnitt und -bearbeitung nutzt). Sei es, weil der Koran als heiliges Buch eine allzu wichtige Medienformatreferenz darstellt. Der wichtigste Grund dürfte aber neben der fast natürlichen Selbstverständlichkeit solcher materialen Formatierungen schlicht sein, dass die internationalen Standards bewusst erfüllt werden, um als seriöse, glaubwürdige und ­(gleich-) ‚wertige‘ Stimme im Chor der globalen Medienmarken aufzutreten. Die Übernahme des historischen Konzepts Seite in die digitale Produktion und Rezeption ist nicht nur rückführbar auf die Entwicklung des Desktop-Publishings aus dem Druckhandwerk, analog des non-linearen Video-Editings aus dem ‚physischen‘ Filmstreifenschneiden und -montieren. Die Verwendung der Parameter manifester Medienartefakte will auch einen bestimmten ‚Kostenaufwand‘ konnotieren: den Wertstatus eines Objekts, für das Material verbraucht, für das physische Arbeit erbracht wurde und das einen Anspruch auf teuren, weil begrenzten Platz in Buchregalen, Kioskauslagen und Zeitschriftenständern erhebt. In vergleichbarer Weise

66Zur

2014.

Vorstellung von Geld als Medium oder als „mediales Kunstprodukt“ vgl. Hörisch

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buhlen formal die digitalen ‚historisierten‘ (Film-)Bilder der IS-Propaganda um Aufmerksamkeit, aber auch um ‚auratische‘ Achtung: S ­ epia-Farbfoto- und -videofilter, digitalsimulierte Filmkratzer und -sprenkel oder sonstige artifizielle Zeitund Gebrauchsmerkmale assoziieren Alter und darüber verschiedene Arten von Relevanz und Kostbarkeit (z. B. qua Zeugnischarakter, Verbindung mit der Vergangenheit, Mühe des Bewahrens und Erhaltens über die Zeit hinweg).

3.2.4 Software Wenn im Kontext der IS-Propaganda von Software die Rede ist, ist Anwendungs(also keine System-)software gemeint, sprich: Apps (Applikationen). Dabei sind zunächst Anwendungen, die vom IS v. a. zur Medientext-Dissemination und zur Gruppen- oder Individualkommunikation lediglich vorgefunden und eingesetzt werden, zu unterscheiden von solchen, die der IS selbst entwirft, programmiert und in Umlauf bringt. Die ersten betreffen die technisch-praktische Aneignung von Plattformen und Diensten (vgl. Badawy und Ferrara 2018) wie YouTube, WhatsApp, Twitter (vgl. u. a. Berger und Morgan 2015; Klausen 2015) oder Telegram (vgl. Bloom et al. 2016; Onlinejihad.net 2019); in der jüngsten Zeit wurden und werden spezieller und unbekanntere Chat- und sonstige Gemeinschafts- und Kommunikationsservices ausprobiert, u. a. Discord, RocketChat, Riot, Vibe (vgl. Tech Against Terrorism 2019; Katz 2019 sowie den Beitrag von Martin Zabel in diesem Band). Die zweite Art von ‚IS-Software‘ lässt sich, auf Basis von v.  a. journalistischen Meldungen, in drei Arten aufteilen: eigene 1. (Micro- und Instant-)Messenger- und Distributions-Apps67 2. Computerspiele 3. Lern-Apps Es ist allerdings Skepsis hinsichtlich der Frage angebracht, inwiefern zumindest die ersten beiden dieser Arten nicht nur relevant für die Propagandaarbeit des IS sind, sondern auch, ob sie in jedem Fall tatsächlich dem IS oder auch nur dschihadistischen Kreisen und Absichten zuzuordnen sind – oder überhaupt in der diskutierten Form existieren.

67Wie

die I­nternet- und v. a. Social-Web-Service-Indienstnahme ließen sich die eigenen Kommunikations- und Distributionsapps auch unter dem Punkt Infrastruktur (3.4) verhandeln.

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So veröffentlichte der IS am 29. November 2015 eine Amaq-Android-App, die Nachrichten über IS-Operationen direkt verbreitete; englische, französische und türkische Versionen erschienen im April und Mai 2016. Ende Januar 2016 wurde eine Streaming-Anwendung für das al-Bayan-Radio veröffentlicht (vgl. Katz 2016). Verfügbar waren sie nicht im Google Store, sondern über dschihadistische Online-Kanäle als APK-Dateien68 zur direkten Installation auf den Mobilgeräten. „Such apps are valuable tools not just to recruit, but also to provide stable channels of information outside of social media accounts, which are often taken down by administrators“ (ebd.). Allerdings verbreitete sich, basierend auf einer Meldung von Ghost Security Group, einer selbsterklärten Online-„Vigilanten“-Gruppe69, Anfang 2016 auch die Meldung über eine „IS-eigene Messenger-App“ namens Alrawi (vgl. Constinge 2016; Dillow 2016). Diese war bzw. ist jedoch offenbar lediglich eine arabischsprachige Nachrichtenanwendung, die sich heute noch im Google Store finden lässt. Aus der IS-Nutzung einer im „Westen“ unbekannten App wurde so schnell eine „IS-App“, wohl nicht allein aufgrund von Unkenntnis. Es erinnert an das Beispiel des eilfertig zum I­S-Programm deklarierten Sportkanals (s. 3.2), aber auch an andere Fälle von Sensationshunger nach groteske und bizarre Details des wahlweise als Kuriosum behandelten IS. Hierunter fallen die Meldungen, dass der IS für Trainings- und Rekrutierungszwecke den taktischen First-Person-Shooter ArmA 3 (Entwicklerstudio: Bohemian Interactive, VÖ: 12.09.2013) zu Werbe- und Trainingszwecken modifiziert habe (vgl. Hall 2015; Scimeca 2015). Schnell wurde jedoch darauf hingewiesen, dass es in der veränderten Version nicht darum ginge, als ­IS-Kämpfer, sondern auf solche zu schießen, und dass derartige privaten Mods (= „Modifkationen“, hier in Form von Texturpaketen für die IS-Uniformen und -Sturmhauben) bzw. das Modden gängig in der Gaming-Kultur ist.70 „[…] [M]odding can be regarded as a creative practice that allows ‚consumers‘ to modify the commercial products they play and change them to their liking“

68APK (= „Android Package“) ist das ­ Android-Installationspaketdateiformat. Dieser Verbreitungsweg, der nicht durch die Google-Kontrolle über den App-Laden gestört war, hatte aber einen anderen Nachteil: ein Einfallstor für Gegenmaßnahmen. Ähnlich gefälschter ­Dabiq-PDFs (vgl. Mastracci 2016) als Counter-Propagandamaßnahmen kursierten schon im Sommer 2016 IS-offizielle Warnungen vor Fake-Apps, die die Nutzer ausspionieren würden (vgl. Katz 2016). 69https://ghostsecuritygroup.com/ 70Vgl. die Beiträge der Nutzer rustym und Dann Carrida in der Kommentarspalte zu Hall 2015.

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(Unger 2012, S. 521) und „[…] can also be regarded in a political way that modders may even not be aware of“ (ebd.).71 Es ist typisch, dass Spiele wie ArmA 3 auf zeithistorische wie auf fiktionale populärkulturelle Szenarien hin umgestaltet werden. Folglich ist es wenig zwingend, dass der ‚IS-Mod‘ von Fans und Sympathisanten des ‚Kalifats‘ mit ideologischem Hintersinn oder zu Kriegstrainingszwecken angefertigt wurde – geschweige denn, dass es sich um ein offizielles Propaganda-Produkt des IS handelte. Das gleiche gilt für Grand Theft Auto: Salil al-Sawarim72, eine Modifikation des vom Studio Rockstar North entwickelten Third-Person-Shooters und Open-World-Spiels Grand Theft Auto V (2019): Bekannt wurde sie durch ein Video, in dem v. a. Szenen aus dem vierten Teil der titelgebenden Videoreihe (alFurqan, VÖ: 17.03.2014; vgl. Prucha 2014) mit einer entsprechenden gemoddeten GTA-Version nachgespielt wurde und den Eindruck erweckte (und wohl erwecken sollte), es handele sich um ein eigenständiges Spiel. Inwiefern die Kriegs- und Guerilla-Ikonografie und -Motivik dschihadistischer Gewaltvideos intendiert, unbewusst, zufällig oder gar zwangsläufig mit der von GTA zusammenfällt ist dabei nicht einfach zu beantworten. Allerdings wurden, so zumindest gemäß den im Netz auffindbaren Mod-Dateien, auch hier lediglich alternative Skins, also Oberflächentexturen der Spielcharaktere, implementiert, nicht aber neue Landkarten oder Spielkampagnen, die direkt auf den IS, das Geschehen im ‚Kalifat‘ oder an seinen Fronten Bezug nehmen. Zur Inspiration, Rekrutierung oder für die Ausbildung an der Waffe taugten diese ‚IS-Spiele‘ wohl ebenso viel (oder wenig) wie die ­Original-Games.73

71Vgl.

hierzu wie zu ­‚IS-Games‘ generell den Beitrag von Andreas Rauscher in diesem Band. 72Salil al-Sawarim („Klirren der Schwerter“) ist der Titel eines Naschids und, wie erwähnt, einer vierteiligen Videoreihe des ISIS. Vgl. zu diesem und seiner Aneignung auch den Beitrag von Larissa-Diana Fuhrmann und Alexandra Dick in diesem Band. 73Dies bedeutet nun nicht, dass es im Bereich des islamistischen oder sonstigen Extremismus keine eigenen propagandistischen Spiele gibt. Die schiitische Hisbollah veröffentlichte 2003 etwa den First-Person-Shooter Special Force und 2007 die Fortsetzung Special Force 2: Tales of the Truthful Pledge (Aleqwh Alekhash 2 - Hekayh Alew'ed Alesadeq), das den Libanonkrieg 2006 als Background nutzt und in dem der Spieler mit Messer, Pistole, Scharfschützengewehr oder Panzerfaust gegen die Gegner vorgeht. Vgl. Iwant (2014) oder die Let’s-Play-Videos von Derek Gildea vom U.S. Institute for Peace zu diesem Spiel (erster Teil: https://www. youtube.com/watch?v=Bxh3VAb6teA, 01.10.2019). Zu verweisen ist in diesem Kontext aber auch auf Phänomen wie pseudo-ironische oder -satirische antimuslimische Hass-Spiele, z. B. Muslim Massacre – The Game of Modern Religious Genocide von 2008 (vgl. Percival 2008).

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Bedenklicher dagegen ist die dritte Art von Propagandasoftware des IS: die indoktrinären Android- und Desktop-Apps Huruf („Buchstaben“), Moalem al-Huruf („Lehrer der Buchstaben“) und Dua („Bittgebet“), die sich an Kinder richten. Als ‚Studio‘ tritt das al-Himma-Publikationshaus auf. In bunter, einfacher Aufmachung und in naher Verwandtschaft zu den Schulmaterialien (S. 3.4) werden mit militaristischem Vokabular, IS-symbolischen Abbildungen und Szenarien interaktiv bis spielerisch Zahlen, Buchstaben und das Beten vermittelt (vgl. Jugendschutz.net 2016). In formalen Gestaltungs- wie in der Bedienungsweise sind sie an anderen (v. a. saudi-) arabischen Alphabetisierungs-Apps orientiert, wenn nicht gar auf deren technischer Grundlage entwickelt.

3.3 Format-Formalia, Strukturelemente und Intertextualität Wenn von Konzepten wie Formaten, Gattungen etc. die Rede ist, ist zu erinnern, dass dahinter konkrete Medientexte stehen (z. B. ein Video). Und auch ‚innerhalb‘ dieser oder sie begleitend lassen sich weitere Einzeltexte als Textelemente, Intra- oder Paratexte identifizieren und untersuchen. Unterhalb der Ebene der oben angesprochenen Medienformate sind dementsprechend Gattungen, Textsorten und Genres auszumachen, die wiederum eine schier unüberblickbare Fülle teils sehr kleiner und als Teil- oder Funktionselemente beschreibbare Textformen und -formate darstellt. Einige davon wurden bereits erwähnt, Naschids (als Textbestandteil bzw. ‚Soundtrack‘) etwa oder die – multimodale – „Text-Bild-Sorte“ (Stöckl 2012) Informationsgrafik (meist aus al-Naba-Ausgaben stammend). Weitere wie die Bildsorte bzw. das Bildformat Selfie74 kommen in diesem Band zur Sprache oder stellen, wie Land- und Weltkarten75 in IS-Videos, ‚Print‘- und Web-Schriften, vielversprechende Analyseobjekte für kommende Studien dar. Sinnvoller als alle oder auch nur die wichtigsten dieser Textelemente, ihre Formen, Formate bzw. Formatzugehörigkeiten sowie ihre Kodalitäten (S. 2.3) einzeln anzusprechen, ist es, im größeren rhetorischen Rahmen ihre referenziellen Stilismen, Funktionen und strukturellen Zusammenhänge in den Blick zu nehmen.

74Vgl.

den Beitrag von Lydia Korte in diesem Band. kartografischen Mitteln der Persuasion und Propaganda, vgl. u. a. Muehlenhaus 2014; Pickles 2011. 75Zu

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3.3.1 Kontinuität und Zusammenhang Jenseits der Gattungen ist Serialität ein wichtiges Strukturprinzip der IS-Propaganda und von Propaganda allgemein. Die verschiedenen Medien­ häuser des ‚Kalifats‘ warten mit einer Vielzahl von Video-Mehrteilern und -Reihen auf. Auch in anderen Medienformaten spielt das Prinzip eine Rolle (z. B. in Magazinen mit ihren Fortsetzungsartikeln). Schon vor der Ausrufung des ‚Kalifats‘ fanden sich im Netz prominente Reihen und Serien wie die ­ISIS-Serien Klirren der Schwerter (Salil al-Sawarim), und The Establishment of the Islamic State (9 Teile, al-I’tisam, 2013–2014)76. Letztere wie auch ­al-Hayat-Produktionen Mujatweets (8 Folgen, 2014) und Inside the Khilafah (8 Folgen, 2017–2018)77 kennzeichnet ein durchgängiges individuelles Titel- und ‚Sendungsdesign‘. Andere bilden noch stärker inhaltlich-thematisch, formal, narrativ- oder anderweitig strukturell einen Zusammenhang. Extremfall sind die sieben Lend-MeYour-Ears-Ansprachefilme mit der britischen Geisel John Cantlie, die ihn als eine Art Kommentator des Weltgeschehens sowie seiner individuellen Lage in orangener Gefangenenkluft an einem Holztisch vor einem schwarzen Vorhang zeigen.78 Andere Reihen, vor allem der dezentralen Medienstellen, werden hingegen nur durch den Titel und höchstens noch eine thematische Ausrichtung (die dann aber gleichwohl typisch ist für die IS-Propaganda, z. B. die Verheldung von Soldaten in Knights of Victory [Wilayah al-Fallujah, 7 Teile, VÖ: 2015–2016]) konstituiert bzw. eine serielle Kohärenz nur behauptet. Das wirft die Frage nach der Attraktivität und dem r­ hetorischpropagandistischen Ziel des Konzepts Serialität auf. Kernwerte sind hierbei Kontinuität und der intertextuelle Zusammenhang. In der Fülle der IS-Medientexte stiftet Serialität Ordnung und Orientierung. Sie sorgt für Wiedererkennungseffekte, steuert die Erwartung und verheißt eine gewisse Verlässlichkeit.79 Letztere betrifft nicht nur das jeweilige Medienangebot, sondern auch die produzierende Stelle und mithin den IS insgesamt. Es werden ‚erfolgreiche‘, also z. B. vom Publikum begrüßte oder von der Propagandaleitung des

76Im

Gegensatz zum angloamerikanischen Sprachgebrauch bezieht sich das Kürzel ISIS (Islamischer Staat im Irak und Sham und Großsyrien) in diesem Beitrag nur auf die Vorstufe des IS gemäß der Eigenbezeichnung der Gruppierung. 77Zur Reihe Inside the Khilafah vgl. den Beitrag von Simone Pfeifer et al. in diesem Band. 78Vgl. dazu den Beitrag von Sophia Maylin Klewer in diesem Band. 79Vgl. zu solchen und anderen Funktionen von Serialität u. a. Knape und Ulrich 2014, S. 76 ff.; Pauliks 2017.

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Medienkomitees positiv bewertete Produktionen zumindest nominell fortgesetzt oder gleich als Fortsetzungsreihe konzipiert und angekündigt (wie Inside the Khilafah). Darüber hinaus verweist die Serialität auf eine zukunftsgerichtete Beständigkeit, mithin eine Vertrauenswürdigkeit oder zumindest das Selbstvertrauen, gar die Potenz des Produzenten: Dieser kann nicht nur auf eine geordnete (wenn auch nicht erscheinungsrhythmisch regelmäßige) kohärente Folge von Äußerungen verweisen, sondern verpflichtet sich auch implizit, künftig weiter(e) zu ‚liefern‘. Der (intertextuelle) Zusammenhang ist ein weiteres Kernprinzip der ISPropaganda. Es spiegelt nicht nur das typisch dschihadistische „Propagem“80 des Zusammenhalts (der Umma; der männerbündlerischen Kameraderie der Mudschaheddin etc.) und der Integration der Stellen und Ideen im totalitären ‚Kalifat‘-Projekt. Zusammenhang ist zudem Grundlage für eine konsistente propagandistische Sphäre als mediale Erlebniswelt und als eine Art ideologischer ‚Supertext‘, wenn auch kein hermetisch abgeschlossener (s. u.). Mehr noch als die Verwendung oder Übernahme von Formaten und Formen ist, in diesem Zusammenhang, deren intertextuelle Referenzierung in der IS-Propaganda bemerkenswert. Die geschieht besonders durch die Aneignung formaler Elemente und Stilismen international etablierter Gattungen und Gattungsvarianten mit ihren jeweiligen Themen, kommunikativen Funktionen, Mustern und Situationen.

3.3.2 Selbstinszenierung mittels Logo-Design Es sind zwei grobe Bezugsrahmen in den IS-Medientexten auszumachen. Der eine ist die ‚Dschihad-Kultur‘, die selbst wiederum in der islamischen und arabischen Tradition wurzelt und eigene Bildmotive und Symbole (vgl. Ostovar 2017), Kalligrafie (Blair 2006) oder Ornamentik und Formen des Gesangs (eben die Naschids) umfasst. Hinzu kommen Praxen wie Koranrezitation oder Traumdeutung (vgl. Hegghammer 2017) sowie ‚Performances‘, die zwischen präsentativer Inszenierung vor und für die Kamera, nachempfindendem anachronistisch-nostalgischem Reenactment, politisch-demonstrativem Akt ­ und öffentlicher Ritualität changieren: der Ritt zu Pferde, die öffentlichen Enthauptungen per Schwert, das Tragen (als Zuschaustellen) der gebotenen Kleidung oder Barttracht u. Ä. (vgl. Salzmann 2016). Sie dienen der identitätspolitischen Selbstverortung, die wiederum die rhetorische Überzeugungsdimension des Ethos (vgl. Robling 1994) stärkt, des Glaubwürdigkeits- und Charakter-Image

80Zu

‚Propagemen‘ als „langfristig abgeklärte B ­ otschafts-Bedeutungs-Komplexe öffentlicher persuasiv-propagandistischer Kommunikationen“ vgl. Gries 2005 (hier: S. 25).

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des Rhetors. Die Durchsetzung der IS-Schrifttexte mit Koranzitaten oder die ­Video-Titel, die nahezu durchweg Titel von oder Formulierungen in Suren entsprechen, ist hier ein weiterer typischer Griff der Selbstlegitimierung. Der zweite Bezugsrahmen ist noch stärker einer des formal-formativen Mediendesigns, insofern hierbei eine Orientierung an und die Übernahme von globalen massenmedialen und populärkulturellen Zeichen und Stilformen stattfindet. Dabei geht es um die ‚Corporate‘ und ‚Brand Identity‘ des IS und seiner ‚Untermarken‘ (die der Medienstellen, deren Reihentitel wie Dabiq oder Inside the Khilafah). Wie andere (auch terroristische; vgl. Beifuss et al. 2013) Akteure sollen diese Markenidentitäten in ihrer Emblematik mit eigenen Bildwelten, Farbkombinationen, Logotypen und anderen visuellen und auditiven Elementen etabliert und gepflegt werden. Ziel ist es, eine gewisse Seriosität, Kompetenz und Größe (mithin auch hier: Kontinuität) über Markenkonsistenz, Designqualität und Einsatzkonsequenz im audiovisuellen Auftritt zu demonstrieren. Was Schriftzeichenstil (Kufi-Kaligrafie) oder piktoriale Motivwahl (z. B. das Sturmgewehr81) betrifft, wird auf Potenz bzw. Schlagkraft, aber auch historische Traditionalität verwiesen. Das mag nicht die volle gestalterische Güte professioneller bzw. kommerzieller Medienproduktionen z. B. in puncto Editorial Design erreichen (vgl. Scheuermann und Beifuss 2017; s. 3.2.3). Gleichwohl sind hier bemerkenswerte Branding-Anstrengungen auszumachen, die den IS von vergleichbaren Gruppierungen abhebt. Sie betreffen vor allem die Medienstellen der Wilayat und deren strategisches koordiniertes Erscheinungsbild als Markenfamilie. In den Videos findet sich nach der obligatorischen Einblendung der Basmala, der Anrufungsformel82, in einer Intro-Animation das ‚Production Logo‘ der Medienstelle, analog denen der Filmstudios, Produktionsfirmen oder Fernsehsender zu Beginn von Kinospielfilmen oder TV-Serien.83 In der Frühphase des IS herrscht bei den Emblemen der Wilayat zwar bereits eine einheitliche Struktur – eine Kaligrafie-Insignie, darunter ein Schriftzug (später mit überwiegend lateinischen Buchstaben als englische Namensteilübersetzung) (vgl. Abb. 1a–i). Auch ist die ‚edle‘ Goldanmutung typisch. Darüber hinaus jedoch herrscht

81Man

denke an die revolutionsikonische Kalaschnikow AK-47, die in der Flagge der Hisbollah abgebildet ist. 82bismi allah ar-raḥman ar-rahiem – „Im Namen des barmherzigen und gnädigen Gottes“. 83Siehe hierzu wie im Folgenden auch den Beitrag von Yorck Beese in diesem Band.

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stilistisch noch eine große Bandbreite, etwa was die Ausführung oder den Bildhintergrund betrifft. Auch die Animationen sind repräsentativ charakteristisch, etwa wenn sich das Logo des frühen ar-Raqqah-Zeichens aus zusammengewehten Sandkörnern zusammensetzt. In einer ersten Konsolidierungsphase kommt es zur Vereinheitlichung und Vereinfachung: die beiden Bestandteile des Logos erscheinen in einfachem Weiß ohne materiale Anmutung vor schwarzen Hintergrund. Allerdings finden sich parallel oder schnell wieder unterschiedliche Interpretationen, etwa was die Darstellungsgröße der Marke betrifft, die Feinheit bzw. die Stärke des ‚Pinselstrichs‘ oder den Font des Schriftzugs in lateinischen Buchstaben (s. Abb. 1a–i, mittlere Spalte). Der Hang zur Individualisierung lässt das Logo wieder golden werden (oder bleiben); im Falle der Medienstelle des Wilayah al-Furat bildet es sich aus dem Wasser des namensgebenden Euphrat. Das al-Khayr-Medienbüro wiederum setzt, wenig bescheiden, sein Logo in ein computergeneriertes Filmstudio (Abb. 1a–i, rechte Spalte). Ab Dezember 2016 wird dann das auch heute noch gültige ­Logo-Designformat eingeführt (oder durchgesetzt), je nach Wilayah unterschiedlich schnell, letztlich aber konsequent (s. Abb. 2a–c): Auf eine „Islamic ­State“-Quadratkufi-Animation

Abb. 1a–i   Auswahlcollage: ‚Produktionslogos‘ der Medienstellen des Wilayah al-Furat (oberste Zeile), Wilayah al-Khayr (mittlerer Zeile) und Wilayah ar-Raqqah (untere Zeile) (Screenshots)

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Abb. 2a–c   ‚Produktionslogos‘ der Medienstellen des Wilayah Furat, Wilayah al-Khayr und Wilayah ar-Raqqah im Einheitsdesign (Screenshots)

(Dachmarke) folgen in identischem Stil die reduzierten, eleganten Einzellogos. Sie sind ungewohnt klein gehalten; ein Lichtreflektionspunkt ‚zeichnet‘ in der Animation die Hauptstriche ‚nach‘, was sowohl Schreiben selbst wie eine doch leichte metallische Materialität andeutet. Der Hintergrund ist leicht facettiert, was mit seinen verschiedenen Grautönen und der Überlagerung der eckigen Grafik(teil)flächen weniger einen Edelsteinschliff assoziiert als, abstrakter, Multiperspektivik oder prismenartige Mehrdimensionalität. Diese Einheitlichkeit und Zurückgenommenheit dieses Markendesigns, das eingeführt wurde, als das ‚Kalifat‘ sich im Niedergang befand, findet keine annähernde Entsprechung im ‚realen‘ Auftreten und Agieren des IS und seiner Repräsentanten. Sie korrespondieren aber mit der demonstrativen Dezenz und Seriosität, wie sie etwa die späteren Dabiq-Ausgaben kennzeichnen (s. 3.2.3). Zudem unterstreicht es auf formalästhetischer Ebene den religiös-ideologischen Anspruch und das idealistische Ziel eines islamischen Einheitsstaats, in dem zwar eine hierarchische Ordnung herrscht (welche selbst wiederum dem einzigartigen, dem Einen Gott untersteht), in der aber alle gleich sind – von den Provinzen mit ihren Institutionen bis zu den einzelnen Rechtgläubigen, unabhängig von nationaler Herkunft oder Hautfarbe.

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3.3.3 Gattungs- und Stilreferenzen Insofern es sich um Medienstellen oder ‚Sendungsformate‘ handelt, finden sich die markenidentitären gestalterischen Mittel der Selbstinszenierung auch als strukturelle Elemente in digitalen ‚Print‘-Publikationen, Internet-Werbebannern sowie im ‚On-Air-Design‘ der Videos. Letzteres meint u. a. die Logoeinblendungen in den oberen Bildecken, Ident Bumper und sogenannte ‚Bauchbinden‘ (Erläuterungseinblendung im unteren Drittel, etwa von Namen und Orten). Damit orientiert sich der IS an vorgefundenen Sendungsformaten, ihren Textelementen (wie dem Logo) und deren Verwendungsregeln (die Position des IS- und Medienstellenlogos in der linken oder rechten oberen Ecke des Videobildes). Wie in 3.2.1 erwähnt sind dafür faktuale, etwa fernsehjournalistische Vorbilder Referenzpunkt für Produzenten wie Rezipienten. Auch diese ‚TV-Looks‘ erfüllen die rhetorische Funktion, das Image des Senders (als korporativem Rhetor) beim Publikum zu etablieren und zu formen (vgl. Ulrich 2012, S. 222 ff.). So dezent die Gestaltung oft ausfällt, wird der Gestus nachrichtenjournalistischer Sachlichkeit doch bisweilen durch Ästhetisierungen und Stilisierungen innerhalb der Videos konterkariert. Dies nicht so sehr, weil zu sehr oder selbstzweckhaft dekorative Elemente verwendet und rein auf sinnliche Attraktivität und Affektierung bzw. Pathos gesetzt wird. Sondern weil ‚unpassende‘ medienglobalkulturelle Gattungsstile bzw. ihre Codes und Ästhetik mit imitiert, zitiert oder emuliert werden. Eine solche adaptierte Unterhaltungsgattungsästhetik ist die von (v. a. ‚Action‘-)Computerspielen. Es ist allerdings – wie beim problematischen geführten Vergleichslabel ‚Hollywood‘ für die Filmqualität (vgl. Dauber und Robinson 2015; kritisch: Zywietz und Beese 2020) – zu berücksichtigen, dass in Games selbst wiederum Aneignungs- bzw. Stilisierungsformen fremder Visualitäten übernommen sind. Dies etwa, was techno-militärische „kalte“ Operational Images (vgl. Eder 2017) betrifft. Beispiel für den Einsatz solcher Military-Game-Ästhetik und -Stilistik in IS-Medien bietet das Video Et tuez-les, où que vous les rencontriez – Kill Them Wherever You Find Them (al-Hayat; VÖ: 23.01.2016). Darin wird eine Collage aus Nachrichtenfilmmaterial zum Paris-Anschlag vom 13./14. November 2015 sowie Überwachungskamera- und Luftaufnahmen mit animierten Effektmasken versehen. Diese Masken simulieren bzw. assoziieren optische Rasterungen, Zielbzw. Abseh- und andere Maßmarkierungen auf Okular-, Objektiv- oder sonstiger digitaler Visualisierungsebene, taktische Augmented-Reality-Daten (wie auf Head-up-Displays) inklusive. Die Auftaktsequenz erinnert somit stark an die ­Mission-Briefing-Sequenzen in Spielen wie Call of Duty: Modern Warfare 2

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(Infinity Ward und Aspyre Media 2009) und ruft ‚spielerisch‘ das Assoziationsfeld ­kühl-professioneller digital Überwachung und High-Tech-Martialität auf.84

3.3.4 Paratextualität Neben derartigen Ästhetisierungen oder jenen der animierten Erklärvideos, die auch auf eine affektive attraktive Adressierung setzen85, finden sich, wie erwähnt, Gestaltungsweisen und Strukturelemente von TV-News und Magazinsendungen, selbst wenn eine Moderatorenfigur fehlt. Dann wieder gibt es jene Videos, die den gefangenen britischen Journalisten John Cantlie als ‚Außenreporter‘ oder als ‚Fernsehkommentator‘ inszenieren – nur, dass er in den Filmen der Lend Me Your EarsReihe in seinem leuchtend orangefarbenen Hemd, das auf die Gefangenenbilder aus Abu Ghraib und Guantanamo anspielt, wie ein zynische Parodie wirkt.86 Auch im Dabiq-Magazin hatte Cantlie eine eigene Kolumne. Sie erschien neben anderen typischen Standardeinheiten und Textgattungen wie dem Inhaltsverzeichnis, aber auch ‚Werbe-Anzeigen‘ für die neuesten IS-Videoproduktionen oder, besonders menschenverachtend, für zwei Geiseln „for sale“ und als „limited time offer“ für eine nicht näher bezifferte Lösegeldsumme.87 Damit sind wir bei den Formen von Paratexten bzw. Aneignungen von Paratext-Gattungen.88 Zu nennen sind etwa ‚Filmtrailer‘ und Filmteaser‘, mit denen vor allem größere Videoproduktionen wie Flames of War oder The Return of the Gold Dinar angekündigt und beworben wurden, kinoplakatartige Online-Werbebanner oder Online-Anzeigen, die Dabiq-Einzelausgaben und -Sammlungen annoncieren. Es ist vor allem diese Paratextualität, die einen vielschichtigen Medienkosmos suggeriert. Dieser Supertext (als transtextuelles Netzwerk im Sinne von Textil) verwebt sich an seinen Rändern nicht nur mit auch ­nicht-dschihadistischen ‚Fäden‘, etwa denen theologischer oder journalistischer

84Vgl.

hierzu Zywietz 2018, wo sich auch Anschauungsmaterial für die Szene findet. den Beitrag von Pfeifer et al. (in diesem Band) zum Beispielvideo Inside the Khilafa 8. 86Vgl. zu Cantlie die Beiträge von Sophia Maylin Klewer, Anne Ulrich sowie Kevin B. Lee in diesem Band. 87Dabiq, Nr. 11 (September 2015), S. 64 u. 65. 88Gemeint sind hier als medial eigenständige Begleittexte (Epitexte in der klassischen Unterteilung von Gérard Genette 2014 (1987). Peritexte wie Titel, Zwischenüberschriften oder On-Air-Design-Elemente ordne ich eher als eigene intratextuelle Klein(st)gattungen ein. Vgl. zum Thema filmischer Paratexte allgemein u. a. Böhnke 2007, der auch das (Bild-)Format darunter fasst (ebd., S. 122 ff.). 85Vgl.

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Diskurse, die inkorporiert oder selbst thematisiert (und z. B. kritisch beantwortet) werden. Er bildet auch eine Facettenhaftigkeit und Vielstimmigkeit nach, die – wenn auch in weitaus kleinerer Dimensionierung z. B. was Ziele und Zeitrahmen betrifft – bei größeren kommerziellen Transmedia-Promotionskampagnen angestrebt werden. Diese Paratexte sind nicht nur eine Art Verheißung, sie stiften Erwartung und heben die Medienprodukte aus der vielfältigen Überfülle konkurrierender Medientexte heraus. Sie tun dies, indem sie Spannung erzeugen und in ihrer attraktiven, unaufwendig zu konsumierenden ‚Kleinformatigkeit‘ die Aufmerksamkeit einfangen, bündeln und auf den Haupt- bzw. Zieltext lenken, der so zu einem Event, einem Medien-Ereignis wird.89 Formatbezogen tragen die Paratexte bisweilen Züge ironischer, spielerischer Nachahmung. Allerdings ist ihr Status dabei einer, der zwischen Nähe und Distanz, Achtung (z. B. internationaler ästhetischer Standards) und Verachtung (z. B. was die ideologische Herkunft und Färbung der Vorlage betrifft) oszilliert. Sie erscheinen wie Erzeugnisse einer Fan-Kultur, die definiert sind durch die Wertschätzung der ‚globalen‘ format-formalen Vorbilder, denen nachgeeifert wird und von denen man sich zugleich abzusetzen sucht, insofern etwas Eigenes zu artikulieren ist. Letzteres erfolgt durch die Anreicherung durch Bestandteile der visuellen Dschihad-Kultur mit Paradiesbildern und heroischen Pathosformen von Mudschaheddin (vgl. Ostovar 2017; Holtmann 2013). Alternativ können diese visuellen und auditiven Dschihad-Codes und -Metaphern als originärer Kern der Kommunikation erachtet werden, für die etablierte und (an-)geeignete formale Ausdrucksmittel samt Strukturelementen eine dem Inhalt nur bedingt adäquate ‚Ausdrucks-‘ und ‚Transportverpackung‘ sind. Dementsprechend wäre die amateurhafte bis semi-professionelle Qualität der Medienarbeit nicht bloß Ausweis designerischer Laienhaftigkeit, sondern auch als Phänomen identitärer Distinktion und Authentizität zu verstehen.

89Eine solche ‚Eventhaftigkeit‘ ließ sich z. B. auch außerhalb der dschihadistischen Sphäre hinsichtlich des Videos Flames of War 2 und dessen Veröffentlichung beobachten, die im Social Web unter Extremismus- und Propagandaforscherinnen und -forschern Ende September 2017 registriert, kommentiert und weiterkommuniziert wurden. Zum Ereignis als den gewohnten Lauf der Dinge unterbrechenden Erlebnis vgl. Becker 2013.

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3.3.5 Zur Beschreibung und Interpretation von Detailformen und Kleinstformatelementen Es ist in diesem Beitrag leider nicht möglich, näher darauf einzugehen, wie Formate und Stilismen, ihre Elemente und Code-Arten im Einzelnen zu beschreiben und zu interpretieren sind. Allerdings bieten hierfür neben Einführungen in die formale Gestaltung etwa des (Spiel-)Films (z. B. Bordwell et al. 2017) Praxishand- und Lehrbücher der Mediengestaltung, Einzelrhetoriken (z. B. Lehn 2011; Schmid 2007), Affektpoetiken (z. B. Schmitt 2009), Texte zu einer umfassenden angewandten Medienästhetik (vgl. Zettl 2011) sowie besonders Arbeiten zur (Multi-)Modalität im Bereich der Social Semiotics (vgl. Kress 2010) nützliche Handreichungen. Wichtiger ist dabei weniger ein – bisweilen zu abstrakter – intermodaler- bzw. interkodaler Systemrahmen als die Fokussierung kleinerer und kleinster Ausdrucks- und Zeichendimensionen, die sonst nicht oder nur sehr grob und flüchtig thematisiert werden. Das betrifft z. B., wie bereits erwähnt, die Gestaltung und den Einsatz von Infografiken und Diagrammen (vgl. Amit-Danhi und Shifman 2018; Bertin 2011 [1967]), mit denen der IS nicht nur über die Propositionen der Buchstaben, Zahlen und Informationen vermittelt, sondern auch über deren Grafikelemente, rhetorische Struktur(en), Epistemologie und ‚dekorative‘ Form Bedeutungen generiert, eine implizite Weltsicht vermittelt und affektiv-emotionale Reaktionen hervorruft. Auch die Logos (Text-Bild-Marken) bzw. Logo-Intro- sowie die Titelsequenzen (s. 3.3.2) lohnen, in weitere Kodalitäten untergliedert und ihre Merkmale bzw. deren Ausprägung analysiert zu werden. Das meint etwa neben der typografischen ‚Materialität‘ der Buchstaben (Stahl, Gold oder Marmor) und ihrer Semantik die Dimension der Animation, die wiederum die Bewegung der Schrift mitbeinhaltet: Unter den Stichworten Semiotik oder Grammatik der Schriftanimation (kinetic typography) (vgl. Brownie 2015) lassen sich z. B. verschiedene „Prozesse“ („change of state“ oder „identity“; „displacement“ – van Leeuwen und Djonov 2015, S. 250) oder Bewegungstypen unterscheiden („‘physical motion that mimics natural phenomena‘ such as ‚falling‘ and ‚bouncing‘ and ‚physiological phenomena‘ that express emotions such as ‚turning red‘ and ‚shedding tears’“ – Minakuchi und Tanaka 2005, S. 222). Solche Detailfokussierungen mögen (allzu) kleinteilig erscheinen, trivial und als fahrlässige Provokation von Überinterpretationen. An einem Beispiel im Beitrag von Simone Pfeifer et al. (in diesem Band) lässt sich aber erkennen, inwiefern auch solche scheinbar beiläufigen kodalen Beschreibungsinstrumente

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hinsichtlich Metaphorik von Animationen in der konkreten Analysearbeit sinnvoll sein können.90 Unabhängig davon empfiehlt sich generell, d. h. auch unabhängig vom Thema Propaganda, die Förderung semiotischer wie formalästhetischer Sensibilität als die einer kritischen Mediengestaltungs- und Medienformatkompetenz – eine, die die eigene Wahrnehmung und deren Muster zu hinterfragen hilft.91

3.4 Technische Formate und Infrastrukturen Formale Referenzen und intertextuelle Stilismen sind nun nicht nur rhetorisch-ästhetische Entscheidungen, sondern auch technisch und techno­ logisch bedingt. Was die erwähnte Games-Anmutung betrifft, sind es erst die Action Cams wie die der Firma GoPro, die die eindringlichen Aufnahmen aus der Ego-Perspektive ermöglichen. An Kopf oder Gewehrlauf befestigt, werden damit Bilder wie aus einem First-Person-Shooter erzeugt bzw. nachgebildet (vgl. Dauber et al. 2019, S. 18). Auch die Verfügbarkeit von Flugdrohnen lässt Top-Down-Aufnahmen aufs Schlachtfeld zu, die an die Karten- oder Gelände-Draufsicht von Strategiespielen erinnern (ebd., S. 20). Inwiefern Spiele selbst sich diese Optik aus anderen Bereichen operationaler Bildlichkeit abgeschaut haben oder wie bewusst und gezielt solche Referenzen gesucht werden, ist, wie oben erwähnt, eine andere Frage. Wenn von ‚technischen Formaten‘ im Kontext praxeologischer, handlungstheoretischer wie textueller Propagandaanalyse die Rede ist, meint dies denn nicht nur Dateiformate (PDF, MP3; s. 3.2.2 u. 3.2.3), sondern auch die für die Medienproduktion, -gestaltung, -distribution und -rezeption nötigen Geräte, die selbst wieder stilistisch-formativ wirken. Videokameras sind kleiner und erschwinglicher geworden und ­Desktop-Publishing, Bild- und Ton-Editing nicht mehr an professionelle Workstations gebunden, sondern als media software (Manovich 2013) auf Heimcomputern, Notebooks und Mobilgeräten verfügbar. Wie Privatanwendern, Künstlern und Aktivisten eröffnet das dem IS seine Möglichkeiten der Vertextung. Allerdings beschränkt sich der IS nicht nur auf Prosumer-Mittel: Die dschihadistischen Medienschaffenden nutzen Equipment, das nach wie vor eher professionelle Medienakteure verwenden, etwa Ansteckmikrofone (auch am

90Zu

Mediengattung und Kodalität Animation s. den Beitrag von Yorck Beese in diesem Band. 91Vgl. dazu auch den Beitrag von Chloé Galibert-Laîné in diesem Band.

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Gewand der Opfer in Hinrichtungsvideos) oder Beleuchtungssets. Und dass bei größeren Produktionen mit zwei Kameras parallel gedreht wird und somit in der Montage dieselbe Szene in verschiedene Einstellungen aufgelöst werden kann, erscheint ungewohnt in der Gestaltungshöhe, bedeutet aber, dass derlei Ausstattung überhaupt erst zur Verfügung steht – wenn sie auch nicht unbedingt richtig eingesetzt wird: In dem Foley-Exekutionsvideo, in den Lend Me Your Ears-Filmen mit John Cantlie oder anderen Produktionen wird der Sprechende z. B. aus zwei gegenläufigen Perspektiven gezeigt: en face, also frontal in die Kamera den Betrachter adressierend, sowie seitlich versetzt, den Sprecher im Akt der Adressierung und quasi außerhalb der parasozialen Konstellation beobachtend. Dieser ‚Umsprung‘ der Perspektive wirkt wie eine reflexive Störung, die die Ansprache bricht, das Künstliche oder Konstruierte der situativen Anordnung bewusst macht und vom Aussagegehalt ablenkt. Er ist dem TVJournalismus abgeschaut, aber ‚falsch‘, aus Gesprächssituationen, in der sich der Gefilmte an eine kopräsente Person (etwa einen Interviewer) wendet, nicht an den Zuschauer. So eingesetzt ist sie, aus den genannten Gründen, rhetorisch kontraproduktiv, als Stilmittel gedacht, aber auch als Unvermögen zu deuten, mit Ausrüstungsfülle (und nicht also einem Ausstattungsmangel) umzugehen. Das verweist wiederum auf eine handfeste Art der Aneignung: die der Erbeutung von Medienequipment oder aber deren Beschaffung über illegale oder zumindest parallel-ökonomische, inoffizielle Kanäle, die eng mit den Netzwerken der Schatten- und Untergrundfinanztransaktionen verwoben sind. Im Darknet wie in Telegram-Kanälen fanden sich Aufrufe und Möglichkeiten, Geld für Kameras zu spenden. Ein Graumarkt besteht auch hinsichtlich des Zugangs des Kalifats zum Internet. Dieser erfolgt über das europäische Satellitennetze und Empfangsgeräte wie die Antenne oder das Modem, die etwa aus der Türkei geliefert werden (vgl. Kwasniewski 2015). Local IS leaders, known as emirs, decide whether private individuals are allowed to have Internet access. In some regions, they have cut the area off entirely, whereas in others, access is given to currency-exchange stands, at Internet cafés or even in the form of neighborhood Wi-Fi networks. But no Internet access is possible without the Islamic State’s permission (ebd.).

Um auch die Hoheit über den TV-Empfang in seinem Einflussgebiet zu gewährleisten, verbot der IS Satellitenschüsseln, forderte deren Herausgabe und zelebrierte deren Demontage und Zerstörung in Propagandavideos (vgl. Naylor und Salim 2016). Das Material selbst wurde nach IS-Angaben für Sprengfallen weiterverwertet (vgl. Dearden 2015).

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Hier bewegen wir uns bereits im Bereich der analogen wie digitalen Infrastrukturen und Plattformen. Propagandapraktisch wie diskursiv sind dabei das Internet und besonders die Sozialen Medien zentral, nicht zuletzt mit Blick auf das „Digital Caliphat“ (Atwan 2015). Wie schon der der Medienformate (s. 3.2) ist allerdings der Begriff der ‚propagandistischen‘ bzw. ‚medialen Infrastrukturen‘ weiter zu fassen. Mit der Einnahme einer Stadt oder Region erlangte der IS neben der Hoheit über die Elektrizitäts-, Wasser- und Gesundheitsversorgung den über das lokale bzw. regionale, staatliche oder privatwirtschaftliche Mediensystem mit seinen Ressourcen: Sendemasten und Produktionsequipments, Studioeinrichtungen, Fachpersonal der Sender oder Freelancer und ihr Know-how. Aufgrund der Bedeutung der Informations- und Indoktrinationsarbeit in ­revolutionär-ideologischen Unternehmungen ist wenig verwunderlich, dass – ähnlich des Polizei- oder Justizwesens und im Unterschied zu neutral funktionellen Bereichen wie dem Straßenbau – hierbei massive Ab-, Auf- und Umbauarbeiten stattfanden, um die Kontrolle über Informationen und deren Ausrichtung zu erlangen und zu sichern. Erwähnt wurde bereits die Zerstörung von Satellitenschüsseln, um Verbindungen nach ‚draußen‘ zu unterbinden. Installiert wurden hingegen sogenannte Media Kiosks. Solche Media Points, die auch in Form von Lkws und propagandistischen Roadshows kleinere Ortschaften ‚versorgten‘, dienten als Verteilungsstelle für Print- und Digitalmaterial (etwa per USB-Stick) (vgl. Koerner 2016). Videoaufnahmen und Bilder aus IS-Produktionen zeigen die Mediakioske zudem als eine Art öffentliches Kino, wo sich abends die Bevölkerung auf Plastikstühlen neueste IS-Filme anschaute und so selbst wieder Material für (Meta-)Propaganda lieferte. Diesem Aufbau einer eigenen Propaganda-Verwaltungsstruktur wiederum standen und stehen basale soziale Infrastrukturen teils zur Seite, teils entgegen: die enorm wirkmächtigen ‚sozialen Netzwerke‘ der persönlichen Mund-zu-Mund-Kommunikation unter Verwandten, Freunden und Nachbarn. ­ Über sie kursieren und mutieren Neuigkeiten, aber auch Gerüchte, ‚Mythen‘ (etwa übertriebene Militärerfolge wie die Einnahme Mosuls 2014 durch den IS, trotz militärischer Übermacht der irakischen Regierung – vgl. Abdulrazaq und Stansfield 2016) und erfahrungsnahe Beispielerzählungen. Sie sind wichtig für ein allgemeines gesellschaftliches Klima oder eine politische Stimmung, in der dem IS etwa mehr regulatorische und militärische Macht zugesprochen werden kann als ihm de facto zukommt. In ihm verbreiten sich aber auch Fakten, die der

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Selbstdarstellung des IS widersprechen. Strategische Narrative des IS wie seiner Gegner können hier einwirken, dies aber nur begrenzt in steuerbarer Weise. Als eine Schicht zwischen oder jenseits des Graswurzel-Austauschs und des technisch-institutionellem Systems war und ist die mobile SocialMedia- oder Smartphone-Infrastruktur mit eigener Nutzungskultur zu nennen, wie sie auch etwa unter syrischen Flüchtlingen eine oder gar die wichtigste technische Kommunikationsebene darstellt (Gillespie et al. 2018; Farman 2015). Das führt zurück zum dominanten Thema digitaler Infrastrukturen – und zur Frage nach der Infrastruktur als analytischer Größe. Generell lässt sich seit einigen Jahren ein sozial- und kulturwissenschaftlicher Infrastructural Turn ausmachen, insofern gerade mediale Infrastrukturen als mehr als nur „material substrates underlying social action“ (Jensen und Morita 2017, S. 615) erkannt und untersucht werden. Die daraus erwachsenen (Information) Infrastructure Studies sind mit anderen, noch jungen Unterbereichen v. a. der Science and Technology oder der Digital Media Studies eng verzahnt: mit etwa Format, Software oder Platform Studies.92 Während der Begriff ‚Infrastruktur‘ vor allem auf die technologischen Einrichtungen und Ressourcen abhebt, auf Eigenschaften „such as ubiquity, reliability, invisibility, gateways, and breakdown“ (Plantin et  al. 2018, S. 294), bezieht sich Plattform eher auf die darauf aufsitzenden Nutzungsund Gestaltungsebenen, die „programmability, affordances and constraints, connection of heterogeneous actors, and accessibility of data and logic through application programming interfaces (APIs)“ (ebd.). Angesichts der analogen in-theatre-Propaganda des IS scheint die Unterscheidung zwischen Plattform und Infrastruktur sinnvoll, weniger aber für die Aneignung des Internets durch den IS für seine Zwecke, da „[d]igital technologies have made possible a ‚platformization‘ of infrastructure and an ‚infrastructuralization‘ of platforms“ (ebd., S. 295). Tatsächlich können Plattformen (wie Social Media und Social Network Services: Facebook, Telegram, Twitter, Reddit, WordPress etc.) als übergeordnete, spezialisierte Stufe

92Platform

Studies etwa definieren Bogost und Montfort als „a new focus for the study of digital media, a set of approaches which investigate the underlying computer systems that support creative work“ (Bogost und Montfort 2009, S. 1). Vgl. dazu auch Fuller 2008, zu Medien- und Informationsinfrastrukturen und ihrer Erforschung Parks und Starosielski 2015, Bowker und Star 2000; zum Zusammenhang von Plattformen und Infrastrukturen neben Plantin et al. 2018 u. a. Constantinides et al. 2018.

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technischer, sozialer, ökonomischer und politischer Infrastrukturen (z.  B. Webdomain-Management, ­ Mobilgeräte-Vertriebsnetzwerke, Cloud-Server, Glasfaserverbindungen, deren Zugangs-, Kontroll- und Finanzierungsroutinen) konzipiert werden. Insofern „infrastructure tends toward being public with other things where platforms tend to private relations“ (Gehl und McKelvey 2019, S. 219), konfligieren demokratische und kommunalistische Web-Ideale nicht nur mit unternehmenskapitalistischer Ideologie. Sie sehen sich nun über die ­IS-Aneignung der Logistik und Logik einer antiliberalen dschihadistischen Indienstnahme gegenüber, die letztlich auf ihre Aufhebung ausgerichtet ist. Wenn denn in dem Zusammenhang etwa „das Darknet“ als „parasitär“ (Gehl und McKelvey 2019) und als Interaktionsnische des IS gehandelt wird, ist dies (jenseits der Biologismus-Implikatur und der faschistischen, entmenschlichenden Gebrauchsgeschichte des Begriffs ‚Parasit‘; vgl. Musolff 2011) nicht nur problematisch, weil solche ‚anonymen‘ und ‚verschlüsselten‘ Networks wie das Tor-Netzwerk keine nennenswerte Rolle für die Verbreitung der I­S-Medientexte spielt – was dort zu finden ist, findet sich auch im ‚Clearnet‘ (und meist dort noch häufiger). Gewichtiger ist, dass aus einer bestimmten Perspektive auch Mainstream-Plattformen technoinfrastrukturelle ‚Parasiten‘ sind. Es hat denn auch wenig Sinn, dem IS wie anderen Dschihadisten wesentlich andere oder eigene Gebrauchs- oder Aneignungsformen gegenüber zivilgesellschaftlichen Akteuren und Aktivisten zuzuschreiben, zumindest in puncto Social Media und Propaganda: Auf Twitter (vgl. Berger und Morgan 2015) und besonders Telegram als primärem Distributionskanal (vgl. Bloom et al. 2017) setzt der IS auf ‚reguläre‘ kommunikative Praktiken der Ansprache und Interaktion, Abstimmung und Organisation, des Managements von Informationen und Bekanntschaften, des Bewertens, Deutens sowie des Weiterverbreitens anderer Medientexte. So sind es die konkreten Inhalte oder deren (potenziellen) Auswirkungen, die exzeptionell und per se problematisch sein mögen. Unabhängig davon sind vier zentrale Arten der digitalen propagandistischen Infrastruktur-Nutzung durch den IS (wie durch andere extremistische Gruppen) zu differenzieren: Die IS-Propaganda-Disseminatoren verbreiten – erstens – ihre Medientexte v. a., indem sie sie a) auf archive.org, justpaste.it, Google Drive oder anderen anonym nutzbaren Filehosting- und Cloudspeicherdiensten einstellen und qua Link zugänglich machen oder b) in Sozialen Netzwerken und Instant-Messenger-Diensten zum direkten Weiterverbreiten und im situativen ­ interaktiven Kontext anbieten.

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Das schließt – zweitens – an das Bilden, Erhalten und Ausbauen von Gemeinschaften im Sinne digitaler Subkulturen oder „Stämme“ (tribes) (vgl. Hamilton und Hewer 2010; McArthur 2009) an. Die Cyber-Infrastruktur eröffnet hierzu auch für den IS Räume und Techniken für phatische und (para-)soziale Praktiken, die wiederum fluide, dynamische und reflexive Identitätskonstruktionen ermöglichen (vgl. Robards und Bennett 2011). Drittens ist das Netz Quelle für Medientexte und -textelemente, auf die reagiert wird und/oder die in die eigenen Videos, Audios oder Schriften eingebaut werden, als Rohstoff oder als Objekt der Reflexion und Anlass diskursiver Erwiderung. So regt also nicht nur das freiflottierende Angebot an IS-Bildund -Tonmaterial, -Motiven und -Ikonografien inklusive einfacher, klarer und starker Zeichen wie das Schwarze-Banner-Logo mit dem Prophetensiegel eine ablehnende oder affirmative Nutzerpartizipation und gar, unter Gleichgesinnten, eine kreativ-produktive Fankultur (vgl. Schäfer 2011; Hills 2009) an. Auch der IS und seine Unterstützer bedienen sich in ihren Produktionen am Materialangebot des Internets: Statements konträrer Geistlicher etwa oder Stock- und Pressefotos – z. B. dem Bild des toten kurdischen Jungen Aylan Kurdi am türkischen Strand, und mit dem in einem Dabiq-Artikel vor die Gefahren der Flucht aus dem ‚Haus des Islam‘ gewarnt wurde.93 Viertens schließlich provoziert der IS mit seinem Propaganda-Output und den Aktivitäten seiner Unterstützer und Sympathisanten webmediale Gegenreaktionen ablehnender Nutzergruppen (z. B. kritische Gegenrede in Form verspottender Memes; vgl. Broderick 2015) und schließlich, etwa im Zuge von erregungsgetriggerter Medienberichterstattung zu dieser Propaganda, bestimmter Kreise der Öffentlichkeit. So besehen gebraucht der IS die Sozialen Medien, um nicht- und anti-dschihadistische Userkreise und über diese traditionelle bzw. redaktionelle Medien zu erreichen – oder aber um ihre (oder sie als) Infrastrukturen indirekt in Dienst zu nehmen. Zum schon lange problematisierten ‚symbiotischen‘ Verhältnis zwischen Terroristen, terroristischen Bildern und Nachrichtenmedien (vgl. Nacos 1994; Wardlaw 1981) kommt hier die partizipative Ebene der Konsumenten als Produzenten und Distributoren hinzu.

93Dabiq,

Nr. 11 (September 2015), S. 22.

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4 Schluss Propaganda, nicht zuletzt die des Islamischen Staats, ist nicht nur ein komplexer Untersuchungsgegenstand, sondern ein Untersuchungskomplex. Als Sammlung kommunikativer, medialer Praktiken und vor allem Medientexte, umfasst sie viele verschiedene kommunikative Gattungen, Modi und Codes und weist inter- und paratextuelle Bezüge auf, die wiederum sowohl inhaltlicher wie struktureller und formalästhetischer bzw. stilistischer Art sind. Um diese interdependente, mehrdimensionale Gesamtstruktur bzw. den ‚phänomenalen‘ Erscheinungsformenreichtum ordnen, beschreiben und im Detail dann analysieren und interpretieren zu können, habe ich zunächst einen propagandamedientextzentrierten Ansatz skizziert, der die Begriffe ‚Form‘ und ‚Format‘ ins Zentrum stellt. Mit ihnen sind aufeinander zu beziehende Bereiche und Aspekte ausgewiesen: v. a. die der formalästhetischen Verfasstheit und Erfahrung sowie der mediengestalterischen Praxismittel und -techniken einerseits, der kommunikativen und medialen Gattungen und Genres, der technischen und materialen Standards und Werkzeuge sowie, allgemeiner, Infrastrukturen andererseits. Auf dieser Grundlage habe ich versucht, im Hauptteil des Beitrags einen Überblick über die IS-Propaganda zu geben. Er zeigt auf, wie organisiert und abgestimmt sie sein kann und welche rhetorisch-persuasiven Potenziale sich daraus ergeben. Zugleich war (und ist) der ‚Unordnung‘ Rechnung zu tragen, die die Pluralität und Heterogenität der vielen erzeugten oder eingesetzten Kommunikationssituationen, Medienformen und -formate, Gattungen bzw. Textsorten, Darstellungsformen und Genres – samt ihren Unterfällen – ergeben. Eine gesamtheitliche, integrative Systematik war und ist daraus nicht, zumindest nicht analysepraktisch sinnvoll, zu entwickeln. Das verweist auf bekannte Probleme etwa der Multi- und Transmedialitätsforschung oder der multimodalen Diskursanalyse. Der Form-Format-Ansatz kann diese nicht lösen, meines Erachtens aber – bei allen theoretischen offenen Fragen und auch Defiziten – materialorientierte untersuchungspraktische Hilfestellung und ein Rahmengerüst für je individuelle Analyseraster offerieren. Ein vollwertiges Modell bietet er allerdings nicht, dafür müsste er zu einer Art theoretischem Dreieck um den Begriff der Aneignung als spezifische Art von Handlung und Praktik ergänzt werden. Explizit wie implizit spielte der Begriff in dem Beitrag bereits eine Rolle, vor allem wenn es um die pragmatische Seite stilistischer Formen oder technologischer Mittel und Ressourcen ging. Genauer darauf einzugehen, war in diesem Text leider nicht möglich und bleibt einem anderen überlassen (vgl. Zywietz und Beese 2020).

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Auch die Übersicht über die IS-Propaganda und ihre Formen und Formate kann hier nur grob und kursorisch sein. Die Hinweise auf bestehende Forschungsergebnisse wie auch mögliche Methoden für weitere und auch ‚feinkörnigere‘ Untersuchungen mögen aber Gelegenheit bieten, sich weiter mit der IS-, aber auch anderen dschihadistischen und nicht-dschihadistischen Propagandismen analytisch und kritisch zu befassen.

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Bernd Zywietz, Dr., Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Nachwuchsforschergruppe Dschihadismus im Internet (Institut für Ethnologie und Afrikastudien, Johannes Gutenberg-Universität Mainz), darin wissenschaftlicher Leiter der Forschungs- und ­ Informationsplattform Online-Propaganda. Gründungs- und Vorstandsmitglied des Netzwerk Terrorismusforschung e. V. und Herausgeber der Buchreihe Aktivismus- und Propagandaforschung (Springer VS).

Ṣalīl al-Ṣawārim: Ein Nashīd und seine Aneignungen Larissa-Diana Fuhrmann und Alexandra Dick

Zusammenfassung

Der Beitrag gibt anhand des Beispiels Ṣalīl al-Ṣawārim einen Überblick über die Nutzung von Anāshīd durch Gruppierungen wie den sogenannten Islamischen Staat (IS). Zudem wird verdeutlicht, wie Online-User*innen der IS-Doktrin in Form von selbst produzierten audiovisuellen Aneignungen entgegnen und dadurch letztlich kulturellen Widerstand gegen den IS selbst üben. Schlüsselwörter

Anāshīd · Gesänge · Hymnen · Musik · Jihadismus · Islamischer al-Ṣawārim · Aneignung · Parodien · Widerstand

Staat · Ṣalīl

Wir sind Marius Botzenhart, Gitarrist, Tontechniker und guter Freund, zu tiefstem Dank verpflichtet, der einen maßgeblichen Beitrag für diesen Artikel leistete, indem er generelle Musikfragen beantwortete, wann immer dies nötig war. Wir wollen des Weiteren unseren Kollegen Majd Alkatreeb für seine Hadith-Recherchen und Übersetzungshilfen sowie Yorck Beese und Mirko Scherf danken, die ihre Gaming-Expertise mit uns teilten. Zu guter Letzt danken wir Scott Havener dafür, dass er uns auf ein Dokument aufmerksam machte, welches das Verhältnis des IS zu Musik ausdrückt. L.-D. Fuhrmann (*) · A. Dick  Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Mainz, Deutschland E-Mail: [email protected] A. Dick E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 B. Zywietz (Hrsg.), Propaganda des „Islamischen Staats“, Aktivismus- und Propagandaforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28751-1_5

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1 Einleitung: Der Nashīd Ṣalīl al-Ṣawārim und seine Aneignungen „Ein Sänger [munshid1] muss die Moral der Kämpfer stärken. Wenn sie im Kampf ein Lied hören, hebt das ihre Moral. Es verleiht ihnen Selbstbewusstsein und sie fühlen sich wichtig.“ So erklärt Mohammad, der sich im Alter von dreizehn Jahren dem sogenannten Islamischen Staat (IS)2 anschloss, die Bedeutung von Gesängen im Kampf in der französischen ARTE-Dokumentation Ashbal – Les lionceaux du califat (Ashbal, die Kindersoldaten der Terrormiliz; 2017, Regie: Thomas Dandois und François-Xavier Trégan). Mohammad nahm an einem Gesangswettbewerb anlässlich des Besuchs eines hochrangigen irakischen ISMitglieds teil. Nach eigenen Angaben gewann er mit einem selbst komponierten Gesang. Wenn Mohammad über Gesänge im Kontext des IS spricht, verwendet er den arabischen Begriff Anāshīd (Singular: Nashīd). Anāshīd beschreiben bestimmte Gesänge oder Hymnen, die nichts per se Jihadistisches darstellen (vgl. Shiloah 1993, S.  975). Gegen Ende des 20.  Jahrhunderts begannen jedoch jihadistische Gruppierungen und Bewegungen, eigene Anāshīd mit entsprechenden Texten zu produzieren (vgl. Said 2016, S. 78). Dies gilt auch für den IS, der Anāshīd in verschiedenen Sprachen wie Arabisch, Englisch, Französisch, Deutsch, Russisch oder Mandarin veröffentlicht. Wie aus dem Dokumentarfilm hervorgeht, kennt Mohammad mehrere IS-Anāshīd, darunter auch den Nashīd Ṣalīl al-Ṣawārim, den er zum Besten gibt. Ṣalīl al-Ṣawārim, übersetzt „Das Klirren der Schwerter“ oder „Das Klingen der Schwerter“, ist einer der bekanntesten IS-Anāshīd3. Er erschien erstmals im vierten und letzten Teil der gleichnamigen Videoreihe, welche das Medienbüro Muʾassasat al-Furqān am 17. Mai 2014 veröffentlichte (vgl. Pieslak und Lahoud 2018, S. 279). Zwar waren die Gebietsansprüche der Gruppierung zu diesem Zeitpunkt noch regional begrenzt, was die Selbstbezeichnung Islamischer Staat in Irak und al-Shām (ISIS) ausdrückt. Aber sie verfolgte bereits eine Agenda der Staatsbildung, was mit

1Ein

Munshid ist der Sänger eines Nashīds (= Gesang, Hymne). benutzen die Wendung ‚sogenannter Islamischer Staat‘, um den Titel der Gruppierung als eine Selbstbezeichnung mit selbst zugeschriebener religiös-politischer Legitimation auszuweisen. Dies gilt auch für die nachfolgende Verwendung der Abkürzung ‚IS‘. 3Der Einfachheit halber benutzen wir die Bezeichnungen IS-Nashīd und IS-Anāshīd für alle Anāshīd, die vom IS oder dessen Vorgänger Islamischer Staat in Irak und al-Shām (ISIS) produziert wurden. 2Wir

Ṣalīl al-Ṣawārim: Ein Nashīd und seine Aneignungen

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territorialer Expansion einherging und schließlich zur Ausrufung des Kalifats am 29. Juni 2014 führte. In diesem Zusammenhang ist der Titel vor allem als Kriegserklärung gegen arabische Regierungen zu verstehen, die in den Augen des IS der Idee eines erst regionalen, dann globalen islamischen Kalifats im Wege stehen, in dem der Islam im Sinne der IS-Doktrin gelebt und praktiziert werden könne. Wohl auch aufgrund seiner gewalttätigen Botschaft wird der Nashīd Ṣalīl al-Ṣawārim häufig in IS-Videos verwendet, die explizite Gewalt darstellen, wie beispielsweise das im Juli 2014 ebenfalls von Muʾassasat al-Furqān veröffentlichte Video ʿAlā Minhāj al-Nubūwwa (Auf der Methodik der Propheten). Auch noch ein Jahr nach seiner Veröffentlichung gehörte Ṣalīl al-Ṣawārim zu den in IS-Videos am häufigsten eingesetzten Anāshīd (vgl. ebd., Table 3). Dass dieser Nashīd in verschiedenen jihadistischen Medien auftaucht, ist nicht überraschend. Bemerkenswert ist jedoch, dass er auch Teil popkultureller Webkultur geworden ist. Der Track und der Text waren bzw. sind bei YouTube und SoundCloud verfügbar. Die Online-Verbreitung über diese Kanäle machte Ṣalīl al-Ṣawārim auch zu einem beliebten Ziel audiovisueller Aneignung. Aneignung definieren wir als den Akt des Schaffens eines neuen Werkes, indem Abbilder oder bildsprachliche Elemente aus einem Kontext in einem anderen Kontext wiederverwendet oder neu zusammengesetzt werden, wodurch sie neue Bedeutung erhalten.4 Hierbei sind ‚Abbilder‘ beziehungsweise ‚Bildsprache‘ in einem weiten Sinne zu verstehen, der sowohl für Visuelles als auch für Klang gilt. Bailes (2009, S. 41) zufolge sind klangliche oder musikalische ‚Images‘ eine Produktion des geistigen Gehörs. Auf visuelle Abbildungen übertragen, würde dies bedeuten, dass diese eine Produktion des geistigen Auges darstellen. Mit diesem breiten Verständnis folgen wir Castells’ (2007, S. 242) Auffassung, dass Medien bildsprachlichen Regeln folgen, die auf visuellen und klanglichen Repräsentationen basieren. In diesem Artikel werden wir daher anhand exemplarischer Beispiele einen Überblick über akustische, visuelle sowie audiovisuelle Aneignung und die darin verwendeten

4Diese

eigene Definition ist angelehnt an Hayley A. Rowe (2011): „Appropriation refers to the act of borrowing or reusing existing elements within a new work. Post-modern appropriation artists, including Barbara Kruger, are keen to deny the notion of ‘originality’. They believe that in borrowing existing imagery or elements of imagery, they are recontextualising or appropriating the original imagery, allowing the viewer to renegotiate the meaning of the original in a different, more relevant, or more current context.“ Auch wenn wir Krugers Kritik am Konzept der ‚Originalität‘ nachvollziehen können, halten wir an ihm fest, betrachten es aber eher als eine Frage der Perspektive denn als Bewertungskriterium für Kreativität.

142

L.-D. Fuhrmann und A. Dick

Abbilder geben.5 In Anlehnung an Castells’ Auffassung, dass Medien den Raum konstruieren, in dem Macht verhandelt wird (vgl. ebd.), argumentieren wir, dass IS-Anāshīd und deren Aneignungen zusammen Teil eines größeren Ringens um mediale Sichtbarkeit und kulturelle Macht sind. Die Praktiken des Produzierens und Appropriierens stellen somit instrumentelle Verfahren oder Techniken dar, um kulturelle Machtverhältnisse medial zu verhandeln und infrage zu stellen, die sich durch moderne, kommunikationsverändernde Technologien verschoben haben: Das Kommunikationssystem der Industriegesellschaft war an den Massenmedien ausgerichtet und durch die massenhafte Verbreitung einer unidirektionalen Botschaft von einem zu vielen gekennzeichnet. Die Kommunikationsbasis der Netzwerkgesellschaft ist das globale Geflecht horizontaler Kommunikationsnetze, welche den multimodalen Austausch interaktiver Nachrichten von vielen zu vielen, sowohl synchron als auch asynchron, beinhalten (vgl. Castells 2007, S. 246). Grundlegend für unseren Artikel ist Al-Rawis (2016, S. 52) Konzept des Anti-ISIS Humors, in dem er Ṣalīl al-Ṣawārim parodisierende audiovisuelle Aneignungen als aktives Engagement gegen terroristische Ideologie definiert, wodurch diese lächerlich gemacht, ihr entgegnet und sie diskreditiert wird, sodass audiovisuelle Aneignungen als kulturelle Widerstandsbestrebungen gegen den IS erachtet werden können. Kulturellen Widerstand definieren wir mit Duncombe (2002, S. 5) als den bewussten oder unbewussten Gebrauch von Kultur, wodurch Akteur*innen vorherrschende Machtstrukturen zu verändern suchen oder sich ihnen entziehen können. Unser Artikel ergänzt Al-Rawis Konzept dahin gehend, dass wir diesen kulturellen Widerstand durch exemplarische Beispiele audiovisueller Aneignung von Ṣalīl al-Ṣawārim illustrieren, wobei der Fokus unserer Analyse auf der Audiovisualität dieser Appropriation liegt. Um dem möglichen Eindruck vorzubeugen, dass Anāshīd ein ausschließlich jihadistisches Phänomen darstellen, befassen wir uns zunächst mit der Etymologie und Vielfalt der Anāshīd-Konzepte, um hervorzuheben, dass die jihadistische Nutzungsweise nur eine von vielen darstellt, wenn auch eine sehr wirkmächtige. Am Beispiel von Ṣalīl al-Ṣawārim zeigen wir daraufhin, wie jihadistische Gruppierungen Anāshīd für sich nutzen. Dass der IS seine Anāshīd online verbreitet, bedeutet auch, dass diese im virtuellen Raum auf massiven kulturellen Widerstand treffen. Dies verdeutlichen wir anhand von drei Beispielen, deren Aneignungsstrategien von akustischer über visuelle bis hin zu kombinierter, audiovisueller Aneignung reichen. 5In

einem kommenden Beitrag mit dem Titel Contested Chants: The Nashīd Ṣalīl alṢawārim and its Appropriations werden wir uns detaillierter mit weiteren Strategien audiovisueller Aneignungen von Ṣalīl al-Ṣawārim befassen (vgl. Dick und Fuhrmann in Vorb.).

Ṣalīl al-Ṣawārim: Ein Nashīd und seine Aneignungen

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2 Etymologie, Konzepte und jihadistische Verwendung von Anāshīd In der Literatur zu Jihadismus und zum IS werden Anāshīd oft schlicht als „Jihad-Hymnen“ bezeichnet (vgl. z. B. Prucha 2018). Dies lässt jedoch ihre ­ umfangreiche nicht-jihadistische Geschichte und Gegenwart wie auch ihre religiös und kulturell vielfältigen Erscheinungsformen außer Acht (vgl. Ufuq e. V. 2016a, b). Die Ursprünge von Anāshīd haben in der Tat nichts mit Jihadismus zu tun. Wie an anderer Stelle ausgeführt,6 liegen diese im inshād al-shiʿr, einer mit lauter Stimme vorgetragenen Gedichtrezitation, die auf den Begriff inshād zurückgeht, was ursprünglich das Heben der Stimme bezeichnet (vgl. Shiloah 1995, S. 4). Auch der Begriff Nashīd bezog sich zunächst auf das Heben der Stimme; seine erweiterte musikalische Bedeutung entwickelte sich wahrscheinlich aus dem melodischen Rezitieren von Gedichten im öffentlichen Raum (ebd., S. 5). Diese Ausdifferenzierung musikalischer Formen lässt sich durch die metrische Anordnung von Poesie erklären, die eine bestimmte Intonation vorgibt. Anāshīd wurden daher allmählich gleichbedeutend mit Hymnen, Gesängen oder Oratorien (vgl. Shiloah 1993, S. 975). Über Jahrhunderte hinweg waren religiöse Gesänge „sakraler Natur“ im Sufismus7 vorherrschend (vgl. Sellheim 1995, S. 1018). Darin wird der Begriff samāʿ für diese Gesänge verwendet. Da samāʿ alle Arten sakraler oder religiöser Gesänge und Musik umfasst (vgl. Shiloah 1995, S. 59), können Anāshīd hierunter subsumiert werden, auch wenn dies nirgends explizit formuliert ist (vgl. Said 2016, S. 91). Eine mögliche Erklärung dafür ist, dass Anāshīd in den letzten Jahrzehnten zunehmend für politische und jihadistische Zwecke genutzt wurden, die mit sufischen Islaminterpretationen konkurrieren. Islamistische und jihadistische Gruppierungen vermeiden daher womöglich die Verwendung eines sufischen Begriffs zur theologischen Kategorisierung von Anāshīd. Islamistische Gruppierungen wie die Muslimbruderschaft begannen Ende des 20. Jahrhunderts im Zuge eines vermehrten Einsatzes durch nationalistische Bewegungen (Weinrich in Vorb.), unter dem Einfluss eines „Islamischen Wiedererwachens“ und eines generellen Aufstiegs des

6Große

Teile des folgenden Abschnitts zur Etymologie und Geschichte der Anāshīd wurden bereits in dem Artikel The Sounds of the Shuhadāʾ: Chants and Chanting in IS Martyrdom Videos veröffentlicht (vgl. Dick 2019). Für diesen Artikel wurden kleine Änderungen vorgenommen. 7Unter dem Begriff Sufismus werden verschiedene asketische und mystische Strömungen innerhalb des Islam gefasst.

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­Islamismus, selbst Anāshīd einzusetzen (vgl. Said 2016, S. 45), die als Instrument zur Mobilisierung dienen sollten (vgl. Lahoud 2017, S. 46; Said 2016, S. 78). Aus Sicht dieser Gruppierungen repräsentieren jihadistische Hymnen sakrale Gesänge, die im Gegensatz zur rechtswidrigen, weltlichen Musik stehen. Um diesen Unterschied zu markieren, werden jihadistische Anāshīd, einschließlich derer des IS, generell a cappella gesungen, beeinflusst von salafistischwahhabitischer8 Doktrin, die den Gebrauch von Musikinstrumenten verbietet und den Einsatz von Rhythmusinstrumenten stark einschränkt (Said 2016, S. 78). Im Januar 2014 veröffentlichte der IS eine Erklärung mit dem Titel Bayān ʿan Manʿ al-Mūsiqā wa-l-Ghināʾ wa-l-Ṣuwar ʿalā al-Maḥallāt (Bekanntgabe des Verbots von Musik, Singen und Fotos in Geschäften): „Wisse, dass Saiteninstrumente9 und Lieder10 im Islam verboten sind, weil sie von der Erwähnung Gottes und des Korans ablenken und sie eine Quelle der Zerrissenheit und des Verderbens für das Herz darstellen“ (zit. n. Al-Tamimi 2015, Übers. durch die Autorinnen). Diese Auffassung sakraler Gesänge, bei dem das gesungene, religiös gerahmte Wort im Mittelpunkt steht, wurde dem bereits erwähnten sufischen samāʿKonzept entlehnt. Zu den in diesem Artikel behandelten jihadistischen Anāshīd kommen popkulturelle Formen hinzu, die zeitgenössische muslimische Religiosität zum Ausdruck bringen. Diese sogenannten Pop-Anāshīd sind weltweit insbesondere bei muslimischen Jugendlichen beliebt (vgl. Pieslak 2009, S. 61; Said 2016, S. 15 f.). Diese Popularität kann auch die Verwendung von Anāshīd im Jihadismus erklären: Als integraler Bestandteil von Jugendkulturen können sie als ein wirkmächtiges Instrument dienen, um jihadistische Botschaften zu vermitteln und in den Alltag junger Menschen zu integrieren. Dementsprechend beschrieb Anwar al-Awlaki (2009), eine weltweit wirkmächtige Führungsfigur der jemenitischen al-Qaʿida, Anāshīd als besonders inspirierend für Jugendliche, die ihm zufolge das Fundament des Jihads bilden.

8Der

Begriff Salafismus wird zur Bezeichnung bestimmter Strömungen des sunnitischen Islam verwendet, welche die Rückbesinnung auf die Anfänge des Islam anstreben, gleichzeitig aber moderne politische Entwicklungen für sich vereinnahmen (vgl. Biene 2015). Der Wahhabismus bezeichnet die vor allem in Saudi-Arabien verbreitete Form eines politischen Salafismus. 9Das verwendete arabische Wort lautet maʿāzif (Singular: miʿzaf). 10‚Singen‘ ist hier eine Übersetzung des arabischen Wortes ghināʾ, das inzwischen generisch für jegliche Form von säkularer Kunstmusik verwendet wird (vgl. Shiloah 1995, S. 5).

Ṣalīl al-Ṣawārim: Ein Nashīd und seine Aneignungen

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3 Der Nashīd Ṣalīl al-Ṣawārim In IS-Anāshīd werden verschiedene Themen behandelt. So zielt beispielsweise der zu ISIS-Zeiten veröffentlichte Nashīd Ummatī Qad Lāḥa Fajrun11 („Meine Umma, die Dämmerung ist angebrochen“) in erster Linie darauf ab, die ‚frohe Botschaft‘ eines nahenden islamischen Staates zu verkünden. Unter den beliebtesten IS-Anāshīd ist jedoch der Kampf als Thema vorherrschend, wie Pieslak und Lahoud (2018, Table 4) in ihrer Analyse von 17 IS-Anāshīd zeigen, die am häufigsten in einer Auswahl von 58 zwischen Mai 2015 und März 2016 veröffentlichten IS-Videos vorkamen. Kampfhandlungen wurden in 13 von 17 Anāshīd thematisiert, darunter auch Ṣalīl al-Ṣawārim: [Refrain:] Das Klirren der Schwerter ist der Nashīd der Trotzigen und der Pfad des Kampfes ist der Pfad des Lebens. Inmitten eines Angriffs wird die Tyrannei zerstört. […] [Strophe 2:] Also erhebe dich, mein lieber Bruder, auf den Pfad der Erlösung, sodass wir gemeinsam gehen, uns gegen die Angreifer zur Wehr setzen, unsere Ehre erhöhen und unsere Stirn heben können, die sich nur vor Gott verbeugt.12

Kämpfen hat eine positive Konnotation für den IS und jihadistische Gruppierungen im Allgemeinen, wie die Zeile „der Pfad des Kampfes ist der Pfad des Lebens“ (wa-darb al-qitāl ṭarīq al-ḥayāt) verdeutlicht. Im Jihadismus wird der Jihad aus zweierlei Gründen als Quell des Lebens wahrgenommen: Erstens geht er mit territorialen Eroberungen einher, sodass die einzige akzeptierte Weise, Islam zu leben und zu praktizieren, verbreitet wird. Zweitens verstehen sogenannte Jihadist*innen den Tod im Jihad als einen Weg, um das ewige

li-l-Intāj al-Iʿlāmī (2013). von Alexandra Dick.

11Muʾassasat Ajnād 12Übersetzung

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Leben im Paradies zu erlangen. Laut dem Nashīd-Text nimmt dieser Kampf die „Tyrannei“ (ṭughāt) ins Visier. Diesen Begriff verwendet der IS häufig für sunnitisch-arabische Regierungen und Regime, wie beispielsweise SaudiArabien, die in seinen Augen nicht den ‚wahren Islam‘ praktizieren und ein Hindernis für das islamische Kalifat darstellen, wie es dem IS vorschwebt. Der IS verlasse sich nicht auf menschliche, sondern vielmehr auf göttliche Führung, so die Selbstdarstellung: IS-Mitglieder verbeugten sich „nur vor Gott“. Im Dienst dieser religiösen Eigenlegitimierung spielen theologische Koran- und ­Hadith-Referenzen13 eine wichtige Rolle in IS-Anāshīd.14 Im Falle von Ṣalīl alṢawārim ist die Verwendung des Begriffs Ṣawārim („Schwerter“) bemerkenswert, da dieser einen in bestimmten Hadithen gebrauchten, veralteten Ausdruck darstellt. Darüber hinaus ist der Nashīd-Text inklusiv („wir“) und lädt den Hörer („Bruder“) dazu ein, am Kampf des IS teilzuhaben. Diese thematische Fokussierung aufs Kämpfen findet sich in der musikalischen Komposition sowohl von Ṣalīl al-Ṣawārim als auch von den populärsten IS-Anāshīd im Allgemeinen wieder. Von den 17 von Pieslak und Lahoud (2018, Table 4) analysierten IS-Anāshīd hatten 11 ein schnelles Tempo von 118 Schlägen pro Minute (BPM) oder mehr, was angesichts der thematischen Ausrichtung nicht überraschend erscheint. Mit einem Tempo von 130 BPM gilt dies auch für Ṣalīl al-Ṣawārim. Dies könnte erklären, warum der Nashīd in den bereits erwähnten Videos Ṣalīl al-Ṣawārim, Teil 4 und Auf der Methodik der Propheten immer dann zu hören ist, wenn Feuergefechte und Tötungen gezeigt werden. Indem der IS Anāshīd mit schnellen Tempi für gewaltvolle Szenen nutzt, folgt er etablierten Medienkonventionen, die auch in Spielfilmen Anwendung finden, so wenn etwa über ‚treibende‘ Filmmusik Spannung erzeugt werden soll. Neben der thematischen Ausrichtung und dem Tempo sind viele andere musikalische Elemente von Ṣalīl al-Ṣawārim charakteristisch für IS-Anāshīd: Es handelt sich um einen dreiminütigen, nur von Männern gesungenen a cappella-Gesang. Dessen Haupt- oder vielleicht sogar einziger Munshid ist ­ bekannt als Abu Yasir. Er ist neben Maher Meshʿal der wohl populärste NashīdSänger des IS (vgl. Pieslak und Lahoud 2018, Table 4). Ṣalīl al-Ṣawārim ist in der arabischen Tonskala Maqām al-Faraḥfazā mit F als Grundton komponiert, was generell der natürlichen f-Moll-Tonleiter ‚westlicher‘ Musiktheorie ent13Der

Begriff Hadith bezeichnet die Überlieferungen der Aussprüche und Handlungen des Propheten Muhammad sowie seiner Billigung von Handlungen Dritter. Zusammen mit dem Koran bilden diese den Hauptorientierungsrahmen im Islam (vgl. Speight 2019). 14Für eine Analyse der theologischen Referenzen von in IS-Märtyrervideos verwendeten Anāshīd siehe Dick (2019).

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spricht.15 Das Musikstück hat einen begrenzten dynamischen und melodischen Umfang und eine klare Strophenstruktur, welche den Zuhörer*innen Orientierung bietet: Refrain – Refrain – Strophe 1 – Refrain – Strophe 2 – Refrain – Refrain – Strophe 3 – Refrain – Refrain – Refrain – kurzes Outro, wobei die letzte Zeile und/oder der Titel wiederholt werden. Wiederholungen sind generell üblich in IS-Anāshīd, wobei diese bezogen auf die jeweils letzte Zeile der Strophe und/oder des Refrains häufig dazu dienen, Übergänge zu markieren. Gråtrud (2016, S. 1063) argumentiert, dass dieser repetitive Aufbau von IS-Anāshīd in Kombination mit deren animierenden Rhythmen die Verinnerlichung der Kernbotschaft begünstigt. Im Falle von Ṣalīl al-Ṣawārim steckt die Kernbotschaft bereits im Titel, der nicht nur in einer untergeordneten Gesangsstimme während der Strophen wiederholt, sondern auch wortwörtlich in einen Klang übersetzt wird in Form eines metallischen Schwerterklirrens, das zwei Mal im Nashīd auftaucht. Zudem werden Overdubbing (das Hinzufügen einer oder mehrerer weiterer Tonspuren), Tonhöhenkorrektur, digitaler Hall und Delays (Echos) eingesetzt, um die Stimme einheitlich und den Nashīd kraftvoll klingen zu lassen.

4 Kultureller Widerstand online – Aneignungsformen von Ṣalīl al-Ṣawārim Bei der Verbreitung von IS-Anāshīd und jihadistischen Inhalten im Allgemeinen spielt das Internet eine bedeutende Rolle. Der IS baute eine elaborierte digitale Infrastruktur auf, welche Wissenschaftler*innen und Journalist*innen bereits ausführlich beschrieben haben.16 Die Affordanzen des Internets haben die Politik, gerade im Nahen Osten, maßgeblich beeinflusst, wo Social-MediaInhalte eine treibende Kraft des so genannten Arabischen Frühlings darstellten. Diese Demokratisierung der Content-Erstellung wurde durch neue Technologien gefördert, welche die allgemeine Medienproduktion ab den 1970er Jahren zugänglicher, erschwinglicher und nutzerfreundlicher machten (vgl. Jenkins 2006, S. 11 ff.). Insbesondere das Aufkommen interaktiver Webseiten wie Flickr, YouTube und Wikipedia in den 2000ern ermöglichte es einer wachsenden Zahl

15Die

Noten von Maqām al-Faraḥfazā und der natürlichen f-Moll-Tonleiter sind F, G, As, B, C, Des, Es. Bei Ṣalīl al-Ṣawārim kommt in einem Zwischenteil, welcher die Strophe mit dem Refrain verbindet, die Note Ges hinzu, wodurch eine eigenwillige Harmonie entsteht. 16Zur vertiefenden Lektüre empfehlen wir in diesem Zusammenhang Islamic State: The Digital Caliphate (Atwan 2015).

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von Nutzer*innen, Texte, Audios, Fotos und Videos online zu verbreiten, was unter den Begriff ­ User-generated Content (UGC) gefasst wird.17 Außerdem wurden Plattformen geschaffen, auf denen sich Amateur*innen und bildende Künstler*innen in parallelen (Kunst-)Welten unabhängig von traditionellen Gatekeepern wie Kurator*innen, Redakteur*innen und Galerist*innen austauschen können (vgl. Chin-Fook und Simmonds 2011, S. 21 f.). Mit Programmen zur Audio- und Bildbearbeitung ausgestattet sind SmartphoneBesitzer*innen mit globalen Netzwerken verbunden, sodass sie ihre neuesten Kreationen unmittelbar teilen können. Mit einem Tweet können potenziell Millionen von Menschen erreicht und die Grenzen von Nationalität, Klasse bzw. sozialem Milieu, Race, Gender18 und politischer Gesinnung überwunden werden. Die innovativen Kommunikationsmöglichkeiten der virtuellen Räume machte sich auch der IS zunutze. Daraufhin begannen zahlreiche Akteur*innen, darunter Staaten, politische Organisationen und private Nutzer*innen, die Inhalte des IS gezielt online zu bekämpfen. Das Internet hat all diesen Akteur*innen ein Werkzeug der kulturellen Selbstermächtigung an die Hand gegeben, um Macht und Gegenmacht neu auszuhandeln (vgl. Al-Rawi 2016, S. 56 f.). Wie das folgende Beispiel zeigen wird, ist die Kategorisierung von Macht und Gegenmacht beziehungsweise Widerstand relational. Ṣalīl al-Ṣawārim als Hauptbezugspunkt gibt den Rahmen unserer Analyse vor. Folglich begreifen wir die hier analysierten Aneignungen als Akte des kulturellen Widerstands gegen den IS. Während es in manchen Fällen schwierig einzuschätzen ist, ob das Brechen mit der IS-Doktrin in der bzw. durch die audiovisuelle Aneignung tatsächlich intendiert ist, bleibt der (mögliche) Effekt des kulturellen Widerstands davon relativ unberührt. Dies wollen wir anhand eines Piano-Covers verdeutlichen, welches durch den Einsatz von Musikinstrumenten gegen die zuvor erwähnte Bekanntgabe des Verbots von Musik, Singen und Fotos in Geschäften verstößt. Ergänzend betrachten wir ein weiteres Beispiel akustischer Aneignung in Form eines Sing-Along, in dem die ursprüngliche Botschaft rein visuell durch neue Denotationen überlagert wird. Beide Formen und ihre Dimensionen von Aneignung kommen in unserem letzten Video-Beispiel zusammen, worin zunächst eine IS-Enthauptung nachgestellt wird, die sich dann zu einer Tanzperformance entwickelt, was abermals IS-Doktrin unterminiert. 17Näheres

zum Aufkommen von UGC kann dem von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) veröffentlichten Bericht Participative Web: User-generated Content (2007) entnommen werden. 18Wir benutzen die englischen Begriffe Race und Gender, um auszudrücken, dass es sich hierbei um soziale Zuschreibungen und nicht etwa um biologische Merkmale handelt.

Ṣalīl al-Ṣawārim: Ein Nashīd und seine Aneignungen

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Abb. 1   Screenshot aus Salil Sawarim (Synthesia piano cover)

4.1 Akustische Aneignung: Piano-Cover Die Tatsache, dass der IS laut seiner Bekanntgabe „Saiteninstrumente“ ablehnt, deutet bereits auf eine Strategie der akustischen Aneignung hin: Durch den Einsatz von Musikinstrumenten verliert der erzeugte Klang seinen Status als Nashīd und kann daher nicht länger als sakral im Sinne des IS kategorisiert werden. Dies gilt auch für das animationsbasierte Piano-Cover Salil Sawarim (Synthesia piano cover).19 Es kombiniert das klangliche Abbild von Ṣalīl al-Ṣawārim auf dem Klavier mit dem visuellen Abbild einer Klaviatur und der visuellen Darstellung von Musik durch Balkengrafiken in der Art eines Tutorials. Am unteren Rand befindet sich die Klaviatur eines modernen Standard-Klaviers, wobei die höchste (weiße) Taste fehlt. Alle Tasten sind ­ mit den Namen der jeweiligen Noten beschriftet. Die zu drückenden (bzw. im Video gedrückten) Tasten werden zusätzlich farblich hervorgehoben, wobei die in der linken Hand blau und die in der rechten Hand gelb sind. Basierend auf der Ästhetik des beliebten Videospiels Guitar Hero fliegen die Noten vertikal als Balken ins Bild, sodass sich der*die Klavierspieler*in auf die nachfolgenden Noten vorbereiten kann. Diese Balken landen dann mit kleinen visualisierten ‚Explosionen‘ auf den zu drückenden Tasten (s. Abb. 1). Die Länge der Balken

19Verfügbar

unter: https://www.youtube.com/watch?v=7bWI0J7Kxok. Zugegriffen: 01.10.2019. Der Begriff Cover wird in der Videobeschreibung selbst gewählt; er entspricht im Deutschen etwa dem der ‚Coverversion‘.

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und die vertikalen Abstände dazwischen geben den Notenwert, also die Dauer einer einzelnen Note, bzw. die Pausen zwischen den Noten an. Diese Elemente bilden zusammen den Rhythmus von Ṣalīl al-Ṣawārim. Durch die Visualisierung all dieser musikalischen Merkmale von Ṣalīl ­al-Ṣawārim dient das Piano-Cover auch als Tutorial, welches nicht nur einem ­IS-Nashīd zu mehr Bekanntheit verhilft, sondern auch anderen beibringt, ihn auf dem Klavier zu spielen. In dieser Hinsicht könnte das Piano-Cover also Fan-Art darstellen. Die Analyse der YouTube-Kommentare zeichnet allerdings ein anderes Bild. Hierbei sticht ein Kommentar hervor, da er die Relationalität von kultureller Macht und kulturellem Widerstand herausstellt: I asked if I could play a song in music class. The teacher gave me access to the piano and I started playing this song.20

In schulischen Kontexten befinden sich Lehrer*innen in der Regel in machtvolleren Positionen als Schüler*innen. Diese*r Schüler*in nutzte Ṣalīl ­al-Ṣawārim also in subversiver Weise, um existierende Machtstrukturen neu zu verhandeln und die Autorität der Lehrkraft herauszufordern. Dies ändert allerdings nichts an der Tatsache, dass der Einsatz eines Klaviers mit IS-Doktrin bricht. Dessen scheinen sich die User*innen, die dieses Video kommentieren, durchaus bewusst zu sein, wie folgende Posting-Beispieltexte zeigen: • Stop it! Pianos are haram! XD • My piano is trying to behead me….is this normal? • my piano just blew up21 All diese Kommentare beziehen sich auf die Einordnung des IS von „Saiteninstrumenten“ als unzulässig, was in der oben genannten Bekanntgabe verankert ist. Das darin verwendete arabische Wort maʿāzif (Singular: miʿzaf) ist ein Begriff, der heute sowohl für Saiten- oder Blasinstrumente als auch für das Klavier verwendet wird (vgl. Farmer 1991, S. 189 f.). Letzteres ist im

20„Ich

fragte, ob ich ein Lied im Musikunterricht spielen dürfte. Der Lehrer ließ mich ans Klavier und ich begann, dieses Lied zu spielen.“ 21„Hört auf damit! Klaviere sind haram! XD“; „Mein Klavier versucht, mich zu enthaupten ….ist das normal?“; „Mein Klavier ist gerade explodiert“ – Die Autorinnen sind sich der Brutalität des IS vollkommen bewusst und distanzieren sich entsprechend vom Inhalt dieser Kommentare.

Ṣalīl al-Ṣawārim: Ein Nashīd und seine Aneignungen

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Zusammenhang dieses Covers erwähnenswert, obwohl wir davon ausgehen, dass weder der*die Produzent*in noch die Kommentierenden die Bekanntmachung kennen. Umso bemerkenswerter ist daher ihr Bewusstsein, durch den Einsatz eines Klaviers mit IS-Doktrin zu brechen. Der Fall des palästinensischsyrischen Pianisten Aeham Ahmad erhielt etwa international große Aufmerksamkeit. Sein Klavier wurde von einem IS-Mitglied angezündet, als der IS im Jahr 2015 die Kontrolle über Yarmuk, einen Stadtteil der syrischen Hauptstadt Damaskus, erlangte. Dieses brennende Klavier wurde zum Sinnbild des Lebens unter der Herrschaft des IS (vgl. Abdelaziz 2015). Während diese Piano-Coverversion also möglicherweise auch den Bekanntheitsgrad eines IS-Nashīds erhöht, motiviert es andere in noch größerem Maße zu einer aus Sicht des IS rechtswidrigen Handlung, was das Video und seine Verbreitung – im Ergebnis und nicht unbedingt intendiert – zu einem Beispiel des kulturellen Widerstands macht.

4.2 Visuelle Aneignung: Misheard Lyrics Bei der Erstellung visueller Inhalte und Aneignungen wie GIFs, Memes und Videos scheint die Kreativität der Online-Nutzer*innen keine Grenzen zu kennen. Dies trifft auch auf Anti-IS UGC zu. ISIS Song Saleel Sawarim Presidential Sing Along Parody22 kontert dem IS gänzlich ohne akustische Modifikation. Stattdessen wird dem Nashīd Ṣalīl al-Ṣawārim eine visuelle und schriftsprachliche Dimension in Form von satirischen Liedtexten hinzugefügt, um die Aufmerksamkeit der Betrachter*innen umzulenken. Solche Videos werden als Mondegreens (vgl. Smith 2003) oder auch Misheard Lyrics-Versionen bezeichnet, also falsch verstandene Liedtext-Versionen, bei denen gesungene Wörter unabhängig von ihrer eigentlichen Bedeutung anhand ihrer Phonetik in geschriebene Wörter übersetzt werden (vgl. Shifman 2014, S. 108). Über den anglophonen Kontext hinaus sind sie im Japanischen als Soramimi (vgl. Beck et al. 2014), im Frankophonen als Mots d‘Heures (vgl. Weissmann 2014) und im deutschsprachigen Raum als Agathe-Bauer-Songs bekannt. Charakteristisch für diese Phänomene ist ihre Textverbalisierung, die sich aus homophonen Übersetzungen ableitet, wodurch sich skurrile Referenzen und Bedeutungen ergeben (vgl. Otake 2007). So wird in ISIS

22Von YouTube

entfernt: https://www.youtube.com/watch?v=Ft071uT3hfM.

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Abb. 2   Screenshot aus ISIS Song Saleel Sawarim Presidential Sing Along Parody

Song Saleel Sawarim Presidential Sing Along Parody der arabische Gesangstext wa-darbu-l-qitāli23 („der Pfad des Kampfes“) in der Songuntertitelung zu What, the bull bit Ali? („Was, der Bulle hat Ali gebissen?“), was zudem durch einen abgebildeten Pitbull illustriert wird (s. Abb. 2). Der arabische Text wird also durch eine satirischen und teilweise unsinnige Übersetzung ins Englische ersetzt, welche die ursprüngliche akustische Botschaft des Nashīds mit neuen Denotationen überlagert. Im Kontext von I­S-Anāshīd erhält diese Aneignungsstrategie eine besondere Bedeutung, da hier der Text als zentrales Element gilt, um Anāshīd als sakral zu klassifizieren. Wie in Sing-Along-Videos üblich wird der Text im unteren Teil des Bildschirms eingeblendet. Doch während normalerweise Farbänderungen den Liedverlauf anzeigen, leiten hier ‚hüpfende Köpfe‘ ehemaliger US-Präsidenten und Präsidentschaftskandidat*innen durch den Nashīd. Dabei führen die Politiker*innen vorbei an Illustrationen verschiedener ‚falsch verstandener‘ Wörter in Form von Fotos, Porträts, Logos und Cartoons. Dazu zählen u. a. ‚orientalisierende‘

23Wir

haben die Transliteration wa-darb al-qitāl (s. Punkt 3) leicht verändert, um die Phonetik des Arabischen auszudrücken, die hier zentral ist.

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Darstellungen wie ein Jinn aus der Flasche, Schweineköpfe, was als Provokation gegen muslimische User*innen interpretiert werden kann, sowie ein Porträt des Philosophen, Kulturkritikers und Atheisten Friedrich Nietzsche. Die teilweise dadaesken visuellen Ergänzungen unterhalten, verwirren oder provozieren Rezipient*innen je nach ihrer kulturellen Prägung. Wann immer der Titel Saleel al-Sawarim24 auftaucht, wird der Buchstabe „l“ bei Saleel durch Schwerter titelillustrierend ersetzt. Nachdem die Köpfe der US-Politiker*innen ihren Zweck erfüllt und die Zuschauer*innen durch mehrere Strophen und Refrains geführt haben, werden sie am Ende des Nashīds nacheinander auf diese Schwerter aufgespießt.

4.3 Audiovisuelle Aneignung: Re-enactment Unser letztes Beispiel, Ṣalīl al-Ṣawārim – „Maskhara“ Tariyaqa ʿalā ­al-Dawāʿish bi-Jumhūriyyat Dār al-Salām25 („Das Klirren der Schwerter – Parodie von ISAngehörigen in der Republik des Hauses des Friedens“), führt akustische und visuelle Aneignungsstrategien zusammen. In diesem Amateurvideo stellen mehrere Personen die Szene einer IS-Massenenthauptung nach, während im Hintergrund eine bereits geremixte Version von Ṣalīl al-Ṣawārim ertönt.26 Dieses Nachstellen oder Nachahmen wird auch als ­Re-enactment bezeichnet. In unserem Beispiel stehen vier schwarzgekleidete Männer in schwarzen Sturmhauben hinter vier in einer Reihe knienden und in Rottönen gekleideten, männlichen Personen und halten ihnen Messer an die Kehlen (siehe Abb. 3). Unter den knienden Personen befinden sich auch drei Kinder bzw. Jugendliche, was nahelegt, dass es sich um eine Familie handeln könnte. Die Farbe der Kleidung von ‚Tätern‘ und ‚Opfern‘ sowie deren Positionierung im Raum assoziieren speziell IS-Exekutionsvideos. Der Eindruck der professionell

24Diese

Schreibweise entspricht der des Videos. unter: https://www.youtube.com/watch?v=JZeT1XVr3R8. Zugegriffen: 01.10.2019. Der im Titel verwendete Begriff Dār al-Salām („Haus des Friedens“) bezeichnet, ebenso wie Dār al-Islām („Haus des Islam“), Gebiete mit islamischer Führung und Rechtsprechung, in Abgrenzung zu Gebieten, die Teil von Dār al-Ḥarb („Haus des Krieges“) sind (vgl. Albrecht 2016). Der IS und andere jihadistische Gruppierungen nutzen diese Unterscheidung zur Legitimierung militärischer Unterwerfung (vgl. Funke 2018). 26Eine ausführliche Beschreibung eines Videos mit demselben Meme wird in Kürze bei Fuhrmann, Pfeifer und Wevers (in Vorb.) zu finden sein. 25Verfügbar

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Abb. 3   Screenshot aus Ṣalīl al-Ṣawārim – „Maskhara“ Tariyaqa ʿalā al-Dawāʿish biJumhūriyyat Dār al-Salām

produzierten IS-Aufnahmen steht allerdings im starken visuellen Kontrast zum intimen Wohnzimmersetting und zur Amateur-Handkamera, welche die Szene festhält. Diese Faktoren deuten bereits darauf hin, dass es sich hierbei um kein Gewaltvideo, sondern um die Parodisierung einer Hinrichtung handelt.27 Die ersten fünfzehn Sekunden, in denen die Protagonisten nebeneinanderstehen oder -knien, hält sich der Clip an dessen klassische Dramaturgie. Erst die akustische Zäsur eines Allāh Akbar-Rufes („Gott ist größer“), welcher auch im Ṣalīl ­al-Ṣawārim-Remix den Übergang zu einem neuen Teil markiert, löst die Situation auf. Die in der starren Positionierung symbolisierte Hierarchie zwischen Tätern und Opfern wird schlagartig aufgebrochen und alle beginnen in einer exaltierten Weise zu tanzen, die an den Harlem Shake28

27Vgl.

zu Videogenres auch den Beitrag von Bernd Zywietz in diesem Band. Harlem Shake war vor ein paar Jahren ein beliebtes Tanz-Meme (vgl. dazu u. a. Lotan 2013). 28Der

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erinnert. Nach s­ alafistisch-wahhabitischer Doktrin gilt neben dem Gebrauch von Musikinstrumenten auch Tanz als bidʿa (vgl. Wöhler-Khalfallah 2004, S. 78), also als unerlaubte Neuerung (vgl. Krämer 2005, S. 265). Insofern widersetzen sich die Protagonisten dem IS in doppelter Hinsicht. In seinem regionalen Kontext geht das Video sogar noch über kulturellen Widerstand hinaus. Es ist Teil eines übergeordneten Internetphänomens, das sich im Jahr 2015 insbesondere in Ägypten viral verbreitete und arabischsprachige YouTuber*innen dazu motivierte, ihre eigenen den IS parodisierenden Re-enactments zu produzieren. Während die Anzahl der Protagonist*innen und die Räumlichkeiten variieren, verbindet der hier verwendete Remix von Ṣalīl al-Ṣawārim die meisten dieser Versionen, indem er die Choreografie von einer nachgestellten IS-Enthauptung hin zu einer improvisierten Tanzperformance vorgibt. In einem politischen und soziopsychologischen Kontext betrachtet können diese Videos folglich auch als Kompensationsstrategien im Angesicht einer regionalen Bedrohung verstanden werden.

5 Zusammenfassung und Ausblick: Limitationen der Online-Forschung In diesem Artikel haben wir die Leser*innen in das Thema bestimmter Gesänge, sogenannter Anāshīd, eingeführt und deren jihadistische Nutzung durch den IS näher beleuchtet. IS-Anāshīd vereinen drei Kernelemente: islamisch-religiöse Praktiken, salafistisch-wahhabitische Doktrin, welche die Zentralität des Textes und somit die Sakralität der Anāshīd betont, sowie popkulturelle Gestaltungstechniken und Verbreitungswege, was die Popularität von jihadistischen Anāshīd gerade unter Jugendlichen erklären kann. Eine genauere Analyse von Ṣalīl al-Ṣawārim zeigte, wie der IS in seinen Anāshīd das Motiv des Kämpfens musikalisch und thematisch umsetzt. Über S ­ocial-Media-Kanäle können diese jihadistischen Botschaften in den Lebensalltag eindringen. Online treffen jihadistische Anāshīd und andere Medien allerdings auch auf regen kulturellen Widerstand, wie wir anhand von drei Beispielen audiovisueller Aneignung von Ṣalīl al-Ṣawārim zeigten. Deren Aneignungsstrategien reichen von rein akustischer über rein visuelle bis hin zu kombinierter, audiovisueller Appropriation. Im Sinne von Al-Rawis (2016, S. 56 f.) Konzept des Anti-ISIS Humors stellen diese Aneignungen instrumentelle Methoden dar, um herrschende Machtstrukturen herauszufordern und neu auszuhandeln. Anders als Al-Rawi legten wir den Fokus unserer Analyse jedoch auf die Audiovisualität der

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Aneignungsstrategien, um aufzuzeigen, wie diese Praktiken nicht nur IS-Anāshīd, sondern den IS im Allgemeinen samt seiner salafistisch-wahhabitisch angelehnten Doktrin und Interpretation des Islam in Frage stellen. Unser erstes Beispiel, ein Piano-Cover, das ähnlich einem Tutorial anderen beibringt, Ṣalīl al-Ṣawārim auf dem Klavier zu spielen, untergräbt diese durch die Verwendung eines Musikinstruments. Im Gegensatz zu dieser akustischen Aneignung von Ṣalīl al-Ṣawārim kontert das zweite von uns gewählte Beispiel dem IS auf rein visueller Ebene. Diese Misheard Lyrics- oder auch ­Mondegreen-Version bezeichnet eine humorvolle Aneignung des Nashīds, wobei Texte eingeblendet werden, die auf homophonen Übersetzungen des Arabischen ins Englische basieren. Die ursprüngliche, jihadistische Botschaft wird so durch neue, scherzhafte und teilweise unsinnige Textumdeutungen überlagert, die stellenweise visualisiert sind. Bei unserem letzten Beispiel handelte es sich um ein Re-enactment-Video, in dem mehrere Personen eine IS-Enthauptung in Teilen nachstellen. Der als Hintergrundmusik verwendete, bereits existierende Remix von Ṣalīl al-Ṣawārim gibt dabei den Ablauf von der Nachahmung einer IS-Enthauptung hin zu einer Tanzperformance vor. Durch das Tanzen erhält diese Aneignung eine weitere Dimension des kulturellen Widerstands, da der IS Tanz – ebenso wie Musik – als rechtswidrig erachtet. Dass die Protagonisten dieser Version aus Ägypten stammen, ist besonders hervorzuheben, insofern damit nicht nur ein Akt des kulturellen Widerstands, sondern auch eine mögliche Kompensationsstrategie im Angesicht einer regionalen Bedrohung auszumachen ist. Abgesehen davon ist es prinzipiell schwierig, anhand von Online-Recherchen etwas über die Hintergründe und Motivationen der Produzent*innen auszusagen. Die Anonymität von User*innen auf Plattformen wie YouTube und das Fehlen einer Direct-Messaging-Funktion verhindern, dass wir die Produzent*innen persönlich und direkt kontaktieren können. In unserem Artikel konnten wir diese Limitationen umgehen, indem wir Duncombes (2002, S. 5) Definition des kulturellen Widerstands folgten, der sowohl den bewussten als auch den unbewussten Gebrauch von Kultur einschließt, um vorherrschende Machtstrukturen zu verändern oder sich ihnen zu entziehen. Dementsprechend ist für unsere Analyse nicht die Intention, sondern vielmehr der Effekt des kulturellen Widerstands zentral, wie er sich im Beispiel des Piano-Covers aufzeigen lässt. Die YouTube-Kommentare unter dieser Version lassen jedoch den Schluss zu, dass unter den (kommentierenden) Online-User*innen ein bemerkenswertes Bewusstsein sowohl für die IS-Doktrin als auch für die Verstöße dagegen herrscht. Im Zuge unserer YouTube-Recherche stießen wir auch auf einen Kommentar, der sich insofern deutlich von der Masse abhob, als er – in englischer Schreibweise – sogar die korrekte Terminologie nasheed verwendete.

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Dies verdeutlicht, dass der Wissensbestand der Akteur*innen, die sich in unserem Forschungsfeld bewegen, generell nicht zu unterschätzen ist. Um all die offen gebliebenen Fragen beantworten zu können, bedarf es allerdings zunächst neuer Forschungsansätze, denen es gelingt, die Produzent*innen in den Blick zu nehmen, um Medien im Spannungsfeld zwischen jihadistischer Nutzung und kulturell-widerständiger Aneignung konzeptualisieren und somit letztlich auch die Interaktion des IS und seiner Gegner*innen verstehen zu können.

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Larissa-Diana Fuhrmann ist Doktorandin der Ethnologie in der Nachwuchsforschergruppe Dschihadismus im Internet am Institut für Ethnologie und Afrikastudien der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Im Rahmen ihrer Promotion beschäftigt sie sich mit Artivism, einer bestimmten Form der Kunst, die es Künstler*innen ermöglicht, sich oppositionell zu religiösen und politischen Inhalten jihadistischer Propaganda zu positionieren. Zuvor arbeitete sie als Koordinatorin der Kulturabteilung des ­Goethe-Instituts im Sudan. Alexandra Dick  ist Doktorandin der Islamwissenschaft in der Nachwuchsforschergruppe Dschihadismus im Internet am Institut für Ethnologie und Afrikastudien der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. In ihrer Promotion mit dem Titel Hymns of the Caliphate: Islamic State Anāshīd befasst sie sich mit der Verwendung und Rezeption beziehungsweise Perzeption von Gesängen des Islamischen Staates.

Playing Propaganda. Die Games-Appropriationen des IS Andreas Rauscher

Zusammenfassung

Vielfach ist davon die Rede, dass die Terrormiliz „Islamischer Staat“ und ihre Anhänger auf popkulturelle audiovisuelle Medien, Formate und Genres für propagandistische Zwecke setzen. Auch Computerspiele fallen hierunter. Aus der Perspektive der Games Studies widmet sich dieser Beitrag dem Phänomen der ‚IS-Games‘ und untersucht auf Basis von Ian Bogosts Konzept der Procedural Rhetoric, welche Aneignungsprozesse zu beobachten und inwiefern ihre ideologisch-argumentativen Indoktrinationspotenziale im Kontext der Computerspielkultur einzuschätzen sind. Drei zentrale Aspekte sind dabei auszumachen: die Modifikationen von Spielen und Spielelementen, die Instrumentalisierung in spielfremden Kontexten im Sinne einer Gamification sowie Anverwandlung popkultureller Artefakte einer ­Game-Ästhetik im Propagandakontext. Was die Bedeutung als ‚spielerisches‘ Beeinflussungswerkzeug betrifft, scheint dabei Skepsis angeraten, insofern etwa offene Spielwelten und die Entscheidungsfreiheit der Spieler*innen eher im Widerspruch zur klassischen Vermittlungsarbeit jihadistischen Gedankenguts steht. Schlüsselwörter

Games · Propaganda · Computerspielästhetik · Islamischer Staat · Procedural Rhetoric · Jihad-Kultur · Gamification · Call of Duty · Grand Theft Auto ·  Spielmechanik

A. Rauscher (*)  Universität Siegen, Mainz, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 B. Zywietz (Hrsg.), Propaganda des „Islamischen Staats“, Aktivismus- und Propagandaforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28751-1_6

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A. Rauscher

1 Einleitung Die im Rahmen eines „Cyber-Jihad“ (Schori Lang 2015) verbreitete Propaganda des Islamischen Staats etabliert neue Maßstäbe sowohl in ihrer semi-professionellen Umsetzung als auch in ihrem Verhältnis zu populär­ kulturellen Bezügen. Neben einer Zuspitzung der Drastik und inhumanen Rhetorik wurden traditionelle Formen der Indoktrination und Manipulation stark um eine gewisse Do-It-Yourself-Ästhetik erweitert, die sonst mit selbst produzierten erfinderischen YouTube-Videos oder Fan-Filmen assoziiert wird. Die New York Times attestierte dem IS einen geschickten Umgang mit einer ganzen Bandbreite von Medien (vgl. Shane und Hubbard 2014) und die Zeitschrift New Yorker widmete unter dem Titel ISIS’s Call of Duty (Kang 2014) im September 2014 eine ausführliche Reportage den Rekrutierungskampagnen des IS. An den genannten Beispielen erscheint nicht nur der mithilfe von Drohnenaufnahmen und durchkomponierten Kameraperspektiven erzielte Professionalisierungsgrad von Interesse. Vielmehr stechen an dieser neuen Form von viral über Netzwerke verbreiteten Propaganda die im Titel von Jay Caspian Kangs Artikel angesprochenen Bezüge zum popkulturellen Mainstream hervor. Die erfolgreiche Videospiel-Reihe Call of Duty wird nicht nur in diversen um Rekrut*innen werbenden Internet-Memes vom Islamischen Staat zum Vergleich herangezogen. In Interviews mit der BBC verglichen westliche Jugendliche, die sich dem IS angeschlossen haben, ihre Erfahrungen mit Spielen der bekannten Videospielreihe, die seit 2003 eine Vielzahl an Fortsetzungen und Ablegern hervorgebracht hat (vgl. Kang 2014). Die Call-of-Duty-Reihe bleibt in ihren Narrativen durchgehend den Standardsituationen klassischer Kriegsfilme bzw. den erzählerischen und ästhetischen Konventionen verpflichtet, die sich seit Jahrzehnten in jedem zweiten Agenten-Thriller finden. Die Spielmechanik entspricht jenen Standards, die in allen anderen Vertretern des Genres First-Person-Shooter wie der Medal of Honor-Reihe oder den neueren Teilen der Doom-Reihe ebenfalls zum Einsatz kommen. Es werden daher nicht die gesamten dramaturgischen Konstruktionen der populären Shooter-Reihe, sondern lediglich einzelne Situationen und atmosphärische Eindrücke für die Propaganda zitiert und in einen neuen Kontext gesetzt. Interessant erscheint an den zahlreichen popkulturellen Referenzen der ­IS-Propaganda, die sich neben Videospielen auch ausgiebig auf Filme bezieht, dass sie eine Umkehrung jenes kreativen und basisdemokratischen Phänomens darstellt, dass der US-amerikanische Medienwissenschaftler Henry Jenkins als Participatory Culture bezeichnet hat. Als positive Auswirkung der Vernetzung

Playing Propaganda. Die Games-Appropriationen des IS

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im Zeichen der Medienkonvergenz bekommen Fans und leidenschaftliche Amateure die Möglichkeit, mit einfach zu bedienenden Videoschnittprogrammen aus einem gewaltigen Fundus an zirkulierendem Bildmaterial eigene Clips über ihre Lieblingsfilme, ihre spannendsten Spielerlebnisse oder eine besonders pointierte eigene analytische Beobachtung zu einer Serie zu realisieren. Jenkins definiert die Participatory Culture als „a culture, in which fans and other consumers are invited to actively participate in the creation and circulation of new content“ (Jenkins 2006, S. 290). Die Journalistin Yvonne Kurz beschreibt in ihrer 2016 erschienenen Studie Jihad Rap – An den Rändern muslimischer Subkulturen den C ­ ollage-Charakter der viralen jihadistischen bzw. IS-Propaganda. Aus dem ursprünglichen dramaturgischen Zusammenhang gerissene apokalyptische Szenen aus ­Hollywood-Katastrophenfilmen werden in Propaganda-Clips wie The Coming of the Mahdi & Malhama nach dem Mash-up-Prinzip neu montiert und als audiovisuelle Bausteine für apokalyptische islamistische Heilserzählungen verwendet (vgl. Kunz 2016, S. 93). Über die Provokation und den Schock der viel diskutierten dokumentarischen Gewaltszenen hinaus mutet die Funktion der IS-Propaganda nahezu wie eine in digitale Netzwerke ausgelagerte Etablierung einer bestimmten Marke und eines damit verbundenen Images an: Notwendig ist die Einbettung in einen breiteren Appeal, welchen die ­Jihad-Reisenden wohl selbst nicht ganz verstehen, aber ihr Unterbewusstsein in Schwingung bringt. Daesh selbst porträtiert sich nicht einfach als barbarische Schlachtertruppe, sondern verkauft sich gleichsam als Projekt zur Schaffung einer perfekten Gesellschaft, die die Welt verändern und schließlich beherrschen wird. […] Mit solch hochgradig idealisierten Lebenswelten schafft Daesh einen virtuellen Sehnsuchtsort. Ein Marketing Coup wie einst das Marlboro Country (ebd., S. 92).1

Die im Kontext von Jenkins Participatory Culture positiv verstandene Aneignung der Fans eines einzelnen Franchises durch kreative Aktivitäten und selbst realisierte Fan-Filme schlägt im Fall der IS-Propaganda dialektisch in ihren negativen Gegenentwurf um. Die vielfach in der aktuellen medien- und kommunikationswissenschaftlichen Forschung diskutierte Aneignung von Elementen aus Videospielen durch den IS vollzieht sich vor diesem ­Hintergrund (vgl. u. a. Dauber

1Kunz

verwendet das abfällig konnotierte Kürzel Daesh für die Bezeichnung Islamischer Staat (arabisch „Al-Dawla al-Islamiya“).

164

A. Rauscher

et al. 2019; Lakomy 2017; Al-Rawi 2016). Yvonne Kunz nennt ebenfalls die Referenzen auf Videospiele als wesentlichen Bestandteil jihadistischer Propaganda: „Mit Abstand am meisten Raum bekommen aber epische Schlachten aus den Videogames Battlefield und Call of Duty. Dazu Anashid-Gesänge und Predigerstimmen, welche die Geschichte des Maghdi [des Erlösers] erzählen“ (Kunz 2016, S. 94). Sowohl an den journalistischen als auch an den akademischen Aufbereitungen der auf Videospielen aufbauenden IS-Propaganda fällt jedoch auf, dass sie nur marginal Ansätze der Game Studies einbeziehen. Sie erfolgen stattdessen aus einer bestenfalls allgemeiner gefassten kommunikations- oder kulturwissenschaftlichen Perspektive, die selten konsequent genug zwischen der individuellen Umgestaltung eines international weit verbreiteten Spiels der Call of Duty- bzw. der Grand Theft Auto (GTA)-Reihe, der Integration von Spielelementen in andere Kontexte und der zeichenhaften Bezugnahme auf Videospiel-Ästhetik durch einzelne Gestaltungselemente unterscheidet.2 Der folgende Artikel bietet daher einen kursorischen Überblick über die unterschiedlichen, auf Games bezogenen Formate des IS. Insbesondere geht es darum, zu einer genaueren Differenzierung und einer präziseren medienkulturwissenschaftlichen Kontextualisierung der existierenden Praktiken und Artefakte beizutragen. Denn entgegen gängiger Vorurteile, die den vermeintlich verrohenden Charakter der Videospiele durch die IS-Propaganda bestätigt sehen, handelt es sich in den meisten Fällen der Aneignung ludischer Artefakte durch den IS gar nicht um vollständige Spiele. Bei den diskutierten Beispielen geht es überwiegend um individuelle Umgestaltungen bekannter Titel durch Modifikationen, die Instrumentalisierung spielerischer Elemente in spielfremden Kontexten im Sinne einer Gamification sowie die Umcodierung vorhandener popkultureller Artefakte einer Game-Ästhetik zu Propaganda-Zwecken. Alle drei kulturellen Praktiken überschneiden sich in wesentlichen Aspekten mit Bereichen der Spielkultur, haben aber bisher im Unterschied zu militärischen Shootern der Hisbollah wie Special Force (2004) (vgl. Weimann 2007, S. 56) keine vollständigen Einzelspiele hervorgebracht. Vielmehr wird eine mit Videospielen, insbesondere mit taktischen Shooter-Spielen wie Call of Duty und mit ActionSpielen wie GTA assoziierte Ästhetik in diversen Clips und in selbst gemachten Propaganda-Animationsfilmen zitiert. Obwohl durch diese Strategien der ­

2Zur

Übernahme visueller S ­ piele-Stilistik in den Videos des IS vgl. Zywietz (in diesem Band).

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Aneignung und Umkodierung auf den Effekt der Immersion, des Eintauchens in die Spielwelt (vgl. Murray 1997, S. 98 f.), abgezielt wird, gestalten sich die Formen des Involvements als Einbindung (vgl. Neitzel 2017, S. 219) in den Spielen selbst sehr unterschiedlich. Auf einer abstrakteren Ebene lässt sich sogar ein gewisser Widerspruch zwischen den auf maximaler Handlungsfreiheit angelegten Open-World-Spielen der GTA-Reihe und dem beabsichtigten Indoktrinationseffekt der totalitären Propaganda erkennen. Dieser ergibt sich aus der spielerischen Rhetorik, die der Medienwissenschaftler Ian Bogost unter dem Begriff der Procedural Rhetoric als Logik des Spielsystems behandelt: Procedural rhetoric is a general name for the practice of authoring arguments through processes. Following the classic model, procedural rhetoric entails persuasion – to change opinion or action. Following the contemporary model, procedural rhetoric entails expression – to convey ideas effectively (Bogost 2007, S. 28).

Propaganda, zumal die jihadistische, versucht auf manipulative Weise mit bestimmten Erfahrungswerten und inhaltlichen Aussagen für eine verzerrte, dogmatische Weltsicht zu gewinnen. Die offenen Strukturen eines auf individuelle Handlungsmacht abzielenden Spielsystems und die Flexibilität einer auf Exploration basierenden Spielmechanik, die neben den Shooter-Passagen als definierend für sämtliche Spiele der seit 1997 vom Label Rockstar Games produzierten GTA-Reihe gilt, widerspricht den typischen propagandistischen Funktionen und Methoden der passiven Überwältigung, rhetorischen Vereinfachung und Engführung, die für ein stringentes ideologisches Persuasionsprogramm erforderlich wäre. Die folgenden Ausführungen stellen die drei spielkulturellen Kontexte der Modifikation, der Gamification und der Appropriation von Game-Ästhetik vor. In einem weiter gefassten kulturhistorischen Rahmen lässt sich der grundlegende Gegensatz zwischen spielerischer Handlungsfreiheit und einseitiger systematischer Indoktrination auf die von Roger Caillois getroffene Unterscheidung zwischen den offenen Spielformen der Paidia und den Regel geleiteten, Ziel gerichteten Vorgaben des Ludus zurückführen (vgl. Caillois 1960; Bojahr und Herte 2017, S. 237). Aus diesem Widerstreit lassen sich ausbaufähige Perspektiven für die weitere medienkulturwissenschaftliche Untersuchung propagandistischer Mechanismen in Videospielen ziehen.

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2 Modifikationen – Der Iraqi-Wafare-Mod für ArmA 3 Modifikationen (Mods) zählen zu den am weitest verbreiteten gestalterischen Praktiken um erfolgreiche Videospiel-Titel. Mithilfe von grafischen Editoren verändern Spieler*innen das Erscheinungsbild der Spielfiguren und gestalten diese nach beliebten Charakteren aus Filmen, Serien, Comics oder anderen Spielen. Insbesondere im Bereich teamorientierter Shooter-Spiele erfreuen sich derartige Ausgestaltungen und Variationen der Spielfiguren besonderer Beliebtheit. Die zugrunde liegende Spielmechanik tangieren sie im Bereich der ­Multiplayer-Shooter in der Regel nicht. Der Medienwissenschaftler Benjamin Beil definiert Mods als gestalterischen Eingriff in das Erscheinungsbild von Spielen: Als Mod (Modification) kann im Grunde jede Veränderung oder Erweiterung von Levelstrukturen, Figuren, Items, Sounds oder auch Regelwerken eines Computerspiels gelten, die von Hobbyentwicklern (oder selten auch von professionellen Spieledesignern) erstellt und üblicherweise über das Internet kostenlos verbreitet wird (Beil 2017, S. 287).

Im August 2014 entfachte ein für das Shooter-Spiel ArmA 3 von dem User Marve_XT erstellter Mod mit dem Titel Iraqi Warfare eine Kontroverse um die Grenzen der spielerischen Gestaltungsfreiheit.3 Er entwarf ein Set von Spielfiguren, das neben Soldaten der irakischen Armee auch Kämpfer und Fahrzeuge des IS beinhaltete. ArmA 3 funktioniert als strategisches Massively Military Sandbox-Game, in dem es auf strategische Überlegungen und avancierte Taktiken ankommt. Nach kritischen Berichten in den Zeitungen Le Monde und The Daily Mail zog der Designer Marve_XT, der in einer Erklärung in einem Forum entschieden von sich wies Sympathien für den IS zu hegen, den Mod zurück.4 Interessanterweise vollzog sich die Diskussion um die Bedeutung der ­IS-Spielfiguren, wie der Medienwissenschaftler Pablo Abend in einem für das Goethe-Institut verfassten Aufsatz über Modding als kritische Aneignungspraxis digitaler Spiele 2016 erläutert, nicht im Rahmen des Spiels, sondern vielmehr im Diskurs um die Modding-Praxis selbst:

3Vgl.

zu Mods und ArmA 3 auch Zywietz (in diesem Band). vom 07.09.2014, bearbeitet am 11.02.2015, im Bohemia Interactive Forum ArmA 4 – Addons & Mod: Complete: https://forums.bohemia.net/forums/topic/172818-the-iraqiwarfare-mod-alpha/ (Zugegriffen: 20.08.2019). Bohemia Interactive ist das Entwicklerstudio von ArmA 3.

4Posting

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Das Beispiel zeigt, dass oftmals nicht eindeutig entschieden werden kann, welche politische Haltung der Aneignung eines Spiels zugrunde liegt. Appropriation, Subversion und Widerstand zeigen sich erst in den Aushandlungsprozessen über die Grenzen des Spiels, die auch dann noch stattfinden, wenn ein modifiziertes Spiel veröffentlicht ist und zirkuliert (Abend 2016, S. 69).

Die mit dem Iraqi Warfare-Mod assoziierten moralischen Codes, die innerhalb der Community der Spieler*innen verhandelt werden, weisen deutliche Diskrepanzen zum journalistischen Diskurs um die ikonografisch brisanten Eingriffe auf. Während die Community um das Spiel die IS-Spielfiguren als gewöhnliche Ergänzung im Sinne von militärischen Strategiespielen betrachtet, empört sich die journalistische Öffentlichkeit aus nachvollziehbaren Gründen über die Geschmacklosigkeit eines IS-Outfits für die Spielfiguren. Für Propagandazwecke lassen sich Modifikationen wie das Iraqi Warfare-Set für ArmA 3 nur bedingt nutzen. Zwar wird die Ikonografie des IS in der Gestaltung der Spielfiguren herbeizitiert, der propagandistische Effekt bleibt aufgrund des fehlenden spielerischen Systems jedoch in seiner Wirkung auf die reine Zeichenebene voraussichtlich sehr klein. Eine rhetorische Argumentationskette im Sinne von Bogosts Procedural Rhetoric wird zumindest nicht entwickelt. Miron Lakomy merkt in seinem Aufsatz Let’s Play a Video Game: Jihadi Propaganda in the World of Entertainment von 2017 treffend an, dass es sich in diesem Bereich der IS-Propaganda lediglich um Variationen erfolgreicher Videospiele handle: The majority of the software used for the purpose of cyber jihad were just mere modifications, which were either hijacked from hobbyists (ArmA 3), or were created independently based on ripped-off commercial products (Quest for Bush, Special Force 2) (Lakomy 2017, S. 23).

Der Effekt der ArmA 3-Modifikation lässt sich mit einer Umgestaltung von Schachfiguren oder Monopoly-Spielfiguren vergleichen. Selbst wenn man einem Bauern im Schach eine IS-Fahne in die Hand drücken oder die Schlossallee als Mosul deklarieren würde, blieben die den Spielen zugrunde liegenden Mechaniken unverändert. Das ikonografische Branding findet weitere Verbreitung, aber die Aussage der zugrunde liegenden Spielmechanik wäre nicht tangiert. Ein vergleichbarer Vorfall ereignete sich im Oktober 2010 in der Auseinandersetzung um einen Teil der Spielreihe Medal of Honor. Der Produzent EA Games hatte ursprünglich für einen Afghanistan-Level die Taliban als spielbaren Gegner vorgesehen. Nach Boykottaufrufen und diversen Protestkampagnen wurden die Taliban durch die generische Bezeichnung Opposing Forces ersetzt (vgl. Frum 2010).

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Die genannten Beispiele verdeutlichen, dass die Wirkung der gamespezifischen Rhetorik nicht zuletzt vom gewählten Genre abhängt. In militärischen Strategiespielen lassen sich zwar repräsentative Symbole unterbringen, das Spielgeschehen selbst bleibt jedoch relativ abstrakt und entzieht sich in den meisten Fällen einer unmittelbaren Aussage. Michelle Herte und Philip Bojahr erläutern in einem Artikel über Spielmechaniken den Unterschied zwischen einzelnen Spielfiguren und den Abläufen innerhalb eines durch Algorithmen organisierten Computerprogramms: So geben Spielfiguren oder -karten nicht an sich einen Ablauf vor und können nach Roger Caillois […] im kindlichen Spiel, der paidia, auch in anarchischer Regellosigkeit bespielt werden. Der Computer erlaubt dagegen durch seine Rechenarchitektur zunächst grundlegend nur Formen des regelgeleiteten ludus so läuft jedes Spielprogramm auch ohne Einwirken des Spielers als ‚pure process‘ stets nach ‚algorithmischen Regeln‘ (Alexander Galloway) ab (Bojahr und Herte 2017, S. 237).

Die Procedural Rhetoric setzt im Wechselverhältnis zwischen den Handlungen der Spieler*innen und den Codes der Spielprogramme an. Die genannten Mods mit IS-Figuren tangieren noch nicht die Ebene des Programmcodes, sie beschränken sich auf eine rein repräsentative Funktion. Spiele, die eine bestimmte Aussage vermitteln sollen, sind jedoch darauf angewiesen, ein rhetorisches System zu entwickeln. Cori E. Dauber, Mark D. Robinson, Jovan J. Baslious und Austin G. Blair betonen in ihrer Studie Call of Duty: Jihad - How the Video Game Motif has Migrated Downstream from Islamic State Propaganda Videos die Einbeziehung unterschiedlicher Sinne als wesentliche medienspezifische Besonderheit der Videospiele: One key difference between games and other forms of entertainment media is that the game experience is fully immersive. They work, in other words, because they engage multiple senses, including the sensation of movement, cannot be played without full concentration, and foster identifications with the characters being played. (Dauber et al. 2019, S. 22).

Die Formen des Involvements (vgl. Neitzel 2017) und der Grad der Immersion hängen jedoch sehr stark von der gewählten Spielmechanik und dem einzelnen Genre ab. Während First-Person-Shooter durch die Unmittelbarkeit der Eindrücke und die direkte Adressierung der Sinne über den subjektiven Blick und die ständige Bewegung immersionsfördernd wirken können, zeichnen sich Strategiespiele

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durch ihre Top-Down-Perspektive und aufgrund des höheren Abstraktionsgrads durch eine stärker ausgeprägte Distanz aus. Insbesondere die in der IS-Propaganda immer wieder zum Einsatz gebrachten Drohnenaufnahmen entsprechen der für Strategiespiele wichtigen räumlichen Orientierung durch eine Überblick verschaffende Totale. Es gehört jedoch auch als wesentliches Moment zur Spielerfahrung, dass die Spieler*innen das Gefühl bekommen, selbst einen prägenden Einfluss auf die simulierte Spielwelt ausüben zu können. In der Top-Down-Perspektive wird die Entscheidungsgewalt durch die Manipulation der gezeigten Umgebung, sei es durch die Vorgabe einer auszuführenden Strategie oder durch den Beschuss mit Waffen aus der Ferne, vermittelt. In First- und Third-Person-Shootern befindet sich die Positionierung der virtuellen Kamera hingegen auf Augenhöhe mit den Handlungsträgern. Entscheidend für beide in ihrer ästhetischen Wirkung sehr unterschiedlichen Spielkonzepte bleibt die Möglichkeit der Spieler*innen selbst zu handeln. Die Medienwissenschaftlerin Janet Murray bezeichnet den Eindruck von Handlungsmacht als Agency: „Agency is the satisfying power to take meaningful action and see the results of our decisions and choices“ (Murray 1997, S. 126). Eine Modifikation wie der Iraqi Warfare-Mod für ArmA 3 bleibt in den Handlungsoptionen durch das Gameplay auf die vorgegebenen Möglichkeiten des Spiels beschränkt. Eine inhaltliche Aussage in einem Spiel und erst recht eine bedeutungsbasierte, argumentativ-propagandistische Wirkung würde darüber hinaus eine rhetorische Rahmung benötigen. Die von den Spieler*innen empfundene Agency beschränkt sich in ArmA 3 aber auf das gewöhnliche Repertoire des um neue Uniformen und Fahrzeuge erweiterten Spiels. Trotz der IS-Insignien im Erweiterungspaket wirken sich diese nicht auf das Verhalten der Spielfiguren oder auf deren Umgebung aus. Die Idee einer Procedural Rhetoric würde einen entsprechend auf die veränderten Charaktere hin ausgelegten Spielablauf voraussetzen. Rhetorische Systeme operieren bewusst mit den Erwartungshaltungen gegenüber einem Spiel oder einem Game-Genre. Die Wirkung entfalten die einzelnen Elemente der Spielmechanik erst durch ihre Kombination. Die Verknüpfung von Ursache und Wirkung erinnert entfernt an Montageprinzipien im Film, die auch erst durch die Verbindung einzelner Szenen zu Sequenzen eine audiovisuelle Narration und eine Bedeutung durch eine besondere Sicht auf die Welt schaffen. Call of Duty: Modern Warfare 2 versuchte 2009 den verstörenden Effekt eines terroristischen Anschlags auf einen russischen Flughafen zu vermitteln. Die Spieler*innen mussten als Undercover Agent hilflos mit ansehen, wie

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ein Terrorkommando die Zivilisten auf einem russischen Flughafen massakriert. Ob sich der von den Spieler*innen gesteuerte Avatar selbst an den Mordanschlägen beteiligt, wird nicht vorgegeben. Um die Erfahrung der Hilflosigkeit zu verstärken, kann der Avatar nichts weiter gegen den Anschlag unternehmen. Zugleich arbeitet das Leveldesign dem Belohnungsprinzip klassischer Spielmuster entgegen, indem es keine Punkte innerhalb des Levels gibt, sollten sich die Spieler*innen dazu entscheiden die Terrorist*innen zu unterstützen. Die rhetorische Wirkung des Spielabschnitts ergibt sich aus der ungewöhnlichen Spielerfahrung, die traditionelle Muster der Spielhandlung unterwandert. Leveldesign wie das genannte Beispiel aus Call of Duty: Modern Warfare 2 ließe sich auch als Muster verwenden, um eine Relativierung der vom IS in seinen Mobilisierungsvideos genutzten Franchise-Ästhetik zu erzielen, wie es Dauber et al. (2019) in ihrer Studie vorschlagen. Das Gefühl durch die Agency der Spielfigur allmächtig handeln zu können, wird in Modern Warfare 2 bewusst unterwandert. Dauber und ihre Kolleg*innen stellen fest, dass terroristische Vereinigungen wie der IS bewusst Spiele wie Call of Duty aufgrund von deren Beliebtheit bei Jugendlichen nutzen: „From the perspective of terrorist groups, what matters is who (and how many) play First Person Shooter games. These are the games which insert an individual or group of players directly into a combat scenario of some kind“ (Dauber et al. 2019, S. 21). Im Ausblick ihres Fazits betonen sie: „There is no reason these motifs cannot be subverted, and used against the groups as counter-programming, for example using FPS to lead a ‚player‘ to a gory death followed by the message THERE IS NO RESPAWN“ (ebd., S. 28). Genau eine derartige Umkehrung leistet der Angriff auf die Zivilisten an einem russischen Flughafen in Call of Duty: Modern Warfare 2. Am Ende des Levels wird der hilflose, von den Spieler*innen gesteuerte ­Undercover-Agent, der vom Terror-Syndikat längst durchschaut worden ist, unspektakulär exekutiert. Das Level lässt sich aufschlussreich im Kontext der Procedural Rhetoric betrachten. Durch den Verzicht auf jegliche Belohnungen, seien es Punkte oder Achievements, fehlt ein wesentliches Element traditioneller Shooter-Spiele. Die Hilflosigkeit der Hauptfigur unterläuft konventionelle Konzepte der Agency und das Ziel des Levels wird invertiert, indem der Avatar nach dem Massaker an den Zivilist*innen unspektakulär ermordet wird und sich dadurch lediglich die Handlung des Spiels, aber nicht die Entwicklung der Spielfigur fortsetzt. Eine solche Erfahrung ließe sich auch durchaus im jihadistischen P ­ ropaganda-Kontext etwa des syrischen Bürgerkriegs und anderen bekannten Szenarios echter Radikalisierung und Mobilisierung denken, so wenn die Spieler*innen miterleben müssen, wie gegnerische Truppen (z. B. des Assad-Regimes) Massaker an derjenigen

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Bevölkerungsgruppe begehen, mit der sich die Spieler*innen identifizieren, und sich dazu verhalten müssen. Kombinationen aus Spielabläufen, Spielzielen, vorgegebenen Ereignissen und Handlungsoptionen schaffen ein Arrangement der Spielformen nach rhetorischen Figuren. Die von Bogost erwähnten prozeduralen Abläufe geben Handlungskanäle für die Spieler*innen vor. Weitere prägnante Beispiele für den Einsatz der Procedural Rhetoric finden sich in dem mit psychologisierenden Einschüben versehenen, vom Spielfilm Apocalypse Now (USA 1979, R: Francis Ford Coppola) inspirierten Kriegsspiel Spec Ops - The Line (2012) und in dem News-Game September 12th (2003). Beide Spiele verwenden prozedurale Konstruktionen, um durch die Ausgestaltung ihrer Algorithmen gegen die Erwartungshaltungen konventioneller Videospiele zu verstoßen. In Spec Ops - The Line können die Spieler*innen von einer taktischen Konsole ein feindliches Areal aus der Luft bombardieren. Die Ansicht entspricht der charakteristischen taktischen ­Top-Down-Perspektive eines Strategiespiels. Der Sieg über die technisch unterlegenen Feinde durch die Sicherung der Lufthoheit erweist sich als relativ leicht. Emotional ausgesprochen verstörend wirkt sich jedoch der folgende Spielabschnitt aus, in dem sich die Spieler*innen durch das gerade bombardierte Areal bewegen müssen und mit den Konsequenzen ihres Handelns konfrontiert werden. September 12th folgt hingegen prozeduralen Abläufen, die für engagierte Medienkunst charakteristisch erscheinen. Das von dem Spieltheoretiker und Medienwissenschaftler Gonzalo Frasca entwickelte Spiel präsentiert eine sehr eindeutige Aussage: Call of Duty: Modern Warfare 2 und Spec Ops – The Line arbeiten mit Genremustern, deren Erwartungshaltungen nicht erfüllt werden. Die Spieler*innen können im War on Terror eine zeichenhaft abstrahierte arabische Stadt bombardieren. Allerdings resultieren die Luftschläge, in denen ganze Viertel in Schutt und Asche gelegt werden, lediglich in der Radikalisierung der Zivilbevölkerung, die immer mehr Terroristen hervorbringt. Das Spiel September 12th, in dem sich das Gameplay auf die Steuerung der Luftraketen beschränkt, ist von vornherein nicht zu gewinnen. Die genannten Beispiele nutzen Spiele als rhetorische Modelle. Sie verdeutlichen, inwiefern die anfangs vorgestellten Modifikationen zwar als symbolische Repräsentationspolitik vom IS oder seinen Fans im Sinne einer weiteren Verwendung ihres Brandings genutzt werden können. Eine argumentative Wirkung können sie jedoch nicht umfassend entfalten. Für die Vermittlung einer inhaltlichen Aussage wäre eine Kombination von Spiel und Sinngehalt erforderlich, selbst wenn es sich um die einfach gestrickten Parolen einer auf einseitige Effizienz ausgerichteten traditionellen Propaganda handelt.

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Bei den beiden einzigen bisher verfügbaren Spielen des IS handelt es sich bezeichnenderweise um Lernsoftwares wie Huruf5, die auf dem Handy gespielt werden kann.6 Sie entwickelt im Unterschied zu den genannten Spielen kein komplexes rhetorisches System, sondern entspricht vielmehr den Konzepten der Gamification.

3 Gamification – Lernspiele und atomare Apokalypse Die Idee in alltägliche Arbeitsabläufe, in Lernprogramme und die Durchführung anderer Tätigkeiten spielerische Elemente einzuführen, erfreut sich seit einigen Jahren einer ausgeprägten Beliebtheit. Sammelpunkte für die richtige Mülltrennung sollen das Bewusstsein für den Umweltschutz verbessern. Auszeichnungen sollen zu einer stärkeren Effizienz bei der Aneignung von Fremdsprachen und mathematischen Formeln beitragen. Sowohl in der anwendungsbezogenen Fachliteratur als auch in den Game Studies wird dieser Prozess als Gamification bezeichnet. Sebastian Deterding et al. definieren die damit verbundene Kombination aus Spielen und anderen Handlungszusammenhängen als „the use of game design elements in non-game contexts“ (Deterding et al. 2011, S. 2). Die Medienwissenschaftler Felix Raczkowski und Niklas Schrape weisen auf zwei sehr unterschiedliche Bedeutungsebenen des Begriffs hin, die sich in den letzten Jahren im Gebrauch in der Designpraxis und in der akademischen Forschungsliteratur ergeben haben: In Schriften von Marketingexpertinnen, Designerinnen und anderen Praktikerinnen wird meist eine konkrete Technik beschrieben, die durch die Tätigkeiten spielerisch gestaltet werden sollen, um Motivationseffekte zu erzielen – sie werden also spielbar gemacht. […] Die zweite Verwendungsweise von ‚Gamification‘ findet sich in einer ganz anderen Textgattung, nämlich in akademischen Artikeln aus dem Bereich der Game Studies, sowie in Ted Talks und Büchern selbst ernannter Visionärinnen wie beispielsweise Jane McGonigal […]: Gamification bezeichnet hier eine Art gesellschaftlichen Trend, nämlich eine Durchdringung der ganzen Gesellschaft mit Elementen des Spiels – eine Verspielung der Gesellschaft (Raczkowski und Schrape 2017, S. 313 f., Herv. i. O.).

5In

englischen Übersetzungen des arabischen Titels auch Huroof geschrieben. dazu auch Zywietz (in diesem Band).

6Vgl.

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Die Gamedesignerin und Kulturwissenschaftlerin Jane McGonigal, auf die Raczkowski und Schrape hier verweisen, setzt sich in ihrem Buch Reality is Broken von 2011 für eine verstärkte Nutzung von spielerischen Elementen im Alltag ein, um die Bürger*innen zu einer stärkeren Partizipation am öffentlichen Leben und an politischen Prozessen zu motivieren. McGonigals Engagement zeichnet sich durch eine idealistische Haltung und praxisbezogene Ansätze wie die Arbeit an eigenen Spielen aus, die die Theorien der Gamification exemplarisch zur Anwendung bringen sollen. Allerdings weisen Kritiker*innen wie Ian Bogost durchaus berechtigt darauf hin, dass die Ideen der Gamification jederzeit auch für Zwecke wie die Gewinnmaximierung von Konzernen mit problematischen Beschäftigungsstrukturen genutzt werden können (vgl. u. a. Bogost 2011). Für propagandistische Zwecke bieten sich Gamification-Strategien ebenfalls an, gerade nachdem sie sich mit anderen Formaten wie Lernspielen kombinieren lassen, ohne dass dafür ein vollständiges Spielsystem entwickelt werden muss. Das durch den IS über das Internet als App für Handys veröffentlichte Spiel Huruf von 2016 zählt, wie Miron Lakomy anmerkt, als „the only known ­cross-platform game created by a terrorist organization“ (Lakomy 2017, S. 21). Es repräsentiert nicht nur ein vollendetes Spiel der IS-Propaganda, sondern bereitet darüber hinaus auch ein mustergültiges Beispiel für einige Probleme der mit Gamification-Konzepten verbundenen Strategien. Die Grundlage von Huruf bildet ein Buchstabenlernspiel für Kinder. Durch das Anklicken der richtigen Buchstaben und Symbole steigen animierte Ballons immer höher. Die Optik des Spiels orientiert sich an freundlichen und hellen Farben, stellenweise erinnert es auch an Lernspiele, die man im Umkreis der Sesamstraße und anderer Vorschulprogramme verorten würde. Dass es trotz der im Bild platzierten Spielzeugautos und Rechenschieber nicht ganz den Konventionen gewöhnlicher Lern-Software entspricht, zeigt sich am Belohnungssystem des Programms. Die farbenfrohe Cartoon-Ästhetik mit ihrem allgemeinen Hang zur Abstraktion von Formen und Symbolen quittiert den erfolgreich absolvierten Zwischenstand, in dem Buchstaben auf Ballons richtig erkannt werden müssen, mit gewonnenen Granaten.7 Für den vollständigen Abschluss des Levels wird als Belohnung eine Rakete gezündet, die die jungen Spieler*innen auf die feindlichen Metropolen London, Paris, Moskau oder New York lenken können. Der Start der Rakete und die anschließende Explosion werden von einem ­Nashid-Chorgesang und heulenden Sirenen begleitet. Details werden keine gezeigt und es sind auch keine verstörenden Toneffekte zu hören.

7Vgl.

zu dem Spiel auch Jugendschutz.net (2016), wo auch Abbildungen zu finden sind. Auf eigene Screenshots wird daher in diesem Beitrag verzichtet.

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Es wird jedoch überdeutlich signalisiert, dass die Auslöschung der Metropolen der Ungläubigen als Erfolg gewertet wird. Die Zerstörung der Städte beschränkt sich auf die Sprengung eines ihrer Wahrzeichen, die Freiheitsstatue, den Eifelturm, den Big Ben in London oder den Spasskaya-Turm auf dem Moskauer Roten Platz. Im Anschluss an die Vernichtung der feindlichen Stadt geht die Sonne über deren Trümmern auf und die schwarze Fahne des IS wird gehisst. Hinsichtlich der in Huruf bemühten Procedural Rhetoric fällt auf, dass sie die manipulativen Inhalte für angehende Kindersoldaten zwar im Unterschied zu den apokalyptischen Szenarien anderer IS-Propaganda in der Farbgestaltung freundlicher Cartoon-Ästhetik verpackt. Werden die falschen Buchstaben angeklickt, scheitert der Raketenstart und die Trümmer des fehlgezündeten Sprengkörpers liegen wie in einem Cartoon verstreut auf dem Boden. Die Inhalte des didaktischen Lernprogramms mit spielerischen Elementen repräsentieren im Unterschied zur farbenfrohen Verpackung die direkte Umkehrung von vergleichbaren Szenarien in westlichen Mainstream-Spielen. Die Vernichtung einer gegnerischen Stadt durch Sprengköpfe kommt zwar in Aufbauund Strategiespielen als taktisches Manöver vor, wird aber in der Regel nicht als Triumph zelebriert. Der Arcade-Spielhallenklassiker Missile Command (1980) lässt die Spieler*innen genau die entgegengesetzte Rolle zu Huruf einnehmen. Als Kommandant eines Raketenabwehrsystems müssen die gezündeten atomaren Sprengköpfe, die gerade auf internationale Metropolen abgefeuert werden, im letzten Moment zerstört werden. Ein Gegenschlag lässt sich nicht von den Spieler*innen ausführen. Die Spieler*innen können lediglich die nukleare Apokalypse etwas verzögern, aufhalten lässt sie sich nicht mehr. Wie bei zahlreichen klassischen Arcade-Games lässt sich das Spiel nicht gewinnen, sondern lediglich der Augenblick des Verlierens zugunsten eines höheren Punktestands weiter hinauszögern. Die Procedural Rhetoric in Missile Command betont das defensive Moment der Auseinandersetzung. Auch wenn diese Haltung angesichts der martialischen politischen Rhetorik im wieder erwachten Kalten Krieg der 1980er Jahre etwas aufgesetzt erscheinen mag, setzt sie in der Gestaltung des Videospiels deutlich andere Akzente als Huruf. Miron Lakomy bezeichnet Huruf sehr treffend als „video game exploitation“ (Lakomy 2017, S. 23). Die kinderfreundliche Grafik hebt sich deutlich von den üblichen Konventionen des IS ab, „its graphic and sound style are cartoonish, and therefore it stands out from all the other jihadi games.“(ebd., S. 21). Der begleitende Nashid-Gesang, der in zahlreichen IS-Propaganda-Videos zum Einsatz kommt und in weniger orthodox gestalteten Fällen gelegentlich sogar mit elektronischen Beats unterlegt wird, wird zur Vermittlung der zu lernenden Buchstaben genutzt, „the game also exploits nasheed music to teach kids the alphabet“ (ebd., S. 22).

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Der von Lakomy thematisierte exploitative Charakter des Programms lässt sich durch die Gamification-Mechanismen noch deutlicher konkretisieren. Ein besonders perfider Aspekt der in Huruf genutzten Procedural Rhetoric besteht in der Kombination eines traditionellen Lernspiels, wie es sich in zahlreichen Varianten mit Tieren auf dem Bauernhof, Charakteren aus der Puppenwerkstatt der Muppets-Erfinder Jim Henson und Frank Oz oder mit Zahlen- und Buchstabenrätseln verbundenen alltäglichen Aufgaben in zahlreichen Varianten findet, mit dem gamifizierten Element der Massenvernichtung. Die nukleare Vernichtung einer ganzen Metropole, die in anderen Spielen wie dem erwähnten Missile Command vom Spielsystem als Katastrophenszenario gewertet werden würde, wird zur animierten Belohnung. Die Funktion ähnelt einer filmischen Cutscene bzw. Zwischensequenz, die als Belohnung für einen erfolgreich absolvierten Abschnitt eine vorgefertigte Szene präsentiert, in der die Handlung des Spiels sich weiterentwickelt oder in der der Avatar eine besonders spektakuläre Aktion absolviert. Zu den Standardsituationen in Cutscenes gehört etwa, wenn sich Lara Croft durch ein besonders spektakuläres Manöver aus einer einstürzenden Höhle rettet oder die Held*innen der Resident Evil-Survival Horror-Reihe sich mit einer eindrucksvollen Aktion vor den bedrohlichen Zombies in Sicherheit bringen. Die cartoonesk abstrahierte und verniedlichte Vernichtung der gegnerischen Städte und das Hissen der IS-Flagge über deren Trümmern wird zum Äquivalent eines Attraktionsmoments. Huruf vollführt die Gamification eines klassischen Lernspiel-Formats. Um genauer zu verdeutlichen, wie die propagandistische Infiltration durch das Programm funktioniert, erscheint es sinnvoll noch einmal einen genaueren Blick auf die definierenden Elemente eines Spiels zu werfen. In ihrem Standardwerk Rules at Play: Game Design Fundamentals geben die Spieltheoretiker*innen Eric Zimmerman und Katie Salen eine sehr nützliche, auf prägenden Vorgängern wie Johan Huizinga und Roger Caillois aufbauende Definition der grundlegenden Elemente eines Spiels. Als wesentliches Kennzeichen nennen sie die Eigenschaft, dass es sich um ein artifizielles System handelt (vgl. Salen und Zimmerman 2003, S. 80). Dieses erfordert Spieler*innen, beinhaltet einen Konflikt, verfügt über Regeln und ein quantifizierbares Ziel. Die Aussage und Finesse eines Spiels hängen nicht unbedingt von einer vorgegebenen Handlung oder Narration, sondern von der Komplexität des Systems und dem Arrangement der Simulation ab. Gewöhnlich ergibt sich das Spielziel aus den Regeln und aus dem ausgespielten Konflikt. Interessanterweise weicht Huruf von dieser Kausalitätskette weitgehend ab. Weshalb das perfekte Beherrschen des Alphabets zum Untergang vier internationaler Metropolen führen soll, wird nicht wirklich ersichtlich.

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Die ideologische Instrumentalisierung des Lernspiels Huruf zeigt sich daran, dass die Zerstörung der feindlichen Städte nicht nur als unveränderliches Ziel vorgegeben ist, sondern auch als Belohnung präsentiert wird. Andere Handlungsoptionen tauchen gar nicht erst auf. Die in Huruf ausgeführte Tätigkeit hat nichts mit den taktischen Überlegungen, die Thema eines militärischen Simulationsspiels wie Defcon (2006) wären, zu tun. Nicht einmal die beklemmende Erfahrung von Missile Command stellt sich ein. Es gehört auch zu den verharmlosenden Effekten der IS-Propaganda, dass sie ein einfaches Buchstabenlernspiel mit ihren martialischen ideologischen Zielsetzungen kombiniert. Das Ausblenden der ursprünglich mit dem atomaren Krieg verbundenen Gameplay-Mechaniken, die wie in Defcon und Missile Command ein Gefühl der Ambivalenz und der Ausweglosigkeit während der Spielerfahrung befördern können, werden bewusst ausgeklammert und im Sinne der Gamification durch ein einfaches Belohnungssystem ersetzt. Ohne den zugehörigen Kontext der IS-Propaganda würde das Spiel beinahe wie eine zynische Parodie anmuten, wie sie sich beispielsweise in dem cartoonesken Atomkriegsspiel Nuclear War (1989) unter anderem durch ikonografische Anspielungen auf Stanley Kubricks stilprägende filmische Satire Dr. Strangelove or: How I Learned to Stop Worrying and Love the Bomb (UK 1964) findet, wenn hier wie dort ein Pilot mit gezogenem Cowboy-Hut auf einem abgeworfenen nuklearen Sprengkopf freudig der Apokalypse entgegenreitet.

4 Grand Theft Jihad – Aneignungen in der Bildproduktion Im Herbst 2014 taucht in diversen sozialen Netzwerken der Trailer zu einem angeblich vom IS produzierten Videospiel auf, das sich die Ästhetik erfolgreicher westlicher Videospiel-Reihen, insbesondere der einflussreichen Gangster-Satire GTA zu eigen machte. Salil al-Sawarem präsentiert, begleitet von einem bekannten gleichnamigen Nashid8, Szenen, die mithilfe der Game-Engine des 2013 veröffentlichten fünften Teils von GTA produziert worden waren. Die Engine eines Videospiels dient zur Animation der Spielfiguren, zur Erstellung der Hintergründe und zur Festlegung

8Siehe

Band.

dazu auch den Beitrag von Larissa-Diana Fuhrmann und Alexandra Dick in diesem

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der mit diesen verbundenen Abläufen. Mit ihr können neben eigenen Modifikationen sogar rudimentäre Animationsfilme in Heimarbeit hergestellt werden. Für diese besondere Spielart des selbst hergestellten Trickfilms setzt sich in den späten 1990er und frühen 2000er Jahren der Begriff Machinima durch (vgl. Nitsche 2015). Bei genauerer Betrachtung steht Salil al-Salwarem, auch wenn Figuren und Fahrzeuge der GTA-Reihe darin für die Zwecke des Islamischen Staats umcodiert werden, weitaus stärker in der Tradition der Machinima-Filme, in denen Spieler*innen mithilfe einer virtuellen Kamera die Szenen und Charaktere eines Videospiels für eigene Erzählungen und Animationen nutzen, als einem tatsächlichen Videospiel-Trailer. Die gezeigten Spielabläufe beschränken sich auf eine nahezu beliebige Abfolge von Attentaten auf Fahrzeuge der irakischen Armee, wobei freilich Szenen auch dem berühmt-berüchtigten Video Salil ­al-Sawarem (al-Furqan 2014) als nachgestellt empfunden werden können: Neben der Perspektive eines aus dem Fenster eines fahrenden Autos schießenden Schützen werden mehrfach die auch für First-Person-Shooter typischen Blicke durch ein Scharfschützen-Fernrohr gezeigt. Ansonsten greift das Video auf die für GTA definierende Third-Person-Perspektive zurück, die eine identifikatorische Nähe mit den gezeigten Protagonist*innen ermöglicht. Auch wenn das Waffenarsenal der Spielfiguren aus GTA für das Branding des Islamischen Staats, analog zur Instrumentalisierung der Gefechte aus der Call of Duty-Reihe, auf einer oberflächlichen Ebene entsprechend genutzt wird, fällt selbst bei flüchtiger Vertrautheit mit den Spielen der GTA-Reihe auf, dass diese auf ähnliche Weise aus dem Kontext gerissen werden wie die diversen Ausschnitte aus ­Hollywood-Katastrophenfilmen in den Collage-Videos des IS. Die GTA-Spiele zeichnen sich nicht nur durch eine stark ausgeprägte Handlungsfreiheit aus, die der Geradlinigkeit einer propagandistischen Mobilmachung zuwiderlaufen. Selbst in den für Salil al-Sawarem genutzten Shoot-Outs zielt das Spiel nicht auf eine realitätsgetreue Abbildung der Welt ab, sondern simuliert stilprägende Vorbilder aus der Filmgeschichte, deren Kombination mit einer non-linearen Entdeckung des simulierten popkulturellen Alltags den besonderen Reiz der GTA-Spiele ausmacht. Von der stilprägenden Verfolgungsjagd aus dem Film French Connection (USA 1971) über die Neon-Ästhetik der Fernsehserie Miami Vice (USA 1984–1989) bis hin zu den Ghetto-Dramen und Hip-Hop-Beats des New Black Cinema der frühen 1990er Jahre finden sich die unterschiedlichsten Referenzen auf die Film- und Musikgeschichte in GTA. Von diesem Netzwerk aus subtilen Anspielungen und cinephilen Variationen bleibt in Salil al-Sawarem wenig übrig. Den kleinsten gemeinsamen Nenner zwischen Propaganda-Video, gegenwärtiger

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Actionfilm-Ästhetik und Videospielen bilden die Blicke durch das Zielfernrohr eines Scharfschützen und die Sicht des Drive-by-Shooters. Ohne einen entsprechenden Kontext bleiben diese Perspektiven jedoch weitgehend austauschbar. Bei der Aneignung popkultureller Codes aus der GTA- oder der Call of Duty-Reihe durch den IS geht es nicht um eine eigene Variante der ludischen Handlungs- und Erlebnisangebote der Vorlagen. Vielmehr geht es um die Appropriation und Umkodierung popkultureller Referenzen, die sich an einen bestimmten Teil des GTA-Publikums richten. Der Medienwissenschaftler Michael Nitsche betont in einem Überblick von 2015, dass entgegen der Prognosen der frühen 2000er Jahre Machinima sich nicht zu einem flächendeckenden kulturellen Phänomen entwickelt hat. Stattdessen sprechen die meisten Machinima-Filme eine kleinere Community an, die mit den entsprechenden Codes der Darstellung und der Spielkultur vertraut sein muss, um tatsächlich einen Zugang zum gezeigten Geschehen zu finden: Die Entwicklung von Machinima hängt – wie ‚das Kino der Attraktionen‘ – vom Verständnis der gemeinsamen kulturellen Codes ab. Ohne diese Kenntnis können die Zuschauer schlicht und ergreifend nicht einordnen, was sie sehen. […] In dieser Hinsicht unterscheidet sich Machinima von anderen Digitalbild-Innovationen (Nitsche 2015, S. 112).

In seiner Studie über die Techniken und Motive des „Jihad“ 3.0 macht Ahmed ­Al-Rawi das Bemühen um Aufmerksamkeit als wesentliche Motivation hinter Salil al-Sawarem aus: The general goal behind making and releasing Salil al-Sawarem’s video game is to gain publicity and attract attention to the group. This is part of the group’s Jihad 3.0 efforts, as the main target is young people who might get the impression that ISIS is a technologically advanced group that not only produces high-definition and ­well-edited videos but also has its own apps, social media tools, drones, and video games (Al-Rawi 2016).

Der Bezug auf die GTA-Reihe dient der Akkumulation kulturellen Kapitals, das zu Propagandazwecken umcodiert wird. Die Appropriation durch den IS richtet sich nicht an die unterschiedlichsten Interessen bedienende ­Mainstream-Rezeption der GTA-Reihe, die spätestens seit dem 2008 veröffentlichten vierten Teil den Weg in die Feuilletons und Hörsäle gefunden hat. Sie bedient vielmehr analog den spezialisierten Adressaten der Machinima-Filme eine bestimmte Disposition innerhalb der GTA-Community, die sich für die Feuergefechte und die schweren Waffen begeistert.

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Dauber et al. merken in ihrer Studie über Videospiel-Motive in der islamistischen Propaganda über die mit Memes angesprochenen Spieler*innen der Call of Duty-Serie an: „They are in the exact sweet spot in terms of recruitment for these jihadist groups: young, male, and technologically savvy.“ (Dauber et al. 2019, S. 22). Die genauere Betrachtung einzelner Bildmotive, Standardsituationen und Perspektiven verspricht einen aufschlussreichen Brückenschlag zwischen den einzelnen medialen Kanälen. Aus einer weiter gefassten medienkulturwissenschaftlichen Sicht lässt sich mit dem auf Game-Motive spezialisierten Ansatz von Dauber et al. unter Umständen sogar eine Ikonologie der terroristischen Propaganda gewinnen. Insbesondere die Frage, welche gemeinsamen Motive und rhetorischen Figuren sich in unterschiedlichen Formen der Radikalisierung und verschiedenen extremistischen Kontexten ausfindig machen lassen, könnte sehr aufschlussreich hinsichtlich einer rhetorischen Analyse sein. Allerdings wäre für eine derartige Betrachtung noch eine genauere Differenzierung erforderlich, die Dauber et al. an einigen Stellen übersehen. In ihrem Modell, das die qualitativen Abstufungen der Videoproduktionen und deren Rezeption einordnen soll, ziehen sie nicht in Betracht, dass die Appropriation von Game-Ästhetik eben gerade nicht einer in den vorherigen Abschnitten mithilfe der Procedural Rhetoric beschriebenen individuellen Spielerfahrung entspricht. Stattdessen werden analog des IS-Brandings9 lediglich die audiovisuellen Attribute der Game-Ästhetik instrumentalisiert und als Produktionswerkzeug für Machinima-Filme und Memes verwendet. Der Fokus und Funktionalismus der IS-Propaganda, der nur einen sehr engen Begriff von Game-Ästhetik zulässt, wird von Dauber et al. zumindest am Rande bemerkt: It should be noted, ‘video game motif’ or ‘video game aesthetic’ has in practice for these groups almost always meant the aesthetic of ‘Call of Duty’ […] HTS10 and IS almost obsessively focus on copying the style of (and sometimes just copying) the various games in the Call of Duty franchise (Dauber et al. 2019, S. 17).

Selbst hinsichtlich der relativ deutlich erfassbaren Genrekonventionen von ­Mainstream-Titeln wie GTA ergeben sich einige interessante Widersprüche, die hinsichtlich des Motivtransfers einer genaueren Betrachtung wert wären. Neben

9Vgl.

dazu die Beiträge von Beese und von Zywietz in diesem Band. Tharir al-Sham, eine al-Qaida-nahe militant-islamistische Gruppierung in Syrien.

10Hayat

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dem einfachen Motiv und der einzelnen Perspektive kommt es immer auch darauf an, in welchem ludischen, narrativen und ästhetischen Kontext es gebraucht wird. Gerade Videospiele entwerfen nahezu noch stärker als der Film, der immer nur einen einzelnen Ausschnitt einer Welt präsentiert, einen ganzen simulierten Kosmos. Al-Rawi weist in seinem Aufsatz über den digitalen „Jihad 3.0“ auf einen der wesentlichen Punkte hin, weshalb GTA vielleicht in einzelnen isolierten Momenten wie den Shoot-Outs, aber nicht als gesamte vision du monde, sonderlich nützlich für die IS-Propaganda sein wird: „The group stands against entertainment activities like listening to music or playing games that can divert attention from prayer and faith“ (Al-Rawi 2016). Ob der Avatar in der GTA-Reihe seine Laufbahn als Gangster weiter verfolgt oder stattdessen Stunden damit verbringt, Rettungsmissionen mit einem Feuerwehrauto zu fahren, beziehungsweise zum detailverliebt gestalteten Soundtrack von unterschiedlichsten Radiostationen durch die akribisch nachgebildeten Städte New York, San Francisco, Los Angeles, Las Vegas und Miami zu fahren, bleibt den Spieler*innen überlassen (vgl. Rauscher 2012, S. 254 ff.). Sowohl die pophistorischen Anspielungen in der aufwendig kuratierten Songauswahl, als auch das Spielen von zusätzlichen in der Spielwelt versteckten Mini-Games wie Motorradrennen, Pool-Billard, Dart und Golf bis hin zu einer eigenen Spielhalle mit simulierten Videospielen aus den 1980er und 1990er Jahren gehören zu den wesentlichen Attraktionen der GTA-Reihe. Im Gesamtentwurf der Spielwelt funktioniert GTA als bissige Satire auf den American Dream, in dem die korrupten Gangster sich an die Spitze der Gesellschaft setzen und am Ende sogar mit ihren Tricks und krummen Touren davon kommen. Eventuell ist hier ein Anknüpfungspunkt für Mitglieder des IS zu entdecken, die – wie sie etwa in Sozialen Netzwerken kundtaten – als Teil der Terrormiliz nicht nur mit Waffen, sondern auch mit eigenen Autos und Häusern versorgt wurden. Im Unterschied zu Filmen und Serien fallen unter den Bereich der ­Game-Ästhetik nicht nur die Mise-en-scène, die Kameraarbeit und das Sounddesign, sondern auch Kategorien wie Spielregeln, die Anzahl der Spieler*innen und die Geografie der Spielwelt (vgl. Egenfeldt-Nielsen et al. 2008, S. 97 ff.). Neben einer stärkeren Einbeziehung der Procedural Rhetoric wäre daher für eine genauere Analyse der Appropriation von populären Videospielen durch den IS auch die Frage nach den konkreten ästhetischen Bezugspunkten wesentlich. Noch stärker als im Fall der Call of Duty-Reihe, die mit einzelnen Passagen wie aus Modern Warfare 2 versucht, wenn auch mit gemischtem Erfolg, Gegenakzente zur Haupthandlung zu setzen, erscheint die Aneignung der hedonistischen und satirischen GTA-Reihe bezüglich des auf medialen

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Anspielungsreichtum und eine vielseitige Auswahl an Rock-Songs setzenden Spielkonzepts etwas skurril. Al-Rawi macht in seiner Studie die auch bei der ­US-amerikanischen Alt-Right–Bewegung beobachtbaren Techniken der eskalierenden Internet-Provokation als eine der wesentlichen Kennzeichen der IS-Propaganda aus: „The main technique used by ISIS is what I call ‚troll, flame and engage’“ (Al-Rawi 2016).11 Entsprechend funktional und oberflächlich gestalten sich die Instrumentalisierungen populärer Videospiele in den Propaganda-Machinima-Videos. Die verstärkte Vermittlung von Medienkompetenz, die ein Gespür für die Nuancen der Spielkultur und ihrer Diskurse ermöglicht, könnte sich als eine wichtige Grundlage für die Prävention gegenüber terroristischer Propaganda erweisen. Die stellenweise relativ oberflächlichen Versuche des IS und seiner Anhänger, Elemente der Gaming-Kultur zu instrumentalisieren, erfüllen in den bedenklichsten Momenten die gleichen reduktionistischen Merkmale wie ihre Aneignung anderer Bestandteile der Populärkultur, insbesondere im filmischen Bereich. In den bizarreren Appropriationen erinnern sie hingegen an die grotesken Versuche der auf der dunklen Seite des Mondes abgetauchten Nazis aus der ­Science-Fiction-Trash-Satire Iron Sky (FIN/D/BEL 2012) durch eine verfälschende Schnittfassung Charlie Chaplins Anti-Hitler-Satire The Great Dictator (USA 1940) in einen Propagandafilm für ihre eigenen Zwecke zu verwandeln.

5 Fazit und Ausblick Entgegen der in verschiedenen Berichten und Artikeln diskutierten Aneignung von Videospielen durch den IS beschränkt sich deren Realisierung bisher auf die Lernsoftware Huruf. Bei den am häufigsten diskutierten Beispielen handelt es sich entweder um Modifikationen, die wie im Fall von ArmA 3 nicht zwangsläufig in direkter Verbindung mit dem IS stehen, oder wie im Fall des mithilfe des Spiels GTA V aufgezeichneten Clips Salil al-Sawarem um Machinima Filme, in denen die Animationen und Kulissen der Spiele als virtuelles Studio für eigene Filmaufnahmen genutzt werden. Inwiefern diese Rückgriffe ohnehin als ‚offiziell‘ zu betrachten sind und nicht nur doch Sympathisierende oder gar ideologisch Indifferente produziert wurden, ist sogar noch eine ganz andere Frage.

11Vgl.

dazu auch den Beitrag von Kathrin Fahlenbrach und Bernd Zywietz in diesem Band.

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Für eine medienkulturwissenschaftliche Analyse der in den Modifikationen und Spielen verwandten Formen und Formeln bietet sich, wie kurz im Vergleich mit den Spielen Call of Duty: Modern Warfare 2, Spec Ops - The Line und September 12th erläutert, eine Orientierung an Ian Bogosts Modell der Procedural Rhetoric an. Auf dieser Basis ließe sich eine Verknüpfung mit Ausdrucksformen der spielerischen Repräsentationsmechanismen sowie der Spielmechanik, ihrer Handlungsoptionen und dem dramaturgischen Arrangement der Spielabläufe realisieren. Ansätze zu einer Ikonologie der spielerischen Standardsituationen und Prozeduren könnten darüber hinaus eine vielversprechende und ausbaufähige Perspektive zur Diskussion medien- und kulturübergreifender rhetorischer Ausdrucksformen der Radikalisierung bieten. Statt aus Kulturpessimismus den Propagandisten die Felder der Populärkultur zu überlassen, sollte man ganz im Sinne einer diversen Game Studies-Praxis erst einmal die Möglichkeiten für ein reverse engineering überprüfen. Häufig ergeben sich bereits aus einer präzisen kritischen Überprüfung der im Do-It-Yourself-Verfahren kreierten Mythen der Propaganda erste Möglichkeiten zu effektvollen Gegenerzählungen.

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Andreas Rauscher, PD Dr. ist Akademischer Oberrat für Medienwissenschaft mit den Schwerpunkten Film, Medienästhetik und Games an der Universität Siegen. Habilitation in den Fächern Filmwissenschaft und Mediendramaturgie an der ­Johannes-Gutenberg-Universität Mainz mit einer Studie zum Thema Genrekonzepte in Videospielen. Vertretungsprofessuren in Freiburg und Kiel. Tätigkeit als Journalist, Redakteur und Publizist. Forschungsschwerpunkte u. a. Filmästhetik und -geschichte, Game Studies, Transmedialität und Popkultur.

Animationen in jihadistischer Videopropaganda: Bewegung unter dem Gebot des islamischen Anikonismus Yorck Beese Zusammenfassung

Während jihadistische Videopropaganda (JVP) dafür berüchtigt ist, u. a. in Form blutrünstiger Exekutionsvideos durch Soziale Medien verbreitet zu werden, sind die filmsprachlichen Kompetenzen der jihadistischen Videoproduzenten bzw. des IS bislang als solche kaum erforscht. Der vorliegende Beitrag untersucht beispielhaft das Phänomen der Animation in JVP im Spannungsfeld von Form und Format. Über das islamische Bilderverbot sowie einer Studie von Animationen in jihadistischen Filmen seit 1986 wird ein Inventar der historischen und gegenwärtigen Ausdrucksmöglichkeiten der JVP beschrieben. Deutlich wird dabei, wie durch die religiösen Vorschriften des Islam JVP-Produzenten in ihren Ausdrucksmöglichkeiten begrenzt sind. Die Ergebnisse dieser Studie werfen ein Schlaglicht auf Produktionsbedingungen, ideologische Persuasionsmöglichkeiten und filmgestalterische Syntax der JVP. Schlüsselwörter

Jihadismus · Propaganda · Videopropaganda · Animation ·  Persuasion · Islamischer Staat · Ideologie · Farbsemantik ·  Medienrhetorik · Anikonismus · Filmsyntax ·  Geschichte der jihadistischen Videopropaganda · Islamismus

Y. Beese (*)  Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Mainz, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 B. Zywietz (Hrsg.), Propaganda des „Islamischen Staats“, Aktivismus- und Propagandaforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28751-1_7

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1 Einführung: Animationen in jihadistischer Videopropaganda Jihadistische Videopropaganda (JVP) ist ein vergleichsweise rezentes Phänomen in der Filmgeschichte, das mittlerweile berüchtigt ist für blutrünstige Exekutionsvideos und, im Falle des Islamischen Staats (IS), für utopische Entwürfe des Kalifats. Die Neigung ihrer Produzenten, Medien durch soziale Netzwerke und andere Webdienste zu verbreiten, ist in der Vergangenheit wiederholt thematisiert worden (vgl. z. B. Fisher-Birch 2018; Gambhir 2016). Weit weniger bekannt ist JVP für ihren Gebrauch von Animationen und die damit verbundene Art und Weise, durch sie das eigene Mediendesign aufzuwerten und Ideologie zu kommunizieren. Der Einsatz von Animationen und Animationsverfahren lässt sich dabei bis in die Frühzeit der JVP-Programmformate in den 1990er Jahren zurückverfolgen und ist seither ebenso ideologisch-rhetorisch funktional wie beispielsweise der Einsatz bestimmter Bildtropen. Besonders durch die Medienarbeit des IS in den Jahren 2014 bis 2018 ist die JVP um einen großen Fundus an Animationsverfahren bereichert worden, der unter jihadistischen Medienproduzenten Schule gemacht hat und die Möglichkeiten dieses Ausdrucksmittels im Bereich des jihadistischen Films grundsätzlich vor Augen führt. Der IS selbst steht in der Tradition der medialen und gestalterischen JVP-Entwicklung, die er in seine eigene Medienarbeit integriert und durch die Investition in seinen (einst enormen) Medienkomplex weiterentwickelt. Wie vielschichtig das Phänomen der Animation im Bereich der JVP ist, wie gering sein Spielraum und in welchen verschiedenen Bereichen eines Videos es zur Geltung kommt, ist bislang jedoch unerforscht. Die Vorgaben etablierter Formate im Sinne einer referenzierten Programmstruktur stellen für JVP-Produzenten kein Hindernis dar. Im Gegenteil, die Produzenten entdeckten sie bereits im Laufe der 1990er Jahre für sich als propagandistische Zeichenressource: Klar segmentierte Programmblöcke mit einem oder mehreren thematischen Kernen haben im Film des Jihadismus seit dem Bosnienkrieg Schule gemacht, sodass thematisch aufbereitete Programmstrukturen inzwischen zur alltäglichen Form der Präsentation in jihadistischen Videos geworden sind. Strukturell ähneln jihadistische Formate dadurch journalistischen Programmen und unterscheiden sich von diesen höchstens durch die Anreicherung um aufwendige Titelanimationen, Sound Effects und, natürlich, ideologische Zeichen verschiedener semiotischer Art (Bildmetaphern etc.). Die Funktionen, die Animationen in diesen Formaten übernehmen (z. B. als Teil von bewegten Titelbildern, Programm-Trennern bzw. ‚Bumpern‘ und

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Produzentenkennungen), unterscheiden sich in aller Regel nicht notwendig von solchen Funktionen, die Animationen in Nachrichtensendungen, Reportagen und dergleichen übernehmen. Doch die technische Produktion von Bewegung im Bild fordert unweigerlich eine Analyse der Bewegung als einem medialem semiotischen Bedeutungselement, welches ‚Lebendigkeit‘ ins Filmbild bringt und, sofern Menschen oder künstlich erzeugte Figuren Bewegung zeigen, auch als „Symptom des Lebens“ (Stewen 2017, S. 92) interpretiert wird. Der Eindruck von ‚Lebendigkeit im Filmbild‘ ist stets zeichenhaft evoziert: Zwar sind Bewegung und/oder Leben ein Teil des Referenten (sofern er tatsächlich existiert), nicht aber Teil des Signifikanten (des Bilds bzw. des bewegten Bilds), welcher dazu dient, die Bedeutungsgehalte (Signifikate) ‚Bewegung‘ und/oder ‚Lebendigkeit‘ im Betrachter zu aktivieren. Im Bereich der jihadistischen Videopropaganda sind die Abbildung, scheinbare Belebung und die Produktion von Referenten und Signifikanten mit ‚Eigenleben‘ allerdings problematisch. Für nationalistische und sozialistische Regimes, die ihre Ideologie durch Animation im Film transportieren möchten, schien es in der Vergangenheit selbstverständlich, sich sowohl verschiedener Visual-Effects- als auch Trickfilmverfahren zu bedienen, um Titelbilder oder On-Air-Designs durch Animationen anzureichern oder ganze Animationsfilme zu erstellen. Im nordkoreanischen Zentralfernsehen1 zum Beispiel werden Animationen in den Nachrichten in ähnlichen Kontexten eingesetzt wie in der Tagesschau. Auch die Animation von Trickfilmfiguren, wie jene, die das nordkoreanische SEK Studio zwischen 1977 und 2013 für die Zeichentrickserie Squirrel and Hedgehog produzierte, steht ganz offenkundig im Einklang mit der Ideologie der Demokratischen Volksrepublik Nordkoreas, dient sie doch der Kommunikation von Ideologie an Kinder: Die soldatisch organisierten Eichhörnchen- und Igelfiguren stehen pars pro toto für das nordkoreanische Volk, während ihre Gegenspieler, die ins Land einfallenden Wölfe und Wiesel, negativ besetzte Stellvertreterfiguren für „Imperialisten“ (nach nordkoreanischer Deutung: Amerikaner und Japaner) sind (vgl. Embury-Dennis 2017). Im Film des Dritten Reiches unterlag der Einsatz von Animationen noch den technischen Limitationen der Zeit. Titelbilder in Spielfilmen waren natürlich noch nicht derart üppig, wie es heutzutage möglich ist, und die Senderkennung des Fernsehsenders Paul Nipkow bestand aus nicht viel mehr als der Bewegung einer Reichsadlergrafik.2 Der Zeichentrickfilm der Nationalsozialisten,

1Verfügbar

online unter: https://kcnawatch.org/korea-central-tv-livestream/. dazu die Fernsehdokumentation Das Fernsehen unter dem Hakenkreuz (Deutschland 1999, Regie: Michael Kloft).

2Siehe

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der spätestens ab 1940 gezielter propagandistisch genutzt werden sollte (vgl. Alt 2013; Schoemann 2003, S. 174 ff.), zeigte beide Arten von Personifizierungen: Anthropomorphisierte Tiere wie in Der Störenfried (1940), in dem ein vom Fuchs geplagter Hase ein Wespengeschwader zur Verteidigung ruft, und Personifizierungen von Objekten wie in Die Schlacht von Miggershausen (1937), in der ein Volksempfänger auf Reisen geht, waren ohne Weiteres möglich. Jihadistische Gruppierungen hängen dagegen einem strikten religiösen Konservatismus an. Durch das Bilderverbot des Islams ist ihnen im Einsatz filmsprachlicher Verfahren deutlich weniger Spielraum gegeben als nationalistischen oder sozialistischen Regimes – infolgedessen ist hiervon auch das Animierbare betroffen. Während visuell eindrucksvolle Titelbilder und journalistisch seriös anmutendes On-Air-Design inzwischen zu den syntaktischen und strukturellen Standards vieler jihadistischer Medienproduzenten zählen, sind animierte Tiere und Menschen in der Geschichte des jihadistischen Films beinahe (!) vergeblich zu suchen. Die Frage danach, in welchen Formen Animation in jihadistischen Programmformaten in Erscheinung treten kann, zielt daher auf eine Rekonstruktion der Grenzen, die ihnen durch die Ideologie gesetzt sind. Der Einsatz von Animationen entwickelt sich im Film des Jihadismus zwar generell innerhalb des Rahmens des Anikonismus, doch entgegen des Bilderverbots scheinen jihadistische Videoproduzenten punktuell Interesse an Innovation zu zeigen. So kommt Animation in kontingenter (also weder notwendig, noch in beliebiger) Form in allen Formaten der JVP vor, wodurch sich mit der Zeit serialisierte Animationspraxen herausbildeten. Da jihadistische Mediendesigner jedoch ihre Fähigkeiten gelegentlich auch auszuloten scheinen, zeigen sich vereinzelt experimentelle, ja sogar figurale Animationen. Um also die Frage nach den Formen von Animationen in JVP zu beantworten, geht diese Studie in zwei Schritten vor. Zunächst werden die religiösen Vorschriften bezüglich des (Nicht-)Abbildbaren sowie die daraus ableitbaren Vorgaben über Bewegung betrachtet. Anschließend sollen die Formen der bis dato bekannten Animationen in einer repräsentativen Auswahl von Videos beschrieben werden, um sie analytisch kontextualisieren zu können.3 Das Ergebnis dieser explorativen Studie ist eine Typologie von Animationen in jihadistischer Videopropaganda.

3Der

Nachwuchsforschergruppe Dschihadismus im Internet (gefördert von Bundesministerium für Bildung und Forschung, angesiedelt an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz) liegt ein Archiv mehrerer tausend Propagandavideos verschiedener jihadistischer Gruppen seit den 1980er Jahren vor. Die Dateien der in diesem Artikel besprochenen Propagandavideos entstammen diesem Korpus.

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Neben den standardmäßig eingesetzten Animationstypen und -verfahren wird zudem ein besonderes Schlaglicht auf die experimentellen und seltenen Typen von Animation in der Geschichte der jihadistischen Videopropaganda geworfen. Der bei alledem zugrunde gelegte Animationsbegriff ist zu diesem Zweck zunächst sehr weit gefasst, um für alle Animationsphänomene offen zu sein: Jegliche durch Trickverfahren erzeugte Art von Bewegung im Filmbild wird berücksichtigt. Hierdurch soll zudem eine Annäherung an eine für das Forschungsgebiet der JVP viable Definition von ‚Animation‘ geschehen. Genau wie Bilder dürfen Animationen sich nicht auf bestimmte Objekte beziehen, doch gerade durch die Arbeiten des Islamischen Staates, die durch die besondere Strahlkraft seiner Produktionen auch unter jihadistischen Mediendesignern im Mittelpunkt dieser Studie stehen wird, wurden die Grenzen des Animierbaren wiederholt erweitert.4

2 Anikonismus: Zur Ableitung des Animationsverbot aus dem Bilderverbot Der „islamisch[e] Anikonismus“ (Naef 2007, S. 29) ist kein pauschales Verbot aller denkbaren piktoralen Darstellungen.5 Es hat Bilder im Islam schon immer gegeben und durch die Entwicklung der neuen Technologien des 19., 20. und 21. Jahrhunderts haben sie sich auch in islamisch geprägten Ländern wie im Rest der Welt weit verbreitet. Die Bezeichnung ‚islamischer Anikonismus‘ bezieht sich stattdessen auf ein spezifisches Problem der Abbildung nach islamischem Recht. Im islamisch-theologischen Kontext unterliegt die Verwendung von Bildern nämlich bestimmten Regeln, die sich aus den Funktionen ableiten, welche Bilder im Islam erfüllen. Da das Bild jedoch im Koran kaum behandelt wird, entstammen Verbote von Bildern vor allem der literarischen Tradition der Ḥadīthe, den Überlieferungen der Bräuche des Propheten Mohammed (vgl. Juynboll 2002). Gemäß den Ḥadīthen, denen eine hohe religiöse Autorität zugesprochen wird, konfligiert das Bild in mehrfacher Hinsicht mit den religiösen Vorgaben. Der klassischen Lehre zufolge dürfen Bilder nicht an hohen Stellen aufgehängt werden, um Götzenverehrung (Idolatrie; arab. širk; vgl. Hawting 2002, S. 480)

4Besonderer

Dank gilt hierbei Dr. Christoph Günther für anregende Diskussionen und geduldige Korrekturen. 5Wo nicht anders gekennzeichnet erfolgen die Ausführungen zum islamischen Anikonismus nach Naef (2007).

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zu vermeiden. Zudem, so befanden schon frühe Theologen, dürfen keine Bilder geschaffen werden, die den Gesandten Gottes zeigen, woraus sich das Verbot von Darstellungen des Propheten Mohammed direkt ableitet. Da das Bild, sofern es zulässig ist, sich an tiefgelegenen Orten befinden muss und somit nah am Boden aufbewahrt wird, wird ihm (vor allem in sunnitischen Auslegungen) Unreinheit zuteil. Hinzu kommt das Gebot eines störungsfreien Verlaufs des Gebets und der Einhaltung des islamischen Ideals der Bescheidenheit, was mit der Ablehnung von Luxusgegenständen einhergeht. Zu diesen wurden auch Bilder gezählt. Damit ist das Bild an sich nicht verboten. Vielmehr sind die Abbildungen von Wesen mit „Lebensodem“ (rūḥ) (Naef 2007, S. 12) prinzipiell verboten (harām). Auf unbelebte Gegenstände einschließlich Pflanzen trifft dies nicht zu, doch Mensch und Tier verfügen in der Abbildung über eine Seele (nafs) oder den Eindruck einer solchen. Da es allein Gott vorbehalten ist, den Dingen Leben einzuhauchen, ist es im Gegenzug verboten, „dem Schöpfer nachzueifern“ (vgl. ebd., S. 21). Für die Nachahmung von Leben mit rūḥ ist als eschatologische Strafe das Höllenfeuer vorgesehen. Auf Basis dieser Vorgaben fallen Urteile von Geistlichen und Gelehrten über das Bild seither unterschiedlich aus. Einerseits versuchten Reformer, den Islam mit der europäischen Moderne zu vereinen und nahmen dadurch zumindest gegenüber dem zweidimensionalen Bild eine offenere Haltung ein.6 Andererseits sprechen sich Fundamentalisten strikt gegen die Abbildung von allem aus, das über Lebensgeist verfügt. Dazwischen finden sich auch Positionen, die nur gegen die Anfertigung von Bildern sind, welche Dinge zeigen, die nicht in der Realität existieren und die durch die Bildproduktion erst geschaffen werden. Sofern dann etwa eine Fotografie einen realen Gegenstand oder eine Person abbildet und dadurch als ein Spiegel der lebensweltlichen Wirklichkeit dient, mag sie zwar erlaubt sein, ist im Gegenzug aber von der religiösen Praxis ausgeschlossen und allein als profane Kunst möglich (vgl. ebd., S. 27). Alternativ dazu findet sich die Lehrmeinung, dass keine Bilder geschaffen werden dürfen, die es also „vorher noch nicht gab“ (ebd., S. 118). Bilder von Figuren, Handlungen, Ereignissen u. Ä., die erst oder nur für die abbildhafte Aufnahme geschaffen, erdacht oder inszeniert werden, sind damit vom filmischen Abbild ausgeschlossen. Wohl aus diesem Prinzip heraus ist auch die Praxis filmischer Dokumentation unter

6Naef

(2007, S. 136 f.) stellt in diesem Zusammenhang die Hypothese auf, dass das Bild auf Grund seines schwierigen rechtlichen Status eines der Medien ist, an denen sich das Verhältnis des Islam zur Moderne bemisst.

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Jihadisten gestattet, während die Kreation von Fiktionen bislang praktisch nicht zu verzeichnen ist. Bereits auf Grundlage dieses knappen Überblicks auf das Problemfeld des islamischen Anikonismus lassen sich Voraussagen darüber ableiten, in welchen Formen Bilder und speziell Animationen in der radikal fundamentalistischen JVP (nicht) vorkommen: Falls sie vorkommen, dann nicht in figuraler Form und insbesondere nicht als Darstellungen Gottes, Mohammeds und menschlicher oder tierischer Figuren. Und tatsächlich bestätigt sich diese Hypothese bei der Untersuchung jihadistischer Videopropaganda schnell. Unter den tausenden der Forschung bislang bekannten jihadistischen Videos sind so gut wie keine figuralen menschliche oder tierische Wesen darstellenden Animationen zu finden, jedoch von Pflanzen und unbelebten Objekten. Diese Entwicklung im Film des Jihadismus ist also weitgehend kongruent zu den Überlieferungen der Bräuche des Propheten Muhammed in den Ḥadīthen sowie ihren Interpretationen. Das skizzierte Verbot der schöpferischen Beseelung trifft nun die Verfahren der Animation sowie den gattungshaften Formatbegriff des englischen Animation oder des japanischen Anime (entsprechend des deutschen ‚­[Zeichen-]Trickfilms‘) in seinem Kern, leitet sich doch das Wort vom lateinischen animare, zu Deutsch „beleben“, „zum Leben erwecken“ oder „beseelen“ ab (Reinerth 2013, S. 324 ff.). Damit wären Animationen gemäß dem Diktum des islamischen Anikonismus in jihadistischer Videopropaganda nicht zulässig, schon gar nicht in salafistisch-jihadistischer Videopropaganda. Und doch kommt ein „In Bewegung setzen“ (Bruckner et al. 2017) von künstlich erzeugten Bildern mit dem Mittel der Animation in den Videos des IS und anderer Gruppierungen vor, da auch im Film kein generelles Verbot von Animation an sich zu verzeichnen ist, sondern nur eines, das die figürliche Darstellung untersagt. Welche Formen nimmt Animation in diesem speziellen Gegenstandsbereich also an?

3 Animationen in jihadistischer Videopropaganda Wie zuvor erwähnt ist der Begriff des Formats in Bezug auf jihadistische Videobotschaften als Programmstruktur zu verstehen. Produzenten von JVP streben thematisch organisierte Formate an, die sich durch eine verallgemeinerbare Syntax auszeichnen. Animationen können in allen Konstituenten der Syntax in Erscheinung treten, aufgrund der Anforderungen des islamischen Anikonismus aber nicht in allen möglichen Formen. Die Syntax, die zumindest für ambitioniertere Produktionen eine Struktur sine qua non genannt werden kann, beinhaltet die Konstituenten Basmala (‚Anrufungsformel‘),

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­ roduzentenidentifikation, Titel, Thematische(r) Kern(e), Segmenttrenner und P Coda (in welcher Animationen praktisch nicht auftreten, da sie zumeist aus fotooptischen Aufnahmen besteht und das Produktionsdatum lediglich als Texteinblendung ausweist). Die vollständige Animation einiger dieser Konstituenten ist zumindest in neueren Produktionen durchaus zu beobachten, weswegen der nachfolgende Katalog serienmäßiger Animationen sich an der prototypischen Syntax des jihadistischen Videos orientiert. Daneben werden Animationen auch als Teil des On-Air-Designs (v. a. obere und untere Bilddrittel, „Bauchbinden“) eingesetzt. Animationen zählen somit vorrangig zu den syntaktischen (anordnungsstrukturellen) und semantischen (bedeutungsstrukturellen) Ausdrucksmitteln der jihadistischen Videopropaganda.7

3.1 Basmala Die Basmala-Formel (im Arabischen: ‫ ;بسم هلل الرحمن الرحیم‬bismi llāhi ­ar-raḥmān ar-raḫim, „Im Namen Gottes, des barmherzigen Erbarmers“) ist im Koran jeder Sure vorangestellt und rahmt deren Rezitation als gottesdienstliche Handlung. Auch in der Syntax der JVP ist sie eine nicht wegzudenkende Konstituente. In der ersten Videobotschaft Osama bin Ladens (1986), eines der frühesten Videos, das dem Jihadismus zuzuschreiben ist, kam die Basmala weder geschrieben, noch gesprochen vor, doch bereits mit den Produktionen aus dem RusslandAfghanistan-Krieg Ende der 1980er Jahre sollte sich dies ändern. Für gewöhnlich wird die Formel seither fast ausschließlich als Text abgefasst, kann in einigen Fällen durch ein Voice Over angesagt werden und wird in jedem Fall dem jeweiligen Video als ca. fünfsekündiger Onset vorangestellt. Zumeist als schlichte Textauf- und -abblende gehalten trat die Basmala bis vor einigen Jahren nicht in animierter Form auf. Bis Dezember 2016 mit der Einführung des neuen, heute noch aktuellen Einheitsdesigns (s. 3.2) erscheint sie in zahlreichen Videos und Schriftartenvariationen bevorzugt Weiß auf Schwarz (s. Abb. 1a). Sofern sie animiert ist, handelt es sich nur um eine geringe Veränderung der Objektgrößenparameter, wodurch ein betont langsamer Annäherungs- oder Entfernungseffekt an den Text der Basmala bewirkt wird. Der gegenwärtige Einsatz

7Der

morphosyntaktische Bau des jihadistischen Videos bzw. die Untersuchung der Animationsformen in ihrer syntaktischen Funktion würde eine zusätzliche Observation der Bildmotive erfordern. Dies kann im gegebenen Rahmen nur sehr eingeschränkt geleistet werden.

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Abb. 1a–b:   Basmala des IS vor Dezember 2016 (links); aktuelle Basmala des IS als Teil des im Dezember 2016 eingeführten Einheitsdesigns

der Phrase als bewegliche Maske ist auf designerische Vorstöße des IS zurückzuführen, wenngleich frühere jihadistische Produzenten hiermit bereits experimentiert haben. Der Einsatz einer Basmala dient durch den textuellen Parallelismus zum Koran dazu, das nachfolgende thematische Video mit religiöser Autorität aufzuladen. Gleichzeitig lässt das Schreiben dieser Formel, ähnlich wie im schriftlichen oder sprachlichen Gebrauch, deren durch Allah gewährte „Segenskraft (baraka) manifest werden“ (Beinhauer-Köhler 2011, S. 39).8 Auch können der Basmala kalligrafische Züge verliehen werden (bislang allerdings nur in geringerem Umfang als den Kalligrafien der nachfolgenden Produzentenkennung). Der Einsatz einer Kalligrafie ist bereits ein Zeichen der von Jihadisten aufgegriffenen visuellen Kultur des Islams. In dieser laden Kalligrafien zur tiefen Kontemplation der bezeichneten Dinge ein (vgl. ebd., S. 42 f.). Aus strukturaler Perspektive wirkt der Einsatz der Basmala topikalisierend9, d. h. in ihrer syntaktischen Position als Onset bewirken sie eine thematische und hier auch religiös-ideologische Rahmung des nachfolgenden Videos und seiner Bestandteile. Was die formale Qualität der Kalligrafie betrifft, kommt mit ihr auch eine ästhetisch-stimmungshafte Funktion hinzu. Dies ist ein klares Spezifikum jihadistischer Videobotschaften, welche die ideologische Kommunikation durch die Strukturen ihres ‚filmischen Satzbaus‘ zu fördern suchen. Die langsame

8Wie

B ­ einhauer-Köhler (2011, S. 38) festhält, reicht der Gebrauch der Basmala über religiöse Texte hinaus bis in den Bereich der Anrede in profanen Texten. 9Der Begriff der Topikalisierung ist Gegenstand der generativen Grammatik und bezeichnet die Positionierung einer Konstituente am Satzanfang, wodurch sie das Thema des Satzes bestimmt. Siehe dazu Dürscheid (2010).

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Objektbewegung sowie die Tatsache, dass die Basmala nur höchst selten mit (gesungenem) Voice Over oder anderen auditiven Effekten unterlegt wird, verstärken womöglich das kontemplative oder ästhetische Moment der Anrufungsformel. Symbolträchtig ist zudem der Einsatz von Licht in Basmala-Spots des IS, das in starkem Kontrast zum Schwarz des Hintergrunds steht: Licht- und Reflektionsanimationen leuchten die Basmala von oben an (s. Abb. 1b). Das konnotiert nicht nur ganz allgemein ein Element der Erleuchtung: Im Koran steht Licht für ‚Rechtleitung‘ und ‚Erhellung‘ im Sinne der religiösen Einsicht und der Prophezeiung (vgl. Elias 2003). Die Positionierung oberhalb gibt ­visuell-metaphorisch die räumliche Ordnung des jihadistischen Weltbilds wieder, indem sie eine oberhalb verortete göttliche Präsenz insinuiert, die ein schwaches Licht ins Dunkel des Bildes bringt. Denkbar ist, dass der IS sein Weltbild, in welchem ein exklusiver Kreis von Erhellten sich einer unreligiösen Umwelt gegenübersehen, auf die Licht-, Farb- und Animationssemantik dieses Bildes transponiert, um die Basmala auch ideologisch zu funktionalisieren.

3.2 Produzentenidentifikation Der Einsatz von Produzentenidentifikation lässt sich ähnlich wie die thematische Strukturierung von jihadistischen Videos bis in die Zeit des Bosnienkrieges zurückverfolgen. Der kurze Spot, der syntaktisch zwischen Basmala und Titel(sequenz) steht, dient der symbolischen Repräsentation des jeweiligen Videoproduzenten. Dies kann von einer Einblendung des Namens in zweidimensionalen Lettern bis hin zu animierten dreidimensionalen Text- und Kalligrafiemasken reichen. Neben der Integration des Produzenten- oder Gruppennamens dienen solche Autorenkennungen der Identifikation der Region, in welcher die Gruppe operiert, die das betreffende Video produziert hat. Bereits Badr al-Bosna (1992) verwendet eine frühe computergenerierte Illustration Bosnien-Herzegowinas, über dem das schwarze Banner des Jihad weht (s. Abb. 2a). Der IS nutzt die Produzentenkennung als erste Gruppe für sich, um eine Dachmarkenstrategie10 zu verfolgen, durch die er die regionale Repräsentation

10Der

IS verfügt unter den jihadistischen Gruppierungen über die größte Menge an Marken. Diese fasst er unter eine überspannende ‚Markendentität‘ oder ‚Dachmarke‘ zusammen. Zur Funktion von Dachmarken siehe Link (2008, S. 96 ff.), die in der Vereinigung von Marken unter einer Dachmarke sowohl die Vereinheitlichung als auch die Stärkung des „inneren Markenwerts“ erkennt.

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Abb. 2a–e:   Screenshot aus Badr al-Bosna (1992) (links oben), IS-Logo als aufdeckendes Quadratkufi (mittig u. rechts oben), Logos des Wilayat Ninawa (IS, April 2015) (links unten), Wilayat al-Furat (IS, 2016) (rechts unten)

betont und seine Markenspots sogar mit dem Basmala-Clip kombiniert. Animation tritt dabei in mehreren Formen auf. Die Medienmarke des IS wird durch eine komplexe Transparenzmaske aufgedeckt, wobei die Formen der Marke durch Lichtpfadanimationen zusätzlich nachgezeichnet werden (s. Abb. 2b). Animationen wie diese indizieren verschiedene symbolische Kompetenzen des Autors: Neben der technischen Expertise, die eine solche Aufdeckungs- und Effektmaske erfordert, konnotiert die sich aufdeckende und in kühlem Silber gehaltene Q ­ uadrat-Kaligraphie Kompetenz im Cyberraum, durch den der IS seine Videos verbreitet (s. Abb. 2c). Außerhalb von Perioden, in denen jihadistische Gruppen mit mehreren Medienbüros ihre Identifikatoren zentral vergeben, können Logoanimationen über die Bewegung von Objekten anhand von Positions- und Größenkoordinaten hinausgehen. Ein Beispiel: Idents des Wilayat Ninawa (IS) vor 2015 koordinieren das Produzentenlogo als Tracking-Maske mit den Bewegungen eines Blätterkelchs im Filmbild. Bewegung wird in diesem Beispiel zum Teil eines komplexen Kommunikats, das durch motivische und farbsemantische Konnotation auf Bausteine der IS-Ideologie (Ideologeme) rekurriert. Die Farbe Gold, die das Produzentenlogo texturiert, wird schon im Koran im Kontext wirtschaftlichen Werts genannt. Zudem symbolisiert es das Unverwüstliche und Unvergängliche

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(Schöning 2002, S. 334) – letzteres ist eine treffende Assoziation für die Region Ninawa, die (mit Mossul als Hauptstadt des ‚Kalifats‘) als eine Wiege des IS gilt. Die Szene selbst ist durch die Dominanz der Farbe Grün gekennzeichnet, die sich im Koran auf einen „sense of freshness and luxuriousness“ sowie die „glories of God’s creation“ (Rippin 2001, S. 362) bezieht. Überhaupt ist Grün die ‚heilige Farbe des Islam‘ (vgl. z. B. Heller 2008, S. 73), die gleichermaßen mit dem Propheten assoziiert wird (vgl. Combating Terrorism Center 2006, S. 107). In der Semantik dieses Clips sind damit verschiedene mögliche Lexien (d. h. semantisch eigenständige ‚Lesarten‘) angelegt, die eine ‚natürliche Präsenz der Religion‘ sowie eine ‚besondere Religiosität des Wilayat‘ andeuten. Die animierte Synchronisierung des Wilayat-Namen mit der Bewegung der Pflanze im Wind (ermöglicht durch das Verfahren der Tracking-Maske) versinnbildlicht so eine ‚natürliche Bewegung des Wilayat im Einklang mit der Religion‘. Technisch komplexere Logo-Animationen weisen vereinzelt computergenerierte Raumbilder auf, deren Gebrauch allerdings nur sporadisch auftritt. Etwas häufiger treten Partikelanimationen in Form von Lichtpartikeln (oft mit digital genierten Lens Flares bzw. Linsenreflexionen), Funkenflügen (s. 3.3) und Wasseranimationen auf. Sehr selten sind Animationen von Blättern im Wind. In allen Fällen handelt es sich sicher oder wahrscheinlich um verschiedene Anwendungen von Partikelsystemen, wie sie unter anderem durch die Software Adobe After Effects ermöglicht werden. Die dargestellten Objekte dienen dazu, das Produzentenlogo mit bestimmten Konnotationen zu versehen, welche die Ideologie des Produzenten indizieren. Auch die regionale Identität kann durch Animation betont werden, wie im Fall des Wilayat al-Furat, welches seine Lage am Euphrat („al-Furat“) mit der Wasseranimation im Logo betont. Gleichermaßen trägt die Abbildung von Wasser verschiedene Konnotationen in die Bildkomposition hinein, darunter das semantische Merkmal „Schöpfung des Lebens“ (vgl. Johns 2006).11

3.3 Titel und Segmenttrenner Der Einsatz komplexer Titelanimationen sowie Segmenttrennern, die ästhetisch passend zum Titelbild gestaltet sind, sind eine Entwicklung, die sich schon in den 1990er Jahren auf dem Gebiet der JVP angekündigt hat. Doch erst seit

11Eine

umfassende Studie der Bedeutung von Wasser im Koran hat Johns (2006) vorgelegt.

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Anbruch der 2010er Jahre sind sie auf breiter Ebene in den Videos verschiedener jihadistischer Gruppen zu finden. Erneut ist die Medienarbeit des IS zwischen 2014 und 2018 als maßgeblicher Impuls in diesem Kontext zu nennen. Ein Titelbild mit Text- und Objektbewegungen, ausgewählten Farben und Hintergrundtexturen auszustatten ist mittlerweile Standard. Es sind jedoch die ‚größeren‘ überregional ausgerichteten Produktionen, in denen dieser Standard noch zu überbieten und ihn durch verschiedene komplexe Animationsverfahren qualitativ aufzuwerten gesucht wird: Maskierte Designelemente, kinetische Typografien (auch: letter personification, vgl. Krasner 2008, S. 168) und Animationen entlang von Bewegungspfaden für verschiedene aus Partikelsystemen generierte Bild- und Lichtobjekte kommen darin oft vor. Im Folgenden soll ein Schlaglicht auf zwei der bislang aufwendigsten Titelproduktionen geworfen werden, nämlich jene in dem Exekutionsvideo Healing of the Believers’ Chests (Februar 2015) und jene in dem Kalifats-Endzeitepos Flames of War II – Until the Final Hour (November 2017). Healing of the Believers’ Chests gelangte mit seiner Veröffentlichung zu trauriger Berühmtheit. Es zeigt und narrativiert die Verbrennung des jordanischen Kampfpiloten Mu`ādh al-Kasāsba, der im Dezember 2014 abgestürzt und in die Gefangenschaft des IS geraten war. Das Video wartet mit einem vergleichsweise hohen Maß filmsprachlicher Komplexität auf, das über die Inszenierung von Exekutionen in regionalen IS-Produktionen hinausgeht. Nicht zuletzt schlägt sich dies in der Gestaltung der Titelsequenz nieder. In dieser ist das ­Wireframe-Modell eines jordanischen Kampfjets zu sehen, der sich auf eine Stadt im Kalifat zubewegt. Zwar ist der IS im Frühjahr 2015 bereits in der Lage, Gittermodelle zur Gestaltung von Text und anderen Objekten zu erstellen, doch werden seine 3D-Modellierungsfähigkeiten nun erstmals in einer kinetischen Typografie verwendet.12 Diese Technik nutzte bislang offenbar nur der IS in einigen wenigen Produktionen und dies auch nur zur Blütezeit des Kalifats (Abb. 3). Animation steht in diesem Titelbild im Dienst des Storytellings und der visuellen Dekonstruktion von Bildzeichen, womit sie weite Teile der rhetorischen Last der Titelsequenz trägt. Auf der repräsentationslogischen Ebene nähert der jordanische Kampfjet sich dem Hoheitsgebiet des IS an, zerfällt schlagartig in zahllose Teile und setzt sich dann zum Titelbild zusammen, welches anschließend durch ein gleißendes Licht transzendiert wird und wieder desintegriert. Während

12Die

Postproduktion des Videos dürfte nicht weniger als einen Monat in Anspruch genommen haben, da Kasāsba Nachrichtenmeldungen zufolge bereits am 3. Januar 2015 exekutiert wurde (vgl. Der Spiegel 2015).

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Abb. 3a–d:   Kinetische Typografie in Healing of the Believers’ Chests

die Bewegung von objektartigen Gittermodellen lediglich die Signifikanten jordanischer Kampfjet und Ortschaft des IS zueinander in Relation setzt, dient die Animation der Gittermodell-Bestandteile dazu, die Zerstörung des Jets visuell zu organisieren (bildhaftes Storytelling des Titels) wie auch dazu, die Materialität des Titelschriftzugs über die Flugzeugteile zu versinnbildlichen. Dadurch ergänzt Animation den Titel des Videos um eine konkrete materielle Dimension: ‚Healing of the Believers’ Chests‘ ist eine Phrase, die wohl vor allem auf einen Rechtsbegriff des IS und das Prinzip der Vergeltung rekurriert. Wie wichtig den Titeldesignern die Verbindung von abbildhafter Materialität mit Animation war, zeigt die weitere Gestaltung des Titels. Die Gitterschrift wird von einem gleißend weißen Licht transzendiert; scheinbar durch dieses Licht aus dem Hintergrund angestoßen zerstreuen sich die (‚materiellen‘) Teile des Schriftzugs. Die Farbe Weiß steht im Koran für Schöpfung und steht im Kontrast zu Schwarz (wie in der Hintergrundgrafik) für Reinheit, etwa wenn sich etwas Freudiges ereignet (vgl. Rippin 2001, S. 363 ff.). Außerdem mag die Lichtanimation ein Wirken Gottes zu Gunsten der Gläubigen symbolisieren (Combating Terrorism Center 2006, S. 109). Die durch das Gittermodell als eine Art 3D-Blaupause evozierte technologische Materialität des Kampfjets schwindet zugunsten eines rein in Blau gehaltenen Schriftzugs, der im Kontext dieses Videos mit der Preisung klarer blauer Himmel (vgl. Rippin 2001, S. 363)

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assoziiert werden kann. Mit der kurz aufglühenden Lichtquelle hinter dem Titelschriftzug, einer Animation im Sinne von Größe und Ausdehnung des Lichtobjekts, geht symbolisch die Präsenz des Islam einher. Es ist die Koordination zweier Animationsverfahren, die in Verbindung mit farbsymbolischen und motivischen Aspekten die ideologische Botschaft transportiert: Die in religiösem Recht begründete Kraft des Islam (in der Auslegung des IS) werde die technokratische Materialität der Angreifer beseitigen, sodass der Himmel frei von Angreifern werde.13 Flames of War II – Until the Final Hour (November 2017) weist sich bereits anhand seiner Laufzeit von fast einer Stunde als ein ideologisch zentrales Werk in der Spätphase des Kalifats aus. Selbst im Niedergang legte der IS Wert darauf, imposante Animationen zu produzieren, um seine Botschaften an ideologische Anhänger und Gegner zugleich zu senden. Mit den militärischen Erfolgen der Koalitionstruppen nimmt seine Fähigkeit, komplexe Animationen hervorzubringen, allerdings ab, unter anderem weil die Mediendesigner des IS keine Zeit mehr für aufwendigere Animationen aufbringen (können).14 Dafür kommen Animationsverfahren zum Einsatz, welche eher standardmäßige Verfahren visuell aufwerten. So ist das Titelbild von Flames of War II eine bombastisch inszenierte Bewegung von offenbar eigens designten dreidimensionalen Lettern mit metallisch reflektierenden Texturen, die sich zum Titelbild zusammensetzen. Sie wird aufgewertet mit direktionalen Funken- und Partikelfluganimationen, im Keying-Verfahren eingefügte bzw. computergenerierte Flammen, JitterEffekte (‚Bildruckler‘, die hier die Bewegungsintensität des Bildobjekts auf die Bildstabilität übertragen), Lichtquellenbewegungen und ‚Hitzewellen‘. Dieser Katalog von Bewegungen und Bewegungseindrücken im Bild indiziert einen auch

13Wie

zielführend der Einsatz solcher kinetischen Typografie unter dem Aspekt der Kommunikation sein kann, beleuchten van Leeuwen und Djonov (2015). Sie beobachten durch kinetische Typologie eine Entwicklung hin zur Piktorialisierung (wobei sie ebenfalls den Aspekt der Materialität exemplifizieren), sowie zur Informationalisierung, Emotivierung und Dynamisierung. Als Informationalisierung bezeichnen sie die Aufwertung von Text mit einer der Sprache ähnelnden Ausdrucksfähigkeit, unter Emotivierung eine Investition in die affektive, emotional-appellative Dimension des Textes, um ihn „glaub- und fühlbar“ zu machen. Mit Dynamisierung bezeichnen die Autoren die Beweglichkeit der Buchstaben und über den Text hinaus gar eine Integration kinetischer Typografie in den Alltag. 14Gegen Ende 2017 hat die Operation Inherent Resolve den IS bereits in den Südosten Syriens zurückgedrängt. Über den Fortschritt des Kampfs gegen den IS in Syrien und dem Irak informiert die Combined Joint Task Force unter https://www.inherentresolve.mil/.

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Abb. 4a–d:   Animiertes Titelbild und Zwischentitel in Flames of War II

trotz der Ende 2017 schwierigen Kriegssituation des IS immer noch versierten Umgang mit Bilderzeugungs- und -effektsoftware (Abb. 4). Die Segmenttrenner des Videos sind wie in den meisten jihadistischen Produktionen vollständig am Computer generiert und animiert worden. Ihre Funktion ist neben der Segmentation des thematischen Programms dessen Rhythmisierung und die Aktivierung (‚Animierung‘) des Zusehers (vgl. Adolph und Scherer 1997, S. 63 f.). Solche ‚Bumper‘ sind in seriellen Produktionen in homogenen Designs gehalten, während ideologisch paradigmatische Produktionen wie Flames of War II auch vom Titeldesign abweichende Zwischentiteldesigns aufweisen können. Flames of War II nutzt diese, um einen Wechsel der Schauplätze zu markieren. Hierzu verwenden die Designer des Videos eine virtuelle Weltkarte – ein häufig verwendetes Animationsmotiv in ISVideos – über die sich um Partikel-, Feuer- und Raucheffekte ergänzte Feuerstreifen bewegen. Bedeutung und Effekt ähneln hier der Titelanimation in Healing of the Believers’ Chests: Das schematisch-technische Motiv (hier eine in Arabisch und Englisch beschriftete Karte als Medium der distanzierten Übersicht) wird mit der unmittelbaren Energie und Wucht ‚realer‘ Flammenspuren des ‚echten‘ Kriegsgeschehens kontrastiert. Der kalten High-Tech-Kriegsführung der Gegner, die vor allem auf Distanzwaffensysteme (Drohnen, Jets, Satelliten, intelligente Bomben etc.) setzt, wird die unmittelbare Hitze des Gefechts entgegengesetzt, in der die IS-Kämpfer sich und ihre Glaubenskraft beweisen.

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3.4 Thematische(r) Kern(e) Dass ein Video ausschließlich aus animierten Bildern besteht, ist in jihadistischer Videopropaganda möglich, wenn auch selten. Gehversuche gab es in diesem Bereich in den 2000er Jahren wiederholt, sie weisen aber klare Beschränkungen hinsichtlich der technischen Möglichkeiten aus. Nach 2014 haben sich zwei kurzlebige Formate – Instruktions- und Statistikvideos – entwickelt, die von zeitgemäßer Animationstechniken Gebrauch machten. Abermals sind es Produktionen des IS, die auf diesem Gebiet die Grundlagenarbeit gemacht haben, wobei eine unsystematische Produktionsgeschichte des jihadistischen Statistikvideos bis in die 2000er Jahre zurückverfolgt werden kann. Ghusl and Tahara (Mai 2017) ist eines der wenigen voll animierten Videos. Es instruiert die Betrachter, wie man sich vor dem Gebet zu reinigen habe. Visuell sind solche Instruktionsvideos nüchtern gehalten: Ein Voice Over leitet durch Masken verschiedener sich bewegender, nacheinander aufdeckender oder sich ergänzender, teils piktogrammartiger Objekte, Formen und Texte, während in den Hintergründen florale Designornamente rotieren. Animation dient hier der verknüpfenden Darstellung, der Veranschaulichung und dem Flow des Programms. Der IS hat bislang vier solcher Instruktionsvideos veröffentlicht (Abb. 5). Harvest of the Soldiers, die vom al-Hayāt Media Center ab Sommer 2018 bis Anfang 2019 wöchentlich publiziert wurde, ist dem Programmformat ‚Kriegsstatistik‘ zuzurechnen. Die Reihe zeigte animierte Masken von Explosionen, zerstörten Gebäuden und Erschießungen. Diese dienten als Hintergrund für die Zahlen der Gewinne und Verluste der Mujahedin des IS, die in Form von Balkenund Kreisstatistiken präsentiert wurden. Lediglich die statistischen Angaben wurden wöchentlich aktualisiert, während die Animationen selbst nicht neu bearbeitet wurden. Die Reihe wurde im Januar 2019 eingestellt, als der IS durch

Abb. 5a–b:   Screenshot aus Ghusl and Tahara (links) und Harvest of the Soldiers (rechts)

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die Operation Inherent Resolve in Richtung Baghuz im östlichen Syrien zurückgedrängt wurde. Hinsichtlich der animierten Zeichen des Videos ist die reine Bewegung von Objekten und die Konjunktionen zwischen ihnen durch Blur Zooms (virtuelles schnelles Zoomen in Kombination mit Unschärfe) nicht überraschend, das Vorkommen animierter Silhouetten von IS-Mujahedin und ihren Opfern dagegen schon. Es ist nicht mit letzter Sicherheit zu sagen, wie diese Silhouetten erzeugt wurden: Handelt es sich um Polygonmasken auf der Basis von Realfilmdaten oder sollten die Medienarbeiter des Islamischen Staates tatsächlich menschliche Figuren komponiert und animiert haben? Ersteres ist angesichts des geltenden Bilderverbots wahrscheinlich, mehr noch, wenn man bedenkt, dass gerade der IS in der Erstellung von Bildmasken versiert ist (s. u.) und somit in der Lage ist, bewegte Formen aus Filmbildern herauszulösen und zu silhouettieren. Womöglich fällt der polygonale Umriss menschlicher Figuren, der entweder händisch oder automatisch Frame für Frame an die Bewegung der abgebildeten Personen angepasst worden sein muss, jedoch in die Grauzone des Erlaubten. Aus ‚geschwärztem‘ Realfilm gewonnene Bilder sind an ihrem Ursprung Abbilder der Realität und darüber hinaus handelt es sich hier weniger um konkrete, sondern eher um ornamentale Figurenabstraktionen. Außerhalb dieser seltenen voll animierten Formate treten Animationen vorrangig in Form von bewegten Textmasken auf, die auch außerhalb von Titeln und Zwischentiteln in ambitionierteren Produktionen vorkommen. Filmanalytisch ist hier die Frage interessant, inwiefern Animationen als computergenerierte Elemente ontologisch transgressiv sein können. Unter „ontologischer Transgression“ ist dabei die Kopräsenz ontologisch distinkter Elemente („ontologically distinct elements within one diegesis“ – Feyersinger 2017, S. 28 f.) zu verstehen. Darunter sind solche Effekte zu fassen, bei denen beispielsweise Menschen mit Trickfilmfiguren interagieren wie in Mary Poppins (1964), die Platzierung von CGI-Objekten und -Figuren in reellen Umgebungen oder die Platzierung menschlicher Figuren in CGI-generierten Umgebungen in Hulk (2003). Bedingt durch das Darstellungsverbot für beseelte Lebewesen kommen figurale Transgressionen in JVP nicht vor. Es gibt jedoch nennenswerte Grenzfälle, in denen animierte Objekte in fotooptisch erstellten Filmbildern kopräsent sind. Zwei der wichtigsten Beispiele sollen nachfolgend vorgestellt werden. Das Werbevideo für Moalem al-Huruf (September 2017), einer von drei offiziellen Android- Apps des IS für Kinder15, zeigt mehrere visuelle Effekte,

15Vgl.

dazu auch den Beitrag von Andreas Rauscher in diesem Band.

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Abb. 6a–b:   Screenshot aus Moalem al-Huruf (links), Tracking in Inside the Khilafah 7 (rechts)

die in der Geschichte der JVP eher selten sind. Darunter befindet sich eine nachbearbeitete Aufnahme einer Gruppe von Kindern, die mit Handys inmitten von animierten Buchstabenkugeln sitzen (s. Abb. 6a). Die Kamera vollzieht eine Annäherung zum Objekt hin. Die ins Bild eingefügten Computergenerierten Objekte werden durch Objektbewegung und Objektskalierung ins Filmbild eingepasst, woraus der Eindruck körperlicher Präsenz in der Szene resultiert. Dieser Effekt wird zusätzlich gefördert durch den Einsatz von Objektmaskierungen (siehe die Grashalme unter den Kugeln) und Schattierungen (die durch den Einsatz unterhalb der Transparenzmaske irreal wirken). Auch Beleuchtungsrichtung, Beleuchtungsintensität und die Farbtemperaturen scheinen angepasst worden zu sein. Eine Interaktion zwischen den darstellenden Kindern und den künstlichen Objekten findet nicht statt. Die Einstellung läuft rund fünf Sekunden und stellt (gemeinsam mit einem bislang einmaligen Screen-Replacement-Effekt in einem weiteren Take) bislang eine Rarität in der Geschichte der JVP dar. Animation koordiniert hier ontologisch differente Bildobjekte und integriert computergenerierte Objekte abbildrealistisch in die Szene. Dadurch ermöglicht sie eine semantische Erweiterung des ‚religiösen kinderfreundlichen Raums‘ (Kinder als Motiv in einer Naturszene am Wasser und sinnbildlich ‚im Licht‘) um das Merkmal der Schriftkunde (die durch die grellfarbigen Kugeln zudem kinderfreundlich gestaltet ist). Ein anderes Beispiel mit geringerer ontologischer Transgressivität zeigt planares Tracking von Text und Textdesigns: Buchstaben und andere gestalterische Elemente erscheinen als perspektivkonstante Objekte im Abbildraum. Allein als Objektplatzierungsverfahren ist dieses Verfahren dem in Moalem al-Huruf sehr ähnlich, wenn nicht identisch. Nur eine Handvoll Videos des Islamischen Staats, die im Œuvre des IS als zentral zu charakterisieren sind,

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machen von planarem Tracking Gebrauch und dies auch nur punktuell, wie etwa Inside the Khilafah 7 (Februar 2018). Der Effekt bewirkt eine Transgression von Wort und Welt, aber auch eine Auflösung der Grenzen von abstrakten Worten und Schriftzeichen mit der konkreten fotografischen Abbildwelt.

3.5 On-Air-Design Das On-Air-Design – womit in der Regel das visuelle Erscheinungsbild von Fernsehsendungen bezeichnet wird – ist schon früh Merkmal des jihadistischen Films. Bereits Osama bin Ladens erste Videobotschaft aus dem Jahr 1986 nutzte das untere Bilddrittel für eine Texteinblendung. Im Laufe der Jahre wurde auch das obere Bilddrittel erschlossen, um die Logos des jeweiligen Produzenten, das Symbol der verantwortlichen Gruppe oder das Schwarze Banner des Jihad einzublenden. Untertitel werden bevorzugt und, wie es international Standard im ­TV-Journalismus und Kinofilm ist, im unteren Bilddrittel platziert, seltener im oberen Bilddrittel. Animationen sind über Auf- und Abblenden hinaus im OnAir-Design eher selten. Das Produzentenlogo kann animiert sein, der IS und seine Medienstellen tun dies standardmäßig: Ähnlich wie im Ident (Produzentenkennung) wechselt sich die wehende Flagge des IS durch Transparenzmasken mit dem Logo des Produzenten ab, animiert durch eine Bewegungs- und Transparenzmaske. In der Regel wird das Logo des Produzenten im oberen rechten Bildneuntel platziert, was sich aus der Schreib- und Leserichtung des Arabischen (waagerecht, linksläufig) ableiten mag. Auch andere Positionierungen sind für das Logo möglich. Den meisten Gruppen genügt eine statische Einblendung ihres Logos im oberen Bilddrittel sowie die Darbietung von Untertiteln und Bildunterschriften durch harte Schnitte. Lediglich die Textbühne der Untertitel (z. B. ein dunkles Rechteck mit geringer Transparenz, vor dem der eingeblendete Text besser lesbar ist, und das auch mit Verzierungen vorkommen kann) mag in animierter Form auftreten. Letzteres kommt etwa zu Einsatz, wenn der Name einer interviewten Person und ihre Funktion (Beruf, Rang, etc.) eingeblendet werden (z.  B. in der großangelegten Hay’at Tahrīr ­ash-Shām-Produktion The Railroad, 2018). Allgemein unterstützen On Air-Animationen das jihadistische Video in seinen informativen Funktionen und verleihen ihm einen journalistischen Anstrich.

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4 Sonderfälle von Animationen in JVP: Bildmasken, Fehler und Aneignung Mit den zuvor aufgeführten Standardfällen von Formen und Formaten, in denen Animationen in jihadistischer Videopropaganda auftreten können, sind natürlich nicht alle bekannten oder gar möglichen Formen von Animation abgedeckt. Durch diese Studie des jihadistischen Videos konnte die kontingente Form verschiedener mehr oder weniger serieller Typen von Animation in JVP beschrieben werden. Jihadisten, so scheint es, bringen ein hohes Maß an ideologisch begründeter Motivation mit, die es ihnen ermöglicht, sich verschiedene Techniken der Medienproduktion schnell und mit einem teils hohen Maß technischer Versiertheit anzueignen. Der Islamische Staat konnte derartige Motivationen zu Spitzenzeiten zwischen 2014 und 2017 sogar institutionell antizipieren und fördern.16 Zwar ist bekannt, dass speziell die Medienarbeiter des IS vom weisungsgebenden Medien-Diwan („Medienamt“ oder „-ministerium“) davor gewarnt wurden, Verfahren zu innovieren.17 Doch sowohl in der Medienproduktion des IS als auch aus dem breiteren Forschungsbereich des Films des Jihadismus sind verschiedene Animationsverfahren zu beobachten, deren Vorkommen bislang selten geblieben ist. Während die Anfertigung von Titelmasken eine weit verbreitete Praxis ist, ist die Anfertigung von Bildmasken unter jihadistischen Medienarbeitern außerhalb des IS noch wenig bis gar nicht verbreitet. Gemeint sind damit vor allem Kompositionen aus Ausschnitten von Fotografien und Standbildern, teils kombiniert mit animierten Grafiken (Statistiken, Flammen, usf.). Technisch versiert zeigen sich damit einige ideologische Werbevideos des Islamischen Staates, die gleichzeitig als Drohvideos an die ideologische Gegnerschaft fungieren. Mit Kein Aufschub (2015, engl. Fassung: No Respite) besteht ein ganzes Video ausschließlich aus derartigen Masken. Auch in bewegten Bildern wurde ein Einsatz dieses Verfahrens versucht: Das Exekutionsvideo But if You Return to Sin, We Return to Punishment 3 (2016) weist während einer Enthauptung einen Objektmaskeneffekt auf, durch den das Opfer als Umrissmaske aus dem Bild

16Milton

(2018) hat eine Studie zu internen Dokumenten des IS vorgelegt, aus denen u. a. interne Organisationsstrukturen und praktische Handlungsanweisungen für Kameramänner hervorgehen. 17Siehe dazu die von Milton (2018) besprochenen internen Dokumente des IS.

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herausgelöst wird.18 Animation wird hier dazu benutzt, das Tötungsereignis zu betonen, es zu zelebrieren und den Realitätseffekt der Szene zu steigern. Dieser Animationseffekt ist in thematischen Kernen der JVP-Syntax allerdings selten, wenn nicht einmalig, und tritt ansonsten ausschließlich in Titelsequenzen auf, wie in Honor is in Jihad (2014). Zwar werden ambitionierte jihadistische Videoproduktionen oft im Multi Angle-System gefilmt (d. h. üblicherweise mit zwei bis drei Kameras, selten mehr). Bemerkenswert in Videos zwischen 2014 und 2016 ist die Aufbereitung einzelner Takes durch Reduktion der Abspielgeschwindigkeit. Da jihadistische Gruppen über keine genuinen High-Speed-Kameras zu verfügen scheinen, müssen sie erwünschte Slow Motion-Effekte in der Postproduktion erzeugen. Schnelle Objektbewegungen wie der Abschuss von Raketenwerfern oder einer sich entleerenden Gewehrkammer werden von handelsüblichen Kameras mit 24 oder 25 fps (Frames per Second/Bildern pro Minute), also in geringer Bildrate aufgezeichnet – sofern das filmische Aufzeichnungsmedium das Geschoss damit überhaupt abbildhaft erfasst. Um die abgefeuerten Projektile wie ­Boden-Boden-Raketen oder andere rasante Objekte dennoch zeigen zu können, nutzten zuerst IS-Mediengestalter in der Vergangenheit digitale Effekt-Filter, Animationstemplates und besonders das Optical-Flow-Verfahren in Adobe Premiere. Dieses erlaubt die Interpolation von künstlich generierten Bildern, sodass trotz ‚nicht vorhandener‘ (Zwischen-)Bilder ein Eindruck von fließender Bewegung in Slow Motion-Videos erweckt wird. Da das Verfahren allerdings bei der Anwendung eines extremen Zeitdehnungsfaktors auf Videomaterial mit relativ geringerer fps-Rate anfällig ist für die Generierung von Bildfehlern, sind Datamoshing-artige Bildartefakte oftmals deutlich im Bild zu erkennen. Ein solches visuelles ‚Vermischen‘ oder ‚Verlaufen‘ von Bilddaten tritt nicht nur als digitaler Bildfehler auf, sondern wird – etwa in Musikvideos – häufig bewusst und gezielt als ästhetisches Mittel eingesetzt. Ähnlich finden sich beim IS Aufnahmen wie in einem Take in Flames of War (2014), in dem ein Mujahed einen Raketenwerfer abfeuert: Mittels Optical Flow generierte fehlerhafte Frames, in denen in einem Frame sogar zwei Raketen auf einmal den Lauf des Raketenwerfers verlassen. Der Einsatz von Animation im Sinne der nachträglichen Generierung von Bildern, die es zwar in der Realität, aber nicht aufseiten des Filmdatenträgers gab, kann nicht zum erwünschten Ergebnis führen,

18Nicht

zu verwechseln ist dieser Effekt mit Viewpoint Morphing und Bullet-Time-Effekten wie sie in The Matrix (1999) zu sehen sind.

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da die Interferenz von Bildrate mit Optical Flow im Grunde Bilder erzeugt, die in der Realität unmöglich sind. Noch zudem wird oftmals vermutet, dass die Medienarbeiter des IS in diesem speziellen nachbearbeiteten Take eine Druckwelle mittels Verzerrungseffektfilter auf die Bildebene anwenden und damit den Raketenabschuss synästhetisch erlebbar machen. Einer der wenigen (mutmaßlichen) Gehversuche im Bereich des Green Screen-Verfahrens findet sich in Mein Treueeid an den Islamischen Staat (April 2014). In diesem Video leistet das deutsche IS-Mitglied Abu Talha ­al-Almani (Denis Cuspert alias Deso Dogg) seinen Treueeid an den Kalifen alBaghdadi. Cuspert sitzt dabei vor einem ganz offenbar als Green Screen nutzbaren Tuch. Der Hintergrund wurde im veröffentlichten Video allerdings nicht durch ein Austausch-Verfahren gegen ein anderes Bild ersetzt (Keying bzw. Compositing, vgl. Flückiger 2008, S. 191 ff.). Der Grund, weshalb hier kein Green-Screen-Verfahren eingesetzt wurde, mag am mangelhaften Technik­ gebrauch liegen: An der Beleuchtung der Szene, dem erkennbaren Einsatz zweier unterschiedlicher Kamerasysteme sowie einem offenkundigen Fehler bei der Wahl des Bildausschnitts, durch den das Bild den Raum außerhalb des Green Screens zu erkennen gibt. Auch der schlichte Mangel passender Animation als Hintergrund ist denkbar. Nichtsdestotrotz ist dieses Video nur eines von einer Hand voll jihadistischer Videos, in denen es zumindest Indizien für den Einsatz dieses Verfahrens gibt.19 Des Weiteren können Unschärfen und Verpixelungen, die zu Zensurzwecken eingesetzt werden, beweglich sein – etwa das Bewegungstracking in der Verunkenntlichung oder Abdeckung bestimmter entblößter Körperpartien (lediglich Kopf, Hände und Füße des Mannes treten unbekleidet in Erscheinung), von unverschleierten Frauengesichtern und von Mundbewegungen, sofern in einer Großaufnahme Personennamen ausgesprochen werden, die die Gruppierung geheim halten möchte. Was schließlich die Appropriation von Animationen (und nicht nur deren technischen Produktionsmitteln) betrifft, ist der IS insbesondere dafür berüchtigt, Animationen aus Spielfilmen und Dokumentationen in seine eigenen Produktionen zu schneiden, wo sie in veränderten thematischen Kontexten und teils durch Effektmasken optisch verändert wieder auftauchen. Sequenzen aus Blockbustern mit hohem CGI-Anteil treten vereinzelt v. a. in regionalen

19Dem

Autor ist mindestens ein jihadistischer Versuch in dieser Hinsicht bereits in den 2000er Jahren bekannt; eine serialisierte Verwendungspraxis ist in der Geschichte der JVP aber nicht zu erkennen.

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I­S-Produktionen in Erscheinung. Sie werden dort als Narrative auf Basis historischer Ereignisse oder der religiösen Überlieferungen genutzt, um die Handlungen der Gegenwart mit historischen oder religiösen Ereignissen zu parallelisieren. Hierdurch wird es möglich, dass z. B. Conquer the Enemies (2018) Ausschnitte der Schlacht zu Pferde aus The Lord of the Rings: The Return of the King (2003) beinhaltet. Revelations of Satan (2016) zeigt gar eine angeeignete CGI-Animation der International Space Station (ISS) im Erdorbit, die vermutlich von der NASA zu Werbe- und Informationszwecken erstellt wurde oder einem Spielfilm entstammt.20

5 Verstöße gegen den Anikonismus? Nachdem die menschlichen Silhouetten in der Statistikvideoreihe Harvest of the Soldiers bereits erwähnt wurden (s. 3.4), sollen im Folgenden noch einige weitere Grenzfälle sowie Verstöße gegen das Abbildungsverbot Erwähnung finden. Das erste Beispiel findet sich in einem Video einer anderen zeitgenössischen jihadistischen Gruppierung. What Do You Know About Idlib University? wurde im Januar 2019 von Hay’at Tahrīr ash-Shām (HTS) publiziert. Es handelt sich um ein vollständig computeranimiertes Infovideo, in dem die al-Qaida-nahe Gruppe die Universität Idlib mit all ihren Vorzügen vorstellt. Das Video verwendet statische Grafiken, die nur insofern animiert sind, als sie ohne scheinbare Eigenbewegung innerhalb des Bildes bewegt und durch verschiedene Masken und Objektgrößenmanipulationen aufgedeckt werden. Dabei werden interessanterweise auch zahlreiche menschliche Figuren abgebildet (s. Abb. 7a), die sich ebenfalls ohne eigene ‚physische‘, sondern nur durch objektgrammatikalische Animation als statische Objekte ‚bewegen‘ – sprich: sich in ihrer Positions- und Größenrelation zu anderen Bildobjekten verändern. Ihre Animationen, eine Kombination aus Fade-In und einer durch Ankerpunkte fixierten Objektvergrößerung, vermitteln sehr idiomatisch die Aussage, dass in Idlib ‚die Akademiker aus dem Boden sprießen‘. Es ließe sich ein solches Beispiel als Hinweis darauf deuten, dass HTS eher dem (zumindest ­repräsentations-) ideologisch gemäßigten Spektrum des Jihadismus bzw. fundamentalistischen Islamismus zuzurechnen sein könnte.

20Vgl.

dazu wie zum Begriff der Aneignung Zywietz und Beese (in Vorb.).

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Abb. 7a–d:   Betont moderne Figuren What Do You Know About Idlib University? (oben links); Produzentenkennung in Fatah e Khost (1989) (oben rechts, unten links u. unten rechts)

Das zweite Beispiel ist deutlich älter. Es stammt aus der Zeit des ­ ussland-Afghanistan-Krieges und ist ein 80-minütiges Video, das in durchR aus typischen Bildern des afghanischen Jihadismus der Zeit einen Bericht der Belagerung und Befreiung von Chost im östlichen Afghanistan präsentiert. Die dem Video vorangestellte Produzentenkennung, wohl die der Gruppe Markaz alshahid Azzām al-i’lāmī, weist die Medienstelle in verschiedenen Sequenzen als Autoren von Sachvideos, Kriegsberichten sowie Kinderfilmen (!) aus. Die Bildqualität kann bereits beim abgetasteten VHS- oder Betamax-Original nicht einwandfrei gewesen sein und damit sind insbesondere Schriftzeichen schwer auszumachen. Zu erkennen ist jedoch ein animierter Junge, der durch den Wald läuft, in eine transzendente Lichtumgebung tritt und sich zu einer silhouettenartigen Bewegungsstudie verwandelt, als er durch ein farbiges Prisma springt (s. Abb. 7b–d). Die Möglichkeitsbedingungen dieser Animation wie der Entstehung des gesamten Videos sind unklar. Auch ist diskutabel, wie das Video dem Jihadismus, wie er gegenwärtig definiert wird, zuzuordnen ist. Nichtsdestotrotz besticht das Video durch eine auch für den heutigen Film des Jihadismus immer noch typische Auswahl von Motiven (Gefechtsszenen, Raketenabschüsse usf.) und kann daher zumindest bis auf Weiteres der unsystematisch organisierten Frühzeit des jihadistischen Films zugeordnet werden.

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6 Schluss: Zur Definition von ‚Animation‘ im Kontext der JVP Die von jihadistischen Medienproduzenten genutzten Animationsverfahren entsprechen den Parametern, die Video Editing- und andere mediengestalterische Softwares wie jene der Adobe Creative Cloud anbieten. Angebote wie diese werden von jihadistischen Medienproduzenten inzwischen – je nach militärischem Druck auf die Organisation sowie deren Interesse an und Investition in die Medienarbeit – mit mehr oder minder großem Aufwand genutzt, um Videoproduktionen durch teils imposante Animationen aufzuwerten. Unter diesen Bedingungen sind Begriffsdefinitionen wie etwa jene von Kuhn und Westwell (2012, S. 11) – „the use of a range of non photographic methods, including hand drawing, silhouette animation, cel animation, model work […] and computer animation to create film images“ – noch zu weit und unspezifisch gefasst, da der Film des Jihadismus klassische Animationsverfahren nicht einsetzt. Die von jihadistischen Mediendesignern am Computer generierten Bewegtbilder sind vielmehr im Kontext einer Grammatik der Bewegung („movement grammar“ – v. Leeuwen und Djonov 2015) zu untersuchen oder hinsichtlich einer „Definition des zeitlichen Verhaltens der Objekte im Raum“ (Flückiger 2008, S. 25). Besonders letzteres Zitat ist von einem analytischen Standpunkt aus einladend: Zwar handelt es sich um eine spezifische Definition der Animation an sich, sie ist jedoch einer Taxonomie von Special Effects und Visual Effects entnommen, anhand derer sich das Phänomen der Animation im Forschungsfeld der JVP genauer definieren lässt. Flückiger definiert Special Effects als „eine Reihe filmtechnischer Verfahren, die von bühnentechnischen, mechanischen Effekten inklusive Pyrotechnik über optische Verfahren in der Kamera bis hin zu Techniken der Postproduktion reichen“ (ebd., S. 518). Als solches erstrecken sich Special Effects auf. 1. Effekte, die vor der Kamera durchgeführt und somit foto-optisch aufgezeichnet werden (Beleuchtung, Maskenbild, Modellbau, Pyrotechnik, etc.), 2. Effekte, die in der Kamera oder durch die Kamera durchgeführt werden (z. B. Slow Motion, Mehrfachbeleuchtung, Stop Motion) und 3. Effekte, die in der Postproduktion durchgeführt werden (CGI, digitale Masken, Compositing, usf.). Die ersten beiden Kategorien, die sich der Produktionsphase eines Films zuordnen, treten in der Geschichte der JVP höchstens bruchstückartig in

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Erscheinung – zu groß mag die Gefahr sein, Bilder zu schaffen, die die lebensweltliche Realität nicht spiegelbildartig abbilden.21 Hinzukommt, dass (v. a. politisch- und religiös-radikale) Propaganda prinzipiell einen starken Hang zu dokumentarischen Formaten pflegt, da sie wirklichkeitsformende Ziele verfolgt. Jihadistische Videopropaganda ist so betrachtet aus mehreren Gründen hinsichtlich der Anwendung von Effekten und speziell von Animationen in erster Linie ein Postproduktions-Genre.22 Der Kategorie Special Effects sind die Visual Effects untergeordnet, d. h. „digitale Verfahren der Bilderzeugung, sogenannt [sic] computergenerierte Bilder (computer generated imagery, kurz CGI) sowie digitale Verfahren der Bildbearbeitung“ (ebd., S. 520). Unter beide Begriffe kann Flückigers Definition der Animation subsummiert werden, wobei sich lediglich der konkrete Bezug des Animationsbegriffs ändert: In der Produktionsphase kann Animation z. B. die Herstellung von Stop-Motion-Animation bezeichnen, in der Postproduktion dagegen den Einsatz von Wandermasken in Titelsequenzen. Da Animationen in JVP ausschließlich als Postproduktionsverfahren vorkommen, sind sie im Bereich der Visual Effects zu verorten. Dieser ist jedoch durch die technischen Limitationen im Grunde aller JVP-Produzenten nicht mit Hollywood-ähnlichen Produktionen zu vergleichen: Jihadistische Medienarbeiter verwenden seit jeher Consumer- und Prosumer-Technologie, die über den Einzelhandel zugänglich ist. Schon seit den 1990er Jahren zeigen sich die Medien-Mujāhidīn mit ihren Werkzeugen auch flüchtig vor der Kamera, im Fall des IS zuletzt in dem Video Inside the Khilafah 8, in dem sie sowohl den Gebrauch von Adobe Premiere sowie den Feldeinsatz preislich erschwinglicher Kameras (Nikon Coolpix P900, GoPro) dokumentieren.23 JVP-Animation ist damit charakterisierbar als ein Set von Visual-Effects-Verfahren, die teils auf dem Niveau ideologisch hoch motivierter, teils sogar quasi-professioneller („Heim-“)Anwender eingesetzt wird (wobei nicht jeder jihadistische Medienproduzent diese Qualität erreicht). Semiotisch verbleibt Animation dabei in einem recht engen Bedeutungs- und Bezugsfeld.

21Der

IS mag für eine Handvoll sorgfältig geplanter Produktionen Drehorte in bestimmtem Maße hergerichtet haben, doch gilt das auch in seinem Fall für eine Minderzahl der Produktionen. 22Der Mythos vom „Hollywood-gleichen“ IS-Videos ist folglich auch in diesem Zusammenhang deutlich über bisherige kritische Betrachtungen wie jene von Dauber und Robinson (2015) hinaus zu dekonstruieren; vgl. dazu auch Zywietz und Beese (in Vorb). 23Siehe dazu wie zu dem Video auch den Beitrag von Simone Pfeifer et al. in diesem Band.

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In JVP ist Animation damit im Sinne eines Designs der Bewegungen von digital erzeugten Objekten zu verstehen und zu ergründen. Zu den dominierenden Animationsverfahren zählen Objektbewegungen, die anhand der für Videoschnittsoftwares üblichen Parameter beschreibbar sind: • Position • Größe • Rotation • Transparenz/Opazität • Ankerpunkt. Die Animationsverfahren organisieren einen insgesamt begrenzten Kreis von Bildobjekten, deren Bewegung nicht gegen den Anikonismus verstoßen: • Zweidimensionale Texte, einschließlich Kalligrafien und Logos • Dreidimensionale Texte (Buchstaben, Kalligrafien und Logos, die als texturierte Gittermodelle oder durch Masken in Bewegung gesetzt werden) • Pflanzen (einschl. ornamentaler Designs) • Infografiken und Piktogramme • Naturelemente (Feuer und Wasser als häufigste Motive), Landschaften • Partikelsysteme zur Erzeugung von Licht-, Feuer-, Funken-, Wasser- und Rauchanimationen • Licht und Lichtphänomene: Lens Flares, computergenerierte Lichtquellen, Schattierungen und Reflexionen etc. • Landkarten sowie unbelebte, z. B. technische Objekte und mediale Artefakte, einschließlich der Simulation von militärischer Zielsystemmarkierungen, eingeblendete Koordinaten und anderer Elemente eines Militär- oder ­Computerspiel-‚Looks‘. Die Kombination von Animationsverfahren mit ‚erlaubten‘ Animationsobjekten führt vor allem zur Gestaltung von Masken, Titelbildern und Motion Graphics, deren Bestandteile durch Objektbewegungen koordinierbar und inszenierbar werden. Hierzu werden Textmasken, Objektmasken (‚Ausschnitte‘ von Bildobjekten zur räumlichen Anordnung), Transparenz-/Wandermasken (zur Aufdeckung von Texten und Objekten) und Tracking-Masken (zur Koordination von künstlichen Objekten mit dem Filmbild) benötigt, die für JVP-Produzenten durchaus serialisierbar sind.

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Mit den hier aufgeführten Verfahren geht unweigerlich die Fähigkeit einher, Animationsverfahren wie polygonale Masken und auch Farb-Keyings zu erstellen, die durch Keyframing (‚Schlüsselposen‘, ebd., S. 511) kontrollierbar werden. Neben den häufig vorkommenden Travel Mattes (Wandermasken), die zu den im Video teils unsichtbaren Verfahren zählen können, ist auch ein begrenztes Repertoire an dreidimensionaler CGI und Lichtanimation zu verzeichnen, das sich besonders auf Texte, Designelemente, selten auf animierte Landkarten und extrem selten auf animierte fotorealistische Räume und Landschaften bezieht. Zudem machen jihadistische Medienproduzenten teils intensiven Gebrauch von Effekt-Presets wie RGB Splits, Bildfehler- und Bildzeileneffekten (um die Anmutung eines Fernsehbildschirms digital zu erzeugen), um nur drei zu nennen, die zum Standardumfang vieler Video-Editing-Softwares oder ihrer Erweiterungen (Add Ons, Plug-Ins) gehören. Besonders durch diese Effekte und ihre originäre Einbindung in die genutzte Software treten Animationen auch und oft wie selbstverständlich als Teil der Bildkonjunktionsverfahren auf, d. h. als Teil des Schnitts bzw. der Montage. Da Animation in jihadistischer Videopropaganda in den oben aufgeführten Strukturbestandteilen struktural kontingent ist, ist sie nicht auf ein bestimmtes (Programm-)Format festgelegt. Alle kontingenten Animationsverfahren können in allen Formaten von Kriegsberichten über Götzenbildzerstörungen bis hin zu Nashīd-Videos vorkommen. Zudem machen die Produzenten keinen nennenswerten Gebrauch von in front of the camera oder in camera-Effekten (weder im Bereich der Animation noch in anderen erkennbaren Bereichen) und eine Manipulation der „profilmischen Realität“ (Souriau 1997) zu Zwecken des Drehs ist (abgesehen von Kamera- und Personenpositionierungen) kaum zu erkennen. Letztlich scheinen aber auch die Möglichkeiten in der Postproduktion eingeschränkt, wie das Studium der Animationsphänomene zeigt, allerdings offenbar eher theologisch als technisch begründet. Gemäß des Gebots des Anikonismus lässt der Film des Jihadismus Potenziale medialer ideologischer Persuasion weitgehend unausgespielt, ja unangetastet. Animierte Menschen sind ganz offenkundig ein No-Go. Auch personifizierte oder anthropomorphisierte Tiere sucht man in der Geschichte der jihadistischen Videopropaganda ebenso vergeblich. Ob und inwiefern dies auch zukünftig der Fall sein wird, bleibt insbesondere mit Blick auf die Rolle halb- oder nichtoffizieller Propaganda-Animationsarbeit von Jihadi-Web-(Sub-)Kulturen und ihren Praxen, die wiederum auf die Standards der Medienstellen einwirken können, offen.

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Yorck Beese M.A.  ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand in der Nachwuchsforschergruppe Dschihadismus im Internet (BMBF), beheimatet am Institut für Ethnologie und Afrikastudien (IFEAS) der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Zu seinen Forschungsinteressen zählt die Codierung von Ideologie in jihadistischer Videopropaganda und die Erforschung der Geschichte des jihadistischen Films.

Selfie-Video als Format propagandistischer Bekennerbotschaft. Bildstrategien im Fall Anis Amris Lydia Korte und Bernd Zywietz

Zusammenfassung

Bekennervideos sind eine eigene Gattung im Kontext terroristischer Anschläge und ein Format extremistischer Propaganda. Im Fall des Attentäters vom Berliner Breitscheidplatz 2016 wurde dabei auf die Technik und mithin die formalen Standards des Selfie-Videos zurückgegriffen. Entsprechend werden an diesem Beispiel die gestalterischen Aspekte unter propagandistisch-rhetorischen Gesichtspunkten untersucht: Wie inszeniert ­ der Täter sich selbst, welche Bildstrategien der Nähe und Authentizität werden eingesetzt und inwiefern ergänzen sich Konventionen der spezifischen digitalen Bildkultur mit den ideologisch-persuasiven Absichten? Ziel ist es, aufzuzeigen, wie sich formatbedingte dispositive Mechanismen und ­(sozial-) medienkulturelle Operationen potenziell überzeugungstechnisch einsetzen lassen, aber auch, welche Herausforderungen sich aus ihnen für Verbreitung u. a. von jihadistischem Gedankengut ergeben.

L. Korte (*)  Universität Siegen, Siegen, Deutschland E-Mail: [email protected] B. Zywietz  Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Mainz, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 B. Zywietz (Hrsg.), Propaganda des „Islamischen Staats“, Aktivismus- und Propagandaforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28751-1_8

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Schlüsselwörter

Bekennervideo · Online · Visuelle Kommunikation · ­Selfie-Video ·  Bildstrategien · Kommunikationsstrategien · Nähe · Visuelle Authentizität ·  Propaganda · Märtyrer · Anis Amri

1 Einleitung Beim Terroranschlag 2016 auf dem Berliner Breitscheidplatz starben zwölf Menschen, über fünfzig weitere wurden dabei verletzt, als ein Lkw gezielt in die Besuchermenge des Weihnachtsmarktes fuhr. Am Steuer, das kann als gesichert gelten, saß der 1992 geborene Anis Ben Othman Amri. Der gebürtige Tunesier war 2011 nach Europa gereist und über Italien und die Schweiz nach Deutschland gekommen. Hier kam er in Kontakt mit dem radikal-salafistischen Netzwerk von Ahmad Abdulaziz Abdullah Abdullah alias Abu Walaa. Als Gefährder eingestuft, wurde Amri, der vierzehn Identitäten genutzt haben soll, um u. a. Sozialbetrug zu begehen, von Sicherheitsbehörden überwacht. Offenbar stand Amri in Kontakt mit einem oder mehreren Mitgliedern des Islamischen Staat (IS). In Berlin-Moabit erschoss er am 19. Dezember 2016 einen polnischen ­Lkw-Fahrer, um schließlich mit dessen Fahrzeug den Anschlag zu begehen. Noch kurz vor der Tat soll er mit einem Gleichgesinnten oder möglicherweise Unterstützer kommuniziert haben: Er chattet aus dem Führerhaus, nur Minuten vor der Tat schreibt Amri an einen Glaubensbruder, bei dem es sich womöglich um einen am Mittwoch in Berlin festgenommenen Tunesier handeln könnte: „Mein Bruder, alles in Ordnung, so Gott will. Ich bin jetzt im Auto, bete für mich mein Bruder, bete für mich.“ Amri verschickt noch ein Selfie von sich im Führerhaus des Lkw (Leyendecker et al. 2016).

Im Anschluss floh er zu Fuß. Vier Tage später, am 23. Dezember, wurde er bei einer Polizeikontrolle im norditalienischen Sesto San Giovanni erschossen. Mit Datum desselben Tages veröffentlich die Amaq News Agency, inoffzielles Sprachrohr des IS, ein Bekenner-Video Amris. Dieses Video ist in mehrfacher Hinsicht ungewöhnlich. Der Blick des Akteurs bewegt sich in kreisförmigen Bewegungen und fixiert nicht die Kameralinse respektive den Zuschauer. Dieser unstete Blick sorgt dafür, dass persuasive bzw. rhetorische Bild- und Kommunikationsstrategien durchkreuzt werden. Das Video stellt eine Genre-Hybridisierung dar: Es zeigt ein „anticipatory image testimony“

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(Straub 2019, S. 144), das in Form eines „Selfie-Videos“ (Krautkrämer/Thiele 2018) aufgenommen wurde. Diese hybride Form des ‚Selfie image testimony‘ zeigt den Attentäter unverhüllt und in großer Nähe zur Kamera. Dies ist für das Genre des Bekennervideos relativ neu.1 Auch sonst weicht die Bildstrategie größtenteils von traditionellen Märtyrerdarstellungen und Bekenntnis-Videos von Selbstmordattentätern ab, indem sie auf Nähe und Authentizität abzielt. Als Selfie-Video gleichen Amris Aufnahmen popkulturellen Darstellungen von Influencern etwa auf YouTube oder Instagram. Auch sie nutzen gezielt die Mittel der Adressierung, um eine besondere Bindung mit dem Publikum aufzubauen und ggf. persuasive Ziele zu verfolgen. Aus diesen Parallelen ergeben sich die der Arbeit zugrunde liegenden Fragen: Welche Bildstrategien verfolgt das Video? Welche dieser Strategien sind erfolgversprechend und was sind die spezifischen Eigenheiten des Selfie-Formats, die genutzt werden, die aber auch Herausforderungen für den Einsatz als Bekennerbotschaft darstellen? Dabei werden wir vor allem auf die ästhetischen Elemente des Selfies als gestisches Bild mit kommunikativen Eigenschaften eingehen. Zunächst erfolgt eine deskriptive Genre-Bestimmung und Beschreibung des Videos, um dann die Bildstrategien detailliert zu analysieren und auf mögliche Kommunikationsstrategien zu schließen. Unter Bildstrategien verstehen wir hier alle visuellen Mechanismen, die den Eindruck von Nähe und Authentizität erwecken sollen. Diese wiederum lassen eine klare Kommunikationsstrategie erkennen, deren Wirkungspotenzial in Bezug auf den Rezeptionskontext herauszustellen ist. Da das Bekennervideo eine direkte Adressierung enthält, werden Begriffe der Kommunikations- und Sprachwissenschaften genutzt, um Mechanismen der Interaktionspraxis zu analysieren. Diese werden dann vor dem Hintergrund der Online-Propaganda-Forschung gedeutet.

1Wenn

wir hier von Bekennervideo sprechen, ist damit die Ansprache von Tätern hinsichtlich eines geplanten oder durchgeführten Terroranschlags gemeint. Eine weitere Form, die auch im Kontext der IS-Medienwelt eine wichtige Rolle spielt, sind die ebenfalls bekenntnishaften bay’ah-Videos, in denen eine oder mehrere Personen ihren Treueschwur in die Kamera hinein leisten und sich mithin einer Gruppierung bzw. deren Anführer zugehörig erklären. Beide Formen von Bekennerschaft, die beide Elemente des Sich-Erklärens und Verpflichtens aufweisen, können zusammenfallen; auch Amri schwört etwa in seiner Aufnahme zu Beginn dem IS-Anführer Abu Bakr ­Al-Baghdadi die Treue. Auf diese Form der beeidenden Bekenntnishaftigkeit und die damit verbundene videografische Untergattung können wir an dieser Stelle jedoch nicht eingehen. Vgl. zu dem Thema bay’ah auch Pfeifer et al. (in diesem Band).

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2 Das Amri-Video als Selfie-Video Amris Bekennervideo ist in ungeschnittener naher Einstellungsgröße (medium close-up) gefilmt. Durch die reduzierte Körpersprache und Gestik wird die Aufmerksamkeit obwohl keine Groß-, sondern eher eine Nahaufnahme vorliegt, die Amri von der Brust aufwärts zeigt, in erster Linie auf das Gesicht und die Sprechhandlung gelenkt. Auffällig hier ist besonders der Blick, der im weiteren Verlauf näher analysiert wird. Eine leichte Untersicht lässt Amri etwas größer und dominanter wirken, nicht jedoch „heroisch, souverän und überlegen“ (Keutzer et al. 2014, S. 13) oder gar ‚überwältigend‘ wie sie etwa andere, noch nähere oder intimere Selfies bieten. Das Video ist mit der Frontkamera eines Smartphones aufgenommen worden, die eine geringe Bildauflösung besitzt. Das entsprechende Objektiv mit leichtem Weitwinkel sorgt dafür, dass auch im Hochformat, insbesondere bei der Videotelefonie, Oberkörper und Gesicht abgebildet werden können. Die Verwendung des Objektivtyps führt zudem zu einer relativ hohen Schärfentiefe, die darin resultiert, dass der Hintergrund erkennbar, die Aufnahmequalität aber sehr gering ist, sodass die Aufnahme insgesamt eine durchgängige Unschärfe aufweist. Die ‚videotypische‘ Verschwommenheit kann als „videolow“ (vgl. Fiske 2002, S. 387) bezeichnet werden, eine Art technisch-ästhetisches Profil, das mit Privatnutzung, Heimfilmaufnahmen und mithin einer bestimmten Authentizität(serfahrung) verbunden ist. Der Eindruck des Nicht-Professionellen über die technisch-apparative Qualität verstärkt sich zu Anfang des Videos noch, wenn sich Amri synchron zur Kamera im Halbkreis dreht und dabei eine Bewegungsunschärfe entsteht (TC 00:00:09, s. Abb. 1). Kamera und Protagonist

Abb. 1   Bekennervideo Amri 2016; TC 00:00:09 (Screenshot)

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sind unmittelbar miteinander verbunden: Amri hält das Smartphone horizontal in der rechten Hand, die Fronkamera befindet sich demnach am linken Rand des Handydisplays. Die Kamera wirkt als Verlängerung des Arms und bewegt sich parallel zum Oberkörper. Amris direktes Agieren ins Objektiv hinein (eine 0°-Handlungsachse in der filmanalytischen Beschreibungssprache) bezieht auch perspektivisch den Zuschauer ein und suggeriert so Nähe. Diese ästhetische Strategie ­nicht-fiktionaler Bewegtbilder wird in erster Linie in Dokumentationen, Reportagen und Nachrichtenformaten verwendet (vgl. Keutzer et al. 2014, S. 18). Das Smartphone wird als filmische Handkamera benutzt, die leicht verwackelte Bilder produziert. Diese erheben einen gewissen Authentizitätsanspruch (vgl. ebd., S. 22), nicht zuletzt aufgrund der unverhüllten Existenz des Aufnahmegerätes. Das formalästhetische Verfahren der Handkamera fungiert folglich nicht als „subjektive Kamera“ (vgl. ebd., S. 230) wie im Spielfilm, wo sie als Mittel der (Re-)Präsentation die visuelle und leibliche Wahrnehmung einer Figur vermittelt. Das Bild als Außenaufnahme bietet eine Hintergrundkulisse für Amri. Die Wetterbedingungen haben starken Einfluss auf den Lichteinfall. Durch das etwas diesige winterliche Licht wirken die Farben gräulich. Diese Tönung ist nicht nur auf die schlechten Beleuchtungsverhältnisse, sondern auch auf die niedrige Auflösung und den geringen Bildkontrast zurückzuführen. Durch den Hintergrund lässt sich der Drehort auf die Kieler Brücke in Berlin Moabit eingrenzen, eine Fußgänger- und Radfahrerbrücke, auf der sich Amri während der Aufzeichnung befindet: Hinter ihm sind die blauen Bögen der Brücke und der Kornversuchsspeicher in der Nähe des Nordhafens am Berlin-Spandauer Schifffahrtskanal zu erkennen (vgl. Abb. 2).

Abb. 2a–b:   Screenshot Bekennervideo Amri, TC 00:00:05 (links) und Google Maps (Screenshot): Kieler Brücke, Berlin. (Geolocation: Kornversuchsspeicher, Kieler Brücke, 10557 Berlin, Deutschland; Breitengrad: 52.535926/Längengrad: 13.366356) (rechts)

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Die Bildgestaltung ist zunächst offen und unruhig: Amris Blick, der sich in kreisförmigen Bewegungen hin und her bewegt, verweist auf reale oder erwartete Handlungen und Bewegungen im Off. Der Brückenbogen, die horizontalen und vertikalen Linien des Geländers und das Gebäude im Hintergrund laufen aus dem Bild, sind nur im Anschnitt zu sehen oder von Amri verdeckt. Das signalisiert eine Raumkontinuität außerhalb des Bildes, die eine grafische Spannung erzeugt. Nach seiner 90°-Drehung wählt Amri eine Position auf der anderen Brückenseite, die eine ruhigere und geschlossenere Komposition bietet, wenn auch die Landschaft hinter ihm offen wirkt (Abb. 3). Auch hält Amri die Kamera ruhiger, als er sich ans gegenüberliegende Geländer der Brücke lehnt. In der Position bleibt er weitgehend für den Rest des Videos; nur ein Stück nach links rückt er, als er seine Haltung, wohl der Bequemlichkeit wegen, verändert (Abb. 3a–b). Die Bewegung entsteht durch diese Drehung zu Beginn, ansonsten ist die Komposition eher statisch. Die Positionierung Amris ist mittig, er füllt etwa ein Drittel des Bildes aus. Das weiße „Y“ der Kopfhörerkabel strukturiert sein grafisches Erscheinungsbild: es hebt das Gesicht wie eine Markierungslinie von der dunkelblauen Jacke ab und verläuft mittig entlang der Reisverschlusslinie. Ohne die weißen Schnüre würde Amris Oberköper bis auf den Reißverschlussgriff wie eine dunkle, unförmige Masse wirken. Ein visuell deiktisches, ein ‚hinweisendes‘ Zeichen stellt die Armhaltung dar, die direkt auf die Kamera verweist. So ist sie zwar nicht im Bild sichtbar, aber doch durch die Armhaltung, die wie eine invertierte Zeigegeste erscheint, im Off (und als Off) präsent. In der Regel verschwinden Kamera und Projektor im kinematografischen, aber auch televisuellen Bild hinter dem Sichtbaren (vgl. Hickethier 2012, S. 55). Auch in Bekennervideos steht die Kamera meist quasi abgetrennt und nur als Referenzpunkt außerhalb des ‚Geschehens‘: Der Blick

Abb. 3a–b:   Screenshot Bekennervideo Amri, TC 00:00:30 (links) und TC 00:02:30 (rechts)

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der Zuschauer wird durch das Auge der Kamera imitiert. Im Fall des Bekennervideos von Anis Amri wird dadurch eine personale Nähe nachgebildet. Mehr noch: Durch die Haltung des Arms wird die Aufmerksamkeit des Zuschauers nicht nur auf das Gesicht gelenkt, sondern der Zuschauer fast physisch einbezogen – es wirkt, als läge Amris Hand auf unserer Schulter und führe uns gar in der Drehung durch den Raum. Außerdem erzeugt die Einstellungsgröße eine persönliche oder fast schon intime Nähe zum Dargestellten. Diese Nähe kann auch bedrohlich wirken, wenn Handlungs- und Blickachse deckungsgleich sind: Amri dringt mit seinen Augen in den Blickraum des Zuschauers ein, er durchbricht die ‚vierte Wand‘. Die direkte Adressierung kann mit der eines Nachrichtensprechers oder Moderators verglichen werden; der Zuschauer wird durch sie involviert. Der Blick Amris schweift allerdings immer wieder in kreisförmigen Bewegungen ab. Dies lässt sich unterschiedlich begründen und mit verschiedenen Wirkungen auf den Betrachter verbinden (s. u.). Amris Aufnahme selbst erfüllt grundsätzlich die Definition eines ­Selfie-Videos: Mit Smartphone aufgenommene kurze Videos, die den Produzenten selbst zeigen und zur Veröffentlichung in sozialen Netzwerken wie Facebook, Instagram, YouTube oder Snapchat gedacht sind.2 Der rechte Arm weist von ihm weg, mit der rechten Hand hält er demnach das Smartphone. Auffällig sind die weißen Kopfhörer, die er offenbar als Headset nutzt, um Außengeräusche zu unterdrücken. Sein äußeres Erscheinungsbild unterscheidet sich nicht wesentlich von anderen Menschen in Europa: er trägt eine dunkelblaue Trainingsjacke mit aufgestelltem Kragen und geschlossenem Frontreißverschluss und darüber eine Daunen- oder Steppjacke, sein Haar ist kurz. Durch das Selfie-Genre, zu dem u. a. Vlogs und Selfie-Videos zählen, werden neue Dispositive und Wahrnehmungsweisen von Stand- und Bewegtbildern etabliert, bei denen gestisch auf die aufnehmende Kamera verwiesen wird. Diese greifen wiederum die Werbung und das Unterhaltungskino auf. Allerdings werden sie dabei nicht in die kontinuierliche und geschlossene Erzählwelt, die das Kino in der Wahrnehmung des Publikums etabliert, integriert. Vielmehr unterlaufen sie den klassischen Zuschauerblick, der – wenn auch durch Einstellungswechsel und andere Verfahren vorgegeben – wie der eines freien unsichtbaren Beobachters

2„A

photograph that one has taken of oneself, typically one taken with a smartphone or webcam and shared via social media“ (Oxford Online Dictionary, o. J.). Krautkrämer und Thiele definieren Selfie-Videos als Sequenzen, in denen sich der Bildproduzent selbst filmt (vgl. Krautkrämer und Thiele 2018, S. 239). Dementsprechend sehen wir diejenige Person, die filmt und die Kamera hält, im Bild (vgl. ebd. 251).

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Abb. 4   Selfie-Videoaufnahme in Spider-Man: Homecoming (Screenshot TC 00:07:17, © Sony Pictures Home Entertainment)

der Szenerien strukturiert ist. Das Selfie-Format wird im Kontrast dazu zur perspektivischen, erzählzeitlichen und ontologischen Abgrenzung und dabei meist für technisch-mediale Aufnahmen innerhalb der Diegese genutzt, wie etwa in Spider-Man: Homecoming (USA 2017, R: Jon Watts). Darin wird der Monolog des Protagonisten auf visueller Ebene transferiert und dient gleichzeitig als intertextueller und intradiegetisch medialer Verweis auf einen weiteren Film des MarvelErzähluniversums – Captain America: Civil War (USA 2016, R: Anthony Russo u. Joe Russo, TC 01:32:46) – in dem diese Aufnahme erstellt wird. Die Markierung als innerhalb der Filmerzählwelt medienvermittelt erfolgt hier über den schwarzen Bildrahmen und ein vom Kinobild abweichendes Bildseitenformat (Abb. 4).3 Wesentliches Merkmal dieser Aufnahme- und Bildform Selfie ist nun die Nähe zwischen Kamera und Referent, der gleichzeitig Produzent des Bildes ist. Krautkrämer und Thiele (2018, S. 247) zählen das Selfie-Video der Tradition von Dokumentationen, Reportagen und Nachrichten zu, da all diese Formate eine inhärente direkte Adressierung vornähmen. Sie kommen zu dem Schluss, dass u. a. durch non-professionelle Bildqualität, Defokussierung und Zustand der Aufnahme direkt auf den Aufnahmekontext verwiesen wird und bezeichnen die entsprechende ästhetische Form als „subjective scene-of-recording camera shot“

3Zur

medialen Selbstreferenzialität vgl. auch den Beitrag von Pfeifer et al. in diesem Band.

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(ebd., S. 254). In der Regel erweist sich diese formale Nähe als ein wichtiges bildstrategisches Mittel vieler Social-Media-Akteure, um eine parasoziale Beziehung zu ihren jeweiligen Followern aufzubauen.4 Wie in der visuellen Beschreibung dargelegt, weist das Fallbeispiel ebendiese Charakteristika auf und ist somit dem Selfie-Genre zuzuordnen. Das vorliegende Bekennervideo wurde zunächst von der ‚Nachrichtenagentur‘ des IS, die Amaq News Agency, nach Amris Tod veröffentlicht und dann vor allem über den Messengerdienst Telegram in Umlauf gebracht. Das Amaq-Logo im Bild rechts oben (wie die paratextuelle Titelkarte zu Beginn) ist denn auch Teil des propagandistischen Amri-IS-Videos, nicht aber des Selfie-Videos Amris.

3 Bild-, Zeige- und Zeitstrategien Zentrales Strategem des Selfie-Videos ist die Erzeugung von Nähe durch die Ansprache des Zuschauers und die deutliche Zugewandtheit. Mithilfe dieser Nähe scheint auch Amri eine Reaktion des Zuschauers hervorrufen, Emotionen evozieren, Empathie erzeugen und generell affizieren zu wollen, um seiner verbalen Nachricht Nachdruck zu verleihen. Wichtiger Aspekt ist die Imitation einer Face-to-Face-Kommunikationssituation, um die vermittlungstechnischen zeitlichen und räumlichen Grenzen der Kommunikation zu verwischen. Laut Frosh (2015, S. 1621) ist das Selfie die Medialisierung einer Kommunikationshandlung vermittels des Bilds. Das Selfie-Video Amris ist auf visueller Ebene mithin als gestisches Bild mit indexikalischer Funktion zu verstehen (vgl. ebd., S. 1609). Diese Geste zeigt nicht nur den technischen und leiblichen Aspekt im Moment der Bildproduktion, sie verweist auch auf den Körper – sie lenkt die Aufmerksamkeit auf die unmittelbare Produktionssituation und auf den Zuschauer (vgl. ebd., S. 1615). Selfies stehen indexikalisch für das Ich, Hier, Jetzt (ebd., S. 1610). Das sind deiktische Ausdrücke, die Bühler zufolge „Lokation und Identifikation von Gegenständen und Ereignissen, über die gesprochen wird, in Bezug zum raum-zeitlichen Kontext einer Satzäußerung“ (Bühler 1987, S. 287) sind. Bei Selfies beziehen sich die raumzeitlichen Koordinaten unmittelbar auf den Moment der Aufnahme, den Aufnehmenden und die Situation. Das Bild stelle eine Einladung durch Gestik an Andere (Frosh 2015, S. 1621) dar, eine physische Position zu adaptieren oder abzuleiten (inferieren), die den Betrachter in Bezug zum Foto- oder Videografen setzt (vgl. ebd., S. 1617) und eine soziale Form der

4Vgl.

zum Thema Parasozialität auch Klewer (in diesem Band).

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Interaktion eröffnet, die Involviertheit und Kameradschaft einschließt (vgl. ebd.). Diese Einladung zur Interaktion ist nicht zwingend intendiert: indexikalische Zeichen oder Markierungen ergeben sich häufig, Linke et al. (1996, S. 20) zufolge, „aus den Zusammenhängen der Situation ohne Intention“. Deiktische Ausdrücke können als ‚egoistisch‘ oder besser: als ‚egozentrisch‘ erscheinen, da ein Sprecher stets von seinem eigenen Standpunkt aus auf bestimmte Gegenstände, Personen, Situationen oder raumzeitliche Kontexte verweist. Der Sprecher (oder hier: der Filmende) kann den Nullpunkt und damit seinen eigenen Standpunkt im Koordinatensystem zugleich immerzu verändern. Verschiebt sich die raumzeitliche Achse nun, „um auf bloß Erinnertes oder Vorgestelltes zu verweisen“ (Bühler 1987, S. 290 f.), dann verwendet der Sprecher häufig entsprechende Zeigwörter – Demonstrativpronomina – die Bühler Deixis am Phantasma nennt, denn „[d]iese Klassifikation von Zeigarten beruht auf Graden der sinnlichen Präsenz des Gezeigten“ (ebd., S. 291). In der Regel funktioniert das Selfie als Zeigart demonstratio ad oculus. Es kann aber auch als Format, ähnlich der Zentralperspektive, nur stärker technologisch begründet, und als symbolische Form aufgefasst werden. Der Referent wird in einem bestimmten raumzeitlichen Kontext evoziert. So referiert Anis Amri (als Redender und Zeigender) auf sich selbst als Gegenstand der Rede und des gestischen Verweisens (Selbstreferenz), auf den unmittelbaren zeitlichen und räumlichen Kontext der Aufnahme (Situationsdeixis) sowie auf das, was abbildend vor Augen gestellt wird (ich, hier, jetzt). Im vorliegenden Fallbeispiel durchbricht der Blick Amris die deiktische Situiertheit des Ich im Hier und Jetzt, indem er auf eine außerbildliche Realität (sowohl zeitlich als auch räumlich und situativ) verweist: der Blick folgt Bewegungen imaginärer Anderer außerhalb des Bildrahmens, die Blickbewegung ist auf Erinnerung bzw. Vorstellung zurückzuführen. Es ist nicht der unkontrolliert abschweifende, sondern der kontrollierende umherschweifende Blick, der sicherstellen will, ob er (nicht) beobachtet und belauscht wird – just in dem Moment, in dem er sich für eine selbsterklärende Botschaft aufzeichnet, die mehr oder weniger an die ganze Welt gerichtet ist. Tatsächlich aber ist das Statement für ein Ansehen und Anhören in der Zukunft gedacht und jetzt noch geheim.5 Das unterscheidet Amris Selfie-Video von Live-Streaming-Videos z.B. von Gamern und (anderen) Influencern, etwa

5Das

Bekennervideo wurde wohl am 31. Oktober oder am 1. November 2016 gedreht (vgl. Musharbash 2019).

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auf YouTube oder Twitch – oder aber der terroristischen Echtzeitübertragung des Attentäters von Christchurch, der im März 2019 live auf Facebook seinen Überfall auf eine Moschee per Bodycam übertrug und dabei die filmischen Subjektive bzw. Point-of-View-Perspektive benutzte, die Kamera von sich weg nach außen richtete. Allerdings präsentierte auch der Christchurch-Täter sich noch in seinem Auto zu Beginn seiner Aufzeichnung selbst vor der Kamera, bevor er sich auf den Weg zu seinem ‚Zielort‘ machte. Amri erklärt sich in seinem Video, schwört dem IS-Anführer Abu Bakr ­al-Baghdadi die Treue und verkündet, dass er gerne ein Märtyrer werden wolle. Auch bei ihm liegt die Tat noch in der Zukunft, nicht in der Vergangenheit, so wie es die Geschichte terroristischer Bekenntnisse (als Schreiben oder Telefonanrufe) kennt. Die zeitliche Determinante des deiktischen Phantasmas verschiebt sich durch die Darstellung als shahid, als Märtyrer: Der Filmende stellt die Zukunft als Vergangenheit dar, da das Video vor dem eigentlichen Ereignis gefilmt worden sein muss.6 Er muss sich also darüber bewusst sein, dass das Video erst nach seiner Tat bzw. nach seinem Ableben veröffentlicht wird. Doch der Plan hat insofern nicht funktioniert, als dass Amri nicht den (geplanten) Märtyrertod starb. So tut sich für uns als Betrachter eine Art zeitlicher Abzweigung im Nachgang zum Video und zur Tat auf: die eine Hauptzeitlinie ist die reale, die die andere abzweigende, eine fiktionale, erst imaginierte und dann nicht ‚realisiert‘, die des ‚heldenhaften‘ Todes und des Anschlags in Mailand. Im Video begibt sich Amri nun in die Rolle des Zuschauers – er antizipiert, was die Betrachter erwarten, da sie vom Ereignis bereits Kenntnis haben müssen. Weil nun das Selfie-Video vor dem Anschlag aufgezeichnet, aber nach dem Tod des Attentäters veröffentlicht wurde, stellt dies eine andere zeitliche Oszillation dar, die für Selfies als fotografische Momentaufnahmen ungewöhnlich ist. Die Unmittelbarkeit und Jetzt-Deixis der digital geteilten Fotografie fallen weg: Was passiert, ist eine Verschiebung der Koordinaten: Die demonstratio ad oculus wird zum deiktischen Phantasma, vor allem für Amri. Das Video ist wie alle vor der Tat aufgezeichneten Märtyrer-Bekennervideos als einseitiger Vertrag zu verstehen, in dem er sich dazu verpflichtet, die Tat durchzuführen (vgl. Straub 2019, S. 145). Es ist eine Selbstverpflichtung und Motivation. Wie sie sieht sich Amri projektiv bereits in seiner Rolle als Märtyrer, ein Status, den er sich als

6Der

Anschlag fand am 19. Dezember 2016 in Berlin statt, das Video wurde nach dem Tod Amris in Mailand am 23. Dezember 2016 veröffentlicht. Bereits zuvor sollen Pläne über Telegram verbreitet worden sein (vgl. Warrick 2016).

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­ Pre-enactment-Konzept“ (vgl. Straub 2019, S. 146) selbst verleiht. So spricht „ er wie aus der Vergangenheit, aus dem vorweggenommenen Jenseits und als Vorbild, um an andere Mitglieder, Anhänger und Sympathisanten seiner Gruppe oder Sache zu appellieren: Sie sollen so handeln wie er. Und er spricht als Racheengel: „This is my message to the Crusaders, who bombard the Muslims every day: Allah willing, we have brought slaughter upon you, you pigs!“ (MEMRI 2016).7 In seinem „anticipatory image testimon[y]“ (Straub 2019, S. 144) begibt sich Amri in die unmögliche Position, in der virtuellen Zukunft zu agieren (vgl. ebd., S. 143). Zu der enormen zeitlichen Komplexität kommt die der Referenz hinzu. Frosh (2015, S. 1621) bezeichnet Selfies als „genre of personal reflexivity“: Sie verweisen nicht nur auf den Referenten des Bildes, sondern gleichzeitig auf den Produzenten und auf sich selbst in ihrer Medialität. Die Komposition des Selfies zeigt häufig die Autorschaft des Bildes an und erzeugt damit gleichsam die Nähe des Produzenten und Rezipienten zur Kamera: „It deploys both the index as trace and as deixis to foreground the relationship between the image and its producer because its producer and referent are identical.“ (ebd., S. 1610). Wie in einem Kippbild kann sich Amri nicht gleichzeitig als Darsteller, Dargestelltes und Inszenator wahrnehmen, ebenso wenig wie er direkt in die Frontkamera schauen und gleichzeitig seinen Blick auf dem danebenliegenden Display überprüfen kann.8 Sinnbildlich dafür kann man auch die konstante Position von Amris rechtem Arm bei gleichzeitiger Abwesenheit der Hand (vgl. Saltz 2015, S. 35) nehmen: Verwirrend zirkulär deuten die Hände auf den Produzenten des Bildes, der die Kamera hält. Auf dem entstehenden Bild ist der Referent zu sehen, der auf den außerbildlichen Entstehungskontext verweist, also gleichsam den Produzenten in persona (vgl. Frosh 2015, S. 1610). Die Arme fungieren als eine Art Zeigefinger oder Vektor, der auf die Abwesenheit der Hände und somit darauf deutet, dass diese das Gerät halten und für die Produktion des Bildes verantwortlich sind (vgl. ebd.). Die ‚Selfieness‘ oder auch der Egozentrismus des Bildes stellt sich selbst als visuelles Erzeugnis aus (vgl. ebd., S. 1621): It is simultaneously mediating (the outstretched arm executes the taking of the selfie) and mediated (the outstretched arm becomes a legible and iterable sign within selfies of, among other things, the selfieness of the image) (ebd., S. 1611).

7Für

eine Typologie von Selbstmordattentätern auf Basis von Selbstpräsentationen vgl. Graitel (2012, S. 245 ff.). 8Nutzer von Skype oder anderer Videotelefoniesoftware (z.  B. FaceTime) und dazugehörigen Gerätschaften (Display, Webcam) dürften diese Art von Inkongruenz kennen.

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4 Taktische Nähe: Mediengesicht An dem hier gewählten Video-Beispiel ist neben der Genre-Hybridisierung (Selfie + Bekennervideo) die unverhüllte Darstellung des Gesichts des Attentäters in Verbindung mit der Nähe der Kamera zum Gesicht bemerkenswert. In den anderthalb Jahrzehnten des Social Webs und seit der Erfindung der H ­ andy-Kamera wurden zwar schon mehrere Bekennervideos im Selfie-Format erstellt und verbreitet, allerdings trugen die Attentäter meist eine Maskierung (wie auch der Attentäter von Ansbach 2016). Diese wirkt ähnlich wie ein Schleier und verhindert die eindeutige Identifizierbarkeit der Person wie ihrer emotionalen Regungen über die individuellen Gesichtszüge. Natürlich kennt die Geschichte v. a. der Märtyrervideos (inklusive die des IS) auch unverhüllte Gesichter, aber meist ist die Kameraeinstellung dann eine statische (vgl. Straub 2019) wie schon bei den ersten bekannten ‚suicide bomber videos‘ in den 1980er Jahren. Die Inszenierung mit relativ klarer Ortssemantik bzw. einer Kamera, die abgesondert und losgelöst von den Bekennenden ist, untersteht einem Objektivitätsanspruch. Diese Macht eines authentifizierenden, realitätseinfangenden und ‚bezeugenden‘ Registrierapparates wird so nicht gemindert. Insofern der Begriff Märtyrer wie sein arabisches Pendant shahid selbst die Funktion eines Zeugen beschreibt (als einer, der seine Glaubensstärke in der Aufopferung unter Beweis stellt), besteht zwischen einem solchen und dem Aufzeichnungsapparat eine Art Verwandtschaft in der Sache. Nun unterscheiden sich die IS-Videoproduktion auf ästhetischer Ebene von den frühen ‚Homevideos‘ jihadistischer Provenienz. Sie zeigen „a high level of technical know-how and careful aesthetic deliberation informed by popular culture“ (ebd., S. 141). Durch das häufige Abdrucken der Physiognomie Amris in der massenmedialen Berichterstattung wurde nun auch Amri zum Mediengesicht (vgl. Belting 2014, S. 214 ff.). Und um Mediengesicht zu werden, muss dem Gesicht sehr viel massenmediale Aufmerksamkeit geschenkt werden. Zahlreiche Zeitungen berichteten nach dem Anschlag Amris über das Selfie, das er vor der Tat noch im Lkw aufgenommen haben soll. Besonders in Verbindung mit der Berichterstattung über die Adaption von vierzehn unterschiedlichen Identitäten (die Personalien zur Persona) wurde sein Fahndungsfoto veröffentlicht. Mediengesichter sind nicht nur Stars und Celebrities: zu Propagandazwecken werden ähnliche ästhetische Ausstellungspraktiken genutzt und auf denselben Status abgestellt. So ist zwar Aufmerksamkeitsmonetarisierung bei Social-Media-Akteuren (vgl. Korte 2016) eine der „in Demokratien gängigen Strategien der Beeinflussung“ (Zeller 2019, S. 258), doch eben auch terroristische Organisationen wissen sie für sich zu nutzen, denn „[w]o […] Aufmerksamkeit

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zur Währung wird, gedeihen extremistische Ansichten leichter“ (ebd., S. 256 f.). Diese Art der Beeinflussung erfüllt „die Definitionen von Propaganda als eines ‚gezielten Versuch[s] von Personen oder Institutionen, einen bestimmten Adressatenkreis durch Informationslenkung für eigennützige Zwecke zu gewinnen und diese Zwecke zugleich zu verschleiern‘“ (ebd.). Den Status als Mediengesicht sah Amri voraus und nutzt es, um „lebendig zu werden“ (vgl. Sontag 2013, S. 154) und sein Video, um lebendig zu bleiben, als Teil des kulturellen Gedächtnisses. Obwohl sein Gesicht unverhüllt ist, erzeugt es dennoch den Eindruck einer Maske. Der Ausdruck ändert sich im Video wenig: Amri blickt unbewegt – größtenteils nicht in die Kamera. Zum Ende des Videos ändert sich die Mimik etwas. Amri zieht leicht die Mundwinkel nach unten, sodass der Ausdruck abfällig wirkt (Bekennervideo Amri 2016; TC 00:01:14). This is my message to the Crusaders, who bombard the Muslims every day: Allah willing, we have brought slaughter upon you, you pigs! By Allah, we have brought slaughter upon you. You bombard the Muslims, but they have a nation behind them. Their blood will not go in vain, Allah willing. […] Oh brothers, immigrate and wage jihad for the sake of Allah, support this religion. Everyone should do what he can. Every person should support the religion with whatever he can. Those who are able to immigrate should immigrate, those who can carry out local attacks should do so, and those who are in Europe should fight those ‘Crusader pigs.’ (Amri gem. Transkript Memri TV o.J., TC: 00:00:27-00:01:04)

Es handelt sich hier um den multimodalen oder -kodalen Ausdruck einer negativen Abgrenzung gegen die „Kreuzzügler“ aus dem Westen, die eine kollektive Identität erzeugt (vgl. Eickelpasch und Rademacher 2004, S. 68 ff.). Amri wirkt jedoch im Moment dieser Aufforderung wenig überzeugend, wenn er den Blick von der Kamera abwendet (s. Abb. 5). Das verleiht seinen Worten etwas Routiniertes, Einstudiertes. Nähe spielt eine große Rolle in der strategischen Bindung des Zuschauers an Amri als Person – die Selbstdarstellung ist der der Influencer ähnlich.9 Besonders auf der Ebene der Emotionsvermittlung spielt die Darstellungsgröße des Gesichts als empfundene Nähe eine wichtige Rolle: Jegliche Regung der Mimik soll übertragbar und registrierbar sein, um die Identifizierung oder

9„Ein

Influencer ist sowohl Meinungsführer, der im digitalen Bereich die Einstellungsund Verhaltensabsicht seiner Follower beeinflussen kann, als auch zugleich eine mediale Person, die für seine Follower eine Vorlage für Empathie, sozialen Vergleich und parasoziale Beziehungen bietet“ (Schach 2018, S. 20).

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Abb. 5   Bekennervideo Amri 2016; TC 00:01:47 (Screenshot)

zumindest das Mit- und Nachempfinden zu vereinfachen. Das Gesicht wird durch die Präsentation des eigenen emotionalen Ausdrucks laut Keenan (2018, S. 118) zum Interface. Der Zuschauer nimmt nicht nur die Perspektive der Kamera ein, sondern erweist sich im symbolischen Abstand als Interaktionspartner einer simulierten Face-to-Face-Situation. In Bezug auf die Proxemik – die Nutzung und Wahrnehmung des sozialen und personalen Raumes10 – entspricht diese Nähe, wie bereits angedeutet, die der ‚personal distance‘ (vgl. Hall 1990 [1966], S. 119): Wir erleben das Gesicht in dieser Größe und Detailliertheit im Alltag nur bei vertrauten Menschen – Menschen, die uns an sich und die wir an uns derart dicht heranlassen. Ein solches Gesicht präsentiert nicht nur, es projiziert auch. Als Kommunikationsoberfläche ist es „Bildschirm für das Zeigen und Lesen von Empfindungen“ (Groebner 2015, S. 16), damit „sofort Schlüsse auf die Stimmung des Gegenübers“ (ebd. S. 17) gezogen werden können. Durch die ‚Maskierung‘ Amris, die keine Regung erkennen lässt, bleibt dieser orientierende Input dem Zuschauer vorenthalten. So entfällt hier, was Groebner dem zusätzlichen Blickkontakt attestiert: er „fordere den Betrachter zur Teilnahme auf“ (ebd., S. 20). Die Einladung oder Herausforderung zu einer Partizipation und einem deutungsspielerischen Involvement scheitert an dieser Stelle aber durch Amris fehlenden Blickkontakt mit der Kamera und damit mit dem Zuschauer.

10„Proxemics

is the term I have coined for the interrelated observations and theories of man’s use of space as a specialized elaboration of culture“ (Hall 1990, S. 1).

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Hinzu kommt ein weiteres Detail, das auf Kosten der Nähe zur Persona Amri die Stellung als Mediengesicht unterstreicht: Amri hält die Kamera nicht hochkant wie der Attentäter von Ansbach, sondern quer. Statt des neueren, besonders ‚handyfototypischen‘ und intimeren, da ganz auf das Gesicht der abgebildeten Person konzentrierten Hochformats, weist das Selfie-Video ein ‚kinematografisches‘ 16:9-Breitbildformat auf, das auch in Vlogs verwendet wird. Das bettet Amri stärker in den Hintergrund ein, wobei zugleich aber weniger von ihm selbst bzw. seinem Oberkörper zu sehen ist. Das ‚Epische‘ oder ‚Historische‘ seiner Figur (die Inszenierung) geht über das ‚Individuelle‘ und ‚Persönliche‘ (die Adressierung). Aus heutiger Sicht kann sich die einseitige Interaktion, die bei hinreichender Intensität zu einer parasozialen werden kann, über die Kommentarfunktion der Plattformen wie YouTube oder Twitch in eine tatsächliche wandeln, insofern Nutzer rückwirken bzw. antworten und kommentieren können, bei Livestreams mit angeschlossenem Chat sogar in Echtzeit. Bislang haben Terroristen davon unmittelbar oder gar während der Tat von solchen Möglichkeiten keinen Gebrauch gemacht. Angesichts der Entwicklungen wie der Liveübertragung des Christchurch-Anschlags sind künftige Versuche dahingehend jedoch absehbar. Bei Amri handelt es sich nun, trotz der Intimität der bildstrategischen Anordnung, um keine Medienfigur oder Persona wie im Fall des britischen Journalisten John Cantlie. Zu diesem konnten die Zuschauer über eine gewisse Zeit hinweg durch wiederholte mediale Begegnungen eine (emotionale) Beziehung aufbauen.11 Auch gab bzw. gibt es zu Amri, anders als bei YouTubern oder Vloggern, auch deshalb keinen Rückkanal, weil wie praktisch alle jihadistischen shahid seine Ziel-Rolle in dem Video in erster Linie die eines Vorbildes war, womit er sich nicht nur aus der zeitlichen Distanz an die Zuschauer richtete. Um zu inspirieren und zu motivieren (v. a.: es ihm gleichzutun), muss er über seinem Hauptpublikum, dem der Gleichgesinnten, stehen und sein Erfolg, der ihn voll zum Vorbild macht, bedingt sogar eine gewisse Unerreichbarkeit durch Likes, Emojis und Textnachrichten, schlicht weil er des religiösen Propagems zufolge schon im Paradies weilt, mit dem er als Märtyrer belohnt wird. Amris mit dem Video angestrebte Rolle ist also die des Attentäters, der durch das Bekennervideo zur Medienfigur qua Rang und Ansehen innerhalb seines eigenen jihadistischen Netzwerkes mit eigener Fan-Kultur wird. Selfie-Praxis, Web und Mobile Culture verbinden sich hier mit Todes- und Shahada-Kult (z. B. in den palästinensischen Gebieten, aber auch, nicht-islamistisch, auf Sri Lanka),

11Vgl.

zu John Cantlie die Beiträge von Klewer, Ulrich und Lee in diesen Band.

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der nicht zuletzt aus militant- und propagandastrategischen Gründen Terroristen und auch außerhalb des Internets glorifiziert(e): mit Postern und Wandbildern, T-Shirts, Gedenkveranstaltungen, in Gedichten und Liedern, auf CDs und Audiokassetten (vgl. Graitl 2012, S. 261 ff.). Mit ihren Videoaufzeichnungen tragen (Selbstmord-)Attentäter dazu wie zur „tödliche[n] Logik, welche der Dynamik der Märtyrerkultur innewohnt“, bei (Weigel 2007, S. 20). Weigel bezeichnet Märtyrer daher als „Medium kultureller Serienproduktion“ (ebd.). Das ­ pre-enactment Straubs (2019, S. 146) ist zwar eines, in Bezug auf den vorgezogenen Status, des erfolgreichen, heroischen Selbstmörders, zugleich aber in ihrer Botschaftsproduktion auch die standardisierte Nachahmung der vorangehenden shahids. Amris unsteter Blick unterstreicht dieses Routinierte, Typische und Einstudierte.12

5 Authentizitätsmechanismen Auf Basis der Betrachtung des Videos zu Beginn dieses Beitrags lassen sich einige Marker der Echtheit und der Unmittelbarkeit ausmachen, die von bildrhetorischem Wert sind und die sich, Krämer und Lobinger (2018, S. 3) folgend, in drei Eigenschaftsbereiche visueller Authentizität differenzieren lassen: sach- oder objektbezogen, personal und kommunikativ. Letzteres lässt sich noch mal unterteilen in personal-essentialistisch und personal-existenzialistisch. Authentizität wird häufig synonym für die Originalität, Echtheit und Glaubwürdigkeit einer Person oder eines Gegenstandes verwendet, sie wird verstanden als „ein situiertes und veränderbares soziales Konstrukt“ (ebd., S. 1). Der objektbezogene Authentizitätsbegriff bezieht sich in unserem Beispiel auf das Video als mediales Produkt oder Artefakt, seine Verifizierung vermittels der Veröffentlichung durch die Amaq Nachrichtenagentur, die Amris ­Selfie-Video zudem mit ihrem Logo wie mit einem Gütesiegel versehen hat, womit sie es auch gleichzeitig vereinnahmt (so wie der IS Amris Tat für sich reklamierte). Auch die eindeutige Identifizierbarkeit des ‚Autors‘ Amri schafft Transparenz und

12Im

Spielfilm Paradise Now von Hany Abu-Assad aus dem Jahr 2004 wird in einer Szene auf sarkastische Weise das Pathos der Terroristen mit der Banalität konfektionierten Märtyrerserienproduktion konfrontiert und gebrochen, wenn die Aufzeichnung des designierten palästinensischen Selbstmordattentäters mehrfach abgebrochen wird. Die vielleicht zu Beginn noch echte Emphase des Ausdrucks ist beim dritten Anlauf bzw. Take verflogen, sodass der Täter seiner Mutter in die Kamera hinein noch lakonisch einen kleinen Einkaufstipp mit auf den Weg gibt (vgl. Zywietz 2016, S. 313 f.).

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stellt einen sach- bzw. objektbezogenen Authentizitätsmarker dar (vgl. Krämer und Lobinger 2018, S. 4). Das Selfie als Selfie dokumentiert und erzeugt dabei zugleich den Akt der Autorschaft (vgl. Eckel 2018, S. 131). Hinzu kommt die technologische Gewährskraft des Fotografischen, auch wenn diese heute in Zeiten der Digitalbilder und -retusche, von Computer Generated Imagery (CGI) und, seit jüngstem, ‚Deep Fakes‘ stark nachgelassen hat. Der Verbund von Spontanität und Unverfälschtheit, die das Selfie impliziert, mit der bildqualitativen Minderwertigkeit und der Personalunion von Kameramann und Abbildobjekt resultiert in einer besonderen „Akzentuierung des Zufälligen“ (Kracauer 2015 [1960], S. 45). Personale Authentizität (vgl. Krämer und Lobinger 2018, S. 3 ff.) hebt auf den persönlichen Wesenskern bzw. den Charakter des Abgebildeten oder aber seine professionelle Rolle (etwa als Journalist) ab (personal-essenzialistisch). Alternativ dazu ist Authentizität gekoppelt an den unverstellten, eigenen Ausdruck einer Person, die sich selbst im und mit dem Bild entwirft (personal-existenzialistisch). Dies lässt sich gut mit Teilen des rhetorischen Ethos als Überzeugungsdimension in Verbindung bringen, wobei hier immer noch ein Element des authentizitätsskeptischen Verdachts insofern zum Tragen kommt: die Charakterstärke oder Tugendhaftigkeit (Arete), die Professionalität oder Kompetenz (Phronesis) sowie Sympathie oder besser: die Anwaltschaft oder das Zugetan-Sein für das Publikum und seine Anliegen (Eunoia) sind hier auch ‚nur‘ unter dem Aspekt ihrer Darstellung zwecks Glaubwürdigkeitserzeugung zu betrachten – wie ehrlich, unmittelbar oder tatsächlich gegeben (sprich: authentisch) sie auch immer sein mögen.13 Hier sind wir dann im Bereich der kommunikativen Authentizität nach Krämer und Lobinger (2018, S. 3, 5): der Wahrhaftigkeit und Aufrichtigkeit, sowohl der Wiedergabe der Realität wie auch die der Gefühle, Eindrücke und Stimmungen. Auf der konkreten Ebene des Visuellen fallen hierunter zudem formal-ästhetische Aspekte wie die Handführung der Kamera (subjektivistische ­„scene-of-recording camera shot“, Krautkrämer und Thiele 2018, S. 254), die schlechte Aufnahmequalität („videolow“, Fiske 2002) als Indiz der Nicht-Inszenierung und des dokumentarischen Charakters der Objekt-Kamera-Relation. Weitere Authentizitätsmarker sind die ungeschnittene Einzeleinstellung (one-shot) und die nach gängigen Schönheitsstandards (etwa der Selbstinszenierungen auf Instagram) schlechten Lichtverhältnisse, die für Spontaneität und den Mangel an Inszenierung oder nachträgliche Bearbeitung (z. B. Farbanpassung) stehen. Amris

13Vgl. Ulrich 2012 zu Ethos als Image(-Inszenierung) auch was den Auftritt vor der Kamera, aber auch andere kontextuelle und kotextuelle Elemente betrifft (wie zum Beispiel das TV-Sendungsdesign oder das Senderlogo).

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Video ist auf ästhetischer Ebene mit dem „social media witnessing“ vergleichbar: dieses gilt als unmittelbar, da die verwackelten und unscharfen Bilder eine taktilere und subjektivere Ansicht des Partizipierenden erzeugen (vgl. Simons 2019, S. 21 f.). In der Analyse des Amri-Videos ist die personale Ebene von der kommunikativen schwer zu trennen. Dies umso mehr, wenn wir die Formathaftigkeit des Selfies bzw. Selfie-Videos berücksichtigen, in der sich dispositive Aufnahmesituation, Bildmotivik und eine gewisse inhaltliche Genrespezifik (oder zumindest -tendenz) überkreuzen: Das Selfie als Selbstaufzeichnung hat per se etwas Bekenntnishaftes. So bietet sich das Selfie-Bildformat geradezu an als technisches und visuelles Format für die Nutzung als terroristisches Bekennervideo, des anticipatory image testimony (Straub 2019, S. 145). Es hat natürlich auch seine Darstellungs- und Präsentationskonventionen (als Typ des Ansprachevideos14), ist aber das in erster Linie inhaltlich, thematisch und kommunikativ situativ bzw. funktional definiert. Die Selbstmordattentäter stellen die Opferung ihres Lebens unter den Mantel der Verteidigung einer höheren politischen und ideologischen ‚Wahrheit‘ (vgl. ebd., S. 145). Generell wird die Glaubwürdigkeit der veröffentlichten Videos, d. h. seine Authentizität im objektbezogenen Sinne durch Nachrichtenredaktionen immer wieder angezweifelt, das liegt in der beschriebenen zeitlichen Oszillation begründet. Die Täter nehmen das Videos vor der Tat auf und können in den meisten Fällen zwar ein Planungs- aber letztlich kein Tatverlaufswissen präsentieren, zumal wenn wie im Falle Amri es anders läuft als (augenscheinlich) geplant: In dem Video wird neben dem Anschlag in Berlin, der nicht näher konkretisiert wird, ein weiterer Anschlag in Mailand angekündigt, den Amri aufgrund seiner Erschießung durch die italienische Polizei nicht mehr ausführen konnte. Die Zeugenschaft ist folglich keine der stattgefundenen Ereignisse, sondern eine der Entschlossenheit – eine Bekenntnisdokumentation und weniger -evidenz. Das Irritationsmoment des umherwandernden Blicks, der sich eben nicht entschlossen und konzentriert auf den Betrachter richtet oder zumindest in dessen Richtung geht, unterläuft aber auch in der Hinsicht den Originalitätsgestus des authentischen inneren Empfindens. Hier spielt das Format Selfie, vor allem aber der Charakter der Außenaufnahme eine Rolle. Während der Attentäter von Ansbach und andere al-Qaida- oder IS-„lone actors“ sich zumeist in geschlossenen Räumen erklären, ist Amri im Freien unterwegs. Er liefert

14Vgl.

dazu Zywietz (in diesem Band).

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damit nicht nur dem Zuschauerblick eine tiefenräumliche Hintergrundkulisse ohne symbolische Signifikanz für die Ansprache, sondern sich selbst allerlei Ablenkungspotenzial, etwa, weil er auf der Hut sein muss.

6 Zusammenfassung: Kommunikationsstrategien und Blick-Charakteristik des Bekenner-Video­­ Selfies Im Folgenden lassen sich aus den aufgezeigten bildstrategischen Aspekten Nähe und Authentizität fünf visuelle Kommunikationsstrategien ableiten: 1) Invitation, 2) Identifikation, 3) Appellation, 4) Affizierung und 5) Persuasion. Diese ergeben sich aus den visuellen Merkmalen des Bekennervideos. Abschließend wollen wir gesondert auf Amris ‚abwesenden‘ Blick zurückkommen, an dem sich noch einmal zusammenfassend wichtige Charakteristika des Selfie-Bekennerformats festmachen lassen. Die (1) Invitation zum Eintritt in eine kommunikative Handlung und (imaginär) interaktive Situation erfolgt durch das gewählte Format. Wie gezeigt, stellt das Selfie ein gestisches Bild dar – eine „gestural invitation to distant others“ (Frosh 2015, S. 1621). Auf der Ebene der Deixis verweist das Individuum, das das Selfie aufgenommen hat, immer auf seine beiden Rollen im Bild (die des Produzenten und die des Referenten) sowie vermittels des (Bildgattungs- und Technik-)Formats auf die Medienverfasstheit. In dem vorliegenden Falle des Amri-Bekennervideos verschiebt sich die Deixis auf der zeitlichen Dimension in eine imaginäre vergangene Zukunft und bildet damit das deiktische Phantasma. Der Blick weicht dem Zuschauer aus, wirkt demnach eher ablehnend als einladend. Die (2) Identifikation mit dem gezeigten Individuum erfolgt u. a. auf der Ebene der visuellen und (para-)sozialen Nähe: die der Kamera zum Gesicht Amris und die der direkten Adressierung und dem Blickkontakt mit dem Rezipienten. Die Identifikation wird in diesem Falle durch ein unverhülltes Gesicht und die Bestätigung des durch die Nachrichtenberichterstattung entstandenen Mediengesichts ermöglicht. Das Bekennervideo unterstützt die Möglichkeit der Identifizierung mit der gezeigten Person als selbsterklärter Soldat des IS, als Märtyrer und als Vorbild für potenzielle Nachfolger. Durch die Werbung mit dem eigenen Gesicht löst sich Amri von der Organisation ab – dies führt zu einer Personalisierung (ähnlich wie bei politischen Akteuren; vgl. Eckerl und Hahn 2018, S. 242). Amri fordert durch die eindeutige Erkennbarkeit seines Gesichtes aus großer Nähe nicht nur das Erkennen seiner Person auf ikonologischer Ebene (Kognition), sondern auch das Anerkennen seiner Rolle auf

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ideologischer Ebene (Re-Kognition) ein (vgl. Mitchell 1997, S. 36). Die Augenbewegungen führen dazu, dass die Inszenierung auf kommunikationsbezogener Ebene unauthentisch wirkt, somit wird die Identifizierung mit der dargestellten Rolle erschwert. Explizit wie implizit erfolgt eine (3) Appellation. Amris Agieren ist eine Art jihad-moralisches eigen- und fremdverpflichtendes „Probehandeln in ­quasi-realen Rollen“ (Wegener 2008, S. 295). Das Selfie-Format wird hier gezielt genutzt, um durch die direkte Ansprache Mitglieder, Schläfer, Nachwuchs und Unentschlossene zum Handeln zu bewegen. Besonders in Bezug auf die Betonung seiner eigenen Person wirkt das Video überzeugend: Durch die formale Nähe zur Kamera und sein unverhülltes Gesicht gibt er gleichermaßen der abstrakten Vorstellung des Konzepts ‚Märtyrer‘ ein konkretes Gesicht, das jedoch von der traditionellen Vorstellung abweicht. Die (4) Affizierung erfolgt auf mehreren Ebenen: zum einen durch die Wahrnehmungs- bzw. Aufzeichnungs- und die (auch ideologisch personenkreisspezifische) Identifikations-Nähe sowie Authentizität. Wobei der Anspruch der Authentizität hier nur bedingt erfüllt ist. Neben der expliziten Einladung Amris im Video lädt das Selfie-Format ein, „to do more than look“ (Frosh 2015, S. 1621). Es verlangt eine emotionale ‚response‘ durch eine „affektive Intentionalität“ (Barthes 2012 [1980], S.  30): Barthes nennt dies eine „Annäherung an den Gegenstand, die sogleich von Verlangen, Abneigung, Sehnsucht nach Vergangenem und Euphorie durchdrungen wurde“ (ebd.). Abermals stört der abwesende Blickkontakt eine Affizierung auf kommunikations- und personenbezogener Authentizitätsebene. Mit der Wahl des ‚epischen‘ filmischen Querformats statt des intimeren, individuelleren weil personenzentrierenden Hochformats unterstreicht Amri zudem das Autoritäre seiner Rolle und seinen Ziel-Status als Vorbild, auf Kosten der persönlichen ‚Offenheit‘ und Nähe, die ein mehr und stärker präsentierter (Ober-)Körper vermitteln würde, der per aufrecht gehaltenem Smartphone stärker aus seiner Umgebung ‚herausgeschnitten‘ wäre. Der Aspekt der (potenziellen) (5) Persuasion ist eng mit den vorherigen Punkten verknüpft. So trägt die Deixis dazu bei, die Koordinate der zeitlichen Dimension so zu verschieben, dass Rezipienten den Eindruck erhalten, der Plan sei bereits zur Entstehung des Videos ausgeführt worden, also unmittelbar vor der Veröffentlichung. Hier geht es vor allem darum, durch das Selfie-Video von der eigenen Person als Handlungsbemächtigten, von der eigenen Organisation zu überzeugen, die vorgeblich Gerechtigkeit walten lasse und nicht zuletzt von dem Plan sowie von der Entschlossenheit des Täters zu überzeugen. Das entspricht dem Wesen von Propaganda als „das vorsätzliche und systematische Streben, Wahrnehmungen zu gestalten, Gefühle und Gedanken zu beeinflussen

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und Verhalten im Sinne einer Ideologie – meist mit absolutem Gültigkeitsanspruch zu fördern“ (Frischlich 2018, S. 135). Propaganda ist eine Form persuasiver Kommunikation und kann in diesem Falle nur auf sprachlicher Ebene für die eigene Gruppe erfolgreich sein, da die Inszenierung auf visueller Ebene wenig überzeugend wirkt – der Blick lässt sie inkompetent wirken. Neben den argumentativen und emotionalisierenden Worten sowie der medientextuellen Glaubwürdigkeit der Person im Selfie-Format ist dem Format an sich Gewicht beizumessen. Als eine Art symbolische Form sowie als Format mit eigener medialer Vorgeschichte, Bedeutung und Assoziation wirkt es aus sich heraus bekenntnishaft und Intimität mehr als nur konnotierend. Eine bereits mehrfach angesprochene Besonderheit des Videos ist Amris mangelnder Blickkontakt mit der Kamera respektive dem Rezipienten. Beachtenswert sind in diesem Zusammenhang die Augenbewegungen im Detail, denn diese spielen „in komplexen kommunikativen Interaktionen eine wesentliche Rolle, wie zum Beispiel bei deiktischen Anweisungen oder bei Auge-zu-Auge Kontakten“ (Joos und Velichkovsky 2003, S. 142). Bei Amri wechseln sich die Augenbewegungen, Sakkaden und Fixationen (das Fokussieren des Blickes) relativ schnell ab. Das scheint zumindest teilweise an der auf den Produzenten einwirkenden Umwelt zu liegen: vorbeifahrende Autos oder sonstige Objekte werden fixiert, registriert, eingeordnet und wieder freigegeben. Der Blickfokus bezeichnet nicht den Ort der Aufmerksamkeit. Demnach kann der abwesende Blick nicht nur Anzeichen von besonderer Aufmerksamkeit für die Außenwelt sein, sondern auch eine Innengewandtheit implizieren. So kann es sein, dass Amri einerseits einen zuvor erstellten Text memoriert, den er nun abruft, während seine Augen wie ‚auf Autopilot‘ laufen und, bottom-up, von äußeren Reizen gelenkt werden statt, top-down, nach komplexen kognitiven Zielvorgaben. Andererseits scheint er einige Male den Bildschirm zu überprüfen und so lassen sich für den erratischen Blick Amris folgende, einander sich nicht ausschließende Erklärungen denken: a) Amri befindet sich bereits im Kriegsmodus und ist so mental mitten im Ereignis. b) Durch die gezielte Koordinatenverschiebung in Bezug auf die Zeit (er erzählt von der vergangenen Zukunft) findet er keinen Fixpunkt, da er sich innerlich in die Zukunft und mithin in den Status eines toten Märtyrers projiziert. c) Amri hat Schwierigkeiten, sich visuell selbst zu fixieren bzw. sich selbst in die Augen zu schauen, da er zwischen Persona-Präsentationsblick (in die Kameralinse) und Inszenator-Kontrollblick (auf das Display, auf dem er im Moment der Aufnahme sich selbst wie in einem Spiegel sieht) hin und her irrt.

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Nicht nur der ständige Rollenumschlag kann derart irritieren und die Konzentration stören, aber auch eingedenk der Wirkung auf die Zuschauer bewusst in die Ferne gelenkt werden. In dieselbe Richtung weist die Erklärung des US-amerikanischen YouTubers Casey Neistat, weshalb er immerzu Sonnenbrillen in seinen Videos trage: Er schaue häufiger auf den Bildschirm neben der Kamera und wenn er eine Sonnenbrille trage, würde dieser Blickwechsel nicht auffallen bzw. es immer so wirken, als adressiere er das Publikum unmittelbar.15 Sein Bild selbst mag selbst jedoch einen unheimlichen Effekt auf Amri gehabt haben, insofern er sich selbst als eine Art gespensterhafte Medienfigur, Zukunftsgestalt und lebenden Toten vor Augen hatte – eine Erscheinung mit uneindeutigem zeitlichen und räumlichen, ontologischen und epistemischen Status.16 Welche affizierende Auswirkung diese Blickflucht auf den Zuschauer hat und welche Rolle sie für die Persuasionskraft hat, muss offenbleiben und ist sicher auch nicht pauschal bzw. nur individuell zu beantworten. Möglich ist, dass die Vermeidung des Blickkontaktes unentschlossen und unehrlich, da ausweichend empfunden wird. Sie kann auf auswendig gelernte Worte verweisen oder auf ein angestrengtes inneres Sich-Sammeln.

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15Why

I Always Wear Sunglases (06.07.2016), https://www.youtube.com/ watch?v=xFbJoXJBIIA (Zugegriffen: 20.08.2019). 16Vgl. zur Gespenster-Metapher in diesem Sinne auch den Beitrag von Anne Ulrich in diesem Band.

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Lydia Korte, M.A., Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Medienästhetik am Medienwissenschaftlichen Seminar der Universität Siegen. Sie arbeitet in ihrem Promotionsprojekt zum Thema Selfies. Dr. Bernd Zywietz,  Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Nachwuchsforschergruppe Dschihadismus im Internet (Institut für Ethnologie und Afrikastudien, Johannes Gutenberg-Universität Mainz), darin wissenschaftlicher Leiter der Forschungs- und ­ Informationsplattform Online-Propaganda. Gründungs- und Vorstandsmitglied des Netzwerk Terrorismusforschung e. V. und Herausgeber der Buchreihe Aktivismus- und Propagandaforschung (Springer VS).

Der Fall John Cantlie. Parasozialität als Mittel der Propaganda Sophia Maylin Klewer

Zusammenfassung

Insbesondere Videopropaganda spielt in der extremistischen Ansprache, Rekrutierung und Radikalisierung neuer Anhänger eine große Rolle, spricht sie ihre Rezipient*innen doch meist auf emotionalisierte Weise an und erzeugt so Aufmerksamkeit und eine bestimmte Anziehungskraft. Mittels des Konzepts der Parasozialität zeigt der vorliegende Beitrag, wie Extremist*innen durch eine personalisierte und emotional-affektive Ansprache durch einen parasozialen Freund Sympathie und Unterstützung für sich selbst und die eigenen Thesen evozieren. Die enge Verbindung von Parasozialität und Propaganda wird mittels einer Fallstudie der sogenannten John-Cantlie-Videos des ‚Islamischen Staats‘ aufgezeigt, in der Gestaltungselemente und Praktiken, die die Emergenz von Parasozialität unterstützen, in den Blick genommen werden. Der Beitrag soll Parasozialität im Sinne eines Funktionsmechanismus von Propaganda verständlich machen und mögliche Wirkungen parasozialer Phänomene auf die Überzeugungskraft von Propaganda identifizieren. Schlüsselwörter

Videopropaganda · Parasozialität · Parasoziale Beziehung · Parasoziale Interaktion · John Cantlie · Islamischer Staat · Medienwirkung

S. Maylin Klewer (*)  Siegen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 B. Zywietz (Hrsg.), Propaganda des „Islamischen Staats“, Aktivismus- und Propagandaforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28751-1_9

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1 Einleitung „Gaunt, pale but still alive“ – so beschreiben Baker (2016) und viele andere Journalist*innen John Cantlie in ihren Berichterstattungen über die Propagandavideos des selbsternannten „Islamischen Staats“ (im Folgenden: IS), in denen Cantlie als Sprachrohr für die Terrororganisation auftritt. In der Berichterstattung über den britischen Journalisten, der seit 2012 vom IS gefangen gehalten wird, zeigt sich das große mediale und öffentliche Interesse an Cantlies persönlicher Situation – oftmals im Sinne eines Neuigkeitswerts und Sensationsgehalts der ‚John-CantlieNachrichten‘. Der Fall John Cantlie offenbart so in besonderem Maße einen Teil der Propagandamaschinerie der Terrororganisation, in der die westlichen Medien ungewollt zu Teilnehmer*innen werden. Gleichzeitig zeigen die Nachfrage nach diesen Nachrichten und das große Interesse an Cantlie auch die empathische Verbindung vieler Menschen zu ihm sowie ihre Anteilnahme an seinem Schicksal. Das kann im Sinne einer parasozialen Bindung, also einer scheinbaren Freundschaft zwischen der Medienfigur Cantlie und den Rezipient*innen der Propagandavideos und der Medienberichte über ihn, verstanden werden. Dabei schließt die Aufnahme einer solchen parasozialen Beziehung mit Cantlie die Rezeption von propagandistischen Botschaften und deren spezifische Strukturierung per se mit ein. Diese werden – so wird angenommen – durch das massenmediale und vor allem emotionale Interesse an Cantlie nicht nur in ihrer Reichweite, sondern auch in Bezug auf ihre Intensität und Wirkung potenziert. Denn der vorliegende Fall unterscheidet sich in vielerlei Hinsicht von anderen bekannten Geiselnahmen: So fungiert Cantlie nicht nur als Protagonist einer öffentlichkeitswirksamen, dramatischen Geschichte, sondern vielmehr auch als der darüber berichtende Journalist und politischer Kommentator. Durch die eigenständige und selbstbestimmte Verbreitung der Videos wird zudem der Deutungsrahmen der Geiselnahme nicht mehr durch etablierte Medieninstitutionen, sondern vielmehr durch den IS selbst vorgegeben. Der emotional-affektive Aspekt von Cantlies Geschichte wird somit nicht nur zum Motor für Parasozialität, sondern in der Folge vielmehr auch zum Vehikel für die persönliche Botschaft des parasozialen Kommunikationspartners Cantlie. Die Emergenz von Parasozialität kann dabei durch verschiedene angebotsseitige Faktoren unterstützt werden. Anschließend daran stellt sich die Frage, inwieweit diese parasozialitätsbegünstigenden Faktoren in den John-Cantlie-Videos eingesetzt werden und welche Rolle parasoziale Phänomene insgesamt in Rahmen der Wirkung und Überzeugungskraft von Propaganda einnehmen können. Dabei wird angenommen, dass eine gelingende Parasozialität im Sinne einer sympathisierenden Haltung zur bzw. zum parasozialen Partner*in die Akzeptanz

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der dargebotenen Inhalte begünstigt und diese im massenmedialen Situationskontext zu weitreichender Wirksamkeit gelangen. Im Kontext dieser Fragestellungen nimmt die vorliegende Untersuchung die parasozialitätsbegünstigenden Gestaltungselemente und Mechanismen innerhalb der John-Cantlie-Videos in den Blick, um so das parasoziale Beziehungsangebot und die damit einhergehenden möglichen Auswirkungen auf die Rezipient*innen aufzuzeigen.

2 Parasozialität Das Konzept der Parasozialität wurde 1956 von den amerikanischen Soziologen Donald Horton und Richard Wohl entwickelt und gilt heute als ein zentraler Ansatz der Medienwirkungsforschung. In ihrem Schlüsselwerk Mass communication and para-social interaction: Observations on intimacy at a distance (Horton und Wohl 1976) beschreiben die beiden Autoren ihre Beobachtung, dass Medienfiguren vor allem im Rahmen von personenzentrierten Formaten wie zum Beispiel Nachrichtensendungen oder Quizshows ihrem Publikum begegnen, als befänden sie sich in einer realen Interaktionssituation mit jedem/jeder einzelnen Zuschauer*in: Sie sprechen die Rezipient*innen direkt an und gestalten ihre Handlungen offen, wodurch bestimmte Reaktionen des Publikums antizipiert werden (vgl. ebd., S. 216). Die Persona bzw. Medienfigur, die nicht mit der realen Person vor der Kamera gleichzusetzen ist, präsentiert aus dem Alltag gewohnte Gesten und orientiert sich dabei am legeren Konversationsstil orthosozialer (also ‚Face-to-Face‘-)Interaktionen. Der/die Zuschauer*in rezipiert wiederum nicht nur passiv, sondern partizipiert auch aktiv am medialen Geschehen, in dem er oder sie auf die Performance der Persona eingeht. Horton und Wohl gehen somit von einer interaktionistischen Perspektive und von Zuschauer*innen aus, die von bloßen Beobachter*innen zu Teilnehmer*innen am medialen Geschehen werden. Der so entstehende scheinbare kommunikative Austausch oder das „simulacrum of conversational give and take“ (ebd., S. 212) zwischen Medienakteur und Rezipient*in wird als parasoziale Interaktion bezeichnet (im Folgenden: PSI). PSI ist dabei von einer bloßen Identifikation mit der Medienfigur abzugrenzen. Zwar übernimmt der/die Rezipient*in im Sinne einer Rollenübernahme zeitweilig die Werte und Perspektiven der Medienfigur, gleichzeitig wird er oder sie durch die meist direkte Adressierung der Persona stets an die eigene, unabhängige Identität erinnert. Während Identifikation zudem immer nur periodisch ist, bleibt Parasozialität oft auch nach Ende der Rezeption bestehen und wirkt langfristig auf die Rezipient*innen (vgl. ebd., S. 212 ff.).

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Wiederholt sich PSI regelmäßig, kann sich eine parasoziale Beziehung (im Folgenden: PSB) zwischen Persona und Rezipient*in entwickeln. Dabei gleicht diese langfristige „seeming face-to-face relationship“ (ebd., S. 212) einer orthosozialen, freundschaftlichen Verbindung, die sich durch Intimität und Nähe auszeichnet, welche jedoch genau wie die Wechselseitigkeit der Kommunikationssituation immer nur eine Illusion sein kann (vgl. Dibble et al. 2016, S. 23). PSI und PSB gleichen somit orthosozialen Interaktionen und Beziehungen einerseits stark, unterscheiden sich andererseits durch ihre faktische Einseitigkeit, also die fehlende Reziprozität und starke Asymmetrie der Kommunikation, grundlegend von ihnen. Aufgrund dieser mangelnden Wechselseitigkeit liegt die Verantwortung, eine Beziehung aufzubauen, zu stärken und weiterzuentwickeln bei der Persona (vgl. Horton und Strauss 1957, S. 580). Dazu kann sie sich verschiedener Techniken bedienen, um sich selbst als parasoziale Interaktions- bzw. Beziehungspartner*in attraktiv zu machen. Denn: Ähnlich wie in orthosozialen Kommunikationssituationen vermitteln bestimmte physische und verbale Signale den Eindruck einer reziproken kommunikativen Erfahrung, wodurch Parasozialität wahrscheinlicher wird (vgl. Tukachinsky und Sangalang 2016, S. 178; Horton und Wohl 1976, S. 214 ff.).

2.1 Begünstigende Faktoren für den Aufbau parasozialer Beziehungen Wie können mediale Akteure die Rezipient*innen zum parasozialen Interagieren und schließlich zum Eingang in eine PSB animieren? Entsprechende Untersuchungen zeigen eine Vielzahl an Faktoren auf, die Parasozialität befördern können. So scheint insbesondere bei non-fiktionalen Medienangeboten zunächst die direkte Adressierung des Publikums grundlegend für den Aufbau einer PSB zu sein. Diese sollte sich durch eine möglichst direkte und unmittelbare Ansprache, den direkten Blick in die Kamera und die Öffnung der Performance hin zum Publikum auszeichnen (vgl. Dibble et al. 2016, S. 23). Durch diese Offenheit des Verhaltens wird dem Publikum die Möglichkeit gegeben, aktiv teilzuhaben, indem es direkt auf das Verhalten der Persona reagieren kann. Die (suggerierte oder antizipierte) Reaktion des Publikums baut die Persona wiederum in ihre Performance ein und macht beispielsweise Pausen, um den Zuschauer*innen scheinbar die Beantwortung rhetorischer Fragen zu ermöglichen. Indem die Persona des Weiteren auch Gestik und Mimik sowie den generellen konversationalen Stil realweltlicher Face-to-Face-Situationen imitiert, kann sie die Rezipient*innen insgesamt in einen „flow of small talk“ (Horton

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und Wohl 1976, S. 217) involvieren, durch den die Illusion eines wechselseitigen, kommunikativen Austausches zwischen Publikum und Persona entsteht. Weiterhin machen verschiedene Persönlichkeitsmerkmale die Persona als parasoziale/n Beziehungspartner*in attraktiv: Ein hohes Maß an Verlässlichkeit im Sinne von Zuverlässigkeit des Auftretens und langfristig gleichbleibenden, vorhersehbaren Verhaltens der Persona wirken sich positiv auf PSI und PSB aus (vgl. Horton und Strauss 1957, S. 583 f.). Daneben sind auch Merkmale wie Professionalität und Kompetenz – gerade im Kontext von informativen Formaten – relevant (vgl. Baeßler 2009, S. 140). Auch eine hohe physische und psychische Attraktivität wirken parasozialitätsbegünstigend, denn durch sie ruft die Persona Sympathie hervor und zeichnet das Bild eines schönen und erfolgreichen Charakters. Während physische Erscheinung ähnlich eines ersten Eindrucks „underlying feelings of attraction“ (Konijn und Hoorn 2017, S. 5) vermittelt und zu einer ersten PSI motiviert, wirken psychische Komponente langfristig intensivierend auf die PSB (vgl. Hartmann und Klimmt 2005, S. 95). Hinsichtlich der Persönlichkeit muss an dieser zwischen der Persona selbst und der von ihr repräsentierten (funktionalen) Rolle unterschieden werden, wobei bei beiden Dimensionen (Privatperson und Rolle) zunächst wichtig ist, dass die Persönlichkeitsmerkmale für die Zuschauer*innen klar erkennbar sind und der Persona so spezifische Eigenschaften zugeordnet werden können (vgl. Baeßler 2009, S. 84 ff.). Dabei wirken sich Eigenschaften, die allgemein als sozial erwünscht gelten wie zum Beispiel „Authentizität, Natürlichkeit, Humor, Bescheidenheit [und] Menschlichkeit“ (ebd., S. 139), besonders positiv auf die Entstehung von Parasozialität aus. Sowohl die Verkörperung der Rolle als auch die Präsentation der Privatperson sollten weiterhin glaubwürdig, natürlich und realitätsnah sein (vgl. Hoorn 2012, S. 161; Shapiro und Chock 2003, S. 163 f.; Giles 2002, S. 282), da es den Rezipient*innen so leichter fällt, sich in die Persona hinzuversetzen und eigene Werte und Überzeugungen mit jener der Persona zu vergleichen. Während dieser Rollenübernahme werden identitätsstiftende Prozesse bei den Rezipient*innen angeregt, sodass die PSI auch langfristig Einfluss auf die Selbstwahrnehmung und Identität der Zuschauer*innen nehmen kann (vgl. Baeßler 2009, S. 94 f.; Mikos 1996, S. 104 f.). Gleichzeitig besteht innerhalb einer PSB eine stärkere Tendenz dazu, scheinheiliges oder widersprüchliches Verhalten der Persona zu tolerieren, sodass dieses nicht zwingend zu einem Glaubwürdigkeitsverlust führt (vgl. Tukachinsky 2015, S. 3404; Bailenson et al. 2006, S. 359). Darüber hinaus ist auch der Einsatz produktionstechnischer Mittel von Bedeutung und so können zum Beispiel nahe Kameraeinstellungen (physische) Nähe implizieren, während weite Einstellungen eine gewisse emotionale Distanz

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vermitteln. Positiv wirkt sich auch eine große Bildschirmpräsenz der Persona aus. So sollte die Medienfigur sowohl persistent als auch obstrusiv sein, wobei Persistenz das wiederholte Auftreten der Persona bezeichnet und Obstrusivität auf eine bestimmte ‚Aufdringlichkeit‘ der Medienfigur im Bildausschnitt abzielt. Diese ergibt sich zum Beispiel, wenn die Persona zu großen Teilen den Bildausschnitt vereinnahmt oder zentral positioniert ist (vgl. Hartmann et al. 2004, S. 23 f.). Schließlich nimmt auch die mediale Umgebung Einfluss auf den Aufbau und die Intensität von Parasozialität. Während das Phänomen zuerst im Kontext traditioneller Medien wie Fernsehen oder Radio untersucht wurde, haben viele Arbeiten der letzten Jahre das Forschungsfeld für neuere Medienumgebungen (soziale Netzwerke oder Online-Communities, zum Beispiel Twitter, Facebook oder Videoplattformen wie YouTube) geöffnet (vgl. Kurtin et al. 2018; Tsiotsou 2015; Frederick et al. 2014; Labrecque 2014; Savage und Spence 2014; Baek et al. 2013; Frederick et al. 2012). Insgesamt verdeutlichen diese Studien, dass Parasozialität in digitalen Umgebungen meist intensiver erlebt wird als im Rahmen traditioneller Medienangebote. Leslie Rasmussen (2018) zeigt in ihrer Arbeit zudem, dass YouTube-Stars für Zuschauer*innen eher zu glaubwürdigen Informationsquellen werden, wenn sie in eine PSB mit dem/der YouTuber*in involviert sind. Obwohl Rasmussen sich mit dem Thema primär im Hinblick auf kommerzielle Gesichtspunkte beschäftigt, erscheinen die Ergebnisse in vorliegenden Rahmen besonders relevant, können YouTuber*innen doch auch zur Quelle politischer Informationen und Meinungen werden.

2.2 Parasozialität und die Verbreitung von Informationen Parasozialität wird häufig im Paradigma des symbolischen Interaktionismus1 verankert (vgl. Hippel 2003; Krotz 1996; Mikos 1996). Diese theoretische Verortung impliziert dabei nicht nur, dass ein hohes Maß an Homogenität zwischen Persona und Rezipient*innen den Aufbau einer freundschaftlichen

1Im symbolischen Interaktionismus wird jede Art der Kommunikation als ein Prozess verstanden, in dem Individuen in bestimmten Rollen handeln und im Rahmen einer Interaktion durch die Rollenübernahme ihres kommunikativen Gegenübers dessen Intentionen und Erwartungen verstehen, um dann angemessen auf diese reagieren zu können (vgl. Krotz 1996, S. 73 ff.).

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PSB befördern kann, da so eine interaktionistische Rollenübernahme vereinfacht wird (vgl. Krotz 1996, S. 77 f.). Sie lässt auch einen möglichen Einfluss von parasozialen Prozessen auf die Meinungs-, Persönlichkeits- und Identitätsbildung der Rezipient*innen vermuten. Denn kommt es während einer PSI zu einer zeitweisen Rollenübernahme und somit auch einem Abgleich der Werte und Perspektiven, entsteht auf Seite der Rezipient*innen ein innerer Dialog zwischen eigener und fremder Rolle. Dieser aktiviert wiederum Prozesse der Persönlichkeitsbildung, sodass die Medienrezeption in die „Entwicklung und Stabilisierung der Identität“ (Mikos 1996, S. 105) der Zuschauer*innen eingebunden wird. Zudem kann Parasozialität auch als gratifikationsversprechende Möglichkeit im Sinne des Uses-and-Gratification-Ansatzes verstanden werden (vgl. Rosengren und Windahl 1972).2 Dabei fungiert eine PSI weniger als Ersatzbefriedigung für orthosozialen Kontakt und vielmehr als Zusatzbefriedigung für ein Bedürfnis nach Sozialität und angenehmen, positiv-emotionalen Erfahrungen. Dieses Bedürfnis spielt auch bei der Wahrnehmung der durch die Persona vermittelten Inhalte und Informationen (vgl. Gleich 1996, S. 116 ff.) eine große Rolle: Da Informationen im medialen Kontext oft durch Personae vermittelt werden, sammeln die Zuschauer*innen während der Rezeption somit nicht nur Informationen, sondern machen auch e­ motional-parasoziale Erfahrungen. Stellen die Erfahrungen für den/die Rezipient*in eine Befriedigung des Verlangens nach positiver und angenehmer Sozialität dar, ist eine ebenfalls positive Einstellung gegenüber den vermittelten Informationen und Inhalten wahrscheinlich. Somit werden Informationen und Meinungen, die während einer als angenehm empfundenen PSI aufgenommen werden, eher als positiv und glaubwürdig bewertet und akzeptiert (vgl. ebd.). Jüngere Studien implizieren außerdem einen möglichen Einfluss von Parasozialität auf die Persuasionskraft von Inhalten (vgl. Moyer-Guse 2008), auf identitätsbildende Prozesse (vgl. Hoffner 2009) und eine Begünstigung von Einstellungsänderungen durch Parasozialität (vgl. Tukachinsky 2015). Dabei scheint Parasozialität die Resistenz gegenüber Narrativen und Meinungen zu verringern, wenn diese durch eine positiv wahrgenommene Persona als individuelle Erfahrung oder persönliche Botschaft im Sinne einer Meinungskundgabe vermittelt werden:

2Der

Uses-and-Gratification-Ansatz geht von aktiven, zielorientierten Zuschauer*innen aus, deren Handeln durch bestimmte Bedürfnisse motiviert wird. Die Medienauswahl und -rezeption folgt dabei generell dem Ziel der Bedürfnisbefriedigung, sodass die Zuwendung zu einem medialen Angebot nur dann erfolgt, wenn dieses als individuell-lohnend wahrgenommen wird (vgl. Hugger 2008, S. 173 ff.).

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Sie kommen scheinbar aus dem (direkten) sozialen Umfeld des/der Rezipient*in und sind somit weniger einschüchternd (vgl. Moyer-Guse 2008, S. 415 ff.). Laut Tukachinsky und Sangalang (2016) kann Parasozialität aber auch kritischreflektierende, diskursive Verhaltensweisen (Diskussionen oder eigenständige Pro- und Contra-Argumentationen) fördern, doch wird dies durch besonders intensive PSB signifikant modifiziert. Während ein relativ geringes Level an parasozialer Involviertheit noch zu einer vergleichsweise negativen Voreingenommenheit führt und zu Gegenargumentation anregt, sorgt eine intensive PSB für Offenheit und positive Einstellungen gegenüber den durch die Persona vermittelten Informationen. Zuschauer*innen in einer individuell bedeutungsvollen PSB neigen daher dazu, bestimmte Erzählungen und Ideen in einem empathischpositiven Kontext und einer sympathisierenden Haltung mit der Persona zu ‚diskutieren‘. Letztlich scheinen solche Rezipient*innen so einer kognitiven Dissonanz, einem belastenden Widerspruch zwischen der eigenen Meinung und der der Persona entgegenzuwirken oder diese gar aufzulösen, indem sie die Meinung der Persona – auf die sie selbst ja nicht einwirken können – übernehmen (vgl. Tukachinsky 2015, S. 3405). Für Propagandist*innen scheint es also zweckmäßig, auf Parasozialität abzuzielen: Die affektiv-emotionale Ansprache in einer PSB erzeugt große Aufmerksamkeit und einen Anreiz zur Rezeption der Videos. Sie bietet den Zuschauer*innen zudem einen individuellen Zugang zu den manipulativen Inhalten an, die durch die persönliche Bindung an die Inhalte in ihrer Persönlichkeits- und Identitätsbildung langfristig beeinflusst werden.

3 Die John-Cantlie-Videos des IS In den vergangenen Jahren haben der IS und seine zunehmend professionalisierte Medienproduktion sowohl in den westlichen Medien und der Politik als auch in der Wissenschaft große Aufmerksamkeit erregt. Gerade die hohe Quantität und Qualität der medialen Verbreitung der dschihadistischen Weltanschauung durch den IS sind oft Mittelpunkt der Diskussion (vgl. Zelin 2015, S. 85). Dabei konzentriert sich der IS vermehrt auf das Internet als Distributionskanal (vgl. Winter 2015, S. 18). Zwar ist die Zahl des veröffentlichten Propagandamaterials stark zurückgegangen (vgl. BBC Monitoring 2018). Besonds in Bezug auf dschihadistische Videos scheint der IS die öffentliche Wahrnehmung aber nachhaltig beeinflusst zu haben, wie die Bebilderung von Berichten über den IS mit IS-Material zeigt (vgl. u. a. Winter 2018, S. 103).

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Eine Art der Videopropaganda des IS ist das „hostage video campaign[ing]“ (Tinnes 2015, S. 85): Videos, in denen Geiseln meist brutal misshandelt oder getötet werden, um so Schockwirkungen zu erzeugen und damit die Stärke, Macht und Skrupellosigkeit der Terrororganisation darzustellen. Die perfide Inszenierung (der Ermordung) von sogenannten „high-profile hostages“ (ebd., S. 80) – also Geiseln, denen eine hohe mediale und gesellschaftliche Aufmerksamkeit zukommt – scheint vor allem im Jahr 2014 eine der favorisierten Strategien des IS zu sein. Eine dieser high-profile Geiseln ist der britische Fotojournalist John Cantlie, der 2012 in Syrien vom IS gefangen genommen und seither festgehalten wird (vgl. Greene 2015, S. 35). Aktuell scheint es, als sei Cantlie ‚verschollen‘: Seit 2016 gab es keine Lebenszeichen mehr von ihm. Obwohl 2017 drei IS-Kämpfer Cantlies Tod in einem Interview mit der irakischen ­ Al-Sura-Nachrichtenagentur bestätigen, glauben viele – darunter auch die britische Regierung –, dass Cantlie noch am Leben sei (vgl. Wintour 2019). Zwischen 2014 und 2016 wurde Cantlie auf besondere Weise in die Propagandamaschinerie der Organisation eingebunden: Er tritt in diesem Zeitraum insgesamt in 14 Propagandavideos auf und schreibt (vorgeblich) eine eigene Kolumne für die IS-eigene Zeitschrift Dabiq.3 Dabei fungiert Cantlie als politischer Kommentator, Journalist und Reporter, der über die dschihadistische Weltanschauung, das Leben im IS-Territorium, aber auch über seine eigene ­(Geisel-)Situation berichtet. Die Videos, in denen Cantlie auftrifft, lassen sich dabei in zwei Videoreihen und vier Einzelvideos einteilen, die sich sowohl inhaltlich als auch formalstilistisch unterscheiden: In der siebenteiligen Serie Lend Me Your Ears – Messages from the British Detainee John Cantlie (im Folgenden: LMYE) spricht Cantlie wie ein Nachrichtensprecher bzw. -moderator oder Kommentator an einem Tisch sitzend über Themen wie die Kriegsführung der westlichen Länder, die Berichterstattung der westlichen Medien oder den Umgang mit Geiselsituationen (siehe Abb. 1).4 In der zweiten Serie, der Inside-Reihe5,

3Die

Artikel in der Zeitschrift Dabiq wurden im Rahmen der Analyse nicht betrachtet, da sich diese primär auf filmische Gesichtspunkte bezieht. 4Die sieben Folgen (sechs nummeriert und eine Art ‚Pilotfolge‘ oder ‚Nullnummer‘) erschienen zwischen 18.09. und 21.11.2014 und wurden von der al-Furqan Media Foundation herausgegeben. 5Nicht zu verwechseln mit der Inside the Khilafah-Reihe – siehe Simone Pfeifer et al. in diesem Band.

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Abb. 1   Cantlie in dem Video LMYE, Episode 1. (Screenshot)

die aus drei Videos besteht6, fungiert Cantlie demgegenüber eher als eine Art politischer Korrespondent und Außenreporter, der verschiedene Städte im ISTerritorium besucht, um dem Publikum das scheinbar gute Leben unter der Herrschaft des IS zu zeigen (siehe Abb. 2 und 3). Im Kontrast dazu stehen die vier Einzelvideos, die vor allem ereignisorientiert ausgerichtet sind. Drei davon sind behelfsbenannte Clips der I­S-Nachrichtenagentur Amaq.7 In ihnen thematisiert Cantlie zum Beispiel Drohnenanschläge innerhalb des IS-Territoriums, wobei der Aufbau deutlich an eine Nachrichtenreportage erinnert, in der Cantlie selbst die Rolle eines Korrespondenten einnimmt, der vermeintlich objektiv über die Situation vor Ort informiert (siehe Abb. 4). Das vierte, Tank Hunters (Wilayah Ninawa, VÖ: 13.12.2016), ist ein thematisches Video zum Panzer als mächtigem Kriegsgerät und dessen Einsatz in der Schlacht um Mosul. Cantlie spielt darin nur eine Nebenrolle; er kommentiert und informiert in einem dunklen Raum vor einem

6Inside

Ayn al Arab (VÖ: ca. 27.10.2014), From Inside Mosul (VÖ: 03.01.2015), From Inside Halab (VÖ: 09.02.2015), alle produziert vom al-Hayat Media Center. 7John Cantlie Talks about the American Airstrikes on Media Kiosks in Mosul City (VÖ: 19.03.2016), John Cantlie speaking about the US Bombing Mosul University and other popular areas in the City (12.07.2016), ohne Titel (inoffiziell: „John Cantlie Talks About Bombing the Bridges, Cutting Water and Electricity from Mosul City“) (VÖ: 07.12.2016).

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Abb. 2   Cantlie in dem Video From Inside Halab. (Screenshot)

IS-Propaganda-Video, ehe er in der verheerten Stadt mit Helm auf dem Kopf Bericht erstattet. Die John-Cantlie-Videos sind langfristig angelegte, personenzentrierte Formate, die die angebotsseitigen Bedingungsfaktoren für die Entstehung von Parasozialität formal zu erfüllen scheinen. Es stellt sich jedoch die Frage, welche parasozialitätsbegünstigenden Mittel und Praktiken in den Videos in welchem Maße und mit welcher Konstanz zum Einsatz kommen und inwieweit Parasozialität einen Bedingungs- und Einflussfaktor für die Wirksamkeit von Propaganda darstellt. Zur Beantwortung dieser Fragen wurden die John-Cantlie-Videos hinsichtlich der parasozialitätsbegünstigenden Inszenierungspraktiken, technischen sowie stilistischen Mitteln untersucht. In Anlehnung an Philipp Mayring (2010) wurden dreizehn der John-Cantlie-Videos mittels einer qualitativen Inhaltsanalyse untersucht.8 Dazu wurden insgesamt sechs Kategorien (Serialität, Inhalt, Adressierung, Ästhetik, Authentizität und Nahbarkeit) mit 62 Dimensionen parasozialitätsbegünstigender Kriterien erstellt. Die Videos wurden anschließend entsprechend kodiert, um zu identifizieren, in welchem Maße bestimmte

8Der

Auftritt Cantlies im 47-minütigen ­Tank-Hunters-Propagandavideo wird von der Analyse ausgeschlossen, da Cantlie nur vereinzelt im Video erscheint.

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Abb. 3   Cantlie in dem Video From Inside Mosul. (Screenshot)

Abb. 4   Cantlie in dem Video John Cantlie Speaking about the US Bombing Mosul University and Popular Areas in the City. (Screenshot)

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Gestaltungsmittel in den Videos eingesetzt werden. Abschließend wurden sowohl der Einfluss der einzelnen Faktoren sowie deren potenzielle Wirksamkeit im Hinblick auf den propagandistischen Effekt der Videos reflektiert. Da es sich im vorliegenden Fall jedoch nicht um eine Rezeptionsstudie handelt, sind Annahmen hinsichtlich der Wirkung bzw. Effektivität und Überzeugungskraft der Videos letztlich hypothetisch. Auch eine ein gewisses Maß an strategisch kalkulierter Intention des IS (im Sinne von empirischen Belegen) kann nur vermutet werden. Gleichwohl scheinen die Aussagen über Wirkungspotenziale u. a. durch die hier nur zum Teil angeführten Studien und Ergebnisse gestützt und plausibel, selbst wenn die Untersuchung hier Fragen aufwirft, die im gegebenen Rahmen nicht abschließend zu beantworten sind.

4 Das Beziehungsangebot in den ­­John-CantlieVideos 4.1 Serialität Serialität meint die Regelmäßigkeit, mit der die John-Cantlie-Videos veröffentlicht wurden und zielt auf eine gewisse Verlässlichkeit und Kontinuität des Beziehungspartners Cantlie ab. Sie misst sich an der Gesamtanzahl und der Erscheinungsfrequenz der veröffentlichten Videos sowie der Länge des Zeitraums zwischen den einzelnen Veröffentlichungen. Insgesamt verteilt sich die Veröffentlichung der dreizehn Videos über einen Zeitraum von circa zwei Jahren zwischen September 2014 und Dezember 2016. Die sieben Videos der LMYE-Reihe erscheinen in einem kurzen Zeitraum von rund einem Monat und weisen so eine für diese begrenzte Zeitspanne hohe Regelmäßigkeit auf. Demgegenüber erstreckt sich die Veröffentlichung der Videos der Inside-Reihe über mehrere Monate von Oktober 2014 (Inside Ayn al Arab), über Januar 2015 (From Inside Mosul) bis hin zum Februar 2015 (From Inside Halab). Die drei Einzelvideos erscheinen schließlich erst ein Jahr danach. In größeren Abständen von jeweils ungefähr fünf Monaten werden sie im März, Juli und Dezember 2016 ins Netz gestellt. Sowohl die Unterschiede in der Anzahl als auch in der Frequenz der Videos erscheinen dabei zunächst jedoch wenig überraschend, bedenkt man den unterschiedlichen Produktionsaufwand: Die Videos der LMYE-Reihe haben ein starres, wiederkehrendes Format, sind vermutlich alle am gleichen Ort aufgenommen und auch Cantlie trägt stets die gleiche orangefarbene Gefangenenkleidung, sodass insgesamt gleichbleibende, starre Verhaltens- und

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Kommunikationssituationen erzeugt werden. Im Gegensatz dazu scheinen die Videos der Inside-Reihe mit sehr viel mehr u. a. konzeptionellen und organisatorischem Einsatz verbunden zu sein. Cantlie nimmt die Rezipient*innen in den Videos quasi mit in die Städte im ehemaligen IS-Gebiet. Dementsprechend wechseln sowohl Formate, Drehorte oder auch Cantlies Kleidung. Zudem gibt es in den Videos professionelle Einblendungen, zum Beispiel Bauchbinden oder einen Vor- bzw. Abspann. Insgesamt werden gerade die Videos der beiden Serien angebotsseitig durch die Ankündigung von weiteren, folgenden Videos deutlich als serielle Formate kommuniziert, wodurch sowohl Spannung und ein Anreiz zum ‚Dranbleiben‘ als auch eine gewisse Verlässlichkeit und Kontinuität impliziert wird. Serialität als grundlegende Voraussetzung für den Aufbau von PSB wird hier somit in einem mehr oder weniger großem Maße erfüllt. Gleichzeitig kann jedoch auch angenommen werden, dass das Internet an dieser Stelle nicht bloß als Distributionskanal, sondern vielmehr auch als dauerhaftes und mobiles Archiv dient, sodass die Videos jederzeit von den Zuschauer*innen erneut rezipiert werden können und Anschlusskommunikate – etwa Berichte über John Cantlie – rezeptionspraktisch schnell verfügbar sind. Die Relevanz von Kontinuität wird so zumindest teilweise relativiert.

4.2 Inhalte und Narrative Inhaltlich kann jeweils zwischen den Videoreihen und den Einzelvideos unterschieden werden. So wechselt innerhalb der Reihen und Einzelvideos jeweils der narrative Fokus und auch Cantlie nimmt unterschiedliche Funktionsrollen in der Vermittlung der Inhalte ein. In den Videos der Inside-Reihe nimmt Cantlie die Zuschauer*innen mit auf eine Reise durch das IS-Territorium. Dabei verbreitet er in positiver Manier das Narrativ einer Utopie des IS-Kalifats, indem er das (scheinbar) florierende Leben in den Städten unter der Herrschaft des IS zeigt und so ein damit einhergehendes gutes ‚Bauchgefühl‘ propagiert. Dabei nimmt Cantlie die Rolle eines berichtenden Reporters ein und tritt als Privatperson vermehrt in den Hintergrund. Die Videos der LMYE-Serie konzentrieren sich demgegenüber primär auf Cantlie als Person. Dabei fungiert er als politischer Kommentator, der sachlich und nüchtern über die vermeintlich manipulative Intention der westlichen Medien und den Umgang mit Geiselsituationen vonseiten der westlichen Länder spricht. Weiterhin geht er auch gezielt auf die eigene Situation ein und beschuldigt sowohl Großbritannien als auch die USA, sich auf keinerlei Verhandlungen mit dem IS einzulassen und so

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britische und amerikanische Geiseln wissentlich zu gefährden. Innerhalb dieser Argumentationslinie spricht Cantlie immer wieder an, dass er sich von seiner Regierung verlassen fühlt und führt politische und ökonomische Hintergrundmotivationen der britischen und US-amerikanischen Regierungen als Gründe an, warum er und andere Geiseln nicht freigekauft wurden. Den öffentlichen Umgang mit seiner eigenen Geiselsituation durch westliche Medien bezeichnet Cantlie in diesem Schritt als „massive lie to the public“, die dabei helfen soll, einen (angeblich) wirtschaftlich-politisch motivierten Krieg möglichst öffentlichkeitswirksam zu legitimieren. Wird diese Argumentation vor dem Hintergrund einer freundschaftlichen PSB mit Cantlie betrachtet, ist denkbar, dass die Rezipient*innen sich in Cantlies Situation hineinversetzen, Empathie und Sympathie ihm gegenüber entwickeln und es zu einem Identifikationsmoment kommt, durch das die Zuschauer*innen Cantlies Gefühl von Verrat durch die eigene Regierung übernehmen können. Dabei lässt sich das vermittelte Gefühl, von der eigenen Regierung oder Gesellschaft ver- oder zurückgelassen worden zu sein, leicht auf vergleichbare, wenn auch weniger drastische Situationen projizieren, in denen sich die Rezipient*innen möglicherweise befinden. Cantlie spricht somit indirekt Missstände westlicher Gesellschaften an und fördert durch die implizierte negative Wahrnehmung der eigenen Politik- und Kultursphäre eine positive Wahrnehmung des IS, zumal dieser in anderen Propagandatexten die übergreifende Solidarität der ‚Gemeinschaft der Gläubigen‘ preist. Durch die hohe Anschlussfähigkeit von Cantlies Gefühlen können in der Folge auch bei den Rezipient*innen Emotionen wie Frustration, Enttäuschung und Aggressionen initiiert werden, die wiederum dazu führen, dass die Rezipient*innen nach einer besseren ‚Lösung‘ als der eigenen politischen und kulturellen (westlichen) Weltaneignung suchen. Cantlie fungiert dann als Bezugs- und Stellvertretungsperson, die mit ihren Narrativen und Meinungen eben diese nicht selbst anbietet, aber mit seinen scheinneutralen Äußerungen über den IS und seinen Konflikt mit dem ‚Westen‘ impliziert. Ein wesentliches Narrativ innerhalb beider Videoreihen ist zudem eine ausgeprägte Kritik an westlichen Medien. Dabei geht Cantlie vor allem auf eine vermeintlich fälschliche Darstellung des Konflikts mit dem IS sowie auf die unterstützende Funktion der Medien bei der Vertuschung eigentlicher Handlungsmotivationen der westlichen Regierungen ein. So würden die Medienberichterstattungen gezielt eingesetzt, um die breite Öffentlichkeit zu manipulieren und den Krieg gegen den IS zu legimitieren. In diesem Rahmen erscheint Cantlies Rolle als Journalist relevant, da Cantlie dem Anschein nach zunächst der Aufgabenstellung seines Berufsfeldes gerecht wird. Journalist*innen haben prinzipiell nicht allein die Funktion und Aufgabe über Regierungshandeln zu

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berichten und einzuordnen, sondern dieses gegebenenfalls auch zu hinterfragen und, falls nötig, zu kritisieren. Die Argumentation gegen die westliche Welt und für den IS wird somit nicht als Propagation reiner Ideologie konstruiert, sondern im Kontext einer kritischen, journalistischen Berichterstattung situiert. Da Cantlie zudem selbst Teil der Medienbranche war und mit den Arbeitsweisen und Motivationen der Medienanbieter*innen vertraut scheint, könnten die Rezipient*innen ihm bei dieser Argumentation eine besonders hohe Sachkompetenz und Glaubwürdigkeit zuschreiben. Das trägt zu einer größeren Überzeugungskraft Cantlies qua Professionalität bei und wirkt gleichzeitig fördernd auf den Aufbau einer PSB zu ihm (siehe Abschn. 4.5). Die Einzelvideos fokussieren schließlich spezifische Ereignisse wie zum Beispiel Angriffe der US-amerikanischen Luftwaffe und Drohnenanschläge, die vor allem zivile Infrastrukturen zerstören. Wiederkehrendes Motiv ist dabei eine Dichotomie von gut (IS) und böse (‚der Westen‘). So würden die USA absichtlich die Zivilbevölkerung gefährden und angreifen, obwohl sie dem IS mit diesen Angriffen selbst keinen Schaden zufügen (könnten). Der ‚starke IS‘ helfe der Zivilbevölkerung demgegenüber beim Wiederaufbau der Städte, sichere die Grundversorgung der Menschen und wird so als ‚Retter des Volkes‘ stilisiert. Diese Darstellung findet dabei zumeist sachlich-rational statt, denn Cantlie versucht die Rezipient*innen logisch-argumentativ vom Wahrheitsgehalt seiner Aussagen zu überzeugen, etwa indem er helfende IS-Anhänger zu Wort kommen lässt und verwüstete Gebäude und Straßen als Beweismittel präsentiert (siehe Abb. 4). Insgesamt wirken alle untersuchten Videos pseudoenthüllend und geben mit scheinbarer Objektivität und formal journalistisch Einblick in die Welt des IS. Dabei wird eine narrative Zweiteilung vorgenommen und einerseits die westliche Doppelmoral kritisiert sowie andererseits das sozial-engagierte und vorbildhafte Verhalten des IS gelobt. Begünstigend auf eine positive Wahrnehmung der Inhalte wirkt dabei das an einem Nachrichtenformat orientierte Setting, der Einsatz von Zitaten, Verweisen und Quellenangaben, die von den Rezipient*innen überprüft werden können. Die Videos eröffnen den Rezipient*innen durch das Angebot einer PSI und der einhergehenden affizierenden Wirkungen einen ­individuell-emotionalen Zugang zu argumentativ vermittelten Sachverhalten.

4.3 Adressierung der Zuschauer*innen In den Videos nimmt Cantlie sowohl verbal als auch non-verbal stets Bezug auf sein Publikum und begünstigt somit die Aufnahme einer PSB grundlegend. Sein ausgewählter Adressatenkreis scheint von seinem sachlichen Duktus und der Ver-

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wendung der englischen Sprache her intellektuell und international ausgerichtet. Dabei nimmt Cantlie eine offene Körperhaltung ein, blickt meist gerade in die Kamera, die quasi stellvertretend für das Publikum steht und sowohl Gestik als auch Mimik erinnern an alltägliche Kommunikationssituationen (siehe Abb. 1 und 2). Die Natürlichkeit seines Auftretens entwickelt sich mit jedem Video weiter. Während er in den Videos der LMYE-Reihe angespannt wirkt, präsentiert er sich in den Inside-Videos befreiter, lacht und läuft (vorgeblich) frei durch die Stadt. Gerade hierbei kann der Eindruck entstehen, der/die Rezipient*in begleite Cantlie wie einen Freund durch die Städte im IS-Territorium oder werde von ihm auf eine entsprechende Tour mitgenommen, bei der er als eine Art Stadtführer fungiert. Diese zunehmende Unbefangenheit und Natürlichkeit von Cantlies Verhalten wird in den Inside-Videos zusätzlich auch durch eine dynamische Kameraführung unterstützt, die u. a. beschreibende Aussagen illustriert und belegt. Bei der verbalen Ansprache lässt sich zudem ein wiederkehrendes Muster erkennen: Ähnlich einer Nachrichtensendung oder eines Videoblogs spricht Cantlie die Rezipient*innen direkt an und geht gezielt auf sie ein. Typischerweise gibt es eine Ein- und Ausleitung am Anfang bzw. Ende der Videos, in denen Cantlie seine Zuschauer*innen begrüßt, sich vorstellt oder verabschiedet und die Zuschauer*innen auffordert: „Join me again for the next programm“. Zudem bindet Cantlie das Publikum durch direkte rhetorische Fragen („Think you are getting the whole picture?“ – LMYE, Episode 0, TC 00:02:25) und explizite Handlungsaufforderungen („Let’s go down onto the street of Mosul below and find out“ – From Inside Mosul, TC 00:00:57) in seine Performance ein. Durch vermeintliche Reaktionen erzeugt er den Eindruck, die Gedanken und Antworten der Zuschauer*innen zu kennen („I know what you are thinking…“ – LMYE, Episode 0, TC 00:01:00) und steigert so den Eindruck einer reziproken Kommunikationssituation, wodurch die Wahrscheinlichkeit einer PSB vergrößert wird.9 Mit den Frageadressierungen und Handlungsaufforderungen zeigt sich die enge Verknüpfung von Propaganda und Parasozialität: Den Rezipient*innen werden von Cantlie gleich mehrere Antwortrollen angeboten, wobei die Interpretation dieser Rollen durch die Rezipient*innen stark von der individuellen Wahrnehmung und Einschätzung Cantlies und seiner Situation abhängt. Trotz unterschiedlicher Eindrücke, zum Beispiel hinsichtlich Cantlies Aufrichtigkeit und Glaubwürdigkeit, können die Rezipient*innen eine emotionale ­Verbunden- und Vertrautheit mit ihm aufbauen, die die propagandistische Wirkung der Videos, je nach Konnotation

9In

der Rhetorik ist hier von dem Stilmittel bzw. der Figur der sermocinatio die Rede – vgl. Ulrich (in diesem Band).

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der PSB, beeinflussen könnte. Ist die Beziehung beispielsweise positiv geprägt, ist auch eine positive Einstellung gegenüber den propagierten Narrativen und die Bereitschaft, die offerierte Antwortrolle anzunehmen, wahrscheinlich. Aus dieser Akzeptanz der Antwortrolle ergibt sich in der Folge auch die Neigung zur Aufnahme von und Auseinandersetzung mit den vermittelten Inhalten. Dabei kann der Prozess der Rollenübernahme bedeutend sein, denn die zeitweilige Übernahme der vorgeblichen Ansichten Cantlies wie die emphatische Anteilnahme an und die Bewertung von Cantlies Situation mögen die PSB in beide Richtungen (Zuneigung vs. Abneigung) verstärken. Besonders problematisch erscheinen vor dem Hintergrund einer funktionierenden PSI oder PSB Cantlies wahrnehmungs- und deutungsbezogene Handlungsaufforderungen. Sie könnten von den Rezipient*innen als wichtig und notwendig wahrgenommen werden, da sie scheinbar von einem Freund aus dem eigenen (para)sozialen Umfeld stammen und zugleich diesen Freund helfen, indem sie ihn in seiner Vermittlungsrolle unterstützen.

4.4 Ästhetik und formale Gestaltung Insgesamt unterstützt der ästhetische Aufbau der Videos zu weiten Teilen die Bildung einer PSB. Die produktionstechnische Qualität von Bild und Ton, der Grad der Professionalisierung sowie die Videogestaltung nehmen eine wichtige Rolle ein: Durch nahe und große Kameraeinstellung, dem Fokus auf Cantlies Gesicht, seine Zentralstellung in der Bildkomposition und der zumindest in den Inside-Videos (semi-)professionellen Konzeption und Gestaltung der Videos wird der Eindruck eines mehr oder minder seriösen (Web-)TV-Nachrichtenformats oder zumindest entsprechender Assoziationen auf Basis der damit verbundenen formalen Sehgewohnheiten geweckt. Dass die Videos nicht die volle mediengestalterische Professionalität oder Güte aufweisen, muss aber kein Nachteil sein, weil dadurch Authentizität entstehen mag und zusammen mit Cantlies Selbstreflexion der eigenen Lage und Profession ein Alternativangebot bzw. Gegenpol zur westlichen Berichterstattung geboten wird. Generell ist die Gestaltung der einzelnen Videos innerhalb der beiden Reihen homogen, während sich die beiden Reihen deutlich voneinander unterscheiden. Die LMYE-Serie erinnert an eine klassische News-Presenter- oder Kommentator-Anordnung (wenn auch etwa der sogenannte ‚Hintersetzer‘, ­ d. h. das Hintergrundbild im Rücken das ‚Nachrichtensprechers‘ fehlt), die Inside-Reihe ist demgegenüber an Kurzdokumentationen oder Außenreportagen angelehnt. Durch diesen Aufbau und den Einsatz professioneller Stilmittel wie

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Einblendungen oder Montagen vermittelt die Inside-Reihe Seriosität, die durch Cantlies kompetentes Auftreten verstärkt wird. Zudem erzeugen wechselnde nahe und halbnahe Kameraeinstellungen von Cantlie einerseits eine gewisse Dynamik und andererseits eine räumliche Nähe zwischen Rezipient*in und Persona, die eine emotionale Bindung befördern kann. So kommt es zu einer hohen Obstrusivität, die wie oben dargestellt, begünstigend für den Aufbau einer PSB ist. Cantlie wird, anders gesagt, zur perzeptuellen, kognitiven und emotionalen Bezugsperson für die Zuschauer*innen. Neben der audiovisuellen Gestaltung der Videos scheint auch Cantlies eigenes Erscheinungsbild relevant: Über seine Kleidung und die kurz rasierten Haare wird seine Rolle als Geisel des IS in der LMYE-Serie sehr präsent kommuniziert (siehe Abb. 1). In den Inside-Videos rückt diese Rolle dann durch alltägliche Kleidung, längere Haare und Gesichtsbehaarung in den Hintergrund (siehe Abb. 2 und 3). Einher geht dies mit einem sukzessiven Stimmungswechsel, der sich etwa in einer weniger schleppenden Stimme ausdrückt. Cantlies Äußeres wird schließlich an die westlichen Sehgewohnheiten angepasst, sodass die Zuschauer*innen während der Rezeption schneller vergessen können, dass es sich bei Cantlie nicht um einen freien, britischen Berichterstatter handelt, sondern um einen Gefangenen in einer womöglich permanent lebensbedrohten Lage. Lediglich zwei der drei zuletzt erschienenen Einzelvideos brechen teilweise mit dem beschriebenen Erscheinungsbild und der daraus resultierenden Stimmung. Das liegt vornehmlich an Cantlies Physis, denn er wirkt abgemagert und erschöpft. Zudem werden fast ausschließlich halbtotale Kameraeinstellungen verwendet, wodurch eine gewisse Distanz entsteht. Die Bildgestaltung wirkt – auch durch Cantlies Äußeres – insgesamt eher befremdlich und irritierend (siehe Abb. 4).

4.5 Authentizität der Persona und ihrer Inhalte Authentizität meint in Anlehnung an Schierl „den kausalen Bezug [eines Bildes] zu einem von ihm abgebildeten Sachverhalt oder [die] Zuverlässigkeit der Wiedergabe“ (Schierl 2003, S. 151). Sowohl die Authentizität als auch die Professionalität der Persona werden dabei als wichtige Faktoren für die Bewertung der Glaubwürdigkeit und Sympathie der parasozialen Interaktionspartner*innen verstanden.10 Repräsentiert eine Persona beide Eigenschaften

10Im

Bereich der Rhetorik ist in dem Zusammenhang von der Überzeugungsdimension Ethos die Rede.

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(Authentizität und Professionalität) überzeugend, kommt ihr insgesamt ein gewisser Charme im Sinne einer menschlich ehrenwerten und sympathische Wirkung zu, die in der Folge zu einer besonderen Überzeugungskraft führen könnte. Aufgrund dieser besonderen Ausstrahlung könnten die Rezipient*innen der Medienfigur schließlich primär gute und ehrenhafte Intentionen (wie zum Beispiel die objektive Aufklärung über einen gewissen Sachverhalt) unterstellen. Cantlie repräsentiert als Persona beide Eigenschaften glaubwürdig, wobei seine funktionale Rolle in den Videos positiv auf die wahrgenommene Authentizität und Professionalität wirkt. Als Nachrichtensprecher vermittelt Cantlie den Zuschauer*innen Informationen direkt aus dem IS-Territorium, zu denen die Rezipient*innen eigentlich keinen Zugang hätten. Dabei gibt Cantlie nicht einfach die Parolen der IS-Ideologie wieder oder versucht, die Zuschauer*innen durch religiöse Argumentationen zu ‚bekehren‘, sondern argumentiert als Journalist vielmehr rational und kritisch. Zusätzlich eröffnet Cantlie den Rezipient*innen auch eine persönliche Perspektive auf die jeweiligen Themen und Narrative. Cantlies Authentizität sowie seine vermeintlich mit dem IS sympathisierende Haltung und kritisch-aufklärerischen Intentionen erscheinen vor dem Hintergrund seiner persönlichen Situation als Geisel stets fragwürdig und ambivalent: Der/die Zuschauer*in kann sich nie sicher sein, inwieweit Cantlie selbst hinter seinen Aussagen steht oder von seinen Entführer*innen zu diesen gezwungen wird. Diese Ambivalenz wird vor allem durch die komplexe und abstrakte Verbindung der zwei beteiligten Akteure konstituiert: der IS auf der einen und John Cantlie auf der anderen Seite. Beide vermitteln dem Publikum vordergründig, es möglichst objektiv informieren zu wollen, während sie andere verdeckte Absichten wie zum Beispiel die gezielte Manipulation der Zuschauer*innen verfolgen. Auch in welchem Verhältnis Cantlie und der IS realiter zueinander stehen ist für den/die Zuschauer*in letztlich nicht ersichtlich und einschätzbar. So ist nicht klar, ob Cantlie vom IS gezwungen wird in den Videos aufzutreten und ‚mitspielt‘, um das eigene Leben zu retten, ob er tatsächlich von seinen Worten überzeugt ist und freiwillig in den Videos agiert oder ob er eventuell am so genannten S ­ tockholm-Syndrom leidet, also aus einem psychologischen ‚Überlebensinstinkt‘ heraus ein positives emotionales Verhältnis zum IS und dessen Repräsentant*innen entwickelt hat (vgl. Kinder 2014; Alexander und Klein 2009). Hinzu kommt eine kontinuierliche Weiterentwicklung von Cantlies Verhalten in den Videos über einen längeren Zeitraum, sodass unklar bleibt, ob sich seine persönliche Motivation, in den Videos aufzutreten, möglicherweise verändert hat.

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Darüber hinaus geht Cantlie explizit auf mögliche Zweifel und Fragen der Zuschauer*innen ein: Now, I know what you’re thinking. You are thinking ‘he’s only doing this, because he is a prisoner. He has got a gun at his head and he is being forced to do this’. Right? Well, it’s true. I am a prisoner, that I cannot deny. But seeing it as I am abandoned by my government and my faith lies in the hands of the Islamic State, I have nothing to lose. Maybe I will live and maybe I will die. But I want to take this opportunity to convey some facts that you can verify (LMYE, Folge 0, TC ab 00:01:00).

Cantlie geht gezielt auf die vermuteten Zweifel des Publikums ein und versucht diese zu relativieren, indem er sein scheinbar tödliches Schicksal und seine (mutmaßliche) Enttäuschung über die britische Regierung zum Anlass nimmt, letztendlich die ‚Wahrheit‘ über den IS und die westliche Politik aufzudecken. Indem er eine diskursive Meta-Perspektive einnimmt und den Standpunkt der kritischen Zuschauer*innen antizipiert, versucht er, seine Glaubwürdigkeit durch selbstreflexive Souveränitäts- und Authentizitätsbekundungen zurückzuerlangen. Auch wenn sich die Betrachter*innen nie ganz sicher sein können, welche Absichten, Meinungen und Motivationen – kurz: welche Haltung – Cantlie wirklich vertritt und ein Glaubwürdigkeitsverlust somit möglich erscheint, führt gerade auch diese Unsicherheit dazu, dass sich die Rezipient*innen in Cantlies persönliche Geschichte und seine Gedankenwelt involvieren, indem sie seine und ihre Unsicherheit aufeinander bezogen sehen. Schließlich könnte auch das Verlangen nach kognitiver Konsonanz seitens der Rezipient*innen zu einer weniger kritischen Einstellung gegenüber oder in der Folge sogar zu einer Übernahme der Botschaften Cantlies führen (vgl. Tukachinsky und Sangalang 2016). Durch die persönliche, vielleicht gar identifikatorische Auseinandersetzung mit Cantlies ambivalenter Situation wird zudem eine (emotionale) Verbindung gefördert, durch die sich seine Geschichte zu einem Human-Interest-Drama entwickelt – ein Mechanismus, der in Geiselsituationen mit großer medialer Aufmerksamkeit in der Regel gegen Entführer*innen eingesetzt wird. Durch die Personalisierung und Individualisierung von Geiseln wird das leibliche Wohlergehen der Gefangenen in den Vordergrund des gesellschaftlichen Bewusstseins gestellt. So rückt nicht nur die politische Botschaft der Geiselnehmer*innen in den Hintergrund, sie werden zudem auch als unmenschlich und grausam stilisiert, sodass die Öffentlichkeit schließlich eine generelle Antipathie entwickelt (vgl. Nacos 1994, S. 125 ff.). In Cantlies Fall wird jedoch eben diese Förderung einer emotionalen Bindung zur Geisel von den Entführer*innen strategisch eingesetzt,

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um die Empathie und Sympathie für Cantlie auf die eigenen Narrative zu übertragen. Möglich ist dies auch, da für die Verbreitung der Videos keine traditionellen Medieninstitutionen mehr benötigt werden, sondern die Videos ohne klassische redaktionelle Filter ungekürzt und samt eigener Rahmung und Bewertung einer großen Menge an Menschen zugänglich gemacht werden können.11

4.6 Nahbarkeit der Persona Nahbarkeit, also eine möglichst große emotionale und soziale Nähe und (scheinbare) Zugänglichkeit zwischen Rezipient*innen und Persona, erleichtert die Rollenübernahme im Sinne des symbolischen Interaktionismus und begünstigt somit das Entstehen von PSB. Sie wird von Cantlie vor allem durch verschiedene Eigenschaften und Verhaltensweisen sowie eine große wahrgenommene Ähnlichkeit zu einer westlichen Zielgruppe evoziert: Seine nationale und kulturelle Identität sowie seine Werte und Normen decken sich zu großen Teilen mit jenen seiner Zielgruppe, was den Aufbau einer PSB wahrscheinlicher macht (vgl. Mutz und Martin 2001; Schartel-Dunn und Nisbett 2014). Ähnlich wie in einer orthosozialen Beziehung hat eine größere wahrgenommene Gemeinsamkeit mit dem/ der Beziehungspartner*in einen positiven Einfluss auf die Einstellung gegenüber den Inhalten, die eine Persona während einer PSI übermittelt. Daher werden Informationen und Erzählungen, die zum Beispiel von der Persona als positiv vermittelt werden, auch von den Zuschauer*innen eher positiv aufgenommen. Dass Cantlie quasi selbst Teil seines Adressatenkreises ist, wird durch verbale Stilmittel noch unterstützt. So bezieht er sich durch Ausdrücke wie „we will“ oder „our governments“ selbst in die Masse der Rezipient*innen mit ein und vermittelt so ein ausgeprägtes Gemeinschafts- und Verbundenheitsgefühl. Eine empathische Übernahme von Cantlies vermeintlichen Gefühlen der Skepsis und Frustration gegenüber der eigenen Regierung und Kultur könnte so weiter begünstigt werden. Auch der dargelegte sachlich-rationale Modus der Ansprache kann für die genannte Zielgruppe tendenziell zu einer höheren wahrgenommenen Nahbarkeit und auch Nachvollziehbarkeit von Cantlies Aussagen beitragen als ein religiös-pathetischer Habitus, der auf westlich sozialisierte Individuen ungewohnter, befremdlich sowie hinsichtlich Cantlies professioneller Rolle und Haltung vor der Kamera unpassender wirken könnte.

11Vgl.

hierzu auch entsprechende Überlegungen von Galibert-Laîné (in diesem Band).

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5 Einfluss parasozialer Bindungen auf die Wirkung von Propaganda Die vorangehenden Abschnitte zeigen, dass und wie verschiedene parasozialitätsbegünstigende Inszenierungspraktiken in den John-Cantlie-Videos in unterschiedlichem Maße (un-)bewusst zum Einsatz kommen und eine parasoziale Bindung an Cantlie über die Videos prinzipiell befördert wird. Dabei kann die Konnotation der Beziehung je nach Wahrnehmung der Rezipient*innen differieren: So können die Zuschauer*innen Cantlie als glaubwürdigen, parasozialen Freund wahrnehmen, wodurch die Akzeptanz und Annahme der von ihm propagierten Narrative wahrscheinlich erscheint. Sollte der/die Zuschauer*in an dieser Stelle jedoch das Gefühl haben, der IS würde sich durch die Videos über Cantlie in perfider Weise mokieren und ihn instrumentalisieren, könnte eine (eigentlich positive) PSB mit Cantlie aber auch den Hass auf den IS wie generell anti-muslimische Sentiments befördern.12 Demgegenüber können die Rezipient*innen jedoch auch eine negativ-feindliche Beziehung zu Cantlie aufbauen, wenn sie ihn nicht als authentisch und aufrichtig wahrnehmen, wodurch sowohl eine starke Abneigung gegenüber Cantlie als auch seinen Narrativen wahrscheinlich erscheint. Innerhalb dieses Beziehungsgefüges setzen die Videos an den aufklärerischen und humanitären Wertvorstellungen einer westlichen Gesellschaft und Kultur an und scheinen somit geeignet, eine intellektuelle Zielgruppe sowohl auf rationaler Ebene (durch die Argumentation) als auch auf affektiver Ebene (durch die PSB) zu beeinflussen. Cantlie wird dabei als Mittler eingesetzt, der beim Publikum zunächst Empathie und Mitleid evoziert. Aus diesen Emotionen können sich in Solidarität mit Cantlie auch Frustration und Wut bei den Rezipient*innen entwickeln. Der ruhige, aufklärerische Modus der Videos setzt an diesen provozierten Affekten und Emotionen an, um so vermeintlich sach- und inhaltsbezogen aufzuzeigen, wer ‚tatsächlich‘ für das Leid Cantlies, aber auch für das Leid der gesamten Weltbevölkerung verantwortlich ist: die westlichen Staaten und hier vor allem die US-amerikanische und britische Regierung. Cantlies Persona wird so zu einer Symbolfigur für ein größeres Unrecht der USA und seiner Verbündeten.

12Allerdings

kann auch dies als mögliches Kalkül des IS gewertet werden, insofern der IS es über die Provokation auf eine Eskalation des von ihm ausgemachten ‚Krieges‘ des ‚Westens‘ gegen die Gemeinschaft der Muslime abgesehen hat, weil so in seiner eschatologischen Sicht der Sieg beschleunigt wird.

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Obwohl die Ambivalenz der Beziehung zu Cantlie hinsichtlich seiner Glaubwürdigkeit von den Rezipient*innen nicht vollkommen ausgeblendet werden kann, entwickeln die Videos zum Beispiel auch durch die propagierte Unsicherheit über Cantlies Haltung und Schicksal sowie durch ihre Serialität eine ‚Sogwirkung‘ im Sinne von Spannung. Durch sie wird die Zwiespältigkeit in Bezug auf Cantlie womöglich selbst zwar nicht vergessen, aber zumindest für einen Moment zweitrangig. Werden die Rezipient*innen aufgrund der PSB angeregt, die Videos wiederholt zu rezipieren und die Veröffentlichung neuer Videos aktiv zu verfolgen, könnte es allein durch die stetige Auseinandersetzung mit den gezeigten Inhalten zum selbstzweiflerischen, kritischen (aber ideologisch gelenkten) Hinterfragen der eigenen Weltanschauung und politischen Meinungsbildung kommen. Auch der sogenannte Mere-Exposure-Effekt (vgl. Zajonc 1968), nach dem Individuen eine umso positivere Einstellung gegenüber Entitäten oder Inhalten entwickeln, je öfter sie mit diesen in Berührung kommen und aufgrund von Gewohnheit und Vertrautheit mit ihnen sympathisieren, greift hier möglicherweise (vgl. dazu auch Rieger et al. 2013, S. 119). So kann es schließlich unbewusst zu einer sukzessiven Annäherung an die Inhalte der Videos kommen. Darüber hinaus spielt eventuell auch das Konzept der parasozialen Meinungsführerschaft13 eine Rolle, da Cantlie in den Videos alle Funktionsrollen eines parasozialen Meinungsführers übernimmt: Er vermittelt ‚exklusive‘ Informationen aus dem IS-Gebiet und reduziert damit die Komplexität verschiedener Medienberichte über den IS und die aktuelle politische Situation auf eine einfache und logische ­ Gut-Böse-Erzählung. Zudem bietet er den Zuschauer*innen Orientierung in Bezug auf soziale und politische Normen unter Berücksichtigung der IS-Mentalität und weckt schon allein durch seine persönliche Situation und vermeintlich eigenen, wertenden Botschaften Interesse sich mit Cantlie selbst, aber auch mit den von ihm angesprochenen Themen zu beschäftigen. In diesem Sinne könnte Cantlie als parasozialer Meinungsführer

13Das Konzept der Meinungsführerschaft wurde erstmals von Paul Lazarsfeld et  al. (1948) eingeführt, die feststellten, dass die zwischenmenschliche Kommunikation einen großen Einfluss auf die Meinungen und Einstellungen des/der Einzelnen hat. Aber auch eine Medienfigur kann als Meinungsführer*in fungieren. Insbesondere parasoziale Partner*innen scheinen dafür prädestiniert, da sie den Rezipient*innen in einem pseudointerpersonellen Umfeld begegnen. Voraussetzungen für eine parasoziale Meinungsführerschaft sind neben einer funktionierenden PSB auch, dass die Persona Informationen vermittelt, Komplexität reduziert, dem Publikum eine Orientierung bietet und das Interesse für bestimmte Themen weckt (vgl. Leißner et al. 2014, S. 258 ff.).

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fungieren, der – ähnlich orthosozialen opinion leader – einen großen Einfluss auf die individuellen Standpunkte und Überzeugungen der Zuschauer*innen haben kann (vgl. Spehr 2014, S. 236). Dabei steigt seine persuasive Wirkung mit zunehmender Intensität der PSB. Schließlich kann eine funktionierende PSB somit nicht nur die Loyalität der Zuschauer*innen gegenüber den Videos erhöhen, sondern auch Cantlies Potenzial steigern, die Rezipient*innen nachhaltig zu beeinflussen und sie zu motivieren, die präsentierten Erzählungen anzunehmen und die vermittelten Werte zu verinnerlichen.

6 Fazit: Parasozialität als Funktionsmechanismus moderner Propaganda Sowohl Propaganda als auch Parasozialität sind keine neuen Phänomene – ihre Verbindung wurde jedoch bisher nur vereinzelt in den Blick genommen. Die Fallstudie der John-Cantlie-Videos zeigt die Anwendbarkeit und den Nutzen der Konzeptualisierung von Medienkommunikation als PSI im Kontext extremistischer Inhalte. Das Konzept der Parasozialität beruht dabei auf dem Gedanken, dass sowohl Medienakteure als auch Rezipient*innen die Rezeptionssituation so wahrnehmen, als befänden sie sich in einer realen Face-to-Face-Situation. Dabei definiert der mediale Rahmen den Wirklichkeitsbereich – hier die ­John-Cantlie-Videos –, in welchem die Interaktion zwar auf Grundkonstituenten der Alltagskommunikation gründet, gleichzeitig aber von deren Grenzen und Anforderungen befreit ist. Obwohl es auch ohne explizites Angebot durch die Persona zu einer PSB kommen kann, gibt es spezifische Faktoren, die den Aufbau einer solchen begünstigen. Diese parasozialitätsbegünstigenden Gestaltungselemente und Praktiken konnten umfassend in den John-Cantlie-Videos gefunden werden, sodass der Aufbau einer PSB zwischen Cantlie und den Rezipient*innen nicht nur möglich, sondern vielmehr in einem hohem Maße wahrscheinlich erscheint. So verdeutlichte die Studie zunächst, wie Protagonist*innen extremistischer Propaganda wie Geiseln, aber auch womöglich Terrorist*innen oder Extremist*innen zu Medienpersönlichkeiten (gemacht) werden, die eine positive, emotionale Bindung zu den Zuschauer*innen aufbauen und so Vertrautheit und Sympathie gegenüber der Produzent*innen der Videos und ihrer Narrative evozieren. In diesem Sinne suggeriert eine funktionierende PSB im Fall John Cantlie eine sympathisierende Haltung gegenüber dem IS und regt dazu an, sich mit dem Propagierten intensiv zu beschäftigen oder sogar (virtuell) mit den Sender*innen der Inhalte zu interagieren.

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Die Annahme, dass Parasozialität die manipulative Wirkung von Propaganda verstärken kann, scheint mehr als plausibel: Durch die PSB wird den Rezipient*innen ein individueller Zugang zu den ideologischen Inhalten der Videos und ein Anlass zur Selbstverortung in eben diesen eröffnet. Die affektive Ansprache des Publikums in der PSI oder PSB scheint dabei eine emotionalisierte und personalisierte, ihm zugeneigte Auseinandersetzung mit Cantlie, seiner besonderen Situation und seinen Aussagen zu fördern. Zusätzlich impliziert sie einen Anreiz zur wiederholten Rezeption der Inhalte und könnte so zu einem Gewöhnungseffekt beitragen. Weiterhin scheint auch ein Einfluss einer solchen Beziehung auf Prozesse der Identitäts- und Persönlichkeitsbildung der Rezipient*innen wahrscheinlich, der in der Folge zu einer deutlichen Zuwendung zu den extremistischen Inhalten und einer einhergehenden Radikalisierung führen könnte (vgl. Ophir und Weimann 2012, S. 32). Insgesamt arbeiten die hier untersuchten Videos demnach mit Parasozialität als gängigem Funktionsmechanismus massenmedialer Kommunikation, der in gleicher Weise auch bei (­non-) fiktionalen Medientexten der aktuellen Populärkultur wiederzufinden ist und den Rezipient*innen somit aus seiner alltäglichen Lebenswelt bekannt und im positiven Sinne vertraut ist. An dieser Stelle ist jedoch anzumerken, dass es sich im vorliegenden Fall nur um eine explorative Analyse des Beziehungsangebots handelt. Die hypothetischen, gleichwohl theoretisch und empirisch nicht unfundierten Annahmen und ihre Gültigkeit für den/die einzelne/n Rezipient*in sind durch weitere Untersuchungen näher zu prüfen. Auch eine Vorsätzlichkeit des Einsatzes der parasozialitätsfördernden Techniken auf Seiten der Produzent*innen kann nur unterstellt werden. Eventuell geben hierzu Erkenntnisse nach dem Fall des IS jedoch in absehbarer Zukunft nähere Aufschlüsse. Insgesamt stellt sich das Konzept der Parasozialität als ein adäquater und lohnenswerter Rahmen für all jene Analysen dar, die sich damit befassen, wie Rezipient*innen durch extremistisches Material emotional angesprochen, beeinflusst und aktiviert werden. Dabei sind die Untersuchungen einer solchen affizierenden und emotional-manipulativen Wirkung von Propaganda nicht auf Bewegtbildinhalte beschränkt, lässt sich Parasozialität doch im Kontext diverser medialer Formate feststellen (vgl. Liebers und Schramm 2017). Schließlich können parasoziale Wirkungsprozesse auch bei der Konzeptualisierung möglicher präventiver oder konternder Maßnahmen gegen radikalisierende und extremistische Inhalte wie zum Beispiel Counter-Speech- oder medienpädagogische Sensibilisierungsangebote profitieren.

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Anhang: Chronologische Übersicht der ‚­­ John-CantlieVideos‘ Lend Me Your Ears – Messages from The British („Episode 0“, al-Furqan, VÖ: 18.09.2014, 3:21 min). Lend Me Your Ears – Messages from The British Episode 1 (al-Furqan, VÖ: 18.09.2014, 5:56 min). Lend Me Your Ears – Messages from The British Episode 2 (al-Furqan, VÖ: 30.09.2014, 5:35 min). Lend Me Your Ears – Messages from The British Episode 3 (al-Furqan, VÖ: 12.10.2014, 6:54 min). Lend Me Your Ears – Messages from The British Episode 4 (al-Furqan, VÖ: 16.10.2014, 7:49 min). Lend Me Your Ears – Messages from The British Episode 5 (al-Furqan, VÖ: 14.11.2014, 6:31 min). Lend Me Your Ears – Messages from The British Episode 6 (al-Furqan, VÖ: 21.11.2014, 8:53 min).

Detainee John Cantlie Detainee John Cantlie, Detainee John Cantlie, Detainee John Cantlie, Detainee John Cantlie, Detainee John Cantlie, Detainee John Cantlie,

Inside ‚Ayn Al-Islam (al-Hayat Media Center, VÖ: 27.10.2014, 5:37 min). From Inside Mossul (al-Hayat Media Center, VÖ: 03.01.2015, 8:15 min). From Inside Halab (al-Hayat Media Center, VÖ: 09.02.2015, 12:00 min). John Cantlie Talks about the American Airstrikes on Media Kiosks in Mosul City (Amaq, VÖ: 19.03.2016, 3:36 min). John Cantlie speaking about the US Bombing Mosul University and other popular areas in the City (Amaq, VÖ: 12.07.2016, 3:13 min). N. N./John Cantlie Talks About Bombing the Bridges, Cutting Water and Electricity from Mosul City (Amaq, VÖ: 07.12.2016, 8:56 min). Hunters of the Shield/Tank Hunters (Wilayah Ninawa, VÖ: 13.12.2016, 47:11 min).

Literatur Alexander, D. A., & Klein, S. (2009). Kidnapping and hostage-taking: A review of effects, coping and resilience. Journal of the Royal Society of Medicine, 102(1), 16–21. Baek, Y. M., et al. (2013). Social and parasocial relationships on social networking sites and their differential relationships with users‘ pychological well-being. Cyberpsychology, Behavior and Social Networking, 16(7), 512–517.

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Sophia Maylin Klewer, M.A.,  studierte Medienwissenschaft und Medienmanagement an der Universität Siegen und ist zurzeit als freiberufliche Journalistin tätig.

Die Spektralität medialer Bedrohung am Beispiel John Cantlie Anne Ulrich

Zusammenfassung

Die Terrormiliz ‚Islamischer Staat‘ veröffentlichte zwischen 2014 und 2016 eine Reihe von Videos, die den britischen Journalisten John Cantlie zeigen. Dieser war 2012 in Syrien entführt worden und in Gefangenschaft des IS geraten. Seine – offensichtlich unter Zwang ausgeführten – Auftritte in den Videos weichen jedoch von den Konventionen ab, die für Geiselvideos üblich sind. Der IS lässt ihn keine Forderungen stellen, sondern Propaganda für das virtuelle Kalifat betreiben. Damit macht die Terrormiliz den britischen Journalisten zu einem Medium, das für sie spricht, ohne ihn als einen der ihren zu präsentieren. Cantlie bekommt dadurch einen uneindeutigen, gespenstischen Status zugewiesen, der von den Betrachtern nicht entschlüsselt werden kann. Der vorliegende Aufsatz unternimmt ein close reading der Videos vor dem Hintergrund der Derrida’schen Gespenstermetapher und den medientheoretischen Ansätzen von Groys und Krämer. Dabei zeigt sich, dass die Inszenierung Cantlies als Geisel bzw. Korrespondent in unterschiedlichem Ausmaß die Ordnung des Medialen zu irritieren vermag. Sie stellt die medientheoretischen Dichotomien von Sein und Schein, Präsenz und Absenz, Realität und Imagination immer wieder neu infrage.

A. Ulrich (*)  Eberhard Karls Universität Tübingen, Tübingen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 B. Zywietz (Hrsg.), Propaganda des „Islamischen Staats“, Aktivismus- und Propagandaforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28751-1_10

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Schlüsselwörter

Propaganda · ‚Islamischer Staat‘ · Geiselvideo · Gespenst · Metapher ·  Medientheorie · Derrida · Virtualität

1 Einführung: Zur Virtualität des Kalifats Fünf Jahre nach den ersten, sich vor den Augen der Weltöffentlichkeit abspielenden und zunächst höchst ‚erfolgreichen‘ Eroberungsversuchen hat die Terrororganisation ‚Islamischer Staat‘ (IS) ihre Gebiete in Syrien und im Irak im Jahr 2019 vollständig verloren (Wu et al. 2019). Ehemalige IS-Hochburgen wie ar-Raqqa, Mossul und Deir ez-Zor sind zurückerobert, Tausende Anhänger1 und Kämpfer gefangengenommen. Die Folgen der Besatzung, der Durchsetzung der Scharia, der radikalen Verfolgung Andersgläubiger, des Missbrauchs von Frauen, der Indoktrinierung und Misshandlung von Kindern etc. sind weiterhin präsent. Der Vorstoß, mit aller Macht ein ‚Kalifat‘ auf dem Gebiet Syriens und Iraks zu errichten, ist gescheitert. Doch Beobachter sind sich einig: der Spuk ist noch lange nicht vorbei. Das ‚reale‘ Kalifat möge von der Landkarte verschwunden sein – die Bedrohung durch den IS existiere jedoch weiter: als ‚virtuelles‘ Kalifat (vgl. Zeit Online 2019). Der IS, so zitiert die ­ARD-Tagesschau im Jahr 2018 einen Verfassungsschützer, sei „auf die Idee eines virtuellen Kalifats ausgewichen, bei dem die Anhänger weltweit übers Internet mit der Organisation verbunden sind.“ Damit sei die Situation sogar „unübersichtlicher als vorher, als die Strahlkraft des sogenannten ‚Islamischen Staats‘ so viele nach Syrien gelockt habe“ (Götschenberg 2018). Diese Vorstellung eines immateriellen, schwer zu greifenden und damit in völlig anderer Form bedrohlichen ‚virtuellen Kalifats‘ ist keineswegs neu. So schrieb der Politikwissenschaftler Yaakov Lappin bereits 2011: The caliphate is the name of the Islamic state begun by Islam’s prophet, Muhammad. It was dismantled with the demise of the Ottoman Empire, which was the last caliphate in history. Today, countless websites are dedicated to its reestablishment. Virtual clerics preach jihad in order to make that state real.

1Zur

besseren Lesbarkeit wird in diesem Aufsatz nur die männliche Form verwendet. Alle anderen Gender-Formen sind selbstverständlich immer mit eingeschlossen.

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Online training camps have been formed to teach soldiers how to make bombs or fire a rocket. Online planners are mapping out the state’s tax laws and constitution (Lappin 2011, S. viii).

Bevor der IS das Kalifat zu ‚realisieren‘ begann, existierte dieses also bereits in virtueller Form, als utopisches Projekt unzähliger Dschihadisten im Internet. Dort wurden die unterschiedlichsten Aspekte dieses „Staatsbildungsprojekts“ (Perthes 2015, S. 91–120) bereits bis ins Detail diskutiert. Die Virtualität des Kalifats sei in den Augen der Dschihadisten jedoch nur vorübergehend, so Lappin (2011, S. 71), gelte es doch, diesen Status zu überwinden, das Kalifat von seiner virtuellen in eine tatsächliche Existenz zu überführen. Dies war das erklärte Ziel, mit dem der ‚Islamische Staat‘ in Erscheinung trat. Jetzt, nach der Niederlage der Dschihadisten und dem Verlust ihres realen Territoriums, könnte man im Umkehrschluss annehmen, dass das Kalifat also keineswegs ‚tot‘ ist, sondern nur wieder seine Existenzweise verändert hat. ‚Realität‘ und ‚Virtualität‘, oder auch: Materialität und Immaterialität des Kalifats schließen sich jedoch nicht gegenseitig aus. Auch während der Phase seiner ‚Realisierung‘ spielte die virtuelle Form eine entscheidende Rolle, wie Charlie Winter in seiner Analyse der Kommunikationsstrategie der Terroristen feststellte, die den Begriff des virtuellen Kalifats ebenfalls im Titel trägt. Darin heißt es: „At an accelerating rate over the last year, it [der IS; A.U.] has systematically set about creating an absorbing, comprehensive and easily accessible image of itself, one that saturates the Internet and, by its very prevalence, is the lifeblood of its momentum narrative“ (Winter 2015, S. 41). Hier ist das Medienimage des ‚Kalifats‘ gemeint, das dieses nun nicht nur, wie bei Lappin beschrieben, für die Eingeweihten nach innen, sondern auch offen nach außen hin vertritt und die ‚Verwirklichung‘ des Kalifats begleitet und gleichzeitig als ‚vorgestellte Gemeinschaft‘ (imagined community) mit bedingt (vgl. zu diesem Konzept am Beispiel der Nation Anderson 2016). Winter bezeichnet das mediale Image allerdings metaphorisch als Herzblut („lifeblood“), um die Wucht des Narrativs wie auch die Wucht der Verwirklichungsbestrebungen zu verdeutlichen. Das virtuelle Gebilde bekommt somit metaphorisch eine Leiblichkeit verliehen, die ihm eigentlich fremd ist und in ihrer Bildlichkeit auch auf das zum Teil extrem gewaltvolle Vorgehen der Terrororganisation anspielt. Die ­Image-Strategie des IS, so Winter (2015, S. 22 ff.), setze zwar auf kalkulierte Brutalität, psychologische Kriegsführung und die Inszenierung von Märtyrerschaft – alles Strategien, die in der Berichterstattung über die Terrororganisation zu diesem Zeitpunkt deutlich dominieren –, zugleich aber auch auf Gnade, Zugehörigkeit und Utopismus. Die Glaubensgemeinschaft der umma werde in

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Online-Bildern und Videos gezielt als virtuelle Heimat evoziert, um Anhänger zu gewinnen und in ihnen eine Sehnsucht nach diesem virtuell, also in den Bildern, bereits existierenden Kalifat zu wecken. Der Utopismus durchdringe dabei die gesamte Kommunikation des ‚Islamischen Staats‘ – der sein Projekt ja schon dezidiert im Namen trägt: The desire to promote its ‚state‘-hood is something that has led to the appearance of the bizarre: from fishing trips and da’wa [d.h. missionarischen; A.U.] caravans to sheep cleaning and road-building. While this content may seem, at first sight, benign, its presence is critical. It is the organisation’s way of keeping up appearances. Along with its labelling of its ‚Ministries‘, ‚Departments‘ and ‚Offices‘, Islamic State is forever seeking to provide evidence that it is not just talking about the ‚caliphate‘, but that it is enacting it, too (Winter 2015, S. 29).

Die Propaganda habe also nicht nur zum Ziel, über ihr Projekt zu berichten, sondern seine Verwirklichung sprachlich und medial zu antizipieren und damit zu performieren, um in der Folge weitere Anhänger, Kämpfer und sonstige Unterstützer zu finden. Es steht zu vermuten, dass die Dschihadisten diese Strategie der antizipatorischen ‚Verwirklichung‘ als gezielte mediale Täuschung verstehen. Der Begriff des medialen Trugbilds („deceptive media halo“) findet sich im Handbuch The Management of Savagery eines al-Qaida-Strategen, der sich Abu Bakr Naji nennt (Naji 2006, S. 17). Unter der Überschrift „The Illusion of Power“ wird kritisiert, westliche Supermächte wie die USA und Russland entwürfen gezielt ein falsches Bild von sich, um den Eindruck zu evozieren, sie könnten jederzeit jedes Fleckchen Erde kontrollieren. Tatsächlich fehle den westlichen Supermächten jeglicher Zusammenhalt, weshalb ihr Täuschungsmanöver früher oder später auffliegen werde (ebd., S. 18). Ob dies bei den Dschihadisten, wie Naji nahelegt, anders aussieht, sei dahingestellt – die mediale Strategie der virtuellen Selbstvergrößerung wird jedoch auch von ihnen mustergültig angewandt, um von tatsächlichen Verhältnissen abzulenken (vgl. auch Winter 2015, S. 41). Die Forschungen zum ‚virtuellen‘ Kalifat wie auch die Passage aus dem Dschihadistenhandbuch werden in diesem Beitrag jedoch gerade nicht herangezogen, um die Onlinepropaganda des IS als bewusste Täuschung zu dekuvrieren und dann – wie so oft – nach Mitteln und Techniken der Gegenpropaganda zu fragen. Vielmehr soll aufgezeigt werden, wie sehr das Nachdenken über die virtuelle Existenzweise des Kalifats von zentralen medientheoretischen Dichotomien wie Sein und Schein, Präsenz und Absenz, Realität und Imagination geprägt ist.

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Die Onlinevideos des IS mit der britischen Geisel John Cantlie, die im Mittelpunkt dieses Aufsatzes stehen, regen dazu an, sich mit diesen grundsätzlichen medialen Dichotomien auseinanderzusetzen, weil sie dieselben mehrfach durchkreuzen und auf diese Weise selbst zum Thema machen. Vordergründig verlangen die untersuchten Videos nach einer Antwort auf die Frage: Welchen Status hat die Geisel des IS inne, die hier über das für eine Geisel übliche Maß hinaus das Wort ergreift? Dies führt zur Frage: Welchen Status hat das virtuelle ‚Kalifat‘ und die Bedrohung, die von ihm ausgeht? Mit anderen Worten: Wie lässt sich die Medialität dieser Videos bestimmen, wenn sie viele der stillschweigenden Annahmen über Sein und Schein, Präsenz und Absenz, Realität und Imagination infrage zu stellen vermag? Die Bedrohlichkeit der Videoreihe des IS mit dem Journalisten John Cantlie besteht, so die These, nicht nur darin, dass die Terrororganisation einen westlichen Medienvertreter bedroht und die Betrachter nicht wissen, ob er überleben wird, sondern auch und nicht zuletzt darin, dass die Erwartungen der Betrachter an diese Mediengattung so gründlich unterlaufen werden, dass dies die Koordinaten ihrer medialen Weltwahrnehmung bedroht. Diese Bedrohung beinhaltet die Möglichkeit einer epistemischen Verunsicherung der Betrachter, welche sich vor dem Hintergrund der Medientheorie mithilfe einer Metapher herausarbeiten lässt: derjenigen des Gespensts, eines Wesens, über dessen Existenzweise und Leiblichkeit sich nichts Genaues sagen lässt – was auch auf diejenige John Cantlies ebenso wie diejenige des ‚Islamischen Staats‘ selbst zutrifft. Im Gegensatz zu John Cantlie, der in der Gefangenschaft des IS tatsächlich um Leib und Leben fürchten musste (und vermutlich immer noch muss), erleben die Betrachter von Onlinevideos keine existenzielle Bedrohung, können sich aber dennoch in erheblichem Maße bedroht fühlen. Diese medial induzierte Empfindung wird von Marc Redfield als „virtuelle Bedrohung“ bezeichnet. Er entwickelt den Begriff mit Blick auf die Auswirkungen, welche die Anschläge vom 11. September 2001 etwa auf Fernsehzuschauer hatten, die das Geschehen ‚nur‘ medial miterlebten, und definiert ihn wie folgt: A virtual threat [is] one that has arrived without quite (yet) arriving – death that, coming then, for others, and not yet now, for us, lays claim to us without literally or actually targeting us. Such virtuality therefore functions as both a consolation and a threat, retaining the power to haunt, sharing some of the force of the kind of wounding we call ‘traumatic’ (Redfield 2009, S. 2).

Der rein mediale Status einer potentiellen Bedrohung ist für Mediennutzer zum einen also beruhigend und tröstlich, weil sie selbst nicht direkt betroffen und

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daher ‚nur‘ mit dem Schrecken davongekommen sind, zum anderen jedoch weiterhin bedrohlich, weil sie keine Möglichkeit haben, auf die virtuelle Bedrohung einzuwirken und weil diese an einem anderen Ort und zu einer anderen Zeit durchaus real werden könnte (vgl. auch Assmann 2011, S. 354). Auf diesen Effekt des Schreckens zielt nicht nur die Propaganda der Tat (also ein ‚spektakulärer‘ Terroranschlag), sondern auch die Propaganda des Wortes (also eine elaborierte, mit allen digitalen Wassern gewaschene PR-Kampagne). Die Videoreihen des IS, die den Gegenstand dieser Analyse bilden, waren, so könnte man sagen, besonders wirkungsvoll in dem Bemühen, die Vorstellungskraft der Rezipienten zu bezwingen (vgl. Mitchell 2011, S. 12) und damit trotz ihrer Virtualität ganz reale Konsequenzen zu zeitigen.

2 Die Spektralität des Medialen 2.1 Zur Metaphorik des Spektralen Die Metapher des Gespensts auf die Videopropaganda des IS anzuwenden, heißt nicht, diese Videos als reine ‚Gruselgeschichten‘ oder ‚Schauermärchen‘ zu lesen und damit ihre realen Dimensionen zu ignorieren, sondern sie mithilfe einer postmodernen Begrifflichkeit als Agenten einer potentiellen epistemischen Verunsicherung zu begreifen. Das Gespenst wird dabei in Anlehnung an Jacques Derrida als eine Figur der Unentscheidbarkeit und Unverfügbarkeit verstanden, die eine binäre oder dialektische Logik überschreitet, „jene Logik, die Wirklichkeit (präsent, aktuell, empirisch, lebendig – oder nicht) und Idealität (regulative oder absolute Nicht-Präsenz) unterscheidet oder einander gegenüberstellt“ (Derrida 2014, S. 93 f.). Daraus ergibt sich, so Christian Sternad (2013, S. 27), die entscheidende epistemische Leistung des Gespensts: „Die schillernde Präsenz des Gespensts – eine Präsenz, die im vollen Sinne weder Präsenz noch Absenz ist – durchquert die als sicher geglaubten etablierten Ordnungen und nötigt diese zur Re-Definition ihrer selbst.“ Und weiter: „Dem Gespenst kommt in dieser Hinsicht eine hermeneutische Funktion zu, da stets mit seinem Erscheinen auch Aufschluss über die Ordnungen gewonnen werden kann, welche es durch sein Erscheinen irritiert.“ Das metaphorische Gespenst erlaubt es also nicht nur, die Aufhebung bisher gültiger Dichotomien und damit die Instabilität von Wissensordnungen zu beschreiben, sondern demonstriert zudem den verunsichernden und irritierenden Effekt, den diese Instabilität auf all diejenigen hat, die diesem Gespenst begegnen (vgl. Blanco und Peeren 2013, S. 9). Das Bedrohliche am ‚virtuellen‘ Kalifat bestünde demnach darin, dass die Frage,

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ob das Kalifat real oder virtuell ist, gar nicht beantwortet werden kann, weil es eine Existenzweise aufweist, die gleichzeitig als virtuell und als real beschrieben werden kann und damit diese Dichotomie selbst zu stören vermag. Nach Derrida (2014, S. 139) irritiert das Gespenst erstens die temporale Ordnung: Das Eigene eines Gespensts, wenn es das gibt, besteht darin, daß man nicht weiß, ob es, wiederkehrend, von einem ehemals Lebenden oder von einem künftig Lebenden zeugt, denn der Wiedergänger kann bereits die Wiederkehr des Gespenstes eines verheißenden Lebendigen bedeuten.

Es bringt die Zeit aus den Fugen (vgl. Derrida 2014, S. 34–49), sodass nicht eindeutig zugeordnet werden kann, ob es die Vergangenheit, die Gegenwart oder die Zukunft sichtbar macht – ganz wie der erwähnte Redfield’sche Begriff der virtuellen Bedrohung aus einem vergangenen Ereignis ein potenziell zukünftiges Ereignis zu machen vermag. Wiederum auf das virtuelle Kalifat übertragen, macht dies seinen gespenstischen Charakter deutlich: Es ist sowohl als Wiederkehr des einstigen, längst vergangenen Kalifats zur Zeit des Propheten gedacht, als gegenwärtiges Staatsbildungsprojekt und als künftig zu realisierendes Kalifat im Kontext endzeitlicher Utopien. Zweitens stört das Gespenst die Ordnung des Realen, was sich insbesondere in seinem spezifischen „Anwesenheitsmodus“ (Derrida 2014, S. 59) oder vielmehr seiner „Nicht-Präsenz“ (ebd., S. 142) äußert. In seinem ontologischen Status unterscheide sich das Gespenst zwar von allen anderen Wesen, dieser Unterschied sei aber nicht zu erkennen – ganz wie sich die Begriffe ontologie und hantologie im Französischen zumindest lautsprachlich nicht unterscheiden lassen (vgl. Davis 2005).2 Das Gespenst ist demnach virtuell in dem Sinne, als es ohne Körper erscheint, also nur über den „Anschein eines Leibs“ (Derrida 2014, S. 174) verfügt. Es ist „da, ohne dazusein“, weswegen mit seiner Erscheinung eine „beunruhigende Fremdheit“, eine „befremdende Vertrautheit (Unheimlichkeit)“ einhergeht (ebd., S. 141). Damit verunsichert das Gespenst die Ordnung des Medialen und lässt sich als eine „Figur medialer Selbstreferenz und Selbstreflexion“ bezeichnen (Baßler et al. 2005, S. 11). Das Gespenst verdeutlicht folg-

2Im

Deutschen Hantologie, von franz. hanter: heimsuchen; im Englischen wird der Begriff von to haunt abgeleitet und als hauntology übersetzt. Der Begriff steht für Derridas Logik oder ‚Lehre‘ der Gespensterbeschwörung und -heimsuchung.

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lich wie keine zweite Metapher die spezifische Medialität der Bedrohung, die vom virtuellen Kalifat ausgeht. Während Derrida in Marx’ Gespenster noch „Sprache und Textualität als alleinige Quelle des Gespenstischen“ ansieht (Andriopoulos 2018, S. 15), geht er in einem längeren Gespräch mit Bernard Stiegler auf televisuelle Spezifika des Gespenstischen ein. Dort heißt es zunächst pauschal: „Allem Anschein zum Trotz verzehnfacht die moderne Technologie […] die Macht der Gespenster.“ (Derrida und Stiegler 2006, S. 132). Die wahrgenommene ‚Gespensterflut‘ bringt der französische Philosoph vor allem mit der Fotografie, Film- und Fernsehbildern zusammen, ganz ohne an virtuelle Online-Gespenster zu denken. In Anlehnung an Barthes’ Fototheorie geht er davon aus, dass jedes Medienbild bereits gespenstisch ist: „Wir werden“, so Derrida, „indem uns die Kamera aufnimmt, von vornherein zu Gespenstern [spectralisés], vom Gespenstischen erfaßt [saisis de spectralité]“ (ebd., S. 133). Für Derrida heißt das – und Günther Anders (1956, S. 97 ff.) hat dies bereits lange vor ihm erkannt –, dass gerade Film- und Fernsehbilder von vornherein gespenstisch sind, weil sie zugleich an- und abwesend sind und somit nicht entschieden werden kann, was an ihnen Sein und was Schein ist. In der Regel nehmen die Betrachter solcher Medienbilder diesen gespenstischen Charakter als solchen jedoch nicht (mehr) wahr, weil sie sich angewöhnt haben, bestimmte Darstellungsmuster als unmittelbar (Sein) und andere wiederum als vermittelt (Schein) zu deuten – und zwar bis in höchste Komplexitätsgrade hinein. Wird diese mediale Ordnung hingegen irritiert, kommt der gespenstische Charakter der Medien wieder deutlich zum Vorschein. Die Reihe an Geiselvideos, die den Gegenstand dieser Analyse bilden, stellen nun insofern einen Sonderfall dar, als sie diesen gespenstischen Charakter nicht nur medial verkörpern, sondern auch inhaltlich aufrufen, indem sie die Figur der Geisel selbst in mehrfacher Hinsicht für unverfügbar erklären. Das macht die Analyse äußerst ergiebig, reduziert jedoch nicht zwingend ihre Komplexität, da sowohl die Spektralität der Geisel als Figur wie auch die Spektralität von Onlinevideos als Medien der Propaganda im Zentrum stehen.

2.2 Zur Verdächtigkeit des submedialen Raums Zwei medienphilosophische Ansätze erweisen sich als besonders fruchtbar, das recht abstrakte Derrida’sche Konzept der Spektralität medientheoretisch zu konkretisieren: die „Ökonomie des Verdachts“ von Boris Groys (2000) und das Prinzip des Botens und der Spur von Sybille Krämer (2008). Groys (2000, S. 54) basiert seine Medientheorie auf den „ontologischen Verdacht“, „dass

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sich hinter der sichtbaren und erfahrbaren Oberfläche der Welt etwas verbirgt, das sich dem beobachtenden und begrifflichen Zugriff des Menschen entzieht und für ihn bedrohlich sein könnte“. Dieser Verdacht lasse sich „weder bestätigen noch entkräften“, sondern nur vermuten (ebd., S. 55), was ihm im Derrida’schen Sinne eine gespenstische Dimension verleiht. Dem liegt zunächst die Annahme der Selbstverbergung des Mediums zugrunde (vgl. ebd., S. 60). Demzufolge zeigt sich das Medium selbst nicht, sondern nur die Zeichen an der Oberfläche, während der von Groys sogenannte „submediale Raum“3 unsichtbar, ja, unverfügbar bleibt. Der Verdacht, der eine „zeitgemäße Form des klassischen Zweifels“ sei und allenthalben – in interessanter Analogie zum Gespenst – „sein Unwesen“ treibe (Margreiter 2016, S. 160), richte sich auf den verborgenen Schein und suche aufmerksam nach Phänomenen der medialen Selbstentlarvung oder Aufrichtigkeit. Diese bestätigen paradoxerweise den Verdacht, „die Dinge sähen in ihrem Inneren anders aus, als sie sich auf der Oberfläche zeigen“ (Groys 2000, S. 64 f.), anstatt ihn zu entkräften. Somit wird der Verdacht in Groys’ Ansicht konstitutiv für alles Mediale: „Alles, was sich zeigt, macht sich automatisch verdächtig“ (ebd., S. 25). Man muss Groys in dieser Absolutsetzung nicht zwingend folgen, um zu erkennen, wie angemessen das Konzept des unverfügbaren submedialen Raums und der Verdächtigkeit der medialen Oberfläche für die Analyse von Propagandavideos ist, in denen, wie man mit Derrida (2014, S. 35) schreiben könnte, „ob böswillig (malignus) oder nicht, ein Genius […] am Werk“ ist, der die Ordnung des Medialen irritiert. Der von Groys beschriebene Kreislauf von Verdacht, Entlarvung, Bestätigung und erneuter Verdächtigung erlaubt nun eine genauere Beschreibung der medienbedingten, epistemischen Verunsicherung, die von den untersuchten Videos ausgeht. Gleichzeitig ordnet Groys die mediale Spektralität in die Geistestradition abendländischen Denkens und philosophischen Zweifelns ein und macht sie anschlussfähig an die Medienwissenschaft, nicht zuletzt an die für die Analyse der Geiselfigur zentrale Frage der Autorschaft. Den Diskurs um die McLuhan’sche ‚Botschaft des Mediums‘ liest Groys (2000, S. 97 f.) nämlich als die Artikulation eines „Verdacht[s] der Anonymität, der Medienabhängigkeit, des Scheiterns jeder subjektiven Botschaft“. McLuhan

3Mit

dem metaphorischen Begriff des ‚submedialen Raums‘ bezeichnet Groys den unzugänglichen Raum der Medienträger und Medienapparate. So schreibt er (2000, S. 21): „Wir können entweder die Zeichen und die Dinge selbst beobachten – oder nach ihren Trägern fragen“, nicht beides gleichzeitig. Der ‚submediale Raum‘ wird, gerade weil er verborgen ist, nach Groys automatisch verdächtig.

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selbst äußere diesen medienontologischen Verdacht nicht (vgl. ebd., S. 91), die zeitgenössische Medienwissenschaft hingegen setze die anonyme Botschaft des Mediums gerne in Kontrast zur auktorialen Intention (vgl. ebd., S. 97). Damit werde eine Dichotomie für zentral gehalten, die der Verdacht gezielt unterlaufe. Das von Derrida (2014, S. 234) beschriebene unpersönliche Spuken des Gespensts ließe sich in Anlehnung an Groys medientheoretisch reformulieren: Es lässt sich nicht nur nicht klären, wer oder was hier eigentlich spukt, sondern auch nicht, wessen Botschaft eigentlich zum Tragen kommt: die auktorial intendierte oder die anonyme des Mediums. Daran lässt sich die Theorie der medialen Übertragung Krämers anschließen, die auf dem Konzept des Boten gründet. Ganz wie das Medium setzt auch die Figur des Boten auf Selbstverbergung bzw. Selbstabschwächung. „Ein anderes wird zur Geltung gebracht, indem das Eigene zurücktritt. Nicht ein ‚Ich‘, nicht einmal ein immer noch egologisch einholbares ‚Du‘, vielmehr ein ‚Er, Sie, Es‘ in ihrer ungemilderten Exteriorität werden im Botengang präsent (gemacht)“ (Krämer 2008, S. 275). Diese Beschreibung trifft, wie noch zu zeigen sein wird, besonders gut auf den sich selbst neutralisierenden Videoauftritt einer Geisel zu. Krämer setzt wie Groys voraus, dass das Medium nur dann etwas erscheinen lassen kann, wenn es sich selbst zurücknimmt oder verbirgt (vgl. ebd., S. 274). Das, was bei Groys unter der Oberfläche des Mediums liegt, ist also auch für Krämer unverfügbar, hinterlässt jedoch Spuren, die gelesen werden können. Über die Spur zeigt sich also auch das Medium, wenn auch immer als Abwesendes, Unsichtbares, Entzogenes: „Die Anwesenheit der Spur zeugt […] von der Abwesenheit dessen, was sie verursacht hat“ (ebd., S. 276). Damit schließt sich der Kreis zu Derrida, der das Gespenst als „Spur, die von vornherein die Gegenwart ihrer Abwesenheit markiert“ definiert (Derrida und Stiegler 2006, S. 133). Dieses lässt sich als inhärent mediale Figur theoretisch konzeptualisieren und über das Verfahren der Spurensuche analysieren.

3 „Hello, I’m John Cantlie“ – Gespenstische ‚Berichterstattung‘ aus dem Herzen des Kalifats Angesichts der Unmengen an propagandistischem Material, die der IS seit 2014 produziert und verbreitet hat, mag es reduktionistisch erscheinen, vierzehn Videos und sieben Magazinbeiträge zum Gegenstand einer detaillierten Analyse zu machen. Dies ist jedoch eine bewusste Entscheidung, soll doch an diesem einen Fall exemplarisch ein Modell zur Analyse des Spektralen herausgearbeitet werden, das im Idealfall auch auf andere Fälle virtueller Bedrohung angewandt werden kann. Für das Verständnis der folgenden Analyse ist es nun erforderlich,

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den Protagonisten und sein Schicksal als Geisel des IS vorzustellen und die Konventionen dschihadistischer Geiselvideos zu erläutern. John Cantlie war bis zu seiner Gefangennahme ein britischer Fotograf und Reporter, der u. a. für die Sunday Times, die Sun, den Sunday Telegraph, die Nachrichtenagentur AFP, die BBC und verschiedene Männer- und ­Lifestyle-Magazine (vgl. Casciani 2014) tätig war. Er geriet im November 2012 zum zweiten Mal und dauerhaft in Syrien in die Gefangenschaft islamistischer Dschihadisten, nachdem er im Juli desselben Jahres bereits in Syrien entführt und eine Woche später von der Freien Syrischen Armee befreit worden war (vgl. BBC News 2012). Diesmal wurde er gemeinsam mit dem amerikanischen Journalisten James Foley gekidnappt und gelangte offensichtlich über mehrere Stationen in die Hand des IS. Über die Zeit der Gefangenschaft ist wenig öffentlich bekannt. Die ersten beiden Jahre liegen mehr oder weniger im Dunkeln – öffentlich sichtbar wurden Foley und Cantlie erst wieder im Jahr 2014. Während das erste Lebenszeichen von Foley gleichzeitig eine grausame Todesnachricht war (ein Video seiner Enthauptung wurde im August 2014 auf YouTube hochgeladen) (vgl. u. a. Callimachi 2014), tauchte John Cantlie im September 2014 in einem Video auf, das ihn lebend zeigte. Obwohl das Video keine grausamen Gewaltdarstellungen enthielt, wurde es von verschiedenen Medienvertretern als unheimlich, verstörend, bedrohlich und grotesk beschrieben (vgl. etwa Lackey 2014; Williams 2014). Der Grund: John Cantlie wurde in diesem Video nicht nur als Geisel des IS vorgeführt, sondern offensichtlich auch dazu gezwungen, für die Terrormiliz als Sprachrohr zu fungieren. Die Verlautbarung, die Cantlie verlesen musste, enthielt nicht nur Kritik an der westlichen Berichterstattung über den IS, sondern auch die selbstreflexive Behauptung, Cantlie mache dies nicht nur aus Zwang, sondern – zumindest zum Teil – auch aus freien Stücken. Das Video mit dem Titel Lend Me Your Ears legte also nahe, der Journalist habe während seiner Gefangenschaft womöglich die ideologischen Seiten gewechselt. Bis November 2014 folgte unter diesem Titel eine Reihe von sechs weiteren Folgen, in denen Cantlie stets einen orangefarbenen Gefangenen-Overall trug und in einem geschlossenen, dunklen Raum zu sehen war. Eine weitere, an den Westen gerichtete Videoreihe mit dem Titel Inside… erschien von Oktober 2014 bis Februar 2015, in der Cantlie dann in der Manier eines Auslandskorrespondenten aus Kobane, Mossul und Aleppo ‚berichtete‘.4 Von März bis Dezember 2016 tauchte er in weiteren,

4Nicht

zu verwechseln mit der Reihe Inside the Khilafa; siehe den Beitrag von Simone Pfeifer et al. in diesem Band.

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dann nur noch lose zusammenhängenden Videos auf.5 Daneben erschienen im Propagandamagazin Dabiq zahlreiche Artikel unter seinem Namen.6 Seit Dezember 2016 sind keine weiteren Videos oder Artikel von ihm veröffentlicht worden. Es ist unklar, ob er noch am Leben ist.7

3.1 Vorbemerkung zur Analyse von Geiselvideos Ganz ohne Bezug auf Derrida oder Cantlie bezeichnen Irène Herrmann und Daniel Palmieri (2005) die Figur der Geisel in einem kleinen Überblicksaufsatz als „haunting figure“. Die Etymologie des Begriffs offenbart eine semantische Ambiguität, lässt sich ‚Geisel‘ doch sowohl auf hospes (Gast, Gastgeber) als auch auf obses (Bürge, Pfand) zurückführen. Hospes bezeichnet vom Altertum bis zur Französischen Revolution eine ‚freiwillige‘ Geisel aus privilegierten Schichten, die etwa zur Sicherung von Verträgen einem fremden Herrscher übergeben und ihrem Status gemäß sehr gut behandelt wurde. Obsides hatten etwa ab der Zeit der Französischen Revolution – dem Status von Kriegsgefangenen nicht unähnlich – vornehmlich einen instrumentellen Wert und wurden daher

5Eine

Übersicht über die Videos findet sich als Anhang im Beitrag von Sophia Maylin Klewer (in diesem Band). Ich danke Dr. Bernd Zywietz und dem BMBF-geförderten Projekt Dschihadismus im Internet für die Bereitstellung einiger Videos. 6Das englischsprachige D ­ abiq-Magazin erschien in fünfzehn Ausgaben zwischen Juli 2014 und Juli 2016. In sieben Heften erschienen Artikel, die John Cantlie als Autor ausweisen (Hefte 4 bis 9, d. h. im Zeitraum von 11. Oktober 2014 bis 21. Mai 2015, und nach einer Pause noch einmal in Heft 12, d. h. am 18. November 2015). 7Der englischsprachige ­Wikipedia-Eintrag verweist auf die Meldung der anscheinend prosyrischen Al-Masdar News, die berichtet, dass drei gefangene Kämpfer des „Islamischen Staats“ im Juli 2017 den Tod Cantlies bestätigt hätten (Al Madar News 2017). Im Oktober 2017 vermeldete das Pariser Magazin Paris Match die Behauptung des IS-Kämpfers Abou Sakr Al-Ambari, er habe Cantlie sieben oder acht Monate zuvor noch lebend in Raqqa gesehen (Aouidj und Deeb 2017) – was nicht in Widerspruch zur ersten Meldung steht, von verschiedenen Medien jedoch als Lebenszeichen gewertet wurde. Die Gefangennahme zweier britischer IS-Kämpfer im Februar 2018, die der gefürchteten Gruppe der sogenannten „Beatles“ angehörten und damit über den Verbleib Cantlies Bescheid wissen müssten, hat bislang keine gesicherten Erkenntnisse ans Licht der Öffentlichkeit gebracht (vgl. Loyd 2018; 20 Minuten 2018). Im Januar 2019 soll Cantlie unbestätigten Meldungen zufolge in der syrischen Stadt Deir ez-Zor gesehen worden sein (Rudaw 2019). Dass Cantlie am Leben sei, wurde im Februar 2019 durch den britischen Sicherheitsminister Ben Wallace bestätigt, ohne weitere Details bekanntzugeben (Wintour 2019).

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nicht wie Individuen, sondern gemäß ihrem je aktuellen strategischen Wert als Pfand, Schutzschild oder Trumpf benutzt. Die Unterschiede sind also erheblich, so Herrmann und Palmieri (2005, S. 139 f.): „whereas the status of hospes is characterized, as we have seen, by an absence of danger, that of obses is, in contrast, marked by the very real threat that hangs over the existence of the person held captive.“ Die heutige Zeit nun sei von einer Mischung aus genau diesen beiden Geiselkonzepten gekennzeichnet, die auch auf dschihadistische Geiselnahmen zutrifft. Demzufolge würden nun auch Unbeteiligte wie humanitäre Helfer, Mediziner oder eben Journalisten gekidnappt, die keinen absoluten, sondern nur einen relativen Wert für die Geiselnehmer hätten – je nachdem, wie viel ihre Angehörigen und die heimatliche Nation für ihre Befreiung zu zahlen bereit sind (Herrmann und Palmieri 2005, S. 143). John Cantlie fällt als Geisel eigentlich in diese Kategorie, allerdings mit der Schwierigkeit, dass Großbritanniens Politik eine Lösegeldzahlung an dschihadistische Terroristen nicht zulässt. Dies mag erklären, warum seine Geiselnahme nicht nach den üblichen Konventionen abläuft. Eine Geiselnahme ist ein komplexes Verfahren, in dem früher oder später ein Lebenszeichen der Geisel veröffentlicht werden muss. Dieses Lebenszeichen kann logischerweise nur medial übermittelt werden, um den Standort der Geisel weiterhin geheim halten zu können. Hierbei spielen die optischen Medien eine wichtige Rolle, weil ihnen eine besondere Beweisfunktion zugeschrieben wird. So schreibt etwa Judith Tinnes (2010, S. 458): Während die Authentizität einer Entführungskrise bei einer rein textuellen Informationsvermittlung angezweifelt werden kann, wird ein Geiselfall durch die Bereitstellung von Aufnahmen des Opfers, welche dessen eindeutige Identifikation erlauben, unanfechtbar ‚real‘.

Obschon der Begriff des Realen hier in Anführungszeichen gesetzt wurde, wird deutlich, dass es offensichtlich den Konventionen von Geiselfotos oder -videos entspricht, sie den jeweiligen Sehgewohnheiten entsprechend als ‚dokumentarisch‘, ‚nicht-fiktional‘ und ‚aktuell‘ zu markieren, damit die Identifikation der Geisel nicht angezweifelt und auch nicht davon ausgegangen wird, sie sei in der Zwischenzeit versehrt oder getötet worden. Zu den sogenannten ‚Proof-of-life-Videos‘ gehört in der Regel auch, dass die Geisel selbst zu Wort kommt. Diese Geiselrede ist in ihrer Form und Medialität für die vorliegende Studie besonders wichtig, da sie den Betrachtern eines solchen Videos für gewöhnlich höchst verdächtig erscheint. Die Konvention besteht nämlich darin, so Tinnes, die wehrlosen Geiseln gewissermaßen als

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Schauspieler einzusetzen, „die nicht für ihre eigene Person sprechen und handeln, sondern gezwungenermaßen nach dem Drehbuch ihrer Entführer vorgehen“ (ebd., S. 459). Als ‚real‘ wird also nur wahrgenommen, dass die Geiseln etwas sagen, nicht aber, was sie sagen. Grindstaff und DeLuca (2004, S. 321, Fn. 3) sprechen aus diesem Grund nur vom Körper („body“) einer Geisel, wenn sie Geiselreden analysieren, nicht jedoch von der Person selbst. Um an Derrida zu erinnern: Geiseln sind wie Gespenster „da, ohne da zu sein“. Die Annahme ist in der Regel, dass „die mündlichen Aussagen der Opfer in vielen Fällen direkt aus der Feder der Kidnapper stammen oder zumindest in groben Zügen von diesen vorgegeben wurden“ (Tinnes 2010, S. 459). Was den Betrachtern im Fall der Geiselrede verdächtig erscheint und sie veranlasst, im submedialen Raum einen eigentlichen Autor zu vermuten, der dem Medium der Geisel eine fremde Rede in den Mund legt, ist in anderen Fällen televisueller Rede allerdings völlig unverdächtig: etwa, wenn Nachrichtensprecher oder Moderatoren auftreten. Auch diese verlesen (möglicherweise von einem Teleprompter) Worte, die sie nicht selbst autorisiert haben – wenn auch freilich nicht unter Androhung von Gewalt. Für die Analyse von Geiselvideos ist außerdem wichtig zu wissen, dass sie oft als Serie angelegt sind, da sich eine Geiselnahme prozessual entwickelt und zudem einen hohen psychologischen Druck entfalten kann, weil der Ausgang jedes Mal aufs Neue ungewiss ist. Sie sind meist nicht aufwendig produziert, befolgen aber bestimmte ikonographische Muster, in denen die Bedrohung einer wehrlosen Geisel durch eine Übermacht oft vermummter Kämpfer inszeniert wird (vgl. Sachsse 2008, S. 469; Tinnes 2010, S. 471). Während die Entführer in Kampfmontur zu sehen sind, stecken die Geiseln gerade in dschihadistischen Geiselvideos häufig in orangefarbenen Overalls. Jedes Detail ist also mit Bedacht gewählt und folgt einem minutiös geplanten Drehbuch, so Tinnes (2010, S. 462): Freigelassene Entführungsopfer berichten immer wieder von ‚Proben‘ für den Dreh von Videos oder erzählen, dass man sie dazu gezwungen habe, eine Aufnahme neu zu drehen, weil die ursprüngliche Version den Erwartungen der Geiselnehmer nicht entsprochen habe.

Es ist daher davon auszugehen, dass auch die Geiselvideos, welche im Folgenden einer eingehenden Analyse unterzogen werden, keinesfalls spontan entstanden sind, sondern einer sorgfältigen Choreografie entspringen, die nichts dem Zufall überlässt. Da es sich jedoch um ‚gespenstische‘ Geiselvideos handelt, nehmen sie auf die vorgestellten Charakteristika zwar Bezug, stellen sie, als mediale Ordnungsschemata gewissermaßen, jedoch im selben Atemzug infrage, da die Betrachter in ihrer stillschweigenden Annahme verunsichert werden, John Cantlie habe qua seines Status als Geisel keinerlei Einfluss auf dieses Drehbuch.

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Im Folgenden wird die verunsichernde Wirkung der Cantlie-Videos mithilfe der Gespenster-Metapher zu beschreiben und theoretisch fassbar zu machen versucht (für eine detaillierte Analyse des ersten Videos vgl. Ulrich 2019, S. 113 ff.). Sie erlaubt es, dem Impuls, nach einer eindeutigen Interpretation zu suchen, zu widerstehen und die Mechanismen in den Blick zu nehmen, mit denen die Frage, ob der britische Journalist während seiner Gefangenschaft ‚umgedreht‘ wurde oder nicht, gezielt offengehalten wird. Gewiss ließen sich die Videos anhand der beschriebenen Geiselvideo-Konventionen auch einer eindeutigen Lesart unterziehen, die den Standpunkt, John Cantlie werde zu allen Äußerungen und Handlungen im Video gezwungen, absolut setzt. In dieser Lesart ließe man sich im Glauben, John Cantlie sei ideologisch unbestechlich und die dschihadistische Terrormiliz nicht in der Lage, ihn zu manipulieren, nicht erschüttern. Die Analyse zeigt jedoch, dass die Videos und Zeitschriftenartikel, die John Cantlie als Frontfigur oder Autor präsentieren, diesen Glauben gezielt zu erschüttern versuchen, ohne ihn jedoch gänzlich infrage zu stellen. Denn würden die Betrachter ganz von diesem Glauben abfallen können, wäre wieder Eindeutigkeit hergestellt: Cantlie gälte als Überläufer und Landesverräter, könnte ideologisch eingeordnet, propagandistisch bekämpft und aus der Zugehörigkeit zum kollektiven, westlichen, anti-dschihadistischen ‚Wir‘ entlassen werden. Stattdessen wird Cantlie als eine Figur des Dazwischen inszeniert, die unsere Ordnung zugleich bestätigt und irritiert und auf diese Weise für gegensätzliche Lesarten offen ist. Wenn das Gespenst nach Derrida (2014, S. 28) „als Möglichkeit zu denken ist“, so ist das Gespenstische an den Auftritten John Cantlies genau jene Eigenschaft, Möglichkeiten aufzuzeigen und Eindeutigkeiten infrage zu stellen. Die Bedrohlichkeit als einen Medieneffekt zu untersuchen, bedeutet einerseits, die Videos selbst einer sorgfältigen Analyse zu unterziehen, d. h. ihre Struktur, Dramaturgie, Argumentation und televisuelle Gestaltung in den Blick zu nehmen. Andererseits gilt es, Auslassungen, Andeutungen und Assoziationsräume auszuloten, die dem „kulturellen Imaginarium des Terrors“ (Frank 2017) entstammen und die Vorstellungskraft der Rezipienten aktivieren. Mit anderen Worten: Das, was die Videos nicht zeigen, sondern gewissermaßen zwischen den Zeilen zu verstehen geben, kann mitunter genauso wichtig für die Spurensuche sein wie das, was sie zeigen. Am Rande sei erwähnt, dass die Gespenstermetapher nicht nur auf die Figur der Geisel, sondern auch auf das Video und seine (Un-)Verfügbarkeit im Internet anwendbar ist. Die Cantlie-Filme sind wie alle Videos des IS schwer zu greifen, da sie zwar alle auf den entsprechenden Plattformen und Kanälen der Dschihadisten veröffentlicht, aufgrund ihres propagandistisch-terroristischen Inhalts von Dienstbetreibern jedoch immer wieder gelöscht wurden (vgl. zu den

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Rahmenbedingungen generell Gillespie 2018, S. 36 ff.). So finden sich weiterhin zwar unzählige Artikel über sie im Internet – diese fungieren jedoch mehr als Spuren ihrer Abwesenheit, weil sie die Videos selbst nicht enthalten und Verlinkungen oft ins Leere laufen.8 Ein öffentlich zugängliches, verlässliches Archiv der Video-Propaganda des IS gibt es aus nachvollziehbaren, nicht zuletzt gesetzlichen Gründen nicht. Viele Videos ‚geistern‘ dennoch an ständig wechselnden Stellen durchs Netz.

3.2  Lend Me Your Ears: Die Etablierung der Geisel als Gespenst Lend Me Your Ears9 war die erste Videoreihe mit sieben Folgen, die den britischen Journalisten John Cantlie nach Jahren der Ungewissheit über sein Schicksal wieder an die Öffentlichkeit treten ließ. Am 18. September 2014 erschien die Pilotfolge, in einer Zeit, in der sich der IS mit den brutalen Enthauptungsvideos zweier amerikanischer Geiseln, James Foley und Steven Sotloff, in den westlichen Industrieländern Aufmerksamkeit verschaffte. Jedes

8Vgl.

zum Thema der Verfügbarkeit auch den Beitrag von Chloé Galibert-Laîné in diesem Band. 9Der Titel der Reihe ist mit Bedacht gewählt, deutet er die Irritation von Konventionen und Erwartungen der Videoreihe für den kundigen Betrachter doch bereits an. „Friends, Romans, countrymen, lend me your ears“ – so hebt die Rede des Marc Anton zur Ermordung Cäsars an, wie sie ihm von Shakespeare in Julius Caesar (3. Akt, Zweiter Aufzug) in den Mund gelegt wurde. In der Rhetorik wird diese Rede als herausragendes Beispiel für den geschickten Bruch mit den Erwartungen des Publikums gehandelt, da sie sich von einer Funeralrede über eine Anklage schließlich zu einer politischen Rede wandelt (vgl. Knape 2000, S. 17–20; König 2011, S. 321–368). Eine interessante Parallele zur ‚Cantlie-Rede‘ ergibt sich dadurch, dass der Redner Marc Anton eine „wohlberechnete Strategie des Vorspiegelns einer dem Widersacher gegenüber gar nicht vorhandenen Haltung“ einsetzt (Müllenbrock 1992, S. 57 f.). Seine eigentliche Rede-Intention enthüllt Marc Anton erst am Schluss, wenn er die Verschwörer um Brutus zu Staatsfeinden erklärt. Hier kommt ein Einsatz von Simulation und Dissimulation, von Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit zum Ausdruck, der Anklänge ans Gespenstische aufweist. Am Ende der Rede bleiben allerdings weder in Bezug auf die Gattungszuordnung noch in Bezug auf die Rednerintention Zweideutigkeiten übrig – Marc Anton wechselt hier gänzlich vom Modus der Uneigentlichkeit und manipulativer Verstellung zu Eigentlichkeit und Aufrichtigkeit. Ganz im Gegensatz zu John Cantlie, von dem zwar anzunehmen ist, dass er seinen Adressaten durchaus eine nicht vorhandene Haltung vorspiegelt, dies am Ende des Videos (und auch am Ende der Videoreihe) jedoch nicht eindeutig aufzuklären ist.

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weitere Geiselvideo verhieß also zunächst einmal nichts Gutes. Umso größer war die Verblüffung und Erleichterung, dass die Pilotfolge der mit dem Untertitel Messages from the British Detainee John Cantlie versehenen Reihe keine Gewalt zeigte, auf die offen bedrohliche Atmosphäre der Hinrichtungsvideos verzichtete und auch nicht mit dem Tod der Geisel endete (Kinder 2014; Tinnes 2015, S. 87). Stattdessen wurde der britische Journalist auf ausgeklügelte Weise als Propagandist für den IS inszeniert, der die britische und US-amerikanische Berichterstattung im Stil einer Presseschau kritisch kommentiert und die ‚Wahrheit‘ des Kalifats dagegenhält. Das Video zielte also keineswegs auf die Bekanntgabe von Lösegeldforderungen und Freilassungsbedingungen, sondern wurde dazu genutzt, ein zivilisiertes und legitimes Bild des Kalifats zu zeichnen (vgl. Tinnes 2015, S. 87). Die Ankündigung weiterer Folgen ließ darauf schließen, dass Cantlie zumindest für die Dauer der Dreharbeiten an der Videoserie am Leben bleiben könnte. Ob die Folgen aber nicht schon alle abgedreht waren und Cantlie zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung überhaupt noch lebte, war ungewiss. Die Raffinesse gerade der Pilotfolge liegt darin, dass sie Cantlie als Geisel und Gefangenen vorführt, diesen Status gleichzeitig aber unterläuft, indem sie es streckenweise so aussehen lässt, als spreche Cantlie nicht einen vorgefertigten Text, sondern selbst aus freien Stücken heraus. Die televisuelle Inszenierung unterstützt in erster Linie die Geisel-Deutung, nicht nur aufgrund des Guantánamo-Overalls, den Cantlie trägt, sondern auch wegen des schwarzen Bildhintergrunds, der den Drehort unkenntlich macht und an ein dunkles Verlies erinnert (Abb. 1a). Schwarz ist gleichzeitig die Symbolfarbe des IS – präsent sind die Geiselnehmer allerdings nur in dieser symbolischen Form, nicht in Gestalt von vermummten Kämpfern wie in typischen Geiselvideos. Im Gegensatz zur

Abb. 1   a–b Links: Die Titelsequenz der Pilotfolge zeigt Cantlie als Gefangenen (Screenshot aus Lend Me Your Ears, Pilotfolge, TC 00:00:07). Rechts: Zwischen Geiselvideo und Presseschau: Relaunch der Titelsequenz. (Screenshot aus Lend Me Your Ears, Folge 1, TC 00:00:08)

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televisuellen Inszenierung unterstützt die Rede Cantlies jedoch eher die Deutung, der Gefangene sei zu den Dschihadisten übergelaufen. Die Figur John Cantlie eröffnet das Video mit den Worten: Hello, my name is John Cantlie. I’m a British journalist […]. In November 2012 I came to Syria where I was subsequently captured by the Islamic State. Now nearly two years later many things have changed including the expansion of the Islamic State to include large areas of eastern Syria and western Iraq. […] Now I know what you’re thinking, you’re thinking: ‘he’s only doing this because he’s a prisoner. He’s got a gun at his head and he’s being forced to do this,’ right? Well it’s true. I am a prisoner – that I cannot deny. But seeing as I’ve been abandoned by my government and my fate now lies in the hands of Islamic State I have nothing to lose. Maybe I will live and maybe I will die, but I want to take this opportunity to convey some facts that you can verify. Facts that if you contemplate might help preserving lives. Over the next few programmes, I’m going to show you the truth as the Western media tries to drag the public back to the abyss of another war with the Islamic State (Lend Me Your Ears, Pilotfolge, TC 00:00:18–00:01:38).

Diese Eröffnungssequenz unterhöhlt sukzessive die stillschweigende Annahme der Betrachter, John Cantlie werde hier als reines Körper-Medium eingesetzt – klingen manche Aussagen doch ganz so, als habe Cantlie durchaus selbst als Autor fungiert. Gerade der Wechsel zwischen erster und dritter Person im Stil einer klassisch-rhetorischen sermocinatio10 legt den Schluss nahe, Cantlie könne in der dritten Person über sich als Geisel sprechen („he’s being forced to do this“), während er in der ersten Person über sich als Dschihadist spricht („I’m going to show you the truth“). Dies wird von Aussagen wie „I am a prisoner – that I cannot deny“ und mehr noch von der etwas unheilvollen Ankündigung „Maybe I will live and maybe I will die“ jedoch wieder konterkariert, sodass sich der Eindruck jener Unentscheidbarkeit und Unverfügbarkeit einstellt, die nach Derrida so charakteristisch für das Gespenst ist. Die Eigentümlichkeit dieser Passage lässt sich mit Bezug auf Grindstaff und DeLuca verdeutlichen, die am Beispiel des 2002 veröffentlichten Hinrichtungsvideos des amerikanisch-israelischen Journalisten Daniel Pearl konsequent vom Körper der Geisel schreiben, der zur Rede, insbesondere auch zu anti-

10Die

sermocinatio ist eine rhetorische Redefigur, die die Kopräsenz und Interaktion eines Gesprächspartners simuliert, etwa über die Intonation oder das Reagieren des Redners auf die gedachten Aussagen, Personen und Fragen der scheinbar anwesenden Person(en). Siehe zu dieser Art kommunikativer Einbezüge auch den Beitrag von Sophia Maylin Klewer in diesem Band.

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amerikanischen ‚Bekenntnissen‘ gezwungen werde: „Islamic fundamentalists take his body in order to make it speak for them, to make the body of Daniel Pearl into a text that testifies to the truth of their power, the truth of their grievances, the truth of their worldview“ (Grindstaff und DeLuca 2004, S. 305). Allerdings stellen sie trotz allem fest: „The voice is the voice of an American, the accented English that of American English“ (ebd., S. 310). In Analogie dazu ließe sich über die Pilotfolge der Lend Me Your Ears-Serie sagen: Hier wird ein Körper einer Person als Medium für eine Aussage benutzt, dessen Spuren sich nur noch in der britischen Artikulation äußern. Was nun irritiert, sind weitere Spuren wie etwa Wortwahl, Satzbau und Phrasierung, aber darüber hinaus auch die explizite ‚Entlarvung‘ der stillschweigenden Annahme der Zuschauer über das ‚Wesen‘ der Geiselrede und die sporadischen Hinweise Cantlies auf sich selbst, die eine mögliche Autorschaft seinerseits nahelegen sollen. Dies soll nicht heißen, dass Geiseln in Geiselvideos nie Aussagen tätigen, die sie nicht auch – hätten sie die Wahl – selbst so tätigen würden, etwa ihre Selbstidentifikation mit Namen und Herkunft, die Erzählung des Tathergangs oder die durchaus in ihrem ureigenen Interesse liegende Bitte, die Forderungen der Geiselnehmer zu erfüllen. Insofern sind die Geiseln in der Geiselrede nie nur Körper, sondern immer auch Individuum, solange dies mit ihrer Rolle als Geisel in Einklang steht. John Cantlie allerdings tritt uns als eine Figur entgegen, die in vielen Momenten so erscheint, als sei sie wesentlich mehr Autor als Medium. Daher ist es gerade nicht ausschließlich der Körper, sondern der „phänomenale Leib des Geistes“ (Derrida 2014, S. 185), der uns in diesem Video als Gespenst erscheint. Diese ontologische Uneindeutigkeit setzt sich in den übrigen Folgen der Lend Me Your Ears-Reihe auf allen Ebenen fort. Durch eine Änderung der Titelsequenz ab Folge 1 (die Pilotfolge ist nicht nummeriert) wird zwar die Überläufer-Deutung betont – stellt der collagenhafte Hintersetzer doch die ­ propagandistische Funktion der Videos heraus, das vermeintlich fehlerhafte Bild der westlichen Berichterstattung zu widerlegen und stattdessen am Entwurf des virtuellen Kalifats mitzuwirken (Abb. 1b). Gleichzeitig bleibt die visuelle Inszenierung der Gefangenschaft Cantlies und somit auch seiner existenziellen Bedrohung durch den IS erhalten. Zahlreiche Verweise auf seine persönliche Situation irritieren indes weiterhin die Geisel-Interpretation. So erwähnt Cantlie ehemalige, zum Teil bereits enthauptete Mitgefangene, einen eigenen Fluchtversuch, für den er mit Waterboarding bestraft worden sei, und thematisiert in den Folgen 5 und 6 ausführlich gescheiterte Verhandlungen mit den USA und Großbritannien für seine eigene Freilassung und manche seiner Mitgefangenen wie auch einen missglückten militärischen Rettungsversuch (Lend Me Your Ears, Folge 5: TC 00:01:00–00:06:15, Folge 6: TC 00:00:26–00:08:27). Nach und nach

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wird auf Grundlage der Enttäuschung über die britische Regierung ein Narrativ entwickelt, das den ideologischen Seitenwechsel Cantlies nicht nur als Möglichkeit durchscheinen lässt, sondern als Realität plausibilisieren soll. Gleichzeitig spricht Cantlie jedoch auch die folgenden, bedrohlich klingenden Worte gegen Ende der sechsten Folge, mit der die Reihe abrupt endet: „Long ago, I accepted that my fate will overwhelmingly be the same as my cellmates, and I’m angry about it. […] I will continue to speak out against this military action and the deceitful arrogance of our governments for as long as the mujahideen allow me to live“ (Lend Me Your Ears, Folge 6: TC ab 00:07:40 und ab 00:08:26). Die Videoreihe stieß im Herbst 2014 auf wesentlich weniger Resonanz als die im selben Zeitraum veröffentlichten Hinrichtungsvideos – wohl nicht zuletzt wegen ihrer Uneindeutigkeit. Zeitgenössische Artikel zogen oft Experten heran, die die Einschätzung der Videos erleichtern sollten. So heißt es exemplarisch in der International Business Times: Cantlie’s collected delivery and anti-Western rhetoric have raised difficult questions regarding the journalist’s state of mind and phrases like “Stockholm Syndrome” have been thrown around by the world’s press. Some commentators believe he could have been converted to the Isis message after two years in their captivity, while others say that, though he appears calm, he may be speaking under duress (Kinder 2014).

Als Experten wurden ein BBC-Sicherheitskorrespondent, eine forensische Stimmanalytikerin und ein Traumaspezialist befragt. Während die ersten beiden betonten, dass Cantlie gut sichtbar von einem Teleprompter ablese und daher zu seiner Rede gezwungen worden sein müsse, konnte der dritte keine offensichtlichen Zeichen von Zwang erkennen und vermutete: „the video series is perhaps his ticket to staying alive“ (zit. n. Kinder 2014). Die Journalistin selbst hielt sich – wie die meisten anderen zeitgenössischen Beobachter – mit einem eigenen Urteil zurück. Nicht so der französische Journalist Michel Peyrard, der in Paris Match im November 2014 auf Basis der Aussage eines mittlerweile freigelassenen Mitgefangenen eine ‚eindeutige‘ Lesart entwickelte. Peyrards Artikel zitiert Didier François, der von Juni 2013 bis April 2014 ebenfalls in Gefangenschaft des IS war und mit Cantlie zeitweise eine Zelle teilte: „Right from the start, he was the most pessimistic of us. He knew that his government wouldn’t negotiate. He told us: ‚I need to find another solution.‘ This is not an unworldly intellectual, but someone who is committed to survival“ (Peyrard 2014). Cantlie wird hier als Realist porträtiert, der nur im Sinn hatte, am Leben zu bleiben. „John was the first to come up with the idea of conversion“, erinnert

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sich François weiter. „He was the one who paved the way“ (zit. n. Peyrard 2014). Dabei sei es Cantlie nicht um ein echtes Bekenntnis zum Islam gegangen, sondern darum, eine gemeinsame Sprache mit den Geiselnehmern zu finden. Peyrard selbst kommt daher zu dem recht eindeutigen Schluss: „The hostage, one of whose punishments is the removal of free will, is rarely able to influence his own future. Unless his gestures of goodwill suit the designs of his guards. This is doubtless what is happening with John Cantlie“ (ebd.; Herv. d. Verf.). Die Verwendung des Adverbs zweifelsohne wirkt indes wie eine performative Selbstversicherung, um die Verunsicherung, welche die Videoreihe hinterlässt, zu exorzisieren, das Unentscheidbare zu entscheiden. Deutungen dieser Art werden hier nicht angeführt, um sich ihnen anzuschließen und zu einer eindeutigen Lesart der Cantlie-Videos zu kommen, sondern um zu demonstrieren, welche – durchaus widersprüchlichen – Vereindeutigungsversuche es relativ zeitnah zur Veröffentlichung der Videos gab. Ergänzend kann hier etwa die Aussage von Cantlies Schwester Jessica genannt werden, die im Oktober 2014 von der Sunday Times mit folgenden Worten zitiert wurde: „We’ve always been a listening family. He believes at least two-thirds of what he is saying […]. He’s a very principled man“ (Conroy und Rayment 2014, S. 4). Damit nimmt sie – im Gegensatz zu vielen ‚Experten‘ – eine differenzierte Position ein, die durchaus davor warnt, alles Gesagte einfach nur als ihm aufgezwungene Propaganda des IS abzutun, gleichzeitig aber die Prinzipientreue ihres Bruders betont und sich damit – für viele Beobachter möglicherweise irritierend – eines vereindeutigenden Urteils enthält. „People seemed ‚terrified‘ of taking him seriously because he was a prisoner in an orange jumpsuit, Jessica said, but many of his points merited discussion“, wird ihre Position in der Sunday Times zusammengefasst (ebd., S. 4). Die Deutung, Cantlie habe eine Art Mitspracherecht an den Texten, wird auch von der Terrororganisation selbst unterstützt. Sie lässt (zumindest eine Autorfigur namens) John Cantlie im ­Dabiq-Magazin einen Artikel veröffentlichen, der als eine Art Paratext zur Videoreihe fungiert und betont, Cantlie schreibe seine Texte auf Grundlage der Quellen, die ihm zur Verfügung gestellt werden, selbst und werde lediglich redigiert, aber nicht zensiert oder zu bestimmten Aussagen gezwungen (vgl. Cantlie 2014; Ulrich 2017 [2019], S. 123 ff.). Dieses Verfahren ist in größeren Medienhäusern vollkommen üblich und käme den Betrachtern sicherlich nicht verdächtig vor, würde es nicht unter äußerst verdächtigen Umständen geäußert. Zuschauer neigen daher im Umkehrschluss dazu, gerade der vom IS selbst vorgenommenen ‚Entlarvung‘ dieses Vorgangs nicht zu trauen – können sich darüber aber nicht sicher sein.

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3.3 Vor Ort in Kobane, Mossul und Aleppo – Die Geisel als Korrespondent Der IS setzte seine Propagandareihe mit Cantlie in drei Videos fort, die ihn nicht mehr als Gefangenen präsentieren, sondern als ‚Korrespondenten‘, der sich bei seinen Auftritten vor der Kamera in Kobane, Mossul und Aleppo anscheinend frei bewegen konnte. Dies ist eine deutliche Veränderung, welche die ­Überläufer-Deutung zu unterstreichen sucht und daher auch den gespenstischen Effekt etwas zurücknimmt. An keiner Stelle ist zu erkennen, dass Cantlie weiterhin in Gefangenschaft ist. Nach wie vor begrüßt der Brite die Zuschauer mit den Worten „Hello, I’m John Cantlie“. Anstelle des Zusatzes, er sei ein Gefangener des IS, verweist Cantlie nun in der Manier eines Auslandskorrespondenten auf seinen Einsatzort, etwa mit den Worten: „And today, we’re in the city of Kobani on the Syrian-Turkish border“ (Inside ’Ayn al-Islam, TC 00:00:40).11 All dies soll in nur selten irritierter Eindeutigkeit unterstreichen, Cantlie betreibe nun freiwillig Propaganda für den IS und habe somit endgültig die Seiten gewechselt – ob sich die Betrachter nun davon überzeugen lassen oder nicht. Die Spurensuche nach dem Gespenstischen konzentriert sich bei diesen Videos daher nicht in erster Linie auf die G ­ eisel-Überläufer-Frage. Vielmehr wird danach gefragt, in welcher Weise die Videos die Betrachter zu diesem Eindruck von Eindeutigkeit bringen, d. h. wie der per se gespenstische Charakter von Medienbildern hier ‚unterdrückt‘ wird. Damit geht einher, dass sie wesentlich mehr zeigen als zuvor (sowohl von Cantlie als auch von der jeweiligen Umgebung, in der er sich bewegt) und Anleihen an bereits etablierte und gerade westlichen Betrachtern vertraute audiovisuelle Formate nehmen. Die Videos sind nun wesentlich aufwendiger produziert, insbesondere was die Ästhetik der Eröffnungssequenzen und Zwischentitel betrifft. So werden im ersten ‚Korrespondenten‘-Video Luftaufnahmen (laut eigenen Angaben von einer Drohne des IS) und grafische Elemente für die Gestaltung einer insgesamt 42 Sekunden langen Titelsequenz verwendet (Abb. 2a–b). Die beiden späteren Videos aus Mossul und Aleppo setzen außerdem für Titelsequenzen und Zwischentitel die Splitscreen-Technik ein und sind nicht zuletzt deswegen gut als Reihe zu erkennen (Abb. 3a–b). Auch ansonsten orientieren sich die Videos am Genre des Kriegskorrespondentenaufsagers und -berichts im Nachrichtenfernsehen – mit John Cantlie als einer Korrespondentenfigur, die diese Rolle

11’Ayn

­al-Islam ist der Name des ‚Islamischen Staats‘ für die syrische Stadt Kobane, die auf Arabisch eigentlich ’Ain al-’Arab heißt.

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Abb. 2   a–b Links: Titelsequenz mit Drohnenaufnahme (Screenshot aus Inside ’Ayn alIslam, TC 00:00:08). Rechts: Formale Gestaltungselemente der Titelsequenz. (Screenshot aus Inside ’Ayn al-Islam, TC 00:00:41)

Abb. 3   a–b Links: Aufwendige Gestaltung eines Zwischentitels (Screenshot aus From Inside Mosul, TC 00:02:28). Rechts: Aufwendige Gestaltung der Titelsequenz. (Screenshot aus From Inside Halab, TC 00:01:24)

professionell inkorporiert (vgl. auch Tinnes 2015, S. 89). „The phrasing could be that of a BBC reporter; the gestures those of a CNN special correspondent“, kommentiert auch Peyrard (2014). Die Aussagen von journalistischen Beobachtern, das Aleppo-Video „might look more like a VICE News story: a brave, skinny jean-wearing journalist documenting a rubble-covered war zone“ (SITE Intelligence Group 2015) oder das Mossul-Video beginne „with a seemingly relaxed Cantlie addressing the audience in an almost irreverent Alan Whicker prime-time fashion“ (Jewell 2015), weisen darauf hin, dass hier durchaus der Versuch erkannt wird, diese Form des weltgewandten Qualitätsjournalismus zu imitieren. Cantlie trägt zivile Kleidung, ist teils frisch rasiert, kann sich zumindest vor der Kamera frei bewegen und ist allem Anschein nach auch kräftig und gesund genug, in den Trümmern des Krieges herumzuklettern und sogar Auto und Motorrad zu fahren. Meist ist er weiterhin allein vor der Kamera zu sehen – in manchen

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Abb. 4   a–b Links: Die Imitation des Reisereporters auf dem Markt in Mossul. (Screenshot aus From Inside Mosul, TC 00:02:45). Rechts: Cantlie auf ‚Patrouille‘ mit den Dschihadisten (Screenshot aus From Inside Mosul, TC 00:07:17)

Szenen jedoch auch im Kontakt mit anderen Menschen, sei es als Interviewer von Funktionsträgern oder als Kunde auf dem Markt in Mossul (Abb. 4a). Cantlie bewegt sich mit scheinbarer Mühelosigkeit und Selbstverständlichkeit durch das ‚Kalifat‘. Man sieht ihn an Aussichtspunkten, mitten in Ruinen, an belebten Plätzen, aber auch an den offiziellen Stellen, etwa dem Wartesaal eines Sharia-Gerichts, in einem Krankenhaus oder einer Polizeistation. Im ersten Video wirkt der gesamte Auftritt noch etwas statisch, da Cantlie zwar aus unterschiedlichen Kameraperspektiven, aber doch immer am selben Standort über den (zerstörten) Dächern von Kobane gefilmt wird. Auch trägt er hier schwarze Kleidung und bleibt bei einem sehr ernsten Gesichtsausdruck. Symbolisch ist die Macht und Gewalt des IS über ihn also noch zu erahnen. In den beiden folgenden Videos löst sich seine Mimik sichtlich, ganz so, als genieße er seine neue Rolle und die Handlungs- und Interaktionsmöglichkeiten, die sie mit sich bringt. Dies mag eine kurze Szene verdeutlichen, die Cantlie in voller Fahrt auf dem Motorrad zeigt – eine Leidenschaft, für die er als Reporter in Großbritannien bekannt gewesen war.12 Während der Fahrt spricht er fast schon vergnügt in die Kamera: „We are patrolling the streets of Mosul. It’s been a while since I’ve ridden a motorcycle. So, excuse me if I wobble around a bit“ (From Inside Mosul, TC 00:07:09 bis 00:07:17). Sein Sozius, der ganz in Schwarz gekleidet ist, ein schwarzes Kopftuch aufhat und ein Gewehr um die Schulter trägt (und uns möglicherweise als ein Polizist des IS erscheinen soll), ist ebenfalls sichtlich amüsiert (Abb. 4b). Cantlie selbst verbindet diese Szene mit den Worten, Polizeipräsenz sei in Mossul

12Vgl.

dazu auch den Beitrag von Kevin B. Lee in diesem Band.

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eigentlich überflüssig, da die Kriminalitätsrate aus seiner Sicht ohnehin sehr niedrig sei. Dann lässt er die Sirene aufheulen und verschwindet aus dem Bild. An dieser Szene wird deutlich, wie sehr die Terrororganisation den Eindruck zu erwecken versucht, die Utopie des virtuellen Kalifats sei in Kobane, Mossul und Aleppo bereits Wirklichkeit. Mit John Cantlie als Augenzeugen und Botschafter sollen die Betrachter ‚erfahren‘, dass der IS einen friedlichen, wohlgeordneten und funktionierenden Staat geschaffen hat, in dem die Menschen nach Bürgerkrieg und Eroberung nun ihrem ganz alltäglichen Leben nachgehen. Es ist das Evidenzprinzip des TV-Nachrichtenjournalismus, das in diesen Videos imitiert und mit großem Nachdruck rhetorisch zur Geltung gebracht wird. Stets verweist Cantlie auf seinen Seh- oder Hörsinn und damit auf seine Augenzeugenschaft, um die Berichterstattung westlicher Medien zu widerlegen und seine Zuschauer von der Existenz des Kalifats zu überzeugen („As you can hear, it’s very quiet“; Inside ’Ayn al-Islam, TC 00:04:57; „I look around and really that doesn’t seem to be the case at all.“ From Inside Mosul, TC 00:03:45). Diese Gegenüberstellung von verbalsprachlich referierter ‚Lüge‘ und gewissermaßen evidenter ‚Wahrheit‘ wird als kommunikative und mediale Strategie von zeitgenössischen Beobachtern als solche klar erkannt und als verdächtig eingeordnet. Somit wird die Ordnung des Medialen hier zwar prekär, weil die Betrachter ihren Augen und Ohren gerade nicht trauen, aber nicht auf eine Weise bedroht, die die Ordnung von ‚Schein‘ und ‚Sein‘ selbst infrage stellen würde. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass der IS die Figur des Korrespondenten die Propagandastrategie auch ganz offen ausbuchstabieren lässt. In Aleppo zeigt Cantlie den Zuschauern einen Medienkiosk, d.  h. einen kleinen Well-blech-Container, in dem ein junger Mann zu sehen ist, der zwei auf­ geklappte Laptops vor sich hat und Passanten mit Flugblättern versorgt (Abb. 5a).

Abb. 5   a–b Links: Cantlie präsentiert einen Medienkiosk des IS. (Screenshot aus From Inside Halab, TC 00:09:25), Rechts: „That was me then and this is me now.“ (From Inside Mosul, TC 00:07:45)

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Nachdem Cantlie selbst ein Flugblatt entgegengenommen hat, spricht er das stillschweigend Angenommene offen aus: „The idea is that it counters the news that comes out from the West and to give the people here on the ground an idea of what the Islamic State is really doing and not the distorted view that people get from Western media.“ (From Inside Halab, TC 00:09:30 bis 00:09:48) In dieser Aussage wird mit denselben Dichotomien von Täuschung und Wahrheit operiert, mit denen auch die Betrachter das Video entschlüsseln. Die Möglichkeit, dass Medienbilder diese Ordnung gespenstisch stören könnten, spielt tendenziell keine Rolle. Prekär ist allerdings immer noch der Status John Cantlies. Hier haben westliche Betrachter jedoch die Möglichkeit, hinter der eindeutigen medialen Oberfläche der Überläufer- und Korrespondenten-Deutung im submedialen Raum weiterhin den Zwang und die Gewalt des IS zu vermuten. Offizielle Vertreter der Dschihadisten weisen diese Ansicht jedoch zurück, wie Tinnes (2015, S. 88 f.) herausgearbeitet hat, was den Verdacht natürlich umso mehr verstärkt: For example, on December 30, IS supporter Abu Umar Al-Ansari tweeted: “I am starting to like John Cantlie, especially after his Ayn Al-Islam […] video”. One day later, he added: “I don’t want to see him dead”. Some IS supporters believe that Cantlie has turned into an IS member, e.g. on December 19, Abu Hambza al Misri listed the names of the Western hostages, who he said, Obama did not rescue. Cantlie’s name is included in parentheses, with the comment “began a career as #ISIS journalist”.

Vereinzelt finden sich trotz aller Eindeutigkeit allerdings auch in den ‚Korrespondenten-Videos‘ Szenen, in denen diese temporär unterlaufen wird. Im Mossul-Video präsentiert Cantlie eine Art Kino, auf dessen Programm Videos des IS stehen. Auf der Leinwand ist wiederum sein medialer Doppelgänger John Cantlie zu sehen, wie er aus Kobane berichtet (Abb. 5b). Dann schwenkt die Kamera auf Cantlie, der nun sich selbst und diese Mise-en-abyme kommentiert. Vordergründig geht es darum, die Größe des Territoriums durch die virtuelle Gleichzeitigkeit der Cantlie-Figur in Kobane und Mossul vor Augen zu führen: „That was me then and this is me now and it just shows how much territory the Islamic State are controlling“ (From Inside Mosul, TC 00:07:45 bis 00:08:10). Der erste Teil dieser Aussage, „that was me then and this is me now“, ließe sich vor dem Hintergrund der gesamten Serie jedoch auch anders verstehen – als einen Hinweis auf die Wandlung John Cantlies von der gefangenen, fremdbestimmten Geisel zur selbstbestimmten Korrespondentenfigur, oder als ein Verweis der realen Figur auf ein gespenstisches Trugbild seiner selbst, das uns im Ganzen auch wiederum nur als gespenstisches Trugbild geliefert wird.

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Eine weitere kleine Irritation findet sich im Mossul-Video, das einen Schreibblock, von dem Cantlie abliest, durch Verpixelung unkenntlich macht (From Inside Mosul, TC 00:06:00–00:07:09). Dies ist als Spur des submedialen Raums zu werten, in dem doch manches verborgen werden soll. Des Weiteren wird Cantlie im selben Video gezeigt, wie er ein Interview mit einem Dschihadisten ‚führt‘, der zu längeren Ausführungen zu den Anschlägen auf Redaktionsmitglieder der französischen Satirezeitschrift Charlie Hebdo ansetzt. Cantlie bleibt in der gesamten Szene stumm, hält seinem Gesprächspartner nur das Mikrofon hin und nickt in regelmäßigen Abständen, sodass fast der Eindruck entsteht, er verstehe überhaupt nicht, von was dieser rede. Auch hier wird die so eindeutig vorgebrachte Rolle des Korrespondenten deutlich in Zweifel gezogen. Die möglicherweise verstörendste Szene bleibt schließlich eine nur zwölf Sekunden dauernde Sequenz aus dem Mossul-Video, die Cantlie zeigt, wie er eine Drohne, die am Himmel zu sehen ist, händeringend und mit dramatischen Worten anruft: „Down here! Here! Over here! Drop a bomb. You try to rescue me again? Do something! Useless! Absolutely useless” (From Inside Mosul, TC 00:05:38–00:05:50). Diese Sequenz kann als Sarkasmus verstanden werden, aber auch als resignierte und verzweifelte Geste eines von seiner Regierung im Stich Gelassenen. In gewisser Weise setzt sie den Ton für die (vorerst) letzten Videos, die allesamt in Mossul aufgenommen wurden.

3.4 Ein Schatten liegt über den (vorerst) letzten Videos Nach Februar 2015 wird es erst einmal still um John Cantlie, und es wird über ein Jahr dauern, bis der IS ihn ein weiteres Mal als ‚Korrespondent‘ vor die Kamera stellt. Bis zum Jahresende 2016 werden insgesamt vier weitere Videos veröffentlicht. Sie handeln allesamt von den Schäden des Krieges in Mossul (wir sehen Cantlie vor zerbombten Stadtvierteln, vor den Ruinen der Universität und einer fast vollkommen zerstörten Brücke über den Tigris) und vom Durchhaltewillen und der Tapferkeit der Dschihadisten. Cantlie selbst ist merklich abgemagert, ächzt, wenn er sich beim Klettern durch die Trümmer ein wenig anstrengen muss, und bekommt offensichtlich auch seine Haare nicht mehr regelmäßig geschnitten. Seine journalistischen Auftritte absolviert er weiterhin konzentriert und routiniert – dennoch wird deutlich, wie sehr der Krieg nicht nur der Stadt, sondern auch dem Gefangenen des IS zugesetzt hat (Abb. 6a). Die relative Leichtigkeit der Motorradszene ist vollkommen verschwunden, die Lage ist ernst, entsprechend blickt Cantlie in die Kamera und klagt, nachdem er die Zuschauer an die Schau-

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Abb. 6   a–b Links: Ein merklich abgemagerter Cantlie präsentiert, was von Mossuls Universität übriggeblieben ist (Screenshot aus John Cantlie Speaking about the US Bombing Mosul University and Populated Areas in the City, TC 00:00:12). Rechts: Cantlie berichtet wörtlich vom Rande des Abgrunds. (Screenshot aus John Cantlie Talks About Bombing the Bridges, Cutting Water and Electricity from Mosul City, TC 00:00:14)

plätze der Zerstörung geführt und mit Experten und Betroffenen über die prekäre Verkehrs- und Versorgungslage in Mossul gesprochen hat, mit großer Klarheit und immer wieder durchklingendem Sarkasmus die Alliierten an. Nicht nur die Zerstörung, sondern auch der Tod ist allgegenwärtig in diesen Videos, allerdings nicht – wie noch in der Lend Me Your Ears-Reihe – als Damoklesschwert, das über einer Geisel hängt, sondern als allgegenwärtige Bedrohung aller Angehörigen des ‚Kalifats‘ durch die alliierten Bombenangriffe. Im vorletzten Video etwa klafft in einer Brücke über den Tigris direkt hinter Cantlie ein riesiges Bombenloch, auf das Cantlie seine Zuschauer mit folgenden Worten zusätzlich aufmerksam macht: „If I take one meter back, I am a dead man“ (John Cantlie Talks About Bombing the Bridges, Cutting Water and Electricity from Mosul City, TC: 00:00:33; Abb. 6b). Eine weitere Szene im letzten Video zeigt Cantlie sogar direkt neben einem irakischen Soldaten, der offensichtlich beim Kampf um eine Stellung der irakischen Armee ums Leben gekommen und noch nicht begraben worden ist. Cantlie preist die Waffenkraft des IS, der die schweren Geräte wie Kinderspielzeug zerstört habe, und vermerkt lapidar, während er sich neben den Toten kniet: „This is one guy who didn’t make it, another Iraqi soldier bites the dust“ (Tank Hunters – Hunters of the Shield, TC 00:46:50). Der Tod ist sichtbar und damit wesentlich greifbarer als in der Lend Me Your Ears-Reihe, die in dieser Hinsicht noch wesentlich gespenstischer ist, weil der Tod darin als eine Möglichkeit, nicht aber als eine Wirklichkeit in den Videos sichtbar wird. Dennoch finden sich gerade im bisher letzten Video mit John Cantlie namens Tank Hunters – Hunters of the Shield, das eigentlich ein langes Statementvideo über die militärische Schlagkraft des IS darstellt und als aufputschende

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Abb. 7   a–b Links: Mediales Dispositiv der Videobetrachtung (Screenshot aus Tank Hunters – Hunters of the Shield, TC 00:08:10). Rechts: Gespenstisches Porträt Cantlies. (Screenshot aus Tank Hunters – Hunters of the Shield, TC 00:09:54)

Durchhalteparole fungiert, auch wieder gespenstische Passagen. Vier Sequenzen sind in das vor Gewalt und der Darstellung Toter nur so strotzende Video einmontiert, die Cantlie wieder in einem abgedunkelten Raum zeigen. Doch diesmal blickt zunächst nicht er in die Kamera, sondern die Betrachter über seine Schulter und sehen ihm dabei zu, wie er selbst (auf zwei Bildschirmen) Videos des IS betrachtet (Abb. 7a).13 Dieses Dispositiv inszeniert die Macht der audiovisuellen Bilder und zeigt noch dazu, wie sie ihren Eindruck auf John Cantlie machen, der das Video an einer bestimmten Stelle selbst mit einem Klick auf die Tastatur stoppt, sich an die Betrachter wendet und die Bilder kommentiert. Dabei ist die gesamte Szene so spärlich beleuchtet, dass Cantlies Gesicht wie aus dem Nichts – oder symbolisch aus dem Reich der Toten – zu uns spricht, da sein in schwarz gekleideter Oberkörper und die schwarzen Haare mit dem dunklen Hintergrund optisch verschmelzen (Abb. 7b). Es ist das erste Video seit Jahren, in dem Cantlie sich selbst wieder als „prisoner of the Islamic State“ bezeichnet und noch dazu wie ein Schatten seiner selbst aussieht. Hinzu kommt, dass er deutlich langsamer spricht als in den übrigen Videos, als würden ihn die Auftritte zunehmend anstrengen, was als Spur der Gefangenschaft und des Krieges gedeutet werden kann. Die Aussagen selbst hingegen haben nichts Gespenstisches an sich, sondern handeln unzweideutig von der Kampfeskraft des IS – seien die Betrachter nun davon überzeugt oder nicht. Gerade diese Text-Bild-Schere ist es, die diesen letzten Auftritt Cantlies dann doch auch im Derrida’schen Sinne gespenstisch wirken lässt.

13Solange

Cantlie in der Rückansicht zu sehen ist, wie er Videos ansieht, läuft ein Voiceover in arabischer Sprache, der mangels Sprachkenntnisse leider nicht in die Analyse miteinbezogen werden konnte.

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4 Schluss: Mit den Gespenstern leben In der Onlineausgabe der Tageszeitung Die Welt war im April 2016 zu lesen: Die „klassische“ Propaganda zielte darauf, Tatsachen durch Lügen, Wirklichkeit durch ideologische Fiktionen zu ersetzen. Heute entwickeln avancierte Propagandamaschinerien „postmoderne“ Techniken, um bei den Rezipienten die Fähigkeit zur Unterscheidung von Wahrheit und Lüge, Realität und Imagination insgesamt auszulöschen (Herzinger 2016).

Dieser Befund, mit klarem Bezug auf den ‚Islamischen Staat‘, aber etwa auch auf den Desinformationsapparat Russlands entworfen, eignet sich in besonderer Weise, um die hier vorgenommene Analyse einer völlig neuen Gattung von Geiselvideos abzurunden. Nicht, weil dieser Interpretation in dieser Form zugestimmt werden könnte, sondern weil sie das Gefühl des Bedrohtseins durch solche Propagandavideos besonders prägnant artikuliert. Die Angstvorstellung bezieht sich nämlich nicht auf die Brutalität oder Radikalität der Dschihadisten (oder anderer Meister dieser Form von Propaganda), sondern auf ihre gespenstische Fähigkeit, den Kopf ihrer Betrachter zu ‚verrücken‘ (vgl. Derrida 2014, S. 175). Postmoderne Propaganda, so Herzinger, sei doch tatsächlich in der Lage, ihre Rezipienten der Fähigkeit zu berauben, zwischen Sein und Schein, Wirklichkeit und Fiktion, Realität und Imagination zu unterscheiden. Dies macht seine Aussage zu einem hervorragenden Beleg für die performative Wirksamkeit des Gespensts: Der genius malignus, der Herzinger auf der Schulter sitzt, lässt ihn an neue „Propagandamaschinerien“ glauben und die Hoffnung auf die menschliche Urteilskraft fast gänzlich fahren lassen. Das ist eine Möglichkeit, auf das Gespenstische des Medialen zu reagieren: es im selben Atemzug heraufzubeschwören. In diesem Sinne könnte es auch verstanden werden, wenn Winter (2015, S. 9) schreibt: „Islamic State has captured the imagination of the international media like no terrorist group before.“ Dass der IS unsere Vorstellungskraft in Geiselhaft genommen hat, lässt sich mithilfe der Gespenstermetapher nun neu verstehen: als eine symbolische Gefangennahme des kollektiven Imaginariums, die dazu führt, dass dem virtuellen Kalifat letztlich zugetraut wird, die Koordinaten unserer medialen Weltwahrnehmung so zu manipulieren, dass sie ihre Orientierungskraft verlieren. Die vorliegende Analyse hat versucht, eine andere Möglichkeit des Umgangs mit der gespenstischen Medialität aufzuzeigen: zu lernen, mit dem Gespenst zu leben und seine hermeneutische Leistungskraft zu betonen. Dann lässt sich das Unentscheidbare und Unverfügbare als letztlich aufschlussreiche Irritation verstehen, die dabei hilft, stillschweigende

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Annahmen über die Ordnung des Medialen sichtbar und reflektierbar zu machen. Die Koordinaten unserer medialen Weltwahrnehmung werden dabei möglicherweise neu justiert, aber kaum je völlig außer Kraft gesetzt. Die Analyse der auf den ersten Blick trotz ihres weitgehenden Verzichts auf physische Gewalt äußerst aufwühlenden und irritierenden Cantlie-Videos hat gezeigt, dass diese zwar die Konventionen nachrichtlicher Weltdarstellung zu unterlaufen suchen. Die Wucht der epistemischen Verunsicherung entfalten sie jedoch nur dort, wo sich die Gespensthaftigkeit der Geisel/des Korrespondenten mit der medialen Gespensthaftigkeit von Videos kombiniert, wo also die vermeintlich unanfechtbare ‚Realität‘ des Geiselkörpers nur noch eine virtuelle zu sein scheint bzw. genau diese Frage nicht eindeutig entschieden werden kann.

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Die Spektralität medialer Bedrohung am Beispiel John Cantlie

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Anne Ulrich, Dr.,  Akademische Rätin am Institut für Medienwissenschaft der Universität Tübingen. Aktuelles Forschungsprojekt zu Medialität und Rhetorizität von (terroristischer) Bedrohung und der Rolle der Gespenstermetapher in der Medientheorie. Forschungsschwerpunkte und -interessen: Schnittstellen von Medienwissenschaft und Rhetorik, Populismus und Propaganda in digitalen Öffentlichkeiten, Fernsehtheorie, Medienästhetik und Nachrichtenjournalismus.

Medienakteure. Parallele Fragmente Kevin B. Lee

Zusammenfassung

Im Jahr 2018 erstellt Filmemacher, Medienkünstler und Professor für Crossmedia Publishing Kevin B. Lee ein Video-Essay über den britischen Journalisten John Cantlie, der 2012 in Syrien verschleppt wurde. Zwischen 2014 und 2016 trat Cantlie in Videos des IS auf und verfasste (vorgeblich) Artikel im IS-Magazin Dabiq. In diesem Beitrag gibt Lee Auskunft über seinen Zugang zu Cantlie und dessen medialer Agency als Person und Gegenstand der Recherche und der Konzeption des Video-Essays. Dabei rekonstruiert und reflektiert er das Erleben seiner eigenen Rolle als Betrachter, Adressierter und Verwerter der medialen Spuren Cantlies sowie dessen kolonialer/kolonialisierter Berufs- und Familiengeschichte im Lichte von Konzepten wie dem der Parasozialität und der Spectatorship. Schlüsselwörter

John Cantlie · Video-Essay · Parasozialität · Agency · Geisel · Künstlerische Forschung · Erfahrungsbericht · Islamischer Staat · Mediale Persona · Spectatorship · Kolonialismus

K. B. Lee (*)  Merz Akademie – Hochschule für Gestaltung, Kunst und Medien, Stuttgart, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 B. Zywietz (Hrsg.), Propaganda des „Islamischen Staats“, Aktivismus- und Propagandaforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28751-1_11

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1 Einführung Im Jahr 2018 produzierte ich über mehrere Monate hinweg ein zwölfminütiges Video mit dem Titel The Spokesman, das die Online-Spuren John Cantlies untersucht, eines britischen Journalisten, der vom ‚Islamischen Staat‘ (IS) im Jahr 2012 gefangen genommen wurde und bis heute vermisst ist. Den Leserinnen und Lesern, die das Video nicht gesehen haben, gebe ich zunächst eine kurze Zusammenfassung der vier unterscheidbaren Abschnitte des Videos. Timecode (TC) 00:00:00–00:02:24: In einem Videobrief an meine Forschungspartnerin Chloé Galibert-Laîné untersuche ich Cantlies ersten Auftritt in einem IS-Video aus dem Jahr 2014. Ich wundere mich über sein gelassenes Auftreten, als er seinen Zustand als Geisel vor der Kamera schildert, in Worten, die vielleicht seine eigenen sind oder auch nicht. TC 00:02:24–00:06:48: Die selbstbeherrschte Qualität Cantlies Stimme löst in mir eine Kindheitserinnerung an den Moment aus, als ich den Film Lawrence von Arabien (Lawrence of Arabia, UK 1962; R: David Lean) sah. Diese Erinnerung führt dazu, mittels Landkarten T.E. Lawrences Reisen durch den Nahen Osten mit den Bewegungen John Cantlies als filmischen Reiseführer in den IS-Videos zu vergleichen. TC 00:06:48–00:10:58: Nach weiterem Suchen entdecke ich auf YouTube Cantlies Auftritte von vor einem Jahrzehnt als Moderator in einer fürs Kabelfernsehen produzierten Motorradsendung sowie, eine Dekade davor, in einem Instruktionsvideo für Videospiele. TC 00:10:58–00:12:30: In der Überlegung, ob meine Online-Suche diejenige nachahmt, die der IS durchgeführt haben könnte, um mehr über seine Geisel zu erfahren, suche ich nach einem Bild von Cantlie, das irgendwie der ­Online-Überwachungshaft entgangen sein mag. Auf die Gefahr hin, die Deutung des Videos für diejenigen, die es noch nicht gesehen haben, festzuschreiben, denke ich, dass die obige Zusammenfassung meine Video-Untersuchung als eine der Dynamiken von Medienproduktion und Zuschauerschaft beschreibt, in der ich Handlungs(eigen)macht (Agency) von Medienfiguren erfasse. Da ist zunächst Cantlies Agency als Moderator und Sprecher/Sprechender (spokesman) in einer Vielzahl von Kontexten. Ich habe nach so vielen Online-Medienbeiträgen Cantlies wie möglich gesucht, verstreut über ver­ schiedene Websites und in verschiedenen Formen, um nachzuzeichnen, wie seine Handlungsmacht sich in seiner fünfundzwanzigjährigen Karriere entwickelt hat. Aber dieser Versuch, die Fragmente seiner Medien-Agency dafür zu nutzen, lenkt die Aufmerksamkeit auf meine eigene im Sprechen über ihn. ‚Seine‘ in

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der Gefangenschaft entstandenen Videos führen unweigerlich zu einer gewissen Sensibilität in diesem Punkt. Dieses Dilemma mag erklären, weshalb ich mich verpflichtet fühle, über meine Untersuchung von Fragmenten Auskunft zu geben: nicht nur über die Fragmente von Cantlies Medienkarriere, die ich gefunden habe, sondern verschiedene Ephemera meiner eigenen Nachforschung. Viele davon sind nicht im fertigen Videoessay enthalten: heruntergeladene Dateien, E-Mails, Drehbuchentwürfe und schon geschnittene und wieder verworfene Sequenzen. Sie existieren nur auf Festplatten und in persönlichen Online-Aufzeichnungen, aber ich zitiere sie hier herbei, um einen vollständigeren Bericht vorzulegen, wie ich mich mit Cantlies medialen Spuren beschäftigt habe. Dabei verorte ich meine Forschungserfahrungen im Rahmen der Parasozialität, einem theoretischen Konzept, mit dem mich Bernd Zywietz bekanntmachte und das Sophia Klewer ihrer eigenen Analyse von John Cantlies Auftritten in den IS-Medienbeiträgen zugrunde legt.1 Dieses Theorem hat sich als immens hilfreich darin erwiesen, mein kritisches Verständnis nicht nur von Cantlies Laufbahn und seiner Auftritte vor der Kamera zu entwickeln, sondern auch das meines eigenen Handelns in der Verwendung seiner medialen Präsenz. Mittels dieses Prozesses konnte ich kritisch über die Verfahren und Resultate der Konstruktion und Ausbeutung medialer Handlungsfähigkeit nachdenken, ob es die eigene betrifft oder die der anderen.

2 Eintritt in die Grauzone Es war Chloé, die mich auf Cantlie in einer frühen Phase unseres Projekts aufmerksam machte, in der wir uns eine Liste von IS-Medienuntersuchungsthemen erstellten. Ich hatte in dieser Zeit kein Verlangen danach, mir IS-Video anzusehen; der Gedanke daran erzeugte solch ein Unbehagen, dass das Wesen meiner Abneigung selbst zum Gegenstand der Reflexion wurde. Dieser Widerwille hatte etwas damit zu tun, wie ich mich selbst als Betrachter der Videos wahrnahm: was ich mir vorstellte, von den Videos zu wollen, oder was das Betrachten in mir sichtbar machen würde. Zeitweise fühlte ich, dass nicht ich meine potenzielle Zuschauerschaft wahrnahm, sondern sie mich. Ein merkwürdiges Gefühl, beobachtet zu werden von einem Zustand des Betrachtens, der der meine werden könnte, als ob mich die Medienbeiträge adressieren würde,

1Siehe

den Beitrag von Sophia Maylin Klewer in diesem Band.

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meine eigene Akteursrolle infrage stellend und das sogar über die sichere Distanz des Nicht-Betrachtens hinweg. Von Beginn an schuf die Beschäftigung mit den Medienbeiträgen eine Dissoziation zwischen mir und meiner Handlungsmacht als Zuschauer, indem sie meine eigenen Impulse zu sehen in Zweifel zog. Es war daher wenig überraschend, dass mein erster Vorstoß, was das Sichten von IS-Material betraf, über Drohnenvideos erfolgte. Dieses Subgenre des IS-Films, das aus Aufnahmen ferngesteuerter Bildaufzeichnungstechnologie ­ besteht, gewährte mir als Zuschauer ein Gefühl der Distanz zum Blutvergießen, das in der öffentlichen Wahrnehmung zum Kennzeichen des IS geworden war. Letztendlich aber wurde die prophylaktische Natur dieses Standpunkts allzu offensichtlich. Das Allmachtsgefühl beim Gleiten über die Landschaften manövrierender Soldaten und Fahrzeuge, durchsetzt von Explosionen und Rauch, wich einer betäubten Wahrnehmungserfahrung gegenüber einem ornamentalen Spektakel. Was ich daraufhin wollte, war eine Art des Beteiligtseins, das wahrer war, intimer, realer, obwohl ich mich immer noch unwohl fühlte angesichts der Frage, wohin mich dieses Sich-Einlassen führen würde. Während dieser Zeit schickt mir Cloé eine E-Mail, in der sie ihre eigene Online-Expedition detailliert beschreibt. Sie kartografiert einen Weg der ­Online-Betrachtungen von Videokunst, die sich mit terroristischer Medienarbeit und der Repräsentation von Gewalt befasst. Dabei beschreibt sie zwei Videos, die im Nachhinein gegensätzliche Optionen dafür aufzeigen, wie wir uns diesem Material annähern konnten. Auf der einen Seite: Belit Sags and the image gazes back,2 in dem Sag ihre Begegnung mit IS-Enthauptungsvideos selbst lenkt. Dafür benutzt sie visuelle Blockierungsstrategien, um die Aufmerksamkeit von der expliziten Gewalt abzulenken und dabei einen Raum für eine Serie von Assoziationen zu schaffen, die das Video in andere Kontexte überführt. Auf der anderen Seite: Thomas Hirschhorns Video Touching Reality.3 Es zeigt in einer einzelnen Einstellung, wie eine Hand eine Reihe drastischer Bilder auf einem Tablet-Display steuert: Wischen, Zoomen, Tippen verwandeln den Betrachtungsakt in eine haptische Interaktion. Chloés E-Mail zitiert Hirschhorns Rechtfertigung, die expliziten Gewaltbilder in sein Werk einzufügen: Das Wegsehen laufe auf einen bourgeoisen Abwehr-

2Zu

finden unter: https://vimeo.com/113914935 (VÖ: 08.12.2014); Zugegriffen: 01.10.2019. findet sich unter https://vimeo.com/55482318, Zugegriffen: 01.10.2019.

3Ein Ausschnitt

Medienakteure. Parallele Fragmente

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mechanismus hinaus. Die haptische Ästhetik des Videos lege hingegen nahe, dass die Geste aufrichtiger sei, diese Bilder zu berühren und uns somit offen unserer Möglichkeit dazu und unserem Verlangen danach zu stellen. Ich finde Sags Video nach wie vor inspirierend in seinem einfallsreichen visuellen und erzählerischen Ansatz, um den Bann eines Bildes zu brechen und daraus eine kritische Perspektive zu entwickeln. Aber in jener Zeit sprach der konfrontative Einschlag und die implizite Polemik von Hirschhorns Touching Reality mich in meiner Unzufriedenheit mit den Drohnenaufnahmen als sicherer Methoden der Gewaltbetrachtung mehr an. Sie ließen mich überlegen, wie ich solche Eigenschaften auch meiner eigenen Untersuchung verleihen könnte. Chloés E-Mail schließt mit der Erwähnung einer Ausgabe des ­Dabiq-Magazins mit den Covertitel From Hypocrisy to Apostasy. The Extinction of the Grayzone.4 Die Überschrift bezieht sich auf den Aufruf der Gruppierung, relativistisches religiöses Denken, ambivalente politische Kompromisse und andere Formen islamistischer Führung, die der IS als korrupt erachtet, abzulehnen und zu zerstören und durch die einzige Wahrheit des Kalifats zu ersetzen. Chloé bemerkt ironisch, dass die Ausgabe mit einem von John Cantlie namentlich gezeichneten Artikel schließt, den sie als „die graueste Figur im ganzen IS-Propagandaapparat“ beschreibt. Zu der Zeit wurde prominent über Cantlie berichtet: Als einem regelmäßigen Verfasser von Artikeln, die die westliche Politik kritisieren, und als Akteur in IS-Videos, in denen er die Organisation befürwortet, obwohl er eine Geisel blieb und sich selbst als eine solche in den Beiträgen und Videos auswies. Sein Status als Unterworfener trübte die Frage danach, inwiefern die von ihm gesprochenen oder ihm zugeschriebenen Worte wirklich seinen Sichtweisen entsprächen.5 Ich fühlte mich angezogen von dem Rätsel, dass jemand scheinbar gegen seinen Willen in Propagandavideos auftritt und trotzdem einen Anschein von Persönlichkeit oder Autonomie erwecken kann. Was ist ein Selbst in diesem Augenblick? Ich wollte Zugriff auf so viele IS-Videos mit ihm wie möglich, um herauszufinden, wie viel Grauzone sie wirklich wären und wie viel dieses echten ‚Selbst‘ ich in ihnen ausmachen konnte.

4Dabiq,

Nr. 7 (erschienen am 12.02.2015). den verschiedenen Optionen – Cantlie als unwilliger Sprecher vorgegebener Sätze, als ‚Verräter‘ oder als jemand, der mittels seiner IS-Medienauftritte Symptome des sog. Stockholm-Syndroms zeigt – siehe die Beiträge von Sophie Maylin Klewer und Anne Ulrich in diesem Band.

5Zu

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3 Archivarische Wurzeln Meine erste Aufgabe war, die IS-Videos mit Cantlie aufzuspüren. Wie viele gab es und wo konnte ich sie finden? Der Wikipedia-Eintrag zu Cantlie bietet eine Auflistung von dreizehn IS-Videos, in denen er als Moderator vor der Kamera erscheint.6 Ich wusste von drei Plattformen, auf denen ich sie vielleicht ausfindig machen konnte. Jihadology.net, ein wissenschaftliches Archiv jihadistischer Propagandamaterialien, bietet die vielleicht größte öffentlich zugängliche Sammlung (bis Frühjahr 2019 konnte auf die Videos auf der Seite direkt zugegriffen werden; seither müssen sich Nutzer registrieren).7 Überraschenderweise hatte die Website nur ein paar Videos der Wikipedia-Liste der ­Cantlie-Filme, und eine Stichwortsuche auf der Plattform führte zu keinem Ergebnis. Meine Suche auf YouTube erbrachte 2018 mehr Videos, wenn auch manche seither aufgrund der Anfang 2019 eingeführten strikteren Regeln betreffs extremistischer Inhalte entfernt wurden. Die noch vorhandenen Clips sind in Nachrichtenbeiträge eingebunden. Im Internet Archive (archive.org) ergab die Suche nach „Cantlie“ die größte Ausbeute.8 Ich fand alle IS-Videos mit ihm sowie alle Ausgaben des ­Dabiq-Magazins mit den ihm zugeschriebenen Beiträgen. Aufgrund dieses Fundes konnte ich eine vergleichende Übersicht seiner Videoauftritte erstellen und die Analyse durchführen, die den Großteil meines Video-Essays über Cantlie ausmachen. Das war jedoch nicht mein erster investigativer Faden, der von dieser Website und ihren Quellen ausging. Als ich die weiteren Suchergebnisse durchging, bemerkte ich eine medizinische Veröffentlichung aus den 1890er Jahren über Lepra und Beriberi (eine durch Thiamin-Mangel hervorgerufene Krankheit), eingestreut zwischen den IS-Videos und den Dabiq-Ausgaben. Dieses Material war mit einem anderen Namen verbunden: Sir James Cantlie. Ich wusste aufgrund des Wikipedia-Beitrags über John Cantlie, dass dieser James Cantlie sein Urgroßvater war. Noch bevor ich die IS-Videos untersuchte, wollte ich mehr über den anderen Cantlie herauszufinden, mit dem Gedanken, über seine Herkunft einen originelleren Blick auf John Cantlie zu eröffnen. Das resultierte in Wochen der Recherche und lieferte eine alternative Basis für das Video, das ich anfertigte.

6https://en.wikipedia.org/wiki/John_Cantlie 7https://jihadology.net/ 8Zum

Internet Archive siehe auch den Beitrag von Martin Zabel in diesem Band.

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Aber nichts von dieser Recherche taucht direkt im Essay auf. Deshalb halte ich es für notwendig, hier über sie zu berichten und darüber, wie sie zu meiner Positionierung sowohl als Betrachter wie als ‚Interpolator‘ von John Cantlies medialem Auftreten beigetragen hat. John Cantlies Urgroßvater Sir James Cantlie war ein schottischer Arzt, der 1888 nach Hongkong reiste, um dort die erste Schule für westliche Medizin mitzugründen, aus der schließlich die University of Hong Kong werden sollte. Die erste Abschlussklasse der Schule hatte es schwer in einer Gesellschaft, in der die traditionelle chinesische Medizin vorherrschte. Westlichen Ärzten und Instrumenten wurde wenig getraut und sie noch weniger verstanden.9 Um ihr Ziel zu erreichen, führte die Schule daher nicht nur neue medizinische, sondern auch soziale und kulturelle Praktiken ein. Einer der Studenten erwies sich dabei als besonders geschickt. Cantlies Star-Student, Sun Wen, glaubte, dass China in vieler Hinsicht eine rückwärtsgewandte Nation sei, die sich zu ihrem eigenen Unglück westlichen Ideen widersetze, während sie im Sumpf der Korruption und Dekadenz der späten Qing-Dynastie versank. Sun schwebte ein neues China vor, errichtet auf den wissenschaftlichen und technischen Fortschritten, die er als Student erlebte. Er konvertierte zum Christentum (vgl. Szczepanski 2019), vielleicht weil er es für weiterentwickelter als den chinesischen ‚Aberglauben‘ hielt oder weil es ihm ein größeres Netzwerk an Unterstützern für seine Ziele eröffnete. Nach seiner Taufe im Jahr 1883 nahm er einen neuen Namen an: Sun Yat-sen. Als Sun sollte er später die Revolution anführen, die zum Sturz der Qing 1911 und zur Entstehung des modernen China führte.10 Für mich, einen Sinoamerikaner, ist dieser Name und die mit ihm verbundene Geschichte als Einheitslegende für das moderne China vertraut, die sowohl von Nationalisten in Taiwan wie von den Kommunisten auf dem Festland geliebt wird. Der Einbezug des Namens Cantlie in die Historie des chinesischen Nationalismus eröffnet überraschende Parallelen zwischen Sir James Cantlie und seinem Urenkel: zwei Briten, vier Generationen auseinander, die eine Rolle in Staats(um) bildungsbewegungen spielen, gerade als diese Bewegungen um den westlichen Einfluss auf ihre kulturelle Selbstbestimmung ringen. Ich hatte Sun Yat-sens Rolle als Chinas Retter mein ganzes Leben lang akzeptiert und begann nun zum

9https://en.wikipedia.org/wiki/Hong_Kong_College_of_Medicine_for_Chinese#cite_note-

HKU-4, Zugegriffen: 01.10.2019. einen kurzen biografischen Abriss zu Sun ­Yat-sen vgl. Doberneck 1997.

10Für

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ersten Mal, von diesem monolithischen Glanz des positiven Geschichtsurteils abzurücken. Ich sah den Kampf von vor über hundert Jahren im kritischen Licht der Gegenwart, da ich ihn mit der Militanz des Islamischen Staats verglich. Trotz geteilter Missstände mit einer Kultur, die mit dem Verlust der Identität und den Kräften globaler Modernisierung rang, war Suns Annahme des Westens gegen die traditionelle chinesische Herrschaft eine deutlich andere Einstellung als die radikale Ablehnung des IS gegenüber der westlichen Intervention im Nahen Osten und seiner aktiven Dämonisierung westlicher Kultur zugunsten der Idee eines überzeitlichen Islams mit Kulturpraktiken, die dessen Gründerzeit zugeschrieben sind. Dieser Vergleich verdient eine tiefere Analyse, als ich sie in diesem Beitrag leisten kann, aber fürs Erste kann er den Schreck erklären, den ich in der Verbindung meines kulturellen Erbes mit dem Islamischen Staat durch die Cantlie-Familiengeschichte erlebte. Dieser Schock ließ mich darüber nach­ denken, wie Sun Yat-sens Geschichte durch bestimmte geopolitische Filter erzählt worden ist. Zeitgenössische festlandchinesische Filme über Sun Yat-sen betonen stark die westlich-imperialistischen Zumutungen, Ausbeutungen und Misshandlungen der Chinesen in dieser Zeit – teilweise als Spiegelungen aktueller Ängste hinsichtlich Chinas fragilen Autonomiestatus in der geopolitischen Arena, die immer noch weitgehend von westlichen Interessen dominiert wird. Das mag erklären, warum offenbar keiner der zahllosen Filme, die in China in den letzten Jahrzehnten über Sun Yat-sen und die Geburt des modernen Chinas gedreht wurden, Sir James Cantlie als Figur zeigt. Eine Suche in der Internet Movie Database nach Filmen mit der Figur Sun Yat-sen ergibt jedenfalls keinen mit einem James Cantlie darin. Als ich sah, wie John Cantlie in einem IS-Reisebericht aus dem Jahr 2015 auftritt und persönlich bezeugt, wie wunderbar das Leben in den vom IS besetzten Städten Kobane, Mossul und Aleppo ist, stellte ich mir vor, welche mediale Rolle Sir James Cantlie für die Geschichtsschreibung des chinesischen Nationalismus hätte spielen können. Was wäre gewesen, wenn er einhundertzwanzig Jahre vor den IS-Videos seines Urenkels in Hongkong mit Sun Yat-sen in den Medien aufgetreten wäre und beide über die neue chinesische Gesellschaft gesprochen hätten, die in den kommenden Jahren etabliert werden sollte? Zufälligerweise hat James Cantlie tatsächlich die Medien genutzt, um Suns Sache voranzubringen, nämlich dergestalt, dass er seinem Schüler mit ihrer Hilfe womöglich das Leben rettete. 1896 reiste Sun nach London, wo Cantlie, nachdem er sich in Hongkong eine Krankheit zugezogen hatte, im Ruhestand war. In London wurde Sun von Agenten des chinesischen Kaisers entführt. Diese wollten ihn zurück nach China schicken, um ihn vor Gericht zu stellen und für Hochver-

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rat hinrichten zu lassen. Cantlie bemühte sich verzweifelt um Suns Freilassung, intervenierte bei der chinesischen Delegation, der Polizei, den Gerichten und der Times, einer angesehenen Zeitung, alles ohne Erfolg. Schließlich erregte Cantlie die Aufmerksamkeit des Globe, eines Skandalblatts, das in der Überschrift schmetterte: „Startling story! Conspirator kidnapped in London! Imprisonment at the Chinese Embassy!“ (Schockierende Story! Verschwörer in London entführt! Inhaftierung in der chinesischen Botschaft; vgl. McGill 2014). Die sensationalistische Publicity erzwang Suns Freilassung und ermöglichte seine sichere Heimreise. Fünfzehn Jahre später wird die erste chinesische Republik gegründet werden mit ihm als ihrem ersten Präsidenten. Cantlie blieb sein lebenslanger Freund und Wohltäter; sein Sohn hatte Sun Yat-sen als Paten. Wenn ich darüber nachdenke, wie Sir James Cantlie zu historischen Entwicklungen beitrug, die eine gesamte Nation und ihre Nachkommen beeinflusste, mich selbst eingeschlossen, frage ich mich, wie fair es ist, seine Heldentaten mit denen seines Urenkels einhundertzwanzig Jahre später zu vergleichen. Die Leistungen des früheren Cantlie sind ein einschüchterndes Vorbild, zu groß, um sie von einer Generation in die nächste weiterzutragen. Sein eigener Sohn Kenneth, Johns Großvater (und Sun Yat-sens Patensohn), mag daran herangereicht haben: Er war einer der Ingenieure, die die Eisenbahn in China, Indien und Argentinien bauten (vgl. Handley-Derry 1987), und diente später als Diplomat in den Verhandlungen Chinas und des Vereinigten Königreichs über die Herrschaft Hongkongs (vgl. Callick 2014; Guilford 2014). Kenneths Sohn Paul wiederum arbeitete als Schiffbauingenieur, der später, den beruflichen Fußstapfen seines Großvaters folgend, ein Krankenhaus leitete. In seiner Jugend war er Kopilot bei einem Nonstopflug über den afrikanischen Kontinent (vgl. Guards Magazine 2014). Im Großen und Ganzen sehe ich ein Vermächtnis, das sich um dem gesamten Globus über zwölf Dekaden hinweg aufspannt und den geopolitischen Einfluss des Vereinigten Königreichs in der kolonialen und postkolonialen Ära voranbrachte. Ich könnte es grob wie folgt zusammenfassen: • Ein Urgroßvater, der einen Außenposten errichtet, um westliche medizinische Technologie und soziale Praktiken in einem anderen Land zu bewerben; • Ein Großvater, der ein Verkehrsnetzwerk in demselben Land baut und dabei westliche Interessen weiter vorantreibt; • Ein Vater, der Schiffe baut, um das Verkehrsnetzwerk zu nutzen; • Ein Sohn, der an medialen Repräsentationen und Simulationen postkolonialer Großtaten teilnimmt: in Videospielen, Reise- und Medienberichten.

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Das alles scheint wie ein Erbe mit hoher Verfallsrate, bis zu dem Punkt, da es zum medialen Schatten seiner selbst wird: Wo einst Pioniere an der kolonialen Grenze waren, sind es nun Tourguides, die eine postkoloniale Erfahrung simulieren. Vielleicht können diese medialen Simulationen aber selbst als Grenze betrachtet werden: die einer neuen Realität medialer Erfahrung, die immer mehr an die Stelle der materiellen tritt. Diese Realität wurde hervorgebracht durch einen Krieg, den der IS ebenso auf dem physischen Schlachtfeld wie auf dem medialen führt. Trotzdem stelle ich mir vor, wie es für jemanden sein muss, mit einem solchen Vermächtnis aufzuwachsen und womöglich Erwartungen gerecht zu werden, die mit derart hohen Standards patriarchaler Errungenschaften einhergehen. Zugleich sind solche Errungenschaften Angebote des westlichen Kolonialismus, der jahrhundertelang seine Macht in die Völker und Länder der Welt einschrieb. Doch es wäre mir zu einfach, Cantlies Abstammungslinie in eine Pauschalabrechnung mit dem Kolonialismus zu verwickeln und dabei einen Teil meines eigenen kolonialistischen Impulses preiszugeben, insofern ich das historische vorgefundene Medienmaterial zu meinem eigenen Vorteil nutzen will. Ich hatte an diesem Punkt genug Online-Informationen über die einhundertzwanzigjährige Geschichte der Cantlie-Patriarchen gesammelt, um zu eine kritischen Bewertung ihrer Leistungen zu kommen. Gleichzeitig erkannte ich die Vermessenheit, ein Urteil über Personen zu fällen, die mir im Wesentlichen fremd waren. Die virtuelle informationsbasierte Online-Intimität, die mir das Gefühl hinreichender Nähe gab, um das Familienerbe zu begreifen, erzeugte ein schwindelerregendes Gefühl einer Fern-Berührung, die mich an den Finger in Thomas Hirschhorns Touching Reality erinnerte, der den Strom drastischer Bilder liebkost. Während ich darüber nachdachte, wie ich diesen Zustand überwinden konnte, fragte ich mich, in welchem Maße die Familie Cantlie in mein Projekt eingebunden werden sollte. Mehrere Monate später, nachdem ich einen ersten Entwurf des Videos über John Cantlie fertigstellt hatte, würde ich jemanden aus seiner Familie kontaktieren, um ihn über mein Vorhaben in Kenntnis zu setzen. Ich fand die Website und das Twitter-Profil seiner Schwester und kontaktierte sie, bekam jedoch nie eine Antwort. Ich fand auch Twitter- und Facebook-Konten mit dem geteilten Banner „Free John Cantlie“, die regelmäßig Nachrichten posteten, um ihn im öffentlichen Bewusstsein zu halten, obwohl es keine Neuigkeiten über ihn und sein Verbleiben gab.11 Ich schrieb diese Accounts an, um sie über mein Video zu informieren. Der Administrator antwortete, dass ich das britische

11https://twitter.com/cantlieuk;

01.10.2019.

https://www.facebook.com/freejohncantlie/; Zugegriffen:

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I­nnenministerium kontaktieren solle, falls ich irgendwelche Informationen hätte, die seinen Fall voranbringen könnten. Mir wurde klar, dass die Person hinter dem Account dachte, ich sei ein investigativer Journalist, der Neues über Cantlies Aufenthaltsort wüsste. Mir kamen dadurch Zweifel am Wert meines Projekts: Wenn ich kein Wissen generieren konnte, das zu seiner sicheren Rückkehr führen mochte, wozu war es dann gut?

4 Kritisch parasozial Das Unbehagen angesichts der Frage, ob und wie ich über Cantlie sprechen könnte, führte dazu, dass ich vorübergehend das Format, das Chloé und ich für unser Projekt gewählt hatten, aufgab: Eine Reihe von Briefwechseln, die an uns gegenseitig adressiert waren, selbst wenn sie als Videos einem Publikum präsentiert werden. Als es darum ging, aus meiner Recherche ein Skript zu machen, war der erste Entwurf ein Brief, der an John Cantlie gerichtet war. Ich fühlte, dass ich meine Nachforschungen nicht als ein Akt des Über-ihn-Redens angehen sollte, sondern des Mit-ihm-Redens – dass damit meine Untersuchung besonnener in ihren Absichten werden würde. In dieser Version ging ich ausführlich auf die oben beschriebene Familiengeschichte ein, obwohl ich Schwierigkeiten hatte, mir vorzustellen, wie es für mich wäre, mich mit meinem Bericht direkt an ihn zu richten statt an einen fiktionalen Adressaten. Zudem fühlte ich, dass diese Herangehensweise zu weit in seine Familie hineinreichte und als eine zu persönliche Zumutung daherkommen würde. Ich verwarf also diesen Ansatz, nur der letzte Textteil, den ich für das Drehbuch schrieb, hallte nach: „Was hat dich geprägt, John Cantlie? Du wolltest deine eigene Geschichte schreiben Und jetzt wird sie für dich geschrieben.“

Die Vorstellung von Cantlie als eine Art Bauchrednerpuppe ließ mir seine Auftritte als eine Art Medientechnik erscheinen, die sich mit Drohnenkameras oder einer Videoschnittsoftware vergleichen lässt. Als mir klar wurde, dass ich mich John Cantlies Medieninhalten bediente, um seine Geschichte für ihn zu schreiben, musste ich die IS-Ausbeutung seiner Medienressourcen kritisch meiner eigenen gegenüberstellen. Etwa zu dieser Zeit wies mich Bernd Zywietz, als er von meinen Cantlie-Erkundungen erfuhr, auf Sophia Klewers Forschungsarbeit zu John ­

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Cantlie auf Basis des Konzepts der Parasozialität hin.12 Der Begriff, der definiert werden kann „as a kind of psychological relationship experienced by members of an audience in their mediated encounters with certain performers in mass media“ (Oxford Reference 2016)13 war mir neu. Er half mir, mein Interesse an Cantlie in erster Linie als ein Medienphänomen einzuordnen und eröffnete verschiedene Vorstellungen von Zuschauerschaft. Klewers Darstellung macht überzeugend bestimmte mediale Techniken und Gesten aus, die parasoziale Bindungen hervorrufen können. Sie wirft die Frage auf, ob er daran glaubt, was er vor der Kamera sagt, und kommt zu dem Schluss: „Obwohl wir diese Fragen letztlich nicht beantworten könnten, befördert doch allein das Nachdenken darüber unsere Beziehung zu Cantlie.“ Das traf auf mich mit Sicherheit zu. Gleichwohl denke ich nicht, dass mein Modus der Nachforschung im klassischen Sinne parasozial war. Dazu würde meiner Auffassung nach die Überzeugung gehören, eine genuine Vertrautheit mit der parasozialen Figur zu erleben oder zumindest ein suspension of disbelief, eine Aussetzung der Ungläubigkeit, dass diese Intimität anders als selbst kreiert oder konstruiert ist. Ich könnte für meinen Fall behaupten, dass ich eine kritische oder eine M ­ eta-Parasozialität erfuhr: dass mein Interesse, eine Verständnisbeziehung mit ihm zu bilden, bewusst nicht ihn oder seine Persona, sondern seine Medienbeiträge als Begegnungsort in den Vordergrund stellte. Und dass jegliche affektive Resultate meiner Annäherung an Cantlies mediale Spuren kritisch die (kulturellen, technologischen, historischen) Kräfte beleuchten würde, die das Herausbilden dieser affektiven Zustände ermöglichen. Mit anderen Worten, ich wollte Parasozialität selbst als ein Werkzeug verwenden: um meine kognitive Landkarte zu erstellen, um mein eigenes Bewusstseinsgebiet in seiner Reaktion auf Cantlie abzustecken, um die Kräfte, die diese Reaktionen formen, zu erkennen. Und es ging bei alldem darum, meine eigene kritische Fähigkeit, die Kontexte von Cantlies Zwangslage als Mensch und Medienartefakt nachzuvollziehen, zu erleben. Im Rückgriff auf die Frage, welche Agency ich in der Arbeit mit Cantlies medialen Spuren hatte, kam mir ein Gedanke in den Sinn: Wenn Kenneth Cantlie die Autorität hatte, ganze Schienennetzwerke in der Heimat meiner Vorfahren zu bauen, hatte ich dann nicht das Recht, meine eigenen Verbindungslinien auf der

12Der Autor bezieht sich hier auf eine frühe, unveröffentlichte Version von Sophia Maylin Klewers Artikel in diesem Band. Auch das nachfolgende Zitat stammt daraus. (Anm. d. Übersetzer). 13„Eine Art psychologische Beziehung zwischen Zuschauern und bestimmten massenmedialen Akteuren in der medialen Begegnung mit diesen.“

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Landkarte meiner parasozialen Annäherung an seinen Enkel zu ziehen? Mich befremdete der Unterton von Verbitterung, der in dieser Überlegung mitschwang: die Implikation, ich sei lange vor meiner Geburt irgendwie kolonialisiert worden, durch die Geschichte meiner Vorfahren und eines Unterworfenheitserbes, das ich für mich beanspruchen könnte. Das ist ein weiterer Unterschied zwischen klassisch zu nennender, durch affektive Dispositionen wie Verehrung oder Zuneigung charakterisierte parasoziale Beziehung und dem was ich erlebte – etwas, das Spuren von Groll und Antipathie gegenüber dem parasozialen Bezugsobjekt hatte. Jedoch ergab sich aus diesem Unterwerfungserbe auch eine ganz bestimmte Empathie, die mich Cantlie als jemanden sehen ließ, dem Worte in den Mund gelegt wurden und dessen Geschichte für ihn geschrieben wurde – nicht nur durch den IS, sondern durch sein kulturelles Erbe, seine väterliche Abstammung und jetzt durch mich. Ich war mir unsicher, ob mir eher Cantlie als ein unfreiwilliges und doch gefügiges Accessoire der kolonialen Geschichte seiner Familie erschien oder als eine Art Doppelgänger: als jemand, dessen Leben und Identität für ihn geschrieben worden waren wie, gefühlt, meine für mich. Was aus meiner eigenen, für mich geschriebenen Vergangenheit konnte ich aus der Erinnerung heraufbeschwören? Nachdem ich von der Idee des Untersuchungszugangs über Cantlies Familiengeschichte abgerückt war, arbeitete ich direkt mit IS-Videos und versuchte, seinen Auftritten durch den einfachen Akt der Geolokalisierung Sinn zu geben. Indem ich die Orte, die in den Videos gezeigt wurden, kartografierte, konnte ich seine Bewegungen durch den Nahen Osten nachvollziehen: Kobane an der nördlichen syrisch-türkischen Grenze, Mossul im Irak, Aleppo im westlichen Syrien. Zusammen ergaben sie eine grobe Karte der Territorien, die der IS zu jener Zeit besetzte. Dieses Bild der vom Krieg zerrissenen Nahostgebiete lösten in Verbindung mit Cantlies bedächtigem britischem Sprachstil Erinnerungen an einen meiner Lieblingsfilme aus meiner Teenagerzeit aus: Lawrence von Arabien mit Peter O’Toole als Titelhelden, der den arabischen Aufstand gegen die Osmanen im Ersten Weltkrieg auf eine romantische, draufgängerische Weise anführt und der sich mit weit weniger Erfolg für die Unabhängigkeit der arabischen Nationen einsetzt. Ich erinnere mich, wie ich O’Tooles Stimme noch monatelang nachahmte, nachdem ich den Film gesehen hatte. Es war eine perfekt bemessene Stimme, was ihren Klang und ihre Ausdrucksweise anbelangte, und doch hatte sie einen merkwürdig zögernden Rhythmus, der jemandem gehörte, der zu sehr in seine Gedanken verstrickt ist und davon träumt, normal reden zu können. Eine Stimme, die von sich selbst ein wenig irritiert ist, die sich vage darüber bewusst ist, nicht ganz dazuzugehören, ein Produkt des westlichen Imperialismus. Eine Stimme,

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die zugleich etwas ‚seitlich‘ gesprochen wird, als wolle sie ihre Vorgesetzten und all die kolonialen Anrechte, die sie umgaben, verspotten. O’Toole war der passende Rebell für den aufsteigenden Antiautoritarismus der 1960er Jahre, aber auch der eines Teenagers im Kalifornien der 1990er, der nicht ganz in die weiße Mainstream-Kultur hineinpasste und zugleich von seiner chinesischen Abstammung entfremdet war. Ich war wirklich verzaubert von seiner Stimme und dem, was ihr Besitzer suchte: eine Nahost-Robin-Hood-Fantasie über die radikale Umverteilung von Macht hin zu den Subjekten des Kolonialismus, den globalen Unterprivilegierten. Als ich den Film 1990 bei seinem Neustart auf einer riesigen Kinoleinwand sah, war dies eine Fantasie, die mich fesselte: Macht gegen sie selbst zu wenden.

5 Eine Karriere in Bildern Einige Monate nachdem ich Lawrence von Arabien als 70 mm-Projektion gesehen hatte, begannen die Fernsehgeräte in den Vereinigten Staaten körnige Live-Bilder einer anderen Fantasie aus dem Nahen Osten zu übertragen: Ein blutloser, schuldloser Krieg, der für den Heimkonsum live übertragen wurde. Woran ich mich von der Operation Desert Storm im Januar 1991 erinnere, sind, welche überwältigende Stellung sie in den populären Medien einnahm, mit kontinuierlichen Nachrichtenübertragungen und voyeuristischem Bildmaterial des Krieges in unvermeidlicher Unmittelbarkeit. Das technologische Wunder dieser Bilder – Nachtsichtaufnahmen von Luftschlägen gegen Städte und Kameraübertragungen aus der Perspektive von Raketen, die auf ihre Ziele niedergehen – und das Medienspektakel, das es hervorbrachte, kombiniert mit der hartnäckigen Rhetorik eines Krieges, hinter dem angeblich jeder stehen könne, präsentierte den Krieg als gebrauchs- und genussfertiges Unterhaltungsprodukt. Diese Erinnerungen kamen auf, als ich die früheste Mediendatei John Cantlies fand, die im Internet Archive verfügbar waren: SEGA Power Tips, worin er als Experte dafür dient, wie man dutzende Videospiele auf der SEGA-Heimkonsole spielt. Das Video wurde 1992 veröffentlicht, ein Jahr nach dem Zweiten Golfkrieg, und das Spiel, das darin zunächst lang und breit vorgestellt wird, ist Desert Strike, in dem der Spieler einen Militärhelikopter steuert und Missionen gegen einen nahöstlichen, Saddam Hussein nachempfundenen Warlord zu bewältigen hat. Aerial Attack Games sind eines der ältesten Videospielgenres und ihre Form vermittelt einen bestimmten visuellen kriegsrhetorischen Reiz: die Macht, Militäroperationen durchzuführen, aus einer überlegenen, ebenso erhöhten wie distanzierten Perspektive auf das Terrain, die dessen Besatzung impliziert.

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Während ich mir das Playthrough ansehe, lenkt Cantlies Stimme die Aufmerksamkeit, und ich bin erstaunt über die charismatische Selbstsicherheit in seiner Erzählweise, wie ein großer Bruder, der in ein Thema oder eine Praxis einführt. „Da gibt es eine Abfolge von Attacken, die jedes Mal funktioniert“, sagt er, während er eine Prozedur auf dem Bildschirm beschreibt, die für ihn bereits im Spiel vorkam und die für den Zuseher noch geschehen wird: Eine Bestimmung, die von einer Person zur nächsten weitergegeben wird. Er macht dies mit Dutzenden anderer Videospiele während des einstündigen Demonstrationsvideos. Zweiundzwanzig war er bei der Veröffentlichung des SEGA-Power-Tips-Videos. Wie viele Stunde muss er mit dem Spielen verbracht haben, um diese Form der Beherrschung zu entwickeln? Noch merkwürdiger ist die Einordnung dieses Videos in den Internet ­Archive-Suchergebnissen gleich neben seinen zwanzig Jahre später entstandenen ­IS-Aufnahmen. In der Videoreihe aus dem Jahr 2016 berichtet er aus Mosul im Irak, als die Stadt vom IS kontrolliert wird und die zurückzuerobern sich die irakischen und die Koalitionskräfte anschicken. Im Jahr davor hatte er die Weiten der vom IS kontrollierten Territorien bereist und die Tugenden des Lebens in einem aufstrebenden Islamischen Staat präsentiert. Die Videos von 2016 haben einen ganz anderen Tonfall, denn in diesen zeigt er den Schaden auf, den Koalitionsluftschläge in Mossul angerichtet haben und das Leid, das sie in der Bevölkerung verursachen. Wo er einst ein umherfahrender Reiseführer war, tritt er nun wie ein humanitärer Reporter auf, der die Angriffe des Westens als Kriegsverbrechen anklagt. In einem Video filmt ihn eine Drohne von oben, während sie die Landschaft zerstörter Gebäude um Cantlie herum überblickt. Es ist ein erschreckender Kontrast zu den Luftansichten, die er im Desert Strike-Videospiel beschrieb, in denen er auf ein zu beherrschendes Territorium herabblickte. Derjenige, der die Videospiel-Luftschläge des Iraks im Jahr 1992 bewältigte, endet nun selbst im Irak in Gefangenschaft – das ist eine allzu saubere Gedankenlinie, zumal sie fünfundzwanzig Jahre dazwischen überspringt und die Art der Pfade ignoriert, die ihn von einem Punkt zum anderen geführt haben mögen. Die YouTube-Suchergebnisse für John Cantlie ergänzen sein Bild um dutzende Videoclips, in denen er für Bikes Aloud, eine britische Kabelfernsehsendung, exotische Motorräder fährt. Die Show scheint nur eine Staffel lang gelaufen zu sein, doch sie macht vollen Gebrauch von Cantlies Talenten. Er liefert sich geistreiche Schlagabtausche mit seinen Ko-Moderatoren und lenkt verschiedene Motorräder auf Straßen und Teststrecken in Großbritannien und den USA. Einmal fährt er sogar ein Motorrad mit angeschnalltem Düsentriebwerk. Während seiner Testfahrten ist er in der Lage, die Erfahrung in Echtzeit zu erzählen und kombiniert dabei die Expertensprache eines Enthusiasten mit einer ebenso

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l­ebhaften, überschwänglichen Darbietung, die ein Laienpublikum anspricht. Es erinnert mich an sein zuversichtliches Erzählen der SEGA-Videospiele; eines von ihnen war sogar ein Motorradrennspiel. Jetzt ist da ein Körper, der zur Stimme passt; er ist völlig anwesend und beherrscht sowohl Technologie als auch das Narrativ, Bild und Wort, Raum und Zeit: Ein idealer medialer Akteur. Nahezu all diese Videos wurden von einem User namens geech 666 hochgeladen, begleitet von dem Hashtag #FreeJohnCantlie14 . Da YouTube die direkte Nachrichtenfunktion abgeschaltet hat, gab es keinen Weg, die Person direkt zu kontaktieren. Ich suchte weiter nach „John Cantlie“ und „Motorrad“ und entdeckte, dass er nach seiner Zeit als Moderator einer Motorradfernsehshow das Motorradmagazin Visor Down herausgab. Zur gleichen Zeit diente er Prinz William und Prinz Harry als Reiseführer während einer Wohltätigkeits-Motorradsafari durch Südafrika im Jahr 2008 (vgl. Malone ­ und Williams 2014). In Vorbereitung auf seine Tour veröffentlichte er einen Erkundungsbericht zur Strecke, der auf erfrischende Weise beginnt: Christ my body hurts. My left foot is broken in two places, swollen horribly and coloured black and green from bruising. My left thumb has been wrenched so far back that it’s barely mobile, and I have a bloody wound on my throat the size of a walnut. I’ve lost seven kilos in weight and this morning woke up with a livid red rash all over my body, courtesy of the tick bite fever virus coursing through my veins. The spider bite on my right knee has turned septic and throbs with pus and pain. Africa is a bloody tough country, and I fear that I may not be tough enough in return. I’m in South Africa, and I’m loving it.15 (Cantlie 2007)

Wenn ich diese Worte lese, kann ich nicht anders, als diese Beschreibung körperlichen Leids mit unerzählten Foltererfahrungen in Verbindung zu bringen,

14https://www.youtube.com/results?search_query=%23freeJohnCantlie;

Zugegriffen: 01.10.2019. 15„Himmel, tut mein Körper weh. Mein linker Fuß ist an zwei Stellen gebrochen, schrecklich angeschwollen und von Blutergüssen ganz blau und grün. Mein linker Daumen ist so stark nach hinten verdreht, dass ich ihn kaum bewegen kann, und ich habe eine blutige Wunde von der Größe einer Walnuss an meinem Hals. Ich habe sieben Kilo Gewicht verloren und wachte heute Morgen mit einem violett-roten Ausschlag am ganzen Körper auf, dank eines Zeckenbiss-Fiebervirus, der durch meine Venen jagt. Der Spinnenbiss an meinem rechten Knie ist septisch geworden und er pocht eitrig und schmerzhaft. Afrika ist ein verdammt hartes Land und ich fürchte, dass ich umgekehrt nicht hart genug sein könnte. Ich bin in Südafrika, und ich liebe es.“

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die er ein Jahrzehnt später als IS-Geisel erduldet haben mag. Haben diese Prüfungen seine Chancen verbessert, die Gefangenschaft zu überleben? Gleichzeitig bin ich von der Kombination aus Machismo und Masochismus in seiner Selbstbeschreibung ergriffen, die in ihrer Manier übertrieben wirkt, gar absurd. Er erinnert einen an den Bikes-Aloud-Ausschnitt, den ich auf YouTube fand. Darin lässt er sich, um die Qualität eines Lederschutzanzugs zu testen, an das Heck eines Fahrzeugs binden und an einem Seil über die Straße schleifen – alles, während er von der Erfahrung berichtet, wie sein Körper über den Asphalt schrammt, mit nur einer Schicht Leder dazwischen. „God, that feels good!“, schreit er – „Gott, das fühlt sich gut an!“16 Dieser Hang, von schweren körperlichen Strapazen zu erzählen, findet sich auch in einem weiteren Artikel, den er drei Jahre später in Libyen verfasste. Er scheint seine Karriere als Motorradjournalist aufgegeben zu haben, um Kriegsberichterstatter zu werden. In der Sunday Times berichtet er darüber, wie Rebellen Gaddafi-Loyalisten abwehrten, aber die Story wird zu einer Darstellung seines eigenen körperlichen Traumas: I was hit 10 days ago during a big push into western Sirte. Suddenly I was completely deafened. The roar of the guns went silent for a millisecond and I was left with a high-pitched ringing in my head. Blood obscured my sight. I found myself lying on the ground, blown backwards by the force of an explosion, amid rubble and broken glass as the men rushed over to look after me. Two of them, Mustafa and Karim, laughed good-naturedly at my appearance. They were amazed that I was still alive, my left eardrum apparently ruptured and shrapnel embedded in my arm and camera. They poured water on my wound as I lit a cigarette and pondered the absurdity of what had just happened (Cantlie 2011).17

16https://www.youtube.com/watch?v=GcYUiN_Hn8w

(Zugegriffen: 02.09.2019). wurde vor zehn Tage getroffen, während eines großen Vorstoßes in Richtung West-Sirte. Plötzlich war ich vollkommen taub. Das Gebrüll der Waffen war eine Millisekunde lang stumm und mir blieb nur ein hohes Klingeln in meinem Kopf. Blut verdeckte meine Sicht. Ich fand mich auf dem Boden liegend wieder, rückwärtsgestoßen durch die Kraft einer Explosion, zwischen Trümmern und zerbrochenem Glas, während die Soldaten herübereilten, um sich um mich zu kümmern. Zwei von ihnen, Mustafa und Karim, lachten gutmütig über mein Aussehen. Sie waren erstaunt, dass ich noch lebte, mein linkes Trommelfell war offenbar gerissen und Geschossteile in meinem Arm und meine Kamera eingegraben. Sie schütteten Wasser über meine Wunde, während ich eine Zigarette anzündete und über die Absurdität dessen nachsann, was gerade geschehen war.“

17„Ich

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Die Prosa folgt der Schule lakonischer, lebhafter Kriegsberichterstattung, wie sie Ernest Hemingway populär gemacht hat. Aber ich finde diese Sprache so dramatisch, dass sie eine Art Performance wird, ein Bild von sich, das er inszeniert, wie er es mit dem Afrika-Bericht und seinem Ledertest-Video getan hatte. Dieses Bild, das immer wieder produziert: wie aufführungshaft ist es, dass es, indem es zur Repräsentation wird, zugleich er ist und doch wieder nicht? Diese Fragen kehren wieder, als ich daran denke, dass seine gegenwärtige Gefangenschaft im IS sogar das zweite Mal ist, dass er von der Terrorgruppe innerhalb eines Jahres gekidnappt wurde. Nach seiner ersten Gefangennahme und seiner Flucht im Sommer 2012 kehrte er gemeinsam mit dem US-amerikanischen Journalisten und Videoreporter James Foley nach Syrien zurück, angeblich um einen Film über Cantlies erste Geisel-Erlebnisse zu machen (vgl. Callimachi 2014; Sideways Film o. D.). Videospiel-Playthrough-Pionier, Magazinautor, Fernsehmoderator, Kriegskorrespondent, Sprecher für jihadistische Propaganda. Wie viele seiner Worte können als ein Verlangen verstanden werden, ein Bild von sich zu entwerfen, das bemerkenswert ist, eines, das sich gegen die gerühmten Vermächtnisse seiner Familienvergangenheit behaupten kann? Während ich nach weiteren Worten und Fotos von ihm suchte, um das Bild seiner Karriere zu vervollständigen, stieß ich schließlich auf einen Link, der die Verbindung für mich herstellte: sein LinkedIn-Profil.18 Das scheint im Rückblick naheliegend, aber ich hatte schlicht nicht daran gedacht, im weltweit führenden Sozialen Netzwerk für Berufskontakte nach Informationen über ihn nachzusehen. Dort finde ich nicht nur eine von ihm selbst verfassten beruflichen Lebenslauf, sondern auch seine eigenen Worte, in denen er einmal mehr das Bild eines aufstrebenden Medienakteurs mit entscheidenden Lernerfahrungen bei jeder Berufsstation entwirft. Ich erfahre, dass er nur ein Jahr das College besuchte, bevor er für das Computerspiel-Magazin zu arbeiten begann. Das war in der Zeit, als er im Sega-Instruktionsvideo auftrat. „Computer games magazines were the perfect training ground for a young journalist to cut his t­eeth“19 , ist die Erkenntnis aus dieser Phase. Von da an berichtet er über Motorräder, Lifestyle für Männer

18Das

Profil ist nach wie vor abrufbar unter https://www.linkedin.com/in/johncantlie-81992726 (zugegriffen: 01.09.2019). 19„Computerspiel-Magazine waren der perfekte Übungsplatz für einen jungen Journalisten, um erste eigene Erfahrungen zu sammeln.“

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und Reisen: „I learned what it means to be a ‚proper‘ journalist and I tackled difficult stories that took persistence to achieve.“20 Über seine Zeit beim Fernsehen schreibt er: „‚Bikes Aloud‘ became the UK’s m ­ ost-watched bike show with an audience of 300,000 per week.“21 (Warum aber gab es von ihr dann nur eine Staffel?) Bei seinem letzten Job als Visor Down-Redakteur formuliert er ein Karriereergebnis, das bei mir auf Resonanz trifft: „to produce the first truly ­cross-media motorcycling platform in the industry.“ Damit kann ich etwas anfangen, denn der neuartige Begriff „Cross-Media“ beschreibt mein eigenes Fachgebiet als Professor für Crossmedia Publishing. Das ist ein Begriff, den ich nicht mal kannte als ich von der Professur erfuhr, aber mir wurde gesagt, er passe zu meinem Background im Bereich Journalismus, Filmmachen und Online-Medien-Produktion. Für mich waren es nur einige Wochen von der ­ Bekanntschaft und Aneignung des Begriffs bis zu dem Moment, da ich ihn den Studierenden zu vermitteln hatte, die selbst nur eine vage Vorstellung von seiner Bedeutung hatten: irgendwas, das mit dem Herstellen und Veröffentlichen von Inhalten in verschiedenen Medien zu tun hat. Ein so offenes Konzept klingt in seiner Abstraktheit zunächst bestärkend. Aber ein Punkt, den ich ihnen einschärfte, war, dass diese Art multimodaler Arbeit noch mehr Koordination und Hingabe erforderte als die in oder mit nur einem Medium. Anders gesagt, es braucht mehr Selbst-Management, um einen höheren Grad von Handlungsfähigkeit zu erlangen. Um sie dabei zu unterstützen, ihre eigene Agency zu realisieren, stellte ich sie vor die Herausforderung, ihr eigenes Projekt zu wählen, um es innerhalb von dreißig Stunden zu entwickeln. Mir selbst gab ich dieselbe Aufgabe, als Zeichen der Solidarität, zur Demonstration wie es gemacht werden kann und um meine konkurrierenden Pflichten der Lehre und der Forschungsarbeit an meinem eigenen Film miteinander zu verbinden. In der letzten Seminarstunde stellten die Studierenden die Ergebnisse zu ihren Wunschprojekten vor, darunter: das Drehen eines Musikvideos für ihre eigene Hip-Hop-Nummer; die Produktion eines viralen Skateboard-Videos; das

20„Ich

lernte, was es bedeutet, ein ‚richtiger‘ Journalist zu sein und ich ging schwierige Stories an, die Hartnäckigkeit erforderten.“ 21„‚Bikes Aloud‘ wurde zur meistgesehenen Motorradshow in Großbritannien mit einem Publikum von 300.000 pro Woche.“

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Anfertigen eines perfekten Speedrun-Videos, in dem man ein Videospiel in möglichst kurzer Zeit abschließt. Die Ergebnisse laufen auf eine Übersicht deutscher, spätjugendlicher Medienambitionen hinaus, die auf LinkedIn angeführt werden würden oder auf einer zukünftigen Version einer solchen Seite, auf denen die stets aufstrebenden Karriereerzählungen vermerkt sind. Nachdem die Studierenden ihre Projekte vorgestellt hatten, zeigte ich ihnen mein Video, einen Rohschnitt von etwa fünfzehn Minuten. Nach fünf Minuten hielt ich es an. Während es lief, konnte ich eine immer größere Distanz zwischen ihnen und dem, was ich ihnen zeigte, spüren, und dass sie nicht wirklich wussten, wie sie auf die Schwere des Themas reagieren sollten. Ich wünschte, ich wäre in der Lage gewesen, meinen Studierenden mitzuteilen, was ich nun an dieser Stelle hier, in diesem Text, zu artikulieren versuche – was vermittels der näheren Betrachtung von John Cantlies Berufsweg über all unsere Bestrebungen nach einer Art persönlichen oder beruflichen Erfüllung durch Medienaktivitäten enthüllt wird. Es hat Wochen, wenn nicht Monate gedauert, dieses Bild von ihm zu entwickeln, ein Bild, das zu entwickeln ihn selbst Jahre kostete, das eines „Crossmedia“-Akteurs: Jemand, der schreibt, der Videos macht, der sich selbst in einer Vielzahl von Situationen furchtlos präsentiert und von diesen mit Leichtigkeit berichtet. In seinem ganzen Leben ging es darum, auf die ein oder andere Weise eine ideale Medienrolle zu repräsentieren: der ideale Videogame-Spieler, der ideale Motorradfahrer, der ideale IS-Sprecher.

6 Jahre zu Stunden Ich denke über die Stunden und Jahre nach, die er in jeder dieser Rollen verbracht hat, und wie viele dieser Stunden zu Medienmaterial umgewandelt wurden, das ich während dutzender Stunden über mehrere Monate hinweg interpretierte und rekonstruierte. Es gibt grob zwei Stunden IS-Video-Material von ihm. Eine weitere Stunde mit Clips seiner Motorrad-Fernsehshow ist auf YouTube verfügbar sowie eine Stunde der Videospiel-Playthroughs aus dem Jahr 1992. Obwohl meine Destillation dieser Medientexte bei meinen Studierenden nicht gut ankam, beeindruckte sie doch ein Aspekt meiner Präsentation, nämlich eine Textdatei mit dem Titel 30 h über John Cantlie. Diese Datei beschreibt detailliert meine Erledigung der dreißigstündigen Seminaraufgabe. Es sollte ihnen zeigen, wie das Zeit- und Tätigkeitsmanagement bei der eigenen Medienprojektarbeit aussehen kann.

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Mi, 14. März: Herunterladen von Videos und Vorfahren-Archivmaterialien von archive.org (4 Std.) Mo, 9. April: Herunterladen von Motorradvideos, YouTube-Videos, Download von Tank Hunters, Telegram-Chat (3 Std.) Do, 12. April: 30-Stunden-Herausforderung beginnt Fr, 20. April: Nachforschungen zu Sir James Cantlie, Drehbuchrevision (6 Std.) So, 22. April: Online-Nachforschungen über Cantlies Texte, Drehbuchrevision (4 Std.) Mo, 23. April: Drehbuchrevision (3 Std.) Di, 24. April: Drehbuchrevision (3 Std.) Mi, 25. April: Dabiq (2 Std.) Sa, 28. April: Software-Auswahl (4 Std.) So, 29. April: Screen Recording (4 Std.) Mo. 30. April: Überarbeitung (4 Std.) Di, 1. Mai: Überarbeiten der letzten 3 Teile (4 Std.)

Als ich meine Forschungserfahrungen mit Chloé besprach, machte sie eine beunruhigende Beobachtung: Wie viele Stunden der Nachforschungen, des Verhörs und der Folter hatte wohl der IS benötigt, um John Cantlie in den Griff zu bekommen? Was, wenn ich nicht die erste Person war, die diese Nachforschungen durchgeführt hatte? Was hat es zu bedeuten, dass das, was ich tue, eine Annäherung an ähnliche Nachforschungen durch den IS darstellt – Nachforschungen des IS, um mehr über seinen Gefangenen zu erfahren, als eine Art und Weise, ihn als mediales Werkzeug zu verstehen: wie er als medialer Akteur eingesetzt worden war und wie sie nun von ihnen instrumentalisiert werden könnte? Sein Leben und sein Berufsweg werden zu Material, das konsumiert, verarbeitet, umfunktioniert, ausgeschlachtet werden kann: ein medialer Kolonialismus. Doch da ist immer noch etwas an seiner medialen Präsenz, das sich diesem Prozess widersetzt; bestimmte Videos und Auftritte, die ich nicht in meinen 15-minütigen Bericht über seine 25 Jahre in den Medien einarbeiten konnte. Der, der für mich der schwierigste ist, ist sein letzter Auftritt in einem IS-Video – seine letzten bekannten Auftritte überhaupt –, den ich hier widerzugeben versuche.

7 Letzte Auftritte Dieses Video mit dem Titel Tank Hunters wurde im Dezember 2016 veröffentlicht, einen Monat bevor ich zuerst von Cantlie erfuhr. Es ist ein Propagandavideo von fast einer Stunde Laufzeit, das die Guerillataktiken des IS bei der Zerstörung

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von Panzern durch Raketenwerfer feiert. Cantlie hat nur drei Auftritte in dem Video. Der erste, nach etwa fünfzehn Minuten, weist ihn nicht namentlich aus und zeigt ihn von hinten in einem dunklen Raum, über seine Schulter hinweg sehen wir einen Propagandafilm auf einer riesigen Leinwand laufen. Es ist, als säßen wir hinter ihm in einem Kino, dem Zuschauer zuschauend. Soll er ein Stellvertreter für die Betrachter des Videos sein? Oder ist er ein Betrachtungsbegleiter, der als Führer fungiert, so, wie er es während seiner Laufbahn durchweg war? Oder sind es wir, die nun ihn begleiten? Die Aufnahme von ihm, wie er zusieht, scheint für zahllose Stunden zu stehen, die er während der vergangenen vier Jahre der Gefangenschaft verbracht hat, gezwungen, sich eine Unzahl an ­IS-Videos in der Dunkelheit anzusehen. Werden wir auf diese Weise Zeuge der verbrachten Zeit, in der er als IS-Mediensubjekt indoktriniert wurde? Was, wenn dieser Modus parasozialer Zuschauerschaft die Absicht der Videoproduzenten wäre? In einer späteren Sequenz sitzt er vor einem Laptop, auf dem ein Video läuft. An einem Höhepunkt drückt er die Pause-Taste des Videos; die Sequenz springt zu einer Aufnahme von ihm, wie er direkt in die Kamera blickt. Er spricht, macht abfällige Bemerkungen über die irakischen Panzertruppen. „They watch movies and they think they’re Rambo, but they have no heart. They have no strength.“ Seine Worte werden in hohler Monotonie rezitiert. Seine Erscheinung ist erschreckend dünn und gebrechlich. Er trägt nicht den orangefarbenen Gefangenen-Overall seiner ersten IS-Filmreihe, auch nicht den zivilen Aufzug seiner IS-Reiseberichte. Er trägt schwarze Kleidung, die mit der stark unterbelichteten Umgebung verschmilzt, als ob er jeden Moment von der ihn umhüllen Dunkelheit verschluckt werden würde. Aber einige Augenblicke später bringt eine holprige Blende ihn ins Tageslicht und er befindet sich inmitten eines Schlachtfelds. Es ist, als habe er die Tür einer Kino-Gefängniszelle geöffnet, in der er einen Propagandakriegsfilm vorgeführt hätte, und sei nun auf den Kampfschauplatz getreten, auf dem der Film gedreht wurde. Ist es ein Schlachtfeld oder ein Filmset? In seinem Kommentar klingt die Ambiguität mit: „It looks like a scene from a Steven Spielberg film“. Er nimmt wieder die abgenutzte Rolle des Vorort-Berichterstatters ein, wenn auch sein Auftreten nicht überzeugt. Er trägt einen Helm, der ihm zu groß scheint und zu schwer, sodass er droht, den zerbrechlichen Körper zusammenbrechen zu lassen. Er führt seinen Monolog auf wie einen orientierungslosen Bewusstseinsstrom, viel schlaffer und freilaufender als die flinken, sekundengenauen Berichte seiner Motorradtestfahrten von vor zwölf Jahren. Sein Blick wandert umher, als würde er ständig darauf reagieren, was vor ihm ist – dies alles, während er

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v­ersucht, das sich ihm eröffnende Bild mit den ihm vorgegebenen Kernargumente für die Unterlegenheit des Gegners in Einklang zu bringen. Er spricht von der Kriegsbeute, erbeuteten Panzern und Vorräten, alles um ihn herum, das noch sinnvoll genutzt werden wird. Seine Stimme ist ein Beispiel dafür; sie verwertet, worauf auch immer sein Blick fällt. In der letzten Aufnahme von ihm steht Cantlie über einem toten irakischen Soldaten, dessen Kopf von einer Kugel aufgerissen wurde. Er geht neben ihm in die Hocke und kündigt an, dass dieses Schicksal alle erwartet, die sich gegen den IS wenden. Einen Monat später erobern die Koalitionskräfte die Stadt wieder zurück. Cantlies Entführer fliehen oder werden besiegt. Er selbst wird nicht gefunden. Aber in diesem letzten Video mit ihm ist er am Leben. Wir wissen das, weil wir ihn sehen und hören können. Er scheint kaum präsent, ein Phantom seines eigenen früheren Selbst, aber solange er redet, ist er immer noch ein Stück weit er selbst: ein Verstand, verbunden mit einer Stimme, angetrieben von dem Drang, sich als Bild zu präsentieren und Worte zu sprechen. Er ist und war stets ein Sprecher, ein Wortführer – ein spokesman.

8 Coda: Ein alternativer Titel Bevor Chloé und ich uns auf den Titel The Spokesman für das Cantlie-Video festlegten, gab es noch einen anderen, den wir in Betracht gezogen hatten: A Guide To Be Driven (etwa: „Ein Ratgeber, gefahren zu werden“). Der Titel beinhaltet mehrere Bedeutungen, zumindest für mich. Die ersten Worte spielen auf Cantlies lebenslange Rolle als Ratgeber, Fremden- oder Reiseführer an: ein ­Videospiel-Playthrough-Kommentator, ein motorradfahrender Fernsehmoderator, ein Kriegskorrespondent und ein IS-Sprecher. To Be Driven bezieht sich vordergründig auf seinen lebenslangen Trieb, die selbst gesetzten Limits dessen, was er beruflich und körperlich ertragen kann, zu überwinden, was letztendlich in seiner Unterwerfung durch Gefangenschaft kulminierte. Paradoxerweise sieht die Verbform ein passives Subjekt vor, als ob er eher das Fahrzeug wäre statt der Fahrer. Dies erinnert an das Bild von Cantlie als einem medialen Vehikel, das vom Islamischen Staat gefahren (oder angetrieben) wird. Es liegt auf der Hand, dass zu viele Bedeutungen in diesem Titel angelegt waren, die nach einer Erläuterung wie dieser hier verlangt hätten. The Spokesman bot sich als pragmatische, wenn auch fade Alternative an. Dieser andere Titel hat für mich aber noch eine persönlichere Bedeutung, denn sie verweist auf einen Begriff, den der Filmkritiker Kent Jones benutzte, um eine Spannung im narrativen Filmemachen des späten 20. Jahrhunderts

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zu beschreiben: „the simultaneous feeling of driving and being driven“ (Jones 2003, S. 9). Jones bezieht sich auf seine Erfahrungen als Teenager, als er mit eingeschaltetem Radio Auto fuhr: die ästhetische Erfahrung der Bewegung durch eine Landschaft, während er durch Medien bewegt wird – innere und äußere Landschaft vermengen und laden sich gegenseitig auf. Während Jones mit diesem Gefühl die Arbeiten einiger seiner Lieblingsregisseure dieser Ära beschreibt, spiegelt sich darin stärker der zeitgenössische post-kinematische Zustand der medialen freien Agency wider, in dem John Cantlie, ich selbst wie so viele andere uns wiederfinden: im Gebrauch von Medien zur Ausgestaltung und Definition unserer Leben und Welten, so wie wir von ihnen definiert worden sind. Was bleibt von diesem drive, dem Drang nach Freiheit, dieser Aspiration nach Handlungsmacht? Ein Medienarchiv, dessen Inhalte nicht nur umgehend und erneut gesichtet oder gehört werden können, sondern auch umfunktioniert, rekontextualisiert, neugestaltet, so wie ich es mit John Cantlies Medieninhalten gemacht habe und andere es mit meinen werden tun mögen? Was bleibt von uns dauerhaft, als Wissensbestand? Womöglich aus Reaktion auf diese Fragen habe ich über Ebay sowohl eine DVD der Bikes Aloud-Fernsehserie erworben wie auch eine VHS-Kassette des SEGA Power Tips-Video. Ich besitze nicht mal einen DVD-Player oder einen Videorekorder. Aber irgendwie gibt der bloße Umstand, diese Artefakte in meinem Besitz zu haben, meinen Nachforschungen erneut Halt in einem Sinn für das Reale, das Materielle, das nicht so einfach ab- oder umgewandelt werden kann. Als ob, zumindest für mich, diese Objekte für einen Körper stehen könnten, der vermisst bleibt, und dessen Abwesenheit mich hat fragen lassen, was die Stunden und Jahre meines eigenen Lebens prägen mag. Aus dem Englischen übersetzt von Bernd Zywietz und Yorck Beese. Mit freundlicher Unterstützung von Volker Pantenburg.

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Medienakteure. Parallele Fragmente

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Kevin B. Lee, Filmmacher, Medienkünstler, Filmkritiker und Professor für Crossmedia Publishing an der Merz Akademie, Stuttgart. Er hat über 360 Videoessays zu Film and Medien produziert. 2017 Artist in Residence des Harun Farocki Instituts in Berlin. Für seine laufende Arbeit über medialen Terrorismus wurden er und Chloé Galibert-Laîné mit dem 2018 Sundance Institute Art of Nonfiction Grant, der 2018 European Media Artist Platform Residency und dem 2019 Eurimages Lab Project Award des Karlovy Vary International Film Festivals ausgezeichnet.

Framing terroristischer Medieninhalte: Eine videografische Autoethnografie Chloé Galibert-Laîné

Zusammenfassung

2016 stößt Chloé Galibert-Laîné auf ein von IS-Schergen aufgenommenes Video auf YouTube, das gedemütigte Kriegsgefangene beim Marsch durch die Wüste zeigt – Männer, die 2014 zu Opfern des ‚Tabqa-Massakers‘ wurden. In dem Beitrag beschreibt die Autorin die ethischen Herausforderungen, die das Bildmaterial in seiner Verbreitung darstellen, sowie ihre Bemühung, sie zwischen dem Status als Augenzeugenbericht, Propaganda und Folter- oder Terrorvideo einzuordnen. Ausführungen von Judith Butler und insbesondere ihr Framing-Konzept bieten hierbei eine Hilfestellung. Daran anschließend beschreibt sie, wie sie für sich das Videoessay bzw. dessen Erstellung als Möglichkeit und Methode autoethnografischer Forschung entdeckt, und reflektiert deren entsprechendes Potenzial in der Auseinandersetzung mit und dem Sprechen über derart problematisches Medienmaterial. Schlüsselwörter

Propaganda · ‚Islamischer Staat‘ · Gewaltdarstellung · Judith Butler · Susan Sontag · Video-Essay · Bildethik · Journalistische Verantwortung · Folteraufnahmen · Terrorismus · YouTube

Aus dem Englischen übersetzt von Bernd Zywietz C. Galibert-Laîné (*)  Ecole normale supérieure de Paris, Paris, Frankreich E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 B. Zywietz (Hrsg.), Propaganda des „Islamischen Staats“, Aktivismus- und Propagandaforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28751-1_12

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1 Einleitung To encounter the precariousness of another life, the senses have to be operative, which means that a struggle must be waged against those forces that seek to regulate affect in differential ways. The point is not to celebrate a full deregulation of affect, but to query the conditions of responsiveness by offering interpretive matrices for the understanding of war that question and oppose the dominant interpretations— interpretations that not only act upon affect, but take form and become effective as affect itself (Judith Butler 2009, S. 52).

Das Video war das erste Ergebnis, das der YouTube-Algorithmus vorschlug, als ich nach den Worten „propagande état islamique“ im Sommer 2016 suchte. Es war zwei Jahre zuvor hochgeladen worden, am 28. August 2014, unter dem Titel Vidéo: l’Etat islamique humilie et exécute des soldats syriens („Video: Der Islamische Staat demütigt und exekutiert syrische Soldaten“). Das Video dauert sechs Minuten und zeigt über hundert Männer, die gezwungen werden, bis auf die Unterwäsche nackt durch die Wüste zu laufen. Ihre Prozession wird überwacht von vollständig bekleideten und schwerbewaffneten IS-Militanten: einige gehen zu Fuß, andere fahren Lkws, rufen herabsetzende Befehle in die Richtung der Gefangenen. Der Anführer der Prozession schwenkt die schwarze Fahne der Terrororganisation. Nach der Bewegungsfreiheit der Person zu schließen, die die Kamera hält (höchstwahrscheinlich ein Smartphone), ist das Video zweifellos von einem der Folterer gefilmt worden. Als ich die Bilder zum ersten Mal sah – von diesen Männern, die ich später als in der Schlacht um den ­Al-Tabqa-Luftwaffenstützpunkt1 Gefangen identifizierte – war es nicht ihr schrecklicher Inhalt, der mich schockierte. Es war der Name des Kanals, der es hochgeladen hatte: Les Observateurs France 24. Zu dieser Zeit sagte mir Les Observateurs schon etwas, ein ­Citizen-Journalism-Netzwerk, das durch den staatlich finanzierten Sender France 24 unterstützt wurde und gemäß seiner eigenen Website „cover[s] international current affairs by using eyewitness accounts from […] people who are at the heart of an event“.2 Ich wusste genug über den Sender, um zu verstehen, wieso er das Video hochgeladen hatte: es war unzweifelhaft der ‚Augenzeugenbericht‘ eines international berichtenswerten Ereignisses. Keine Aufnahmen

1Nachdem

sie den Militärflughafen am 24. August eingenommen hatten, folterten und töteten IS-Milizionäre über 160 gefangene syrische Soldaten. Weitere Informationen dazu finden sich auf der Website des Syrian Observatory for Human Rights: http://www.syriahr. com/en/ (Zugegriffen: 06.08.2019). 2https://observers.france24.com/en/static/about (Zugegriffen: 06.08.2019).

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davon waren verfügbar, außer der visuellen Reportage, die die Terroristen selbst hergestellt hatten. Ohne Möglichkeit zu jener Zeit Berichterstatter in die vom IS kontrollierten Gebiete zu schicken, blieb France 24 (wie den meisten internationalen Nachrichtensendern) keine andere Wahl, als auf die Medieninhalte zurückzugreifen, die die Terrororganisation produzierte und für die sie elaborierte ­Faktencheck-Techniken entwickelt hatten.3 So sehr ich aber den Kerngedanken hinter der Veröffentlichung des Videos durch Les Observateurs nachvollziehen konnte, war ich doch geschockt, dass das zugänglichste IS-Video im ganzen französischsprachigen YouTube ohne Kontextualisierung und kritische Einordnung (kein Voiceover, kein Laufband, keinerlei Kommentierung in welcher Form auch immer) von einem durch den französischen Staat geförderten Sender präsentiert wurde. Das Video war einfach da, verfügbar für alle und es hatte schon 400.000 Views zu verzeichnen (s. Abb. 1). Als ich das Video erneut betrachtete, fragte ich mich: Ist es terroristische Propaganda? Ist es Graswurzel-Journalismus? Kann es womöglich beides zugleich sein? Heißt das, dass die Bedeutung des Videos von der Benutzeroberfläche abhängt, in die es eingebettet ist, oder ist die terroristische Absicht seiner Herstellung irgendwie, unauslöschlich, den Bildern eingeschrieben? Kann Les Observateurs das Video einfach als Nachrichtenmaterial verbreiten, ohne für die Unterstützung der terroristischen Agenda, die hinter der Produktion und anfänglichen Distribution steht, zur Verantwortung gezogen zu werden? Als ich die verschiedenen Plattformen durchsuchte, in denen das Video im Laufe seines Online-Lebens rekontextualisiert worden war, verschob sich meine Untersuchung weg von der Frage nach der Ontologie (Was ist das Video?) und hin zu den kontextuellen Prozessen der Bedeutungskonstruktion (Wie verändert ein sich wandelnder Kontext die Einordnung und Auffassung des Videos durch die Zuschauer*innen?). Mit Judith Butler gesprochen: Ich begann die verschiedenen Frames zu untersuchen, die über die Jahre zur unbeständigen und angesammelten Bedeutung des Videos beigetragen haben, wobei ich akzeptieren musste, dass aufgrund dessen, was die Bilder zeigen, diese Frames notgedrungen „politisch gesättigt“ („politically saturated“ – Butler 2009, S. 1) waren. Das führte zur Produktion eines siebzehnminütigen desktop-basierten videografischen Essays, in dem ich meinen Forschungsprozess erzählerisch aufbereitete und meine eigenen kognitiven und affektiven Reaktionen auf das IS-Video erkundete, beginnend mit der ersten Begegnung auf dem YouTube-Kanal von Les Observateurs.

3Ihre

Methoden beschreiben sie auf ihrer Website: https://observers.france24.com/fr/tag/ guide-verification (Zugegriffen: 06.08.2019).

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Abb. 1   Screenshot des Videos im YouTube-Kanal von Les Observateurs France 24 (erstellt im Februar 2019 durch die Verfasserin)

Das Ziel dieses Beitrags ist, über die Anfertigung dieses autoethnografischen Videos zu reflektieren, das ich als Beitrag zur kollektiven Bemühung, Propaganda der Gruppe Islamischer Staat zu dokumentieren und zu analysieren, einordnen möchte. Die ersten zwei Teile berichten von meinen Schwierigkeiten, die ethischen Probleme zu erkunden, die sich aus der Aneignung des ­IS-Videos durch verschiedene journalistische Plattformen ergeben. Anschließend beschreibe ich die von mir gewählte Methode der Videoessay-Erstellung und diskutiere die ethischen Fragen, die wiederum durch meine Re-Appropriation desselben terroristischen Videos aufgeworfen werden. Ich hoffe, dadurch einen Beitrag zur laufenden Debatte über die Verantwortung von journalistischen Nachrichteninstitutionen und anderen Medienschaffenden zu leisten, was die

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Wiederverwendung von terroristischem Medienmaterial betrifft. Zudem möchte ich Einblicke in die Möglichkeiten autoethnografischer und videografischer Methoden im Kontext der Terrorismusmedienforschung bieten.

2 Hinein in die ontologische Sackgasse – und wieder heraus Im Bemühen, angemessene theoretische Werkzeuge zu finden, mit denen ich die Art meiner Schwierigkeit mit (und meines Interesses für) das beschriebene IS-Video formulieren konnte, recherchierte ich bestehende Literatur zu audiovisueller Propaganda. Schnell wurde klar, dass einige meiner Probleme darin lagen, dass das Video nicht den gängigen Kriterien für Propaganda entsprach. In ihrer Literaturübersicht des häufig zitierten Aufsatzes Understanding Propaganda aus dem Jahr 2002 stellt Sheryl Tuttle Ross fest, viele Forscher*innen würden eine Persuasionsabsicht als primäre Bedingung für den propagandistischen Charakter eines Medienbeitrags ansehen – eine Bedingung, die sie selbst für ihr Vier-Kriterien-Modell übernimmt (vgl. Tuttle Ross 2002, S. 17 ff.). Allerdings fehlt diese rhetorische Komponente in dem Video auf dem ­Les-Observateurs-Kanal. Im Gegensatz zu vielen IS-Produktionen mit einer Fülle von verbalen und audiovisuellen rhetorischen Argumenten scheint dieses spezifische Video sein Hauptziel nicht in der Verbreitung einer ideologischen Botschaft zu haben. Wenn diese elaborierteren Videos einsetzen, was Jens Eder in seinem Versuch der Kategorisierung verschiedener affektiver Strategien aktivistischer Medienbotschaften, „visual narration“ und „visual argumentation“ nennt (vgl. Eder 2017, S. 72 ff.), dann scheint das unbearbeitete Smartphone-Video näher an dem, was Eder „exhibition of evidence“ (ebd., S. 71 ff.) nennt. Es ist mit einer handgeführten Kamera holprig gefilmt, von einem ‚Kameramann‘, dessen hektische Bewegungen weitgehend improvisiert sind, als würde er versuchen, soviel wie möglich vom Geschehen in der Szenerie um ihn herum einzufangen. Dadurch wird der Bildausschnitt sehr unruhig (Abb. 2a–c) und erzeugt eine starken „Realitätseindruck“ (vgl. Metz 1975; Leperchey 2010). Es ließe sich einwenden, dass eine Form impliziter ‚Persuasionsintention‘ in der Veröffentlichung des rohmateriellen Dokuments durch die Terroristen gegeben ist. Doch dann wäre zu klären, wovon genau die Betrachter*innen durch das Video überzeugt werden sollen. Dass der IS mächtig genug ist, hundert Soldaten der syrischen Armee gefangenzunehmen und zu foltern, und deshalb zu fürchten ist? Dass seine Gewalt legitimiert ist und daher bewundert werden soll? Schwer zu sagen. Das Video selbst gibt zumindest explizit keine

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Abb. 2 a–c:   Drei Screenshots des untersuchten Videos (TC:00:01:01; 00:01:10; 00:04:07)

Auskunft darüber. Es liefert nur den Beweis der Gewalt. Zur Kategorie von ­Aktivismus-Medienformaten, die er „Zeugenvideos“ („witness videos“) nennt, schreibt Eder: The […] forms [dieser Videos] mostly depend on circumstance and their meaning on viewers’ varying interpretations, but their worlds contain strong, highly intersubjective cues of violent or non-violent events and often imply moral transgressions that force viewers to take sides (Eder 2017, S. 71).

Der Satz unterstreicht die fundamentale Ambiguität von Zeugenvideos: Abhängig von den persönlichen Sichtweisen und dem moralischen Werten, so der Autor, wird dasselbe Video als Entschuldigung oder als Anklage der gezeigten Szenen interpretiert. Als ich diesen Text entdeckte, schien er mir ein nützlicher Rahmen, um zu verstehen, wie das untersuchte Video ursprünglich von IS-Militanten publiziert und später von Mainstream-Nachrichtensendern als Informationsmaterial umfunktioniert wurde. Denn es hat keine explizite ideologische Aussage, keine feste Bedeutung und kann verschiedenen Agenden dienen. Folglich war es nicht als Teil der Propaganda aufzufassen, sondern lediglich als Augenzeugenbericht –

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einer, von dem journalistische Berichterstattung wie Propagandadiskurse zehren konnten. Wie akkurat dieser Rahmen jedoch die wechselhafte Online-Existenz des untersuchten Videos auch zu erklären scheint, so stellt er sich mir schnell als ungenügend heraus, den geistigen und affektiven Schock zu erfassen, den ich auf der Les-Observateurs-YouTube-Seite erfahren hatte. Nachdem ich Eders Text noch einmal gelesen hatte, begann ich mich unwohl zu fühlen, ein theoretisches entworfenes System für „Zeugenvideos“ (ein Begriff, den auch Les Observateurs benutzten, um die Amateurbilder zu beschreiben) einzusetzen, um damit über etwas zu reflektieren, das treffender mit Foltervideo beschrieben ist. Tatsächlich sind ja, wie ich eingangs erwähnte, die Bilder von einem der Terroristen aufgenommen. Mehr noch, den Mann, der die Kamera führt, hören wir stellenweise selbst Befehle in Richtung der Gefangenen rufen. In diesen kurzen Momenten scheint er das Geschehen ebenso zu inszenieren und zu dirigieren wie er es dokumentiert. Macht es unter diesen Bedingungen noch Sinn, von ihm als einem Augenzeugen zu sprechen? Je aufmerksamer ich das Video untersuchte, desto mehr Gründe fand ich, diese Interpretationsweise zu verwerfen. Bei genauer Betrachtung der pixeligen Oberfläche entdeckte ich mindestens vier weitere IS-Milizionäre, die dieselbe Szene zur gleichen Zeit filmten, sowohl mit Smartphones wie mit Digitalkameras (s. Abb. 3a–d). Das ließ keinen Zweifel daran, dass die Organisation Islamischer Staat absichtsvoll die Folterszene dokumentiert sehen wollte.4 Von hier aus war es nur ein kleiner Schritt zum Gedanken, dass die Szene organisiert worden war, damit diese schockierenden Bilder davon gemacht und im Internet verbreitet werden konnten. Bis zu einem gewissen Maß ließe sich der Akt des Filmens sogar selbst als Teil der psychologischen Folter der Gefangenen betrachten, denen sicher bewusst war, dass die Bilder ihrer Erniedrigung nach ihrem Tod breit zirkulieren würden. Ist es denn möglich, ein Video als Augenzeugenbericht zu analysieren, wenn seine Herstellung selbst einen solch essenziellen Anteil in den von ihm dargestellten Ereignissen hatte? Ein Video, das ein Ereignis dokumentiert, welches ohne die Kameras womöglich nicht stattgefunden hätte?

4Gemäß

der Zeugenaussage eines Mannes, der angeblich in die Dreharbeiten involviert war, wurden tatsächlich zehn Filmemacher vom IS angeheuert, die Folter und Exekutionen der Al-Tabqa-Gefangenen aufzuzeichnen (vgl. Miller und Mekhennet 2015).

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Abb. 3 a–d:   Vier Screenshots des untersuchten Videos (TC: 00:00:17, 00:01:03, 00:04:21, 00:05:12)

An diesem Punkt schien meine theoretische Befragung komplexer geworden zu sein. Nicht nur musste ich einen Weg finden, um über das Video sowohl als Propaganda wie als Nachrichtenmaterial nachzudenken: Ich hatte auch zu berücksichtigen, dass das offensichtlich Gestellte zugleich mit einer unbestreitbaren Wahrhaftigkeit zum Ausdruck gebracht wurde, denn das reale Leiden der Gefangenen konnte und durfte nicht übersehen werden. Glücklicherweise verstand ich nach weiteren Nachforschungen, dass diese Form der ­‚propagande-vérité‘ eine lange Geschichte hat. Zur berüchtigten Fotografie der Exekution des Vietcong-Mitglieds Nguyễn Văn Lém durch den Saigoner Polizeichef Nguyễn Ngọc Loan 1968 schreibt Susan Sontag:

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There can be no suspicion about the authenticity of what is being shown in the picture […]. Nevertheless, it was staged—by General Loan, who had led the prisoner, hands tied behind his back, out to the street where journalists had gathered; he would not have carried out the summary execution there had they not been available to witness it (Sontag 2003, S. 59).

Dieses Beispiel, das meines Erachtens eine gute Vorlage zum Nachdenken über die ungeheuerlichen, theatralen Exekutionen durch den IS bietet, nötigt uns, alle Baudrillard’schen Vorstellungen von Medienbildern als virtuelle ‚Simulakren‘ zu verwerfen, die die Abwesenheit eines Ereignisses verdecken. Stattdessen müssen wir eingestehen, dass Kriegsbilder gleichzeitig real und inszeniert sein können, und dass ein Ereignis, das für den Zweck seiner visuellen Dokumentation geschieht, aus diesem Grund nicht weniger wirklich – oder weniger entsetzlich – ist. Als eines der frühsten Beispiele dafür, wie terroristische Organisationen die Bedeutung visueller Dokumentation von Anschlägen verstehen, macht Charlotte Klonk in ihrem Aufsatz Images of Terror den Mordanschlag auf den russischen Zar Alexander II. im Jahr 1881 durch die revolutionäre Organisation Narodnaja Wolja aus (vgl. Klonk 2017, S. 131). Danach übernahmen sowohl terroristische Gruppen wie Regierungen die Praxis der öffentlichen Ereignisinszenierung zusammen mit der Orchestrierung ihrer Berichterstattung. Das führte zu mehr und mehr visuellen Medientexten, die die klassische Unterscheidung von Dokumentation und ideologischer Propaganda unterliefen. Dasselbe Phänomen diskutierte Siegfried Kracauer in seiner Analyse der Nazi-Propaganda: In her book on [Triumph des Willens], [Leni Riefenstahl] incidentally remarks: ‘The preparations for the Party Convention were made in concert with the preparations for the camera work’. This illuminating statement reveals that the convention was planned not only as a spectacular mass meeting, but also as spectacular film propaganda. […] Triumph of the Will is undoubtedly the film of the Reich’s Party Convention; however, the Convention itself had also been staged to produce Triumph of the Will (Kracauer 2004, S. 301).

Die Rede ist hier zwar nicht von Todesbildern, aber die Beziehung zwischen historischem Ereignis und seiner medialen Dokumentation scheint dem ähnlich, was Sontag mit Blick auf die Exekution von Nguyễn Văn Lém schildert. Beide Ereignisse fanden zur Generierung von Bildern und deren Verteilung statt. In diesen Fällen wie in jenem des von Les Observateurs verfügbar gemachten IS-Videos ist es müßig, bestimmen zu wollen, welches Bedürfnis zuerst kam – das des Ereignisses oder das der Bilder. Beides ging, um Riefenstahls treffend ‚spektakularisierenden‘ Ausdruck zu gebrauchen, „in concert“.

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Diese historischen Perspektiven halfen mir zu verstehen, dass das ontologische Paradox, mit dem ich mich herumschlug – wie kann dieses Video zugleich Propaganda und Nachrichtenmaterial sein? –, keine andere Grundlage als die Beschränkungen meiner eigenen konzeptuellen Annahmen hatte. Nur weil ich spontan ‚Propaganda‘ mit irreführenden Lügen und Bildmanipulation assoziierte und Journalismus mit dem Ideal objektiver Realitätsrepräsentation, empfand ich einen Widerspruch zwischen den zwei Begriffen. Aber diese binäre Systematik erfasst nicht die vielen verschiedenen Zwischenpositionen, die ein Medienprodukt, inklusive dasjenige des IS, in dem Spektrum einnehmen kann, das von arrangierten, fabrizierten Szenen (mit Schauspielern in einer Fake-Szenerie) bis zur wahrhaftigsten und authentischsten audiovisuellen Aufzeichnung eines von den Kameras unabhängigen Geschehens reicht. Diesen Gedanken hat wohl am klarsten Jean-Louis Comolli (2016) in seine Buch Daech, le cinéma et la mort auf den Punkt gebracht: die traditionelle Trennung zwischen Fiktion und dokumentarischem Filmemachen, per se schon immer fragwürdig, ist völlig unpassend, um die audiovisuelle Produktion des IS zu erklären. Das fühlte sich an, als käme ich voran. Ich hatte mich überzeugt, dass selbst wenn das untersuchte Video alles andere als neutraler Augenzeugenbericht und selbst wenn seine Produktion deutlich Teil einer Folteroperation war, es immer noch legitim als Material der Berichterstattung rekontextualisiert werden könne, würde doch seine Inszeniertheit seine Wahrhaftigkeit nicht ausschließen. Als ich allerdings zurück zum YouTube-Kanal von Les Observateurs kam, war das Video immer noch da, bekam immer mehr Views, and etwas daran fühlte sich falsch an. Die Kommentare unter dem Video durchzugehen, half nicht. Einige Personen drückten ihre Trauer um die Opfer mit weinenden Emojis aus. Andere riefen nach gewaltsamen Aktionen gegen den IS – Aufrufe, die sich oft auch gegen die gesamte Gemeinschaft der Muslime wandten. Einige markierten das Video als zu extrem, als zu „graphic“ für YouTube. Andere drückten ihre Enttäuschung darüber aus, dass trotz des vielversprechenden Titels das Video nicht den Tod der Gefangenen zeige. Drei Kommentare priesen den Nashid, der im Radio eines der von den Terroristen gefahrenen Lkws spielte. Für mich konkurrierten mehrere Sichtweisen in meinem Kopf, als ich das Video erneut sah. Wie im Angesicht des berühmten durch Wittgenstein (1989) bekannt gewordenen H ­ ase-Ente-Kippbilds oszillierte meine Wahrnehmung der Videoaufnahmen zwischen sich einander ausschließenden Interpretationen. Manchmal sah ich den Aneignungsgestus von Les Observateurs als notwendige Umwendung oder Aufhebung des die Tat feiernden Videos der Terroristen. Es war sinnvoll, weil es den Horror der

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IS-Verbrechen aufdeckte. Ein anderes Mal realisierte ich nur, wie der IS erfolgreich die französische Journalismusplattform für ihre terroristischen Zwecke ‚gehackt‘ hatte. Dann wieder – das waren die schlimmsten Momente – fühlte ich mich gelähmt durch die fürchterliche Ahnung, dass das verzweifelte Bedürfnis der Terroristen wie des Nachrichtenkanals nach Online-Engagement zu einer zeitweisen Angleichung der Interessen geführt habe. Es fühlte sich „falsch“ an, habe ich geschrieben, hinsichtlich der mehr werdenden Klicks auf YouTube. Aber als ich das Wort noch einmal las, verstand ich, dass es die falsche Idee gewesen war, meine Untersuchung auf einer ontologischen Ebene zu führen. Es war eher ein ethisches Problem, mit dem ich rang, und das mit der Reflexion über Zuschauerschaft anzugehen war statt über die strukturelle Bildanalyse. Natürlich war die Frage elementar, ob das Video inhärent propagandistisch sei, um zu bestimmen, ob es akzeptabel war, dass Les Observateurs seine Verbreitung beförderte. Die Essenz des Videos zu ergründen war jedoch nie mein Hauptziel gewesen. Stattdessen war es nötig, über die Erfahrung nachzudenken, das Video im Kontext eines spezifischen staatlich geförderten YouTube-Kanals zu sehen. Genauer noch: Ich musste für mich entscheiden, ob Les Observateurs ebenso wie viele andere Nachrichtensender, die (wie ich nun festgestellt hatte) das Video wieder und wieder verbreiten5, für die Kollaboration mit den Produzenten des Videos verantwortlich zu machen war, was die Verteilung betraf. Mittlerweile hatte ich das Video vielleicht fünfzehn oder zwanzig Mal gesehen, damit weitere Views dem YouTube-Zähler hinzugefügt und so mitgeholfen, seinen Status als meist empfohlenes Video beizubehalten. Mir meines Anteils an der Online-„mediascape“ (vgl. Appadurai 1990), die ich zu beschreiben versuchte, sehr bewusst, musste ich mich entscheiden, ob ich mit Akten des Betrachtens das Leiden der Gefangenen verlängerte und rückblickend rechtfertigte.

5Es

ist wichtig zu betonen, dass wenn auch dieser Beitrag Les Observateurs so prominent herausstellt, das hier diskutierte Problem viele Nachrichtenmedien in verschiedenen Ländern betrifft. Dasselbe Video wurde tatsächlich auch von anderen Online-Nachrichtenstellen gepostet: Euronews, CNBC, The Daily Telegraph, CNN, Al-Arabiya, Daily Express … Diese Untersuchung hat nicht die Absicht, der Plattform Les Observateurs, die nur als Fallbeispiel herangezogen wird, besondere Schuld zuzuweisen. Das ist auch der Grund, weshalb ich keine spezifischen Arbeitsweisen der Plattform beleuchte, sondern mich auf Beobachtungen beschränke, die auch auf andere Nachrichtenkanäle übertragbar sind.

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3 Denken mit Butler Der hilfreichste Text, den ich las, als ich versuchte, diese verschiedenen Probleme zu ordnen, war Judith Butlers 2009 erschienenes Buch Frames of War. Hilfreich nicht in dem Sinne, dass es alle meine Fragen beantwortete oder half, Antworten zu formulieren (in gewisser Weise suche ich diese immer noch). Aber es bot mir einen lebhaften und durchdachten Bericht von jemand anderem, der mit denselben Herausforderungen kämpfte, was eine willkommene, wenn auch zunächst nur emotionale Unterstützung darstellte. Es rüstete mich allerdings auch mit funktionalen Werkzeugen aus, um diese Fragen zu beschreiben, und, vielleicht am entscheidendsten: es führte mich schließlich zur Methode, um sie weiter zu erkunden. Butlers Buch ist zum Teil eine Entgegnung auf Susan Sontags Regarding the Pain of Others (2003), was wiederum eine Erwiderung auf Virginia Woolfs Three Guineas (1938 erstveröffentlicht) darstellt. Der gemeinsame Faden zwischen diesen drei Essays ist die Frage danach, wie Zuschauer*innen auf Abbildungen von Kriegsopfern reagieren. Nachdem sie die Idee einer spezifisch männlichen oder weiblichen Wahrnehmung von Krieg abgelehnt hat, behauptet Woolf, dass alle Betrachter*innen, wenn mit Bildern von Opfern konfrontiert, unabhängig ihres Geschlechts zu gleichartigen Reaktionen neigen. In Worten, in denen das Thema dieses Beitrags widerhallt, schreibt sie: Those photographs [von Opfern des spanischen Bürgerkriegs—CGL] are not an argument; they are simply a crude statement of fact addressed to the eye. But the eye is connected with the brain; the brain with the nervous system. […] When we look at those photographs some fusion takes place within us; however different the education, the traditions behind us, our sensations are the same; and they are violent. You, Sir, call them “horror and disgust”. We also call them horror and disgust (Woolf 2012, S. 10).

Darauf antwortet Sontag berühmtermaßen: „No ‚we‘ should be taken for granted when the subject is looking at other people’s pain“ (vgl. Sontag 2003, S. 7). Woolfs Annahme widersprechend, dass es nur eine mögliche Reaktion auf die Darstellung von Kriegsopfern gebe, merkt sie an, dass nicht mal unter Personen desselben Geschlechts eine gleichartige Reaktion auf Kriegsbilder zu erwarten sei. Für sie sind Bilder grundlegen mehrdeutig, daher anfällig für verschiedene Deutungen durch verschiedene Individuen. Ihr Mangel an sprachlichen Komponenten verdammt sie zu einer Art heuristischem Defizit: „all photographs wait to be explained or falsified by their captions“ (ebd., S. 10). Aus diesem

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Grund kann dasselbe Bild abhängig von seinem Rezeptionskontext eine Vielfalt an Bedeutungen annehmen. The photographer’s intentions do not determine the meaning of the photograph, which will have its own career, blown by the whims and loyalties of the diverse communities that have use for it (ebd., S. 39).

Festzuhalten ist, dass Woolf und Sontag die affektive und kognitive Ebene des Zuschauererlebens nicht unabhängig voneinander betrachten. Für beide Autorinnen hängt das, was die Zuschauer*innen denken, von den Gefühlen ab, die die Bilder wecken („the eye is connected with the brain“), wie umgekehrt die Art des Fühlens vom dem Bild zugeschriebenen Sinn bestimmt ist. Die Frage, ob ein einzelnes Bild verschiedene affektive Reaktionen auslöst, ist daher eng verbunden mit der Frage, ob es eine feste und unzweideutige Bedeutung hat oder nicht. Als Butler in die Diskussion einsteigt, sind die widerstreitenden Sichtweisen also bereits vorgebracht. Das zweite Kapitel von Frames of War – Torture and the Ethics of Photography: Thinking with Sontag – adressiert deren zentrale Fragen am ausführlichsten. Butler behandelt dabei zwei Bildkorpora, die beide sich in unterschiedlicher Weise in Beziehung zum von Les Observateurs verbreiteten Video setzen lassen: Bilder vom Krieg, aufgenommen von ‚embedded journalists‘ und charakterisiert – wie das IS-Video – durch Handkamera und individuelle Ich-Perspektiven sowie die berüchtigten Fotografien von Abu Ghraib, die ebenfalls gestellte Misshandlungen zeigen und von Fotograf*innen aufseiten der Folterer*innen hergestellt wurden. Wie ihre Vorgängerinnen setzt Butler die von den Bildern ausgelösten Affekte in Verbindung mit dem von ihnen generierten Sinngehalt: „a certain interpretative act implicitly takes hold at moments of primary affective responsiveness“ (Butler 2009, S. 34). Was aber die entscheidende Frage betrifft, die Woolf und Sontag umtreibt – jene nach der Eindeutigkeit oder Ambiguität der Bilder –, so bleibt Butler bemerkenswert vorsichtig. Gegen Sontag (und damit mit Woolf?) behauptet sie, dass selbst ohne Bildunterschrift Bilder immer eine bestimmte Interpretation den abgebildeten Ereignissen überstülpen. „Even the most transparent of documentary images is framed, and framed for a purpose, carrying that purpose within its frame and implementing it through the frame“ (ebd., S. 70). Zum Einfluss des Framings schreibt sie: „Although restricting how and what we see is not exactly the same as dictating a storyline, it is a way of interpreting in advance what will and will not be included in the field of perception“ (ebd., S. 66). Das mutet als Widerspruch an zu Sontags Sichtweise, dass „the photographer’s intentions do not determine the meaning of the photograph“. Laut Butler kann sich hingegen kein

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Bild vom Standpunkt seines Produzenten emanzipieren. Diesen Gedanken auf das IS-Les-Observateurs-Video übertragen, bedeutet, dass unabhängig von der Oberfläche der Einbettung und Präsentation das Video stets ein terroristischer Medientext bleibt. Folglich wäre jede Plattform und jeder Kanal für dessen Verbreitung als eines solchen mitverantwortlich. Allerdings schreibt Butler an spätere Stelle, diesmal offenbar Sontag zustimmend: I want to suggest that the Abu Ghraib photographs neither numb our senses nor determine a particular response. […] They are shown again and again, transposed from context to context, and this history of their successive framing and reception conditions, without determining, the kinds of public interpretations of torture we have (ebd., S. 78).

Sie verwirft damit die Idee universeller oder vorherbestimmter Affekte, die Bilder hervorrufen. Stattdessen unterstreicht sie die Evolution ihrer Bedeutung im Laufe der Zeit, da sie stets in unterschiedlichen Kontexten wahrgenommen werden. Das ist entscheidend für den sozialen Wert der Bilder als Artefakte und ihre Rolle in öffentlichen Debatten. „On the one hand, [images] are referential; on the other, they change their meaning depending on the context in which they are shown and the purpose for which they are invoked“ (ebd., S. 80). Es ist offensichtlich, wie mir dieses Verständnis half, eine alternative Perspektive auf die Verantwortlichkeit von Les Observateurs und der anderen Sender für das fragliche Video und dessen Verfügbarkeit einzunehmen. Auch hinsichtlich der anderen, für mich und meine Implikation als Beobachterin essenzielle Frage nach dem Betrachten der Folterbilder als Verlängerung der Opferdemütigung, schwankt Butler zwischen zwei gegensätzlichen Sichtweisen. So schreibt sie zunächst zu den ­Abu-Ghraib-Fotos: The visual archive circulates. The date function on the camera may specify precisely when the event happened, but the indefinite circulability of the image allows the event to continue to happen and, indeed, thanks to these images, the event has not stopped happening (ebd., S. 86).

Später aber bemerkt sie: The photos have clearly traveled outside the original scene […]. It gave rise to a different gaze than the one that would ask for a repetition of the scene, and so we probably need to accept that the photograph neither tortures nor redeems, but can be instrumentalized in radically different directions, depending on how it is discursively framed and through what form of media presentation it is displayed (ebd., S. 92).

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Sind diese zwei Ideen miteinander vereinbar: die Fortsetzung der Misshandlungen über das fortwährende Zirkulieren und Betrachten der Bilder einerseits und das Herausbilden eines sich vom ursprünglichen Zweck freimachenden „anderen Blicks“ (different gaze – aber wessen und welcher Art?) andererseits? Ich könnte nun verdächtigt werden, diese offensichtlichen Oppositionen innerhalb Butlers Argumentation zu konstruieren, indem ich etwa selektiv mehrdeutige Zitate präsentiere, Ideen herauspicke und aus dem Zusammenhang reiße. Dagegen würde ich einwenden, dass Butlers Text tatsächlich weniger konkret ist als Sontags. Wichtiger aber noch ist, dass es mir nicht darum geht, Butler wegen der inneren Widersprüche ihrer Gedankenführung zu kritisieren, im Gegenteil: dieses Zweifeln, diese Versuche, widerstreitende theoretische Impulse zu formulieren, fand ich das Inspirierendste an ihrem Text. Ich sah darin eine Spiegelung meines eigenen Ringens mit dem IS-Video und dessen Präsenz auf YouTube. Es fühlte sich fast so an, als hätte Butler in den ­Abu-Ghraib-Fotos ihr eigenes Set an Ente-Hase-Bildern gefunden, und als wollte sie durch ihr Schreiben ihrer eigenen Wahrnehmung aus den unbeständigen, provokanten Gedanken heraus Halt geben. Diese Interpretation steht, so glaube ich, im Einklang mit der theoretischen Kernbotschaft von Frames of War (wenn sie diese nicht sogar ideal illustriert). Sie lässt sich wohl so zusammenfassen: Statt über die spontanen affektiven Reaktionen der verschiedenen Betrachter*innen auf die Bilder von Kriegsopfern zu spekulieren, sollten wir vielmehr die Frames untersuchen, die die affektiven Reaktionen determinieren, um so die „conditions of responsiveness“ (ebd., S. 52) gegenüber dem Leid anderer zu verstehen. Das Frame-Konzept6 entwickelt Butler in der Einleitung. As we know, “to be framed” is a complex phrase in English: a picture is framed, but so too is a criminal (by the police), or an innocent person (by someone nefarious, often the police), so that to be framed is to be set up, or to have evidence planted against one that ultimately “proves” one’s guilt. When a picture is framed, any number of ways of commenting on or extending the picture may be at stake. […] This sense that the frame implicitly guides the interpretation has some resonance with the idea of the frame as a false accusation. If one is “framed,” then a “frame”

6Der

Begriff Frame wird in der deutschen Übersetzung des Buchs von Reiner Arsén mit Rahmen und, titelgebend, Raster übersetzt (vgl. Butler 2010). Ich bleibe hier bei dem mittlerweile auch im Deutschen geläufigen englischen Terminus sowie bei dem des Framings (als Rahmung oder Rahmensetzung) – Anm. d. Ü.

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is constructed around one’s deed such that one’s guilty status becomes the viewer’s inevitable conclusion. Some way of organizing and presenting a deed leads to an interpretive conclusion about the deed itself (ebd., S. 8).7

Die Analogie zwischen dem Framing von Gemälden und dem Framing einer Person ist hilfreich, denn sie erlaubt den Leser*innen recht intuitiv zu begreifen, wie Frames im Butler‘schen Sinne funktionieren. Ähnlich einem arglistigen Polizisten, der Beweise fabriziert und platziert, um einen Unschuldigen zu belasten, bedingen Frames unsere Resonanz auf ein gegebenes Bild. Sie präsentieren es auf eine Weise, die in einer vorbestimmten Deutung resultiert. Und wie der Polizeibeamte mit seinem Plan scheitert, wenn sein Tun bekannt wird, schwindet die Macht des Frames disproportional zu seiner Bewusstwerdung. In anderen Worten: Sie beeinflussen unsere Affekte und geistigen Reaktionen auf Bilder, während sie unserer Aufmerksamkeit entgehen. Noch interessanter ist aber, dass Butlers theoretische Haltung unmittelbar eine praktische Methodik impliziert. Das formuliert sie folgendermaßen: „As we know from Trinh Minh-ha, it is possible to ‚frame the frame‘ or, indeed, the ‚framer‘, which involves exposing the ruse that produces the effect of individual guilt“ (ebd., S. 8 f.). Butler bezieht sich hier auf die vietnamesische Literaturtheoretikerin und Künstlerin Trịnh Thị Minh Hà, die ihre Verfahren und Werkzeuge des Filmemachens offenlegt und reflektiert und deren Werk darin besteht, Realität in Bilder zu ‚framen‘ (vgl. Minh-ha 1992). Für Butler heißt dies „call[ing] into question the taken-for-granted character of [the] frames [that] condition our responsiveness“ (Butler 2009, S. 34) gegenüber Bildern von Kriegsopfern und „offering interpretive matrices for the understanding of war that question and oppose the dominant interpretations“ (ebd., S. 52). Im Kontext meiner eigenen Forschung bedeutete das, die Verantwortung von Les Observateurs als Framer des IS-Videos herauszustellen und die größeren, weniger greifbaren Frames zu hinterfragen, die mich wahlweise die Aneignungsgeste von Les Observateurs als legitime Form journalistischen Hackings, als unverantwortliche Mitwirkung an einer terroristischen Medienoperation und als politisch fragwürdigen Versuch, Klicks auf YouTube zu generieren, interpretieren ließ. Letztlich entschied ich mich dafür, Wege zu suchen, meine eigenen Prozesse der kontextuellen Bedeutungsstiftung, mehr noch als zu analysieren oder zu 7Im Das englische Verb to frame kann neben jdm. etwas anhängen, hereinlegen oder verleumden zudem weitere sehr verschiedene Bedeutungen haben wie formulieren, [v. a. geistig, konzeptionell] einfassen oder entwerfern – Anm. d. Ü.

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erläutern, in all ihrer Unbeständigkeit und Einflussanfälligkeit abzubilden. Ich hoffte, dieses Abbilden würde andere dabei unterstützen, ihre eigenen Betrachtungsmechanismen zu verstehen. So half mir Frames of War, meine Schwierigkeiten mit einem Medienartefakt anzugehen, wie es Butler selbst höchstwahrscheinlich nicht vorausgesehen hatte. In diesem Sinne schrieb und montierte ich ein autoethnografisches Videoessay, auf dessen Entstehung ich im Folgenden unter praktischen Gesichtspunkten eingehen möchte.

4 Videografische Autoethnografie, in der Praxis Da der Film, dem ich später den Titel The Observer gab, zur Publikation dieser Zeilen noch nicht öffentlich verfügbar ist, einige Worte zum Inhalt. Wie alle videografischen Essays, die in meiner fortwährenden Zusammenarbeit mit Kevin B. Lee entstanden und entstehen, handelt es sich um eine Desktop-Dokumentation.8 Das heißt, das Video besteht gänzlich aus Bildschirmaufzeichnungen meines Laptops, die ich zusammenfüge und editiere, um eine singuläre Online-Erfahrung zu erzählen.9 Diese intime Erfahrung wird durch ein Voiceover erzählt (meine eigene Stimme, Französisch sprechend). Gemäß der narrativen Strategie, die wir für das gesamte Projekt10 entwickelt haben, ist der ­Voiceover-Kommentar in Form eines Persönlichen, an Kevin gerichteten Briefs gehalten. Der Brief beginnt mit der Erinnerung meiner Entdeckung des IS-Video auf YouTube. Als ich es das erste Mal sah, nahm ich nur die rohmaterielle Qualität wahr. Eine eingehendere und detailliertere Betrachtung enthüllt die Inszeniertheit, die mich davon überzeugt, es mit einem terroristischen Propagandastück

8Der

Gattungs- oder Formatbegriff der desktop documentary hat noch keine etablierte deutsche Entsprechung; ich wähle hier und nachfolgend behelfsmäßig den relativ medienneutralen oder -ignoranten Begriff der Desktop-Dokumentation, auch wenn der spezifische Aspekt des Dokumentarfilmischen dabei zu kurz kommt. – Anm. d. Ü. 9Ein älteres Video, das im selben Kontext produziert wurde, ist mit einem kurzen Erläuterungstext von mir dazu im NECSUS. European Journal of Media Studies verfügbar (s. Galibert-Laîné 2019). 10Bottled Songs. Informationen dazu unter: https://www.chloegalibertlaine.com/bottledsongs.

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zu tun zu haben. Erst nach diesem zweiten Sehen achte ich auf den Namen des YouTube-Kanals: Les Observateurs France 24. Nachdem ich den Schock darüber mit Kevin (und den Zuschauer*innen) geteilt habe, folge ich dem Link, der angeblich dorthin führt, wo das das Video ursprünglich gepostet wurde. Doch diese Version ist von YouTube kurz nach dem Upload gelöscht worden, aufgrund des „schockierenden und widerlichen Inhalts“ (Abb. 4). Das führt mich zur Überlegung, ob die Redakteur*innen von Les Observateurs wussten oder ahnten, dass die Seriosität des Kanals die Nachhaltigkeit des Videos sichern würde. Als sie es im August 2014 ins Netz stellten, waren sie sich bewusst, dass sie fünf Jahre später zu seinen Archivar*innen würden? Die weiteren Segmente des Films zeichnen meine Suche nach, wie ich dem Video im Netz nachspüre. Ich finde es auf mehreren Nachrichtenplattformen, manchmal in identischer Form, manchmal gekürzt, geblurred, verpixelt, bis ich auf eine längere Fassung stoße. Darin ist der Clip, in dem die Gefangenen durch die Wüste laufen, zusammenmontiert mit einem Handyvideo, das den Moment ihrer Hinrichtung dokumentiert. Das lässt mich meine Suche abbrechen. Die letzte Sequenz des Films spielt einige Monate später. Ich nehme das Schreiben wieder auf, um Kevin von einem Essay zu erzählen, das ich gerade über Frida Kahlo gelesen habe. Darin wird berichtet, dass die Malerin die Farbe Hellgelb mit der „Unterwäsche von Geistern“ („undergarment of ghosts“)

Abb. 4   Standbild aus The Observer (Chloé Galibert-Laîné 2019)

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assoziiert habe (vgl. Jamison 2014, S. 152). Fasziniert von der Merkwürdigkeit dieses Vorstellungsbilds suche ich online nach Kahlos Tagebuch, aus dem das Zitat stammen soll. Ich entdecke darin ein Gedicht und eine Zeichnung (Abb. 5). Unmögliche Verbindungen zwischen Kahlos Werk und dem IS-Video, mit dem ich mich so intensiv befasst hatte, ausmachend, kann ich nicht anders, als meine subjektiven Assoziationen darauf zu projizieren. Indem ich Kahlos Zeichnung Kevin schicke, schließe ich meinen Brief, im Versuch meinen eigenen Zustand geisterhafter Heimsuchung mitzuteilen. Auf methodischer Ebene speist sich das Videoessay aus zwei Bereichen. Erstens steht es im Kontext der Videographic Media Studies und deren jüngsten Entwicklungen: Forschende nutzen hier audiovisuelle Medien, um ‚performative‘ Medienanalysen zu produzieren (vgl. Grant 2016; Haseman 2006). Die Verbindung zwischen Desktop-Dokumentation und videografischer Forschung hat Catherine Grant untersucht, die diese Performativität des ­Desktop-Filmemachens wie folgt beschreibt: „[Desktop documentaries] use screen capture technology to treat the computer screen as both a camera lens and a canvas. [They] seek both to depict and question the ways we explore the world through the computer screen“ (Grant 2015). Das Format der Desktop-Dokumentation hat sich im Kontext dieser Untersuchung als ergiebig erwiesen, denn es erlaubt die sehr präzise und vergleichende Kontextualisierung aller präsentierten M ­ edieneinheiten. Jedes Video,

Abb. 5   Standbild aus The Observer (Chloé Galibert-Laîné 2019)

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Bild und jeder Nachrichtenartikel, die mir während meiner Forschung begegneten, werden so gezeigt, wie ich sie fand, eingebettet in die originale Benutzerschnittstelle. Den Zuschauer*innen wird es damit ermöglicht, der digitalen Infrastrukturen gewahr zu werden, die meinen Zugang zu den untersuchten Medientexten bedingten, und die meine affektiven und gedanklichen Reaktionen auf diese beeinflussten. In dieser Hinsicht ist die D ­ esktop-Dokumentation die ideale audiovisuelle Form, um digitale „Frames of Wars“ zu untersuchen. Zweitens teilt sich mein Film wichtige Eigenschaften mit (anderen) Werken aus dem Gebiet der autoethnografischen Forschung. In ihrem Essay über Autoethnografie im Feld der Popular Culture Studies schlagen Jimmie Manning und Tony E. Adams folgende Definition vor: Autoethnography is a research method that foregrounds the researcher’s personal experience (auto) as it is embedded within, and informed by, cultural identities and con/texts (ethno) and as it is expressed through writing, performance, or other creative means (graphy) (Manning und Adams 2015, S. 188).

Ich fand diese Definition erst, nachdem ich mein Videoessay fertiggestellt hatte, aber es scheint diese drei Charakteristika aufzuweisen. Das Ziel war tatsächlich, kreativ abzubilden, wie meine intimen Reaktionen auf das untersuchte IS-Video durch verschiedene Frames (die Kon/Texte), in die es eingebettet war, beeinflusst wurden. Da es die „personal experience“ betont, ist Autoethnografie ein produktiver Ansatz, um Status als und Rolle der Betrachter*in zu untersuchen. Sie erlaubte mir im spezifischen Zusammenhang dieser Forschung, konkret – und quasi ‚empirisch‘ – die kontextuellen Prozesse der Bedeutungsproduktion zu erkunden. Wie Christine Hine schreibt: Through autoethnographies of online experience, we are […] able to find out how standard infrastructures are made into personal experiences […]. The autoethnographer situates Internet experiences and explores the multiple ways in which they make sense. […] Autoethnographic approaches, like blended, multi-sited, networked and connective approaches […] follow the trails of phenomena wherever they may lead (Hine 2017, S. 410).

Dieser Absatz unterstreicht zwei Eigenschaften des autoethnografischen Ansatzes, die, wie ich denke, mit meinem Videoessay besonders harmonieren. Online-Autoethnografie soll beschreiben, wie die verfügbaren „Standardinfrastrukturen“ durch ein bestimmtes Individuum erlebt werden. Das erlaubt

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mir, „situiertes Wissen“ (Haraway 1988) darüber zu generieren, wie diese ­Online-Infrastrukturen unsere Gefühlsreaktionen auf die in ihnen eingebundenen Medientexte bestimmen – was, wie ich glaube, mit dem von mir gewählten Butler’schen Theorierahmen im Einklang steht. Autoethnograf*innen folgen also, so Hines, den Phänomenen, wohin sie sie auch immer führen mögen. Dieses Element des Erkundens ist definitiv etwas, das ich aus meinem eigenen Forschungsprozess kenne, der mich vom Wikipedia-Eintrag über France 24 zu Frida Kahlos digitalisiertem Tagebuch ­ auf archive.org führte. Ich stimme Christine Hine darin zu, dass die Erfahrung des digitalen ‚Flanierens‘ solch eine essenzielle Komponente der täglichen Online-Medienpraxis ist, und dass der autoethnografische Ansatz interessante ­ Affordanzen eröffnet, was die Untersuchung von Netzwerkmedienpraxen betrifft. Allerdings bringt es auch ethische Herausforderungen mit sich. Sie zu bewältigen bereitete mir im Kontext dieser Forschung mehr Schwierigkeiten als sonst in meiner bisherigen Videoarbeit.

5 Ethik des (Re-)Framings Als ich das Videoessay anfertigte, hatten mein Projektkollege Kevin und ich bereits einige andere Videos in der Form der ‚Desktop-Epistel‘, wie wir es nennen, zu anderen Themen aus dem Bereich der IS-Online-Propaganda produziert. Trotzdem war dieser Film der am schwierigsten zu erarbeitende. Es brauchte drei Jahre und mindestens zwanzig Skriptentwürfe, um eine Version herzustellen, bei der ich das Gefühl hatte, sie anderen zeigen zu können. Vielleicht haben die ersten beiden Teile dieses Buchbeitrags einen hinreichenden Eindruck des schmerzlichen Forschungsverlaufs erwecken können, um sich vorzustellen, wie schwierig all die Gedanken, Zweifel, zeitweiligen Offenbarungen und wiederkehrenden Missverständnisse zu vermitteln und in eine audiovisuelle Form zu bringen waren. Aber die Herstellung des Films warf auch ethische Fragen auf, mit denen ich bislang nicht konfrontiert worden war. Zunächst hatte es etwas besonders Unbehagliches, meinen persönlichen Blick, verkörpert durch eine hochintime Ich-Stimme als Voiceover, einem Material überzustülpen, das so himmelschreiend die Identität der Opfer verweigerte und sie zu Schauobjekten machte. Das war weniger ein Problem bei den ersten Videos gewesen, die Kevin und ich angefertigt hatten und die klar ­identifizierten

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Individuen (einem französischen Dschihadisten und einem britischen Journalisten11) über die verschiedenen Online-Plattformen folgten, entlang der Spuren ihrer medialen Persona. Der Modus einer persönlichen Adressierung war in diesem Rahmen die offensichtliche Wahl gewesen, denn sie spiegelte den Ausdrucksmodus unserer thematisierten Personen. Das nun untersuchte ISVideo eröffnete aber eine ganz andere Situation. Was bedeutet es, sich selbst ins Zentrum eines Films zu stellen, der sich mit einem solch problematischen Medieninhalt befasst? Wie konnte es ethisch vertretbar sein, mein Essay auf mein eigenes Unbehagen auszurichten angesichts dieser Bilder, in denen die Menschen sichtbar eine Form des Leids erfahren, das, egal nach welchem Maßstab, soviel realer war und wichtiger zu adressieren? Meine erste, schon früh in Betracht gezogene Herangehensweise an die Frage umfasste einen Beweis durch Widerspruch. Ich würde mich fragen, ob der gegenteilige Ansatz ethisch korrekter sei. Das führte sehr schnell zur Erkenntnis, dass ich nicht über das Leid der Gefangenen im Video würde reden können, denn ich hatte keinerlei Berechtigung, in ihrem Namen zu sprechen. In meinem eigenen Namen über meine eigene Erfahrung zu sprechen schien, mangels besserer Alternativen, weniger unethisch. Später dann bemerkte ich, dass genau diese Frage ein wiederkehrendes Thema in der fortlaufenden Diskussion autoethnografischer Methoden ist. Im Fazit seines gefeierten Buches Evicted – einer soziologischen Studie über Armut, in der er acht Familien in Milwaukee in ihrem Kampf um ihre Häuser begleitet, ohne dabei die Ichform zu gebrauchen – schreibt Matthew Desmond: No matter how much care the author takes, the first-person ethnography becomes just as much about the fieldworker as about anything she or he saw. I have sat through countless conversations about a work of ethnography or reportage that have nothing to do with the book’s subject matter and everything to do with its author’s decisions or mistakes or “ethical character.” […] These are fine questions, but there is bigger game afoot. […] “I” don’t matter (Desmond 2016, S. 334 f.).

Das war genau das, womit ich kämpfte, als ich zahlreiche Skripte für mein Videoessay verfasste und wieder umschrieb: Ich wollte es nicht in größerem Maße von mir handeln lassen als über das Video selbst (oder die Medienumgebung, deren Teil es war). Auch für mich war „a bigger game afoot“. Wie aber baut man die Ich-Form ein – denn ich kenne keine bessere Art, über Affekte, Emotionen und die

11Siehe

hierzu Kevin B. Lees Beitrag in diesem Band.

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Beobachterposition zu reden, die der Fokus meiner Forschung geworden waren –, ohne mich selbst ins Zentrum zu stellen und alles andere zu überschatten? Ich bin schließlich diese Bedenken angegangen, indem ich eine ­Ich-Perspektive wählte, die entschieden nicht autobiografisch ist. Der Film enthält keine Informationen über mich, außer dem, was meine Stimme elementar über mich verrät: französisch, weibliches Geschlecht, Alter und möglicherweise Bildungsgrad. Diese Eigenschaften, die, wie ich denke, die Art und Weise beeinflussen, wie ich auf IS-Medieninhalte reagiere. Sie stellen damit wichtige Informationen für die Zuschauer*innen dar, während ich versuche, ‚situiertes Wissen‘ über die untersuchte Medienumgebung zu produzieren. Doch selbst wenn der Film Informationen über meine Identität beinhaltet, enthält er keine über meine Biografie. Mein Ich ist nicht neutral, aber es ist leer; seine einzige Funktion ist, subjektiv auf die ihm begegnenden Medieninhalte zur reagieren. Hier vielleicht weicht meine Methode von denen der meisten Autoethnografen ab, deren Arbeit dazu neigt, sich auf die Befragung ihrer Lebensentscheidungen, Wege und Erfahrungen zu stützen (vgl. Ellis et al. 2011). Im Gegensatz dazu ist das Ich, das ich in meinem Videoessay nutze, gänzlich erfahrungshaft. Es ist näher an der narrativen Strategie des Medienwissenschaftlers John Fiske, der sich in seinen Texten „not as an individual but as a site and as an instance of reading“ (Fiske 1990, S. 86) charakterisiert. Daher spielt das Ich keine Rolle wegen der Einzigartigkeit meiner Erfahrung oder der Autorität meiner Persona: Das Ich ist als reflexives Subjekt von Bedeutung, dessen Erfahrung mit anderen Subjekten geteilt werden kann, die sich selbst auf ihre Erfahrung und ihr Ich beziehen können. Und schließlich erlaubt mir die ich-perspektivische Artikulation innerhalb des videografischen Ansatzes, den Zuschauer*innen gleichzeitig das Originalmaterial und meine persönliche Reaktion darauf zu präsentieren. Auf diese Weise lade ich sie dazu ein, sich von meiner subjektiven Sicht zu distanzieren, sich ihrer eigenen Reaktionen auf das Material bewusst zu werden und zu hinterfragen. Anders gesagt: Ich nutze die perspektivische erste Person (und die zweite des Briefs) als performative Trigger, um einen reflexiven analytischen Prozess in den Zuschauer*innen auszulösen, die ich den gesamten Film über dazu einlade, über ihre eigenen Beobachtungsmechanismen nachzudenken. Schlussendlich geht es ebenso um ihr Selbstverständnis als Betrachter*innen wie um das Entschlüsseln meines eigenen Erlebens. Das zweite ethische Problem, mit dem ich mich während der Filmarbeit auseinandersetzen musste, tauchte erst später im Prozess auf und war schwieriger anzugehen. Ich fand eine gute Formulierung dafür in einem Interview mit dem Kunsthistoriker und Bildtheoretiker William John Thomas Mitchell aus dem Jahr 2006:

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The act of destroying or disfiguring an image, as Michael Taussig argues in Defacement, has the paradoxical effect of enhancing the life of that image. An image is never quite so lively as in the moment when someone tries to kill it (Mitchell in Grønstad und Vågnes 2016).

Es war nicht mein Ziel, das IS-Video zu „töten“, dennoch befürchtete ich, dass zu viel auf seine Analyse verwendete Zeit und Energie seine Wirkung auf die Betrachter*innen noch steigern würde. Meine Sorge war, dass ich, je artikulierter ich vom Aufwand sprach, den es kostete, die Wirkungsweise zu verstehen, seine Produzenten umso geschickter und mächtiger würde aussehen lassen. Das waren in gewisser Weise die gegenläufigen Bedenken zu den oben beschriebenen: Ich wollte nicht, dass das Videoessay als Verherrlichung meines subjektiven Selbst aufgefasst wurde, aber ebenso wenig als Apologie seines Untersuchungsobjekts. Wie also konnte ich dem Zustand der Verwirrung und der Furcht, in die mich das IS-Video versetzt hatte, berücksichtigen, ohne die ­Terror-Aura noch zu verstärken, die die IS-Online-Propaganda ohnehin schon umgab? Um es gleich zu sagen: Ich habe darauf niemals eine perfekte Antwort gefunden. Ich denke nicht, dass die Frage ganz unumgänglich ist. Deshalb entschied ich mich, sie anders zu stellen. Wenn Re-Framing notwendigerweise bedeutet, die Sichtbarkeit zu erhöhen – unter welchen Bedingungen wäre es das wert? Hier erweisen sich einmal mehr Susan Sontags Schriften als hilfreich. In Regarding the Pain of Others schreibt sie: Perhaps the only people with the right to look at images of suffering […] are those who could do something to alleviate it—say, the surgeons at the military hospital where the photograph was taken—or those who could learn from it. The rest of us are voyeurs, whether or not we mean to be (Sontag 2003, S. 42).

Dieses Zitat, mit dem für Sontags Essay charakteristischen provokativen Ton, verlangt nach mehrmaligem Lesen. Zunächst scheint Sontag den Zeigefinger auf all diejenigen zu richten (inklusive sich selbst), die ein Interesse an Opferbildern hegen, ohne die Macht zu haben, das Leid dieser Opfer effektiv zu lindern. Das identifiziert uns ebenso wie die rund 550.000, die bislang das ­IS-Video auf dem YouTube-Kanal von Les Observateurs gesehen haben, als hilflose ‚Voyeure‘. Daran dürfte etwas Wahres sein. Beim zweiten Lesen zeigt sich aber ein Hoffnungsschimmer: Diejenigen, die sich nützlicherweise die Bilder von Kriegsopfern ansehen, sind natürlich die Chirurgen, so Sontag, aber auch alle, die davon lernen können („those who could learn from it“). Das legt nahe, dass es Umstände geben mag, die das Risiko der Verbreitung von IS-Terror durch das

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wiederholte Zeigen seiner Videos wert ist, dann nämlich, wenn es der Produktion wertvoller Erkenntnis dient. Das mag wie eine ziemlich abstrakte Idee anmuten – oder tatsächlich wie eine Form des Wunschdenkens. Wie können wir konkret, als Filmemacher*innen, entscheiden, ob unsere Versuche, terroristische Medien zu reframen, nützliches Wissen im Kopf unseres Publikums hervorbringt? Können wir voyeuristische Blicke auf unsere Filme verhindern und falls ja, wie? Teil einer Antwort darauf finden sich in Dork Zabunyans L’insistance des luttes, speziell im Kapitel L’usage de l’horreur. In dem Essay bezieht er sich besonders auf den syrischen Dokumentarfilm Eau argentée: Syrie Autoportrait (dt. Titel: Selbstporträt Syrien, Regie: Ossama Mohammed u. Wiam Simav Bedirxan, 2014). In der ersten halben Stunde eignet sich dieser Film viele Videos von YouTube an, die Folterungen syrischer Zivilisten durch Soldaten Bashar al-Assads zeigen, einige davon gedreht durch die Folterer selbst. Zabunyan ist sehr kritisch gegenüber der Art, wie der Film sich die Bilder zu eigen macht: er beschuldigt die Filmemacher*innen, die Würde der Opfer zu verletzen und damit eine Art „perverse Faszination am Horror“ (Zabunyan 2016, S. 162) zu befördern. Vor allem beanstandet er den Umstand, dass bestimmte Opfer und vor allem Jugendliche leicht zu identifizieren seien, und bedauert, dass die spezifische Funktion dieses hochproblematischen Materials im Gesamtkontext des Films nicht hinterfragt wird. Dennoch plädiert er nicht für eine komplette Zensur solcher Bilder im Film. Mit Blick auf eine Auswahl von Filmen, die er für erfolgreich in ihrem Gebrauch von (realen oder inszenierten) Bildern von Krieg und Folter ansieht, schreibt er: It is a matter of seeing how the death is shown on the screen, without giving it a chance to fascinate our gaze, and in this fascination deny again the bodies that have been bruised, tortured, or are about to disappear. […] A common trait seems to unite these [films] that frustrate all forms of voyeurism: [they] offer the viewer a position where she is simultaneously given the possibility to question the conditions in which her gaze is exercised (ebd., S. 163)12.

12Englische Übersetzung des Zitats durch die Verfasserin. Original: „Il s‘agit davantage de voir comment la mort à l‘écran est montrée sans qu‘elle puisse fasciner notre regard, et dans cette fascination nier une seconde fois les corps meurtris, torturés, ou sur le point de disparaître. […] Un trait commun semble caractériser ces tentatives qui contrarient tout voyeurisme: il réside dans le fait d’accorder au spectateur une place où celui-ci se trouve simultanément en mesure d’interroger les conditions dans lesquelles son regard s‘exerce“.

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Unter Verweis auf drei Folterszenen in Roberto Rossellinis Roma città aperta (I 1945), Michelangelo Antonionis Professione: reporter (I/F/ESP 1975) and ­Jean-Luc Godards Vrai Faux Passeport (F 2006) fügt Zabunyan hinzu: In each of these cases, the position of the one who gazes is inhabited by the filmmaker, thus disrupting any ‘perverse fascination’ for what is seen or heard. As if the spectator were given at the same time, without being lectured, the opportunity to appreciate how these images are fabricated or staged (ebd., S. 163)13.

Mir scheinen diese Zitate wie eine praktische Vertiefung von Sontags abstrakter Empfehlung. Angesichts der Folteraufnahmen entgehen die Betrachtenden dem Voyeurismus am wahrscheinlichsten, wenn sie eine Chance bekommen, über die Entstehungsbedingungen nachzudenken und sich der Frames bewusst zu werden, die ihre affektive Resonanz lenkt. Dennoch ist das Vokabular Zabuyans beredt: Alles, was Filmemacher*innen tun könnten, sei „offerieren“ und „Gelegenheit bieten“. Man kann nicht erwarten, dass sie – oder ‚(Re-)Framers‘ generell – volle Kontrolle über die Blicke des Publikums auf ihre Bilder ausüben. Aber sie (bzw. wir) haben die Verantwortung, die Bedingungen dafür herzustellen, dass die Zuschauenden zumindest die Möglichkeit erhalten, ihr Sehen in eine lehrreiche Erfahrung zu überführen. Es ist natürlich nicht an mir, zu beurteilen, ob mein eigenes Videoessay, in dem auch ich versuche, die Position der Blickenden einzunehmen, diese Bedingungen erfüllt. Aber es schafft das ethische Fundament, auf dem es aufbaut.

6 Schluss: Die künftige Lesbarkeit von IS-Medientexten Am Schluss dieses Beitrags erkenne ich, dass diese Betrachtungen zur Entstehung meines Films auch eine neue Perspektive eröffnen, um über Les Observateurs‘ Entscheidung, das IS-Video zu veröffentlichen, nachzudenken. Ich begann meine Untersuchung mit der Frage nach den möglichen Entscheidungen.

13Englische

Übersetzung des Zitats durch die Verfasserin. Original: „A chaque fois, la situation de celui qui regarde est investie par le réalisateur, brisant dans le même temps toute ‚fascination perverse‘ pour ce qui est vu et entendu. Comme si on lui conférait parallèlement, sans lui faire la leçon, la possibilité d'apprécier comment ces images sont fabriquées ou mises en scène.“

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Dann fragte ich, ob sie die richtige war. Nun wundere ich mich: War es das wert? Es ist klar, welche Art von Wissen die Plattform generieren wollte. Mit Sontag gesagt: Les Observateurs kam zu dem Urteil, dass ihr Publikum ein Recht darauf hatte, das Video zu betrachten, denn es konnte davon lernen, besonders, was mit den Gefangenen der Schlacht um den Al-Tabqa-Luftwaffenstützpunkt geschehen war. Aber die Sache in dieser Art zu formulieren, verdeutlicht, dass eine letzte Frage zu stellen ist: Funktioniert diese Lernerfahrung heute in derselben Weise wie im Jahr 2014, als das Video das erste Mal zu sehen war? Nehmen wir an, dass es damals wert war, es zu veröffentlichen; erfüllt es gegenwärtig noch eine informative und heuristische Funktion, sodass seine fortgesetzte Verfügbarkeit auf dem Les Observateurs-Kanal gerechtfertigt ist? Vielleicht habe ich diesen Aspekt der Relevanz zu Beginn meiner Untersuchung unterschätzt. Ich war so konzentriert darauf, den Aneignungsgestus von Les Observateurs zu verstehen, dass ich den Umstand vernachlässigte, dass das Video im Jahr 2016 keine ‚Neuigkeit‘ mehr war. Es war – und wird sein – Archivmaterial. Und je mehr Jahre vergehen, desto schwieriger wird die Annahme, die Betrachtenden seien sich seines politischen und medialen Ursprungs bewusst. Wird es nicht immer schwieriger werden, etwas durch das bloße Ansehen daraus zu „lernen“? Werden diese Bilder nicht (immer) anfälliger für verschiedene Framing-Verfahren? Mehrere Monate nach Fertigstellung meines Films und mehrere Wochen, nachdem ich mit dem Schreiben dieses Buchbeitrags begonnen hatte, habe ich diese Aufgabe als die wichtigste, anstehende ausgemacht – in Anbetracht dessen, was aus den verstreuten digitalen Archiven terroristischer Medien zurzeit wird. Angesichts der Zukunft von Kriegsfotografie bemerkte Susan Sontag, dass „the atrocious images [let] haunt us“. Ihre Begründung war, dass selbst wenn diese Bilder „cannot possibly encompass most of the reality to which they refer, they still perform a vital function. The images say: This is what human beings are capable of doing—may volunteer to do, enthusiastically, self-righteously. Don’t forget“ (Sontag 2003, S. 115). Das findet seinen Widerhall im Schluss meines Films, in dem ich erzähle, wie ich trotz mehrerer Monate ohne Kontakt mit dem IS-Video eine verstörende Erinnerung an Gefangene, die durch die Wüste laufen, erfuhr. Ich weiß nicht, ob meine Psyche eine Art visuelle mahnende Gravur brauchte, dass „depravity exists“ (ebd.). Vielleicht brauchen wir sie alle. Bedeutet das, dass YouTube von Grausamkeitsbildern heimgesucht bleiben sollte? An diesem Punkt sollte ich erwähnen, dass das von mir erforschte IS-Video im Juni 2019 aus dem Les Observateurs-Kanal verschwand, aufgrund von Änderungen in den YouTube-Richtlinien hinsichtlich Hassrede. Es ist natürlich nach wie vor auf anderen Plattformen verfügbar. Es existiert online in so vielen Formen, dass es

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unwahrscheinlich ist, dass es je aus dem Internet verschwinden wird – und selbst dann würde es auf unbestimmbar vielen privaten Geräten fortbestehen, inklusive meinem eigenen Computer und den zwei Archiv-Festplatten. In dieser Hinsicht sind die IS-Medieninhalte sicherlich beständiger als terroristische Bilder früherer Generationen. Ob wir wollen oder nicht, sie werden uns heimsuchen. Die Überlebensfähigkeit dieser problematischen Bilder ist, nach meiner Auffassung, ein wichtiger Grund, warum wir sie beständig weiter kontextualisieren und re-framen müssen, ohne die ganze regelnde Verantwortung und Entscheidung über ihre Bewerbung oder Zensur und die Art und Weise ihrer Einordnung ganz den kommerziellen Plattformen zu überlassen, deren Profitorientierung zwanghaftes Betrachten unterstützt. In einer früheren Version dieses Textes bezog ich mich auf Walter Benjamins Konzept der „Lesbarkeit“ (vgl. Benjamin 1991 [1936], S. 578 f.). Ich schrieb: „Wir brauchen ein fortgesetztes und wiederholtes Re-Framing der ­IS-Medieninhalte, denn es ist die Voraussetzung für seine Lesbarkeit. Solange wir fortfahren, uns selbst zu framen und andere als Framer, können wir hoffen, die verschiedenen Gefahren des Voyeurismus, der Spektakularisierung und ethisch verwerflicher Bildaneignungen abzuwehren.“ Mein Arbeitspartner Kevin sah den Text durch und kommentierte: „Ich kann mir vorstellen, dass Judith Butler entgegnen würde, dass deine letzte Aussage nach einer Lösung strebt, aber zu einer neuen Machtbeziehung führt hinsichtlich der Frage, wer den Frame kontrolliert; eine Machtbeziehung, die Gegenstand künftiger Kritik wird.“ Nachdem ich darüber nachgedacht habe, stehe ich zu meinem Statement und nehme Kevins Anmerkung rückhaltlos an. Als Filmemacherin, die sich IS-Medienmaterial aneignet, kann ich nicht anders, als in einer Umgebung zu arbeiten, die gesättigt ist von politischen Spannungen, was die Kontrolle von Frames betrifft, und ich behaupte nicht, dass ich darüberstehen würde. Ich hoffe allerdings, dass meine Arbeit – wie sehr auch eingebunden in die Medienlandschaft, die sie abzubilden sucht – diese Spannungen beleuchten kann und andere dazu anregen, kritisch ihre Modi der Teilhabe an dieser Landschaft zu reflektieren. Wenn mein Videoessay kritisches Nachdenken darüber beflügelt, wie es terroristische Mediengehalte sich zu eigen macht, umso besser. Am Ende ist das der Grund, weshalb Kevin und ich unsere Produktionen ausdrücklich dialogisch halten. Wir streben nicht nach einem Konsens. Wir versuchen, mit unseren widerstreitenden, fortlaufenden Reflexionen zu einem weltweiten Gespräch über die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Medien beizutragen, die, so glauben wir, nur gesünder werden kann, wenn mehr Menschen ihr eigenes Interesse, ihre Neugier für oder Abscheu gegen (ihre ‚Empfänglichkeit‘ für) IS-Propaganda hinterfragen.

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Chloé Galibert-Laîné  ist französische Forscherin und Filmemacherin. Sie arbeitet gerade an ihrer Doktorarbeit im Kreativ-Forschungsprogramm SACRe (Sciences, Arts, Création, Recherche) an der Ecole normale supérieure de Paris (PSL University) and unterrichtet Filmwissenschaft an der Université Paris 8. Ihre Forschung erfolgt in verschiedenen Formen und Formaten (Texte, Filme, Videoinstallationen, Live-Performances und Bühnenproduktionen) and erkundet die Schnittstellen von Kino und Online-Medien mit besonderem Interesse an Fragen zu Zuschauerschaft, Aneignung und medialer Erinnerung. Ihre Videoessays zu den Themen Film und Medien wurden und werden vielfach auf internationalen Festivals aufgeführt und ausgezeichnet, u. a. auf dem Rotterdam International Film Festival, Ars Electronica Festival (Linz), London Essay Film Festival, Festival Premiers Plans d’Angers oder dem Belfast Film Festival.

Inside the Islamic State’s Media: Eine kollaborative Videoanalyse Simone Pfeifer, Yorck Beese, Alexandra Dick, Larissa-Diana Fuhrmann, Christoph Günther und Bernd Zywietz

Zusammenfassung

Dieser Beitrag widmet sich der multiperspektivischen Analyse des I­S-Videos Inside the Khilafah 8. Das dialogische Gruppengespräch verdeutlicht den kollaborativen und iterativen Prozess der Beschreibung und Deutung. Nach einer Einordnung des Videos in die Medienproduktion des IS und in den Kontext der Inside-Reihe werden die drei wichtigsten Themenblöcke des Videos fokussiert: die Gleichsetzung von Medienarbeit mit Jihad, die Legitimation der eigenen Autorität des IS durch die Einteilung von Handlungen in ‚gut‘ und ‚schlecht‘ und die Bedeutung der Social-Media-Kontexte für die Verbreitung und Aneignung von Videos. Die unterschiedlichen fachlichen und analytischen Zugänge aus Islamwissenschaft, Ethnologie, Film- und Medienwissenschaft ergänzen sich dabei, können sich aber auch S. Pfeifer (*) · Y. Beese · A. Dick · L.-D. Fuhrmann · C. Günther · B. Zywietz  Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Mainz, Deutschland E-Mail: [email protected] Y. Beese E-Mail: [email protected] A. Dick E-Mail: [email protected] L.-D. Fuhrmann E-Mail: [email protected] C. Günther E-Mail: [email protected] B. Zywietz E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 B. Zywietz (Hrsg.), Propaganda des „Islamischen Staats“, Aktivismus- und Propagandaforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28751-1_13

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entgegenstehen. Gerade die Form des Gruppengesprächs zeigt jedoch auf, wie interdisziplinäre Widersprüche auch für eine produktive Diskussion genutzt werden können. Schlüsselwörter

Islamischer Staat · Social Media · ­Propaganda-Videos · Reflexivität ·  Kollaborative Videoanalyse · Internet

1 Einleitung Am 30. Oktober 2018 twittert der Terrorismus- und Kommunikationswissenschaftler Charlie Winter: „1. Just watched the new vid from #IS’s AlHayat Media Center – what. the. hell. It is easily the strangest thing I’ve ever seen from #IS, and I’ve seen a LOT of strange things from #IS these last few years“.1 (Abb. 1). In weiteren fortlaufenden Tweets beschreibt er den Inhalt und (teilweise vermeintliche) Fehler des IS-Videos.2 Obwohl Charlie Winter Screenshots des Videos anfügt, wird der Name des Videos nicht genannt. Sein letzter Tweet des Threads „(As an aside, I can’t wait to see what @OnPropFor [= Twitter-Account von Bernd Zywietz – Anm. d. Verf.] & co have to make of this.)“ richtet sich direkt an die sechs Wissenschaftler*innen der interdisziplinären Forschungsgruppe Dschihadismus im Internet. Kurz zuvor hatte Winter deren Konferenz Jihadi Audiovisualities, die am 4. und 5. Oktober 2018 in Mainz stattfand, als Vortragender besucht.3 1https://twitter.com/charliewinter/status/1057308208077987840

(Zugriff: 04.04.2020). besseren Lesbarkeit nutzen wir in diesem Text die gebräuchliche Bezeichnung ‚Islamischer Staat‘ mit der Abkürzung IS und beziehen uns damit auf Entwicklungen der Gruppe seit der Ausrufung eines ‚islamischen Kalifats‘ am 29. Juni 2014. Wir wollen damit weder den Anspruch auf religiöse Autorität noch auf nationale Staatlichkeit der Gruppe legitimieren.

2Zur

3Das

Forschungsprojekt Dschihadismus im Internet: Die Gestaltung von Bildern und Videos, ihre Aneignung und Verbreitung wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert und ist am Institut für Ethnologie und Afrikastudien der Johannes Gutenberg-Universität Mainz angesiedelt. Sechs Nachwuchswissenschaftler*innen aus den Fachgebieten Islamwissenschaft, Ethnologie, Medien- und Filmwissenschaft befassen sich darin mit der Sammlung und Analyse jihadistischer Medienmaterialien und fokussieren dabei die Aufnahme, Weiterverarbeitung und Verbreitung dieser Videos, Bilder und Tondokumente in Sozialen Medien und webtypischen Formaten wie Internet-Memes. Zusätzlich erfolgt der Aufbau einer Forschungs- und Informationsplattform, in der Materialien

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Abb. 1   Twitter-Thread von Charlie Winter vom 30.10.2018 (Auszug; Abdruck mit Einverständnis des Verfassers)

Dem Hinweis auf das Video gehen Bernd Zywietz und Simone Pfeifer in ihren Social-Media-Recherchen nach und finden in unterschiedlichen Kanälen des Instant-Messenger-Dienstes Telegram das neue Video Inside the Khilafah 8, das von der Medienstelle al-Ḥayāt Media Center produziert wurde.4 Der achte Teil der Inside the Khilafah-Reihe (im Folgenden Inside 8) ist 16 min und 26 s lang und geht selbstreflexiv auf die Medienarbeit des IS ein. Eine autoritative Erzählerinstanz führt durch das dokumentarische Format des Videos, das mit zahlreichen Infografiken und Animationen angereichert ist und IS-Kämpfer zur Medienarbeit in Social-Media-Diensten verleiten soll. Das Video setzt den bewaffneten Jihad5 mit Medienkrieg in der „digitalen Arena“ gleich und wird in

gespeichert, mittels eines Annotationstools erforscht und samt Ergebnissen präsentiert werden können. Dieser Beitrag spiegelt einen Teil der Arbeit der Gruppe wider. Für weitere Informationen siehe www.jihadism-online.de. 4Aus ethischen und rechtlichen Gründen wird hier keine Quelle des konkreten Videos angegeben. Das Material befindet sich im Archiv der Forschergruppe und wird auf Anfrage zur Verfügung gestellt. Zudem bietet Zywietz (2019) eine ­Screenshot-Protokollanalyse des Inside 8-Videos, in der umfänglich die Bild- und Kommentarebene wiedergegeben sind. 5‚Jihad‘ bezeichnet im Arabischen eine Anstrengung. Im Islam werden verschiedene JihadKonzepte unterschieden. Jihadistische Gruppierungen wie der IS beziehen sich auf ein ­kämpferisch-offensives Verständnis, welches die Verteidigung und Ausbreitung des Islam mit militärischen Mitteln legitimiert und zur religiösen Pflicht erhebt (vgl. Biene 2015; Tyan 2012).

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einer Zeit veröffentlicht, in der der IS bereits so sehr zurückgedrängt wurde, dass er nur noch ein kleines Gebiet im Südosten Syriens besetzt hält. Die Nachwuchsgruppe Dschihadismus im Internet beschließt nicht nur aufgrund der Erwähnung in Charlie Winters Tweet, das Video im Jahr 2019 zum Gegenstand einer kollaborativen Analyse zu machen. Weitere Kriterien für die Auswahl sind die Gestaltung des Videos, die Thematisierung der eigenen Medienarbeit sowie der Umstand, dass der IS aufgrund der militärischen Defensive nur noch wenige aufwendige Videos veröffentlichte (zuletzt im Februar 2018 den Vorgänger, Inside the Khilafah 7), was Inside 8 schnell eine gewisse Prominenz in den sozialen Netzwerken bei Unterstützer*innen verleiht. Die multiperspektivische Filmanalyse, die wir im Hauptteil nachzeichnen, veranschaulicht den kollaborativen und iterativen Prozess, in dem wir Wissen und Kompetenzen der Forscher*innen in unserer Untersuchungsarbeit zusammenführen, um unter anderem Sinngehalte und Bedeutungsebenen, Querverweise und Wirkungspotenziale auf struktureller, formaler und intertextueller Ebene aufzudecken, zu interpretieren und miteinander in Bezug zu setzen. Für diesen Beitrag stellen wir diesen Prozess in einem dialogischen Format vor. Damit verdeutlichen wir, wie sich unsere unterschiedlichen disziplinären und analytischen Perspektiven ergänzen, nebeneinander (be-)stehen und manchmal auch widersprechen. Grundlage für die gemeinsamen Bild-, Audio- und Videoanalysen im Projektrahmen ist ein flexibles Vorgehen, das wir in der Gruppe entwickelt haben: Wir sichten das Material, schildern erste Eindrücke, sequenzieren den Untersuchungsgegenstand und fokussieren thematische oder formale Fragestellungen auf die entsprechenden spezifischen Segmente. Dieses Vorgehen spiegelt der Hauptteil dieses Beitrags (Punkt 3), der das Gruppengespräch abbildet, nur teilweise wider. Zum besseren Verständnis ist ihm eine Einordnung des Videos in die Medienproduktion des IS vorangestellt und wichtige inhaltliche und methodische Erkenntnisse werden im abschließenden Fazit kurz zusammengefasst.

2  Inside the Khilafah 8 als Teil der Medienproduktion des IS: Einordnung und Inhaltsangabe In der journalistischen Berichterstattung, aber auch im wissenschaftlichen Diskurs stehen vor allem Bilder von Gewalt und Brutalität sowie die professionelle Gestaltung von Videos im Vordergrund, wenn von der Medienproduktion des IS die Rede ist. Hinrichtungsvideos machen jedoch nur einen relativ geringen Anteil der Videoproduktion des IS aus (drei Prozent zwischen Juli 2017 und Juni

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2018, vgl. Nanninga 2019, S. 14) und es sind vor allem Kriegsberichterstattung, Rekrutierung von (ausländischen) Kämpfer*innen oder Staatsbildung die häufigsten Themen der vielfältigen Formate. Neuere Arbeiten verweisen auf die besonderen Medien- und Branding-Strategien des IS (beispielsweise Nanninga 2019; Winter 2018; Milton 2016; Atwan 2015). Die Medienproduktion ist in thematische, regionale und zielgruppenorientierte Medienhäuser untergliedert und unterstützende ‚Nachrichtenagenturen‘ bewerben die Produktion der Medienhäuser. Das al-Ḥayāt Media Center produziert als zentrale IS-Medienstelle handwerklich professionelle Videos und Schriften, unter anderem in Deutsch, Englisch und Französisch. Damit adressiert es ein internationales, ‚westliches‘ oder ‚globales‘ Publikum, zum Beispiel auch mit der Inside-Reihe. Diese startete im Juli 2017, mit weiteren Folgen im August (Teil 2 und 3) und wurde fortgesetzt im September (Teil 4) und Dezember (Teil 5 und 6) desselben Jahres. Die letzten beiden Teile wurden im Februar (Teil 7) und im Oktober (Teil 8) 2018 veröffentlicht. Die Videos lassen sich zu jenem Ausschnitt des IS-Medienangebots zählen, das auf zeitgenössische journalistische Formate, Gestaltungsweisen und -mittel setzt. Englisch- und arabischsprachige Ankündigungen, Werbung und Downloadhinweise für die Videos zirkulieren in unterschiedlichen Social-Media-Kanälen, die nicht den offiziellen Medienstellen selbst zuzuordnen sind. Die Inside-Reihe stellt eine Mischung aus Reportagen und, in geringerem Umfang, kurzen Erklärstücken dar. Sie richtet sich inhaltlich auch an ein regionales Publikum und muss immer im Zusammenhang mit den aktuellen politischen Entwicklungen betrachtet werden. Vor allem die erste Folge dreht sich, wie der Titel suggeriert, noch direkt um einen ‚zivilen‘ Alltag und das Leben im ‚Kalifat‘ sowie die Einführung der Gold- und Silberwährung (Inside 1). Die nachfolgenden Episoden rücken immer stärker den Abwehrkampf des IS und das Ideal der Aufopferung ins Zentrum.6 Beispielsweise fordern die beiden letzten Teile (7 und 8) Unterstützer*innen implizit und explizit zum Durchhalten in den letzten Gefechten auf. Wurde in den ersten Folgen noch ein attraktives Bild des IS in der globalen Medienöffentlichkeit gezeichnet, um damit Muslim*innen für die Auswanderung ins ‚Kalifat‘ zu interessieren, rufen andere Folgen explizit zu Terroranschlägen in den Heimatländern auswärtiger Zuschauer*innen auf (Folge 2 und 6).

6Eine Ausnahme

stellt hier Folge 3 dar, die vom Guerillakampf der IS-assoziierten Gruppen auf den Philippen (Marawi) berichtet.

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Gestalterisch orientieren sich die Videos an Standards von News-Formaten, etwa mit dem Einsatz eines konsequenten Reihen-Designs (Rot und Weiß als Markenfarbe des Inside-Schriftzugs) und Strukturelementen wie vor allem den in Fernsehprogrammen üblichen ‚Trennern‘, Logo-Animationen, die die einzelnen Szenen oder thematischen Sequenzen voneinander separieren.7 Inside 8 erscheint zu einer Zeit, in der der IS die Herrschaft über alle großen Städte in seinem syrischen und irakischen Kernterritorium bereits verloren hat und bis auf einige kleine strategisch unbedeutende Einzelgebiete nur mehr einen schmalen Streifen entlang des Euphrats in der Provinz Deir ez-Zor in Ostsyrien hält. Die Verluste machen sich auch im Propaganda-Ausstoß bemerkbar: Seit Beginn 2018 ist die Videoproduktion massiv zurückgegangen; Zusammenschnitte einfacher Aufnahmen von Kampfhandlungen sowie die seit August wöchentlich veröffentlichten Statistikvideos der Harvest of the Soldiers-Reihe mit Zahlen zu militärischen Verlusten und Erfolgen dominieren den Video-Output des IS. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass Inside 8 teilweise an die vorherigen Folgen anschließt: Das visuelle Design der Serie wird beibehalten, auch die leitende Sprecherstimme kommt zum Einsatz,8 die in Episode 1 und 7, aber auch in anderen ­al-Ḥayāt-Produktionen wie No Respite (VÖ: 24.11.2015) und The Religion of the Kufr is One (VÖ: 30.05.2016) zu finden ist. An diesen Filmen scheint Inside 8 nun auch hinsichtlich seines schnellen Schnittrhythmus und des massiven Einsatzes von Bildmasken und -collagen mehr orientiert zu sein als an den vorangehenden Inside-Teilen. Inhaltlich fällt schon zu Beginn ein thematischer Wechsel auf: Das Video eröffnet mit Aufnahmen von Kämpfern im Einsatz, von Kameraderie und ‚Märtyrern‘, wie sie auch Inside 7 entstammen könnten. Doch schnell werden die Bilder ‚gebrochen‘, als Aufnahmen auf einem Computerbildschirm inszeniert, vor dem eine vermummte Person sitzt. Nach diesem Auftakt folgt eine Reihe inszenierter Szenen, die wieder stärker an die Inside-Reihe erinnert: Einzelne Unterstützer des IS in unterschiedlichen Rollen und Funktionen blicken in die Kamera, sagen abgestimmte Losungsvariationen auf wie „Das ist das Kalifat“ – „Ich beschütze es“ oder „Ich beschütze die umma“ oder werden in unterschiedlichen zivilen Berufen gezeigt. Aufgrund des sich wiederholenden, von ihnen in die Kamera aufgesagten Sinnspruchs soll dies als eine Form des ‚Fronteinsatzes‘ oder Jihads verstanden werden. 7Vgl.

dazu auch den Beitrag von Zywietz in diesem Band. 2019 konnte Abu Ridwan al-Kanadi alias Muhammad Khalifa oder Muhammad Abdullah Muhammad als Sprecherstimme identifiziert werden, als er von den kurdisch geführten Demokratischen Kräften Syriens (DKS) festgenommen wurde (vgl. Callimachi 2019).

8Anfang

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Dazwischen werden den Zuschauer*innen von wechselnden Kämpfern fünf leitende Pflichten, göttliche Gebote an den Propheten Muhammad, vermittelt. Eine Sequenz, die Einigkeit, Zusammenhalt und eine Art alle Lebensbereiche umfassenden Krieg beschwört, schließt mit Bildern eines Kriegsversehrten, der in ein präpariertes Auto gesetzt wird, um damit einen Selbstmordanschlag zu begehen. Das Motiv des kämpfenden Invaliden im Rollstuhl findet sich bereits in Inside 7 und wird als vermeintlich heroischer Beitrag herausgestellt. Gleichzeitig wird in der Szene durch den Parallelschnitt mit kurzen Impressionen von S ­ocial-Media-Handlungen auf eine andere thematische Ebene verwiesen. Diese Bilder leiten in einen neuen ‚Abschnitt‘ ein, in dem als Alternative zum militärischen Einsatz an der Front in Syrien oder im Irak zu Attentaten gegen die ‚Ungläubigen‘ im ‚Westen‘ aufgerufen wird. Die Bilder von Anschlägen werden auf der bereits aus den vorherigen Folgen bekannten animierten Inside-Weltkarte verortet. Die folgende Passage widmet sich in einer Animationssequenz dem Kampf um die Hoheit in der „medialen“ oder „digitalen Arena“. Der Medienarbeit des IS werden US-geführte Medienmarken, die US-amerikanische National Security Agency oder Anonymous-Cyberaktivisten gegenübergestellt. Diese Opponenten können, so die Botschaft, gegen die Frömmigkeit und die Gemeinschaft der den mujāhidīn (Singular: mujāhid, Kämpfer des Jihad) gleichrangigen munāṣirīn (Singular: munāṣir, Unterstützer), zu der am Ende auch der einsame ‚Online-Kämpfer‘ gehört, nichts ausrichten. Per Info-Tafeln wird anschließend dargestellt, wie sich ein*e gute*r Medienunterstützer*in des ‚Kalifats‘ zu verhalten habe und wie sich im Gegensatz dazu die „Antagonisten“ verhielten. Neben allgemeinen religiösen und gemeinschaftlichen Pflichten werden auch Online-Verhaltensweisen angesprochen. In diesem Zusammenhang wird vor Eindringlingen gewarnt, die im Netz Zwietracht und Zweifel säen oder die Institutionen des IS unterminieren. In Bezug auf ­Online-Aktivitäten gibt das Video in seiner vorletzten Sequenz mit versinnbildlichten Animationen praktische Handlungsanweisungen, wie das unermüdliche Eröffnen neuer Benutzerkonten als Reaktion auf deren Löschungen oder den Upload und die Verbreitung von Propagandamaterial. Bilder realer militanter Operationen werden ‚digitalem‘ Terrorismus gleichgesetzt und die Postproduktion, die Montage der Einstellungen, die Verbreitung der Videos oder der Gesänge, sogenannter anāshīd (Singular: nashīd), als Inspirationsund Motivationsquelle, aber auch als Reichweiten- und Effektsteigerung realer militanter Operationen zur Erschütterung des Feindes präsentiert. Das Video schließt mit einem schnellen Zusammenschnitt von Aufnahmen von Media-Operateuren, die Kampfeinsätze begleiten, und den drängenden Rhythmen

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des englischsprachigen nashīds Answer the Call. Die Stimme des IS-Anführers Abu Bakr al-Baghdadi – Teil einer Audioansprache – rückt den Gesang kurzzeitig in den Hintergrund. Der ‚Kalif‘ unterstreicht die wichtige Bedeutung der „Informationslöwen“ und „Medienkrieger“ und ermahnt dazu, nur den Zentralmedien des IS als Quelle zu vertrauen. Abschließend folgt eine dynamische, stark rhythmisierte Kompilation von Gefechtsszenen. Die letzten Bilder vor dem abschließenden Inside-Logo zeigen einmal mehr den vermummten Medienkämpfer im abgedunkelten Raum vor seinem Bildschirm, auf dem er sich Kriegsaufnahmen und einen Social Media-Chat auf Arabisch ansieht.

3 Videoanalyse – Ein Gruppengespräch 3.1 Charakteristik von Inside 8 Bernd: Beginnen wir vielleicht mit einigen allgemeinen Merkmalen: Inside 8 legt den Schwerpunkt im Vergleich zu den anderen Episoden weniger reportagehaft auf die Einzelprotagonisten, die Statements abgeben oder porträtiert und beobachtet werden. Das Video ist in seinem dokumentarischen Modus (beziehungsweise dem entsprechenden Gestus) primär ‚expositorisch‘, eine Art Erklärvideo (Nichols 2010).9 Das heißt, obwohl es ‚beobachtende‘, dokumentarische Sequenzen gibt (Kampfszenen) und quasi symbolische Inszenierungen (beispielsweise das Aufsagen theologisch-ideologischer Schlagworte), ist das ordnungsstiftende Prinzip hier eine omnipräsente, autoritative Erzählerinstanz, die über den Bildern und Tönen steht.10 Sie organisiert nicht nur das audiovisuelle Material, sondern evoziert es quasi zum Zwecke der Illustration der verschiedenen Kernaussagen oder propagandistischen Botschaften.

9Bill

Nichols (2010) unterscheidet verschiedene Modi des Dokumentarischen, darunter den expositorischen (‚erklärenden‘), der Fragmente der ‚historischen Welt‘ in einem rhetorischen und argumentativen Rahmen versammelt und das Publikum direkt und auf unterschiedliche zeichenhafte Weisen adressiert. Vgl. hierzu wie im Folgenden den Beitrag von Zywietz in diesem Band. 10Klassischerweise ist im expositorischen Modus von einer körperlosen und männlichautoritativen Erzählstimme („voice-of-God commentary“) die Rede (vgl. Nichols 2010, S. 167).

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Simone: Diese Vermischung der verschiedenen dokumentarischen Modi mit dem reportagehaften Stil, zum Beispiel einer BBC Dokumentation, ist jedoch wiederum ein Charakteristikum der Inside-Reihe. Zusätzlich zu der autoritativen männlichen Erzählerstimme wird damit die eigene überlegene moralische Position und ein klares Feindbild transportiert. Der achte Teil weicht eher durch seine episodische Erzählweise und die starke Strukturierung durch das R ­ eihen-Design und die farblich ähnlich gestalteten Animationen und Grafiken ab. Bernd: Die Unterteilung durch ‚Trenner‘ weisen alle Folgen auf, auch das Episodische, aber nach dem ersten Teil wirken die Videos kohärenter, weil sie meist eine einzelne Person in den Mittelpunkt stellen oder, wie in Teil 7, verschiedene, aber gleichartige Lokalitäten beziehungsweise Frontstellungen der Reihe nach ‚besuchen‘. Aber es stimmt, insbesondere die Computeranimations- oder die Montagesequenzen dienen mit den impressionistischen und symbolischen Einstellungen eines Social-Media-Jihads (sowie der Postproduktion eines – oder: ‚dieses‘ – Videos) der illustrativen oder dekorativ-atmosphärischen Untermalung der Worte. Die Worte werden dadurch veranschaulicht oder verstärkt. Yorck: Ein Charakteristikum des Videos ist der erläuternde und anordnende Ton: Erstens was die Anweisung an die Online-Disseminatoren, also die ‚Verteiler‘ der Propagandainhalte, betrifft, mit expliziten Schilderungen des Vorgehens. Zweitens der Aufruf zu Terroranschlägen in Europa, Amerika etc., mit dem offenbaren Ziel, dem militärischen Gegner quasi ‚in den Rücken zu fallen‘. Und drittens die Ausgabe von Losungen für die Kämpfer im Schlachtfeld (beispielsweise im Sinne von Durchhalteparolen). Dass beides in einem Video derart ausdrücklich zur Sprache kommt, verweist auf die bereits brenzlige Situation, in welcher der IS sich im Oktober 2018 befand (s. dazu auch Munoz 2018). Offenbar ‚wirft‘ der IS diese Botschaften wie digitale Flugblätter über den verschiedenen realen und virtuellen Schlachtfeldern ab ..., in der Hoffnung, seine militärische Lage zu verbessern. Bernd: Die Texteinblendungen, aber auch die Lektionen und ihre Lehr- und Merksätze (in Schrift und Rede) verleihen dem Video einen didaktischen Zug. Beispiels-

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weise zu den „Zielen der Infiltrierenden“11 oder den einander gegenübergestellten ‚Checklisten‘ der Merkmale von „Antagonisten“ und „Unterstützern des Kalifatsstaates“12. Die als Voiceover eingefügte Stimme des IS-Anführers Abu Bakr al-Baghdadi fungiert als eine weitere Autorität, die jedoch vom Video abgelöst und damit als Medientext eigenständig ist. Es handelt sich um die Aufzeichnung seiner Ansprache vom 22.08.2018.13 Sie wird mit einem Zusammenschnitt von Film- und Bildmaterial zu Terroranschlägen, mit Filmaufnahmen von IS-Frontkameramännern und -fotografen im Einsatz rhythmisch unterlegt.14

3.2 Medienarbeit als Jihad Bernd: Mein Hauptinteresse bei dem Video liegt auf drei miteinander verbundenen Punkten: Erstens dem Zusammenspiel der verschiedenen medialen und ­Zeichen-Ebenen und ihrer Ausdrucks- und Bedeutungsmittel (Stichwort Multimodalität; siehe hierzu unter anderem Sachs-Hombach et al. 2018). Zweitens der Art und Weise, wie – eben auch multimodal und formalästhetisch – das Video rhetorisch auf eine bestimmte Überzeugungswirkung hin verfasst ist.15 Und drittens auf dem Thema Medialität des Jihad, also der Frage, wie propagandistische Bilder, Videos, Schriften etc., ihre technischen, generischen Formate und – unter anderem gestalterischen – Formen sowie die damit verbundenen Handlungsoperationen Teile einer übergreifenden „Medienfront“ bilden. Simone: Dein Interesse spiegelt die Verbindung von formalistischer Filmanalyse mit rhetorischen und semiotischen Ansätzen wider. Als Medienethnologin und Visuelle Anthropologin bin ich eher am thematischen und medialen Kontext

11Ab

TC 00:10:21. TC 00:11:10. 13Al-Baghdadi: Wa-Bashshir al-Ṣābirīn. 14Ab TC 00:06:09. 15Die hier verfolgte Propaganda-Videorhetorik lässt sich mit Joost (2008, S. 41) verstehen als „übergreifende Kommunikationstheorie, die die Zusammenhänge zwischen Produktionsinstanz, Medium und Adressat nach wirkungsintentionalen Aspekten beschreibt“. 12Ab

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Abb. 2 und 3  Online-Chat im Design (Farbe, Sprechblasenform der Profilbilder) der Video-Reihe Inside the Khilafa (links); Kampfbilder in einem typischen Schnittprogramm (rechts). (Inside the Khilafa 8, Screenshots)

interessiert, also wie das Video in seiner Audiovisualität in unterschiedlichen digitalen Kontexten produziert, weiterverarbeitet und aufgenommen wird und soziokulturell eingebettet ist. Damit schließe ich an Bernds letzten Punkt zur ‚Medialität des Jihad‘ aus einer medienkulturwissenschaftlichen Perspektive an. Ich sehe den selbstreflexiven Bezug auf die eigene Medienproduktion als eines der zentralen Themen im Video. Es wird darin noch einmal betont, dass die Medienarbeit die hijra16 und die Teilnahme am militärischen Kampf, also am Jihad, ersetzen kann und diesem gleichgestellt ist. Die Ausweitung des Konzeptes des Jihads auf die Medienarbeit ist nicht neu, allerdings wird diese Form der Medienarbeit in diesem Video spezifiziert und erfasst hier nun auch die Aufgaben in Social-Media- und M ­ essenger-Diensten. Das ist natürlich eng verknüpft mit den militärischen und politischen Entwicklungen und dem Niedergang des ‚Kalifats‘ in Syrien im Oktober 2018, dem Erscheinungsmonat von Inside 8. Neben dem (bisherigen) Fokus auf Kampfhandlungen und dem Einschwören auf den letzten großen Kampf deutet sich schon eine veränderte Medienstrategie angesichts des territorialen Niedergangs an. Meines Erachtens geht es im Video also erstens darum, audiovisuell darzustellen, wie über Soziale Medien kommuniziert und Videos verbreitet werden sollen. Hierzu dient ein beispielhafter Chat, der grafisch und farblich an das Design der Inside-Reihe angepasst ist und den Verweis von Uploads und die geografische

16Der

Begriff bezeichnet ursprünglich die Auswanderung oder Flucht Muhammads von Mekka nach Medina. Im Kontext des IS wird damit häufig die Verpflichtung angesprochen, nach Syrien bzw. ins ‚Kalifat‘ zu reisen und den bewaffneten Kampf zu unterstützen (vgl. Raven 2018).

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Verbreitung enthält (vgl. Abb. 2). Zweitens wird die Bearbeitung der Videos durch die Darstellung der Kampfbilder in einem typischen Schnittprogramm visualisiert und eine professionelle Bearbeitung suggeriert (vgl. Abb. 3). Drittens gibt es auch einen Bezug zur medialen Berichterstattung und fiktionalen Filmproduktion. Bereits zuvor wurde in Videos, beispielsweise Media man, you are a mujāhid, too (Wilāyat Ṣalāḥ al-Dīn, VÖ: 06.04.2016), und Schriften (s. u.) die Medienarbeit der Kameramänner als Jihad thematisiert beziehungsweise dem militärischen Jihad gleichgesetzt. Dies wird im Video an unterschiedlichen Stellen aufgegriffen.17 Zentral ist allerdings, dass nun die Social-Media-Arbeit und Verbreitung der Videos in diese Medienarbeit und den Jihad mit aufgenommen wird. Larissa: Mein Analyseinteresse als Ethnologin schließt sich dem von Simone an und konzentriert sich vor allem auf den medialen Kontext, in dem sich das Video wiederfindet und zirkuliert, sowie die Behandlung des Themas der Sozialen Medien im Beitrag selbst. Das eigene Design der Inside-Serie fiktiv für Messengerdienste und andere Apps zu nutzen, verstehe ich als besonders bemerkenswert mit Hinblick auf die Frage der Zukunftsvision des sogenannten Islamischen Staates. Nicht nur seine Professionalität im digitalen Raum, sondern auch seine Machtansprüche in der Zukunft werden so verdeutlicht. So bettet sich Teil 8 in die Serie ein und erweitert das mentale Bild, welches der sogenannte Islamische Staat von sich vermitteln will. Relevant für meine Analyse ist außerdem die Gleichsetzung des Kampfes am Gewehr und hinter dem Bildschirm auf visueller Ebene. Der Kämpfer an der digitalen Front, ob hinter dem Computer, Mobiltelefon oder der Kamera, wird mit dem Kämpfer an der Waffe insofern gleichgestellt, als auf visueller Ebene beide vermummt gezeigt werden. Dies wird auch an anderen Stellen deutlich, indem die Kamera und das Handy symbolisch als Waffe im Bild eingesetzt werden. Alexandra: Auch für mich liegt ein klarer Fokus dieses Videos auf der digitalen Medienarbeit des Islamischen Staates („support your khilāfa on the digital front“18). Die Begriffe, die in diesem Kontext verwendet werden – „digital front“ und „digital

17Beispielsweise 18Ab

TC 00:04:20 und 00:15:25. TC 00:07:33.

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arena“ – entspringen einerseits einem militärischen Vokabular, spielen andererseits aber auch auf das Schauhafte, also die Arena als Aufführungsort, an. Damit stellen sie eine Analogie zwischen digitalem und physischem Schlachtfeld her und betonen gleichzeitig die Inszenierung des Kampfes. Bernd: Die IS-Medienarbeit und der digitale Kampf sind aber nicht ganz dasselbe. In dem Video sind verschiedene Aspekte oder Facetten angesprochen, die eng verwoben sind oder ineinander übergehen, die wir trotzdem differenzieren sollten: 1) Propagandakampf der Mediensysteme allgemein (der IS gegen die westlichen Nachrichten- und Unterhaltungs-‚Industrie‘) und 2) die eigene konkrete Medienarbeit. Letzteres lässt sich noch mal unterteilen in 2a) Produktion (das Herstellen der Bilder und Töne) 2b) die Bearbeitung oder ‚Modellierung‘ (Postproduktion: das Video-Editing) und die 2c) Verbreitung der Propagandamedientexte. Hinzu kommen auf individueller Ebene 3) weitere Social-Media-Praktiken der Interaktion (Chatten, Versenden von Direktnachrichten; Eröffnen von Accounts). Wobei dieser letzte Punkt praktisch als Teil der Propagandadistribution (Hochladen von Videos) dargestellt wird. Simone: Ganz wichtig ist, dass es innerhalb des IS, aber auch zwischen IS und verschiedenen unterstützenden militanten Gruppierungen zu internen Auseinandersetzungen über die Medienarbeit gekommen ist. Im Video macht dies die Rede von Abu Bakr al-Baghdadi deutlich, der mit seiner ganzen Autorität darauf pocht, nur Zentralmedien des IS als Informationsquelle zu vertrauen („Beware, o lions of information and warriors of media of taking news from any source other than the Central Media of the Islamic State“19). Diese Konflikte betrafen nicht nur einen ideologischen Richtungsstreit und einzelne Persönlichkeiten. Damit ging auch die Veröffentlichung interner IS-Dokumente oder anderer Nachrichten ohne die Autorisierung durch eine IS-Medienstelle einher (vgl. ­Al-Tamimi 2018a). Bernd: Dieser Punkt bezeichnete noch eine andere, gefährlichere ‚Medienfrontlinie‘, die allerdings nicht lediglich Unterstützungsgruppen betrifft, sondern erbitterte Richtungskämpfe direkt innerhalb der IS-Führungsschicht zwischen

19Ab

TC 00:15:24.

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t­heologisch-ideologischen Hardlinern und eher ‚Moderaten‘, die geheime und der offiziellen Linie widersprechende Texte veröffentlichten und den internen Zwist publik machten (vgl. Bunzel 2019; Al-Tamimi 2018b). Eine solche Subversion ist weit dramatischer, eben weil sie das wichtige, auch in Inside 8 beschworene Bild der inneren Geschlossenheit bedroht. Deswegen wird diese Problematik nur unspezifisch im Baghdadi-Kommentar angerissen – oder drückt sich in den ansonsten nicht so recht eingeordneten Beschreibung der Medien-„Antagonisten“ aus, die „Zwietracht säen“ und die „Institutionen unterminieren“20, was wenig nach den bis dahin fokussierten Akteuren der ‚Kreuzzügler‘ und sonstigen externen Feinde klingt. Vielleicht schauen wir uns aber mal deren Thematisierung genauer an?

3.3 IS vs. US-(geführte) Mediensysteme Yorck: Nehmen wir die Sequenz in Augenschein, die das Selbstverständnis des IS zum Zeitpunkt der Produktion dieses Videos (Oktober 2018) formuliert.21 Zu sehen ist eine sorgfältig und visuell eindrucksvoll produzierte Maske: Der Blick der virtuellen Kamera und damit auch der Blick des oder der Zuseher*in schweben über einer virtuellen Filmrolle, in deren Einzelbildern sich Szenen aus Hollywoodfilmen und Nachrichtensendungen abspielen. Darüber bewegt die Maske ein Dickicht von Logos großer Medienkonzerne – einerseits Produzent*innen und Studios des Hollywoodkinos (darunter Warner Brothers, Paramount und Marvel Studios) und andererseits Fernsehnachrichtensendern (u. a. CNN, NBC und Reuters) (Abb. 4) sowie Zeitungen (beispielsweise The Sunday Times, The New York Times). Die Sequenz endet, als die einzelnen Filmstreifen sich zum arabischen Wort für „Krieg“ (ḥarb) zusammensetzen und ein animierter Papierflieger eine Bombe auf das so geformte Wort „Krieg“ abwirft. Der Papierflieger ist dem Logo des ­Messenger-Dienstes Telegram nachempfunden, der vom IS zur Mediendissemination bevorzugt wird (Abb. 5). Beide Blicke, der Blick der virtuellen Kamera als auch der notwendig von ihr geleitete Blick des Zusehers suggerieren eine observierende Distanz, eine Metaebene zu den von internationalen Medienkonzernen konstruierten ‚Realitäten‘. Ein dritter Blick, der

20Ab 21TC

TC 00:11:31. 00:07:55 – 00:08:30.

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Abb. 4 und 5   Logos der Medienkonzerne (links) und der ‚Papierflieger‘ (rechts). (Inside the Khilafa 8, Screenshots)

hierin enthalten ist, ist der des IS selbst, der sich als siegreich über die internationalen Medienkonzerne darstellt. Das Voiceover klammert dieses Sujet thematisch ein: In the digital world, America beguiled the people for so many years by monopolizing the media and using it to spread its false notion of invincibility while leading the war against the religion of Allah and his allies. And now, this arena has become a source of their regret in their war against the Islamic State. And by Allah’s grace the Islamic State has utilized the same tools to confront their lies, to expose their weakness and destroy their falsehood.22

Alexandra: Der Darstellung des Videos zufolge lag das weltweite Medienmonopol jahrelang bei den USA, wodurch diese ungehindert ihre Botschaften verbreiten und auch ausländische Medien lenken konnten. Erst der IS vermochte es, diese etablierten Machtstrukturen aufzubrechen, so die Erzählung. Der IS schlägt die USA sozusagen mit eigenen Waffen, indem er ‚amerikanische‘ Medienstrategien und -technologien gegen die USA nutzt, um deren ‚Schwächen‘ und ‚Lügen‘ zu enttarnen. Yorck: Das ist richtig. Zudem sind hierin mehrere bekannte Bausteine der ­IS-Ideologie enthalten. Dazu zählen besonders die Behauptung einer Weltverschwörung gegen den Islam und die Opferrolle der Muslime in der Weltgeschichte (woraus sich das

22Ab

TC 00:07:57. Der hypotaktische, also verschachtelte, Satzbau ist typisch für ISPropaganda.

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Aggressionspotenzial des IS und seiner Anhänger ergibt) sowie ferner die technologische Versiertheit des IS. Ohne diese historisch für den IS wichtigen Narrative überzustrapazieren, eröffnet das Video nun einen neuen Schauplatz: Durch das Wort „Arena“ erklärt das Video die Medien zum Schauplatz des Krieges, den der IS gegen die von ihm als feindlich dargestellten Medien führen will. Auch diesen versteht der IS als Teil des Jihad, wie er in dem internen Dokument Media man, you are a mujāhid, too (Maktabat al-Himma 2015; vgl. Winter 2017) zuvor schon dargelegt hat. Der IS begreift sich im Konflikt sowohl mit den nachrichtenbasierten Medien als auch mit solchen Konzernen, die Fiktionen produzieren. Seine Ideologie ist das als einzig ‚wahr‘ behauptete Gegenkonzept zu einzelnen Darstellungen von Realität und damit auch zu Fakt und Fiktion an sich. Dieser Anspruch leitet sich aus dem exklusiven Wahrheitsanspruch ab, den der IS seiner Ideologie zuschreibt („their lies“, „their falsehood“). Aus diesem Anspruch heraus erklärt sich auch, weshalb Medien im ideologischen Horizont23 von Inside 8 als ideologische Arena begriffen werden. Bernd: Ich würde allerdings nicht sagen, dass der IS generell einen Medienkrieg quasi von sich aus gegen den ‚Westen‘ führen will, also aktiv startet, sondern dass ihm einer aufgezwungen wird. Das ist hier nicht oder nur auf der metaphorischen Bildebene explizit, aber ich denke da etwa an die 2004 veröffentlichte Schrift Management of Savagery des al-Qaida-Ideologen und -Propagandisten Abu Bakr Naji (2006 [2004]), die für den IS und seine Strategien sehr relevant scheint. Darin ist mehrfach von einem irreführenden „medialen Schein“24 die Rede, der vom Gegner aus gegen die Jihadisten eingesetzt wird und gegen den es sich zu wehren gilt. Auch auf dem Medienschlachtfeld kann der IS wie andere jihadistische Gruppierungen in der Rolle der Opfer und der Reagierenden, sich Verteidigenden auftreten. Yorck: Aus filmsemiotischer Sicht sind in dieser Sequenz zwei Dinge hervorzuheben: Voiceover und virtuelle Bildmaske werden auf der intra- bzw. extradiegetischen

23Der

Begriff des ideologischen Horizonts ist der Semiotik Pavel Medvedevs (1976) entnommen, der mit diesem eine zugleich zeichenhafte wie materielle Bewusstseinsäußerung fasste. 24In der englischen Version des Textes (Naji 2006 [2004]) verwendet der Übersetzer Will McCants die Bezeichnung media halo.

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Ebene eingesetzt. Das Voiceover klammert die Bilder notwendig von der extradiegetischen Ebene aus und stiftet so einen Deutungskontext: Die Behauptung des Voiceover-Sprechers, Amerika habe die Menschen durch die Medien betört, wird durch das Zeigen der Logos der verschiedenen Medienorgane ergänzt. Bei ihnen handelt es sich um die konkreten Ausprägungen der ‚Akteure gegen den IS‘, so die Implikation des Videos. Die gezeigten internationalen Film- und Nachrichtenorgane seien einer amerikanischen Verschwörung untergeordnet, die darauf abzielt, ‚den Islam‘ und vor allem den Islamischen Staat zu bekämpfen. Das ist gemessen an der Realität natürlich kaum haltbar – die Konzerne partizipieren zwar an der freien Marktwirtschaft und ziehen dadurch wirtschaftlich mitunter an gemeinsamen Strängen, aber ihr erklärtes Ziel ist wohl kaum die Bekämpfung des IS. Simone: Das, was ihr beschreibt, ist ja eine Charakterisierung des medialen Diskurses als Schlachtfeld und daraus resultiert eine Auffassung von Medienarbeit als Kriegsarbeit. Auch diese Auffassung ist im jihadistischen Diskurs keineswegs neu und wurde vielfach bereits so formuliert. In dem oben erwähnten Video, ebenso wie in der von Yorck genannten arabischsprachigen Publikation, definiert der IS Medienarbeit als Teil kriegerischer Handlungen. Bereits in Media Operative, You are a mujāhid, Too (Winter 2017) oder, alternativ übersetzt, O‘ Media Worker, You are a mujāhid (vgl. Kraidy 2017) und dem Video Media man, you are a mujāhid, too wird der Medienarbeiter mit einem Selbstmordattentäter gleichgesetzt. Das wertet nicht nur diese Art der Arbeit auf, sondern auch der Produkte; die Bilder und Videos werden dadurch zu gefährlichen Waffen stilisiert. Marwan Kraidy (2017) argumentiert gar, dass die Bilder zu Projektilen im Kriegsgeschehen werden und er betont damit die operationale und affektive Kraft insbesondere des digitalen Bildes. Inside 8 unterstützt diese Argumentation, da hier die Medienarbeit auf das Digitale ausgeweitet und, wie wir oben bereits diskutiert haben, als Form der Kriegsführung und des Jihad betrachtet wird. Bernd: Wir dürfen nicht übersehen, dass in dieser Sequenz zumindest unterschiedliche Kategorien von Medien miteinander vermischt werden. Es geht in dem Video in dieser Sache ja doch weitgehend um das Erstellen und Verbreiten von OnlineVideobotschaften. In der Hinsicht unterscheidet sich das Video nicht sonderlich von anderen IS-Anerkennungen der Internet-Propagandaarbeit als legitime Form des Jihad.

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Die von Charlie Winter und seinen Tweets so herausgestellte Passage über den US-amerikanischen Medienkrieg, die animierte Auflistung der Medien-Logos und die – doch recht unspezifische Rede vom Aneignen der Tools – überdeckt, dass der IS mit diesem Video nicht tatsächlich den Kampf gegen CNN, BBC oder gar – im fiktionalen und Unterhaltungsbereich – Disney, Marvel etc. aufgenommen hat. Der IS betreibt ja keine Kinos oder Fernsehsender, produziert keine auf dem globalen Markt konkurrierenden Spielfilme oder TV-News. Klassische massenmediale Textformen (Zeitungen und Magazine, auch nicht die eigenen, digitalen) werden in Inside 8 nicht wirklich thematisiert. Das sind drei Punkte, die meines Erachtens zeigen, dass der behauptete ‚Einsatz derselben Werkzeuge‘ höchstens stattfände, wenn in der Medienmarkenlogo-Animation dem Voiceover-Text entsprechend die Social­ Web-Firmen wie Telegram, WhatsApp und Co. dargestellt würden, die der IS tatsächlich sich aneignet und gegen den Westen richtet. Der Medienkrieg des IS ist eben vor allem ein Social-Media-Krieg und kein Kampf, der alle Medienformen und -formate umfasst. Alexandra: Ich würde diese Formen – den ‚klassischen‘ Medienkrieg und den ­Social-Media-Krieg – gar nicht so klar voneinander trennen. Schließlich interagieren ‚klassische‘ Medien und Social Media miteinander. Beispielsweise sind Vertreter*innen ‚klassischer‘ Medien auf diversen Social-Media-Plattformen aktiv. Sie teilen und verbreiten so ihre Nachrichten. Andersherum finden über Social Media verbreitete Nachrichten ihren Weg in den ‚klassischen‘ Journalismus. Der Begriff hybrid media bringt diese Verquickung zum Ausdruck (vgl. hierzu etwa Chadwick 2013). Letztendlich geht es beim Medienkrieg um die Deutungshoheit über ‚Wahrheit(en)‘. Dabei ist zweitrangig, in welchem Raum dieser Krieg stattfindet. Bernd: Gleichwohl ist explizit von „the same tools“ die Rede. Die Differenzierung ist in unserem Zusammenhang durchaus deshalb sinnvoll, weil das Video selbst ansatzweise verschiedene Arten von Gegnern unterscheidet: die Medienindustrie, die subversiven Social-Media-Gegner*innen und die verschiedenen Cyber-Feinde wie Anonymous oder die NSA (s. u.) sowie die zu terrorisierende Öffentlichkeit, die auch im Netz stattfindet. Was aber Hollywood und Co. betrifft, so bleibt der IS unkonkret in seiner Aussage, wie er dagegen vorgeht.

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Yorck: Ich möchte noch einmal auf das Bild zurückkommen, in dem der antagonistische Medienkomplex, der das Wort „Krieg“ formt, aus der Luft bombardiert wird. Mit den Kampffliegern im Wortsinn, die wir in diesem Screenshot deutlich ausmachen können, zitiert der IS einmal mehr eine für die Gruppe ganz reale Bedrohung. Die Warnung vor angreifenden Luftfahrzeugen hat für den IS und die Bevölkerung in seinen Einflussgebieten eine äußerst praktische Relevanz. Der IS hat ein Militär, aber keine Luftwaffe und ist Luftangriffen schutzlos ausgeliefert. Wir erinnern uns: 2015 war der jordanische Pilot Muʿadh al-Kasasba in ISGefangenschaft geraten und wurde kurz darauf lebendig verbrannt. Die Medienstellen des IS nutzten das Ereignis, um eine Warnung vor Kampfflugzeugen an die Bevölkerung zu richten. Gleichzeitig wollte man durch die Exekution des Piloten eine Einstellung der jordanischen Luftangriffe erzwingen. Das Ganze ist dokumentiert in Healing of the Believers‘ Chests ­(al-Furqān Media Foundation, VÖ: 03.02.2015). Am Ende der Animationsmaske kommt der virtuelle Blick über Syrien zum Stehen, wo standhaft das Banner des Islamischen Staates weht. Filmrhetorisch wird hier sogar die Unbezwingbarkeit des IS gegenüber Flugangriffen insinuiert – als Rhetor ist der IS hier überheblich und argumentiert an der Realität vorbei. Christoph: Ich stimme Dir zu und würde gern noch einmal einen bestimmten Aspekt hervorheben, nämlich die Überhöhung der eigenen medialen und kämpferischen Fähigkeiten in dieser Szene. Die sehr deutliche Bedrohung des IS durch Luftangriffe, denen dieser keine eigene Luftwaffe entgegenzusetzen hat, wird hier gewissermaßen umgekehrt. Der Papierflieger imitiert das Telegram-Logo oder steht zumindest sinnbildlich für die Verbreitung von Nachrichten. Der Bomber, ein vermeintlich simpler Papierflieger, also die einfachste aller Möglichkeiten, eine Nachricht unter Ausnutzung natürlicher Umweltfaktoren über eine gewisse Distanz zu transportieren, wird hier als ein Mittel präsentiert, mit dem keineswegs bloße Medienfilmspuren angegriffen werden. Unter Einsatz dieses einfachen Werkzeugs lässt sich vielmehr ein ganzer Komplex aus medialen Produkten, Medienproduzenten, staatlichen Akteuren und derer aller Interessen, Ideologien und materiellen Instrumentarien beschädigen. Dieser Komplex richtet sich gegen ‚den wahren Islam‘; alle daran Beteiligten führen einen Krieg und verkörpern ihn zugleich – sie sind der Krieg, der hier in arabischen Lettern aus den Medienfilmspuren geformt wird.

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Bernd: Auf dieser abstrakten Ebene macht das Sinn: Der ­‚Mainstream‘-Medienkomplex wird mittels Sozialer Medien attackiert. Das spricht für Alexandras Hinweis auf die Verwobenheit, aber auch für eine zumindest analytische oder heuristische Trennung. Trotzdem bleibt das konkrete visuelle Sinnbild hinsichtlich der verschiedenen Zeichensysteme und -dimensionen verworren: Wir haben a) das Telegram-Logo. Als stilisiertes Papierflugzeug agiert es quasi wie ein ‚echter‘ Flieger innerhalb eines unbestimmten, aber physikalisch korrekten diegetischen Raumes (hinsichtlich Bewegung, Körpereigenschaften, Perspektive etc.). Dieses Flugzeug wirft b) abbildhaft-illustrative Bomben ab, die c) den arabischen Schriftzug „Krieg“ treffen und zerstören. Diese unterschiedlichen Modalitäten, ihre Zeichenressourcen und ihre Repräsentationsbezüge und -funktionen (bildsymbolisch, metaphorisch, abbildhaft-diegetisch, schriftsprachlich) verwirren in ihrer Fülle und Gleichwertigkeit. Zudem bleibt diese kurze Animation unpräzise oder diffus in ihrer Gesamtmetaphorik. Wofür steht der Schriftzug „Krieg“? Meint er den ‚realen‘ Krieg, seine massenmediale, mithin auch audiovisuelle Repräsentation oder die konzeptuelle Vorstellung davon in den Köpfen der Zuseher*innen? Für letzteres spräche die Verwendung der Schriftzeichen, die anders als Abbildungen ja per se etwas Abstraktes oder Wahrnehmungsfernes sind. Auch lässt sich ‚Krieg‘ als nicht-gegenständlicher Zustand ebenso wenig bombardieren wie ‚Terrorismus‘. Das wirft wiederum die Frage auf, inwiefern und was Telegram konkret attackiert, wofür die Bomben stehen, worin ihre Zerstörungskraft liegt. Generell scheint mir, dass der IS sein Publikum, seine Anhänger, aber auch sich selbst vage, aber vehement von der Wirkmacht der Propagandainhalte (die über Telegram verbreitet werden) oder der Kommunikation (die über Telegram und Soziale Medien läuft) zu überzeugen sucht. Er bedient einen im Westen gebräuchlichen Topos, nämlich den der hocheffizienten „weaponization“ von Bildern beziehungsweise des „Bilderkriegs“ (vgl. u. a. Yarchi 2019) vor allem in Sozialen Netzwerken – oder aber er fällt selbst auf die Rede von der Macht seiner Propagandabilder herein, die von allen Seiten bedient und befeuert wird. Yorck: Was solche vagen Aussagen in IS-Videos anbelangt, zeigt sich in ihnen mithin eine rhetorische Eigenart der IS-Propaganda. Einerseits sind IS-Medien schnell darin, Feindbilder zu entwerfen, diese auf die niedrigste Stufe zu stellen und darüber hinaus die in der Ideologie begründeten Forderungen hervorzustellen. Andererseits nehmen sich die medialen Diskurse des IS kaum die Zeit, die eigene Ideologie ausführlich darzulegen. Stattdessen funktionalisieren sie nur eine

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Ideologie, die abseits der bekannten Medien – bei der ideologisch informierten Zuseherschaft – bereits in strukturierter Form etabliert ist. IS-Videos sind dadurch ein Transtext (vgl. Genette 1996) für eine durch die Videos oft kaum direkt greifbare Ideologie. Das einzelne Video bildet nur die Spitze des ideologischen Eisbergs ab, während der oder die ideologisch empfängliche Zuseher*in seine oder ihre Schlüsse unter der Rahmenmaßgabe einer bereits internalisierten Ideologie ziehen muss. Anders als historische Propagandafilme etwa des Dritten Reiches setzen jihadistische Medienproduzent*innen nämlich nicht auf Spielfilme, die eine Argumentationsstruktur durch figurale Haltungen und Handlungen verhandeln, sondern auf Programmformate, also thematisch strukturierte Videos, die in einem dokumentarisch-journalistisch anmutenden Modus verfasst sind. Dabei sprechen sie durch Cadrage, Montage, Visual FX und Sound FX (um nur die wichtigsten ästhetischen Verfahren zu nennen; z. B. Beil et al. 2012 oder Krasner 2008) die audiovisuelle Sprache der Zeit, knüpfen also an die Sehund Hörgewohnheiten eines breiten internationalen Publikums an, wodurch die Kommunikation thematisch-ideologischer Inhalte erleichtert werden soll.

3.4 Auseinandersetzung im digitalen Raum Bernd: Lasst uns einen Schritt weiter gehen in Sachen digitaler Arena. In der nächsten Sequenz bezieht sich das Inside 8-Video auf die Akteure, die den IS im digitalen Raum bekämpfen: die National Security Agency (NSA), das Government Communications Headquarter (GCHQ, quasi die britische NSA), der Bundesnachrichtendienst (BND), aber auch Aktivisten wie jene der Gruppen GhostSec und CtrlSec, die auf Twitter Jagd nach Accounts des IS und seiner Unterstützer*innen machen. Diese werden hier als „Söldner“ bezeichnet, wodurch im selben Zug sowohl die Arbeit der IS-Unterstützer*innen im Internet legitimiert als auch die Arbeit ihrer Gegner*innen delegitimiert wird. Daran schließt inhaltlich eine weitere Szene später im Video an.25 In dieser ist auf der Sprachkommentarebene recht allgemein die Rede davon, dass die Unterstützung des IS im Cyberspace die „Ungläubigen“ in Rage versetze und den „Gläubigen“ Freude bringe („your support enrages the disbelievers and brings joy to the muʾminīn“ [Gläubigen]).

25Ab

TC 00:14:51.

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Yorck: Hier würde ich gerne direkt einhaken. Es findet sich auf der semantischen Ebene des Videos also eine doppelte Grenzziehung, die wir erläutern sollten, um die im Video zeichenhaft konstruierten Oppositionen aufzuschlüsseln (vgl. Lotman 1993 zu Raumkonstrukten). Auf der ‚Hier‘-Seite des Islamischen Staates, der in Inside 8 als Rhetor auftritt, stehen sich die Medienarbeiter des IS und deren Gegner im Cyberspace gegenüber. Beide werden in einen militärischen Kontext gestellt, wobei es sich bei den ideologischen Gegnern im ‚Dort‘ lediglich um „Söldner“ handele. Es wird im Video nicht näher erläutert, aber dadurch, dass „Söldner“ negativ konnotiert sind (sie sind Soldaten, die nicht für bestimmte Ideale, sondern allein für Geld arbeiten und somit ‚schlechtere Soldaten‘ genannt werden könnten), werden die Akteure des IS im Umkehrschluss als Kämpfer für eine beständige und bedeutende Sache dargestellt, als überzeugte Anhänger der Religion und damit im Kontext der IS-Ideologie automatisch positiv konnotiert. Wie aber verdeutlicht das Video dieses Merkmal? Der Gegensatz von ‚besseren‘ versus ‚schlechteren Soldaten‘ wird konterkariert von einer zweiten semantischen Gegenüberstellung, denn bei den Anhängern des IS handele es sich um Gläubige, denen Freude („joy“) zuteilwerde (wodurch das spirituelle Erleben der Religion funktionalisiert wird), und bei den Gegnern des IS um Ungläubige („disbelievers“), die sogar gezielt in Wut („rage“) zu versetzen seien. Legt man diese Bedeutungsschablonen übereinander, so offenbart sich die für den IS typische Konzeption der Medienarbeit als sowohl militärisch als auch religiös bedeutsam. Die Frage nach der konkreten Topografie dieses Denkens schließt direkt an diese Oppositionen an. Seitens des IS ist klar, dass dieses Weltbild überall dort eine Kontingenz des Denkens darstellt, wo der IS Präsenz zeigt. Aber wie sieht es auf der Gegenseite aus? Gibt es im Video Bilder, die den ideologischen Gegner weiter konkretisieren? Bernd: Auf der Bildebene wird das Video direkt im Anschluss konkreter. Gezeigt werden Personen beim Empfang im Global Center for Combating Extremist Ideology in Riad (Abb. 6 und 7).26 Hier werden also nicht nur besagte „Ungläubige“ gezeigt, die „in Wut zu versetzen sind“, sondern auch unmittelbare Gegner bzw.

26Die

selbsterklärte Mission des Global Center for Combating Extremist Ideology ist es, extremistische Ideologie (pro-)aktiv und in Zusammenarbeit mit Regierungen und zuständigen Organisationen zu bekämpfen. Siehe dazu die offizielle Web-Präsenz Global Center for Combating Extremist Ideology (2019).

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Abb. 6 und 7   Besucher im Global Center for Combating Extremist Ideology. (Pressevideoaufnahmen im Video Inside the Khilafa 8, Screenshots, im Original unverpixelt)

Konkurrenten in der digitalen Arena, also solche, die Gegenbotschaften liefern. Zugleich wird durch diese Bilder der symbolische Schulterschluss zwischen Saudi-Arabien und ‚dem Westen‘ gegen den ‚wahren Islam‘ des IS belegt und die saudische Regierung als ‚unislamisch‘ diskreditiert. Allerdings handelt es sich hier um Personen in formeller Kleidung, ältere Männer (Experten, Regierungsabgesandte). Sie sind selbst keine Untergrundkämpfer mit Sturmhaube, die aktiv und im Zwielicht eines Computerbildschirms agieren, geschweige denn mit dem Gewehr auf dem ‚analogen‘ Schlachtfeld, sondern passiv anmutende, quasi machtlose, vielleicht gar dekadente Gegner mit auf dem Rücken verschränkten Händen. Yorck: Die Hände auf dem Rücken als „filmbildliche“ Konnotation von Passivität? Das würde durchaus in den Kontext der Bildsprache des IS passen, der ja in der Vergangenheit zur Genüge gegen Saudi-Arabien gewettert hat. Das Bild erweitert die vom Video als solche behauptete Gegnerschaft des IS jedenfalls zu einem Spektrum, das von Politikern über Experten bis hin zu gesichtslosen ‚Söldnern‘ reicht. Aber bestätigt sich denn in der Bildsprache nicht auch die Hypothese über den religiösen und vorbildlichen Soldaten einer beständigen Sache, die wir soeben aufgestellt hatten? Christoph: Im Kontrast zu den computeranimierten Logos und Bildern der vom IS als solche erkannten Gegner sehen wir vorher Aufnahmen von ‚analoger‘ Gemeinschaft. Besonders hervorzuheben ist das Bild eines Jungen, der neben seinem Gewehr sitzend den Koran liest. Das Bild ist in warmen, erdigen und goldenen Farben gehalten (Abb. 8).

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Abb. 8   Junge liest neben seinem Gewehr sitzend den Koran. (Inside the Khilafa 8, Screenshot, im Original unverpixelt)

Yorck: Sehen wir uns die rhetorischen Ebenen des Bildes (vgl. Barthes 1990) näher an. Der Farbton rangiert im Bereich der Erd- und Goldfarben – sehr typisch in der Selbstdarstellung, gerade die Farbe Gold assoziieren IS-Videos mit ideellen Qualitäten des ‚Kalifats‘. Der mujāhid im Schneidersitz, sein Gewehr und sein Koran sind als Denotate das Was der Darstellung einer sorgfältigen Bildkomposition. Christoph: Solche Aufnahmen und ihre Nachbearbeitung in diesem ästhetischen Schema suggerieren auch Brüderlichkeit und Gemeinschaft auf beinahe romantische Weise, wie auch in weiteren Aufnahmen im Video zu sehen ist, in denen mujāhidīn in Gruppenbildern zu sehen sind. Simone: Interessant ist die Mehrdeutigkeit bei unseren Beschreibungen und Interpretationen. Durch die Begriffe, die wir für die Video-Analyse auswählen,

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v­erändern sich auch die Bilder. Während wir zunächst von einem „Jungen, der neben seinem Gewehr sitzend einen Koran liest“ sprechen, wird durch den Kontext des Videos dieser Junge zu einem mujāhid, einem der Jihad betreibt, einem islamistischen Kämpfer. Diese Bilder schließen an die Kriegsrealität vor Ort in Syrien an, der sich auch Kinder und Jugendliche nicht entziehen können, und stellen gleichzeitig ein romantisiertes Bild vom Kampf mit Buch und Waffe dar. Die Medialität des Buches, der Kamera, die das Kriegsgeschehen dokumentiert und der Online-Kampf werden so in Verbindung zueinander gesetzt und in unserer Interpretation zu unterschiedlichen Möglichkeiten der Unterstützung des Jihad zusammengefügt. Yorck: Bei dem, was du beschreibst, handelt es sich aber um keine bloße Wahrnehmung, sondern um eine im Video zeichenhaft verankerte, bewusste Botschaft des IS. Schließlich werden hier für die IS-Bildsprache typische Assoziationen verwendet, die den mujāhid mit dem Religiösen, nämlich dem Koran, verbinden (wobei natürlich die Gründlichkeit des Koranstudiums aufseiten des IS wiederholt – und zu Recht – infrage gestellt wurde). Christoph: Solche Motive sind das Gegenbild zu den großen Medienfirmen, den Online-Geheimdiensten und ihren Handlangern, die im Video angesprochen ­ werden. Der Einzelne und sein Koran, ein Buch, das im Islam mehr ist als nur ‚Medientechnik‘ – dazu passt auch in einer späteren Sequenz das Zeigen von Medienarbeitern auf dem Schlachtfeld, die mit ihrer Kamera genauso relevant sind und gefährlich leben wie der mit einem Gewehr bewaffnete mujāhid. Die konkrete Medienarbeit der Gegenseite sehen wir nur bruchstückartig in sehr schnell geschnittenen Takes (Abb. 9 und 10). Yorck: Ist im Video eigentlich zu erkennen, welche Online-Dienste der IS benutzt, um seine Medien zu verbreiten? Larissa: An einigen Stellen kann man einen (kurzen) Blick auf Mobiltelefon- und Computerbildschirme werfen, wobei Chats im Stil von Messenger-Diensten und

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Abb. 9 und 10  Kamera-Arbeit im Kriegsgebiet (links) und Online-Arbeit als Jihad (rechts). (Inside the Khilafa 8, Screenshots)

Social-Media-Kanälen angezeigt werden. Auffällig ist dabei, dass keiner der vom sogenannten IS üblicherweise gebrauchten Messenger-Dienste mit Namen genannt oder zumindest visuell dargestellt wird, während die Logos diverser westlicher Konzerne und Entertainment-Anbieter in der bereits beschriebenen Szene zu sehen sind. Es wäre möglich gewesen, Telegram, WhatsApp, Facebook oder andere Anbieter exemplarisch darzustellen. Darauf wird allerdings verzichtet und stattdessen das Inside-Design als fiktiver Messenger gezeigt (s. Abb. 2). Dabei stellt sich die Frage, warum der Umweg über einen erfundenen Dienst gegangen wird. Yorck: Zu diesem Zeitpunkt werden die Namen solcher Dienste vom IS schon nicht mehr aus strategischen Gründen verschwiegen, um das Vorgehen des IS geheim zu halten. Telegram scheint trotz der Europol-Löschaktion Ende 2019 die bevorzugte Plattform für IS-Mediendissemination zu sein, weil die Zensur dort am geringsten ist (vgl. Yayla und Speckhard 2017) und eigene Server für den IS zu riskant wären (vgl. Europol 2018). Larissa: Telegram sowie auch die anderen oben genannten Plattformen werden vom Verfassungsschutz, der Polizei, Journalist*innen und Wissenschaftler*innen überwacht. Zahlreiche Publikationen sind darauf in der Vergangenheit eingegangen. Somit handelt es sich nicht um heikle Informationen, die hier verborgen werden müssten. Handelt es sich dabei vielleicht um eine Zukunftsvision, in der der sogenannte Islamische Staat auf selbst-programmierte Apps und Software zurückgreift und damit seine Unabhängigkeit von etablierten Systemen und Netzwerken beweist?

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3.5 Selbstreflexion der IS-Videopropaganda Bernd: Dass die Propaganda des IS mehrfach selbstreferenziell, eine ­‚Meta-Propaganda‘ ist (also Propaganda, die nicht nur Weltsicht oder Handlungen, sondern quasi sich selbst thematisiert oder propagiert), ist nicht neu.27 In Inside 8 wird aber mindestens in dreifacher Weise das Filmemachen, also die Produktion und die Bearbeitung der Aufnahmen (Video-Editing am Computer) zum Gegenstand des Films selbst. Einmal, wenn Kameramänner im Feld gezeigt werden. Dann zum Auftakt, wenn Kampfhandlungen zu sehen sind, die sogleich zu Aufnahmen auf einem Monitor innerhalb einer Erzählwelt in Inside 8 werden – zum Objekt der technischen Darstellung und der Betrachtung einer Figur. Und schließlich in einer Szene, in der das kreative Gestalten eines oder gar des Inside 8-Videos selbst ganz eindrücklich vorgeführt wird (s. u.). Interessant ist dabei zu überlegen, was der Sinn dahinter ist. Was bedeutet das, welches Ziel wird damit verfolgt? Im Bereich des Dokumentarfilms etwa spricht Bill Nichols vom „reflexiven Modus“ (vgl. Nichols 2010, S. 196) als dem, der sich selbst am meisten bewusst ist (self-conscious) und sich selbst be- oder hinterfragt (self-questioning).28 Wie ist das dann in unserem Fall? Christoph: Das ist ein entscheidender Punkt: Diese Selbstbetrachtung ist auch in Inside 8 zu finden. Das Video reflektiert den eigenen Modus der Arbeit, indem es einmal das verwendete Video zeigt und dann damit bricht, auf den Bearbeitungsschritt und auf das Betrachten des Videos abhebt. Aber ein Infragestellen, ein kritisches Nachdenken über die Repräsentation sehe ich gar nicht. Alexandra: Es ist sogar fraglich, ob dieses Infragestellen in IS-Videos überhaupt vorkommt. Das würde ja der Intention der Videos widersprechen, Menschen zu überzeugen und für die Sache des IS zu gewinnen. Kritische Selbstreflexion findet hier keinen Platz. 27Beispiele

für eine solche Selbstthematisierung sind das Video Raid of the Villages to Spread Guidance (Wilāyat Ḥalab, VÖ: 04.05.2016), das die Missionierungsarbeit vor Ort veranschaulicht, und Fisabilillah (al-Ḥayāt Media Center, VÖ: 14.04.2014), das die Überzeugungs- und Inspirationsleistung der IS-Videos quasi in einem fiktionalillustrativem Szenario nachstellt (vgl. Zywietz 2015). 28Vgl. dazu wie für die filmische Selbstreflexivität und ihre Möglichkeiten der Eigenkritik Meyer (2005).

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Yorck: Wenn das eigene Medienhandeln in IS-Videos reflektiert wird, geht es immer um Affirmation, um das Zeigen der eigenen Arbeit, das Zeigen, dass diese Arbeit gut ausgeführt wird und dass damit auch ein Handwerk verbunden ist. Bernd: Richtig, das liegt in gewisser Weise begründet im Hauptunterschied zwischen Propaganda beziehungsweise Werbung, die in erster Linie ein persuasives Ziel verfolgt, und dem Dokumentarfilm, der den Anspruch hat, etwas über die Welt zu zeigen oder auszusagen. Trotzdem ist die Selbstreflexivität mehr als ein Selbstzweck, kein bloßes Ausstellen der Medientätigkeit, mit der die al-Ḥayāt-Gestalter sich und ihr Können selbst feiern. Vielmehr geht es um die große Bedeutung, die der Videopropaganda im oder als Teil des Jihad beigemessen wird. Yorck: Dies ist auch im Video repräsentiert, was bereits die Intro-Sequenz verdeutlicht. Das Intercutting, also das Hin- und Herschneiden zwischen den Schlachtfeldszenen und der Darstellung dieser Schlachtfeldszenen auf dem Bildschirm verklammert die beiden Erzählstränge, sodass diese zeitlich parallel ablaufen. Der IS hat ja schon zuvor die Medienarbeit mit dem bewaffneten Jihad für gleichwertig erklärt. Das bildet die Syntax, also quasi der Satzbau der Filmmontage, hier ebenfalls ab. Es sind zwei Formen von Jihad, die hier zeitgleich und gleichrangig stattfinden. Alexandra: Die Schlachtfeldszenen sind in dieser Sequenz für mich zweitrangig. Meines Erachtens geht es vor allem um die Medienarbeit an sich. Es wird dargestellt, wie die Prozesse des Medienmachens ablaufen. Du hältst an, spulst zurück, spielst wieder ab. Yorck: Ja, es sind die Handlungen und Praktiken des Medienmachens, die hier vorgelebt werden. Die Aussage dahinter: Das sind die Handlungen, die wir begrüßen. Das meint sowohl den Kampfeinsatz wie auch den mediengestalterischen Einsatz. Beides sind Betätigungen, zu denen aufgerufen und für die motiviert werden soll. Es reflektiert hier den Blick des potenziellen Rezipienten, der dann die Optionen der jihadistischen Betätigung abwägen kann.

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Bernd: Dazu passen die kurzen Einstellungen beziehungsweise die schnellen Schnitte und das spannungsreiche Montieren von kontrastiven Perspektiven und Bildausund -anschnitten. Verkantete Bilder, eine offene Bildkomposition und eine wackelige Handkamera: Die Social-Media-Arbeit wird hier ebenso dynamisch oder ‚action-reich‘ inszeniert wie der militärische oder terroristische Einsatz in Form von Schlachtfeldaufnahmen. Alexandra: Dadurch, dass man als Zuschauer*in des Videos in eine solche Meta-Position zur Medienarbeit versetzt wird, schwingt auch der Appell mit, nicht mehr nur eine beobachtende Rolle einzunehmen, sondern selbst aktiv zu werden und den IS zu unterstützen. Wie diese Unterstützung konkret aussehen kann, wird im Video bereits dargestellt. Man muss es dem Protagonisten nur gleichtun. Bernd: Das ist äquivalent zu den – allerdings dann verbal expliziten – Aufrufen zu Terroranschlägen, vor allem in vorangegangenen Folgen der Inside-Reihe. Greif zu den Mitteln und Waffen, die dir zur Verfügung stehen, egal ob Messer oder Benzin. Wir haben also zwei Motivierungsargumente. Erstens: Sieh her, wie einfach es sein kann, alles Nötige steht dir zur Teilnahme am Jihad zur Verfügung. Zweitens, mit Blick auf die Propaganda-Gestaltungsarbeit am Rechner: So wichtig wie der bewaffnete Kampf, aber auch so packend kann sie sein. Simone: Das betrifft allerdings nicht nur die Videoarbeit, sondern auch andere Formen des digitalen Kampfes in Inside 8, der immer wieder hervorgehoben wird: With one click the scene is uploaded to thousands of munāṣirīn [Unterstützer]. With one click the munāṣir [Singular von munāṣirīn] amplifies the voice of truth to reach millions. With just one press of a button the daʿwa [Einladung (zum Islam)] is spread, truth is established against mankind. And the world is left in bewilderment. This is the baraka [Segen] of the jamāʿa [Gemeinschaft]. The power of īmān [Glaube]. So where are you, oh muwaḥḥid [Monotheist]?29

29Ab

TC 00:05:00.

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Der Stimme ist durch die Bearbeitung mit einem Hall-Effekt mehr Nachdruck verliehen. Durch die Einblendung des Kommentars als schriftliches Bild wird die Aussage des Zitats zusätzlich verstärkt. In diesem Zitat tritt nicht nur der absolute Wahrheits- und Deutungsanspruch des Islamischen Staates in den Vordergrund, sondern auch, dass es zahlreiche Unterstützer*innen auf der gesamten Welt gibt, die diesen Wahrheitsanspruch unterstützen und weiterverbreiten. Bernd: Das Verbreiten der Inhalte wird nicht mit dem Zünden einer Autobombe gleichgesetzt, sondern mit dem Verstärken der Kraft und Reichweite der Explosion („For with every press of a key on the keyboard, you amplify the force and reach of the explosives“30). Man ist oder wird nicht nur Teil einer großen Gemeinschaft, sondern es wird auch eine enorme Macht suggeriert, die mit der Social-MediaArbeit einhergeht. Yorck: Die Arbeit am und mit dem Videomaterial verleiht dem Media-mujāhid also Agency (z. B. Emirbayer und Mische 1998). Bernd: Die terroristische Bombe und der Videoupload werden hier direkt assoziiert: Der Dateilade-Statusbalken verlängert sich nach rechts oben, die Prozentzahl des Uploads steigt wie ein umgekehrter Countdown und sobald er die ‚0‘ (oder hier entsprechend die ‚100 Prozent‘) erreicht, werden drei schnell hintereinander geschnittene Explosionen aus der Vogelperspektive gezeigt. Die Verbreitung von Online-Botschaften erscheint nicht nur als Initiierung eines Anschlages oder der Potenzierung seiner Terrorwirkung, sondern fast selbst wie ein Sprengsatz. Das lässt an die Idee von Bildern als „mindbombs“ einer terroristischen Kommunikationsguerilla denken (vgl. Baden 2017, S. 95 ff.). Für mich am eindrücklichsten und effektvollsten ist die Video-Editing-Szene ab TC 00:14:40. Wir sehen auf der diegetischen Ebene im Halbdunkel, wie der ‚Medien-Jihadi‘ das Material im Schnittprogramm kombiniert und bearbeitet, während auf der extradiegetischen Ebene und unterlegt von dem nashīd namens For the Sake of Allah der Voiceover-Erzähler über die ‚kriegsrelevante‘ Bedeutung der Medienkommunikation, Gestaltung und Distribution spricht. Dann kommen die Worte: „And with every click of a mouse and every piece of content

30Ab

TC 00:14:30.

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you disseminate.“ In Großaufnahme erfolgt bei „click of a mouse“ tatsächlich auf der ‚fiktionalen‘ Bildebene ein Mausklick – woraufhin der nashīd auf der bislang vermeintlich außerdiegetischen Stufe abrupt stoppt. Auch der Satz des Sprechers wird hier unterbrochen, was umso wirkungsvoller ist, da im Video stark auf sprachrhetorischen Fluss und Rhythmus geachtet wird. Was wir also unseren Seh- und Hörkonventionen gemäß als extradiegetische Musik eingeordnet haben, ‚entpuppt‘ sich schlagartig als innerdiegetisch, als Teil der ‚Spielhandlung‘. Oder aber die quasi-fiktionale oder illustrative Figur erscheint plötzlich auf einer anderen Wirklichkeitsstufe, auf der des (oder ihres) Erzählers. Sie ist im selben Rang wie der omnipräsente Erzähler des Videos, kann die Welt oder Wirklichkeit des Videos – und mithin ihre eigene – (mit-)gestalten und steuern. Das ist schon sehr ‚postmodern‘. Symbolisch oder metaphorisch führt es uns aber auch die manipulative Macht des Propaganda-Mediendesigners vor Augen und zieht uns doppelt hinein. Zum einen, indem uns unsere eigene Beeinflussbarkeit durch die medialen beziehungsweise filmischen Mittel und Konventionen schlagartig bewusst wird. Zum anderen, weil wir uns plötzlich selbst als Adressaten von Propaganda erfahren, ob nun als Gegner des IS oder als (potenzielle) Unterstützer, also munāṣirīn. Natürlich kann diese Metalepse31 oder andere „Metaisierungen“ (vgl. Hauthal et al. 2012), überhaupt das ständige Neuarrangieren, Überblenden und Zusammenmischen von Zeichensätzen in Inside 8 auch als rein ästhetisch-erlebnishafte Spielerei ohne tiefere Bedeutung abgetan werden. Aber rhetorisch finde ich die Szene in diesem Kontext sehr bemerkenswert. Alexandra: Diese Szene wie auch die anderen selbstreflexiven Szenen im Video erfüllen in erster Linie eine konative Funktion. Denn sie appellieren an den Aktionismus der Zuschauer*innen. Das Handeln, das eigene Tätigwerden und nicht etwa weitere Reflexion steht im Fokus. Yorck: Diese Überzeugungsabsicht ist wohl als ein Versprechen an diejenigen anzusehen, die eine eigene Teilnahme tatsächlich anstreben: ‚Jihad beginnt und endet mit deinem Mausklick‘. 31Metalepse

meint hier das Überschreiten oder Durchbrechen der Grenze zwischen zwei abgetrennten Erzählwelten (Diegesen) bzw. der (meta- oder extra-diegetischen) Erzählinstanz und der von ihr erzählten oder quasi erzählerisch hervorgebrachten Welt (vgl. Pier 2009).

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Bernd: Ich frage mich, inwiefern Selbstreflexion oder zumindest Autoreflexivität selbst Bestandteil der theologischen Grundlagentexte sein mag. Schließt die Art des Redens in der Propaganda an eine bestimmte Tradition beziehungsweise wichtige ideologische Bezugspunkte an? Christoph: Man könnte hier auf die starke Selbstreferenzialität (vgl. etwa Sinai 2006) des koranischen Textes verweisen. Eine Auto-Reflexivität, wie wir sie hier besprechen im Sinne eines kritischen Hinterfragens der eigenen Botschaft, ist darin jedoch nicht enthalten und würde dem Charakter eines heiligen Textes auch zuwiderlaufen. Alexandra: Trotzdem finden sich im Koran immer wieder Stellen, in denen die Vernunft (ʿaql) benannt wird. Ein Beispiel hierfür ist Sure 10, Vers 100: „Kein Mensch kann gläubig werden, es sei denn, mit Gottes Erlaubnis. Unreinheit legt er auf jene, die nicht begreifen.“ Die arabische Entsprechung für „begreifen“ ist yaʿqilūn, was wiederum den Begriff ʿaql, also Vernunft, beinhaltet. Dies ist insbesondere in einem religiösen Kontext hervorzuheben. Vernunft und Religiosität schließen sich nach dieser Auffassung also keineswegs gegenseitig aus. Nach der koranischen Verwendung ist die Vernunft sogar eine Voraussetzung für Religiosität. Bernd: Andererseits ist der Verweis auf die Vernunft und die rationale Einsichtigkeit ein beliebtes propagandistisches Mittel. Es wird damit eine scheinbare Selbstevidenz behauptet. Dies funktioniert allerdings nur, wenn das Publikum ohnehin bereits zu einem gewissen Grad von der ‚Richtigkeit‘ des Gesagten überzeugt ist. Alternativ setzen religiöse, aber auch militärische ‚Überzeugungstäter‘ (im etwas anderen Wortsinn) gerne auf Gehorsam, Treue und Loyalität. Wie sieht es denn in Inside 8 mit solchen und auf andere Art verpflichtenden Ansprachen aus?

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3.6  Inside 8 als Instrument der Klassifikation von ‚gut‘ und ‚schlecht‘ Alexandra: Die in Inside 8 verwendete direkte Ansprache „So where are you, o muwaḥḥid?“32 zeigt zum einen die Notwendigkeit neuer Rekruten. Zum anderen steckt darin der suggestive Imperativ: ‚Wenn du ein muwaḥḥid, also ein Monotheist, bist, dann musst du hier beim IS sein‘. Christoph: Völlig richtig! Es lohnt sich, hier einmal auf die Mehrschichtigkeit der nach innen gerichteten Appelle zu schauen. Zum einen finden wir suggestive Aufforderungen, wie die von Dir benannten, zum anderen aber auch direkte Aufforderungen. Sie basieren zunächst auf den vom IS immer wieder bemühten Ansprüchen, den ‚wahren‘ Weg zu verkörpern, wie Islam gelebt, gedeutet und verkündet werden solle. Sie beruhen auf einem Selbstverständnis, das religiöse Konzepte in den Mittelpunkt rückt und die eigenen Handlungen und gesellschaftlichen Vorstellungen von den ‚richtigen‘ Dogmen ableitet. In Videos wie Inside 8 wird diese Welt- und Selbstsicht zu einem ‚Vorbeten‘ bloßer Stichworte, die ob ihrer Geschichte symbolisch wertvoll sind. Hier jedoch müssen die zugehörigen Bilder Begriffe wie manhaj (Glaubenspraxis) und ʿaqīda (Dogma) mit Leben füllen. In ähnlicher Weise stichwortartig, jedoch aufwendig filmisch und grafisch inszeniert wird ein Ausspruch des Propheten Muhammad (ḥadīth), der der muslimischen Gemeinschaft fünf Pflichten auferlegt, nämlich das Gehorchen (ṣamʿ), den Gehorsam (ṭāʿa), die Gemeinschaft (jamāʿa), die Auswanderung (hijra) und den jihād. Der Verweis auf diesen bei al-Harith al-Ashʿari überlieferten Ausspruch33 verleiht der gesamten Sequenz religiöse Legitimation, da hier islamische Quellen zitiert werden (Abb. 11). Die Aufzählung dieser Pflichten ist Mittelpunkt einer Sequenz am Anfang des Videos, die verschiedene Personen ins Zentrum rückt, die in Syrien und Irak Teil des IS sind. Interessant ist nicht nur die Darstellung der unterschiedlichen Tätigkeitsfelder, die die hier Porträtierten abdecken (Abb. 12a–f).

32Ab

TC 00:05:34. al-Shaybani (2003, S. 799). Die Recherche des entsprechenden hadīth übernahm Majd Alkatreeb, wissenschaftliche Hilfskraft in der Nachwuchsforschergruppe Dschihadismus im Internet. 33Vgl.

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Abb. 11   Infografik mit Ausspruch des Propheten Muhammad und Liste der fünf Pflichten. (Inside the Khilafah 8, Screenshot)

In besonderer Weise sticht hervor, dass sie alle ihre Tätigkeit als „Frontstellung“ (thaghr) bezeichnen oder sie als Beispiel eines Jihad markieren. Damit ist die Sequenz die filmrhetorische Öffnung für die Konzentration des Videos auf das mediale Schlachtfeld, denn alle Personen dienen als vorbildhafte Beispiele für ‚richtiges‘ Handeln in den militärischen Kampfgebieten. Alexandra: Dass du diese Sequenz eine „filmrhetorische Öffnung“ nennst, ist interessant, da der Begriff thaghr ursprünglich eine „Lücke“ oder „Öffnung“ bezeichnet (vgl. Bosworth und Latham 2012, S. 446). Er wird historisch auch für Grenzpunkte zwischen islamisch geführten Gebieten mit islamischer Rechtsprechung (dār ­al-islām, wörtlich: Haus des Islam) und nicht-islamisch geführten Gebieten (dār al-ḥarb, wörtlich: Haus des Krieges) verwendet (vgl. ebd.). Zwar findet diese Unterscheidung zwischen dār al-islām und dār al-ḥarb heutzutage kaum mehr Anwendung, für jihadistische Gruppierungen ist sie jedoch durchaus relevant. Hier ist sie „mit der Aufforderung verknüpft, diejenigen Länder, die nicht zum Dar al-Islam, sondern zum Dar al-Harb, gehören, militärisch zu unterwerfen“ (Funke 2018).

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Abb. 12   Collage: verschiedene Personen und Berufsgruppen als Teil des ‚Kalifats‘. (Inside the Khilafah 8, Screenshots, im Original unverpixelt)

Christoph: Zur Ausbreitung des dār al-islām dient dem IS nicht nur der militärische Einsatz. Inside 8 zeigt gleichermaßen die Möglichkeit auf, sich auf medialer Ebene zu betätigen. Diese Betätigung für den IS ist jedoch auch an Regeln gebunden, ebenso wie menschliches Handeln grundsätzlich nach den Vorstellungen des IS in ‚gut‘ und ‚schlecht‘ klassifiziert und einem entsprechenden Regelwerk unterworfen sein soll. Das Video artikuliert hier explizite Anweisungen für ‚richtiges‘ Handeln. Im Zentrum steht ein Kriterienkatalog zur Gegenüberstellung von ‚guten‘ Unterstützer*innen des IS und ‚schlechten‘ oder ‚bösen‘ „Antagonisten“ (Abb. 13).

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Larissa: Der hier eingeführte Begriff fitna (Zwietracht) (vgl. Gardet 2012) zur Umschreibung der ‚schlechten Antagonisten‘ verweist zunächst auf eine mögliche, den IS betreffende Spaltung. Gleichzeitig wird eine Auswirkung auf die gesamte muslimische Gemeinschaft (umma) unterstellt (vgl. Denny 2012), zu deren Repräsentant der IS sich auserkoren sieht. Fitna beschreibt im Koran eine Versuchung für die Glaubensschwachen in der umma. Historisch meint es die Spaltung der frühen umma und steht damit heutzutage für das ‚Horrorszenario‘ eines Zerwürfnisses der muslimischen Gemeinschaft. An dieser Stelle zeigt sich wieder die selbst zugeschriebene Rolle des IS als Sprecher und Wächter der umma, der sich auf eschatologische Vorstellungen beruft und sich somit als vermeintlicher Retter präsentiert. Alexandra: Dass dabei die „Antagonisten“ umschrieben und nicht etwa konkret benannt werden, betont das in Inside 8 kommunizierte inklusive Potenzial des IS. Termini wie munāfiq (Heuchler) oder murtadd (Abtrünniger), welche der IS ansonsten derogativ zur Beschreibung von Muslim*innen benutzt, die aus Sicht des IS den Islam nicht ‚wahrhaftig‘ praktizieren, kommen hier nicht vor.34 Durch diese Nicht-Benennung bleibt das Feindliche unspezifisch und unfassbar, was darauf hindeuten kann, dass sich der IS mit diversen antagonistischen Strömungen, womöglich auch aus den vermeintlich eigenen Reihen, konfrontiert sieht.35 Während das Feindliche also unkonkret bleibt, wird im Voiceover der auch in anderen IS-Videos gängige Terminus munāṣir für Unterstützer des IS verwendet. Dem Wortursprung nach ist der munāṣir ein „Unterstützer“ oder „Beschützer“. Im Koran kommt der Begriff nicht vor, sondern lediglich die verwandten Partizipien nāṣir und naṣīr mit der Bedeutung „Unterstützer“ oder „Befürworter“.

34Aaron

Y. Zelin (2016) thematisiert die Klassifikation verschiedener, aus Sicht des IS feindlicher Gruppen. 35Vgl. hierzu Aymenn Jawad Al-Tamimi (2019), der reformistische Tendenzen innerhalb des IS beobachtet: „As it turns out, just before the US-backed Syrian Democratic Forces (SDF) announced in March 2019 the capture of the last areas of al-Baghuz in eastern Syria from IS, a lengthy book was released online called Keep back the Hands from Allegiance to ­al-Baghdadi, written by former IS member Abu Muhammad al-Hashimi.“ Zwischen der Veröffentlichung von Inside 8 und al-Hashimis Veröffentlichung liegen nur wenige Monate, was vermuten lässt, dass diese internen Konflikte bereits über einen längeren Zeitraum schwelten.

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Abb. 13   Animierte Textinserts (oben) und Infotafel (unten, Bildausschnitt) zur Unterscheidung von ‚gut‘ und ‚schlecht‘. (Inside the Khilafah 8, Screenshot)

Im heutigen Sprachgebrauch ist munāṣir oftmals Teil einer Genitivverbindung im Sinne von „Anhänger der Partei“ (munāṣir al-ḥizb) oder „Anhänger der Bewegung“ (munāṣir al-ḥaraka).36 Christoph: Diese Konstruktion ist auch auf die Anhänger*innen des IS übertragbar. Sie drückt die Verbindung eines ‚wahrhaften‘ munāṣir zur Organisation aus, die dieses Identitätsangebot macht – in diesem Fall der IS. Durch die Klassifikation der Eigenschaften eines ‚wahren‘ munāṣir kann der IS – trotz des Verlustes sozio-politischer Lenkungsmacht in Syrien und dem Irak – immer noch klassifikatorische Macht ausüben, also festlegen, wer zu ‚den Guten‘ und wer zu ‚den Schlechten‘ gehört. Die Gruppe nimmt folglich weiterhin für sich in Anspruch, auf Basis ihrer Doktrin nicht nur Menschen zu klassifizieren, sondern daraus auch Handlungsanleitungen abzuleiten, die letztlich gesellschaftliches Zusammenleben

36An

dieser Stelle möchte ich Majd Alkatreeb herzlich für seine Recherche zur koranischen und heutigen Verwendung des Begriffs danken.

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Abb. 14   Treueeid in einem Chatfeld. (Inside the Khilafah 8, Screenshot)

regeln sollen. Man kann hier also von einem ins Digitale übersetzten Anspruch auf regulative Autorität sprechen, der abermals den Absolutheitsanspruch des IS ausdrückt, den Larissa bereits thematisierte. Zu diesem Absolutheitsanspruch gesellt sich noch ein Anspruch des ­Erwählt-Seins. Denn nicht jeder kann ein munāṣir sein, genauso wenig wie ein munāṣir eine beliebige Gruppe unterstützen kann. Ein ‚wahrer‘ munāṣir unterstützt den IS, so die Botschaft des Videos. In diesem Sinne ist auch der Treueeid (bayʿa) zu begreifen, der in der zweiten Hälfte des Videos in einem der Chatfelder zu sehen ist (Abb. 14). Der Treueeid formt als eine Feststellung dessen, was in der Gegenwart ist (assertiver Akt), und gleichzeitig als eine auf die Zukunft bezogene Festlegung (kommissiver Akt) einen ritualisierten Rahmen für eine individuelle oder kollektive Anerkennung von Abu Bakr al-Baghdadi und damit des IS. Diese erfährt dadurch öffentliche Wirksamkeit und erhält einen gemeinschaftsbildenden, einheitsstiftenden Charakter. In den klassischen Quellen sunnitischer Jurisprudenz und Staatstheorie spiegelt bayʿa als Praktik den Abschluss eines Vertrages zwischen Herrschern und Beherrschten wider; der performative Aspekt von Akklamation durch die Beherrschten und Replik der Herrschenden spielt dabei eine herausgehobene Rolle. Seitens des Islamischen Staates ist dieser Akt in vielen Videos als integraler Bestandteil sunnitischer Identität und

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als Komponente des symbolischen Repertoires der Gruppe festgeschrieben und funktionalisiert. Der Akt wird verbunden mit Attributen wie Identitätsstiftung, Loyalität, Stolz und Stärke. Mit diesen Attributen versehen ist dieser Akt ein weiteres Charakteristikum der ‚reinen‘ muslimischen Gemeinschaft im Gegensatz zum Kollektiv der Ungläubigen, von dem sich die den Treueeid Leistenden symbolisch distanzieren können. Er gerät somit zum Lackmustest für individuelle Frömmigkeit und verleiht zudem Hoffnung auf ontologische Sicherheit in einer durch Gott geschützten Gemeinschaft. In den klassischen Vorstellungen, aber auch in vielen video- und fotografischen Zeugnissen, in denen Menschen dem IS im Irak, Syrien, Libyen oder an anderen Orten die Treue geloben (vgl. Al-Tamimi 2014), geschieht dies in einer öffentlichen Zeremonie. Die Herstellung von Öffentlichkeit sowie ein kopräsentes Publikum sind essenziell, insoweit bayʿa als öffentlich aufgeführte Praxis In-Group-Bindungen auch unter Ausnutzung sozialen Drucks und sozialer Erwartungshaltungen stärken helfen soll. Durch die Herstellung von Kopräsenz und öffentlicher Zeugenschaft werden auch im Rahmen gewaltsamer Konflikte virulente Desintegrationskräfte potenziell begrenzt und damit das entstehende Kollektiv ‚Islamischer Staat‘ abgesichert. Den klassischen Vorlagen37 folgend lautet die hier verwendete Formel: Ich schwöre dem Befehlshaber der Gläubigen, dem Shaykh Abu Bakr al-Baghdadi al-Qurashi al-Husayni einen Treueeid, ihm folgend und gehorchend in allem, was mir gefällt und missfällt, angesichts von Entbehrung und Bequemlichkeit und mich gegen seine Autorität nicht aufzulehnen, außer ich werde eines Falles manifesten Unglaubens gewahr, für den ich einen Beweis von Gott bei mir habe.

Bernd: Ein Treueeid als solcher ist, gemäß gängiger Auffassung in der Sprechakttheorie, kein assertiver Akt (im Sinne eines Mitteilens, dass etwas der Fall ist oder dass es vom Sprecher für wahr gehalten wird), sondern in der Tat ein kommissiver (selbstverpflichtender) und vor allem deklarativer Akt, also einer, der Wirklichkeit – hier das Treue-Verhältnis – erst hervorbringt (vgl. u. a. Ehrhardt und Heringer 2011). Ähnlich dem sprachlichen, sozialrealitätsstiftenden Akt des ‚Verheiratens‘. Gerade deswegen ist das dargestellte ­bayʿa-Textnachrichtenfeld ja so interessant. Mit ihm werden Soziale Medien oder der digitale Raum nicht nur als a) Arena beziehungsweise Schlachtfeld oder b) Mittel der Auseinandersetzung

37Hier

dem Ḥadīth bei Bukhari kitāb al-fitan, 7056 S. Ḥajar al-ʿAsqalānī 2003.

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sowie als c) Gebiet, das es zu erobern, zu halten und verteidigen gilt (ähnlich dem IS-Territorium), ausgewiesen. Sie werden auch d) als Mittel oder Ort dargestellt, mit oder in dem die rituelle Zeremonie nun stattfindet oder vollzogen wird. Wir haben eine Mediatisierungsschrittfolge der bayʿa38, bei der die medientechnologischen Mittel und ihre Bedeutung mit der militärischen Lage (der Zerschlagung des ‚Kalifats‘) Hand in Hand gehen. Beispielsweise ist da zunächst das Video Mein Treueid an den Islamischen Staat (al-Tibyān, VÖ: 11.04.2014) von Denis Cuspert mit – einerseits – der Dokumentation des Schwurs und – andererseits – Cusperts Ansprache ans Publikum, in der er über diesen Schwur sowie die Beweggründe dafür (und für seine Ausreise) Auskunft gibt. Der nächste Schritt sind die bayʿa-Videos, die auch formal als eine Art parasozialer Ersatz für die Face-to-Face-Situation dienen39: Der Treueeid wird (anders als bei der Cuspert-Aufzeichnung einer Handlung zwischen Kopräsenten) direkt in die Kamera geleistet, und dieser Blick in die Kamera beziehungsweise diese direkte Adressierung überdeckt die zeitliche und räumliche Distanz. Trotzdem kann man hier noch unterscheiden zwischen dem performativen Schwur vor der beziehungsweise für die Kamera und der Aufzeichnung dieses Schwurs, die im Netz veröffentlicht wird. Wenn die noch stärker vermittelte, anonymisierte nicht oder nur teilöffentliche Direktnachricht wie im Inside 8-Video nun auch noch gilt, dann kann man das einerseits als Entwertung des bayʿa-Ritus betrachten, andererseits aber auch als enorme Aufwertung der Sozialen Medien. Es illustriert oder signalisiert eine Entwicklung des IS hin zum virtuellen oder digitalen ‚Kalifat‘ als reiner Internet- und vor allem ­Social-Web-Gemeinschaft. Die kommissiven und deklarativen Aspekte verschieben sich ganz auf die Äußerungsseite, also auf die bislang nur behelfsmäßige kommunikationstechnische Aufzeichnung und Vermittlung.

3.7 Social-Media-Kontexte des Videos: Verbreitung und Aneignung Simone: Wenn wir die Ebene des Videos wieder verlassen und uns den Kontext in unterschiedlichen Social-Media- und Messenger-Diensten anschauen, sehen wir, dass 38Zum

Begriff der ‚Mediatisierung‘ als Charakterisierungsbegriff des medientechnologisch bedingten Wandels von Praxen, Kulturen und Institutionen sowie von ‚medialisierten‘ Gesellschaften allgemein vgl. Birkner 2017, S. 13 ff. 39Vgl. zu Parasozialität die Beiträge von Klewer und von Lee in diesem Band.

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vor allem auf Telegram und Twitter das Video verbreitet und diskutiert wurde. Für mich kann das Video nicht ohne diesen Kontext analysiert werden, da durch dieses Framing auch die Interpretation des Videos gelenkt wird. Zunächst wurde wie üblich die Veröffentlichung des Videos in unterschiedlichen IS-nahen Kanälen und Unterstützer*innenkreisen durch ein Banner („Coming Soon“) angekündigt. Einige Tage später wurden in diesen und weiteren Kanälen, vor allem aber auf Telegram, unterschiedliche Sprachversionen und zahlreiche Downloadlinks zu archive.org, Vimeo, Google Drive, Amazon und weniger bekannten Diensten verbreitet. Da mittlerweile viele Monitoring-Stellen mit den Online-Diensten zusammenarbeiten, werden diese Angebote meist schnell wieder gelöscht und die Downloadlinks in zeitlichen Intervallen immer wieder neu angeboten. Die Videos werden durch einzelne Bilder, kurze Fotoreportagen, Infografiken oder Audiodateien der anāshīd, die im Video vorkommen, angekündigt und beworben. Das Video wird also in remedialisierter Form weiterverbreitet. Dadurch werden unterschiedliche Zielgruppen angesprochen und Nutzungsmöglichkeiten und -praktiken angeboten. Das Auskoppeln von Einzelbildern und Infografiken erleichtert nicht nur den Zugang zu spezifischen Inhalten. Einzelne Bilder können auch schneller betrachtet und weitergeleitet werden als das gesamte Video. Die Auskopplung eines nashīds ermöglicht darüber hinaus den Zugang über mp3-Player oder andere mobile Endgeräte, wodurch dieser zu jedem beliebigen Zeitpunkt angehört werden kann. Bernd: Auch hier findet sich also viel Selbstreferentialität: Wovon das Video berichtet und wozu es aufruft, ‚lebt‘ es sozusagen selbst. Es ist Teil einer extremistischen Gegenöffentlichkeit. Vielleicht macht hier die behauptete Macht oder Augenhöhe mit den etablierten Medienmarken und -kanälen am meisten Sinn. In den Telegram-Kanälen und -Chats wie auch in anderen Informations- und Kommunikationsräumen erfüllt der IS – oder zumindest andere alternative News-Outlets, die über (unter anderem Kriegs-)Verbrechen an Muslim*innen ­ berichten – die Funktion, die für uns die Tagesschau oder die Süddeutsche Zeitung haben, während in diesen Kreisen umgekehrt solche für uns seriösen Quellen als Propaganda und Indoktrination aufgefasst werden. Diese Medienumwelten sind keine abgeschlossenen Blasen – wie die Reaktion auf Charlie Winters Tweet zeigt. Aber sie sind kleine eigene Systeme oder Umwelten, mit Begleit- oder Paratexten, Anschlusskommunikation, Orientierungspunkten etc.

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Alexandra: Genau darin liegt meines Erachtens die Wirkmacht von IS-Medien. Die Vielzahl an Medienformaten und Verbreitungswegen bildet eine Erlebnisumgebung, in der diverse Zielgruppen bedient werden können. Anāshīd spielen hierbei eine besondere Rolle, da sie eine historisch gewachsene islamische Gedicht- und Gesang-Praxis mit jihadistischen Botschaften und Popkultur vereinen. Popkulturelle Elemente wie das Verwenden von digitalem Hall und automatischer Tonhöhenkorrektur, aber auch die audiovisuelle Präsentation als ‚Musikvideos‘, welche dann über Soziale Medien verbreitet werden, sprechen insbesondere Jugendliche an. Die Visualisierung von anāshīd kann zwar auch explizite Gewalt beinhalten. Oftmals ist sie jedoch völlig unverfänglich und zeigt beispielsweise idyllische Landschaftshintergründe. Auf diese Weise können jihadistische Inhalte schnell, einfach und teilweise sogar unbeabsichtigt Eingang in den Alltag von Jugendlichen finden. Die Message des in Inside 8 mehrmals vorkommenden nashīds Answer the Call40 ist dahingegen – zumindest für ein des Englischen mächtiges Publikum – eindeutig: Go and answer the call. Don’t spare none, kill them all. It is now time to rise. Slit their throats, watch them die. Bernd: Ich möchte Alexandras und Simones Hinweis auf die verschiedenen Versionierungen und die Remedialisierung nochmals aufgreifen. S ­ achs-Hombach et al. (2018) schlagen als eine der Dimensionen von Multimodalität die partizipatorische vor. Das lässt mich daran denken, wie ein Video wie Inside 8 verschiedene ‚Aggregatzustände‘ annehmen oder aber – bedingt durch die Praktiken der unterschiedlichen Nutzer*innen wie der Produzent*innen – in ganz verschiedene Formen und Stadien zerlegt, aufgespalten, rekombiniert oder geremixed und umgestaltet werden kann. Da ist das Video in Gänze, das selbst intertextuell gestaltet ist (altes Bildmaterial hier, bekannter nashīd und Auszüge aus der Baghdadi-Rede da). Daraus kann ich aber auch Bewegtbilder entnehmen und Standbilder machen und diese als eigenständige ‚Texte‘ verbreiten (was ja bei Inside 8 auf Telegram geschah). Ton und Bild lassen sich voneinander trennen, was die rhetorische Wirkungskomposition zerstören, aber zugleich eine neue eröffnen kann (Videoartefakte beziehungsweise -elemente als ‚Sammelstücke‘ und Teile einer Kollektion). Aus Teilen des Videos wird ein Trailer geschnitten, der wiederum auf das Video selbst verweist und es bewirbt usw.

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TC 00:05:49 und ab 00:14:47.

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Die Social-Web-Kanäle und -Plattformen wie die technischen Formatierungen und Affordanzen wirken auf die Konsistenz und Interaktionsfähigkeit dieser Medien-‚Texte‘ zurück. Eine Videodatei, die ich als avi- oder mp4-Datei mit seltsamem Titel von einer anonymen Filesharing-Seite direkt auf meine Festplatte laden muss, hat einen anderen ‚Wert‘, eröffnet eine ganze andere Wahrnehmung, Begegnungs- und Umgangsweise als ein (oder dasselbe) Video, das quasi sichtbar und autorisiert samt Vorschaubild, Überschrift und Kommentarspalte in eine offene Videoplattform eingebettet ist. Larissa: Dabei finde ich es auch relevant zu sehen, wie nicht nur Sympathisant*innen das Video online zirkulieren und diskutieren, sondern auch Wissenschaftler*innen und andere Akteure, wie Charlie Winters eingangs erwähnter Tweet zeigt. Gerade im Hinblick auf die Debatte zum Online-Archiv Jihadology von Aaron Y. Zelin und seiner Verbreitung und Bereitstellung von Propaganda-Materialien finde ich diese Diskussion wichtig. Das britische Innenministerium versuchte zwei Jahre lang, die Seite zu schließen oder Zelin dazu zu bewegen, die ‚extremeren‘ Inhalte zu löschen. Dabei ging es ihnen um den potenziellen Missbrauch der Plattform durch IS-Unterstützer*innen, welche diese für ihre Zwecke nutzen könnten, um beispielsweise Anhänger*innen zu rekrutieren. Bei einer Menge von 750 Gigabyte an Videos wurde die Seite zu einer idealen Quelle für Wissenschaftler*innen, Journalist*innen und ‚Extremist*innen‘ zugleich, so der Vorwurf der Behörden. Der Zugang zu sensiblen Materialien auf der Seite wurde nun durch eine Zugangsbeschränkung und Nutzermanagement geregelt, an deren Einführung Google und Facebook beteiligt waren.41 Ausgehend von diesem Fall müssen wir uns also die Frage stellen, inwiefern es möglich ist, solche Videos zu teilen und kritisch zu diskutieren, ohne dem Material dadurch mehr Raum zu geben und die Produzent*innen ungewollt bei der Verbreitung an ein größeres Publikum zu unterstützen? Und wer kann sich auf welche Weise mit diesen Materialien beschäftigen und welche Auswirkungen hat das? Simone: Du sprichst hier einen sehr wichtigen Punkt an. Charlie Winter hat mit seinen Twitter-Kommentaren nicht nur uns als Wissenschaftler*innen auf Inside 8 aufmerksam gemacht, sondern die Reichweite und Aufmerksamkeit auf das Video 41Seit

Anfang 2019 haben nur mehr Wissenschaftler*innen, Journalist*innen und andere Akkreditierte Zugriff auf die jihadistischen Audio- und Videomaterialien. Vgl. zu Jihadology auch den Beitrag von Lee in diesem Band.

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insgesamt erhöht. Zudem werden Twitter-Postings von Wissenschaftler*innen wie auch von Journalist*innen in Kreisen von IS-Sympathisant*innen und Unterstützer*innen aufmerksam verfolgt, kommentiert, Personen beleidigt und teilweise widerlegt, so auch Charlie Winters Posting auf Twitter. Einerseits ist es spannend, dass die Arbeit von Wissenschaftler*innen eine direkte Auswirkung auf das ‚Untersuchungsfeld‘ haben kann. Andererseits stellt es Wissenschaftler*innen vor emotionale Herausforderungen, in jihadistischen Netzwerken erwähnt und teilweise beschimpft zu werden, mit denen sie sich auch außerhalb des professionellen Rahmens auseinandersetzen müssen. Hier wird ganz besonders die Verwobenheit der unterschiedlichen Formen von Öffentlichkeit in Sozialen Netzwerken deutlich und letztendlich auch das, was Christoph und wir im Rahmen des Forschungsprojektes mit ‚jihadistischer Audiovisualität und ihren Verstrickungen‘ als Forschungsfeld entwickelt haben. Eine Vielzahl an Akteuren – Journalist*innen, Wissenschaftler*innen, Künstler*innen, Aktivist*innen und Unterstützer*innen – setzt sich mit der Medienproduktion von jihadistischen Gruppierungen auseinander und wird durch die interpretativen, medialen und ästhetischen Zusammenhänge, die dadurch entstehen, ein Teil dieser Verflechtungen.

4 Fazit Mit diesem Beitrag haben wir am Beispiel des IS-Videos Inside the Khilafa 8 die kollaborative Videoanalyse in einem dialogischen Format vorgestellt. Nach einer Einordnung des Videos in die Medienproduktion des IS und in den Kontext der Inside-Reihe haben wir uns auf die drei wichtigsten Themenblöcke des Videos fokussiert: die Bedeutung von Medienarbeit und ihre Gleichsetzung mit Jihad, die Legitimation der eigenen Autorität durch die Einteilung von ‚guten‘ und ‚schlechten‘ Handlungen und die Bedeutung von Social-Media-Kontexten für die Verbreitung und Aneignung der Videos. Die Einbindung unserer Videoanalyse in den Kontext der Twitter-Botschaften des Terrorismus- und Kommunikationswissenschaftlers Charlie Winter veranschaulicht dabei, dass der Fokus seiner Tweets auf die kurze Sequenz zu internationalen US-geführten Medienkonzernen zwar auch unseren Fokus gelenkt hat und wir diese Stelle im Video als wichtige Sequenz analysiert haben. Gleichzeitig verdeutlicht unser Gruppengespräch, dass gerade diese Art der ­(Twitter-) Kommunikation über IS-Videos auch als Teil der Videoanalyse miteinbezogen werden muss, wenn wie in unserem Projekt jihadistische Audiovisualität in ihrer Komplexität und in ihren Verstrickungen angemessen untersucht werden soll.

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Generell zeigt das dialogische Format auf, wie sich im schriftlichen Austausch, aber auch in persönlichen Gruppendiskussionen die unterschiedlichen Bedeutungsebenen, Interpretationen und Analysen durch die Zugänge aus Islamwissenschaft, Ethnologie und Film- und Medienwissenschaft ergänzen und befruchten können. Formalistische, filmrhetorische und semiotische Ansätze greifen mit ethnologisch und islamwissenschaftlich informierten Interpretationen ineinander und bieten eine Perspektivvielfalt, die allerdings je nach Thema und Frage unterschiedlich gewichtet und ausgestaltet ist. Das zeigt sich bereits in der unterschiedlichen Verteilung der Wortbeiträge je Person, Fachgebiet und spezifischem Forschungsinteresse und spiegelt damit auch unsere Erfahrung als Analysegruppe im Rahmen unserer Forschungsprojektarbeit wider. Die unterschiedlichen Begriffe sowie methodischen Annährungen und Umgangsweisen mit dem Untersuchungsmaterial können fruchtbar zusammenspielen, beispielsweise wenn ethnografische Schreibkonventionen wie die Eingangsvignette mit dichten filmwissenschaftliche Beschreibungen einzelner Szenen in Verbindung gesetzt oder der Treueeid (bayʿa) aus dem Video sowohl im religiösen als auch medialen Kontext mit Bezug auf die Sprechakttheorie analysiert wird. An einigen wenigen Stellen zeigt sich jedoch auch, dass die unterschiedlichen Zugänge und analytischen und theoretischen (Fach-)Begriffe eher nebeneinanderlaufen oder sogar einander entgegenstehen, wenn beispielsweise Videopropaganda, Propaganda-Videorhetorik oder Kommunikationstheorie in den Zugängen aus der Islamwissenschaft oder der Ethnologie nicht aufgegriffen werden oder unterschiedliche Theoriezugänge zu Medialisierung und Mediatisierung (vgl. beispielsweise Birkner 2017; Deacon und Stanyer 2014; Morgan 2011; Livingstone 2008) nicht oder nur ‚zufällig‘ miteinander in Bezug gesetzt werden. Das ist nicht nur der Umfangsbegrenzung dieses Beitrages geschuldet, sondern markiert auch generelle Grenzen interdisziplinärer Kollaboration. In diesem Text wie in unserer Gemeinschaftsarbeit zeigt sich allerdings, dass sich daraus produktive Diskussionen ergeben können. Dies etwa, wenn ‚blinde Flecken‘ selbst wieder zum Gegenstand der Betrachtung gemacht und in Relation zum Analysegegenstand gesetzt werden. Wenn sich die verschiedenen Perspektiven, die damit verbundenen Interessen und Sensibilitäten aneinander reiben, kann das helfen, problematische Selbstverständlichkeiten zu entlarven, Tunnelblicke zu weiten, dabei aber auch Überinterpretation oder der unwillkürlichen Konstruktion des Gegenstandes entgegenzuwirken – etwa, wenn in der Bildbeschreibung ein Junge, der neben einem Gewehr sitzend einen Koran liest, unversehens als mujāhid beschrieben wird.

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Den voraussetzungslosen Blick kann es natürlich nicht geben. Der Dialog als prozessuale, dynamische und multiperspektivische Form der Erkenntnisgewinnung ist aber nicht bloß ein entsprechender Ersatz oder Notbehelf. Gerade wenn es um politisch, ethisch-moralisch, psychologisch und emotional herausfordernde Medientexte, -umgebungen und -kulturen wie die jihadistischer Audiovisualitäten und ihrer Verflechtungen geht, ist es eine geeignete methodische Art der Auseinandersetzung, der Bewältigung und des kritischen ­Sich-dazu-Verhaltens.

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Simone Pfeifer, Dr., Ethnologin und Visuelle und Medienanthropologin. Arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiterin in der Nachwuchsforschergruppe Dschihadismus im Internet am Institut für Ethnologie und Afrikastudien der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Studium in Heidelberg, Köln und Manchester. Promotion zum Thema Social Media im transnationalen Alltag (transcript Verlag 2020). Yorck Beese M.A.,  ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand in der Nachwuchsforschergruppe Dschihadismus im Internet, beheimatet am Institut für Ethnologie und Afrikastudien der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Zu seinen Forschungsinteressen zählt die Codierung von Ideologie in jihadistischer Videopropaganda und die Erforschung der Geschichte des jihadistischen Films. Alexandra Dick,  ist Doktorandin der Islamwissenschaft in der Nachwuchsforschergruppe Dschihadismus im Internet am Institut für Ethnologie und Afrikastudien der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. In ihrer Promotion mit dem Titel Hymns of the Caliphate: Islamic State Anāshīd befasst sie sich mit der Verwendung und Rezeption beziehungsweise Perzeption von Gesängen des Islamischen Staates. Larissa-Diana Fuhrmann, ist Doktorandin der Ethnologie in der Nachwuchsforschergruppe Dschihadismus im Internet am Institut für Ethnologie und Afrikastudien der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Im Rahmen ihrer Promotion beschäftigt sie sich mit Artivism, einer bestimmten Form der Kunst, die es Künstler*innen ermöglicht, sich oppositionell zu religiösen und politischen Inhalten jihadistischer Propaganda zu positionieren. Zuvor arbeitete sie als Koordinatorin der Kulturabteilung des ­Goethe-Instituts im Sudan. Christoph Günther, Dr., Studium der Islamwissenschaft, Geschichte und Arabistik an den Universitäten Bamberg und Kairo, Promotion an der Universität Leipzig in Islamwissenschaft. Seit 2017 Leiter der Nachwuchsforschergruppe Dschihadismus im Internet an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (Institut für Ethnologie und Afrikastudien). Forschungsinteressen: religiös-politische Bewegungen im Nahen und Mittleren Osten, visuelle Kultur und Ikonografie sowie religionssoziologische Fragestellungen. Bernd Zywietz, Dr., Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Nachwuchsforschergruppe Dschihadismus im Internet (Institut für Ethnologie und Afrikastudien, Johannes Gutenberg-Universität Mainz), darin wissenschaftlicher Leiter der Forschungs- und ­ Informationsplattform Online-Propaganda. Gründungs- und Vorstandsmitglied des Netzwerk Terrorismusforschung e. V. und Herausgeber der Buchreihe Aktivismus- und Propagandaforschung (Springer VS).