Projektgruppe Automation und Qualifikation. Bildungsökonomie und Bildungsreform 3920037847


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German Pages [124] Year 1980

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Table of contents :
Automation führt zu Höherqualifikation — Thesen über Hand- und
Kopfarbeit
(aus: Demokratische Erziehung -DE-,
1. Jg., H. 4/1975)
Bildungsreform vom Standpunkt des
Kapitals
(aus: Das Argument 80, 15.Jg. 1973)
Zum Streit um die Bildungsökonomie. Altvater und die Folgen
(aus: Das Argument 88, 16. Jg.,
1974)
Ist die Bildungsreform zu Ende?
Die Verbreitung von Resignation
in der Bildungsreform durch
Martin Baethge
(aus: DE, 1. Jg., H. 6/1975)
Ermöglicht die Qualifikationsentwicklung Bildung für alle?
Thesen zu einem perspektivischen
Bildungsbegriff
(aus: DE, 5. Jg., H. 1/1979)
Freiheit und Planung. Überlegungen
zur Bildungsreform
(aus: DE, 1. Jg., H. 6/1975)
Kann der Kapitalismus die Produktivkräfte noch weiterentwickeln?
(aus: Marxistische Blätter, 14. Jg.,
H. 3/1976)
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Projektgruppe Automation und Qualifikation. Bildungsökonomie und Bildungsreform
 3920037847

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ARGUMENT STUDIENHEFTE SH 37

PROJEKTGRUPPE AUTOMATION U. QUALIFIKATION ÖKONOMIE U. BILDUNGSREFORM

ARGUMENT STUDIENHEFT 37 Projektgruppe Automation und Qualifikation Bildungsökonomie und Bildungsreform

DM 8,00

Automation führt zu Höherqualifikation — Thesen über Hand- und Kopfarbeit (aus: Demokratische Erziehung -DE-, 1. Jg., H. 4/1975) Bildungsreform vom Standpunkt des Kapitals (aus: Das Argument 80, 15.Jg. 1973) (50) Zum Streit um die Bildungsökonomie. Altvater und die Folgen (aus: Das Argument 88, 16. Jg., 1974) (77) Ist die Bildungsreform zu Ende? Die Verbreitung von Resignation in der Bildungsreform durch Martin Baethge (aus: DE, 1. Jg., H. 6/1975) (97) Ermöglicht die Qualifikationsentwicklung Bildung für alle? Thesen zu einem perspektivischen Bildungsbegriff (aus: DE, 5. Jg., H. 1/1979) (106) Freiheit und Planung. Überlegungen zur Bildungsreform (aus: DE, 1. Jg., H. 6/1975) (110) Kann der Kapitalismus die Produktivkräfte noch weiterentwickeln? (aus: Marxistische Blätter, 14. Jg., H. 3/1976) (1)

Unveränderter fotomechanischer Nachdruck. Die neuen Seitenzahlen stehen in Klammern, die nicht eingeklammerten sind mit denen des Orginals identisch. ©Argument-Verlag Berlin/West 1980 Altensteinstr. 48A, 1000 Berlin 33. Umschlag unter Verwendung des Entwurfs AS 31: Förtsch/v. Baumgarten ISBN 3-920037-84-7

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ARGUMENT - STUDIENHEFTE SH

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Altvater/Haug/Herkommer/ Holzkamp/Kofler/Wagner Friedrich Tomberg M. v. Brentano W.F. Haug Wolfgang Abendroth Mason/Czichon/Eichholtz/ Gossweiler Heinz Jung

SH SH SH SH SH SH SH SH SH SH SH SH SH

Haug/Völker/Zobl Thomas Metscher Dreitzel/Furth/Frigga Haug Erich Wulff Volkmar Sigusch Peter Fürstenau Heydorn/Konneffke Frigga Haug Friedrich Tomberg Thomas Metscher Michael Neriich Warneken/Lenzen W.F. Haug

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Wozu „Kapitar-Studium? 3,50 Was heißt bürgerliche Wissenschaft? 2,50 Philosophie, Theoriestreit, Pluralismus. 3,50 Kampagnen-Analysen (1). 5,00 Faschismus und Antikommunismus. 2,50 Faschismus-Diskussion. 4,50 Strukturveränderungen der westdeutschen Arbeiterklasse. 3,50 Der Streit um Hanns Eislers »Faustus«. 3,50 Kritik des literaturwissenschaftlichen Idealismus. 2,50 Diskussion über die Rollentheorien. 4,00 Der Arzt und das Geld. 2,50 Medizinische Experimente am Menschen. 2,50 Zur Psychoanalyse der Schule als Institution. 2,50 Bildungswesen im Spätkapitalismus. 4,50 Für eine sozialistische Frauenbewegung. 3,50 Basis und Überbau im historischen Materialismus. 4,50 Ästhetik als Abbildtheorie. 4,00 Romanistik und Antikommunismus. 3,50 Zur Theorie literarischer Produktion. 3,50 Die Einübung bürgerlicher Verkehrsformen bei Eulenspiegel. 2,50

SH 21 SH 22

Axel Hauff BdWi/Marvin/Theißen/ Voigt/Uherek

Die Katastrophen des Karl Valentin. 4,50 Die NofU - Arbeitsweise der Rechtskräfte an der Uni. 5,00

SH 23 SH 24

Erich Wulff Gleiss/Heintel/Henkel/ Jaeggi/Maiers/Ohm/Roer Reinhard Opitz Schnädelbach/Krause Eisenberg/Haberland Werner Krauss Tjaden/Griepenburg/ Kühnl/Opitz Marcuse/Abendroth/ GollW'tzer/Stolie/Kievenheim/ Gerken

Transkulturelle Psychiatrie. 4,50 Kritische Psychologie (I). 8,00

BdW' u a Helmut Ridder W.F Haug Erich Wulff Abhoiz Böker/Frießem/Jenss Haug. Marcuse, u.a. Projekt Automation und Qual • «ation D. Henkel/D. Roer H Gonwitzer

Demokratische Hochschulreform. 4,00 Zur Ideologie der »Streitbaren Demokratie«. 4,50 Ideologie/Warenästhetik/Massenkultur. 4,00 Psychiatrie und Herrschaft. 4,00 Arbeitsmedizin. 6,00 Emanzipation der Frau. 8,00 Bildungsökonomie und Bildungsreform. 8,00

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Der Sozialliberalismus. 5,00 Ideologie-Diskussion. 4,00 Linguistik. 3,00 Literaturgeschichte als geschichtlicher Auftrag. 4,50 Faschismus-Diskussion (II). 5,00 Studentenbewegung - und was danach? 5,00

Sozialepidemiologie psychischer Störungen. 4,00 Christentum/Demokratie/Sozialismus (I). 7,00

Frigga Haug und Uwe Glunz, Rolf Nemitz, Werner van Treeck, Gerhard Zimmer (Projekt Automation und Qualifikation)*

Automation führt zur Höherqualifikation Thesen über Hand- und Kopfarbeit /

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So unangenehm angesichts zweckfreier humanistischer Ideale von Bildung und angesichts der Verfassung der Produktion die Vorstellung sein mag, daß Bildung und Ausbildung, daß der schulische Lernprozeß ausgerichtet ist und sein muß auf den späteren Beruf, büßt dieser Zusammenhang dennoch nichts an Wirklichkeit ein. Die Anforderungen aus der Produktion, sowohl was Kenntnisse und Fertigkeiten anbelangt als auch Haltungen und Einstellungen, müssen—wenn auch vermittelt und mit zeitlichen Verzögerungen - ihren Niederschlag in den Curricula und Erziehungsstrategien finden. Das gilt gerade auch für allgemeine, unspezialisierte schulische Institutionen, für die sogenannten allgemeinbildenden Schulen. In diesem Zusammenhang sind Veränderungen innerhalb der Produktion, die massenweise die Arbeitsplätze umgestalten, Qualifikationen entwerten und neue erfordern, von größter Bedeutung für die Bildungsplanung, aber auch schon für den derzeitigen Lehr- und Lernbetrieb. In der bundesdeutschen Sozialforschung haben Horst Kern und Michael Schumann im Rahmen des RKW Projekts A 33 über „Wirtschaftliche und soziale Aspekte des technischen Wandels in der B R D " eine Entwicklung zu belegen versucht, die, träfe sie zu, alle Bemühun-. gen um eine Verbesserung des Schulsystems ihrer wirksamsten Argumente berauben, sie endgültig dem Bereich politischer Moral anvertrauen müßte. Es ist dies jenes als „Polarisierungsthese" bekannte Resultat empirischer Untersuchungen über den automatisierten Produktionsprozeß: „Nach unseren Ergebnissen impliziert die technische Entwicklung . . . nicht nur eine Differenzierung der Gesamtgruppe der Industriearbeiter, sie führt gleichzeitig auch zu einer Polarisierung der Belegschaften an den technisch fortgeschrittenen A g g r e g a t e n . . . A m Beispiel der Anlagen mit weitestgehender Mechanisierung — den teilautomatisierten Aggregatsystemen — wird die Tendenz zur Polarisierung besonders deutlich: Hier sind im Schnitt 47 Prozent der Beschäftigten der Anlagenkontrolle und der Meßwartentätigkeit zuzuordnen, a l s o . . . relativ autonomen und qualifizierten Arbeitsformen . . . ; die restlichen Arbeitskräfte üben in der Mehrzahl restriktive und qualitativ anspruchslose Tätigkeiten aus . . ."1 Als „Polarisierung der Belegschaften an den technisch fortgeschrittenen Aggregaten" wird hier der Automation angelastet, was einer historisch fundierten Betrachtungsweise sich anders darstellt, daß nämlich eine neue Produktionsweise sich nie mit einem Schlag und überall gleichmäßig durchsetzt, sondern (abhängig von den Produktionsverhältnissen) mehr oder weniger sprunghaft und ungleichzeitig, daß mithin unterschiedliche Qualifikationsstufen innerhalb der arbeitenden Bevölkerung immer bestanden haben, was erst recht die historische Untersuchung der Gesetzmäßigkeiten der Entwicklung erfordert, um die jeweiligen Differenzen richtig einschätzen zu können.

V Das Projekt arbeitet an einer langfristigen empirischen Untersuchung über den Zusammenhang von Produktivkraftentwicklung und Ausbildung. Nach dem Aufsatz „Bildungsreform vom Standpunkt des Kapitals" (in: Das Argument 80, „Schule und Erziehung [V]", Berlin/West 1973) erscheinen jetzt die Ergebnisse des ersten Untersuchungsabschnitts unter dem Titel „Automation in der BRD", Berlin/West 1975, Argument-Sonderband AS 7. Das Projekt hat zur Zeit 10 Mitglieder. Der Aufsatz entstand im Zusammenhang einer Tagung der Stiftung Mitbestimmung des DGB über soziale Stellung und Bewußtsein von Technikern und Wissenschaftlern. 1 H. Kern, M. Schumann: Industriearbeit und Arbeiterbewußtsein. Bd. I. Frankfurt/M. 1970, S. 139.

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Automation

II Entscheidend für die Frage nach der Stellung und Perspektive der Produzenten im Produktionsprozeß ist die Frage nach der Art und dem Inhalt ihrer Tätigkeiten und der dadurch verlangten Ausbildung. Ihre Beantwortung verlangt einen kurzen Rückgriff auf die Geschichte der menschlichen Arbeit, denn eine momentane Bestandsaufnahme könnte ebenso wenig zufällige Merkmale von notwendigen, überwindbare von bleibenden Bestandteilen unterscheiden und daher Entwicklungsrichtungen ausmachen, wie aus den zufälligen Bewegungen der Reisenden in einem Wartesaal schon die Richtung ihres Reiseziels angebbar wäre. Auch in allgemeinster Form wird es allerdings sogleich schwierig, eine einfache Entwicklungsgeschichte der Arbeit vorzustellen, denn schon auf den ersten Blick stößt man dabei auf das Problem der Unterschiedenheit der einzelnen Arbeiten voneinander, also auf das Problem der Arbeitsteilung. Für unsere Zwecke, für die Bestimmung des Standes und der Perspektive der Arbeitstätigkeiten, die gesellschaftlich relevant sind, also zur Existenz und Weiterentwicklung der Menschen gehören, empfiehlt es sich, die Entwicklung unter zwei Gesichtspunkten zu betrachten: einmal als Gattungsgeschichte, als Auseinandersetzung des Menschen mit der Natur, als Bewegung, die ausgeht von der totalen Unterwerfung und Abhängigkeit des Menschen von den Mächten der Natur über die Ausnutzung derselben - etwa wie der Mensch sich des Feuers bediente - bis hin zur Beherrschung, die im Fall des Feuers erst Jahrtausende nach der ersten Nutzung eintritt und als Erkenntnis des Wesens der Verbrennungsvorgänge Voraussetzung für die moderne Chemie war. In dem Maße, wie der Mensch die Natur verändern lernte, wuchs auch seine Intelligenz, in dem Maße, wie er lernte, die Natur planmäßig zu gestalten, wuchs die Möglichkeit der planmäßigen Gestaltung der Gesellschaft. In diesem Sinne läßt sich gewissermaßen am Stand der Technik und der gesellschaftlichen Organisation der Entwicklungsstand der Menschheit ausmachen. Diese Entwicklung der Gattung betrifft aber ganz offensichtlich die einzelnen Gesellschaftsmitglieder in höchst unterschiedlichem Maße. Um dies zu erklären, muß die Geschichte der produktiven Arbeit noch einmal, diesmal unter dem Aspekt der Arbeitsteilung und der gesellschaftlichen Bestimmtheit, verfolgt werden. Die offensichtlichste, schon fast als natürlich angenommene und vielfach scheinbar erbbiologisch begründete Form der Arbeitsteilung ist wohl die zwischen der Hand- und der Kopfarbeit. Sie zeigen sich voneinander geschieden bis zum feindlichen Gegensatz, so daß eine von beiden jeweils auf Kosten der anderen geschieht, und die natürliche Tatsache, daß der Mensch seine Bewegungen, seine Handlungen durch den Kopf regiert, kann sich durch die Befestigung dieser beiden zusammengehörigen Teile an unterschiedene Personen in die Herrschaft von Menschen über Menschen verkehren. Die Genese dieses Prozesses reicht bis in die Kinderschuhe der Menschheit zurück. Die ersten gemeinsamen Arbeiten, die soviel einbrachten, daß über die Ernährung der Beteiligten hinaus etwas übrigblieb, also ein Mehrprodukt entstand, brachten einerseits damit die Möglichkeit, eine Person arbeitsteilig freizustellen für die Geschäfte der Planung, Vorbereitung und Leitung der gemeinsamen Produktion, wie sie auch den Bedarf danach entstehen ließen - dies beginnt praktisch schon beim Fischfang, soweit er nicht individuell geschieht. Das gleiche Mehrprodukt aber, welches Voraussetzung der arbeitsteiligen Planung und damit Basis zur Höherentwicklung ist, ist andererseits die Grundlage des privaten Eigentums. Arbeitsteilung und Eigentum sind die Ausgangspunkte einer Entwicklung, die das Bild einer ausschließlich der Arbeit frönenden großen Mehrheit und einer von direkt produktiver Arbeit befreiten Klasse ergibt, welche die gemeinsamen Angelegenheiten besorgt, wie Arbeitsleitung, Staatsgeschäfte, Justiz, Wissenschaften, Künste usw.2 So betrachtet erweist sich die Geschichte der menschlichen Produktion als ein Prozeß der zunehmenden Entgeistigung der unmittelbaren Produktionstätigkeiten oder besser gesagt als ein Prozeß der wachsenden Scheidung der gei2 Vgl. dazu F. Engels: Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft, in: K. Marx/F. Engels, Werke, Bd. 20.

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Frigga Haug u. a. stigen Potenzen von der Handarbeit, die mehr und mehr auf reine Muskelfunktionen reduziert wird, während das sich mehrende Produktionswissen, Arbeitsvorbereitung, Planung und Leitung, das Wissen und die Kenntnis der Gesetzmäßigkeiten der Natur, quasi natürlich, ebenso wie der Kopf die Hand regieren muß, verschmolzen vorkommt mit der Aufsicht und Ausbeutung von Arbeit. Dieser Prozeß der Entleerung der unmittelbaren Produktionstätigkeiten, ihre Zerlegung in immer fragmentarischere Detailfunktionen vollendet sich in der auf der Grundlage der Maschinerie aufgebauten Großen Industrie. Innerhalb dieses Prozesses gelang es seit Beginn des Kapitalismus, Teile der Arbeiterklasse, die über ein Mehr an Produktionswissen verfügen mußten und also aufgrund ihrer Kenntnisse und Fähigkeiten geeignet schienen, die Arbeiterklasse in ihrer Organisierung voranzutreiben, wegen ihrer lange gringen Anzahl zu bestechen und damit zugleich die Funktion der Aufsicht über Arbeit an sie zu übertragen. Diese Spaltung der Arbeiterklasse ist als Problem der Arbeiteraristokratie historisch bekannt. Sie spiegelt sich entsprechend dem weiterentwickelten Stand der Produktivkräfte in etwas anderer Form wider als Problem der Stellung der leitenden Angestellten z. B. in den Mitbestimmungsorganen, wie auch das Problem des Bewußtseins und der gewerkschaftlichen Organisierung der wissenschaftlich-technischen Intelligenz von dieser Frage nicht grundsätzlich verschieden ist. Handelt es sich doch bei ihnen zum einen um jene Teile der Intelligenz, deren Arbeit sie unter Voraussetzung kapitalistischer Produktionsweise stets auf die Seite der herrschenden Klasse brachte, da z. B. die Entwicklung von Maschinerie im konkreten Arbeitsprozeß nicht nur Reduzierung von Arbeit, sondern immer und zugleich damit Reduzierung von Arbeitern bedeutete. Andererseits verweisen die quantitative sprunghafte Zunahme der wissenschaftlich-technischen Intelligenz, ebenso wie die allgemein konstatierbare Verbreiterung wissenschaftlich-technischen Denkens überhaupt auf Umschichtungen, auf Veränderungen, die auf andere Ausgangspunkte ebenso wie auf andere Lösungsmöglichkeiten hindeuten als sie aus der Geschichte der Arbeiteraristokratie bekannt sind. Bislang wurde der Prozeß des gesellschaftlichen Fortschritts oder der des Fortschritts der Produktivkräfte dargestellt als zunehmende Trennung der geistigen Elemente der Tätigkeiten von den körperlichen und der Verwandlung jener in Herrschaftsmächte. Die Entwicklung der Technologie als Entwicklung der Arbeitstätigkeiten geschrieben zeigt den Menschen zunächst als manuell Tätigen, der in der Lage ist, mit Werkzeugen umzugehen und die natürlichen Eigenschaften der Dinge (Arbeitsmittel und Arbeitsgegenstand) hierbei auszunutzen versteht. Die Wissenschaften, insbesondere die Naturwissenschaften, spielten für diese Zeit noch keine bedeutende Rolle. Erst der mit dem Kapitalismus einsetzende mechanisierte Arbeitsprozeß kennzeichnet den Übergang von der zufälligen Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse zur bewußten und systematischen Orientierung auf die Erfordernisse der materiellen Produktion. Das heißt, gleichzeitig mit der beständigen Zerlegung der Tätigkeiten in immer einfachere Handhabungsfunktionen, die den Arbeitenden zum bewußtlosen Anhängsel der Maschine machen, tritt neben, vor und über dem Produktionsprozeß zunehmend die bewußte Planung und Verwissenschaftlichung der Arbeitstätigkeiten, des Umgangs mit der Natur auf. Die beständige Reduktion und Entmenschlichung der Arbeitstätigen an den Maschinen und zwischen ihnen verweist zugleich auf die Entwicklungsrichtung: Erst mit „dem Ausscheiden des Menschen aus dem unmittelbaren Fertigungsprozeß wird die alte historische Notwendigkeit der Arbeitsteilung zwischen der großen Masse der unmittelbaren Produzenten, die vorwiegend physische und einfache Routinedenkarbeit, und einer Minderheit, die vorwiegend die geistig-schöpferische Tätigkeit der Leitung und Entwicklung der Produktion zu leisten hatte, aufgehoben. Und damit entfällt die eigentliche und tiefste Ursache für die Spaltung der Gesellschaft in Klassen".3

3 Wolfgang Jonas, Valentine Linsbauer, Helga Marx: Produktivkräfte in der Geschichte 1. Berlin/DDR 1969, S. 29.

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Automation III Die technische Basis, auf der sich dieser Entwicklungsschritt erst vollziehen kann, ist die Automation. Ihr Prinzip ist im Namen angegeben: Ein Automat ist auf das Ziel hin konstruiert, sich möglichst ohne jeden Eingriff des Menschen von selbst zu bewegen, also den Menschen aus dem Produktionsprozeß auszuschalten. Das technische Mittel hierzu ist die Verwandlung der menschlichen Regulierungsfunktion in ein Stück Technik, dem der Regelkreis oder Rückkoppplungsmechanismus zugrunde liegt. Automation setzt sich natürlich nicht schlagartig durch, sondern allmählich, als sukzessive Eroberung von immer mehr Bereichen, angefangen von der Steuerung einfacher, einzelner Maschinen bis hin zur selbsttätigen Regulierung ganzer Fabriken unter Einbeziehung von Verwaltung, Lager, Transport usw. Oerade die Automatisierung ist gekennzeichnet durch die rasche Ablösung von Automatisierungstechniken durch immer höhere und vollkommenere. Automation also verdrängt den Menschen aus der Produktion. Maschinen von immer höheren Werten stehen immer weniger Menschen gegenüber. Es scheint deshalb zunächst so, als ob damit der Mensch jede Bedeutung für die Produktion verlieren würde. In Wirklichkeit jedoch bekommt er eine Bedeutung, die einmalig ist in der Geschichte der menschlichen Arbeit. Die entscheidende Stellung des produzierenden Menschen zwingt dazu, das Bild von Automation als eines rein maschinellen technischen Vorgangs zu revidieren und sie zu begreifen als Umwälzung beider Quellen der Produktivität: der Maschine und der menschlichen Tätigkeit. Im konventionellen maschinellen Produktionsprozeß braucht der Maschinenarbeiter, z. B. an einer Revolverdrehmaschine zur Ausführung seiner Teilarbeit nur wenige Kenntnisse über den Drehvorgang und über die Eigenschaften der zu bearbeitenden Werkstoffe sowie über die notwendigen Drehmeißel. Die Führung der Drehmeißel und des Werkstückes ist zu einer Funktion der Drehmaschine geworden und hängt somit nicht von seinem Geschick ab. Dem Maschinenarbeiter bleibt neben dem Ein- und Ausspannen der Werkstücke lediglich die Steuerung der Revolverdrehmaschine. Dazu wird von ihm eine hohe Konzentration bei der Steuerung und Überwachung des Drehvorganges und reaktionsschnelles Handein gefordert. Demgegenüber ist für diesen maschinellen Produktionsprozeß,eine genaue auf naturwissenschaftlichen, mathematischen und technologischen Erkenntnissen beruhende Konstruktion, Planung, Arbeitsvorbereitung und Produktionsmittelbereitstellung bis hin zur Einrichtung der Maschinen Voraussetzung. Die Fachkräfte in diesen Bereichen müssen dementsprechende anwendungsbezogene naturwissenschaftliche, mathematische, technologische und ökonomische Fachkenntnisse besitzen und müssen den gesamten maschinellen Arbeitsprozeß nach ökonomischen Gesichtspunkten konstruieren, planen, organisieren und leiten können. IV Mit der Automation entstehen eine Reihe von Tätigkeiten, die nicht der Automation schlechthin zuzuschreiben sind, sondern zum einen Übergangsproblemen, zum anderen ihrer kapitalistischen Anwendung geschuldet sind. So werden z. B. von H. Kern und M. Schumann aus der Beschreibung der „Automatenkontrolle" an „teilautomatischen Einzelaggregaten" falsche Schlußfolgerungen in der Einschätzung der Qualifikationsanforderungen gezogen, weil sie den transitorischen Charakter teilautomatisierter Maschinen oder Anlagen nicht sehen und die spezifischen arbeitsorganisatorischen Arrangements der Technik selbst anlasten. Ihrer Meinung nach „entstehen gerade auch durch Automatisierung die Voraussetzungen für restriktive und qualifikationslose Arbeiten"4. Diese These, daß Automatisierung Dequalifizierungsprozesse bewirke, versuchen sie u. a. mit der Kontrolltätigkeit an Webautomaten zu belegen. Vom Prozeß her gehe es bei der Automatenkontrolle darum, Maschinenstillstände, 4 Kern/Schumann, a. a. O., S. 137.

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Frigga Haug u. a. Qualitätsmängel und potentielle Fehlerquellen zu erkennen. Der Weber müsse die Arbeitsweise der Maschine kennen, er brauche Kenntnisse über die Eigenarten des verarbeiteten Materials und die entsprechenden Qualitätsnormen. Da indessen durch Fadenbrüche häufige Maschinenstillstände verursacht würden, und überdies ein Weber im Durchschnitt 23 Automaten zu überwachen habe, reduziere sich die Kontrollfunktion auf die Wahrnehmung von Stillständen und die Behebung von Fadenbrüchen; zur Qualitätskontrolle, zur vorbeugenden Überwachung und zur Behebung technischer Störungen sei er unter solchen Umständen kaum oder gar nicht mehr in der Lage5. Die Schlußfolgerung daraus, „daß die Automatisierungsprozesse unter den besonderen Bedingungen der Automatenkontrolle in neuer Form eine restriktive und unqualifizierte Variante der Industriearbeit entstehen lassen"6, verwechselt die unvollständig entwickelte Technologie und deren kapitalismusspezifische Durchsetzungsweise mit der wesentlichen Entwicklungstendenz der Produktivkräfte und den mit ihr verbundenen objektiv notwendigen qualifikatorischen Anforderungen. Was für Tätigkeiten wachsen dem Menschen unter den Bedingungen der Automation zu? Schlagwortartig kann man sagen: er wird zum „Wächter" und „Regulator" nicht mehr einer einzelnen Maschinenfunktion, sondern des Gesamtprozesses, er wird statt „Maschinenbediener" „Maschinenführer". Seine Überwachungsfunktion wird dadurch notwendig, daß Störungen sich zwar verringern lassen - z. B. durch vorbeugende Instandhaltung - , nicht aber vollständig verhindert werden können. Mit dem „Gewicht" der Maschinerie wächst auch die ökonomische Bedeutung von Störungen. Eine Hauptaufgabe des Maschinenführers wird deshalb die Prävention, Diagnose und Therapie von Störungen. Dafür muß er die Daten, die die Maschinerie ihm in Form von Meßwerten oder Kontrollsignalen zur Verfügung stellt, auf Störungsmöglichkeiten hin beurteilen. Aufgrund von Unstimmigkeiten muß er die verschiedenen möglichen Gründe für akute Fehler und Störungen rekonstruieren und überprüfen, welche Ursachen tatsächlich zugrundeliegen. Er muß die Fehlerursachen zunehmend selbst beheben und mechanische, elektrische, elektronische Eingriffe vornehmen. Da es meist hohe Kosten verursachen würde, mit dem Fortgang der Produktion zu warten, bis die Automatik wieder in Gang ist, muß er die Anlage von Hand fahren können; das in den Steueranlagen gespeicherte Wissen muß er selbst für den Notfall parat haben, beispielsweise die Werte von Drücken, Temperaturen, Niveaus, die eingehalten werden müssen und vor allem deren Zusammenhang. Damit kehrt der Inhalt in den Arbeitsprozeß zurück. Nach der Zersplitterung der Tätgigkeit geht es jetzt wieder um das Gesamtprodukt: der Operator muß wissen, was er tut, ob er Bier braut oder ö l raffiniert, und wie man das macht. An einer numerisch gesteuerten Werkzeugmaschine z. B. zwingen die sehr hohen Stundenkosten der Maschine zum möglichst pausenlosen Betrieb. Die anfänglichen Versuche, diese Anlagen mit gering qualifizierten Arbeitern in Betrieb zu nehmen, sind schnell aufgegeben worden. Die höheren Löhne für Facharbeiter fallen gegen die Maschinenkosten und gegen die Ersparnisse durch Störungsverringerung kaum ins Gewicht. Der Facharbeiter kennt den konventionellen Fertigungsprozeß und hat von daher genaue Kenntnisse von Werkstoffen und ihrer maschinellen Bearbeitung. Zusätzlich muß er vom elektronischen Steuerungsteil der Anlage zumindest die Fehlermöglichkeiten kennen, damit er entscheiden kann, wen er rufen muß, wenn bestimmte Fehler auftreten, den Instandhaltungsmonteur oder den Programmierer. Darüber hinaus muß er in der Lage sein, in enger Kooperation mit der Arbeitsvorbereitung und Programmierung völlig neue Fertigungsprozesse zu erproben. Dazu muß er den gesamten Bearbeitungsprozeß gedanklich rekonstruieren, und zwar aus der Zeichnung auf einer sinnlich-abstrakten Ebene und zugleich aus den Symbolen des Programms auf einer logischabstrakten Ebene. In einer großen Werkzeugmaschinenfabrik wurden uns die von Arbeitsvorbereitung, Maschinenführern und Programmierern gemeinsam überwachten Probeläufe 5 Ebd., S. 118-122. 6 Ebd., S. 139.

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Automation (die bei der Kleinserienfertigung, dem spezifischen Einsatzfeld von NC-Maschinen), sehr häufig sind, als beste Möglichkeit angegeben, den automatisch gesteuerten Maschinenablauf einschließlich möglicher Fehler zu begreifen. Voraussetzung für das „Beherrschen" einer automatischen Anlage ist also die genaue Kenntnis des Zusammenhangs der regulierten Größen. Der Maschinenführer muß die Unstimmigkeiten des Gesamtprozesses von nur wenigen Variablen her erschließen und die Kombinationsmöglichkeiten von vielen Variablen im Kopf durchspielen können. Er ist also durch nichts schlechter beschrieben als durch's „Knöpfchendrücken". Es kann zwar durchaus passieren, daß er stundenlang nichts zu tun hat, weil die Automatik reibungslos funktioniert dann jedoch ist er plötzlich gezwungen, blitzartig sein gesamtes Wissen über einen komplizierten Natur- und Maschinenprozeß zu mobilisieren und regelnd einzugreifen. Es können dabei immer wieder neuartige Fehler auftauchen - Routine ist nur beschränkt möglich. Die Arbeit ist also „schöpferisch" in dem Sinn, daß immer wieder neuartige Lösungen gefunden werden müssen. Mit dem Wachsen des Umfangs der vom Menschen kontrollierten Maschinerie wächst die Bedeutung seiner Eingriffe für den Gesamtbetrieb. Bei Störungen muß häufig zwischen verschiedenen Lösungsmöglichkeiten und vor allem Improvisationsmöglichkeiten gewählt werden. Damit trägt der Maschinenführer das, was allgemein „Verantwortung" genannt wird: seine individuelle Entscheidung hat Konsequenzen für das „Wohl und Wehe" des gesamten Betriebes, vor allem durch die Höhe der Kosten, die falsche Entscheidungen verursachen können. Es wachsen ihm also Entscheidungen zu, die traditionellerweise von der Kapitalseite getroffen werden. Damit bilden sich Keimformen von solchen Planungs- und Leitungstätigkeiten heraus, die nicht mehr im Gegensatz zum arbeitenden Menschen stehen, sondern von diesem selbst vollzogen werden. So hat der Meßwart in einer großen Bierbrauerei (ein Meister mit Zusatzausbildung) neben Prozeßkenntnissen sein Wissen über die möglichen betriebswirtschaftlichen Folgen seines Handelns einzusetzen. Die Anlage ist nicht prozeßgesteuert, auf der Warte liegen sämtliche Produktionsschritte und werden von ihm nach Ablaufplan geschaltet. Die einzelnen Produktionsschritte werden auf dem Fließschema angezeigt, es laufen immer mehrere Prozesse gleichzeitig ab. Verzögert sich z. B. in Tanks, die bald zur Gärung gebraucht werden, ein Reinigungsprozeß, kommt der gesamte Plan durcheinander. Der Meßwart muß jetzt entscheiden, ob er auf ein kürzeres Reinigungsprogramm umschaltet oder den Gärvorgang hinausschiebt. Die Alternative ist hier also: Zeitverlust oder Minderung der Produktqualität. An fast allen der von uns bisher besichtigten automatischen Anlagen lernten die Arbeitskräfte die Beherrschung des automatischen Produktionsprozesses durch das Mithelfen beim Neubau und Reparieren der Maschinen und Anlagen. So war der Leiter einer automatischen Ziegelei der Ansicht, daß das Werk noch einmal von vorne aufgebaut werden müßte, wenn mit einem Schlag alle Arbeiter arbeitsunfähig würden - sie gemeinsam haben die Anlage aufgebaut, dadurch in allen Einzelheiten kennengelernt und beherrschen sie jetzt. Eindrucksvoll war ein ehemaliger Waldarbeiter, der ein automatisches Sägewerk fährt, und der dazu nur in der Lage ist, weil er den Aufbau und die Inbetriebnahme der Anlage mitgemacht hat. In einer Erdölraffinerie werden den Meßwarten detaillierte Kenntnisse dadurch vermittelt, daß sie in regelmäßigem Turnus für WartUngs- und Reparaturarbeiten eingeteilt werden. Die meisten dieser Arbeiten sind Auswechselvorgänge, deren Beherrschen beim Auftreten eines größeren Fehlers dringend erforderlich ist. Die Kenntnisse der Meßwarte reichen so bis in jede Pumpe hinein. Sie kennen die Anfälligkeit der Anlage und wissen, auf welche Signale besonders zu achten ist. Dadurch sowie aufgrund ihrer zusätzlichen theoretischen Kenntnisse über die chemischen Abläufe können sie in der Meßwarte optimal entscheiden. In einer automatischen Zukkerraffinerie wird die genaue Kenntnis der Anlage durch die Beschaffenheit des Rohprodukts begünstigt: Da die Zuckerrüben nur während der Ernteperioden - etwa vier Monate im Jahr verarbeitet werden, steht die gesamte Raffinieranlage länger als ein halbes Jahr still. In dieser (6)

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95

Zeit nehmen die Meßwarte zusammen mit den wenigen ständigen Instandhaltüngsarbeitern die gesamte Anlage auseinander, überholen sie und verbessern Details. Da der Anlagenfahrer die Maschine am besten „kennt", kann er dabei solche Vorschläge machen, wie sie traditionell dem Konstrukteur zukommen. V Diese besonders wirkungsvolle Art des beruflichen Lernens durch Mitarbeit beim Installieren und Reparieren der automatischen Maschinen und Anlagen wird nur in einer Übergangsphase anzutreffen sein. Je mehr die automatisierte Produktion sich verbreitet, um so dringlicher wird die Ablösung dieser besonderen Art des Lernens am Arbeitsplatz durch eine systematisierte berufliche Ausbildung. Wenn Wissenschaft allseitig in den Produktionsprozeß einzieht, insbesondere auch die unmittelbaren Produktionstätigkeiten von ihr erfaßt werden, müssen bereits jetzt im Ausbildungsbereich die Weichen gestellt werden, um die Durchsetzung von Automation zu ermöglichen - die Ausbildung von heute ist die Wissenschaft von morgen. Die Analyse der technischen und ökonomischen Kenntnisse und Fähigkeiten, der Motivationen und Hinstellungen sowie die Fähigkeiten zu enger kooperativer Arbeit, die die Produzenten der Zukunft besitzen müssen, ermöglicht den Ausblick auf die in der zukünftigen Arbeit liegenden Potenzen der Entwicklung des gesellschaftlichen Bewußtseins und Handelns der Produzenten. Dies ist von großer Bedeutung auch für die Erarbeitung von Bildungs- und Ausbildungsplänen. Die Forderung nach allgemeiner Entfaltung menschlicher Fähigkeiten bekommt die entscheidende Schützenhilfe durch die Entwicklung der Technik und bleibt nicht länger hohle Utopie. Die Entwicklung der Menschheit auf Kosten des Einzelnen wird abgelöst durch eine Produktionsweise, in der die Entfaltung des Einzelnen Voraussetzung für den allgemeinen Fortschritt wird. Die Aufhebung der alten Trennung von Kopf und Hand bahnt sich an und geistige Tätigkeit, schöpferische Arbeit schlagen sich auf die Seite der Produzenten. Damit muß die traditionelle Funktion betrieblicher Planung und Leitung sich zersetzen. Die Entscheidungen über die Organisation der Produktion, über den rationellen Ablauf des Produktionsprozesses trennen sich von denen der reinen Profitmacherei. Dem mehr und mehr planenden, eingreifenden, kontrollierenden Produzenten tritt das Eigentum gegenüber, das Stück für Stück seiner produktiven Fähigkeiten abgeben muß. Planung und Leitung des Produktionsprozesses wird Allgemeingut und Fragen über den Zusammenhang von hoher Qualifikation und politischem Bewußtsein, die bislang nur für wenige gegolten haben, stellen sich allgemein.

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Projektgruppe Automation und Qualifikation *

Bildungsreform vom Standpunkt des Kapitals Einleitung Von linksbürgerlicher Seite gibt es eine Vielzahl von Veröffentlichungen und Diskussionen zur Bildungsreform, in denen versucht wird, „emanzipatorische Lernziele" zu formulieren ohne Einigung über die Kriterien, in denen Erklärungs- und Zielangebote für die Bildungsreform gegeben werden, die diese letztlich als Kombination von Bürger- und Staatswillen erklären (ganz deutlich beim „social demand approach"). Im Unterschied zu ihnen, soll im vorliegenden Aufsatz der Standpunkt des Kapitals als der der herrschenden Macht Ausgangspunkt der Untersuchung bilden. Unter der Voraussetzung, daß Bildung als Ausbildung für Arbeit zu verstehen ist, die in unserer Gesellschaft unter dem Kommando des Kapitals verrichtet wird — dessen Kommandogewalt sich also auch und zunehmend auf den Ausbildungsbereich bis hin zur Schule erstreckt —, sollen die von Kapitalvertretern geäußerten Vorstellungen zur Ausbildungsreform dargestellt und analysiert sowie Informationen über die schon praktizierten Veränderungen gegeben werden. Qualitativ neu ist, daß der Druck der Produktivkräfte, die wissenschaftlich-technische Entwicklung, das Kapital zu zwingen scheint, eine Erhöhung der Qualifikation der Arbeitskraft zu fordern. Die rechtsbürgerlichen Vertreter des „manpower approach", die technokratischen Bildungsreformer, die versuchen, die vom technologischen Fortschritt geforderten Bildungsinhalte und -formen unter Hineinnahme ihrer kapitalistischen Beschränkung durchzusetzen, forderten die linke Kritik heraus. In konsequenter Abkehr bezeichnen einige (prototypisch etwa Baethge) die gesamte Bildungsreformdiskussion mehr oder weniger als Schaumschlägerei, als Ablenkungsmanöver von der tatsächlichen totalen Reformabstinenz. Dies aus der Vorstellung heraus, daß die neueste technologische Entwicklung die Produzenten nicht nur als verstümmelte Detailarbeiter beläßt, sondern den Prozeß der Dequalifikation gar noch befördert. Im Unterschied zu ihnen, macht es sich der vorliegende Aufsatz zur Aufgabe, die als neu eingeschätzten Kampfbedingungen im Überbaubereich

* Dem Autorenkollektiv des Forschungsprojekts „Automation und Qualifikation" gehören an: Margret Baumgarten, Uwe Gluntz, Holm Gottschalch, Frigga Haug, Hannelore May, Jutta Menschik, Christof Ohm, Ilse Schütte, Silke Wenk, Gerhard Zimmer. (8)

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zu studieren. Die Widersprüchlichkeit in der Bildungsreform, nämlich tendenzieller Abbau des veralteten dreigliedrigen Schulsystems, Versuche zur Integration von Allgemein- und Berufsbildung auf der einen, Restriktionen und verschärfte Auslese der im Ausbildungsbereich Tätigen auf der anderen Seite (Lehrerbildungsgesetz, Berufsverbot) machen es notwendig, den gemeinsamen Nenner zu finden, der beide Tendenzen zugleich erklärt. Dafür ist die genaue Kenntnis der Vorhaben, Maßnahmen, Notwendigkeiten und Zwänge auf Seiten des Kapitals von erheblicher Bedeutung für die Lage und Perspektive der Produzenten. Nach Durchsicht von Organen der Unternehmerverbände, Einzeldarstellungen in Tageszeitungen, betrieblichen Mitteilungen und Berichten aus dem Industrieinstitut haben wir verallgemeinerbare und richtungsweisende Äußerungen verarbeitet. Wir folgen der Marxsehen Auffassimg, daß die Vertreter und Agenten des Kapitals als Charaktermasken funktionieren und das allgemeine Interesse des Kapitals repräsentieren sowie über seine Absichten Auskunft geben. In diesem Sinn wird der Begriff „Kapital" im Aufsatz verwendet. Eine Gewichtimg der einzelnen Verlautbarungen nach der Stellung und Funktion der Sprecher in der kapitalistischen Gesellschaft konnte daher einer Aalordnung kapitalkonformer Aussagen nach inhaltlichen Gesichtspunkten weichen, wenn auch vorzugsweise den Organen der" Unternehmerverbände die meiste Aufmerksamkeit geschenkt wurde. In dem angegebenen Zusammenhang haben weder die gewerkschaftliche Bildyngsarbeit noch Stellungnahmen von Arbeitervertretern oder Materialien staatlicher Stellen Berücksichtigung gefunden. Ebensowenig konnten theoretische Beiträge zur Veränderung des Verhältnisses von Kapital und Staat (etwa die Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus), deren Kenntnis für die Einschätzung der Durchsetzung von Forderungen im Bildungsbereich notwendig wäre, von uns verarbeitet werden. Die Ableitung der Kapitalerfordernisse aus der tatsächlichen Entwicklung der Produktivkräfte in ihrer kapitalistischen Form, die zur Einschätzung der Verlautbarungen der Kapitalvertreter Wesentliches beigetragen hätte, wird von dem Autorenkollektiv im Rahmen des Projekts „Automation und Qualifikation" noch geleistet und zu einem späteren Zeitpunkt veröffentlicht. Ebenso tragen einzelne Einschätzungen eher Thesencharakter und bedürfen einer fundierteren Ausarbeitung wie auch die Begrifflichkeit noch von einer gewissen Vorläufigkeit gezeichnet ist. Dieser letzten Tatsache ist es zuzuschreiben, daß häufig die besondere Sprache des Kapitals nicht genügend von einer allgemeinen Begrifflichkeit abgegrenzt wurde. Gleichwohl hoffen wir, das Ausmaß, die Bedeutung und die Stoßrichtung der Unternehmeraktivitäten im Bildungsbereich deutlich genug gemacht zu haben. (9)

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I. Entwicklung der Produktivkräfte In den konstitutiven Momenten des Kapitalismus — Lohnarbeit und Kapital — ist zugleich die Bewegungskraft mitangegeben, die diese Gesellschaftsformation über ihre eigenen Schranken hinaustreibt. Die durch das Privateigentum an Produktionsmitteln gesetzte Anarchie der Produktion im gesamtgesellschaftlichen Maßstab findet sich in beständigem Widerspruch zur wachsenden Vergesellschaftung der Arbeit, welche gesamtgesellschaftliche Planung notwendig macht; der Profithunger und die unerbittliche Konkurrenz der Kapitalisten untereinander zwingt sie zur ständigen Weiterentwicklung und Vervollkommnung der Produktionsweise, also der Produktivkräfte. Innerhalb des Kapitalismus werden nicht nur die ökonomischen und technischen Grundlagen für eine höhere Gesellschaftsformation geschaffen, sondern auch die Träger der Umwälzung — die Arbeiter^ klasse — vom Kapital erzeugt und organisiert. So wird schließlich durch die Höherentwicklung des Arbeitsprozesses in Richtung auf Automation eine immer umfangreichere Schulung der Arbeiterklasse notwendig, die die Einsicht in die Überwindbarkeit des Kapitalismus leichter möglich macht und daneben die Fähigkeit vermittelt, die gesamte Produktion einschließlich Planung und Leitung zu übernehmen. Zum Verständnis der Veränderungen im Produktionsprozeß, die gemeinhin mit dem Begriff „wissenschaftlich-technische Revolution" gekennzeichnet werden, ist ein kurzer Rückgriff auf die Umwälzungen der ersten industriellen Revolution, dem Beginn des Kapitalismus, notwendig. Während im Handwerk noch der gesamte Arbeitsprozeß in allen Teilfunktionen einschließlich der Leitung von einer Person ausgeführt wurde, erfolgt durch die Manufaktur die erste Herausbildung von Teilarbeitern mit einhergehender Dequalifizierung. Der Gesamtproduktionsmechanismus hing allerdings noch stark vom individuellen Geschick und der Person der Teilarbeiter ab, da sie Organe des Gesamtkörpers waren. Ganz anders die maschinelle Produktion: „Von nun an war also unter kapitalistischen Bedingungen die Qualifizierung oder die Dequalifizierung der unmittelbaren Produzenten abhängig von den Anforderungen, die die Maschine — oder, exakter gesagt, das Maschinensystem — in seiner kapitalistischen Anwendung an die Arbeitsfertigkeit der Arbeiter stellte. Dadurch, daß der Arbeiter ausschließlich einer Teilfunktion angeeignet und seine Arbeitskraft in das lebenslängliche Organ dieser Teilfunktion verwandelt wurde und die Leitung der Produktion in die Hände des Kapitalisten oder seiner Commis überging, wurde die Dequalifizierung des Produzenten der vorherrschende, typische Prozeß. Er wurde im Verlauf der kapitalistischen Entwicklung immer weiter vorangetrieben, wobei die Dequalifizierung direkt abhängig war von der Einführung neuer Mar schinensysteme, neuer Produktionsverfahren und organisatorischer (10)

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Veränderungen. Es ergab sich eine Art Spirale: Die Einführung neuer Maschinen setzte die Arbeitsteilung voraus, aber gleichzeitig schuf sie ihrerseits die Bedingungen für eine noch weitergehende Arbeitsteilung. Der Höhepunkt dieser Entwicklung war das moderne Fließband 1 ." Während in der industriellen Revolution die Aufsplitterung des Arbeitsprozesses in Teiloperationen vervollkommnet wurde, wird er in der wissenschaftlich-technischen Revolution in Gestalt eines automatisierten Maschinensystems wieder zusammengefaßt. „So führt zum Beispiel der Earl of Halsbury die Automation auf vier technische Grundmerkmale zurück, 1. auf die Anwendung von Transfermaschinen, 2. das Rückmeldeprinzip (feedback), 3. die elektronische Datenverarbeitung und 4. die automatische Montage, und erklärt dazu: ,Man könnte sagen, daß das erste und vierte (Merkmal) nur Muskeln eliminieren. Das zweite und dritte eliminieren Nerven und Gehirne 2 /" „Durch die Automatisierung verändert sich der Charakter der konkreten Arbeit. Es werden die technischen Voraussetzungen dafür geschaffen, daß der Mensch sich vom aggregierten Zubehör, von einem Anhängsel und Bestandteil des Maschinensystems zu dessen Beherrscher entwickeln kann. In der Tendenz verschwinden damit die materiellen Grundlagen für die Trennung zwischen geistiger und manueller Arbeit 8 ." Aber die Grenzen dieser Entwicklung im Kapitalismus sind vielfältig. Neben der durch die Profitrate gesetzten Schranke wirkt zusätzlich das Fehlen der für die veränderten Arbeitsprozesse erforderlichen Berufsstrukturen der weiteren Entwicklung entgegen. n. Qualifikationserfordernisse Insbesondere die durch den immer komplizierter werdenden Arbeitsprozeß notwendige längerfristige Einflußnahme auf die Qualifikation der Produzenten — also die Planung des Arbeitsmarktes — wie auch die immer schwieriger werdende Legitimierung des Systems führten seit Ende der fünfziger Jahre verstärkt zu Neuorientierungen auch auf der Seite der Unternehmer. So findet man neben eigenen Forschungsinstituten und Organisationen (z. B. Wirtschaftskuratorien) zu Ausbildungsfragen eine Fülle von Publikationen — sogar spezielle Zeitschriften —, in denen das Kapital seine Vorstellungen von Berufsstrukturen darlegt, die den neuen Anforderungen 1 Waltraud Falk und Helmut Kubitschek: Über den Zusammenhang zwischen der Entwicklung der Produktivkräfte und den Arbeitsfertigkeiten der unmittelbaren Produzenten unter den Bedingungen des Imperialismus, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1964, Teil II/III. Berlin/ DDR 1964, S. 52. 2 Technical and Human Problems of the Automatic Factory, Margate Conference, S. 23 f., zit. nach Gerd Maurischat: Ein Vergleich der Entwicklung in den USA und in Westdeutschland, in: Technische Revolution, Freisetzung und Vollbeschäftigung im Kapitalismus, DWI-Forschungshefte, 3/1966, S. 6. 3 Gerd Maurischat, a.a.O., S. 7. (11)

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des Arbeitsprozesses entsprechen sollen. Die gesamtgesellschaftliche Anarchie, die Planungsunfähigkeit des Kapitals ist damit in Frage gestellt 4 . Folgende exemplarische Aussagen sollen belegen, daß das Kapital in die Planung der Ausbildung bewußt und koordinierend eingreift: O. A. Friedrich, Präsident des BDA, bemängelt die Diskrepanz zwischen den veränderten Anforderungen des Arbeitsprozesses und der nicht entsprechend entwickelten Wissenschaft in der BRD. „Die rasche Veränderung der Fertigung und Produktionstechnik drängt notgedrungen auch die Methoden und Ziele der Berufsausbildung voran. Auf pädagogische Theorien und didaktische Modelle bei der erforderlichen Kenntnis und Fertigungsvermittlung können wir nicht w a r t e n . . . Unser heutiges Problem scheint weniger darin zu bestehen, daß die praktische Berufsausbildung den wissenschaftlichen Erkenntnissen nicht folge, sondern vielmehr umgekehrt, daß die Wissenschaften den praktischen Erfahrungen zu weit nachhinken8." Die Messerschmidt-Bölkow-Blohm-GmbH schreibt im Vorwort zu ihrem Bildungsprogramm: „Der naturwissenschaftlich-technische Standard ist in ständiger Bewegung. Die Leistungsanforderungen wachsen, die Führungsfunktionen werden zahlreicher. Berufsbegleitende Lernprozesse gewinnen an Bedeutung. In den Industriebetrieben haben sich Bildungsmaßnahmen und Nachwuchsförderungen zu den wichtigsten personalpolitischen Arbeitsgebieten entwickelt6." Stellvertretend für zahlreiche ähnliche Aussagen von Konzernen und Großbetrieben sei hier noch Siemens angeführt: „Die weitere Entwicklung unseres Hauses wird maßgeblich von neu hinzukommen4 Um seinen gesellschaftlichen Einfluß stark, gezielt und unmittelbar geltend zu machen, besinnt sich das Kapital unter partieller Stornierung der Konkurrenz auf gemeinsame Interessen und vertritt sie in gemeinsamer Aktion. Der BDI ruft in seinem Programm vom Januar 1970 (in: Wirtschaft und Berufserziehung, Jg. 22, 1970, S. 121/122) auf zu „stärkerer Zusammenarbeit und Koordinierung der unternehmerischen Organisationen auf dem Gebiet der Berufsbildung". Um Bildungsreformen im Sinne des freien Unternehmertums zu garantieren, werden zur Bildungsforschung, Bildungsplanung und Bildungsförderung Institutionen gegründet oder beauftragt, z. B. das Deutsche Industrieinstitut, die Walter Raymond-Stiftung, der Harzburger Kreis. Schlagendes Beispiel ist jedoch das Kuratorium der Deutschen Wirtschaft für Berufsbildung, das von den unternehmerischen Spitzenorganisationen Bundesverband der Deutschen Industrie, Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, Deutscher Industrie- und Handelstag, Hauptgemeinschaft des Deutschen Einzelhandels, Zentralverband des Deutschen Handwerks getragen wird und eine gemeinsame Geschäftsstelle besitzt. Seine Aufgaben sind Grundlagenforschung, Öffentlichkeitsarbeit und Interessenvertretung. Zugleich werden die bisher zersplitterten Bildungsmaßnahmen auf der Ebene der Landesverbände zusammengefaßt (vgl. der arbeitgeber, offizielles Organ des BDA, 21, 1971, S. 869 ff.). 5 der arbeitgeber, 1972, H. 3, S. 78. 6 J. Mönninghoff: Gesellschaftspolitische Konsequenzen betrieblicher Bildungsprogramme, in: Arbeit und Leistung, 25. Jg. Nov. 1971, Heft 11. (12)

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den Gebieten der Technik beeinflußt; diese treten in zunehmender Dichte auf und gewinnen auch quantitativ für unsere Gesellschaft schnell an Bedeutung... Der Erfolg eines Unternehmens wird wesentlich durch das Wissen und Können seiner Mitarbeiter bestimmt. Wir sehen deshalb die Aufwendungen für die Bildungsmaßnahmen als langfristige Investition an, die die Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens erhält und fördert 7 ." Prognostische Einschätzimg wie auch Analyse der bestehenden Situation für unmittelbar erforderliche Handlungen leistet die Walter Raymond-Stiftung: „Vielleicht werden tatsächlich in den Werkhallen der vollautomatisierten Fabriken von morgen keine Arbeiter sein; aber gleichzeitig werden unglaublich viele Menschen hinter der Bühne gebraucht werden in neuen, höchste fachliche Schulung erfordernden Tätigkeiten, wie Maschinenbauer, Monteure, Fachleute für die Instandsetzung und solche, die die Maschinen und ihren Gang kontrollieren, sowie ,programmer*, welche die Anweisungen vorbereiten und an die Menschen weitergeben. Außerdem wird man viele wissenschaftlich geschulte Leute in neuen Tätigkeiten als Maschinenkonstrukteure, Zeichner, Systemingenieure, Mathematiker oder Logiker brauchen. Schließlich werden sehr viele Menschen für neue Aufgaben der Betriebsführung benötigt werden, für die eine stark ausgeprägte Fähigkeit zu denken, zu analysieren, Entscheidungen zu treffen und Risiken auf sich zu nehmen, erforderlich ist (bis hierher kursiv im Original, die Verf.). Die Anforderungsprofile und Arbeitsanalysen der industriellen Praxis weisen konkret auf diese im intellektuellen und technischen Bereich liegenden Bildungserfordernisse und -bedürfnisse hin. Sie weisen hin auf die je nach der im ganzen des Betriebs auszuübenden Funktion gegebenen Erfordernisse an Grundwissen sowie an Fähigkeiten und Fertigkeiten. Die Berufsbilder, die für Angestellte und Facharbeiter entwickelt wurden, zeigen Anforderungen auf, denen die betriebliche wie die schulische Berufsbildung entsprechen sollte; sie zeigen aber auch ein Eingangsniveau für den Eintritt in die Betriebe auf, an dem sich die Schule in der Gestaltung ihrer Oberstufe orientieren kann 8 ." Gemeinsam ist die Vorstellung, daß die neue berufliche Ausbildung nur auf der Basis einer geänderten Schulausbildung erfolgen kann 83 : 7 Siemens AG. Bildungsarbeit im Unternehmen, 1972, S. 1 u. 7. 8 Wirtschaft und Schule, Veröffentlichung der Walter Raymond-Stiftung, Bd. 5, Köln und Opladen 1965, S. 22 f. 8a „Wieviel Hindernissen und Mißverständnissen die an sich selbstverständliche Aufgabe einer Erziehung zu ökonomischem Denken ausgesetzt ist, zeigt das Beispiel der Arbeitslehre. Unter diesem Terminus verbirgt sich seit den berühmten Empfehlungen des Deutschen Ausschusses für das Erziehungs- und Bildungswesen aus dem Jahre 1964 ein zähes Ringen, um wenigstens die Hauptschule den Bereichen Wirtschaft, Technik und Beruf zu öffnen und die Schüler vor dem falschen Wirtschaftsbild zu bewähren (man vergleiche die Lesebücher bis zum Jahre 1967), als seien Magd und Schneider heute nodrzentrale Berufe und als werde im Hand(13)

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„Eine Verbesserung dieser Situation läßt sich nur erreichen, wenn die naturwissenschaftlich-technische Bildung bereits in den allgemeinbildenden Schulen stärker als bisher berücksichtigt wird 9 ." Die Verschiebung der in der Schule zu vermittelnden Lerninhalte soll sich in der Lehre fortsetzen: „Der Akzent verschiebt sich von einer bisher betont praktischen Ausbildung, zu einer solchen, die neben der Beherrschung von Fertigkeiten vertieft fachliches Verständnis verlangt 10 ." Erst eine breit auf Grundlagenwissen angelegte Schul- und Lehrausbildung soll die notwendige Spezialisierung erlauben. „Wer über ein breites und systematisches Grundlagenwissen verfügt und exemplarisch gelernt hat, es . . . praktisch anzuwenden, wird in der Lage sein, sich schnell in alle speziellen Probleme des Berufs hineinzufinden und Einzelerfahrungen in größere Zusammenhänge einzuordnen u ." III. Idealistische bürgerliche Wissenschaft und Materialismus des Kapitals Seit der Offensichtlichkeit der Bildungsmisere und ihrer Propagierung gibt es zahllose Versuche seitens der bürgerlich-liberalen Wissenschaft, Bildungsreformvorstellungen zu entwickeln. Diese Unternehmungen brachten keine Lösung, erweisen jedoch klarer als zuvor die Unwirksamkeit weitgehend idealistisch geprägter Wissenschaftsvorstellungen, die den neuen Effizienzforderungen nicht genügen können. Unter den verschiedenen theoretischen Vorstellungen, die unter dem gemeinsamen Obertitel »social demand approach' firmieren, verbergen sich die niemals realisierten bürgerlichen Ideale von Freiheit und Gleichheit, die im Grundgesetz ihre Entsprechung finden. Mehr oder minder hilflos versuchen die verschiedenen Theoretiker an der Subsumtion der Ausbildungsinhalte unter die Verwertungsinteressen des Kapitals vorbeizusehen und statt dessen eine allgemeine freie Berufswahl zu propagieren, die ebensowenig ernst genommen werden kann — da sie, wirklich konsequent durchgeführt, zu massenhafter Arbeitslosigkeit führen würde —, wie sie je auch nur in Ansätzen verwirklicht wurde. Das Kuratorium der Deutschen Wirtschaft für Berufsbildung konstatiert die Ineffizienz dieser Art bürgerlicher Wissenschaft: „Weder für die Taxonomie der Lernziele noch überhaupt für die Curriculumforschung gibt es bisher trotz werk und in der Landwirtschaft der größte Teil des Sozialproduktes erwirtschaftet." (Erich Dauenhauer: Die wirtschaftsfeindliche Schule, FAZ, 6.1.1973.) 9 Die Industrie pocht auf das Leistungsprinzip — BDI nimmt Stellung zur Lage von Forschung, Lehre und Studium an den Hochschulen, Frankfurter Rundschau, 27.10.1971. 10 Erklärung des BDA, des BDI und des DIHT, in: Aufgabe und Chance der Studienausbildung. Wirtschaft und Berufserziehung, Schriftenreihe des Deutschen Industrie- und Handelstags (Nr. 11/1968, S. 201). 11 Die Industrie pocht auf das Leistungsprinzip..., Frankfurter Rundschau, a.a.O. (14)

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vieler deutscher Beiträge — Flechsig, Blankertz, Achtenhagen, von Hentig u. a. •— sowie solcher des Auslands, besonders der USA, eine eindeutige Theoriebildung12." Ganz im Gegensatz dazu zeichnen sich die Vertreter des Kapitals in ihren Verlautbarungen durch einen hohen Grad an Bewußtheit etwa über die notwendigen Wechselbeziehungen zwischen Basis und Überbau aus. Die Bewegung an der Basis, der Produktion, ist offenbar so gravierend, daß ihre Wirkung auf den Überbau zu studieren und zu beeinflussen in doppeltem Sinn eine Existenzfrage für das Kapital wird. Notwendig für die Produktion werden nicht nur anders geartete geistige Fähigkeiten und manuelle Fertigkeiten, sondern zugleich das Bündel von Qualitäten, das zusammengefaßt mit „Haltung und Einstellung" etwa zu bezeichnen wäre. So sind die Aussagen über die für die Produktion erforderlichen Qualifikationen häufig zugleich Angaben über Einstellung und Haltung. „Der Erfolg jeder unternehmerischen Entscheidung wird zukünftig mehr und mehr davon abhängen, ob das Unternehmen über genügend Mitarbeiter verfügt, die fähig sind ihre Aufgaben aus Einsicht und Verantwortung planvoll auszuführen. Dazu gehört nicht nur die praktische Beherrschung von Fähigkeiten, sondern auch vertieftes fachliches Verständnis und die Bereitschaft, in dem zugewiesenen Rahmen sachgerechte Entscheidungen zu treffen. Kein Unternehmen kann aber als selbstverständlich voraussetzen, daß nur Mitarbeiter mit solchen Eigenschaften bei ihm beschäftigt sind. Folglich fällt der Industrie in unserer Gesellschaft eine höchst wichtige bildungspolitische Rolle zu, die sowohl für das Unternehmen wie auch für den Arbeitnehmer von Vorteil ist18." Der weitgehenden Unabhängigkeit vom manuellen Detailgeschick durch automatisierte und hochmechanisierte Anlagen korrespondiert in den Ausbildungsvorstellungen der Unternehmer das Fehlen traditioneller Lernziele etwa in Gestalt handwerklichen oder auch geistigen Spezialkönnens. Statt dessen findet man 1965 schon Vorstellungen zur Vereinheitlichung der Ausbildungsgänge, die heute an den Universitäten Gegenstand von Reformdiskussionen sind. In der Zeitschrift „Wirtschaft und Berufserziehung" wird gefordert, die Berufsausbildung immer mehr zu einer Basisausbildung umzugestalten. „Wir brauchen Basisberufe, die nicht in sich abgeschlossen, sondern Grundstufe einer lebenslangen beruflichen Bildung sind 14 ." Die Walter Raymond-Stiftung hat bereits Vorstellungen entwickelt, wie das zu erreichen sei: Es soll geprüft werden, welche Tätigkeiten, Fertigkeiten und Kenntnisse verschiedenen Berufen gemeinsam sind. 12 Erwin Krause: Zukunftsorientierte Berufsbildung. Fakten, Pläne, Reformen. Kuratorium der Deutsdien Wirtschaft für Berufsbildung. Bonn 1972, S. 22. 13 Alfred Flender: Zwang zu neuen Methoden, in: der arbeitgeber 1969, Nr. 10/11, S. 374. 14 G. Jeuschede: Berufe im Wandel, in: Wirtschaft und Berufserziehung, 3,1969. (15)

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Diese Berufe sollen in einem Berufsfeld zusammengefaßt und auf eine diesem Berufsfeld eigene Berufsgrundbildung festgelegt werden 15 . IV. Können und Haltung Welche Qualifikationen und Arbeitstugenden soll eine zukunftsorientierte Berufsbildung hervorbringen? „Der Betrieb verlangt von seinen Mitarbeitern ein unverzichtbares Maß an persönlicher Einstellung zur Arbeit, an Selbständigkeit und an Mitverantwortung für das betriebliche Gesamtgeschehen. Arbeitszerlegung und Spezialisierung, die zum Wesen rationeller Produktion gehören, führen zum wirtschaftlichen Gesamterfolg erst durch die organisatorische Zuordnung aller Funktionen auf das Betriebsganze. Dazu kommt, daß die für die Arbeitsorganisation in der Vergangenheit bezeichnende Scheidung in Gruppen, die nur anweisende, und in solche, die nur durchführende Aufgaben hatten, heute mehr und mehr aufgelockert ist. Bezeichnend für die heutige Arbeitsorganisation ist, daß die unmittelbare Anweisung durch Vorgesetzte weitgehend durch die der Maschine beziehungsweise der Maschinenkette ersetzt ist. In diesem maschinellen Weisungsverfahren muß sich der Mensch weitgehend selbständig arrangieren. Er ist also nicht etwa aus dem Weisungsverhältnis entlassen, sondern er ist in einem neuen Weisungsverhältnis in erhöhtem Maß zu selbständigem Mitdenken und Mitverantworten aufgefordert. Hierzu bedarf er der Einsicht in den Zusammenhang der Produktion. Was vom einzelnen besonders verlangt wird, ist, daß er komplizierte Instrumente und technische Anlagen, verschiedene Arbeitsgänge koppelnde Maschinen und Automaten überwacht und daß er im Störungsfall selbständig handelt. Dieser Wandel der Dinge erfordert Engagement, Besonnenheit, Verantwortungsgefühl, Selbstbewußtsein und Urteilsfähigkeit bezüglich des eigenen Arbeitsplatzes und seiner Bedeutung für das betriebliche Gesamtgeschehen. Der in den zwanziger Jahren aufkommende Begriff des ,Mitarbeiters* würdigt die zunehmend höhere Bewertung der personalen Qualität, der geistigen Fähigkeiten, der sittlichen Grundeinstellung und des Verhaltens In der Verschmelzung von Allgemeinbildung und Fachausbildung deutet sich nicht nur eine neue Einheit von Können und Haltung an, sondern auch ein Zusammenfügen der lange getrennten Bereiche von geistiger und körperlicher Arbeit. Es empfiehlt sich demnach, den Begriff der Ausbildung oder Qualifikation in diesem umfassenderen Sinn neu zu verstehen, in ihm diese Gesamtheit persönlichkeitsbildender Strategien jeweils zu vermuten. So heißt es auch im arbeitgeber: „Wo immer in den beiden vergangenen Jahrzehnten aus unternehmerischer Initiative oder aus den Tätigkeiten von Kammern, Verbänden, Akademien und anderen Institutionen neue Wege der 15 Vgl. Wirtschaft und Schule, a.a.O. 16 Ebenda, S. 24, (Hervorhebungen von uns, die Verf.).

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Berufsausbildung und der beruflichen Weiterentwicklung angeschlagen wurden, war von Anbeginn eines klar: in der sich ständig und immer rascher wandelnden technisierten Welt mit dem wachsenden Informationsfluß und dem sich daraus ergebenden Zwang zu immer weitergehender Spezialisierung bedeutet »künftiger Lebensbedarf' mehr als nur ein Fundus von anwendbarem Wissen und Können . . . er bedeutet geistige Beweglichkeit und Bereitschaft zum ständigen Anpassen und Weiterlernen. Er bedeutet auch Bereitschaft zur Kooperation. Und er bedeutet nicht zuletzt die Fähigkeit, den eignen Leistungsbeitrag als Teil unserer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung zu sehen. Das alles sind Elemente der Persönlichkeit; damit aber sind es Bildungsziele im Vollsinn des Worts17." Wenn geistige Fähigkeiten, selbständiges Mitdenken, Urteils- und Kritikfähigkeit als übergreifende Qualifikation vom Arbeitsprozeß her verlangt werden, muß die Persönlichkeit des Arbeiters von Grund auf neu ausgestattet werden. Hier wird kein Mensch mehr verlangt, der sklavisch an den Arbeitsvorgang gekettet ist, dessen Bewegungen und Handlungen sich ausschließlich nach der Vorgabe der Maschinen richten, sondern hier scheint der bewußte, dem Maschinensystem gegenüber souveräne, planende Mensch zu entstehen. V. Systemsdiranken Zugleich aber zeigen die von der Walter Raymond-Stiftung angegebenen Ebenen der Ausbildung — „geistige Fähigkeiten, personale Qualität und sittliche Grundeinstellung" — die Schwierigkeit der Ausbildung im Kapitalismus. So sollen a) die Produzenten eine breite Grundausbildung bekommen, die den Rahmen der bisher eher bescheidenen Volksschulbildung erheblich sprengt; b) auf diesem Boden eine Reihe von Eigenschaften sich entwickeln, die an die Stelle des traditionellen Industriearbeiters ein wissendes, denkendes, geschult handelndes Individuum setzen, und c) soll die Arbeiterpersönlichkeit neuer Qualität Mitverantwortungsgefühl für den Betrieb und soziale Bindung an ihn entwickeln, als sei sie Teilhaber anstelle gekaufter Arbeitskraft. Die hierin angelegte Widersprüchlichkeit wird noch deutlicher, vergegenwärtigt man sich die notwendig gegebenen Qualitäten der Arbeit als Lohnarbeit und ihrer Auswirkungen auf die Persönlichkeitsbildung. Denn die Versachlichung von Personen, die Verkehrung von Subjekt und Objekt, die das Kapitalverhältnis kennzeichnet, erstreckt sich auf alle geistigen, schöpferischen und gesellschaftlichen Tätigkeiten der arbeitenden Menschen. Die Organisation der Arbeit, ihr Arrangement, die potenzierte Kraft, die aus der Zusammenarbeit entspringt, erscheinen als fremde Macht, als Macht des Kapitals. Der Geist, der das gemeinsame technische Handeln der Individuen ber stimmt, vollzieht sich durch ihre Handlungen und ist ihnen gleich17 Egmont Hiller: Baden-Württemberg — seine Bildungsstätten, in: der arbeitgeber, 20/21,1969.

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wohl fremd, ist Geist des Kapitals. Die geronnene Form der Arbeit, die Maschinen, werden Kapitalmacht, erscheinen den arbeitenden Menschen als Kapital, das sich die lebendige Form der Arbeit unterordnet. Indem sie ihr Arbeitsvermögen entäußern, ist der Vollzug der Arbeit selbst immer schon Bereicherung und Stärkung des Kapitals. Ihr Tun, ihre Arbeit, nützt nicht ihnen, sondern vergrößert die sie beherrschende Macht. Da so das Gesellschaftliche in Wirklichkeit organisiert ist — durch das Kapital und nicht durch die vergesellschafteten Menschen selbst —, müssen ihre allgemeinen sozialen Beziehungen dies Verhältnis widerspiegeln. Daraus folgt, daß verschiedene der genannten erforderlichen Qualifikationen auf dem Boden der kapitalistischen Produktionsweise nicht wachsen können bzw. nur durch Betrug herstellbar sind. So unterstellt etwa Mitverantwortung oder auch Verantwortlichkeit ein kollektives Ziel, ein Gemeinsames, welches durch die Interessenantagonismen im kapitalistischen Produktionsprozeß unmöglich ist. Daß im Kapitalismus nicht die Sache des Arbeiters, sondern über ihn als Produktionsfaktor verhandelt wird, schließt von vornherein aus, daß er sich für das Unternehmensziel, den Profit, engagiert, schränkt sein Selbstbewußtsein in der Produktion ein. An der Grenze des auch im Kapitalismus Möglichen liegt etwa Kooperationsfähigkeit als Gegensatz zur einsamen konkurrenzbezogenen Tätigkeit; wobei die Vergesellschaftung der Arbeit die Kooperation einerseits beständig erzwingt, während die Form der Arbeitskraft im Kapitalismus — als Ware auf dem Markt aufzutreten — das kooperative Verhältnis beständig angreift. Es bleibt aber auffällig an allen für die Produktionsweise erforderlichen Eigenschaften, die durch das Kapitalverhältnis ausgeschlossen sind und also aus anderen Gesellschaftsformationen entlehnt und als Surrogate aufgebaut werden müssen, daß es sich nicht um irgendwelche aus vorkapitalistischer Zeit stammende Qualitäten von Individuen handelt, sondern daß Vorgriffe und Vorwegnahmen von Teilqualitäten der sozialistischen Produzenten versucht werden. Die automatisierte Produktionsweise stößt hinsichtlich der Produktivkraft Mensch also deutlich an die Grenzen des Systems. Nicht nur die vertiefte Allgemeinbildung, ein breiteres Wissen, ein höherer Grad an Rationalität und Denkfähigkeit sind Qualifikationen, die den Arbeiter kritischer und einsichtiger machen können; durch das Erfordernis von Selbständigkeit, Urteils- und Kritikfähigkeit selber wird der Boden bereitet für politische Aufklärung, für die Einsicht in die Aufhebbarkeit der Widersprüche, die dem KapitalVerhältnis geschuldet sind. Um diesen unerwünschten Schritt zu verhindern, wird sich das Kapital Fesseln einfallen lassen müssen, die die oben angegebenen und von ihm verlangten Fähigkeiten von Beginn an verstümmeln, so daß sie zwar im Arbeitsprozeß funktionieren, sich dem Verwerturigsstreben aber nicht widersetzen. Daß dieser Gedanke als Befürchtung bereits Eingang in die Köpfe der Kapitalisten gefunden hat, skizziert „der arbeitgeber" in seinen Vorstellungen eines „Gebildeten Proletariats": „Aber nicht nur ein Kostendruck wird von den Massen (18)

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höher qualifizierter Mitarbeiter ausgehen, sondern auch ein Mitbestimmungsdruck, oder neutraler gesagt: die Forderung nach einer Revision des Kommunikationsstils. Höhere Bildung . . . hat die Menschen immer schon selbstbewußter und auch widerspenstiger gemacht. Diejenigen, die in der Vergangenheit eine höhere Bildung der Mehrheit verhindert haben, haben das auch immer gewußt18." Dementsprechend findet sich der Anspruch der Systemintegration als selbstgestellte Aufgabe ebenso in allen den Unternehmerstandpunkt vertretenden Zeitungen wie auch in den eigens für bildungspolitische Zwecke hergestellten Publikationen: „Es muß festgestellt werden, daß man in der Wirtschaft eine derartige Bildungsarbeit auch als eine wesentliche Grundvoraussetzung für die Integration der Mitarbeiter in Betrieb und Arbeitsfeld ansieht angesichts der Vielzahl von Faktoren, die in allen gesellschaftlichen Bereichen einen konstanten Desintegrationsprozeß fördern. Auch unter diesem Aspekt muß Bildung in allen Phasen und Institutionen als System heute auf das ganze komplexe Gebilde von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft ausgelegt sein. Im wirtschaftlichen und betrieblichen Raum hätte ein Festhalten an nur beruflich-fachlicher Ausbildung zwangsläufig nur teilintegrative Wirkung. Auch dies ist für die Bildungsverantwortlichen in Betrieben und Verbänden längst eine in die Praxis umgesetzte selbstverständliche Erkenntnis 19 ." „Die Wirtschaft ist sich der Tatsache bewußt, daß es sich in der beruflichen Bildung nicht nur um die fachliche Ertüchtigung für einen Beruf, für die spätere Existenzsicherung, sondern ebenso um das menschliche, sozialgebundene und das staatsbürgerliche Bereitmachen der Jugend für die Aufgaben in einer sozialen Marktwirtschaft, in einer Gesellschaft mit freiheitlicher Grundordnung handelt20." Die tatsächliche Systemeinstimmung in den Curricula der Schulen bis hin zur Universität wird sicher eine weniger deutliche Sprache sprechen. Daß sie in noch weit größerem Umfang als bisher beabsichtigt ist, zeigen u.a. die Strategien gegen „Linke im Ausbildungsbereich", wie überhaupt der Stellenwert, der dem Erziehungsbereich und dem gesamten Überbau aus der Sicht der Unternehmer mehr und mehr zukommt: „Hier muß noch ganz allgemein hinzugefügt werden, daß manche Bildungsplaner, Bildungspolitiker, Bildungsideologen mit neuen Plänen die Absicht oder die politische Hoffnung zu verbinden scheinen, über eine Veränderung des Bildungssystems eine Veränderung des Beschäftigungssystems und damit auch eine Veränderung des Wirtschafts- und des Gesellschaftssystems zu erreichen21." 18 Hermann Giesecke: Bildungspolitik — gebildetes Proletariat, in: der arbeitgeber, 1971, H. 16, S. 680. 19 Georg Jurascheck: Kritik am Bildungsrat, in: der arbeitgeber, 1969, H. 10/11, S. 401. 20 E. Krause: Lehrlinge in Schule und Betrieb, in: Handelsblatt, 26./ 27. 5.1972, S. 18. 21 E. Krause: Zukunftsorientierte Berufsbildung, a.a.O., S. 13. (19)

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VI. Pädagogische Strategien im Betrieb Die Bildungsarbeit der Unternehmen, insbesondere im Bereich der Weiterbildung und Umschulung, hat also die schwierige Aufgabe, den voranschreitenden technologischen Umwälzungen auf der Spur zu bleiben und Qualifikationsengpässen wirksam vorzubeugen bzw. schnell Abhilfe zu schaffen — dies bei äußerst knapp bemessenem Zeitetat der Lernenden und bei mitunter großen Widerständen gegen theoretischen Unterricht. Unwirksamkeit betrieblicher Bildungsmaßnahmen drückt sich nachprüfbar in der Arbeitspraxis der Ausgebildeten aus und ist daher schnellen Korrekturen ausgesetzt, während etwa die Auswirkungen universitärer Fehlbildung sehr verzögert korrigiert werden. Die didaktischen Anordnungen, die sich unter den Bedingungen im Betrieb entwickelt haben, verdienen daher allgemeine Beachtung. Wesentliches Prinzip ist es, die Lernenden aktiv am Lernprozeß zu 22 beteiligen: „Wir müssen wegkommen vom einseitigen Vortrag ." „Die neuen Ansätze der Methodik bezeichnen die Entwicklung zur Selbsttätigkeit", konstatiert Fritz Arlt die Resultate einer Untersuchung, in der das betriebliche Bildungswesen von 200 Unternehmen, darunter 40 Großunternehmen auf Initiative des Rationalisierungskuratoriums der deutschen Wirtschaft (RKW) analysiert wird 28 . So ist denn in den unternehmerischen Äußerungen zum betrieblichen Bildungswesen die Rede vom Prinzip der „produktiven Selbsttätigkeit" 24, von der „Methode des sogenannten beteiligten Lernens, dessen wichtigste Schritte Versuch und Übung, Beobachtung, Reflexion, Kritik und Entscheidung sind25". Als wichtigster pädagogischer Anreiz zur Entfaltung produktiver Selbsttätigkeit der Lernenden gilt — laut der durch Fritz Arlt resümmierten empirischen Untersuchung — die wechselseitige Stimulierung der Lernenden in der Gruppe: „Das Lernen in Gruppen und die Gruppenpädagogik erhalten zunehmende Bedeutung. Der Gruppenkritik mißt man große Bedeutung bei. Betriebspädagogen legen die Entwicklungskritik in die Gruppe selbst26." Lehrmethoden betrieblicher Weiterbildungsseminare sollen daraufhin überprüft werden, „inwieweit sie einmal geeignet sind, angstfreies Lernen zu ermöglichen und zum andern, inwieweit sie tatsächlich die unbewußt vorhandenen Lernwiderstände überwinden können, also letztlich neue Verhaltensweisen hervorrufen 27". 22 H. Griesinger: Das Planspiel als Entscheidungstraining, in: contact, 4/1970, S. 222. 23 Fritz Arlt: Neue Methoden und Ansätze betrieblicher Bildungsarbeit, in: Rationalisierung, H. 8/1970, S. 195. 24 contact, a.a.O., S. 245. 25 Fritz Arlt: Erwachsenenbildung in der Wirtschaft, in: contact, 1/ 1970, S. 54. 26 Fritz Arlt: Neue Methoden..., a.a.O., S. 195. 27 R. E. Kirsten: Wirksame Erfolgskontrolle der betrieblichen Ausund Weiterbildungsmaßnahmen, in: Fortschrittliche Betriebsführung. 1972, H. 4, S. 188. (20)

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Insbesondere im Bereich der Lehrlingsausbildung gelten gruppenpädagogische Maßnahmen als sehr wirksam: „Darüber hinaus denken wir daran, neben der planmäßigen Einführung am Arbeitsplatz in Anpassung an den geistig-seelischen Enwicklungsstand zwanglose Aussprachen herbeizuführen, die engere Kontakte unter den Jugendlichen selbst und zu deren Vorgesetzten herstellen und begünstigen sollen28." Gesteigert wird die Wirksamkeit solcher Maßnahmen durch die Einrichtung von Lehrlingsheimen und -internaten: Die Fa. Daimler-Benz führt z.B. zweiwöchige „sozialpädagogische Lehrgänge" für alle Auszubildenden zu Beginn und im letzten Jahr der Ausbildung durch. In einem Bericht der Latscha KG (Lebensmittelfilialbetriebe) werden der „Erlebnishintergrund des Internats" und die in ihm wirkenden psychischen Medianismen dargestellt: „Das Selbstsein in der Gemeinschaft mit Gleichaltrigen löst den Wunsch nach gemeinsamer Bewährung aus, der sich bis zur Begeisterungsfähigkeit in der Anteilnahme steigert. Der Jugendliche ist aus dem Betriebs-, Schul- und Familienverband herausgenommen... Das schließt ihn auf für Sachbezogenheiten, die er sonst von sich abdrängt, befähigt ihn zur Denkkonzentration, läßt ihn mitgehen.. Die Herauslösung der Lehrlinge aus einem sie beschränkenden Alltag, gekoppelt mit einem pädagogischen Arrangement (gemeinsame Fahrten, Spiele etc.), mobilisiert persönlichkeitsprägende Energien, die sich für die Unternehmen nutzbar machen lassen: „Die drei Komponenten der Kurse — Ausbildung, Bildung und Gemeinschaftspflege — heben durch ihr Zusammenwirken die Leistungseffizienz ganz erheblich80." Die „Gemeinschaft der Gleichaltrigen" soll die aus Spielen und Fahrten erwachsende „Begeisterungsfähigkeit in der Anteilnahme" auf das betriebliche Geschehen übertragen und so einen kollektiven Sinn innerhalb des Kapitalismus vorspiegeln, der für die Produzenten doch nur in der Negation dieser Gesellschaftsformation bestehen kann. Audi für die Motivierung älterer Arbeitnehmer erweisen sich gruppenpädagogische Maßnahmen zusehends als wichtig: „Zunehmend schwierigere Aufgaben stellt die Umschulung älterer Arbeitnehmer. Keineswegs kann man hierfür gleiche Methoden, wie sie erfolgreich bei Jugendlichen angewandt werden, übernehmen. Es scheint so, daß eine eigene gruppenpsychologisch begründete Methodik im Entstehen begriffen ist. Entscheidend wird es hierbei darauf ankommen, Selbstvertrauen und Lernfreudigkeit zu wecken S1.M 28 Bildungsarbeit im Betrieb. Alle Unternehmen sind aufgerufen. Aus einem Vortrag von O. Esger, in: contact, 4/1964, S. 28. 29 Helmut Stein: Ausbildung in den Latscha-KG-Lebensmittel-Filialbetrieben, in: contact, 4/1967, S. 210. 30 Ebd., S. 210. 31 A. Jungbluth (Arbeitsdirektor und Vorstandsmitglied der Salzgitter Hüttenwerke AG): Der Weg zur Bildungswirtschaft, in: Rationalisierung, 5/1970, S. 118. (21)

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Ein Terrain für die produktive Selbsttätigkeit der Lernenden solle dadurch geschaffen werden, daß „Kommunikationsschranken" zwischen Lernenden und Lehrenden abgebaut und zugleich für die Selbstartikulation und -aktivität der Lernenden neue Handlungsspielräume eröffnet werden: Lernende und Lehrende sollen als Partner bei der aktiven Erarbeitung des Lernstoffs gelten: „Bei entsprechender Motivierung der Lernenden ist in der Vermittlung nüchternen Sachwissens der erhobene Zeigefinger des Pädagogen entbehrlich. Unsere Lehrkräfte beschränken sich daher für einen erheblichen Teil des Lernprozesses auf die Ausbildungsberatung .. ,82." Folglich müssen auch Lehrer und Lehrmeister ein Partnerschaftsverhalten entwickeln88". „Längst sind die Zeiten vorüber, da die Ausbildung noch in patriarchalischer Form stattfinden konnte. Unsere Jugend ist nicht mehr autoritätsgläubig, sondern kritisch eingestellt, sie will nicht mehr autokratisch, sondern partnerschaftlich geführt und vom Richtigen überzeugt werden. Der Bildungsstil muß deshalb ein anderer s e i n . . . Zurücktreten des Autoritären der Ausbilder 84 ." Die „partnerschaftliche" Haltung des Ausbilders manifestiert sich in seiner Fähigkeit, die Kritik der Auszubildenden zu stimulieren und ihr ohne Ausbruch in „autoritäre" Verhaltensweisen standzuhalten. Im Zuge ihrer Ausbildung müssen Ausbilder folglich „»Probeunterweisungen' oder ,Probeunterricht' mit Lehrlingen durchführen, um sich dann der Kritik sowohl der Jugendlichen als auch ihrer dabei anwesenden Kollegen zu stellen. Besonders wichtig sind Übungen zur Informations- und Kommunikationspraxis, damit der Ausbilder sich selbst und seine pädagogischen Funktionen darstellen und vertreten lernt 85 ." „Partnerschaftliches", „zwangloses" Lernen hat den zusätzlichen Nutzen, mit der Autorität des Lehrenden die Autorität des Kapitals und den Zwang der ökonomischen Verhältnisse aus dem Blickfeld zu rücken. Um zu verhindern, daß Kritik aufs Ganze geht, gibt es Techniken, die offensichtlich neben der Entfaltung von allgemeinen Fertigkeiten zugleich der emotiven Integration dienen: „Neben einem fundierten Wissen . . . ist schließlich eine systematische Verhaltensschulung um so dringender erforderlich... 86 ." „Schulung der Lehrkräfte: . . . Wir haben deshalb . . . seit einigen Jahren Pädagogische Seminare eingerichtet. Die Seminare umfassen drei Stufen und dauern jeweils drei Tage: 1. Unterrichtsplanung; 2. Verhaltenstraining; 3. Motivation, Psychologie, Probleme des Testens87." — Daß da, wo ein exakter Nachweis gemeinsamer langfristiger Interessen 32 Dietrich P. Brandt: Die betriebliche Aus- und Fortbildung als Beitrag zur Mobilität der Unternehmung, in: contact 4/1969, S. 259. 33 H. Freudenberg: Neue Erziehungsaufgaben verlangen einen neuen Erziehungsstil, in: contact, 3/1963, S. 18. 34 E. Krause: Zukunftsorientierte Berufsbildung, a.a.O., S. 43. 35 contact, 3/1972, S. 159. 36 Ebenda. 37 Siemens AG: Bildungsarbeit im Unternehmen, S. 30. (22)

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als Mittel der Motivierung nicht möglich ist, sich zwangsläufig mit dem Komplex „Gruppenpsychologie" bzw. „gruppenpsychologischer Integration" große und innerhalb gewisser Grenzen durchaus realistische Erwartungen verknüpfen, wird im folgenden deutlich: „Verantwortung als hohe Tugend des Mitarbeiterverhaltens kann nicht bloß aus einer führungstechnischen ,Delegation' resultieren, sondern sie ist die subjektive Resonanz des gruppenpsychologisch integrierten und führungspolitisch motivierten Mitarbeiters38." Dieses Zitat, das im Zusammenhang mit Äußerungen über das Führungsverhalten von Vorgesetzten steht, macht zugleich die spezifische Brauchbarkeit von „gruppenpsychologischen Kenntnissen" der Ausbilder sichtbar: sie werden befähigt, grundlegende Kritik inhaltlich gar nicht zu hinterfragen, sondern sie als mißglückte „subjektive Resonanz", als mißglückte emotive Einvernehmung zu interpretieren. Daß der Führungsstil sich in vielen Unternehmen bereits sehr stark geändert hat, kann mittlerweile als Binsenweisheit gelten. Bemerkenswert ist jedoch, daß sich darüber hinaus eine Aufhebung der Grenze zwischen Ausbildung und Führung anbahnt. Fritz Arlt fordert: „Die Tätigkeit des Ausbilders darf kein Sackbahnhof für pädagogisch Interessierte, kein Abstellgleis für die in der Praxis nicht mehr Brauchbaren sein. Sie sollte vielmehr als Durchgangs- und Lernfeld, als Lernprozeß im Sinne einer Pädagogisierung von Führungskräften in der Linie und im Stab genutzt werden39." Eine Vielzahl der oben dargestellten Prinzipien und Methoden der Bildungsarbeit wird nunmehr zusehends auf die Beziehungen zwischen Vorgesetzten und Untergebenen anwendbar. Der Mitarbeiter soll auch im unmittelbaren Produktionsprozeß mit Bildungserwartungen an den Vorgesetzten herantreten: „Um die Weiterbildung am Arbeitsplatz zu intensivieren, sollte jeder Mitarbeiter in Kooperation mit seinen Vorgesetzten gezielt Arbeitssituationen anstreben, die einen Wissens- und Erfahrungszuwachs versprechen; sei es durch Erweiterung der ausgeübten Funktion oder durch einen Wechsel der Aufgaben40." Daß die unternehmerischen Anordnungsbefugnisse der Führungskräfte mehr und mehr die Gestalt gruppenpädagogischer Anleitung annehmen, spiegelt sich im Bildungsprogramm für Führungskräfte: „Unter dem Leitgedanken »Führen durch Zusammenarbeit' behandeln Psychologen des Hauses in Rollenspielen, Fallstudien und Gruppendiskussionen Aspekte der Motivation, der Information und des Verhaltens in Arbeitsgruppen 41 ." In der Diskussionsmethode, in der Analyse von Fallbeispielen, im Rollenspiel und im Planspiel verwirklicht sich also zunächst einmal das Prinzip der produktiven Selbsttätigkeit. „Die Diskussionsmethode, die case method, das Rollenspiel und das Planspiel sind 38 Schlegel: Baden-Württemberg — Sein Lämmerbuckel, in: der arbeitgeber, 1969, Nr. 20/21, S. 862. 39 Fritz Arlt, Neue Methoden..., a.a.O., S. 196. 40 Siemens AG, a.a.O., S. 24. 41 Siemens AG, a.a.O., S. 28. (23)

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weitere Beispiele moderner betrieblicher Berufsbildungsmethoden in Gruppen. Einzelne haben Kombinationen programmierter wie beteiligender Methoden entwickelt, so etwa die eines kombinierten fernseh- oder computerunterstützten Lernens in der Gruppe Zu den neuen Methoden gehört die Ausstattung der betrieblichen Bildungsveranstaltungen mit einem Arsenal von Instrumenten wie Programmen, Lehrlabors, audio-visuellen Lehrmitteln, Lehrbriefen und dergleichen42." Alle diese Verfahren simulieren — in aufsteigender Stufenleiter — immer wirklichkeitsgetreuer die Lebenswirklichkeit: „Das Planspiel, die dynamische Variante des Fallbeispiels, . . . wird . . . zum Allfunktionalspiel erweitert, um die Darstellung des Gesamtsystems einer Unternehmung im Modell zu ermöglichen43!" Die Nähe zur Lebenswirklichkeit erzeugt eine Lernweise, die dem „Erwachsenen und seiner habituellen Bereitschaft zur Selbsttätigkeit besonders angemessen 44 " ist, weil die aus der beruflichen Aktivität stammenden Haltungen ausgenutzt werden können. Die dargestellten didaktischen Anordnungen knüpfen aber keineswegs nur an beruflich erworbenen Formen produktiver Selbsttätigkeit an, sondern dienen zugleich ihrer Verstärkung und Ausweitung und dies um so mehr, je höher die berufliche Stellung des Auszubildenden ist: „Die Bedeutung dieser Methode (gemeint ist partizipatives Lernen in den oben dargestellten simulationsgebundenen Verfahren, die Verf.) gewinnt um so größeres Gewicht, je selbständiger die Funktion ist, die der Teilnehmer einer Veranstaltung der Erwachsenenbildung der Wirtschaft innehat oder anstrebt 45 ." Hier sei angemerkt, daß das Rollenspiel natürlich für die emotive Integration geradezu prädestiniert ist, während in den anderen didaktischen Anordnungen integrative Medianismen nicht von der Anordnung selbst ausgehen, sondern von den jeweils vorgegebenen Spielregeln und inhaltlichen Prämissen. Im Rollenspiel wird systematisch eine Technik der Einfühlung kultiviert, die schließlich darin münden soll, eigene und fremde Gefühlsregungen möglichst präzise zu diagnostizieren und schließlich auch zu steuern. Dabei gelten Gefühle als die eigentlichen Beweggründe menschlichen Handelns, nicht aber die mehr oder weniger wohlverstandenen eigenen materiellen Interessen. Resultat dessen ist, daß soziale Konflikte als korrigierbares Resultat kommunikativer Inkompetenz gelten und in ihren materiellen Hintergründen gar nicht zur Debatte kommen können. Das Rollenspiel besitzt also durchaus die Fähigkeit, im Vorfeld der Politisierung befindliche Personen von der Reflexion ihrer materiellen Interessen abzulenken — solange sie nicht durch starke materielle Einbußen auf die Diskrepanz zwischen kommunikativer Partnerschaft und wirklicher Ungleichheit hingewiesen werden. 42 Fritz Arlt: Neue Methoden..., a.a.O., S. 195. 43 contact, Nr. 4/1969, S. 245. 44 Fritz Arlt: Erwachsenenbildung der Wirtschaft, in: contact, 1/1970, S. 54. 45 Ebenda: contact, 1/1970, S. 54. (24)

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Die oben dargestellten Anordnungen dürften auch sehr gut dafür geeignet sein, partnerschaftliche Beziehungen zwischen Vorgesetzten und Untergebenen einzuüben, da es sich bei den vorgegebenen Aufgaben häufig um Problemstellungen handelt, für die ein eindeutiger, exakt prognostizierbarer Lösungsweg nicht existiert. Dies ist u. a. eine Methode der Erzeugung von selbständigem Denken und also Kritikfähigkeit. VII. Betriebliches Vorschlagswesen Methoden zur Herausbildung neuer Haltungen und Kenntnisse werden vom Kapital auch außerhalb der institutionalisierten betrieblichen Bildungsveranstaltungen systematisch angewandt und weiterentwickelt — etwa in Gestalt von Betriebszeitungen, Modellen der „Mit"-Verwaltung in Teilbereichen, Lohnzahlung im Gewände raffinierter Systeme von „Gewinnbeteiligung". Besondere Beachtung verdient hierbei das betriebliche Vorschlagswesen, mit dem sich die Unternehmensleitungen eine organisatorische Konstellation schaffen, in der für die Produzenten starke materielle Hebel zur Entfaltung ihrer schöpferischen Eigeninitiative wirksam gemacht werden. Heißt es in der Werkzeitschrift der Hoechst AG „Werk und wir" noch ein wenig verhalten: „Das Vorschlagswesen . . . soll dazu beitragen, unsere Belegschaftsmitglieder zu echter Mitarbeit am Betriebsgeschehen zu gewinnen. Erfreulicherweise ergeben sich dadurch auch (Hervorhebung von uns) wirtschaftliche Vorteile für unsere Unternehmen .. . 46 " — so zeigt doch ein Blick auf die Statistiken, daß beim BVW betriebspädagogische Wirksamkeit und Steigerung der Rendite in unmittelbarer Verbindung stehen47. Vergleicht man es mit den oben dargestellten Methoden der institutionalisierten betrieblichen Bildungsarbeit, also z.B. mit dem Planspiel, so zeigt es sich als gleichermaßen geeignete Methode zur Erzeugung und Entfaltung schöpferischen, zu neuen Lösungen durchdringenden, zugleich aber auch systematisch-logischen Denkens, da mit steigender Mechanisierungsstufe die Rückwirkimg von Einzellösungen auf das Gesamtsystem wie auch Möglichkeiten der Veränderung des Gesamtsystems Beachtung finden müssen. Über solche Parallelen hinaus ist das BVW allen Bildungsveranstaltungen, die mit Spielsituationen und Spielmaterial operieren müssen, insofern überlegen, als hier von den Produzenten in der BetriebsWirklichkeit der technische Fortschritt selbst vorangetrieben wird, d. h. eine durch keine didaktische Anordnimg überbietbare Lebensechtheit besteht. 46 Werk und Wir. Hrsg. Hoechst AG, Dortmund 9/1969. 47 135 Firmen mit 2,5 Millionen Beschäftigten in der BRD, die im Jahre 1971 untersucht wurden, erwirtschafteten aufgrund des BVW eine Jahresersparnis von ca. 334 Millionen DM — wobei für Prämien eine Gesamtsumme von 17,2 Mill. DM (5 °/o des betrieblichen Gesamtnutzens) verausgabt wurde. Die Durchschnittsprämie betrug 287 DM — Prämien von 10000 DM oder 30 000 DM waren keine Seltenheit (Blick durch die Wirtschaft, 18. 8. 1972. Bericht über eine Statistik des Deutschen Instituts für Betriebswirtschaft). (25)

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Durchs BVW werden aber nicht nur „brachliegende Fertigkeiten und Fähigkeiten und die oft jahrelangen Berufserfahrungen erschlossen", es hat auch „wichtige Nebenwirkungen..., wie verstärktes Interesse der Mitarbeiter am Betriebsablauf und am Betriebserfolg, das Gefühl, ernst genommen zu werden 49 ". — Die spezifische Fähigkeit des BVW, „das verantwortliche Mitdenken aller zu fördern 60 ", „ein initiatives Verhältnis zur Produktion 61" zu bewirken, kurzum also Haltungen wie Verantwortungsbereitschaft, Arbeitsfreude, Lernbereitschaft, Interesse am Erfolg des Unternehmens zu bewirken, liegt keineswegs nur an den Prämien: „ . . . denn immer wieder zeigt sich, daß bei aller Freude, die ein Einsender bei der Auszahlung einer guten Prämie empfindet, doch die Durchführung seines Vorschlages, die Realisierung seiner Ideen, im Vordergrund steht 62 ". Die Mobilisierung der gesellschaftlichen Produktivkräfte im Kapitalismus dient ausschließlich der Produktion von Mehrwert und die gesellschaftliche Arbeitstätigkeit der Produzenten dient ausschließlich dem Privatzweck, ihr jeweiliges individuelles Arbeitsvermögen zu reproduzieren. Darüber hinaus hat sie keinen unmittelbaren gesellschaftlichen Sinn. Im BVW erscheint die gesellschaftliche Wirklichkeit des Kapitalismus jedoch so, als hätte die Arbeitstätigkeit des* einzelnen Produzenten über den Lohn hinaus das Ringen um den technischen Fortschritt und die Förderung des Betriebes als Ganzem zum unmittelbaren Zweck, als trete an die Stelle von Fremdbestimmung Selbstbestimmung. Das mit dem BVW installierte Angebot treibt den Produzenten in einen unausweichlichen Konflikt: folgt er seinem Wunsch nach schöpferischer Selbstverwirklichung und nach einer hohen Prämie, muß er zwangsläufig die Arbeitsplatzunsicherheit verschärfen — eine Gefahr, zu deren Verschleierung intensive Bemühungen in Gang gesetzt werden: „Unter Fuhrung des psychologischen Dienstes . . . wurden einige Plakatserien . . . entwickelt. . . . Es sollte gezeigt werden, daß durch Rationalisierung nicht eine Beeinträchtigung der Belegschaft und eine Gefährdung der Existenz, sondern im Gegenteil eine Sicherung der Existenz erreicht wird 68 ." 48 Entfällt 49 Mitteilungen der Industrie- und Handelskammer Frankfurt/M. 50 A. Fr. Flender: Neue Schwerpunkte betrieblicher Sozialpolitik, in: contact, 11/1963, S. 84. 51 Unternehmerbrief des Deutschen Industrieinstituts, Nr. 6 vom 6. 2.1969, S. 3. 52 Christian Pansegrau: Aktivierung des Betrieblichen Vorschlagswesens, in: Rationalisierung, Nr. 9/1970, S. 228. 53 Ebenda S. 2271 Die betriebliche Durchsetzung des BVW wird zusätzlich gehemmt von Vorgesetzten, die ihre berufliehe Kompetenz durch Verbesserungsvorschläge gefährdet sehen. „... die wichtigste Hemmung gegenüber dem Vorschlagswesen ist darin zu sehen, daß betriebliche Vorgesetzte — vom Vorarbeiter bis zum Betriebsdirektor — mehr oder weniger befürchten, seitens ihrer Vorgesetzten gefragt zu werden, ob nicht sie selbst längst auf diesen Vorschlag hätten kommen müssen. ... Alle Beteiligten waren sich darüber klar, daß gerade diese Frage den Tod des Vorschlagswesens bedeutet" (S. 227). (26)

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VIII. Politische Indoktrinierung Über die verschiedenen schon genannten Methoden der Systemintegration hinaus werden zusätzliche Anstrengungen der politischen Indoktrination unternommen. Hier seien nur einige Beispiele stellvertretend herausgegriffen: Der BDA veranstaltet „für verschiedenste Gruppen der Gesellschaft" Seminare unter dem Thema „Die Wirtschafts- und Sozialordnung in der Bundesrepublik Deutschland". Dabei gibt es Referate wie „Die Bedeutung der Sozialpolitik", „Die Situation der Arbeitnehmer im Betrieb", „Stellung und Aufgabe der Sozialpartner in Wirtschaft und Gesellschaft"; unter anderem setzt man sich auch mit dem „Wirtschafts- und Gesellschaftssystem des Ostblocks" auseinander. In Kursen von drei bis vier Tagen Dauer werden „Grundfragen der Gegenwart" behandelt: „Die Bedeutung des Privateigentums", „Die geistigen Werte der freien Welt"; „Bildungsurlaub — ein politisches Problem", „Die Mitbestimmungsfrage aus betrieblicher Sicht54". Derartige Kurse werden allerdings auch von Einzelunternehmen getragen: Z. B. gibt es bei einem Lebensmittelkonzern Kurse zur „Staatsbürgerlichen Grundbildung" und zur „Wirtschaftlichen Grundbildurig" mit Themen wie „Demokratie und Diktatur", „Politische Organisationen in der BRD", „Prinzipien und Spielregeln der Sozialen Marktwirtschaft 55 ". Bei Siemens werden in verschiedenen Seminaren, z. B. für Jugendliche, Ausbilder und Führungskräfte Themen wie „Jugend und Gesellschaft", „Äußere Umwelt und wir" behandelt 56 . Bemerkenswert ist, daß innerhalb dieser Integrationsmethoden auch der Gruppenpädagogik eine größere Bedeutung zugemessen wird: „Bei Daimler Benz werden die Lehrlinge zu ,Jugendlehrgängen1 entsandt": „Seit über zehn Jahren wird hier mit pädagogischen Mitteln versucht, den Lehrlingen einen nachhaltigen Anstoß zur Integration in ihre soziale Umwelt zu geben. Im Zusammenleben mit den Kameraden, in Diskussionen, bei Spiel und Sport üben sie ihre Kräfte und erleben ihre Gemeinschaft57". — In der Latscha KG werden für Lehrlinge Arbeitsgemeinschaften eingerichtet: „Eine kleine Themenauswahl: Sexuelle Erziehung (durch ein Arztehepaar) — Vom Umgang mit Massenmedien — Soll ich meine Freizeit von der Stange kaufen? — Fragen des Jugendschutzes58." 54 G. Juraschek: Mittel und Methoden unternehmerischer Bildungsarbeit. Die Aufgaben der sozialpolitischen Verbände, in: contact, 3/1967, S. 153. 55 H. Stein: Ausbildung in den Latscha-KG-Lebensmittel-Filialbetrieben, in: contact, 4/1967, S. 221. 56 Siemens AG., a.a.O., S. 25. 57 F. Fischer: Die Bildungsarbeit im Hause Daimler-Benz, in: contact, 1/1967, S. 47. 58 H. Stein: Ausbildung in den Latscha-KG-Lebensmittel-Filialbetrieben, in: contact, 4/1967, S. 209. (27)

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IX. Produktionsorientierung der Schule Solange Unternehmer Vorstellungen zur Verbesserung der Schulausbildung entwickeln, fordern sie mehr „Praxisnähe" und eine stärkere Orientierung des Schulunterrichts auf die „Arbeits- und Wirtschaftswelt". Der noch vor 20 Jahren als „ Kinder ausbeutung" diffamierte „polytechnische Unterricht" der sozialistischen Länder ist in den Diskussionen der Unternehmer um eine praxisnahe schulische Ausbildung schon lange kein Tabu mehr. Peege etwa meint, es müsse im einzelnen geprüft werden, „ob und inwiefern die polytechnische Bildung der Arbeitslehre als Modell dienen kann 59 ". Angesichts der wachsenden Anforderungen des modernen Produktionsprozesses an technische Grundfertigkeiten und -kenntnisse müsse überlegt werden, ob nicht „ein- und dieselbe Technik in Ost und West das Erziehungswesen vor gleiche Aufgaben stellt 60 ", die polytechnische Bildung daher als ein Problem der Industriestaaten, nicht „ausschließlich als kommunistisches Erziehungsmittel" anzusehen sei 61 . Die Intention ist deutlich: Da der Produktionsprozeß eine technische Grundbildung bereits vor Berufseintritt notwendig macht, sucht man von Unternehmerseite nach einer Möglichkeit, Elemente des polytechnischen Unterrichts zu entlehnen. Gleichzeitig wird die Polemik gegen die in ihm enthaltenen sozialistischen Inhalte verstärkt, um auf diese Weise die naheliegende Assoziation von der polytechnischen Bildung zum sozialistischen System von vorneherein zu zerstören. „Gelingt es, die polytechnische Bildung in einer theoretischen Analyse ihrer ideologiebezogenen Inhalte zu entkleiden, so kann die dadurch entstehende Konzeption einer »reinen' polytechnischen Bildung einen fruchtbaren Beitrag zum pädagogischen Problemkreis der Hinführung der Schüler zur Arbeitswelt leisten und damit Modellcharakter für die Arbeitslehre in der Hauptschule erhalten 62 !" Für diese Aufgabe der „ideologischen Entkleidung" wird für SozialWissenschaftler ein breites Betätigungsfeld gesehen, in dem sie teilweise auch schon ihre Arbeit aufgenommen haben. Einerseits zwingt der permanente technische Fortschritt zu einer stärkeren Orientierung auf die „Arbeits- und Wirtschaftswelt" in der Schule, andererseits wächst der Anteil der theoretischen gegenüber der praktischen Ausbildung im Beruf. In der Heranführung des Jugendlichen an die „Arbeits- und Wirtschaftswelt" als „Prinzip des gesamten Unterrichts" soll die Hauptaufgabe der Volksschuloberstufe bestehen. Curriculare Veränderungen wie die Einführung der Arbeitslehre oder der Ausbau des Werkunterrichts spielen dabei eine Rolle. „Der Unterricht auf werktätiger Grundlage will die Möglichkeit der tätig denkenden Auseinandersetzung dadurch schaffen, 59 F. K. Peege: Polytechnische Bildung als Modell für die Arbeitslehre in der Hauptschule. Wirtschaft und Berufserziehung 1970, Jg. 22 S. 187. 60 Ebenda, S. 190. 61 Ebenda, S. 190. 62 Ebenda, S. 187. (28)

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daß eine sinnvolle praktische Tätigkeit zum Zentrum jeglidier Verstandesarbeit gewählt wird 68 ." Über die bloß praktische Ausrichtung des Unterrichts hinaus wird die reale Erfahrung im Betrieb selbst gefordert. Daher werden mit dem Hinweis, daß letztlich nicht einfach die Arbeit, sondern die Arbeit im Gesamtzusammenhang des Betriebes realitätsgerechte Pädagogik und Ausbildung gewährleiste, Betriebspraktika empfohlen: „Im Praktikum als einer schulischen Veranstaltung in Räumen des Betriebes soll der Schüler die Berufs- und Arbeitswelt aus eigener Anschauung kennenlernen... Alles in allem sollte mit dem Praktikum ein Weg erprobt werden, der einen reibungsloseren und stetigeren Übergang zum Beruf gestattet 64 ." Auch für die Lehrerbildung wird u. a. während des Studiums oder während der Berufspraxis ein Industriepraktikum empfohlen. Denn „von seinem (des Lehrers, d. Verf.) Erfassen der wirtschaftlichen und technischen Relationen hängt weitgehend die Einstellung seiner Schüler gegenüber unserer Wirtschaftsordnung ab. Eines der Hauptziele unserer Arbeitgeber sollte deshalb die gezielte Wissensvermittlung über ökonomische Zusammenhänge sein. Dies läßt sich zum Beispiel durch Lehrerpraktika in der Industrie, durch Veranstalten von Seminaren mit Industrievertretern und Lehrern, durch Delegation von Lehrkräften aus der Wirtschaft in die staatlichen Schulen und durch Schaffen von Unterrichtshilfen verwirklichen65." „Das Industriepraktikum ist — im Zusammenhang mit einer wirtschaftsund sozialwissenschaftlichen Ausweitung des Studiums — zweifellos ein wichtiger Beitrag zu ihrer (der Lehrer, die Verf.) inneren und äußeren Wandlung. Student und Dozent bleiben dadurch härter an der gesellschaftlichen Wirklichkeit, und das tut beiden not66." X. Systemintegration durch das duale System Die erhebliche Konzentration der Berufe auf wenige Grundberufe sowie der hohe Allgemeinheitsgrad beruflicher Fähigkeiten drängen zu einer Verstaatlichung der beruflichen Bildung. Die Konsequenzen lassen das Kapital jedoch um seinen Einfluß auf die Ausbildung fürchten. So wurde auf dem zweitägigen Berufsbildungskongreß der Spitzenverbände der Wirtschaft in München 1972 Verschulung — wenn auch mit technologischen und fachlichen Argumenten —- immer wieder abgelehnt und die Behauptung, sie sei dem dualen System überlegen, als eine von „Dogmatikern" gewertet 67 . „Nur der Betrieb kann die unmittelbare Anschauimg der Technik, des Materials, der 63 K. Stieger: Tätiges Erkennen der Lebenswirklichkeit. Gedanken zu einer Schulreform im Sinne der Lebenshilfe, in: contact, 10/1962, S. 77. 64 Volksschuloberstufe und Schülerpraktikum, in: contact, 6/1963, S. 43. 65 Prof. Dr. Marc Sieber: Das große Unbehagen am technischen Fortschritt, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 25. 6.1973. 66 Industriepraktikum in der Lehrerbildung. Aus der Sicht des Soziologen, in: contact, 12/1963, S. 99. 67 Kuratorium der Deutschen Wirtschaft für Berufsbildung: Berufsbildung auf dem Wege in die Zukunft. Kongreßbericht München, 20. und 21. Januar 1972, Bonn 1972, S. 128. (29)

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Maschinen, aber auch der Organisation und des Arbeitsmilieus bieten. Nur hier kann das Lehrprogramm ohne zeitliche Verzögerung dem technischen Fortschritt angepaßt werden. Denn es wird immer wichtiger, die Jugendlichen nicht nur auf die aktuellen, sondern in zunehmendem Maße auch auf die künftigen beruflichen Anforderungen vorzubereiten68." Die Betriebe bemerkten den technischen Fortschritt zuerst, während die Schule immer in Gefahr sei, „auf die Fragen von morgen die Antworten von gestern 69 " zu geben. Das Fachwissen der Arbeitskräfte müsse aber am neuesten Stand der Wissenschaft und Technik ausgerichtet sein und flexibel auf alle Veränderungen reagieren können. „Die Wirtschaft aber kann sich auch ohne fixiertes Berufsbild geeignete Fachkräfte durch Umschulung und Fortbildung sehr schnell heranziehen; ganz im Gegensatz zu einer Berufsschule, die auf ein fixiertes Berufsbild angewiesen ist70." „Würde Berufsausbildung nur noch im Räume der Schule erfolgen, so müßte zunächst die fachliche Qualifizierung, deren Schwerpunkt im Betrieb liegt, in Gefahr geraten, weil sie sich erst aus der Anwendung der erlernten Fertigkeiten und Kenntnisse in der betrieblichen Arbeitssituation bildet71." Die „Berufsqualifikation im eigentlichen Sinne . . . müßte dann doch wieder im Betrieb nachgeholt werden 72 ". In gesellschaftspolitischer und persönlichkeitsbildender Hinsicht wäre „die fehlende Arbeits Wirklichkeit . . . eine große Beeinträchtigung des Erziehungs- und Bildungsprozesses, der auf dem Hintergrund praktischer Berufstätigkeit gesehen werden muß 78 ". Hier klingt mit Erziehung und Bildung eine andere Dimension an, die den Rahmen der rein technologischen Begründung betriebsnaher Ausbildung sprengt: Im Betrieb mache der Auszubildende vor allem die Erfahrung, „daß Zuverlässigkeit, Pünktlichkeit, Ausdauer, Anpassung, Geduld und Arbeitswille unerläßliche Voraussetzungen eines jeden Berufes" 74 seien. Hier werden seine Persönlichkeit und seine Leistungsmotivation optimal entfaltet, er kann „mit praktischen Aufgaben beauftragt werden, die er mit persönlichem Einsatz und mit Verantwortung, kurzum durch Selbstentfaltung zu lösen sich bemühen muß. Das Erfolgserlebnis, die Bewährung im praktischen Leben, ist zweifelsohne die beste Motivation für die Ausbildungsbereitschaft des Jugendlichen, die sich überhaupt finden läßt 75 ". „Der Betrieb als Ernstfall der Arbeit" 76 dient nicht nur der Erzeugung systemgerechter personaler Qualitäten, auch die Ausführung 68 Siemens AG., a.a.O., S. 8. 69 E. Krause: Zukunftsorientierte Berufsbildung, a.a.O., S. 17 f. 70 Thomas Kemp: Gefahren für die Berufsausbildung, in: der arbeitgeber, 1968, Nr. 6, S. 150. 71 E. Krause, Zukunftsorientierte Berufsbildung, a.a.O., S. 19. 72 Ebenda. 73 Ebenda. 74 Volksschuloberstufe und Schülerpraktikum. Wegweiser zur Arbeitswelt, in: contact, 6/1963, S. 43. 75 E. Krause, Zukunftsorientierte Berufsbildung, a.a.O., S. 18. 76 Ebenda, S. 17. (30)

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wirklicher Arbeitsaufträge durch die Lehrlinge ist bedeutend: „Wichtig ist, daß die Lehrlinge vom ersten Tag an mit realen Arbeitsvorgängen in Berührung kommen, daß also kein Lehr- und Schulmaterial verwendet wird. So erhalten die jungen Menschen vom Beginn an das Gefühl, im Betrieb mitzuarbeiten und für einen Arbeitsvorgang Verantwortung zu übernehmen 77 ." Lebensechtheit und Wirklichkeitsnähe soll auch die Projektmethode vermitteln: „Projekte lassen sich auf natürliche Weise planen und ausführen; die Lehrlinge machen lebensechte und auch betriebswirkliche Erfahrungen, gegen die alle Lehrgänge nur blasse Abbilder vermitteln 78 ." Der Betrieb soll Wirklichkeit, Leben schlechthin sein, er erscheint als natürlicher, absoluter Inbegriff gesellschaftlicher Realität, demgegenüber die realen Klassenantagonismen als bloße Ideologie dargestellt werden. „Ziel dieses Vorgehens muß die Integration unseres Mitarbeiters in die Gesellschaft sein, wobei wir wissen — das ist die Chance, die wir allen anderen Gruppen voraus haben —, daß der Betrieb für den Arbeitnehmer gemeinhin das Modell für die Gesellschaft ist. Dort, wo er den wesentlichen Teil seines Lebens verbringt, bildet er seine Meinung über das Zusammenwirken der Menschen, über die Möglichkeiten seiner eigenen Persönlichkeitsentfaltung und über den Wert und die Bewertung seines eigenen Wirkens für eine größere Gemeinschaft. Das Urteil, das er sich im Betrieb bildet, gilt gemeinhin auch für die Gesellschaft, als deren Teil der Betrieb aufgefaßt wird7®." Bildet der Betrieb den Mikrokosmos gesellschaftlicher Verhältnisse, ergeben sich aus ihm auch die Maßstäbe gesellschaftlichen Verhaltens. In dieser Grundeinheit könne „Weltverständnis" erworben und Demokratie eingeübt werden: das Lernen der Regeln der Zusammenarbeit im Betrieb und der Unterordnung unter die betriebliche Hierarchie wird als exemplarisch für politisch-gesellschaftliches Lernenhingestellt. Der Lehrling „erlebt das Zusammenwirken von Menschen unterschiedlicher Prägung und politischer Überzeugung im Kräftespiel sozialer Verhaltensweisen. Seine eigene Meinungsbildung wird mit der Pluralität der Gruppe konfrontiert 80 ". Im Betrieb erleben die jungen Menschen aus eigener Anschauung den Mechanismus pluraler Funktionsgebilde mit Konfliktsituationen, aus denen sie viel lernen können. Fachliche Urteilsfähigkeit und das Ringen um den gesellschaftlichen Standpunkt lassen sie zu eigenständigen, urteils- und kritikfähigen Mitgliedern unserer demokratischen Leistungsgesell77 E. Bretfeld: AusbUdung und Weiterbildung bei der Allianz-Versicherungs AG, in: contact, 2/1968, S. 94. 78 G. Wiemann: Didaktische Überlegungen zur beruflichen Grundbildung, in: contact, 3/1967, S. 145. 79 H. M. Schleyer: Die Integration des Mitarbeiters, Vortragsreihe des Dil, 1968, Nr. 23. 80 E. Krause, Zukunftsorientierte Berufsbildung, a.a.O., S. 18. ' (31)

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schaft heranreifen 81 . Bezeichnend ist, welche Systemeigenschaften den Betrieb nach Meinung der Unternehmer zum Modell der Gesamtgesellschaft machen: Es ist dies der Pluralismus der Interessen und die Existenz von Konflikten. Indem der Lehrling im Betrieb sich an den „vielfältigen" Konflikten abarbeitet, lernt er, die gesamte Gesellschaft in ähnlicher Weise aufzufassen als ein plurales — und nicht polares — System von Interessen, in dem er sich einen Platz erobern kann. Die Realität von Konflikten und Interessengegensätzen in Betrieb und Gesamtgesellschaft wird hier systemintegrativ umgebogen. Mit dem Hinweis, daß diese Konflikte notwendig, die Interessen nicht gegensätzlich, sondern einfach nur unterschiedlich („plural") sind, wird dem Arbeitnehmer ein Verhalten nahegelegt, das statt auf Lösung oder Überwindung der „Konflikte" auf Eroberung eines Platzes im pluralen System gerichtet ist. Wenn dem Betrieb eine unverzichtbare Wirkung bei der Erziehung von „Wirtschaftsbürgern", bei der ideologischen Integration zugeschrieben wird, muß das Kapital das gegenwärtige duale System (d. h. das Nebeneinander von betrieblicher und Berufsschulbildung) prinzipiell verteidigen. „Das duale System ist besser als sein Ruf, es ist nicht substituierbar, sondern noch immer als ein leistungsfähiges, unseren Verhältnissen adäquates System zu betrachten 82 ." Es sei „noch immer wirksam und zeitgerecht, weil beide Partner vom Prinzip her den in ihnen vorgegebenen Part wirkungsvoll wahrnehmen können88". Ganz im Sinne der Erhaltung des dualen Systems liegen die Forderungen nach seiner Verbesserung. Das Verhältnis von schulischer und betrieblicher Unterweisung soll den jeweils veränderten Ausbildungsnotwendigkeiten angepaßt werden. Dabei wird vor allem vom Staat eine Verbesserung des Berufsschulunterrichts gefordert. XI. Bildungsplanung als Notwendigkeit Im traditionellen Bildimgssystem sind die neuen Anforderungen offenbar nicht zu erfüllen. Mit der wachsenden Vergesellschaftung der Produktion drängen auch die Reproduktionsprozesse nach gesellschaftlicher Organisation und Planung. Die umfassende Vergesellschaftung von Erziehung und Ausbildung wird objektive Notwendigkeit. Wenn einerseits Bildungspolitik und Bildungseinrichtungen in der Hand des Staates liegen müssen, andererseits aber die Methoden der Systemintegration nicht vom betrieblichen Geschehen und der unmittelbaren Nähe zur Produktion ablösbar sind, ergibt sich ein charakteristischer Widerspruch, der als Kompetenzstreit zwischen Staat und Kapital die gesamte Literatur durchzieht und jede einzelne bildungspolitische Form bestimmt. 81 82 83 84 (32)

Ebenda, S. 6. Ebenda, S. 20. Ebenda, S. 17. Entfällt.

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Die infolge der technologischen Umwälzungen immer stärker zutage tretende Kluft zwischen Ausbildungsbedarf und Ausbildungsbestand, das rasche Veralten und Entwerten von Qualifikationen mit der kostspieligen Folge des Erwerbs einer neuen, zeigen, daß dringend und ohne Zeitverlust Reformanstrengungen unternommen werden müssen. Denn als Voraussetzung für die Produktion gilt, daß auf dem Arbeitsmarkt jeweils ein Arbeitsvermögen zur Verfügung steht, dessen Qualifikationsstruktur der technologischen Struktur der Produktionsmittel entspricht. Das Vorhandensein eines solchen Arbeitsvermögens, das sich durch besondere Variabilität und hohes Niveau auszeichnet, wird immer mehr zu einer Grundbedingung der Produktion. Es handelt sich bei den dazu erforderlichen finanziellen Aufwendungen um enorme Investitionen von besonderer Laufzeit, die nur der Staat aufbringen kann, indem er wachsende Teile des Nationaleinkommens in Form von Steuern zentralisiert und als gesellschaftliches Kapital einsetzt. Die finanzielle Dimension, die lange Laufzeit ebenso wie der gesellschaftliche Umfang dieser Aufgaben erfordern einen zielgerichteten Einsatz der Mittel bei größtmöglicher Effektivität und Rationalität, da sich bei der zentralisierten Entscheidungsbefugnis der Staatsmacht das Risiko von qualitativer oder quantitativer Fehlqualifikation verhängnisvoll auswirkt. Daher wird auch auf Unternehmerseite erkannt und vertreten, daß Ausbau und Entwicklung eines leistungsfähigen, modernen Bildungswesens eine sachgemäße, umfassende Planung erfordern, die auf der Grundlage wirtschaftlicher Bedarfsanalysen und -prognosen in einer komplexen Gesamtkonzeption die Bildungsprozesse vom Kleinkind zum Erwerbstätigen umfaßt. Obwohl also alles für die erweiterte Übernahme von Bildung und Erziehung durch den Staat spricht, wird von den Vertretern des Kapitals heftige Kritik an den staatlichen Bildungsmaßnahmen geübt, wobei einerseits deren Effektivität grundsätzlich in Frage gestellt wird, andererseits eine Beschneidung der Unternehmerrechte jgefürchtet wird. Im „arbeitgeber" stellt man fest: „Die öffentliche Bildungspolitik ist leider kein Faktor, auf den die Wirtschaft rechnen kann, sondern auf die Dauer eine größere Bedrohung für die geordnete Berufsausbildung als technischer Fortschritt und Nachwuchsmangel zusammen86." Dabei wird besonders die ineffektive Organisation des Staatsapparates in den Vordergrund gestellt, durch die die Kompetenzen auf Bund, Länder und Ausschüsse — vier Bundes- und elf Länderministerien — zersplittert'und völlig unzureichend koordiniert sind. Dringende Erfordernisse werden durch den schwerfälligen Instanzenweg der staatlichen Bürokratie verzögert und kommen zu keiner sachgemäßen Abstimmung. 85 Thomas Kemp: Gefahren für die Berufsausbildung, in: der arbeitgeber 6,1968, S. 151.

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„Die zweijährigen Erfahrungen mit dem Berufsbildungsgesetz haben gezeigt, daß ein Nebeneinander des Bundesausschusses, der Landesausschüsse und der Ausschüsse der zuständigen Stellen und des Bundesinstituts für Berufsbildungsforschung den Aufgaben des Gesetzes nicht gerecht werden kann, wenn es nicht gelingt, die Arbeiten dieser verschiedenen Gremien aufeinander abzustimmen. Die vom Bundesausschuß für Berufsbildung erarbeiteten Richtlinien und Empfehlungen müssen wirkungslos bleiben, wenn die Ausschüsse der zuständigen Stellen oder die Kammern selbst glauben, sich darüber hinwegsetzen zu können. Wenn die Landesausschüsse sich gleichzeitig mit den Problemen befassen, die der Bundesausschuß behandelt, muß das zu einer verhängnisvollen Föderalisierung auch der beruflichen Bildung führen 86 ." Als Konsequenz ergäbe sich aus dieser Kritik, daß eine Konzentration der bildungspolitischen Kräfte, eine straffere Koordinierung der zuständigen Instanzen und eine zentrale Bereitstellung der Mittel unerläßlich sind. Eben diese Konsequenz tritt jedoch als Schreckgespenst des „staatswirtschaftlichen Dirigismus"87 auf, der die Grundsätze von Arbeitsteilung, Freiheit des Wettbewerbs und Leistung verletze. „An die Stelle des subsidiären Tätigwerdens des Staates soll also die Staatsomnipotenz treten. So wie auf vielen Gebieten fordert man die Demokratie, und gleichzeitig fördert man den Staatsabsolutismus88." Hier wird deutlich, welche Rollenverteilung zwischen Staat und Kapital den meisten Beifall finden würde: der Staat beschränkt sich auf die Vergabe von Subsidien, während die Wirtschaft ihren „demokratischen Spielraum", d. h. absolute Souveränität und Kontrolle über die Berufsausbildung, behält. Die berufliche Bildung bleibt „Selbstverwaltungsaufgabe der Wirtschaft" 89 bei Überwachung durch die Kammern und wird vom Staat finanziert. Das politisch-ökonomische Interesse der Kapitale markiert die Grenze für den qualitativen und quantitativen Bedarf an Qualifikation. Jede über das Minimum hinausgehende Ausbildung bedeutet danach eine Fehlinvestition, zumal sich aufgrund der Ressourcenknappheit jedes Zuviel an einer Stelle zwangsläufig als Zuwenig an einer anderen auswirkt, so daß am Bedarf „vorbeigepjant" und „vorbeiqualifiziert" wird. Der vermittelte Charakter der politischen Sphäre bedingt jedoch, daß ökonomische Interessen sich nicht unmittelbar in politische umsetzen, sondern durch verschiedene andere modifiziert werden, wie etwa Forderungen von Parteien und Gewerkschaften. Unter besonderen Beschuß werden in den UntemehmerveröffentUchungen jene in der staatlichen Verwaltung arbeitenden „Bildungsideologen" ge86 Koordinierungssorgen, ht. in: der arbeitgeber, Nr. 23, 1971, S. 1030. 87 Otto A. Friedrich: Wider die Sozialbürokratie, in: der arbeitgeber, 1971, Nr. 2, S. 51. 88 Wilhelm Arnold: Ist ein vorbehaltloses Ja zum Strukturplan des Bildungswesens berechtigt? in: contact, H. 1,1971,11. Jg., S. 29. 89 Berufsausbildung 1966/67, H. 104, Schriftenreihe des DIHT. (34)

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nommen, die nicht nur nach ökonomischem Kosten-Nutzen-Kalkül planen, sondern im „Bildungswahn" das im Grundgesetz formulierte Recht auf Bildung und Chancengleichheit verwirklichen sollen, ohne jedoch die bildungspolitischen Konsequenzen zu berücksichtigen. Folge des großen Schlagwortes „höhere Bildung für mehr Menschen" 90 seien verlängerte Schulzeiten und Studentenlawinen, die das öffentliche Bildungssystem weder personell wegen des Lehrermangels noch finanziell aufgrund des Haushaltsdefizits, noch organisatorisch mit dem Kulturföderalismus bewältigen könne. „Mit steigendem Unbehagen" nehme man seitens der Wirtschaft „diese sich immer weiter öffnende Schere zwischen Wollen und Können" 91 zur Kenntnis und befürchtet, daß sich die katastrophalen Zustände im öffentlichen Bildungssystem noch mehr verwirren und verschlechtern und den technischen Fortschritt sogar in Frage stellen werden. Mehr noch als die alarmierenden Zustände im Bereich der öffentlichen Schul- und Hochschulbildung wird jedoch das auf sie folgende Chaos auf dem Arbeitsmarkt gefürchtet, das die Verwertung des Kapitals weit eher bedroht. „Die professionellen Bildungseuphoriker, die ,mehr Geld* mit ,mehr Bildung' gleichsetzen, operieren an den realen Gegebenheiten vorbei. Im Zeichen von Gleichheit und Demokratisierung öffnen sie die Bildungseinrichtungen, stimulieren eine Nachfrage, die wegen des Nulltarifs jedes gesellschaftlich mögliche und arbeitsmarktpolitisch sinnvolle Bildungsangebot überrollen muß. Immer mehr, immer unzulänglicher Gebildete zu überproportionalen Kosten ist das gesellschaftlich unvertretbare Ergebnis92." Der Sinn solch düsterer Prognosen kann nur darin liegen, öffentliche Bildungsplanung und Bildungseinrichtungen insgesamt und grundsätzlich für unsinnig oder gar schädlich zu erklären, sofern sie nicht eng am Kapital orientiert und von ihm kontrolliert sind. XII. Eiligriffe und Aktivitäten im Hochschulbereidi „Das wirtschaftliche Potential hängt aber in immer stärkerem Maße von einem hohen Stand der Wissenschaften und der Weiterentwicklung des Bildungswesens als Grundlage der beruflichen Qualifikation der Beschäftigten ab98." In diesem Sinne versucht das Kapital die Wissenschaften in Forschung und Ausbildung der Wissenschaftler seinen Interessen unterzuordnen. Dabei verfolgt das Kapital unterschiedliche Strategien, die bestimmt sind durch die technischen und ökonomischen Erfordernisse sowie durch die bildungspolitische und gesellschaftspolitische Situation. Der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) hat mit dem Memorandum „Zur Lage von Forschung, Lehre und Studium an den Hochschulen der Bundesrepublik 1971" in die Diskussion um die Hochschulreform aus „ernster Sorge" um „die gegenwärtigen Zu90 Erwin Krause: Zukunftsorientierte Berufsbildung, a.a.O., S. 13. 91 Thomas Kemp: Gefahren..., a.a.O., S. 151. 92 B. Wellmann: Linke Götterdämmerung, in: der arbeitgeber, 1972, H. 6, S. 191. 93 Die Industrie pocht... a.a.O. (35)

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stände und Entwicklungstendenzen an vielen Hochschulen" eingegriffen und seine Vorstellungen und Forderungen präzisiert. Als Grundprinzip aller Reformbemühungen wird angegeben, daß „die Ausbildung an allen Hochschulen . . . den modernen Erfordernissen anzupassen" und der „Stand der Forschung an den Hochschulen laufend zu verbessern" sei. Dabei sei die Industrie auch auf „die Sozialund Geisteswissenschaften angewiesen, ohne die angesichts der allgemeinen Interdependenz der Wissenschaften ein hoher Stand von Forschung und Lehre nicht denkbar ist". Bestehende Reformmodelle müßten geprüft und neue Modelle entwickelt und gründlich erprobt werden. Bei der Novellierung und Beratung von Gesetzentwürfen müßten die unklaren und widerspruchsvollen Vorstellungen „vor allem im Hinblick auf die Anwendung eines falsch verstandenen demokratischen Prinzips auf die Hochschulen sowie auf das Verhältnis zum Leistungsprinzip" ausgeräumt werden 94 . Diesen Reformvorstellungen entsprechend fordern sie „die Freiheit von Forschung und Lehre" in dem Sinne, daß die Entscheidung über „Konzeption und Durchführung von Forschungsvorhaben... (in) absoluter Freiheit von ideologischer Voreingenommenheit" allein bei dem einzelnen Wissenschaftler liegt. Dies soll den Weg ebnen für industrielle Auftragsforschung, die lediglich einer Mißbrauchskontrolle durch den „parlamentarisch verantwortlichen Minister" unterliegen soll. Verantwortung gegenüber der Gesellschaft trage der Wissenschaftler an der Hochschule insbesondere für „ein ausreichendes und in sich abgestimmtes Lehrangebot..., ohne die. Forschung zu beeinträchtigen". Hier seien neue Studienordnungen zu erarbeiten, die „wegen der künftig zunehmenden Änderungen der Berufsbilder und beruflichen Anforderungen . . . ausreichend flexibel gestaltet werden" müssen. Da das Erlassen von Studienordnungen in der Kompetenz staatlicher Institutionen liegt, fordert die Industrie, daß die „Partnerschaft zwischen Gesellschaft (gemeint ist wohl die Wirtschaft, d. Verf.) und Hochschule . . . institutionell gesichert werden (muß), wenn eine modernen Bedürfnissen entsprechende Studienreform zustande kommen soll". In diesem Sinne halten sie „eine gleichberechtigte und nicht nur beratende Mitwirkung . . . gemäß Paragraph 60 des Hochschulrahmengesetzentwurfs . . . für notwendig". Die Regulierung der Studentenzahlen in den einzelnen Wissenschaften soll gewährleisten, „daß junge Menschen eine Ausbildung bekommen, die eine spätere Wertschöpfung in unserer Gesellschaft durch berufliche Tätigkeiten sicherstellt". Dies soll durch ein weitere Verstärkung der Bildungs- und Berufsberatung erreicht werden, die von der Hauptschule beginnend die gesamte Ausbildungszeit begleiten soll 95 . Da aber in der Zwischenzeit noch immer nicht abzusehen ist, in welchem Umfang und wann diese Reformbestrebungen sich in den Hochschulgesetzen niederschlagen werden, begann das Kapital mit 94 Ebenda. 95 Ebenda.

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der Initiierung eigener Hochschulen. Im Hamburger Bereich wurden zwei Initiativen gestartet. Das erste Projekt betrifft das von der Industrie und Handelskammer Hamburg in Zusammenarbeit mit der Senatsbehörde für Schule, Jugend und Berufsausbildung entwickelte Modell einer „Hamburger Wirtschaftsakademie". Darin sollen Abiturienten zunächst zum Wirtschaftsassistenten und dann zum Betriebswirt ausgebildet werden. In einer etwa dreijährigen Ausbildungszeit — zwei Drittel priktische und ein Drittel theoretische Ausbildung — sollen die Absolventen in der Lage sein, auch solche Führungsaufgaben wahrzunehmen, die heute noch vornehmlich Hochschulabsolventen vorbehalten sind96. Die Akademie soll von einem Trägerverein, bestehend aus Hamburger Wirtschaftsunternehmen und Senatoren als Vertreter des Staates, geleitet werden. Das zweite Projekt betrifft die private Universität „Hochschule Sachsenwald". Sie ist als KollegUniversität geplant. Die Studienzeit ist in Trimester eingeteilt. In der Endstufe sollen tausend Studienplätze vorhanden sein. Nach zehn Trimestern sollen die Studierenden ein naturwissenschaftliches Abschlußexamen, Ingenieur für Umweltschutz, ablegen können. Arbeitsplätze werden diese Absolventen vor allem in den für Umweltschutz zuständigen Behörden erhalten. Bestimmte Interessengruppen wollen hier offenbar einen Ausbildungsbereich, der in Zukunft sicher eine weiter stark zunehmende gesellschaftliche Bedeutung erlangen wird, unter ihre Kontrolle bekommen97. Um der Gefahr von Fehlqualifikation und mangelnder Systemintegration entgegenzuwirken, versucht das Kapital also, die staatliche Bildungspolitik noch stärker seinen eigenen Interessen zu subsumieren. In einem Programm des Bundesverbandes der Deutschen Industrie 98 wird gefordert, die Kooperation zwischen den privaten und öffentlichen Bildungsträgern — also Staat und Kapital — auf Grundlage einer rationellen Arbeitsteilung zu intensivieren. Die Kontakte der Industrie und ihrer Verbände zu den für die Schulpolitik und die berufliche Bildung zuständigen Stellen, Bundesministerien und Landesregierungen müßten verstärkt werden. Insbesondere erforderlich sei die aktive Mitarbeit in den auf Bundes- und Landesebene geschaffenen beratenden Ausschüssen für Berufsbildung, in denen die Mitwirkung des BDI und der anderen Unternehmerverbände aufgrund des Berufsbildungsgesetzes vorgesehen ist. Damit das Kapital die Initiative in Grundsatzfragen der betrieblichen und überbetrieblichen Ausbildung sowie der Berufsordnimg behält — obwohl diese durchs BBG dem Bundesinstitut für Berufsbildungsforschung übertragen worden sind —, ruft der BDI die Unternehmen auf, mehr eigene Forschung zu betreiben, d. h. „Untersuchungen über die Entwicklung der Arbeitsanforderungen in den 96 Frankfurter Rundschau vom 30.1.1973. 97 Der Tagesspiegel 20. 3.1973. 98 Intensivierung der Bildungsarbeit der Industrie. Programm des BDI, Januar 1970, in: Wirtschaft und Gesellschaft, 22. Jg. 1970. (37)

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verschiedenen Tätigkeitsbereichen und der Arbeitskräftestruktur, Ermittlung des Bedarfs der Industrie an qualifizierten Arbeitskräften, Erarbeitung und weitere Entwicklung neuer Formen, Inhalte und Methoden der Berufsbildung sowie von Grundsätzen und Modellen für die Kooperation der verschiedenen Bildungsträger 99". Daß diese Programmpunkte realisiert werden, beweisen Veröffentlichungen z. B. der Firma Siemens, die außerdem durch Mitarbeit in Spitzenvereinen der Wirtschaft, technisch-wissenschaftlichen Vereinen und anderen einschlägigen Gremien geplante Reformen zu beeinflussen sucht, aber auch direkten Kontakt zu Professoren, Dozenten und Schulen pflegt. XIII. Der Kompetenzstreit um das Berufsgrundbildungsjahr Der Kompetenzstreit und die Kooperation zwischen Staat und Kapital stellen sich exemplarisch am Berufsgrundbildungsjahr als ein Kompromiß dar, da es sowohl letztes Jahr der Schulbildung (10. Schuljahr), als auch erstes Jahr der Berufsausbildung (1. Lehrjahr) sein kann. Sein mehr schulischer Charakter deutet auf die Vergesellschaftungstendenz. Daher versucht das Kapital — auf der institutionellen Ebene beschränkt — auf der curricularen, bei der Bestimmung der Lehrinhalte, erfolgreich zu sein und sie voll an seinen Interessen zu orientieren. Das Berufsgrundbildungsjahr wurde von der Bildungskommission (am 13. 2. 1970) zu einem Zeitpunkt vorgeschlagen, zu dem in den Ländern der BRD die verschiedensten Grundschulabschlüsse gegeben waren. So sollte es wohl außer dem Plan der höheren Grundqualifikation auch ein Weg zur Vereinheitlichung sein. Da aber von Seiten der Bundesregierung keine auch nur vorläufigen Pläne für dieses Bildungsjahr entwickelt waren, ist es für die Wirtschaft leicht, es ganz ihren Vorstellungen unterzuordnen. „Der praxisbetonte Ansatz für das Lernen im Berufsgrundbildungsjahr sollte sich auf alle theoretischen Fächer beziehen. Dabei könnte z. B. in Deutsch das Führen von Protokollen und Anfertigen von Berichten, in Gemeinschaftskunde könnte neben den rechtlichen, sozialen, wirtschaftlichen und politischen Zusammenhängen das inhaltliche Verstehen und Umgehen mit Formularen wie Telegramm, Zahlkarte, Scheck, Wechsel, Kaufvertrag geübt werden, in Mathematik, Physik und Chemie sollte ohnehin von Aufgaben ausgegangen werden, die sich aus dem jeweiligen Berufsfeld ergeben, in Englisch sollte das Verstehen von einschlägigen Fachausdrücken und Texten zu den Lernzielen gehören100." Ausgehend von ihren Plänen, wie die Lehrinhalte dieses Jahres gestaltet werden sollen, können die Kapitalvertreter die noch unklaren Vorstellungen der Bildungskommission zurückweisen: „Der Teufel steckt aber auch hier im Detail und auf die drängenden Fragen zu diesem Problemkreis ist der Strukturplan nicht eingegangen: Wieviel und welche Berufsfelder sollen gewählt werden? . . . Was sbll 99 Ebenda. 100 Berichte des DI, 3. Jg. 1971, Nr. 4, S. 17.

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als Maßstab für die Feldbildung dienen: ähnliche Berufe oder ähnliche Funktionen101?" „Ohne die Mithilfe, das Wissen und die Erfahrungen der Wirtschaft wird das Problem »Grundbildungsjahr' wohl kaum zu lösen sein — und auch dann wird eine pädagogisch und fachlich gute Lösung noch lange auf sich warten lassen müssen, nicht zuletzt im Hinblick auf den großen Lehrermangel102." Nach neuesten Berechnungen des Bundesarbeitsministeriums, die sich auf Zahlen der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung stützen, fehlen bei der Einführung des Berufsgrundbildungsjahres im ersten, zweiten und dritten Lehrjahr 1975 noch etwa 34 000, 1980 noch 24 500 und selbst 1985 noch 6600 Berufsschullehrer. „Das Resümee der Studie lautet: ,Zur Zeit (ist) keine ausreichende Versorgung der Berufsschulen mit Lehrern gewährleistet102®.'" Ein Teil der Kapitalvertreter möchte allerdings die Verlagerung des Berufsgrundbildungsjahres in schulische Einrichtungen des Staates verhindern. Die Argumente, die sie vorbringen, entsprechen denen für das duale System. Dieses garantiere „auch in der Form des Blockunterrichts . . . besonders den notwendigen Praxisbezug. Schulische Formen sollten zur Anwendung kommen, wenn sich deren Notwendigkeit aus der Struktur bestimmter Berufsfelder und einzelner Berufe ergibt. — Bei der Durchführung des Berufsbildungsjahres im dualen System muß die pädagogische Verantwortung bei den Trägern der jeweiligen Ausbildungsstätten liegen. (...) Die Wirtschaft ist bereit, eigne Modelle für das Berufsgrundbildungsjahr in Zusammenarbeit mit der Schule zu entwickeln und unter den aufgezeigten Bedingungen zu erproben108." Dahinter steht die Erwartung, daß ein „betriebliches" bzw. „überbetriebliches" Berufsgrundbildungsjahr auch von seiten des Bundes und der Länder finanziert wird. Diese Erwartung ist sicherlich nicht unberechtigt, wenn man bedenkt, daß die überbetrieblichen Lehrwerkstätten zur Zeit zu 30 °/o aus Mitteln des öffentlichen Etats finanziert werden. Vor diesem Hintergrund ist auch der geringe Widerstand gegen die am 9. Juli 1972 von der Regierung in Kraft gesetzte sogenannte „Berufsgrundbildungsj ahr-AnrechnungsVerordnung" zu verstehen, zumal sie die Hintertür offenläßt, dieses erste Jahr der kontrollierten Berufsausbildung an die Stelle des zehnten allgemeinen Schuljahres treten zu lassen. Im September 1972 begann man mit der ersten Stufe der Realisierimg eines betrieblichen Berufsgrundbildungsjahres 104 , nachdem die 101 Berichte des DI, 1970, S. 23. 102 Ebenda, S. 24. 102a Lehrermangel gefährdet Berufs-Grundbildungsjahr. Der Tagesspiegel vom 6. 6.1973. 103 Kuratorium der Deutschen Wirtschaft für Berufsbildung, Erklärung der Wirtschaft zum Berufsgrundbildungsjahr, Bonn, Januar 1972. 104 Der Arbeitgeberverband Metall hat 1972 fünf Versuche in fünf Großbetrieben der BRD gestartet. Allen gemeinsam ist der außerordentlich enge Kontakt zwischen Berufsschule und privater betrieblicher Ausbildung (z. B. Betriebsberufsschule bzw. Zweigstelle einer öffentlichen Be(39)

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bisherigen Diskussionen um diesen Problembereich zwischen Gewerkschaften, Industrieverbänden, Privatunternehmen und Staat zu keinen praktischen Konsequenzen geführt hatten: „EinModellversuch im Bereich der Metallindustrie (wurde) . . . mit Unterstützung des Bundesministeriums für Bildung und Wissenschaft (begonnen) . . . , bei dem ein ,Berufsgrundbildungsjahr Metair im Rahmen des bestehenden dualen Systems mit staatlicher Berufsschule und privater Betriebsausbildung ausprobiert wird105." XIV. Stufenpläne als Mittel der Qualifizierung und Selektion Die Forderungen der Wirtschaft nach einer breiten Vermittlung von Allgemeinwissen und Grundlagenbildung und darauf aufbauender fachlicher Spezialisierung finden ihren organisatorischen Ausdruck in der Einführung der Stufenpläne: „Wir brauchen Basisberufe, die nicht in sich abgeschlossen, sondern Grundstufe einer lebenslangen beruflichen Bildung sind106." In diesem Sinne soll das Berufsgrundbildungsjahr die Basis abgeben für die anschließende Fachausbildung und mit dieser nahtlos in einem Stufensystem verschmelzen. Die-Berufsausbildung wird nicht mehr in einem Block durchgeführt, sondern in Stufen untergliedert, die organisch und differenziert aufeinander aufbauen (Grundausbildung, allgemeine Fachausbildung, spezielle Fachausbildung) und durch Prüfungen als Qualifikationsstufen in sich abgeschlossen sind. Die Abschlußprüfung der einen Stufe ist zugleich Zwischenprüfung für die nächste. „Die Vorteile der Stufenausbildung sind größere Flexibilität, bessere Anpassung an die Anforderungen der Wirtschaft und an die Eignungsstruktur der Jugendlichen unter Wahrung ihrer Chancengleichheit107." Die Regulierung der erforderlichen Quantitäten erfolgt über die Prüfungen, die vor einer Prüfungskommission der zuständigen Industrie- und Handelskammer abgenommen wird. Damit ist ein Selektionsverfahren geschaffen, das dem Zwang zur Verfügbarkeit wechselnder konkreter Qualifikationsanforderungen entspricht. Das Kapital hat mit der Stufenausbildung die Möglichkeit, die Quantitäten auf den jeweiligen Qualifikationsstufen entsprechend seinen wechselnden Bedürfnissen zu steuern. Zur Vereinheitlichung des Qualifikationsniveaus auf den verschiedenen Stufen versucht man die Beurteilung von Prüfungsleistungen zu objektivieren. Dabei ist auch an den Einsatz von Datenverarbeitungsanlagen gedacht. Ein breiteres Prüfungsspektrum ist damit abtastbar, und die Auswertung zahlreicher Prüfungsdaten ist in kürrufsschule im Betrieb). Durch diesen engen Kontakt glauben die Berufspädagogen der Betriebe'„die Forderungen der Bildungsreformer erfüllen zu können, umfassende Kenntnisse und Fertigkeiten und Berufsfeldbreite zu vermitteln und zusätzlich zur Berufsschulausbildung die Allgemeinbildung der Auszubildenden weiter zu fördern". FR, 12. 5.1973. 105 Ebenda. 106 G. Jeuschede: Berufe im Wandel, a.a.O. 107 E. Krause, Zukunftsorientierte Berufsbildung, a.a.O., S. 23. (40)

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zerer Zeit möglich. Durch die Datenverarbeitungsanlagen wird zwar die Beurteilung der Prüfungsleistungen zwischen den einzelnen Prüflingen weitgehend subjektiven Einflüssen entzogen und scheinbar objektiviert; durch die vorhergehende Eingabe der Prüfungskriterien verfügt das Kapital jedoch über ein Regulierungsinstrument, das als solches kaum noch erkennbar ist. Anerkannte Stufenpläne liegen bisher für die Branchen vor, in denen die Vereinheitlichung und Formalisierbarkeit von Lehrinhalten am weitesten fortentwickelt ist: dies gilt für den Einzelhandel, den feinschlosserischen, den elektrotechnischen, den Textil- und Bekleidungsbereich108. Schätzungsweise 70% aller industriellen Lehrlinge werden davon betroffen. Außer dem Vorteil erhöhter Disponibilität bedeutet die Stufenausbildung eine erhebliche Rationalisierung. Nach der Berufsordnung von 1965 gab es 455 Ausbildungsgänge für 20 000 bis 30 000 unterschiedlich benannte Berufe, von denen sich jedoch 92,2 % auf 10 Lehrberufe konzentrierten. Dieser hohe Grad der Konzentration verlangt geradezu eine Zentralisierung auf wenige Gruppen von Grundberufen. Darin können gleiche Ausbildungsinhalte für verschiedene, aber verwandte Berufe zusammengefaßt, also entspezialisiert werden. „Die Stufenpläne liegen im Niveau höher als die bisherigen Facharbeiterqualifikationen.. Unter Ausnutzung aller Intensivierungsmögiichkeiten auch auf der Schulseite — besonders, wenn die Eingangsvoraussetzungen Abitur I erfüllt sind — müßte es gelingen, die guten Lehrlinge der Stufenausbildung zum Abitur II zu bringen. Durch zusätzliche Maßnahmen, die hierfür erforderlich wären, sollte diese Möglichkeit erschlossen werden, obwohl zunächst die berufliche Qualifikation im Vordergrund stehen sollte. Diese jungen Kräfte würden in der Wirtschaft mit Sicherheit gute Laufbahn- und Aufstiegschancen finden 109 ." Nach einigen Jahren praktischer Erfahrung sollen so die Facharbeiter die Möglichkeit haben, Industriemeister zu werden oder aber Techniker mit den weiterführenden Möglichkeiten zum graduierten oder diplomierten Ingenieur. Damit schafft sich das Kapital die Möglichkeit, solche Leute in Führungspositionen aufsteigen zu lassen, die sich durch Fleiß und persönlichen Einsatz für die Betriebsziele ausgezeichnet haben. XV. Initiativen und Maßnahmen des Kapitals im Berufsbildungssystem Ganz im Sinne der Erhaltung des dualen Systems wird von Vertretern der Kapital-Verbände der Ausbau überbetrieblicher Ausbil108 In der chemischen Industrie werden zur Zeit Stufenpläne ausgearbeitet. Ebenso ist aufgrund der Strukturveränderungen im Handwerk eine Stufenausbildung geplant. Die Einführung einer Stufenausbildung im kaufmännischen Bereich ist noch nicht abgeschlossen. Prinzipiell ist sie aber auch dort aufgrund der unterschiedlichen Qualifikationsebenen möglich. 109 E. Krause, Zukunftsorientierte Berufsbildung, a.a.O., S. 24.

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dungsstätten gefordert 110 . Diese umfassen Gemeinschaftslehrwerkstätten, Lehrbaustellen, Lehrbüros etc. Sie bilden ein wesentliches Mittel zur systematischen Ergänzung und Vertiefung der Berufsausbildung in den mittleren und kleineren Betrieben, die dadurch in die Lage versetzt werden, dem ökonomischen und technischen Entwicklungsstand entsprechende Ausbildungsprogramme durchzuführen. Sie werden entsprechend den örtlichen und branchenspezifischen Gegebenheiten in unterschiedlicher Trägerschaft von Wirtschaftsverbänden und Betrieben geführt. Um jeden Preis soll die Betriebsgebundenheit erhalten werden, d. h. die unmittelbare Kontrolle der überbetrieblichen Ausbildungsstätten durch die Unternehmer. Die überbetriebliche Lehrwerkstätte ist „in den Betrieb voll integriert, und zwar in organisatorischer, technischer, personeller und sonstiger Hinsicht. Sie ist Teil des Betriebes m " . Die hohe Innovationsrate in der Technik, vor allem in der Elektrotechnik und der Elektronik, hat nicht nur fertigungstechnische Konsequenzen, sondern darüber vermittelt auch vielfältige Auswirkungen auf die Qualifikationsanforderungen der Beschäftigten in den anderen Wirtschaftsbereichen. Es wird in steigendem Maße notwendig, daß die in diesen Bereichen Beschäftigten sich beruflich weiterbilden. Weiterbildung wird so zu einem Teil der Berufsausübung. „Die Wirtschaft hatte schon seit Jahren auf die zunehmende Notwendigkeit einer fachlichen und allgemeinen Weiterbildung der Menschen in unserer schnellebigen Zeit hingewiesen und selbst viele entsprechende Maßnahmen auf betrieblicher und überbetrieblicher Ebene ins Leben gerufen, um den Weiterbildungsbedarf wenigstens in ihrem Bereich in etwa zu decken112." Die Weiterbildungsmaßnahmen werden angeblich insofern und soweit aus eigener Tasche durchgeführt, als die öffentliche Hand sie nicht „gleichwertig" auszuführen vermag. „Dabei wollen wir keineswegs in Konkurrenz zum öffentlichen Bildungswesen treten. Unsere Bildungsarbeit soll sich auf jene Aufgaben beschränken, denen das öffentliche Bildungswesen nicht oder nicht schnell genug nachkommen kann11S." Siemens hat z.B. eine eigene bildungspolitische Abteilung eingerichtet, die die Aufgabe hat, alle grundsätzlichen und übergreifenden Maßnahmen der Aus- und Weiterbildung: Planung, Durchführung und Erfolgskontrolle, Koordinierung zentraler Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen durchzuführen sowie die Zusammenarbeit mit Verbänden und Einrichtungen des öffentlichen Bildungswesens zu intensivieren. „Dabei kommt es uns zum einen darauf an, mit 110 Zur Zeit gibt es 2500 betriebliche Ausbildungsstätten, in denen u. a. 72 % der industriellen Lehrlinge im Metall- und Elektrobereich ausgebildet werden. 111 Ebenda. 112 Berichte des Deutschen Industrie-Instituts zu bildungs- und gesellschaftspolitischen Fragen, Jg. 2 (B)/Nr. 3,1970, S. 43. 113 Siemens AG., a.a.O., S. 20. (42)

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unseren Erfahrungen aus der betrieblichen Bildungsarbeit zu geplanten Beformen beizutragen, zum anderen haben wir so die Möglichkeit, uns rechtzeitig auf Veränderungen einzustellen114." Die bewußte Zusammenarbeit mit dem öffentlichen Bildungswesen hat offenbar mehrere Hintergründe. 1. Die betrieblichen Erfahrungen sollen in die überbetriebliche und öffentliche Weiterbildung eingehen, umgekehrt soll die öffentliche Weiterbildung der Bildungsplanung des Kapitals adäquat sein. 2. Die Kosten für eigene Bildungsmaßnahmen sollen auf ein Minimum beschränkt werden. 3. Die Ergebnisse öffentlicher Forschung sollen dem privaten Kapitalbedarf noch leichter zugänglich werden. An die öffentlichen Bildungsinstitutionen wird die Forderung gestellt, die berufliche Weiterbildung zu systematisieren und zu intensivieren, neue Curricula zu entwickeln und sie in inhaltlichen und organisatorischen Zusammenhang zu den anderen Arbeiten des übrigen Bildungssystems zu bringen. Der Ausbau von Fach- und Meisterschulen, Volkshochschulen, Fernunterricht im Medienverbünd, Kontaktstudium an den Universitäten etc. gewinnen hier an Bedeutung. „Durch die Verteilung des organisierten Lernens über den gesamten Lebenszeitraum trägt Weiterbildung dazu bei, die sich abzeichnende Ausweitung der Ausbildungszeiten der ersten Bildungsphase in Grenzen zu halten; eine übermäßige Verzögerung des Eintritts in die Berufstätigkeit kann damit verhindert, eventuell eine Verkürzung der Erstausbildungszeiten erreicht werden... Ein sukzessiver Erwerb von Qualifikationen erleichtert Betrieben und Teilnehmern die zeitliche Gliederung und die Aufteilung der Weiterbildungsphase115." Diev Verkürzung der Erstausbildungsphase und die Verlegung der möglichen weiteren beruflichen Qualifikation in spätere Zeiten ermöglichen dem Kapital den quantitativen Bedarf in bestimmten Qualifikationsstufen besser als bisher zu steuern. Neben dieser allgemeinen Ebene der beruflichen Weiterbildung, welche die Qualifizierung des einzelnen und des Gesamtarbeiters entsprechend den Veränderungen des Arbeitsplatzes betrifft, müssen die Umschulung und die sogen, berufliche Fortbildung innerhalb der Erwachsenenqualifizierung unterschieden werden. Mit dem Wegfall alter und dem Entstehen neuer Berufe gewinnt die Umschulung von Arbeitskräften für andere Arbeitsplätze an Bedeutung. „Ein Drittel aller berufstätigen Männer hat zwischen 1955 und 1970 mindestens einmal den Beruf gewechselt... 54 °/o dieser Berufs Wechsler (konnten) nach ihren eigenen Aussagen nur wenig oder nichts von den Kenntnissen und Fertigkeiten aus dem ursprünglichen Beruf verwerten . . . Je qualifizierter die allgemeine Schulbildung ist, desto geringer sei der Anteil der Berufswechsler. Er beträgt bei Männern mit Volksschulbildung 36 °/o, mit Mittlerer Reife 22 °/o, mit Abitur 12 und mit Hochschulausbildung nur 9 °/o. Die höchste Quote ergab sich bei 114 Ebenda, S. 33. 115 Berichte d. Deutschen Industrie-Instituts zu bildungs- und gesellschaftspolitischen Fragen, H. 3,1970, S. 39. (43)

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den un- und angelernten Arbeitern mit 60°/o116. Der Mikrozensus vom April 1970 ergab, daß sich 17,5 Mio Erwerbstätige der Geburtenjahrgänge 1916—1950 rund. 350 000 oder 2°/o an Umschulungsmaßnahmen beteiligt waren. 50°/o dieser Veranstaltungen wurden von Betrieben durchgeführt, ca. 13 °/o von staatlichen Einrichtungen und der Best von Gewerkschaften oder Arbeitgeberorganisationen117. „Das Ziel muß auf lange Sicht darin bestehen, die Umschulung in gestraffter Form nach berufsspezifischen Ausbildungsplänen anhand von Grund- und Aufbaulehrgängen unter Einschluß der dazugehörigen Unterweisungen durchzuführen und dabei eine überbetriebliche Ordnung zu erreichen, die auf einheitlichen Maßstäben beruht 118 ." Mit dem 19. Arbeitsförderungsgesetz von 1969 wurde der Versuch unternommen, eine noch relativ lockere Vereinheitlichung von Staatsseite durchzuführen. Im ersten Halbjahr 1972 haben etwa 10 000 Männer und 5700 Frauen Anträge auf Förderung von Umschulungen gestellt119. Die Abgrenzung der beruflichen Fortbildung von der Weiterbildung ist unpräzise. Einerseits heißt* es im Siemens-Bildungsbericht: „Der Schwerpunkt der Weiterbildungsmaßnahmen liegt bei der fachlichen Weiterbildung... In jedem Unternehmensbereich gibt es mindestens eine Dienststelle, die sich ausschließlich mit fachlichen Weiterbildungsmaßnahmen befaßt. Die Programme sind trotz der notwendigen Planung so flexibel, daß sie den aktuellen Bedürfnissen . . . angepaßt werden können120." Andrerseits sollen unter beruflicher Fortbildung solche Maßnahmen verstanden werden, die von der früher erlernten oder gegenwärtig ausgeführten Tätigkeit zu einer anderen, meist höherwertigen Tätigkeit führen 121 . Im Berufsbildungsgesetz schließlich, soll es die berufliche Fortbildung „ermöglichen, die beruflichen Kenntnisse und Fertigkeiten zu erhalten, zu erweitern, der technischen Entwicklung anzupassen oder beruflich aufzusteigen122". Obwohl die Unternehmen nicht die meisten Fortbildungsveranstaltungen tragen, sind die eigenen Bemühungen auch in diesem Bereich erheblich. Die Farbwerke Hoechst haben das erste Ausbildungsmodell für einen „hauseigenen" graduierten Betriebswirt der Öffentlichkeit vorgestellt. Im Herbst 1973 soll die auf viereinhalb Jahre geplante Ausbildung mit 25 bis 30 Abiturienten beginnen. Zwei Zwischenabschlüsse sind vorgesehen: nach eineinhalb Jahren die Kaufmannsgehilfenprüfung, nach einem weiteren Jahr die Kaufmanns-Wirt116 Ein Drittel der Männer wechselt den Beruf, in: Der Tagesspiegel v. 24. 5. 1973, nach einer Untersuchung des Instituts für Arbeitsmarktund Berufsforschving der Bundesanstalt für Arbeit. 117 Wirtschaft und Statistik, 1972, S. 327. 118 E. Krause, Zukunftsorientierte Berufsbildung, a.a.O., S. 53. 119 Angaben der Bundesanstalt für Arbeit in Nürnberg, nach FR, 14. 9.1972. 120 Siemens AG., a.a.O., S. 21. 121 Vgl, ebda., S. 18. 122 § 1, Absatz 3 des Berufsbildungsgesetzes. (44)

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sdiaftsassistentenprüfung. Die Abschlußprüfung zum Betriebswirt wird an der Fachhochschule abgelegt128. Ähnliche Pläne bestehen bei Daimler-Benz und der BASF. In Zusammenarbeit mit der Siemens . AG in Bad Neustadt und dem DIHT hat die IHK Würzburg-Schweinfurt einen Modell-Lehrgang für Industriefachwirte entwickelt124. „Anders als Hoechst wollen die Stuttgarter Firmen wie Bosch, Mercedes und General Electric allerdings das Graduiertenstudium nicht ganz in eigener Begie übernehmen, sondern streben einen Wechsel zwischen Fachhochschulsemestern und Betriebssemestern an. Die Abschlußprüfung wird ebenso wie bei Hoechst an der Fachschule abgelegt125." Aus diesen Anstrengungen von industriellen Großbetrieben für eine Hochschulausbildung ihrer technischen und betriebswirtschaftlichen Kader bei gleichzeitiger enger Koppelung an die betrieblichen Belange läßt sich schlußfolgern: Das Vertrauen in die öffentlichen Bildungsinstitutionen ist gering; alternativ eigene Fachhochschulen und Hochschulen zu gründen, wird bisher vermieden; Ziel ist offenbar, unter möglichst großer Einflußnahme auf die Studien?inhalte und -formen, die öffentlichen Bildungsinstitutionen umzugestalten und auszunutzen. Auch bei der Ausbildung der Ausbilder führt die Industrie eigene Bildungsmaßnahmen durch: „Diese Spitzenkräfte sind, was den pädagogischen Teil ihrer Tätigkeit anbelangt, fast immer Autodidakten, weil planmäßige arbeits-, betriebs- oder industriepädagogische Bildungsmöglichkeiten an Technischen Universitäten oder Hochschulen bzw. Fachhochschulen bis jetzt in nur geringem Umfang bestehen126." Gefordert wird, daß die staatlichen Bildungseinrichtungen diesen Mangel beheben sollen. Zur Kostenminimierung werden Ausbildungslehrgänge für Ausbilder zentral von Arbeitgeberverbänden abgehalten. ,?So führen der Deutsche Industrie- und Handelstag mit den Kammern und die Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände zahlreiche regionale und zentrale Ausbilder-Lehrgänge und -Seminare durch mit dem Ziel, die erforderlichen berufs- und arbeitspädagogischen Kenntnisse zu vermitteln 127 ." Um die Ausbildungskosten und die Anzahl der Lehrkräfte möglichst gering zu halten, wurden von der Industrie verschiedene Methoden entwickelt: z.B. Entlastung des Lehrpersonals von Tätigkeiten, die auch von nicht-lehrendem Personal übernommen werden können; Einsatz von programmierten Unterweisungen; Team-teaching etc. Seit Januar 1973 sind die Fernsehanstalten in die Ausbildung der Ausbilder einbezogen worden. Dies hat für das Kapital eine Reihe von Vorteilen: Erstens wird die Sendereihe, die für 18 Monate ge123 124 125 126 127 RKW,

Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 26.1.1973. Blick durch die Wirtschaft, 3. 3. 1972. Frankfurter Allgmeine Zeitung vom 26.1.1973. E. Krause, a.a.O., S. 41. H. v. Recum: Programmierte Unterweisung, Bad Harzburg 1967, S. 33. (45)

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plant ist, an deren Planung die Bundesregierung, Wirtschaftsvertreter und Gewerkschaft beteiligt waren, vom Staat finanziert. Zwestens liegt die Ausbildungszeit außerhalb der Arbeitszeit, so daß dem Kapital kein Arbeitszeitverlust entsteht, und drittens wird der Ausbildungsstand der Ausbilder nivelliert. Allerdings hat sich nicht die erhoffte Zahl von 50 000 bis 100 000 Teilnehmern angemeldet. Es sind bis Anfang 1973 erst 5000 Anmeldungen eingegangen128. XVI. Abwälzung betrieblicher Bildungskosten auf den Staat Wie ein roter Faden ziehen sich die Finanzierungssorgen durch alle Überlegungen und Maßnahmen der betriebsbezogenen Berufsbildung. Die Siemens AG z. B. gibt an, 1961/62 10,7 Mio DM für Weiterbildung und 29,8 Mio für Ausbildung bezahlt zu haben. 1969/70 sollen es bereits 58,2 Mio DM für Weiterbildung und 75,5 Mio DM für Ausbildung gewesen sein. Das entspricht einem Anteil an der Lohn- und Gehaltssumme von 3,5 %. Dazu wird jedoch entschieden betont: „Die Aufwendungen für die betriebliche Bildungsarbeit trägt das Unternehmen129." Auch der Kaufhof-Konzern schreibt von seinen hohen Bildungsinvestitionen. Es werden allein 1,5 Mio DM für den „Kümmelbacherhof" verausgabt — eine Stätte der Aus- und Fortbildung für die Führungskräfte des Konzerns 18°. Neben der Aufzählung sämtlicher Kosten für die Berufsausbildung wird gleichzeitig angeführt: „Den Bruttobildungskosten sind die produktiven Leistungen der Lehrlinge gegenüberzustellen. Es müssen somit alle für die Verwirklichung des Ausbildungsziels erforderlichen Kosten sowie die dem Unternehmen aus der Lehrlingsausbildung zufließenden Erlöse rechnerisch erfaßt werden181." Hier fällt ein neues Argument, wenngleich zunächst nur auf die betriebliche Kosten-Nutzen-Rechnung bezogen. Schließlich geht es um die Höherqualifizierung der Arbeitskraft, mithin auch um die Steigerung ihres Wertes und dessen Ausdrude im Lohn. Das läßt sich als soziale Leistung ausgeben, wie der Vorsitzende des Deutschen Industrieinstituts ausführt: „ . . . wir (sollten) nicht vergessen, daß die Bildungsbemühungen der Betriebe soziale Leistungen sind, vielfach hört man die Meinimg, der Betrieb vollziehe dies nur aus einem gewissen Egoismus heraus. Die freie Wahl des Arbeitsplatzes und die Fluktuation beweisen doch sehr deutlich, daß hier die Betriebe soziale Leistungen für die gesamte Wirtschaft und damit auch für die Gesellschaft vollbringen, denn mit ihren Kostenaufwendungen geben die Unternehmen dem einzelnen Mitarbeiter Bildungshilfen, die bei einem Arbeitsplatzwechsel nicht nur Privatunternehmen, sondern 128 Frankfurter Rundschau vom 13.1.1973. 129 Siemens AG., a.a.O., S. 1. 130 Vgl. Mielke: Der Kümmelbacherhof — Stätte der Aus- und Fortbildung für die\Führungskräfte des Kaufhof-Konzerns, in: contact, H. 4, 1971, S. 238 ff. 131 G. Ruhl: Berufsbildung. Lehrlingskosten, in: der arbeitgeber, 1972, S. 358 ff. (46)

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auch Dienstleistungsbetrieben der öffentlichen Hand wie z.B. der Bundeswehr zugute kommen. — Jeder wird wohl eine Reihe von Beispielen aufzeigen können, wie Betriebe, die kaum Bildungsarbeit treiben, in ein profitäres Verhältnis zu Unternehmen treten, die in die betriebliche Bildung- und Ausbildungsarbeit große Summen investieren 182." Dieser Appell zur betrieblichen Bildungs-Finanzierung durch die „gesamte Wirtschaft" erscheint in seiner Begründung insofern fragwürdig, als das Gegenteil geplant ist: mit den betrieblichen Bildungsmaßnahmen sollen die Beschäftigten gerade enger an den Betrieb gebunden werden: „In einem größeren Industrieunternehmen mit etwa hundert Lehrlingen summieren sich did Ausbildungskosten zu mehreren hunderttausend DM im Jahr. Damit stellt sich die Frage, ob diese Kosten betriebswirtschaftlich sinnvolle Investitionen sind. Prinzipiell ist dazu zu sagen, daß es sich nicht um Ausgaben handelt, die Sachinvestitionen vergleichbar sind: Der Lehrling, dessen Ausbildung finanziert wird, ist nicht Eigentumsobjekt wie etwa eine Maschine. Er muß nach Abschluß der Ausbildung den Marktlohn für seine qualifizierte Arbeit erhalten oder wird sich einen anderen Arbeitgeber suchen. Ein Unternehmen, das keine Lehrlinge ausbildet, kann dementsprechend theoretisch Facharbeiter zu wenig höherem Lohn vom Markt abwerben, ohne die hohen Ausbildungskosten tragen zu müssen. Dieser Sachverhalt müßte an sich dazu führen, daß eine kostspieligere Lehrlingsausbildung von den meisten Unternehmen als unwirtschaftlich abgelehnt würde. Daß dies nicht der Fall ist, liegt vor allem daran, daß durch eine qualifizierte und unternehmensinterne Lehrlingsausbildung ein Stamm von betriebstreuen Mitarbeitern geschaffen werden kann, der vor allem die Fluktuationsrate günstig beeinflußt; daneben erwerben die Lehrlinge meist betriebsspezifische Kenntnisse, die von besonderem Nutzen für die Organisation und den Ablauf des Produktionsprozesses sind. Die Ausbildung einer Stammbelegschaft ist deshalb für die meisten Unternehmen unerläßlich und auch betriebswirtschaftlich rentabel. Eine Ausbildung, die darüber hinausgeht, dürfte sich dagegen in der Regel nicht auszahlen. Dies erklärt, warum viele größere Unternehmen nur einen Teil ihres gesamten Fachkräftebedarfs selbst ausbilden und warum die Industrie insgesamt weniger Facharbeiter ausbildet als sie benötigt und den Rest vom Handwerk übernimmt188." Teilweise soll die betriebliche Bildung — je nach Rentabilität — also fest in den Händen der Konzerne bleiben, teilweise soll der Staat als Organisator und Kostenträger einspringen. In diesem Sinne wird gefordert, „daß der Staat die im Gesamtbildungsprozeß wichtige Arbeit der Verbände für die Fort- und Weiterbildung als den staatlichen Bemühungen gleichwertig anerkennt, daß er . . . die Bil132 Fritz Arlt: Betriebliche Bildungsarbeit als Kosten- und Produktionsproblem, in: Rationalisierung betrieblicher Bildungsarbeit, S. 5. 133 W. Dietrich Winterhager: Berufsbildung — was ein Lehrling kostet, in: der arbeitgeber, 1969,19/21, S. 791. (47)

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dungsmaßnahmen der Verbände mehr als bisher aus öffentlichen Mitteln fördert 184 ". Allerdings soll auch hier der unternehmerische Einfluß gewahrt bleiben. „Entsprechende Maßnahmen und Regelungen müssen jedoch die Freiheit der gesellschaftlichen Träger respektieren und sicherstellen. Aufgaben wie Gründung von Einrichtungen, Lehrplangestaltung, Besetzung der Leiter- und Mitarbeiterstellen müssen in der eigenständigen Verantwortung der Träger bleiben185." Die optimale Verbindung ist demnach eine vom Staat finanzierte, vom Kapital geplante, durchgeführte und kontrollierte Erwachsenenbildung. Das ist aber noch nicht alles. Auch die betrieblichen Bildungsinvestitionen sollen steuerlich begünstigt werden. So schlägt Fritz Arlt vor, „Investierungen, in Ausbildungsräume und Aus- und Weiterbildungszentren den gleichen Abschreibungssätzen" zu unterwerfen „wie andere Investitionen". Außerdem entwirft Arlt eine Ausbildungssteuer mit Umverteilungseffekt: Auf die Lohn- und Gehaltssumme aller Betriebe soll diese Steuer erhoben werden. Zu zahlen ist nur von jenen Betrieben, die nicht ausbilden; nicht zu zahlen ist von Ausbildungsbetrieben; kassieren sollen schließlich jene, welche „Überinvestitionen" erfüllen18®. So könnte sich die betriebliche Bildung direkt als profitliches Unternehmen entwickeln. Auch von Arbeitnehmer-Abgaben ist in diesem Zusammenhang die Rede. Aber: „Gegen eine Umlage der Arbeitnehmer allein sprechen politisch-psychologische Erwägungen sowie die Annahme, daß das Solidarinteresse der Unternehmen an qualifizierter Aus- und Weiterbildung verstärkt wird, wenn sie dafür ohnehin ,zur Kasse gebeten* werden187!" Die Akkreditierung zum Fondssystem soll von einer gewissen Mindestqualität der Ausbildung abhängig gemacht werden. Damit ist das Handwerk gezwungen — will es verhindern, daß es nicht nur seine billigen Arbeitskräfte verliert, sondern auch noch Zuschüsse an die Monopole zahlt —, eigene Maßnahmen auf entsprechendem Niveau zu initiieren. Klein- und Mittelbetriebe schließen sich in enger Zusammenarbeit mit modern ausgerüsteten Betrieben zü überbetrieblichen Lehrwerkstätten oder gemeinsamer Nutzung anderer Einrichtungen zusammen: „Nehmen wir das Sprachlabor oder andere Instrumentarien; derartige Anlagen kann ein Unternehmen allein oder mit anderen einrichten. Ich sprach schon eingangs von genossenschaftlichen Lösungen, so wäre auch ein Zusammenwirken mit der öffentlichen Hand möglich 188." 134 contact, H. 1,1971,11. Jg. 135 „Erwachsenenbildung — Grundgedanken der BDA zur Erwachsenenbildung", in: Wirtschaft und Berufserziehung, Nr. 8,1970, S. 146. 136 Fritz Arlt: Betriebliche Büdungsarbeit als Kosten- und Produktionsproblem, in: Rationalisierung betrieblicher Bildungsarbeit. 137 „Wer soll die Lehrlingsausbildung künftig bezahlen?1* Überlegungen und Vorschläge der Sachverständigenkommission, in: Frankfurter Rundschau, 15. 2.1973, S. 39. 138 Fritz Arlt: Rationalisierung betrieblicher Bildungsarbeit (48)

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Rationalisierungsmaßnahmen können zwar Kosten reduzieren, aber die Höhe der Bildungsaufwendungen bleibt immer noch beträchtlich und das Finanzierungsproblem ist noch nicht gelöst. Die Berufsausbildung soll darum aus der Arbeitszeit in die Freizeit verlegt werden, Fortbildung wird zum Hobby nach Feierabend. „In Zukunft muß jeder Arbeitnehmer damit rechnen, daß er dreimal im Leben den Beruf wechselt. Deshalb wird er die vermehrte Freizeit vermehrt zur Fortbildung nützen müssen, wenn er nicht in seinem neuen Beruf ganz von unten anfangen — und vielleicht enden — will. Es kommt deshalb nicht so sehr auf den heute immer wieder geforderten Bildungsurlaub, und damit auf weitere Freizeit, als vielmehr auf das Angebot zusätzlicher Fortbildungsmöglichkeiten in der freien Zeit an18*." Der Autor, Dr. Franz Meyers, ist Präsident der Deutschen Gesellschaft für Freizeit, die sich zum Ziel gesetzt hat, die dabei auftauchenden Fragen theoretisch und praktisch zu lösen. Ihr Mitglied ist auch die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände. 139 Franz Meyers: Industriekultur — die Freizeitprovokation, in: der arbeitgeber, 1972, H. 2, S. 43.

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Zum Streit um die Bildungsökonomie Altvater und die Folgen Inhalt I. Vorbemerkung II. Gegenstand und Funktion von Bildungsökonomie III. Zum Verlust der Einsicht in die „transitorische Notwendigkeit des Kapitalismus" bei Altvater und Huisken IV. Über die Nutzlosigkeit marxologischer Gralshüterei — Kritik am Autorenkollektiv der VSA V. Zusammenfassende Thesen über die Widersprüche im Ausbildungssektor und die Chancen gewerkschaftlicher Bildungspolitik I. Vorbemerkung Kürzlich erschien auf dem mit „Bildungstiteln" überfluteten Büchermarkt ein Band mit dem bemerkenswerten Titel „Zur Kritik der Bildungsökonomie"1. Den Eingeweihten wird sofort nahegelegt, daß es hier um die Marx-Nachfolge geht — eine Anspielung auf die „Kritik der politischen Ökonomie" also. Schon der Untertitel „Diskussionsbeiträge zu Altvater/Huisken..." weist aber das Buch als metatheoretisch aus, als Theorie über Theorie, so daß wenig Hoffnung auf marxistische Kritik bleibt im Sinne einer Ableitung des Bestehenden als Aufdeckung der inneren Entwiddungsnotwendigkeiten, als zusammengesetztes Resultat, welches die einzige Möglichkeit ist, mit der inneren Struktur zugleich die Perspektive zu begreifen. — In weniger anspruchsvoller, herkömmlicher Weise, in negierender Absicht verwandt, scheint der Begriff Kritik im angeführten Zusammenhang unsinnig. Denn was hier namentlich kritisch zur Diskussion steht, ist Bildungsökonomie sdilechthin, ganz gleich ob sozialistische, marxistische oder bürgerliche. Die Vielfältigkeit der schon bis hierher angesprochenen Probleme legt es nahe, das angesprochene Buch nicht — wie ursprünglich vorgesehen — im Rahmen einer Rezension abzuhandeln. Vielmehr wird im folgenden Aufsatz der Bereich der Bildungsökonomie historisch und gesellschaftlich bestimmt, und die Dringlichkeit einer Auseinan1 Autorenkollektiv: Zur Kritik der Bildungsökonomie. Diskussionsbeiträge zu Altvater/Huisken, MG Erlangen und Kanzow/Roth. Verlag für das Studium der Arbeiterbewegimg, Berlin/West 1974 (165 S., br., 6,80 DM). (50)

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dersetzung mit den bürgerlichen Theorien und ihren praktischen Bedeutungen wird vor Augen geführt. Im Anschluß werden die Arbeiten von Altvater und Huisken als Alternativen zur bürgerlichen Bildungsökonomie diskutiert; die Kritik der Kritik des Autorenkollektivs des oben genannten Buchs versucht in diesem Zusammenhang Maßstäbe der Kritik zu verdeutlichen, die zugleich solche des wissenschaftlichen Arbeitens sind. Dementsprechend werden abschließend Thesen formuliert zu Fragen der Ausbildung im Kapitalismus, welche die Richtung weiterer wissenschaftlicher Arbeit in diesem Bereich zusammen mit ihrem praktischen Nutzen angeben. IL Gegenstand und Funktion von Bildungsökonomie Was heute unter Bildungsökonomie firmiert, ist — allgemein gesprochen — der wissenschaftliche Versuch, Ausbildungsprozesse gesamtgesellschaftlich zu planen, Aufwands- und Effektivitätsberechnungen anzustellen. So hat etwa sozialistische Bildungsökonomie die Aufgabe, „das Gesetz der Ökonomie der Zeit sowohl im Entwicklungsverhältnis von Bildungswesen und volkswirtschaftlichem Reproduktionsprozeß als auch im Bildungswesen selbst voll durchzusetzen" 2 . Die bürgerliche Bildungsökonomie „untersucht Beziehungen zwischen wirtschaftlichem Wachstum und Bildungsaufwand sowie die Probleme der wirtschaftlich günstigsten Verwendung aller für Bildungszwecke verfügbaren Mittel" 8 , bzw. —- wie einer ihrer Kritiker zusammenfassend sagt — untersucht sie als »„Ökonomie des Mangels*, d. h. als eine Disziplin von der optimalen Allokation knapper Ressourcen, . . . einerseits die Zusammenhänge zwischen Wirtschaftswachstum und Bildungswesen (»explikative Bildungsökonomie*) und entwirft andererseits Modelle zur Eruierung der Nachfrage nach Ausbildung und des Bedarfs an Ausgebildeten (»normative Bildungsökonomie*), deren Umsetzung in Bildungsplanung staatlicher Bildungspolitik als Grundlage dienen soll" 4. Die Bildungsökonomie ist eine sehr junge Wissenschaft. Wenn gleichwohl einige ihrer bürgerlichen Vertreter 5 bemüht sind, ihr und damit sich selber durch den Nachweis einer ehrwürdigen Reihe von Vorfahren (über Marx und Engels, Ricardo, Smith bis zu Petty) mehr wissenschaftliche Dignität zu verleihen 6 , haben sie insofern recht, als 2 ökonomisches Lexikon, Berlin/DDR 1970, S. 369. Siehe auch Knauer, Maier, Wolter (Hrsg.): Sozialistische Bildungsökonomie. Berlin/DDR 1972, S. 11. Rezensiert in: Das Argument 80, S. 252f. 3 Zit. nach Brockhaus-Enzyklopädie in 20 Bänden, 17. Aufl. 1967, Bd. 2, S. 731 f. 4 Huisken, Freerk: Zur Kritik bürgerlicher Didaktik und Bildungsökonomie. List Verlag, München 1972 (429 S., br., 10,80 DM). 5 So u. a. H. Berg und K. Hüfner. / 6 Ein Versuch, den Altvater im Unterschied zu Huisken (Zur Kritik bürgerlicher Didaktik und Bildungsökonomie, S. 140) meines Erachtens zu Recht entschieden zurückweist. „Diese Fragestellung (warum Bildung zu (51)

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Überlegungen zum Zusammenhang von Bildung und Ökonomie überhaupt nichts Neues sind. Es herrscht jedoch im großen und ganzen die begründete Übereinkunft, daß die Bildungsökonomie im oben angenommenen wissenschaftlich-systematischen Sinn in der BRD gegen Ende der fünfziger, Anfang der sechziger Jahre ihren Anfang nahm 7. Bereits bei diesen wenigen Bestimmungen fallen mehrere Besonderheiten auf, die schon — jede für sich genommen — die an der gesellschaftlichen Entwicklung Interessierten zur Beschäftigung und Auseinandersetzung mit diesem als Bildungsökonomie bezeichneten Bereich nötigen müßten. Einmal verweist eine so nachhaltige Veränderung im Überbaubereich, wie die der Entstehung eines neuen und sich rasch entwickelnden Wissenschaftszweiges, auf eine Nachfrage und also vorhergegangene größere Veränderung an der Basis der Gesellschaft. Zum zweiten wird ein Zusammenhang zwischen Wirtschaftswachstum und Büdungssystem ausgesprochen, der für jene, die die üppige Geschichte der deutschen Wirtschaft und die magere des deutschen Schulwesens auch nur andeutungsweise kennen, überraschend sein muß, da die bisherige Geschichte eher den umgekehrten Schluß nahelegt, daß nämlich das Wirtschaftswachstum desto größer sei, je weniger für die Ausbildung der Bevölkerung ausgegeben werden muß. Zum Dritten sind auf den ersten Blick die Parallelen zwischen den Bestimmungen sozialistischer und bürgerlicher Bildungsökonomie unverkennbar. Es soll mit Hilfe dieser Wissenschaft versucht werden, gesellschaftliche Prozesse zu planen; Gesetzmäßigkeiten sollen ausfindig gemacht, Prognosen aufgestellt werden"— kurz: ein Teil der gesamtgesellschaftlichen erweiterten Reproduktion soll bewußt geregelt und gesteuert werden. So wenig dies für den Sozialismus erstaunt, für den „gesamtgesellschaftlicher Plan" ein redender Name ist, wie ja „Planwirtschaft" das bekannteste, Entsetzen verbreitende einem quantitativen Problem werden kann, F. H.) wirft auch das Problem der materialistischen Begründung für die Entstehung der Bildungsökonomie auf, die dieser Disziplin selbst und ihrer Dogmengeschichte nur mehr als wissenschaftsimmanenter Fortschritt erscheint (der übrigens nur im Rückblick einer zu sein scheint, wenn der neuen und jungen Disziplin der Bildungsökonomie eine Ahnengalerie von Petty über Marx und Thünen zugeordnet wird — ein völlig ahistorisch-voluntaristisches Unterfangen.a Vgl. dazu die dogmengeschichtlichen Überblicke bei Kiker, Hüfner, Berg). (Altvater: Der historische Hintergrund des Qualifikationsbegriffs, in: Altvater/Huisken, Hrsg.: Materialien zur politischen Ökonomie des Ausbildungssektors, S. 85.) 7 In der BRD etwa gilt Friedrich Edding, dessen in diesem Zusammenhang bekanntestes Werk (Ökonomie des Bildungswesens. Lehren und Lernen als Haushalt und als Investition) im Jahre 1963 erschien, als Vater der Bildungsökonomie. In den USA tauchten „bildungsökonomische" Schriften schon etwa 10 Jahre früher auf. (52)

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Reizwort des Kalten Krieges war, so sehr widerspricht der gesellschaftliche Plan der Anarchie der kapitalistischen Produktionsweise 8. Wo gegensätzliche Interessen herrschen, kann das Gesamtgesellschaftliche nur in pervertierter Form in die Pläne eingehen. Die Ausdehnung der Verfügung über den freien Lohnarbeiter müßte einige Grundprinzipien der „freien Marktwirtschaft" ins Wanken bringen. Denn was hier außer Kraft gesetzt werden soll und wird, ist das Dogma der naturwüchsigen Selbstregulation des Arbeitsmarktes durch Angebot und Nachfrage, die Vorstellung der unbegrenzten Substituierbarkeit von Arbeit durch Kapital, ferner das System der bürgerlichen Freiheiten selbst mit dem Angriff auf die Freiheit der Berufswahl, auf das Recht, die Ausbildungsstätte frei zu wählen und Ähnliches mehr®. Die verschiedenen theoretischen Ansätze im Bereich der bürgerlichen Bildungsökonomie spiegeln diese Widersprüche auf eindeutige Art wider. Eben weil er ein wirtschaftliches Erfordernis ist, treten die kompromißlosen Vertreter der Kapitalinteressen — deren theoretische Schule unter dem Namen „manpower approach" bekannt ist — auf als begeisterte Verfechter des gesellschaftlichen Plans1®. Ihre theoretischen Entwürfe finden ihre Grenze also nicht an einer hochgehaltenen freien Marktgesellschaft im Gegensatz zu einer geplanten, sondern an der, für sie sich als technisches Problem äußernden, weitgehenden Unberechenbarkeit des Kapitalismus, der Unzulänglichkeit und Unzügänglichkeit des statistischen Materials. Umgekehrt versuchen die liberalen Anhänger bürgerlicher Freiheiten — sie* zählen sich zu einer Schule, die als „social demand approach" bekannt ist — auf einer Bildungsplanimg zu insistieren, die den Bil8 Was der Verzicht auf die Selbstregulierungskraft des Marktes in einem Sektor für die Legitimierungsfunktion dieses Regulativs im System der „freien Marktwirtschaft" bedeutet, kann an dieser Stelle nicht ausgeführt werden. Es ist zudem der Bildungsbereich keineswegs der einzige, in dem seit dem letzten Jahrzehnt zunehmend versucht wird, eine Art kapitalistischer „Planwirtschaft" einzuführen. Vgl. dazu etwa die jüngsten Auseinandersetzungen auf dem Gesundheitssektor. Zum Bedarfsplanungsvorschlag der Krankenkassen, in dem einige bürgerliche Freiheiten der Ärzte (so z. B. das der Niederlassungsfreiheit) ebenfalls „gesamtgesellschaftlichem Bedarf" geopfert werden sollen, lese man die Analyse „Medizin auf dem Wege zur Vergesellschaftung?" von Gaedt und Schagen, in: Entwicklung und Struktur des Gesundheitswesens. Argumente für eine soziale Medizin (V), AS 4, S. 1 ff. 9 Vergleiche hierzu etwa die Versuche bürgerlicher Liberaler, das Problem des Numerus Clausus an den Universitäten — welches doch nur die Erscheinungsform ist von darunterliegenden Vorgängen wie Arbeitsmarktproblemen, Qualifikationsungleichgewichten, Finanzierungsfragen und auch ständischer Politik — mit Hilfe der Rechtsprechung aus der Welt zu schaffen. So etwa zuletzt Gerhard Mauz aus Marburg in einem Rechtsgutachten im August 1974. 10 Vgl. hierzu die Ausführungen in dem Aufsatz unserer Projektgruppe Automation und Qualifikation, „Büdungsreform vom Standpunkt des Kapitals", in: Das Argument, Sonderband 80, „Schule und Erziehung (VI)", S. 13 ff. (53)

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dungswillen der Bevölkerung zum Ausgangspunkt ihrer Aktivitäten macht. Unschwer läßt sich folgern, daß kombinierte Modelle — etwa das „Integrierte Angebots-Nachfrage-Modell" — am meisten Anerkennung finden, denn sie bieten ihre Dienste nach allen Seiten an. Sie achten die Freiheit des Individuums, ohne die Belange des Kapitals aus den Augen zu verlieren. Wo die Wünsche des einzelnen vom Bedarf des Arbeitsmarktes sich zu weit entfernen, können gezielte Berufslenkungsverfahren (bis in die Schulpläne hinein) den äußeren Zwang — der etwa bei der Praktizierung des „man-power-Ansatzes" notwendig wäre — durch „innere" Motivation ersetzen. Organisator und Vollstrecker der — wie auch immer begründeten — Bildungsplanung und Politik ist der Staat, dessen ständig wachsender Aufgabenbereich und auch Anteil am Bruttosozialprodukt ohne Zweifel neue begriffliche Anstrengungen zu seiner Analyse notwendig machen11. Hält man sich noch einmal vor Augen, daß die Bewegungen im Bereich der Theorie und in der politischen Praxis des Staats Reflex sein müssen auf einschneidende Vorgänge an der Basis, also in der Produktion, wird schlagend deutlich, wie weitreichend die Umwälzung ist, wie notwendig materialistische Gesellschaftswissenschaft sich damit auseinandersetzen muß. Veränderungen müssen also in größerem Umfang stattgefunden haben und noch stattfinden in der Art und Weise zu produzieren, derart, daß der Arbeitskräftebedarf sich so geändert hat, daß wirtschaftliche Berechnungen über Ausbildungsfragen auf gesamtgesellschaftlichem Maßstab angestellt werden müssen, eine Tatsache, die anzeigt, daß teurere Ausbildung offenbar massenhaft notwendig wird. Es ändern sich also die konkreten Arbeitsplätze sowie die Reproduktionsbedingungen der Arbeiterklasse — zumindest im Ausbildungsbereich. Damit ändern sich die Ausbildungsaktivitäten von Kapital und Staat — sowohl quantitativ als auch qualitativ —, „Fragmente" gesellschaftlicher Planung sind erkennbar; mit ihnen treten neue Anforderungen an die Wissenschaften auf. Wiewohl an dieser Stelle über die Inhalte im Ausbildungsbereich noch nichts gesagt werden kann, dürfte auch von den genannten globalen Bestimmungen her unmittelbar einleuchten, daß die Veränderungen in der Produktionsweise und die dadurch notwendigen Versuche gesellschaftlicher Planung in einer Klassengesellschaft von außerordentlicher Bedeutung für die Klassenauseinandersetzungen sein müssen. m . Zum Verlust der Einsicht in die „transitorische Notwendigkeit des Kapitalismus" bei Altvater und Huisken Der erste bekanntgewordene Versuch materialistischer Analyse der Strategien im Bildimgsbereich ist der von Altvater und Huisken 11 Verwiesen sei hier auf die — in dieser Zeitschrift noch ausstehende — Diskussion um die Theorie des Staatsmonopolistischen Kapitalismus. (54)

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herausgegebene Sammelband „Materialien zur politischen Ökonomie des Ausbildungssektors" mit Seminartexten aus dem Wintersemester 1969/70, der im Jahre 1971 erschien12. Trotz der eingestandenen Vorläufigkeit der dort dargebotenen Analysen und trotz der zahlreichen Fehler und Mängel, deren wesentlichste auch in der ein Jahr später erschienenen, ansonsten sehr viel stärker durchgearbeiteten Dissertation von Huisken18 wiederholt wurden, blieben die Ausführungen von Altvater und Huisken die beherrschende theoretische Grundlage für Seminare, für weitere Untersuchungen im Ausbildungsbereich, für strategische Überlegungen zumindest im universitären und universitätsnahen Bereich. Die im praktischen Interesse — „für die Studentenbewegung", für „Fragen von Strategie und Organisation" — durchgeführten Analysen von Altvater und Huisken14 leisten im wesentlichen15 folgendes: Der Vorgang, der als zunehmende Subsumtion des Ausbildungsbereichs unter die Verwertungsinteressen des Kapitals bezeichnet werden kann, wird mit Hilfe von Kategorien, die aus dem Kapital von Karl Marx gewonnen wurden, in seinen ökonomischen Gesetzmäßigkeiten nachgezeichnet. Ausbildung wird begriffen als Prozeß der Qualifizierung für den Arbeitsprozeß, um auf dem Arbeitsmarkt verkäuflich, für das Kapital „konsumierbar" zu sein18. Die Art der 12 Die in diesem Band veröffentlichten Texte kursierten zum Teil schon vorher in einer Broschüre des VDS sowie in einem in Göttingen zusammengestellten Band, erlangten jedoch meines Wissens erst in der von Altvater und Huisken besorgten Auflage unter dem oben angegebenen Titel große Verbreitung. Der Band erschien 1973 in der 4. Auflage (19.—22. Tsd.). 13 Freerk Huisken: Zur Kritik bürgerlicher Didaktik und Bildungsökonomie, a.a.O. 14 Die folgende Kritik wird in den Hauptpunkten so vorgehen, aß ob die beiden Autoren eine Einheit bildeten, d. h. auch die Kritik der theoretischen Ableitungen eines der beiden wird jeweils den anderen mitmeinen. Obwohl dieses Verfahren nicht ganz zulässig scheint, halte ich es wegen der prinzipiellen Übereinstimmung der beiden während ihrer „Erlanger Zeit", aus der die behandelten Veröffentlichungen stammen, für gerechtfertigt. 15 Ich verzichte hier darauf, einzelne Detailfehler nachzuweisen. Der Hauptakzent soll im Anschluß an die positiven Ausführungen auf jenen grundlegenden Überlegungen liegen, die die weiteren theoretischen Arbeiten in Sackgassen führten oder eine Anleitung zu falscher Praxis darstellen. 16 So heißt es etwa bei Altvater und Huisken in ihrer Einleitung zu dem Band Materialien zur Politischen Ökonomie des Ausbildungssektors (a.a.O., S. XX): „Es läßt sich daher argumentieren, daß der Ausbildungsprozeß nur verstanden werden kann, wenn diejenigen, die ihn durchlaufen und, auf je verschiedenen Stufen verlassen (Hauptschule, Höhere Schule, Fachschule, Fachhochschule, Hochschule, Akademien usw.) als Träger von Arbeitsvermögen begriffen werden, das von ihnen als Arbeitskraft, als Vermögen, zugleich bestimmte konkrete Arbeiten zu verrichten und Werte produzieren zu können, auf den Markt getragen wird und dort zu einem Großteil sich mit dem Kapital austauscht." (55)

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geforderten Ausbildung hängt also ab vom Diktat des Arbeitsplatzes, der wiederum in seiner Ausprägung vom Stand der Produktivkräfte bestimmt wird 17 . Richtig wird verwiesen auf das widersprüchliche Kräftefeld, in dem der Ausbildungjsprozeß von Anfang an steht, nämlich einerseits notwendiges Mittel zu sein für den Hauptzweck kapitalistischer Produktion, die Verwertung des Kapitals, deretwegen der Produktionsprozeß überhaupt veranstaltet wird, und andererseits selbst unmittelbar Geld zu kosten, also — in welcher Form auch immer —> Abzug vom Profit darzustellen. Wiewohl- die Ableitungsversuche aus dem „Kapital" auch18 bei Altvater und Huisken zu vielen unnützen akrobatischen Gedankenleistungen führten (so etwa längere Ausführungen über produktive und unproduktive Arbeit, Huisken, a.a.O. S. 336, Altvater u. Huisken: Materialien . . . S. 228 ff.), muß positiv vermerkt werden, daß sie über den Versuch der begrifflichen Nachzeichnung hinaus empirische Tatbestände der Gegenwart in ihre analytischen Überlegungen einbezogen. So verweisen sie bei der Frage nach der Bedeutung des plötzlichen Auftretens von Bildimgsökonomie und Bildungsplanung auf die Verwissenschaftlichung der Produktion 19 , begründen sie die „Bildungskatastrophe" mit der besonderen Geschichte der BRD20 — wenn auch dem politischen Auftrag der Bundesrepublik als Bollwerk gegen den Kommunismus (welcher beispielsweise die einseitige Steigerung des Warenreichtums der westlichen Welt als Argument gegen den Sozialismus zuungunsten sämtlicher Infrästrukturbereiche beinhaltete) in diesem Zusammenhang mehr Beachtimg hätte geschenkt 17 Hierzu Huisken: „Zunehmende Mechanisierung der Produktion zum Zwecke der Erhöhung des relativen Mehrwerts führte zu einer Veränderung der Arbeitsplatzstruktur in der Wirtschaft. Auswirkungen auf den Bereich der Zirkulation machten sich gleichfalls geltend. Dies bedingte insgesamt eine veränderte Struktur der Nachfrage nach ausgebildeten Arbeitskräften, die das Bildungswesen nicht hinreichend befriedigen konnte. ... Die Intensivierung von Forschung und Entwicklung, die Ausbildung von Arbeitskräften, die neue Technologien einsetzen, bedienen und warten können, wurde für das westdeutsche, stark exportabhängige Kapital zu einer unabdingbaren Notwendigkeit." (Zur Kritik bürgerlicher Didaktik und Büdungsökonomie, a.a.O., S. 339.) — Altvater führt bei der Bestimmimg der konkret-nützlichen Arbeit noch eine komplizierte Abhängigkeit vom Verwertungsprozeß ein, hierzu später. 18 Wenn auch bei weitem nicht in dem Maße, wie ihre Kritiker in dem oben (Fußnote 1) genannten Buch; ich komme darauf zurück. 19 So etwa bei Altvater und Huisken in der Einleitung zu den Materialien^ S. XII: „Mit der Verwissenschaftlichung der Produktion wurde deutlich, daß zu ihrer Bewältigung im gesellschaftlichen Reproduktionsprozeß auch entsprechend qualifizierte Arbeitskräfte in genügend großer Zahl notwendig sind." S. XXI: „Steigen also die Aufwendungen für den N Ausbildungsprozeß im Verlauf der »technisch-wissenschaftlichen Revolution', so auch die Beträge, die für die Qualifizierung der Arbeitskraft aufgebracht werden müssen..." 20 Vgl. Altvater u. Huisken, Einleitung, a.a.O., S. XII ff.; Huisken, Zur Kritik, a.a.O., S. 338 ff. (56)

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werden müssen81. Begrüßenswert ist schließlich auch die Hinwendung zum Studium bürgerlicher Theorien und Materialien, da sie „als verkehrte Ausdrucksformen bestimmter Tendenzen"22 immerhin Aufschluß sowohl über die Basisvorgänge als audi in ihrer Verarbeitung Auskunft über den theoretischen Stand und die Form der ideologischen Klassenkämpfe vermitteln. Unter den allgemeinen Ableitungen ist die Bestimmung der Funktionen des Staates nicht ganz eindeutig und auch stark unterbelichtet. So heißt es bei Huisken in diesem Zusammenhang„Auf der politischen Ebene, d. h. der Ebene der Veranstaltung, ,Finanzierung' und Kontrolle des Ausbildungsprozesses durch den Staat, ist die »Knappheit der Ressourcen' für das Bildungswesen ein Ausdruck der auf die Redistribution beschränkten Funktion des Staates." 28 Zwar wird davor gewarnt, einfach eine Identität von Kapital und Staat anzunehmen, da Staat in den Widersprüchen des Systems auftrete, wie dem, daß gleichzeitig Ausbildung für die Mehrung des Profits notwendig ist und doch auch einen Abzug vom Profit darstellt 24 . Anschließend wird aber dennoch eine so starke Identität von Kapital und Staat angenommen, daß die gleichen Gesetze, die für das Kapital gelten, umstandslos auf den Staat angewandt werden. So bei Altvater, wenn er behauptet, die Grenze der vom Staat zu verausgabenden Bildungsgelder sei nach der einen Seite auferlegt „durch die Folgen einer Wertsteigerung der Ware Arbeitskraft für den Verwertungsprozeß" 26; und bei Huisken26, wenn er die Grenze gezogen sieht durch „das Interesse des Kapitals, ,ökonomische Hörigkeit' zu erhalten". Bei beiden wird kein Weg gewiesen zur Untersuchung und Beurteilung der möglichen Bildungsausgaben im Verhältnis der einzelnen Haushalte des Staates zueinander und deren jeweilige Funktion im System, die Grundlage wäre für gewerkschaftliche bildungspolitische Forderungen. Indem er die „Knappheit der Ressourcen", welche doch wohl auch ein Merkmal sozialistischer Gesellschaften ist, als Ergebnis kapitalistischer Formbestimmtheit ausgibt, erscheint es bei Huisken sogar so, als ob nicht-kapitalistische Gesellschaften einen 21 Vgl. etwa Kurt Steinhaus: Probleme der Systemauseinandersetzung im nachfaschistischen Deutschland, in: BRD — DDR. Vergleich der Gesellschaftssysteme. Köln 1971, S. 402 ff. 22 Altvater und Huisken, Einleitung, a.a.O., S. XXIII. 23 Huisken, Zur Kritik bürgerlicher Didaktik, a.a.O., S. 338. £4 „Sie (die staatliche Bildungspolitik, F. H.) kann nicht mehr als bloße Erfüllungsgehilfin kapitalistischer Interessen oder als irgendwelchen Sachzwängen gehorchende effizienzgewährleistende Maßnahme verstanden werden, sondern als politischer Ausdruck der Widersprüche der kapitalistischen Reproduktion überhaupt. Sie dient also nicht bloß kapitalistischen Interessen, sondern erschwert zugleich auch die Kapitalverwertung, indem der Wert der Arbeitskraft gesteigert, der Mehrwert und vermittelt auch die Profitrate gesenkt werden." (Altvater und Huisken, Einleitung, a.a.O., S. XII.) Vgl. auch ebenda, S. XVI. 25 Altvater und Huisken, Einleitung, a.a.O., S. XXII. 26 Huisken, Zur Kritik bürgerlicher Didaktik, a.a.O., S. 337. (57)

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unbeschränkt großen Teil des gesellschaftlichen Reproduktionsfonds für die Ausbildung ausgeben könnten. Nach der Darlegung des Verhältnisses von Ausbildung, Kapital und Staat, die zweifellos jeder Analyse des Bildungsbereichs vorangehen muß — um aufgrund der Kenntnis der bewegenden Kräfte deren Zielsetzung sowie die darin enthaltenen Möglichkeiten, fortschrittliche Bildungsinhalte zu befördern, richtig erarbeiten zu können —, endet die Analyse von Altvater und Huisken eigentümlicherweise; d.h. alle weiteren Arbeiten sind nurmehr Bestätigungen der vorher dargelegten Zusammenhänge. Wo die eigentliche Arbeit der Analyse der Vorgänge im Bildungsbereich erst beginnen müßte, sind für Altvater und Huisken die Antworten bereits gegeben. Der Grund hierfür könnte zugleich eine der Ursachen für den großen Anklang sein, den diese Arbeiten insbesondere innerhalb der Neuen Linken, aber auch unter Liberalen gewonnen haben. Grund ist ein — trotz aller ökonomisch-historischen Ableitung und Berufung auf Marx — ganz und gar moralisches Verständnis von Kapitalismus. Auf alle Fragen wird als Sdilußantwort, die weitere Untersuchungen überflüssig macht, der Hinweis gegeben, daß und warum etwas im Interesse des Kapitals geschieht. Auf dessen Seite stehen die zu bekämpfenden Mächte des Bösen; und im Namen des bürgerlichen Individualismus, dem es vor Vermassung graust — wie er zuletzt am klarsten von der als Frankfurter Schule bekannten „kritischen Theorie" ausgesprochen wurde —, wird folgerichtig befürwortet, was „noch nicht" kapitalistisch, und in alter Frankfurter Weise beklagt, was „nicht mehr" der heilen Vergangenheit angehört. Bei Altvater schillern die Sätze zwischen richtigen ökonomischen Bestimmungen und Frankfurter Klage, so daß der moralische Protest sich im Grunde mehr als Gesamteindruck ergibt und nicht so sehr in einzelnen Sätzen zum Ausdruck kommt. So heißt es etwa: „Die Bildungsökonomie ist daher nichts anderes als Ausdruck dafür, daß Bildung oder Ausbildung gar nicht mehr ins Belieben der Individuen gestellt sein können" 27 — eine Formulierung, die sicher richtig ist, was den Aspekt der notwendigen Planung der Arbeitskräftestruktur angeht, gleichzeitig aber unterstellt, daß irgendwann einmal Bildung wirklich nach dem Belieben der Individuen angeeignet werden konnte. ^Indern auf die Analyse von Inhalten gänzlich verzichtet wird, bekommen die Aussagen etwas seltsam Formalistisches. Altvater kommt etwa zu dem Schluß, daß die Qualifizierimg des Arbeiters im Kapitalismus, da sie Mittel zur Mehrwertproduktion ist, eigentlich „Qualifizierung des Kapitals" sei28. Eine Bestimmung, die nicht 27 Der historische Hintergrund des Qualifikationsbegriffs, in: Materialien, a.a.O., S. 78. 28 „Die Qualifikation wird somit tatsächlich zu einem Mittel zur Leistung konkreter Arbeit in einem kapitalistischen Produktionsprozeß, dessen Zweck in der Verwertung des vom Kapitalisten vorgeschossenen Kapitals beruht. Sie wird damit im kapitalistischen Produktionsprozeß zur Qualifikation für den Kapitalisten, nicht für den Arbeiter." (Der histori(58)

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so sehr falsch ist, als sie vielmehr vollkommen übersieht, daß sowohl die historische Rolle der Arbeiterklasse als auch — in anderer Weise — die Fähigkeit des einzelnen Arbeiters zur Einsicht in gesellschaftliche Zusammenhänge abhängen von ihrer Qualifikation, von dem, was sie positiv wissen und können. Kapitalismus wird nicht begriffen als jene Gesellschaftsformation, in deren Schoß die Keime für eine neue Gesellschaft, die Umwälzungsfermente bereits heranwachsen — also müssen sie auch nirgends gesucht, herausgefunden und unterstützt werden; Kapitalismus scheint für Altvater und Huisken in Wirklichkeit auch gar nicht widersprüchlich — trotz vieler gegenteiliger Versicherungen —, sondern was als „im Kapitalinteresse" geschehend diagnostiziert werden kann, ist damit als im ganzen bekämpfenswert befunden. So zieht sich als außerordentlich negativ gemeinte Bestimmung durch sämtliche Texte, daß „Ausbildung Heranbildung von Arbeitsvermögen" ist. Welche bestimmten Fähigkeiten für die konkrete Arbeit ausgebildet werben, wie die Arbeit und mit ihr die notwendigen Qualifikationen sich verändern, zu was die Menschen befähigt werden, interessiert nicht. Wo doch darüber reflektiert wird, geschieht es wie bei Altvater in seinem Aufsatz „Über den historischen Hintergrund des Qualifikationsbegriffs" 29 . Hier beschreibt er die zunehmende Verwandlung der konkret-nützlichen Arbeit von individuellem Geschick in bloße Verausgabung von Muskel, Nerv, Hirn und Hand — also den Prozeß der Entspezialisierung konkreter Arbeit — durch die Große Industrie. Da Marx zudem angibt, daß diese Weise zu produzieren die dem Kapitalismus am meisten entsprechende sei, kommt Altvater, der — wie schon oben ausgeführt — Kapitalismus nicht als Bewegung und Prozeß, sondern als festgefrorene Eigenschaft begreift, zu dem widersprüchlichen Ergebnis: konkrete Arbeit im Kapitalismus ist immer abstrakt. „Es ist also nicht etwa so, daß in bezug auf den Doppelcharakter der Arbeit die konkrete Seite als Naturbedingung der Produktion gegenüber der gesellschaftlichen Formbestimmtheit der Produktion gleichgültig bliebe; vielmehr impliziert die Leistung abstrakter Arbeit zur Produktion von Werten, und das heißt im Kapitalismus: zur Produktion von Mehrwert, also von Kapital, gerade die Veränderung konkreter Arbeit und damit auch der konkreten Qualifikationen eines Arbeitsvermögens, dessen Gebrauch gerade den Kapitalisten interessiert." 80 Tatsächlich wird hier als einmaliger Sündenfall geschildert, was Marx als die „revolutionäre" 81 Basis der Produktion bezeichnete — dies durch sehe Hintergrund des Qualifikationsbegriffs, in: Materialien, a.a.O., S. 83.) Vgl. auch ebenda, S. 85. 29 Ebd., S. 78 ff. 30 Ebd., S. 83. 31 „Die moderne Industrie betrachtet und behandelt die vorhandene Form eines Produktionsprozesses nie als definitiv. Ihre technische Basis ist daher revolutionär, während die aller früheren Produktionsweisen wesentlich konservativ war." MEW 23, S. 511 f. (59)

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eine einfache Verwechslung von Mittel und Effekt. Denn nicht die Produktion von Mehrwert verändert unmittelbar die konkrete Arbeit — ob ich unter dem Diktat eines Kapitalisten nähe oder als freier Schneider, ändert an der Tätigkeit des Nähens zunächst nichts —, sondern der Verwertungstrieb treibt die Entwicklung der Produktivkräfte voran, wodurch die konkrete Arbeit— nämlich durch die Veränderung von Arbeitsmittel, Arbeitsgegenstand und Produkt — verändert wird. Dies geschieht fortwährend. Deshalb müssen die Kategorien zur Beschreibung der Arbeit unter den Bedingungen der Großen Industrie in der Mitte des vorigen Jahrhunderts auf die heutige Arbeit nicht notwendig zutreffen, wiewohl der Kapitalismus beibehalten wurde. Nachdem nun Altvater eine allgemeine Entspezialisierung konkreter Arbeit zurück bis auf die bloße Verausgabung von Muskel, Nerv, Hirn und Hand — also auf Kräfte, die dem Menschen, so wie er geht und steht, eignen — als ewiges Kapitalgesetz festgestellt hat, bleibt rätselhaft, wieso dann zunehmend komplizierte Ausbildungsgänge notwendig werden, eine Tatsache, die auch von Altvater konstatiert wird. Auch die weiter oben zitierte Aussage, daß mit „der Verwissenschaftlichung der Produktion . . . entsprechend qualifizierte Arbeitskräfte in genügend großer Zahl notwendig sind" 82 bleibt folgenlose Phrase, da mit der begrifflichen Festschreibung der Produktionsweise der Großen Industrie eine qualitative Veränderung ohnehin ausgeschlossen ist. Nach Altvaters bisheriger Argumentation ist es hingegen konsequent, sich rasch ~ wie er dies auch tut — der Dequalifizierungsthese von Kern und Schumann88 anzuschließen: „Nicht nur, daß die jeweilige Qualifikation dem Arbeiter bereits im Produktionsmittel, an das er gesetzt wird, materialisiert (und das heißt als ideelle Anforderung) entgegentritt und ihn lebenslang beherrscht — ganz entsprechend dem Prozeß technischer Veränderung der »Arbeitsgegebenheiten4 (was dies für die Qualifizierung bedeutet, wird noch zu beschreiben sein) —, sie wird auch im Maschinensystem reduziert, was ihre technische Seite anbelangt (Dequalifikation im breiten Umfang bei gleichzeitiger Herausbildung einer Spezialistenschicht), und erweitert, was ihre unmittelbar, prozeßunabhängige Seite4 anbelangt."84 32 Altvater und Huisken, Einleitung, a.a.O., S. XII. 33 Eine empirische Forschungsarbeit unserer Projektgruppe „Automation und Qualifikation", in der u.a. die Thesen und Ergebnisse von Kern und Schumann widerlegt werden, wird zur Zeit durchgeführt. In Kürze erscheint der erste Band dieser Arbeit mit dem Titel „Genese und Perspektive der Automation in der BRD". 34 Altvater, Der historische Hintergrund, a.a.O., S. 90. — Der Begriff „prozeßunabhängig" wird bei Kern und Schumann verwandt zur Charakterisierung der zunehmend erforderlichen „Fabriktugenden" — Einstellungen und Haltungen —, um sie getrennt von unmittelbar tätigkeitsbezor genen Qualitäten beschreiben zu können. Daß die Trennung nicht haltbar ist, wird auch bei Altvater notiert. (60)

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Nachdem so die Tatsache, daß sie unter dem Verwertungsinteresse geschieht, als hinreichende Charakterisierung für die konkret-nützliche Arbeit betrachtet wird, ist zudem der notwendige analytische Weg versperrt, bei den Ausbildungsgängen die ausschließlich nur dem Kapitalismus geschuldeten Teile — im wesentlichen Strategien der Systemintegration —, die in die einzelnen „fachlichen Gebiete" hineingemischt sind, wieder herauszulösen. Der oben gegebene Verweis auf die „prozeßunabhängigen Qualifikationen" hilft hier auch nicht weiter; im Gegenteil zeigt sich im Fortgang, daß Altvater (ebenso wie Kern und Schumann) der Meinung ist, daß „Regelmäßigkeit, kasernenhafte Disziplin, »Verantwortung'", also das, was Marx die Fabriktugenden nannte, nicht nur genetisch einer Produktionsweise entstammen, die unter kapitalistischen Verhältnissen ihren Anfang nahm, sondern an sich als formbestimmte Qualitäten aufzufassen sind. So beschließt er seinen Aufsatz „über den .historischen Hintergrund des Qualifikationsbegriffs" mit dem Hinweis, daß diese „Qualifikationselemente, . . . von der Maschine in ihrer Form als Kapital wohlgemerkt dem Arbeitsprozeß und seinen Bestandteilen, den Arbeitern aufgeherrscht werden . . . sie können nur so (als prozeßunabhängig, F. H.) erscheinen, wenn sie so sehr im Ausbildungsprozeß sozialisiert und von dem Arbeiter verinnerlicht worden sind, daß sie als selbstverständlicher Bestandteil der Individualität des Arbeiters und nicht mehr als Produkt des Kapitalverhältnisses erscheinen" 85. Soll damit der Schluß nahegelegt werden, daß also „sozialistische" Maschinen die Möglichkeit zu Unregelmäßigkeit, Disziplinlosigkeit und Unverantwortlichkeit bei ihrer Handhabung einschließen müßten? Die einseitige Verbindung der Fabriktugenden mit dem Kapitalismus wird auch belegt durch folgendes Zitat aus der Einleitung zu den „Materialien": „Auf der anderen Seite werden im Ausbildungsprozeß auch Dispositionen zur Unterwerfung unter die ,Sachzwänge' der Berufspraxis erzeugt, die später bei der Anwendung des ausgebildeten Arbeitsvermögens für die wertbildende Potenz (durch Arbeitseifer, Pünktlichkeit, Unterwerfung usw.) der Arbeit von größter Bedeutung sind. So erklärt sich auch das Interesse von Formen und Inhalten der Ausbildung aus Momenten im Kapitalverwertungsprozeß." 86 Altvater interessiert sich weniger für die „Inhalte der Ausbildung", ein Mangel, der ihn wohl auch verleitet, die sogenannte Trennung von Bildung und Ausbildung als „zweckfreie und zweckhafte", „konsumtive und investive", zur „Begründung von Autonomie und von Heteronomie des Individuums" weitgehend unkritisch aus der bürgerlichen Theorie zu übernehmen und den ganzen Prozeß mit der „Entwicklung und Entfaltung des Kapitalverhältnisses" 87 zusammenzubringen. Statt auszugehen von der Teilung der Arbeit und der Trennimg der Hand- von der Kopfarbeit, die unschwer die Inhalte 35 Materialien, a.a.O., S. 90. 36 Materialien, a.a.O., S. XXIII. 37 Altvater, Der historische Hintergrund, a.a.O., S. 78. (61)

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des als Bildung bezeichneten Komplexes als Ausbildung für die Tätigkeiten der herrschenden Klasse (Planung, Leitung, Justiz, Verwaltung, ideologische Integration usw.) hätte erkennen lassen, konstruiert Altvater Einheit und Trennung der beiden Sphären als jeweiliges Resultat gebrauchswert- oder tauschwertorientierter Produktion: „Solange die Produkte der Arbeit noch nicht als Waren für den Markt produziert Werden, sondern für den unmittelbaren individuellen oder gemeinschaftlichen Gebrauch, sei es zur Konsumtion, sei es zur Produktion neuer Güter, ist noch die Einheit von Arbeit und Arbeitsprodukt, von Produktion und Gebrauch gegeben. Eine Spaltung der Qualifikation in Bildung und Ausbildung oder in eine konsumtive und eine produktive Seite würde hier absurd sein. Bildimg und Ausbildung fallen zusammen und Produktion und Konsumtion sind nicht voneinander als Sphären, die durch Zirkulationsbewegungen von Waren und Geld erst vermittelt werden können, getrennt. Sie sind jeweils Momente des gesellschaftlichen Stoffwechsels mit der Natur." 88 Wiewohl die Teilung der Arbeit, welche Voraussetzung ist für die verschiedenartige Ausbildung, die in der Folge dann als „Bildung" und „Ausbildung" auftritt, voraussetzt, daß nicht alles, was produziert wird, auch vom Produzenten konsumiert wird und umgekehrt, sind doch die Gesetze der Tauschwertproduktion davon völlig verschieden. Und so wenig etwas wie „Bildung" je bloß „konsumtiv" war, so wenig stehen „Bildung und Ausbildung" „widersprüchlich zueinander"; denn etwa Juristen und Schlosser scheidet kein Widerspruch voneinander und auch nicht der Gegensatz von Produktion und Konsumtion, sondern eine — gewöhnlich durch die Herkunft ermöglichte — verschiedene Ausbildung, die beide in unterschiedener Weise für das Gesamtsystem des Kapitalismus nützlich macht, den einen als „Nährstand" gewissermaßen von der Substanz her, den anderen als „Wehrstand", als Wahrer bestimmter transitorischer Verhältnisse. Auszugehen von einer Einheit von Produktion und Konsumtion für die Nicht-Getrenntheit von Bildung und Ausbildung, führt perspektivisch nicht nur zurück, zum „autarken Bauernhof", sie verhilft 38 Altvater, Der historische Hintergrund, a.a.O., S. 79. Etwas später heißt es: „Indem also die Arbeit in der warenproduzierenden und erst recht in der kapitalistischen Gesellschaft doppelten Charakter erhält als konkrete, nützliche Arbeit zur Herstellung von Gebrauchswerten und als abstrakte, wertbildende Arbeit, erlangt die Qualifikation, die die Arbeit erst unter bestimmten objektiven Produktionsbedingungen möglich macht, den Charakter als .Investition', als Ausbildung. Bildung und Ausbildung können sidi erst unter diesen Bedingungen voneinander scheiden und sich widersprüchlich zueinander stellen." (A.a.O., S. 84.) „Die Arbeit als Gebrauchswert des Kapitals selbst kann dies nur sein vermöge konkreter Qualifikationen, die erst dem Kapital zu diesem seinem Gebrauchswert verhelfen. Aus dieser Eigenschaft von Arbeit im Kapitalismus resultiert der dichotomische Bildungsbegriff; die Diremtion von Bildung und Ausbüdung ist nichts anderes als Abklatsch des doppelten Charakters der Arbeit" (A.a.O., S. 85.) (62)

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Altvater auch zu der oben kritisierten Ableitung der konkretabstrakten Arbeit, die ihn vor der Beschäftigung mit den wirklichen Arbeitsanforderungen und den wirklichen Ausbildungsgängen bewahrt. Dadurch kann ihm auch entgehen, daß immer größere Teile der historisch zum Komplex Bildung zu zählenden Fähigkeiten — wie etwa: Kritikfähigkeit, Denken in größeren Zusammenhängen, Urteilsfähigkeit, Planungsvermögen, Vorausschau u. a. m. — in die allgemeine Ausbildung der Produzenten Eingang finden. Bei Huisken, der sich auch in der Terminologie weiter von Marx entfernt hat zugunsten des Frankfurter Jargons, wird die totale Negation der unter wirtschaftliche Interessen subsumierten Lernprozesse noch deutlicher: „Durch den Anspruch der Steuer-, Planund Kontrollierbarkeit des gesamten Unterrichtsprozesses wird das Lernen selbst zum Prozeß der Herrschaftsausübung, wobei die Herrschaftsinstanz, d. h. die Instanz, die Entscheidungen fällt und ihre Durchführung betreibt, hinter der glatten Zweckrationalität des effektivierten Prozesses verborgen bleibt." 89 Daß überhaupt geplant, gesteuert, kontrolliert wird, daß Lernen effektiviert 40 wird, scheint ihm hinreichendes Ve'rdammungsurteil zu sein. Dieser ungerichtete Protest gegen die Versuche gesellschaftlicher Planung überhaupt -— der auch große Teile der studentischen Linken bestimmte — könnte selber Produkt planungsfeindlicher Erziehung sein — Erziehung zur Übereinstimmung mit den anarchischen Freiheiten des Marktes. So richtig und nachlesenswert bei Huisken im einzelnen die Referate über die verschiedenen Schulen der Bildungstheorie und -Ökonomie und die jeweilige Zuordnung zum Wirtschaftswachstum, zur Arbeitsplatzstrüktur und zum Bedarf an qualifizierten Arbeitskräften sind, so endgültig scheint ihm der Abstieg ins Negative nachgewiesen durch ein Etikett wie „Dienstbarmachung für die Interessen der Wirtschaft" 41 . Indem er zudem eine „Bildung als Bürgerrecht", als eine von den Anforderungen der Arbeit offenbar freie Bildung durch diesen Vorgang bedroht sieht, wird vergessen, daß das bürgerliche Recht auf Bildung einherging und einhergehen mußte mit massenhafter proletarischer und bäuerlicher Unbildung, daß der Kapitalismus als Prozeß zunehmender Vergesellschaftung der Arbeit zugleich mit der „Unterwerfung der Ausbildung unter die wirtschaftlichen Interessen" überhaupt eine Ausbildung für große Teile der Bevölkerung erst ermöglicht, weil erfordert hat. Dieser Prozeß ist noch nicht abgeschlossen. „Je höher das »wirtschaftliche Niveau* eines Landes ist, desto weniger knapp sind die Ressourcen, die der Staat für das Bildungswesen aufwenden kann, und desto eher ist es möglich, Postulate wie 39 Huisken, a.a.O., S. 212. 40 Vgl. dazu Huiske/i, a.a.O., S. 217: „Erst im bildungsökonomischen Kontext wird somit der tatsächliche Hintergrund der gegenwärtigen didaktischen Konzeptionen, ihrer Depravation zur Technik der Effektivierung von Unterricht und Schule deutlich." 41 Vgl. Huisken, a.a.O., S. 215 ff. (63)

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das Bürgerrecht auf Bildung' zu realisieren. Solange jedoch die Ressourcen (öffentliche Mittel für das Bildungswesen) knapp sind, gilt es primär die ökonomisch vom wirtschaftlichen Wachstum her begründbare Nachfrage nach Ausgebildeten zu befriedigen. D. h, unter den gegebenen Bedingungen von Mangel kann die Nachfrage nach Bildung der privaten Haushalte nur in dem Umfang und in der Art befriedigt werden, wie dies der optimalen Versorgung der Wirtschaft und anderer Abnehmerbereiche mit Arbeitskräften entspricht. Und dies heißt letztlich, daß die nach den Gesetzen der Profitmaximierung unter den Bedingungen nationaler und internationaler Konkurrenz sich entwickelnde Arbeitsplatzstruktur der Privatwirtschaft die Nachfrage nach ausgebildeten Arbeitskräften weitgehend determiniert." 42 Durch die einseitige Verknüpfung der Knappheit der Mittel für die Bildung mit dem Kapitalismus und durch das Postulat produktionsunabhängiger Bildung als Bürgerrecht entgeht Huisken, daß etwa wesentlich für den Sozialismus die Freisetzung aller schöpferischen Kräfte des Menschen als „Springquell des genossenschaftlichen Reichtums" ist — und das heißt und kann nichts anderes heißen, als daß es der gesellschaftliche Arbeitsprozeß ist, der die Mobilisierung aller Fähigkeiten erfordert, und daß Bildung und Ausbildung sich danach richten. Nicht die Zuordnung der Ausbildung zu den Anforderungen aus dem Produktionsprozeß ist also das spezifisch den Kapitalismus Kennzeichnende und zu Verändernde, sondern die anarchische Form seiner Durchsetzungsweise, die nicht nur im großen die beständigen Krisen auf dem Rücken der Arbeiter austrägt, sondern auch in dem angesprochenen Bereich der Ausbildung gerade durch eine nicht vollzogene rechtzeitige Veränderung der Ausbildungsgänge eine Katastrophe für die einzelnen Produzenten heraufbeschwört. Millionen sind von permanenter Arbeitslosigkeit bedroht, weil ihnen die für den wissenschaftlich-technischen Fortschritt erforderlichen Kenntnisse fehlen — ihr altes Fachwissen ist wertlos geworden; Schulabgänger bekommen keine Lehrstellen, weil die notwendigen Ausbilder fehlen und weil die Ausbildungsgesetze und die in der Lehrzeit zu vermittelnden höheren Qualifikationen die Ausbildungszeit nicht mehr bloß zur profitlichen Sondereinnahmequelle für die Unternehmer machen usw. — So ließe sich eher formulieren, daß die nicht vollzogene Zuordnung der Ausbildung zu einem sich stets revolutionierenden Produktionsprozeß Merkmal kapitalistischer Produktionsverhältnisse ist als umgekehrt. Ausgespart wird bei Huisken also, daß eine Dichotomie von Arbeit und Bildung oder Ausbildung allenfalls als Entwurf bildungsbürgerlicher Theoretiker vorkommt und in Wahrheit weder je für die Allgemeinheit existierte, noch als sozialistische Utopie anzielbär wäre. Es bleibt das Ideal des materiell vermögenden „einzelnen". Eine ferne kommunistische Perspektive, bei der im allgemeinen gesellschaftlichen Uberfluß weder die Leistung des einzelnen die Konsumtion bestimmt, noch seine Bildung den Beruf, läßt sich angesichts der 42 Huisken, a.a.O., S. 216.

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großen weltweiten Armut wohl kaum kritisch gegen den Kapitalismus richten. Wo innerhalb des Kapitalismus Portschritt noch möglich ist und geschieht, werden auch seine Kritiker sich ihm nicht entgegenstellen. Und wenn konkrete Arbeit sich so verändert, daß die zu ihrer Ausführung erforderliche Qualifikation auf allen Ebenen Bildungsreformbemühungen hervorruft, die zumindest eine Verbreiterung der Ausbildung auf einen größeren Bevölkerungsteil anzielen müssen, ist es systemlogisch, daß gleichzeitig — gewissermaßen um den möglichen Überschuß an Wirkung wieder zu neutralisieren — vermehrte Anstrengungen der Systemintegration unternommen werden. — In diesem Zusammenhang wären auch die zunehmenden Berufsverbote f ü r linke Lehrer einzuordnen, da gerade f ü r die komplizierte Vermittlung von Fachwissen gepaart und vermischt mit Systembejahung gehorsame Diener als „Sinnvermittler" unabdingbar sind. — Dies jetzt als Kern der Reformbemühungen und Inhalt der Ausbildung selbst zu mutmaßen, ist zwar nach den Ableitungen Altvaters und Huiskens naheliegend, verunmöglicht jedoch eine angemessene gewerkschaftliche Bildimgspolitik, die in der Unterstützung und Verstärkung jener — durch die Anforderungen des Arbeitsprozesses gegebenen — Ausbildungsteile bestehen müßte und in der Abwehr der analytisch trennbaren Teile, die allein dem Ausbeutungscharakter des Prozesses geschuldet sind. Bei Altväter und Huisken folgt trotz einiger verbaler Kraftakte als allgemeine Strategie allenfalls, das ganze Bildungssystem zu bekämpfen, sich nicht näher damit zu befassen bzw. das Sich-$inlassen zu beschränken auf die Negation aller auf den Arbeitsprozeß rückführbarer Bildungselemente. Zwar heißt es etwa in der schon häufig zitierten Einleitung zu den Materialien: „Eine Kritik der technokratischen Schul- und Hochschulreform muß also an diesem Widerspruch (zwischen Notwendigkeit der Qualifizierung und Grenzen der Verwertimg, F. H.) ansetzen, um sich über die praktische Relevanz und Realisierbarkeit von Forderungen Klarheit zu verschaffen. Die bloße Denunziation von hinter den bildungspolitischen Maßnahmen stehenden Interessen reicht dazu beileibe nicht aus" 49 ; jedoch geben die folgenden Analysen keinen Hinweis, daß es mit diesem Appell ernst gemeint sein könnte 44 . Zwischen der Analyse als Antwort auf die Frage, warum und wie Kapitalinteressen und Ausbildung etwas miteinander zu tun haben, und einer den Klassenkämpfen entsprechenden vernünftigen Bildungspolitik klafft ein tiefer Graben, f ü r dessen Überschreitung Altvater und Huisken wenn nicht gar die Mittel versteckt, so doch keine bereitgestellt haben. 43 Materialien, a.a.O., S. XXIII. 44 Ohne daß eine Gruppenidentität unterstellt werden soll, lassen sich doch solche ultralinken Losungen wie etwa die des KSV „Kampf der kapitalistischen Ausbildung" — bei der keiner weiß, was eigentlich genau darunter zu verstehen ist — durchaus aus den Altvater/Huiskenschen Analysen ableiten. (65)

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IV. Über die Nutzlosigkeit marxologischer Gralshüterei — Kritik am Autorenkollektiv des VSA Unter diesen Voraussetzungen darf das Buch „Zur Kritik der Bildungsökonomie" 46 trotz des irreführenden Titels mit einiger Hoffnung auf praktischen Ausweg erwartet und gelesen werden. Nach einigen einleitenden Bemerkungen über den Stellenwert der Bildungsökonomie und Bildungspolitik, die das Autorenkollektiv den kritisierten Autoren einverständig entnimmt und in denen daher die dort ausgeführten z. T. recht fragwürdigen Einsdiätzungen 46 aufs knappste wiederholt werden, wird man zusätzlich enttäuscht. Denn es soll nicht die Analyse der genannten Autoren kritisch daraufhin überprüft werden, ob sie die Wirklichkeit richtig erfaßt, sondern das Autorenkollektiv stellt sich die Frage, ob „insbesondere die Erlanger Autoren" Marx richtig rezipiert haben; das geschieht allerdings unter phraseologischer Berufung auf „sozialistische Politik". Nun ist zwar die Rezeption vor allem der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie unabdingbare Voraussetzung für die Analyse der bürgerlichen Gesellschaft, jedoch kommt es dabei wohl nicht so sehr auf Buchstabentreue an als vielmehr auf adäquate Erkenntnis der Wirklichkeit. In der Folge erhält man einen längeren Nachdruck (teils zitierend, überwiegend referierend) aus dem Kapital von Marx und aus den Grundrissen, die man beide eigentlich schon im Bücherschrank hatte, durchsetzt mit Zitaten aus den Texten der kritisierten Autoren. Das Ergebnis des vom praktischen Interesse und praktischer Erfahrung vollkommen unberührten Vergleichs ausgewählter Texte zur Bildungsökonomie mit Schriften von Marx ist auf den ersten Eindruck 45 Autorenkollektiv: Zur Kritik der Bildungsökonomie. Diskussionsbeiträge zu Altvater/Huisken, MG Erlangen und Kanzow/Roth. Berlin 1974. 46 So findet sich z. B. kein Wort über die Widersprüche, die den gesamten Infrastrukturbereich prägen, wohl aber die Formel von den knappen Ressourcen. „Mit der Begründung knapper Ressourcen wurde jeder Schritt zur Reform des gesamten Ausbildungswesens blockiert." (A.a.O., S. 2.) — Es ist wohl überflüssig, an dieser Stelle noch einmal nachzuweisen, daß die Behauptung zudem falsch ist. Ein Blick in die Statistik zeigt beispielsweise, daß allein zwischen 1970 und 1973 die Ausgaben von Bund, Ländern und Gemeinden für das Bildungswesen um fast 70% stiegen, während der Gesamthaushalt im gleichen Zeitraum nur um 45% stieg. Zwar kann man richtig einwenden, daß ein immer größerer Teil solcher Ausgaben von der Inflation geschluckt wird — jedoch lassen solche Angaben, wie die Steigerung der Bildungsausgaben am Gesamthaushalt von 13,8 % (1970) auf 16 % (1973) bei absolut wachsendem Haushalt keinen Zweifel an der effektiven starken Erhöhimg der Ausgaben. Nimmt man dazu noch die Zahlen über das absolute und relative Anwachsen der Abiturienten (ihre Zahl wuchs von 24 000 im Jahre 1952/53 = 2,7% aller Schulabgänger — auf 107 000 im Jahre 1972/73 = 13,3 % der Schulabgänger laut „Blick durch die Wirtschaft" vom 26. 7. 1974), der Studenten, der Fachschüler, die Zunahme von Lehrern und Hochschullehrern etc., läßt sich zwar argumentieren, daß dies alles noch nicht genug sei, aber wohl kaum, daß es nichts ist (66)

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verwirrend bis unverständlich. Bei eingehender Überprüfung entdeckt man unterschiedslos durcheinandergemengt unnütze und bornierte Beckmesserei, gewolltes Mißverständnis, ausgesprochene Fehler, wo es die Kritisierten — etwa Altvater — mit Marx besser wissen, und einige richtige Hinweise, die aber leider im Meer angemaßter philologischer Gralshüterei verlorengehen. Mit keinem Wort wird versucht, dem Leser zu verdeutlichen, warum irgendeine Lesart von Marx praktisch wichtiger ist als eine andere. Man wird vielmehr genötigt, bestimmte Sachverhalte deswegen interessant und wichtig zu finden, weil Marx sie beim Namen nannte, statt umgekehrt Marx ein eingehendes Studium wert zu finden, weil und sofern er diese und andere Sachverhalte richtig erkannte. Die Handschrift erkennt man spätestens, wenn gegen Altvater fälschlich eingewandt wird, er habe „ein falsches Verständnis der entsprechenden Kapitel im Kapital, die keine historische Darstellung, sondern eine systematische Abfolge der Kategorien des spezifisch kapitalistischen Arbeitsprozesses beinhalten" 47 , und wenn entgegen aller Vernunft Altvaters Aufforderung, einiges über die Wirklichkeit auch aus den bürgerlichen Theorien „als verkehrtem Reflex" zu entnehmen, so lange hin- und herinterpretiert wird, bis krönend herauskommt, daß Marx ja eh schon alles geleistet hat: „,Rückwärts aufgerollt1 zu werden braucht die Oberfläche der bürgerlichen Gesellschaft nicht mehr, der »Begriff der inneren Notwendigkeiten1, der sich an der Oberfläche zeigt, ist mit der allgemeinen Analyse der kapitalistischen Produktionsweise — mit dem Kapital — gegeben. Dort sind von Marx sowohl die inneren Gesetzmäßigkeiten als auch deren allgemeine Erscheinungsformen an der Oberfläche der Gesellschaft abgeleitet, d.h. die verwirrende Oberfläche ist dechiffriert worden" 48 ; den Nachgeborenen bleibt nurmehr die Funktion von Hütern Marxscher Formulierungen. Das Verfahren dieser sich um das „Projekt Klassenanalyse" am Soziologischen Institut der Freien Universität Berlin scharenden Marxierer ist folgendes: Es kommen prinzipiell nur bei Marx verwandte Satzstücke, Worte und Sequenzen vor. Es wird nicht so sehr 47 Autorenkollektiv, Zur Kritik der Bildimgsökonomie, a.a.O., S. 36. — Bei Altvater und Huisken (Einleitung, S. XXIV) findet sich der Zusammenhang von Logischem und Historischem dagegen in seltener Klarheit wiedergegeben; dort heißt es: „Zweitens deutet sich in dem Heranziehen konkreter historischer Entwicklung auch an, daß die Kategorien des Kapitals im allgemeinen nicht nur begriffliche Abstraktionen, die sozusagen rein von einem zeitlosen Intellekt entfaltet werden können, sondern historische Kategorien sind, die eine historische Realität haben, bevor sie durch Abstraktion als Begriffe ideell die Wirklichkeit reproduzieren." — Zur Leugnung des Zusammenhangs von logischer und historischer Entwicklung vergleiche in dem genannten Buch des Autorenkollektivs die Fußnoten 26 und 27, S. 15 f.; ferner S. 41 und Fußnote 50, S. 22. Eine ausführliche Auseinandersetzung mit diesem Komplex führte Klaus Holzkamp, Die historische Methode des wissenschaftlichen Sozialismus und ihre Verkennung durdi J. Bischoff, in: Das Argument 84, 1974, S. 1 ff. 48 Autorenkollektiv, Zur Kritik, a.a.O., S. 17. (67)

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zitiert als vielmehr Marx imitiert. Der Effekt ist der, daß jene Leser, die Marx nicht kennen, ohnehin nichts verstehn, die MarxKenner aber allmählich eingeschläfert werden. Falls man doch einmal die Mühe sich macht, einen Satz genau zu durchdenken, stellt man durchweg fest, daß es sich um leere Wortaneinanderreihungen handelt, die zwar grammatisch stimmen, aber sonst keinen genau angebbaren Sinn haben. Die jeweiligen Fehler herauszulösen und zu verbessern, lohnt aber wiederum nicht, da sie zumeist konsequenzlos sind, Beweisstränge überhaupt nicht verfolgt werden. (Man vergleiche etwa hierzu die Seite 100 im Buch des Autorenkollektivs mit der Seite 377 im 1. Band Kapital von Karl Marx, MEW 23.) Dies wiederum liegt daran, daß die Autoren nichts im besonderen verfolgen, nicht den Fortschritt von Wissenschaft und Erkenntnis im Auge haben und auch dazu nichts beitragen, sondern einziges Motiv des Schreibens offensichtlich eine stagnante Rechthaberei auf der Grundlage eines angemaßten Marxbesitzes ist. Schon in der Fußnote 10, S. 10/11 werden Altvater und Huisken schulmeisterlich gemaßregelt, daß „die Ware Arbeitskraft . . . sich nicht gegen Lohn aus(tausche), sondern gegen Kapital, welches in der Hand des Arbeiters zu Lohn wird"; man ahnt, daß hier Altvater und Huisken — offenbar voreilig? — den Standpunkt des Arbeiters auf dem Markt einnahmen, weiß bloß leider nicht, warum das verkehrt sein soll. Zumal man gerade zuvor auch bei Altvater lesen konnte, daß Arbeitskraft sich gegen Kapital austauscht!49 Abgesehen davon, daß einem die sehr plastische und besondere Sprache von Marx vermiest zu werden droht, wenn sie immer wieder gebetsartig heruntergeleiert wird, ist es auch eine arge Zumutung, wenn man als Widerlegung der einfachen — auch von Altvater und Huisken richtig aufgeführten — Tatsache, daß ein Widerspruch besteht zwischen der Notwendigkeit, aus Profitgründen Ausbildung zahlen zu müssen und sie aus den nämlichen Gründen nicht zahlen zu wollen, endlose Ausführungen lesen muß über das Sinken und Steigen des Werts der Ware Arbeitskraft 50 . 49 Vgl. Fußnote 16 in diesem Text. 50 Um die mühsame Langeweile nachvollziehbar zu machen, ist es leider notwendig, einen größeren Passus zu zitieren; man wird sehen, daß alle Ausführungen zwar schülerhaft bemüht geradezu zwanghaft Marx wiedergeben, allerdings mit dem genannten Widerspruch im Kräftefeld um die Ausbildung wenig zu tun haben. „Die Revolutionierung des Arbeitsprozesses, welche sich niederschlägt in veränderten Qualifikationsanforderungen, kann in bezug auf die Mehrwertrate unterschiedliche Reaktionen hervorrufen: Erstens steigt der Wert 4er Arbeitskraft, wenn die Qualifikationen steigen [... hier folgt ein entsprechendes Marxzitat in der Fußnote, F.H.], in der Folge davon fällt die Mehrwertrate (hier vorausgesetzt: bei sonst gleichbleibenden Bedingungen) [lassen wir es dahingestellt, daß die höhere Qualifikation die Mehrwertrate nicht tangieren muß, da es unsinnig wäre, anzunehmen, erhöhte Qualifikation ginge in die Durchschnittsreproduktion ein, ohne gleichzeitig kompliziertere Arbeit zu leisten, F. H.]; zweitens sinkt der Wert der Arbeitskraft, wenn die Entwicklung der Produktivkräfte die Produktionszweige ergreift, die die (68)

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Der genannte Widerspruch ist plattgewalzt; Eingreifen und Funktion des Staates werden ebenso unerklärlich wie die forttreibenden Elemente von Entwicklung überhaupt. Folgerichtig behauptet das Autorenkollektiv ganz einfach — und selbstverständlich ohne Ableitung —, es sei ohnehin unmöglich, den „Ausbildungsbereich als allgemeine Produktionsbedingung der kapitalistischen Gesellschaft, die (das sagt der Begriff) grundsätzlich vom kapitalistischen Staat herzustellen sei, abzuleiten", dies sei allein Aufgabe „zeitgeschichtlicher Untersuchungen" 61. Jene Leser, die der langwierigen Argumentation über die Mehrwertrate gefolgt sind, in denen, wenn überhaupt etwas, bewiesen wurde, daß vermehrte Ausbildung logisch fast immer zur Erhöhung der Mehrwertrate führt, müssen sich jetzt eigentlich fragen, warum das Kapital nicht immer schon viel mehr Geld für Ausbildung bereithielt, verbieten sich aber sogleich solche Gedanken aus der Plattheit wirklichen Geschehens, um ferner in den kühnen Höhen reiner korrekter Gedanken sich aufzuhalten. So erfährt man zur Belohnung die „korrekte" Ausführung der „systematischen" Möglichkeit der einen Seite des oben genannten Widerspruchs: „Als allgemeines Ergebnis können wir nicht das Eintreten des Falls der Mehrwerte feststellen, sondern nur formulieren: wenn durch eine Steigerung der Qualifikationen der Arbeitskräfte auf gesellschaftlicher Ebene, die sich in einer Steigerung der Qualifikationskosten der Arbeitskräfte — damit in ihrem höheren Wert — widerspiegelt, weder durch eine Produktivitätssteigerung noch durch eine Steigerung der wertbildenden Potenz das Steigen des Wertes der Arbeitskräfte kompensiert werden kann, dann fällt die allgemeine Kate des Mehrwerts." 62 — Das allgemeine Ergebnis mehrerer Seiten angestrengten Marxisierens ist also praktisch sinnlos. Denn bekanntermaßen ist eine „Steigerung der Qualifikation der Arbeitskräfte auf gesellschaftlicher Ebene" eine Produktivitätssteigerung, so daß diese nicht im Nachsatz als fehlende „Kompensation" wieder herausgenommen werden kann; der praktisch nicht denkbare, wenn auch von müßigen Kopfarbeitern theoretisch vorstellbare Fall, daß Qualifikation und Produktivität der Arbeit auf gesellschaftlichem Maßstab auseinanLebensmittel der Arbeiterklasse betreffen [Fußnote als Erläuterung zum Begriff Lebensmittel, F.H.]; Ergebnis dieser Tendenz ist eine steigende Mehrwertrate; drittens steigt die wertbildende Potenz der höher ausgebildeten Arbeitskraft, wenn sie sich als komplizierte Arbeit im Produktionsprozeß bestätigen kann — dieses gilt nur, solange sich die höhere Qualifikation nicht verallgemeinert hat — [hier folgt als Fußnote ein Verweis auf eine Seitenzahl im Kapital, auf der nichts über die „wertbildende Potenz der höher ausgebüdeten Arbeitskraft" zu lesen ist, F. H.] in der Folge dieser Tendenz steigt der Mehrwert" usw. (A.a.O., S. 14 f.) 51 A.a.O., S. 12, Fußnote 12. Vgl. auch S. 116. — Diese Aussage wirkt allerdings nicht ganz so absurd, wie sie gemeint ist, weil außer dem Autorenkollektiv und der weiteren Gruppe niemand einen ausschließenden Gegensatz zwischen den beiden Auffassungen vermuten würde. 52 A.a.O., S. 15. (69)

Zum Streit um die Bildungsiökonomie 891 derfallen, würde wiederum keine Wertsteigerung der Arbeitskraft nach sich ziehen. Denn: vorgestellt etwa, daß alle Gärtner auf gleichem Produktivitätsstand wie bislang arbeiten, aber die Ausbildung von Professoren haben, ohne daß diese Qualifikation angewandt wird, könnten sie sich doch nicht auf dem Arbeitsmarkt entsprechend teuer verkaufen — die in ihnen steckende gesellschaftliche Arbeitszeit wäre daher vergeudet und berührte ihren Wert nicht. Völlig absurd scheint auch der Nachvollzug der Altvaterschen „Diremtion von Bildung und Ausbildung", bei der das Autorenkollektiv einverständig die seltsamsten Behauptungen des kritisierten Autors wiedergibt, um sich dann mit ganzer Kraft auf die von Altvater zitierte Stelle aus den Grundrissen über das „Abstrakter-Werden der Tätigkeiten in der Großen Industrie" zu werfen und schlicht zu behaupten, Marx meine dort gar nicht die konkrete Arbeit — die er ohne Zweifel sehr wohl auch meint. Altvater zitiert hier eine Seite aus den Grundrissen (S. 204 f.), in der es u. a. heißt: „Dies ökonomische Verhältnis — der Charakter, den Kapitalist und Arbeiter als die .Extreme eines Produktionsverhältnisses tragen —- wird desto reiner und adäquater, je mehr Arbeit allen Kunstcharakter verliert; ihre besondere Fertigkeit immer mehr etwas Abstraktes, Gleichgültiges wird, und sie mehr und mehr rein abstrakte Tätigkeit, rein mechanische, daher gleichgültige, gegen ihre besondere Form indifferente Tätigkeit wird; bloß formelle Tätigkeit oder, was dasselbe ist, bloß stoffliche Tätigkeit überhaupt, gleichgültig gegen die Form. Hier zeigt es sich dann wieder, wie die besondere Bestimmtheit des Produktionsverhältnisses, der Kategorie — Kapital und Arbeit hier — erst wahr wird mit der Entwicklung einer besonderen materiellen Weise der Produktion und einer besondren Stufe der Entwicklung der industriellen Produktivkräfte.. Das Autorenkollektiv zitiert diesen Passus (a.a.O., S. 23), um dann zu behaupten: „Altvater stützt sich bei seiner Argumentation fälschlicherweise auf die Grundrisse-Passage. Dort spricht Marx nicht davon, wie sich durch das Kapitalverhältnis die konkrete Seite der Arbeit verändert, sondern sein Thema ist die Gleichgültigkeit sowohl von seiten des Kapitals als auch von seiten des Arbeiters gegenüber der besonderen konkreten Form der Produktion" (a.a.O., S. 24). Und nach, weiteren längeren Ausführungen über konkrete und abstrakte Arbeit, Tauschwert, Gebrauchswert, Wert und Doppelcharakter der Arbeit heißt es: „Diesem Tauschakt der unterschiedlichen Waren muß ein Gleiches zugrundeliegen, damit die Waren quantitativ vergleichbar sind; dieses gemeinsame Gleiche ist der Warenwert, der durch die gleiche menschliche Arbeit als solche gebildet wird, unabhängig von ihrer je spezifischen konkreten Form. Eine ,Annäherung1 der beiden Seiten der Arbeit, worauf A./H.s Vorstellung hinausläuft, kann demnach solange nicht stattfinden, wie Waren produziert werden, die sich beim Austausch in ihrem Doppelcharakter bestätigen müssen." 68 53 A.a.O., S. 28. (70)

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Das Autorenkollektiv arbeitet hier also falsch, zumindest einseitig, minuziös und palmströmartig — unter Wiederholung sämtlicher Marxscher Ableitungen, die in diesem Zusammenhang irgendwie brauchbar sein könnten — heraus, daß konkrete Arbeit unter den Bedingungen der Warenproduktion niemals abstrakter werden kann! Dabei hätte ein Blick etwa in das Kapitel über Maschinerie und große Industrie im Kapital sie schon eines Besseren belehrt. Tatsächlich wird hier nämlich — sicher nicht zugunsten eines leichteren Verständnisses — der Begriff abstrakt für zwei unterschiedne Sachverhalte benutzt. Die Gleichheit, die den gleichen Begriff rechtfertigt, ist hergestellt dadurch, daß „abstrakt" in beiden Fällen meint: Unter Absehung von bestimmter (Kunst-)Fertigkeit. Bezugspunkt ist jedoch einmal die Wertform der Arbeit im Unterschied zu ihrer Naturalform, zum anderen das Schicksal der Naturalform, der nützlichen Arbeit selber. Diese letztere ist bestimmt durch den Nutzeffekt, durch Zweck und Resultat und entsprechenden Einsatz von Gegenstand, Mittel und Operationsweise. Umgekehrt ist abstrakte Arbeit nicht zu betrachten in bezug auf ihr produktives Verhalten zum Produkt — also qualitativ —, sondern nur als Verausgabung menschlicher Arbeitskraft, gemessen in Zeiteinheiten — also quantitativ. In dem von Altvater und dem Autorenkollektiv wiedergegebenen Zitat wird nun von Marx — wie Altvater richtig anführt — ein „Abstraktwerden" konkret-nützlicher Arbeit behauptet, bis hin zur bloßen Verausgabung von Kraft ohne Kunstfertigkeit. Dies wird als Prozeß dargestellt, der praktisch sichtbar macht, worauf es dem Kapitalisten schließlich ankommt, nämlich bloß auf die Verausgabung von Arbeit in der Zeitdauer. Dieses „Auf-den-Begriff-Bringen" des Kapitalismus ist notwendig, um beispielsweise die transitorische Notwendigkeit der kapitalistischen Gesellschaftsformation deutlich zu machen, da nur der Verwertungstrieb eine so vollkommene Zerlegung der Arbeit und damit inhumane Reduktion des Menschen auf ein organisches Anhängsel der Maschinerie — welche zugleich Voraussetzung für die Entwicklung derselben ist — herbeiführen konnte. Gleichwohl scheint die Verwendung des Begriffes „abstrakt" für die konkrete Arbeit nicht sehr glücklich zu sein, da dies leicht — wie bei Altvater geschehen — dazu führen kann, die beiden Seiten der Arbeit tatsächlich ineins zu denken. Dagegen ist kapitalistische Produktion, obwohl sie nur an der Vermehrung des Werts interessiert ist, bekanntlich zum Umweg über die Herstellung von Produkten gezwungen. Daher muß bei aller Veränderung der konkreten Arbeit ihre gebrauchswertbezogene Bestimmtheit erhalten bleiben. Die Entspezialisierung der konkreten Arbeit in Richtung auf eine; „abstrakte Tätigkeit" hat also mit der abstrakten wertbildenden Arbeit deshalb nichts zu tun, weil das Wie und Was der Produktion das Wieviel der in den Produkten dargestellten Werte nicht berührt. Wie weiter oben ausgeführt, sieht das Autorenkollektiv diese Schwierigkeit, verursacht sowohl durch Marxsche Formulierung sowie durch die tatsächliche Formveränderung der nützlichen Arbeit (71)

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gar nictyt, sondern beschlagnahmt einfach den Begriff „abstrakt" für die Wertgestalt. Einige dogmatische Wiederholungen Marxscher Lehren zum Wert, die schon oben angegebene Leugnung des Inhalts der Passage aus den Grundrissen sowie einige dunkle Andeutungen, daß „die Annäherung der beiden Seiten der Arbeit" durch die Warenproduktion verhindert werde (wohl also im Kommunismus erfolge?), helfen hier kaum weiter. Sie hätten statt dessen gegen Altvater kritisch einwenden müssen, daß heute nicht mehr unter den Bedingungen von 1850 gearbeitet wird — statt die Bedingunjgen wegzubeweisen — und daher weiterentwickelte Begriffe für die Bestimmung der konkreten Arbeit hermüssen, um im Anschluß die Verschärfung der Widersprüche als Resultat der Veränderung der technischen und menschlichen Basis der Produktion und ihrer Formbestimmtheit herauszuarbeiten. Diese Bewegung nämlich ist es, die Altvater entgehen muß, weil er die Bedingungen der Großen Industrie zwar richtig für Kapitalismusadäquat hält, aber fälschlich eine starre Beziehung zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen anzunehmen scheint. Da von solchen Überlegungen in der Kritik des Autorenkollektivs nichts zu lesen ist, muß auch das Ergebnis, daß Altvater zu Unrecht „die konkrete Arbeit in ihrer Veränderung schon dadurch (für) bestimmt (hält), daß er sie als spezifisch kapitalistisch formbestimmte bezeichnet"54, dank der falschen Behauptungen in der Ableitung und dank der fehlenden praktischen Konsequenzen irrelevant bleiben. Audi die im Ältvaterschen Text fehlenden und angeblich dort notwendigen Ausführungen über die Produktion des relativen Mehrwerts lesen sich, da das Autorenkollektiv nicht gut das Kapital komplett nachdrucken konnte und also auswählen mußte, höchst einseitig — dies insbesondere, wenn man die vielfältigen Faktoren bedenkt, die zur Analyse der Entwicklung der Produktivkräfte herangezogen werden müssen (z. B. die Rolle des Wettrüstens bei der Entwicklung der Automation66), wenn man endlich über die allerallgemeinsten Aussagen herauskommen möchte. Für das Autorenkollektiv stellt sich die Entwicklung der Produktivkräfte dar als beständiger Versuch des Kapitals, den Wert der Ware Arbeitskraft zu reduzieren. Dies kann zwar ein möglicher Effekt sein, ist jedoch keineswegs das Triebrad der Bewegung. Wörtlich heißt es: „Bei den Produktionsmethoden des relativen Mehrwerts wird zum Zwecke der Erhöhimg der Mehrwertrate bezogen auf eine gegebne Zeiteinheit (Arbeitstag), welche geteilt ist in notwendige Arbeit und Mehrarbeit — also auf der Grundlage der Produktion des absoluten Mehrwerts —, der Wert der Arbeitskraft gesenkt, indem durch Entwicklung der Produktivkräfte der Wert der für die Reproduktion des Arbeiters notwendigen Lebensmittel gesenkt und somit die für den Erhalt des Arbeiters notwendige Zeit des Arbeitstags ver54 A.a.O., S. 24. 55 Vgl. hierzu die Analyse in dem in Kürze erscheinenden Band „Genese und Perspektive der Automation in der BRD". (72)

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kürzt wird. (Man sieht die Kapitalisten förmlich zusammenhocken und sagen: „Wir müssen die Brotherstellung automatisieren, damit der Wert der Ware Arbeitskraft gesenkt werden kann, wir in allen Produktionszweigen weniger Lohn zahlen können und damit unsere Mehrwertrate steigern!" F. H.) Das Ergebnis ist eine höhere Mehrwertrate ohne Verlängerimg des Arbeitstags, also eine größere Exploitation der Arbeitskraft." 56 Die Marxwiedergabe ist nur scheinbar korrekt. Zwar wird oberflächlich, sozusagen nach außen hin, durch die Wortwahl des Marx-Dekor gezeigt, die Art der Aneinanderreihung jedoch und der Transport in einen anderen Zusammenhang ergeben eine falsche Wirkung. So verwechseln die Autoren auch noch an anderer Stelle Antrieb und Effekt 57 ; sie müssen dies tun, um, wie schon weiter oben ausgeführt, den Widerspruch, der in den Gesetzen des Kapitalverhältnisses selbst aufbricht und die Entwicklung desselben ist, zugunsten einer platt soziologistischen, von ihnen als „Systematik" bezeichneten „Dechiffrierung" von Strukturmerkmalen der bürgerlichen Gesellschaft negieren zu können. Nachdem auf diese Weise der dreizehnseitige Text von Altvater auf dreiundzwanzig Seiten verlängert wurde, widmen sich die Autoren einem weiteren Aufsatz von Altvater und Huisken 58 über produktive und unproduktive Arbeit. Der Bezug zur Büdungsökonomie ist zwar ein wenig fern, doch wird wenigstens darauf verwiesen, daß das, was unproduktiv bzw. produktiv heißen soll, je nach Standpunkt etwas Verschiedenes ist, um allerdings sodann selber den Standpunkt des Kapitals als objektiven Maßstab zu verabsolutieren 59. Nach diesem mühsamen Einblick in den Gral der Marxhüter scheint es nic^t ungerecht, sich weitere Lektüre zu ersparen; zumal auch die Kritik der Kritik, da ihr gewissermaßen vom Gegenstand die Methode aufgezwungen wird, nicht weniger mühsam zu lesen wäre und nicht einmal neue Erkenntnisse bringen würde. V. Zusammenfassende Thesen über die Widersprüche im Aüsbildungssektor und die Chancen gewerkschaftlicher Bildungspolitik Aus den hinter der Kritik durchscheinenden und auch zwischendurch eingefügten Bemerkungen soll zusammenfassend noch einmal der hier vertretene Standpunkt materialistischer Analyse und politischer Strategie im Ausbildungssektor vorgetragen werden. 56 A.a.O., S. 25. 57 Vgl. hierzu etwa: Zur Kritik, a.a.O., S. 32. 58 Die Kategorien produktive und unproduktive Arbeit im Rahmen der Reproduktionsbedingungen des Kapitals, in: Materialien, a.a.O., S. 228 ff. 59 Vgl. hierzu: a.a.O., S. 49 ff. Vielleicht empfiehlt es sich für die Erarbeitung der Gesetzmäßigkeiten im Ausbildungssektor, insgesamt nur mit den Kategorien „gesellschaftlich notwendige Arbeit", „Arbeit zur Erzeugung des gesellschaftlichen Reichtums" und „Arbeit, die für den Kapitalisten profitlich ist" zu arbeiten. (73)

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Ohne Zweifel ist es zunächst erforderlich, sich Klarheit zu verschaffen über das Verhältnis von Bildung, Ausbildung und Produktion unter den Gesetzen der Kapitalverwertung. Sind erst die Bewegungsgesetze des Kapitals bekannt, gilt als grundlegende Einsicht, daß in der kapitalistischen Gesellschaftsformation die Produktion wegen des Profits aufrechterhalten wird. Daher werden ständige Einsparungsversuche unternommen, die u. a. eine ebenso ständige Umwälzung der Produktivkräfte nach sich ziehen. — Alle Lehr- und Lernbemühungen, gleichgültig ob sie unter dem Namen Bildung oder Ausbildimg auftreten, können begriffen werden als Instandsetzung der Individuen für einen Teil der gesellschaftlichen Gesamtarbeit — sei es für eine Tätigkeit im Produktionsprozeß oder, wie im Fall der „ideologischen Stände", für die Tätigkeit der Erziehimg der Produzenten sowohl für die Produktion als auch für die Bejahung des Systems. Schon mit diesen wenigen Bestimmungen lassen sich die unterschiedlichen Bildungstheorien enträtseln als mehr oder weniger vermittelter Reflex der jeweils historisch geforderten Fähigkeit zur Bewältigung der Anforderungen aus der gesellschaftlichen Produktion, übersetzt in die Sprache scheinbar abgehobener Bildungsziele. Andersherum erlauben die Theorien selbst wieder — bzw. ihre Kenntnis — Rückschlüsse zu ziehen auf den Stand der Produktivkräfte und den des ideologischen Klassenkampfes. Ist aber die Ausbildung notwendige Befähigung für den Produktionsprozeß, so bewegt sie sich in jenem Kräfteverhältnis, das bestimmt wird durch den Widerspruch, der in den Kapitalgesetzen selbst seinen Ursprung hat, dem schon mehrfach erwähnten zwischen der Unlüst des Kapitals, vom Profit einen Abzug zugunsten der Arbeiterklasse machen zu müssen, und der Notwendigkeit, zwecks Aufrechterhaltung der profitbringenden Produktion dennoch ausbilden zu müssen. Zur Systemerhaltung ist also eine Ausdehnung jenes Bereichs vonnöten, in dem unter Beibehaltung des Kapitalismus gleichwohl nicht nach Profitgesetzen gehandelt wird. Diese Geschäfte besorgt der Staat. Nach den hier nur sehr skizzenhaft angeführten allgemeinen Zuordnungen scheint es einleuchtend, daß insbesondere zwei Bereiche jeweils aufs sorgfältigste analysiert werden müssen als Grundlage für jede fortschrittliche Politik im Bildungsbereich: Dies ist zum einen das Studium der Ausbreitung und des Niveaus der Produktivkräfte, um die erforderlichen Fähigkeiten für die fortgeschrittenste Technik auszumachen. Es ist hierbei nicht notwendig, daß alle Bereiche das oberste Niveau der Produktivkraftentwicklung erreicht haben; die Zahl muß nur genügend groß sein, um die allgemeine Schulbildung zu tangieren. Die Analyse erbringt die Einsicht in die jetzt schon gesellschaftlich mögliche und auch notwendige Ausbildung und deren Perspektive. Sie kann und muß von den Organisationen der Arbeiterklasse gegen den Widerstand des Einzelkapitals und durch Druck auf den Staat mit mehr als bloß morali(74)

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scher Fundierung durchgesetzt werden, wenn verhindert werden soll, daß die ganze Last des „moralischen Verschleißes" als Entwertung veralteter Qualifikationen die Arbeiterklasse treffen soll. Der bekannte Satz, daß ein zunehmender Widerspruch bestehe zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen im Kapitalismus, ist nicht leere Phrase. Denn unter den Bedingungen der Automatisierung rebellieren die Produktivkräfte gegen die Fesselung durch die Produktionsverhältnisse nicht nur auf großem Maßstab (in bezug auf die Masse der produzierten Güter, also Kapitaleinsatz und Absatzschwierigkeiten), sondern auch im Verhältnis Produktionstechnik — Arbeitsteilung — berufliche Qualifikation. Die Aufhebung der bornierten Schranken der alten Arbeitsteilung wird immer zwingender, bis hin zu den Vorboten der Aufhebung der Trennung von Kopfund Handarbeit, welch letztere mit der Klassenteilung einherging und -geht. Die notwendig werdende berufliche Qualifikation läßt das Fernziel der allseitig gebildeten Persönlichkeit als praktisches Produktionserfordernis erahnen. In dieser Situation werden zur Aufrechterhaltung der Klassenherrschaft, bei gleichzeitigem Versuch, den „neuen Produzenten" heranzuziehen, enorme Anstrengungen unternommen. So kommt es, daß eine Demokratisierung und qualitative Anhebung der Ausbildung f ü r viele sich abwechselt und eiilhergeht mit einem Berufsverbot f ü r Linke, mit verschärfter Reglementierung, mit fieberhafter Arbeit in den Werkstätten des „ideologischen Klassenkampfes von oben". Audi in der Bildungsökonomie sollten die Bemühungen der Wissenschaft —• so sie sich nicht partikularen Sonderinteressen verpflichtet weiß — Analysen liefern und Materialien f ü r eine gewerkschaftliche Politik im Bildimgsbereich. Aus den kritischen Überlegungen des vorgestellten Autorenkollektivs folgt f ü r eine praktische Politik — nichts; aus den Analysen von Altvater und Huisken folgt — wie oben ausgeführt — der allgemeine Kämpf gegen alle zum Produktionsprozeß gehörigen Ausbildungsinhalte sowie ein Eintreten f ü r eine „zweckfreie Bildimg" „als Bürgerrecht"; aus der hier empfohlenen Analyse des Standes der Produktivkräfte, der Untersuchung der konkreten Arbeit und der Qualifikationsanforderungen des automatisierten Produktionsprozesses folgt eine zwingende materialistische Fundierung f ü r Forderungen im Ausbildungsbereich, die als moralische Appelle zum Teil schon bekannt sind, eben weil sie auf der Tagesordnung stehen: so die nach der Verwissenschaftlichung des Unterrichts, welche die Verkleinerung der Klassen und eine bessere Ausbildung f ü r die Lehrer einschließt 60 ; die Forderung nach Verlängern der Schulpflicht, nach einer theoretisch fundierten breiteren Berufsausbildung, nach der Aufhebung der Kontrolle der Unternehmer im „dualen System"; nach neuen Lerninhalten, die weniger StoffVermittlung sind als viel60 Solche Forderungen liest man z. B. schon in dem 1971 veröffentlichten Buch von Carl-Heinz Evers u. a.: Versäumen unsere Schulden die Zukunft? Düsseldorf und Wien. (75)

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mehr Problemlösungen, selbständiges Denken, Kritikvermögen, Entfaltung schöpferischer Potenzen wie überhaupt das Lernen des Lernens beinhalten. — Konkret wird es möglich sein, aus der Analyse der Arbeitsanforderungen Ausbildungsplätze zu erarbeiten, die den vom Produktionsprozeß erforderlichen höheren Grad an Rationalität 61 aufklärerisch nutzen, als auch dem Überschuß an bloßer Systembejahung, in Gestalt des Antikommunismus und der Ausschmückung der Tugenden der westlichen Welt in immer verfeinerterer Technik, in den bestehenden Bildungsplänen entgegenwirken. Darüber hinaus ist der sich verändernden Stellung und Funktion des Staates größte Aufmerksamkeit zu widmen. Vorangetrieben durch die Entwicklung der Produktivkräfte, das Zusammenwirken von Mensch und Maschine im Produktionsprozeß, wird die Notwendigkeit von gesellschaftlicher Planung, von Verwissenschaftlichung der Politik als Fortschritt in der Menschheitsgeschichte immer dringlicher, derart, daß tatsächlich zunehmend von Staatsseite Planungsversuche gemacht werden, unter denen die Bildungsplanung nur einer von vielen ist. Ein solches Vorgehen in einer Klassengesellschaft bedeutet aber eine schärfere Zuspitzung der Widersprüche. Wo das gemeinsame Gesellschaftliche als prinzipielle Grundlage des gesellschaftlichen Plans kein Gemeinsames ist, werden Wissenschaft und gesellschaftliche Planung, gepreßt in den Dienst privater Sonderinteressen, zum zusätzlichen Unterdrückungsinstrument. Kündigt sich so einerseits der Fortschritt in Gestalt wachsender Planungsnotwendigkeit, der Notwendigkeit allgemeiner gesellschaftlicher Rationalität an, so zugleich die Reaktion in Gestalt privater Indienstnahme des gesellschaftlich Allgemeinen. In dieser Situation wächst zwar der kulturmoralische Protest liberaler Bürger, der im Namen der „Freiheit" sich gegen die Verfügung über den Menschen, gegen Berechenbarkeit, gegen den Plan richtet. Es ist dies das gleiche Potential, welches bislang zur Legitimierung der Anarchie der kapitalistischen Produktionsweise in Dienst genommen werden konnte. Diese Kraft geht zwar als systemstabilisierende Ideologie für die herrschende Seite verloren, jedoch zeigt sie sich im Protest gegen die Subsumtion unter die Kapitalgesetze im weiteren Sinn noch als resignativer und nach rückwärts gewandter Protest gegen die Kassierung der bürgerlichen Freiheiten. Nicht daß überhaupt geplant und verfügt wird, kann in Frage stehen* sondern in welchem Interesse, zu wessen Nutzen dies geschieht. 61 Die obengenannte empirische Untersuchung des Projekts „Automation und Qualifikation" kommt eindeutig — im Unterschied zu bisherigen, flach systemkritischen Arbeiten aus diesem Bereich — zu dem Ergebnis, daß eine höhere Qualifizierung der Produzenten unter automatisierten Bedingungen erforderlich ist und wird.

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Christof Ohm, Ilse Schütte und Gerhard Zimmer IST DIE BILDUNGSREFORM ZU ENDE? DIE VERBREITUNG VON RESIGNATION IN DER BILDUNGSREFORM DURCH MARTIN BAETHGE I, Einleitung Die zunehmende Zahl der Berufsverbote zur Verhinderung eines fortschrittlichen Unterrichts, das Abwürgen der an der Realisierung demokratischer Prinzipien orientierten Rahmenrichtlinien für den Schulunterricht in Hessen und Nordrhein-Westfalen, die permanente Verschleppung der Beruf sbildungsreform, der skandalöse Ausfall von Unterrichtsstunden angesichts zunehmender Lehrerarbeitslosigkeit, die enormen. Kürzungen im Bildungshaushalt von Bund und Ländern bei gleichzeitiger Erweiterung der Haushaltsmittel für die innere und äußere Sicherheit, die Verschärfung des Numerus clausus, - dies alles sind empörende Ereignisse, die innerhalb der demokratischen Bildungsreformbewegung Enttäuschung und Resignation auslösen müssen. In dieser historischen Situation fallen solche Theorien auf besonders fruchtbaren Boden, die zwar die zu demokratischen und antikapitalistischen Bildungsreformforderungen weiterentwickelten bürgerlich-humanistischen Bildungsideale nicht offen preisgeben, aber dennoch denresignativen Rück-^ zug aus dem R e formkampf vorbahnen und legitimieren, indem sie die unumschränkte Allmacht des Kapitals zu einem Zeitpunkt behaupten, an dem die Schranken unserer kapitalistischen Gesellschaftsordnung in der Bildungspolitik allgemein spürbar werden* Martin Baethge versuchte als erster bereits 1972 auf diesem Wege den Rückzug der gerade erst erstarkten demokratischen Bildungsreformbewegung, gestützt auf polit-ökonomisches Vokabular, theoretisch zu begründen(l) und leitete damit die bis heute andauernde "Desillusion!erungskampagne" ein(2)• Diese RückzugsSignale setzte er zu einem Zeitpunkt, als die jetzige Bundesregierung mit großen Bildungsreformprogrammen, die sie auf der Grundlage haushälterisch sparsamer Finanzpolitik zu realisiseren versprach, den Wahlkampf geführt und gewonnen hatte und es seitens der demokratischen Bewegung nun darauf ankam, aktiv die gegebenen Möglichkeiten aufzugreifen und zu nutzen» Baethges Argumente stehen im forlgenden beispielhaft zur Diskussion. Anhand ihrer Kritik sollen zugleich die Widersprüchlichen Bewegung in der Bildungsreformpolitik auf +

^Überarbeitete Fassung der Erstveröffentlichung in: Demokratische Erziehung, 1. Jg., 1975, Heft 6, S. 28-40. (77)

ihre praktischen Ursachen zurückgeführt und die Chancen einer demokratischen Bildungsreform skizziert werden. II« Negativbilanz der Bildungsreform Baethges Analyse der geschichtlichen Entwicklung des Bildungssystems und der seit Bildungsreformbeginn erreichten Portschritte auf dem Wege der Integration von Allgemeinund Berufsbildung - dem Kernstück der Bildungsreform gipfeln in der Schlußfolgerung: "Die Bildlingsreform wird vor ihrem eigentlichen Beginn zurückgeschnitten."(3) Er behauptet, daß sich trotz der boomartigen Entwicklung von Bildungsreformprogrammen, der Einrichtung von Gesamtschulen und der Durchführung von Modellversuchen zur Integration von allgemeiner und beruflicher Bildung an der Struktur des Bildungssystems in den letzten hundert Jahren grundsätzlich nichts geändert habe: "Zwar lernen Kinder heute auf den »Volks- -und Hauptschulen sicherlich mehr als noch vor hundert Jahren, an der Struktur des Schulwesens hat sich aber im Grunde wenig geändert ... die Forderungen etwa nach einer allgemeinen, technisch orientierten und gesellschaftlich kontrollierten Jugendbildung für alle bis zum l6. Lebensjahr, die schon seit 1850 von progressiven bürgerlichen Kreisen erhoben wurde, ist ... hundert Jahre später, immer noch ein nicht realisiertes Ziel."(4) Baethge räumt zwar ein, daß "die Arbeit und der gesamte gesellschaftliche Produktions- und Reproduktionsprozeß gleichsam 'abstrakter1 wird" und es daher "sicherlich zu einer Erhöhung des Bedarfs an wissenschaftlich qualifizierten Arbeitskräften einerseits und ... zu einer Verlagerung des Qualifikationsgrundstocks der Durchschnittsarbeitskraft" kommt, deren Qualifikationen zwar "nicht auf der Ebene von wissenschaftlicher Denkweise anzusiedeln" seien, sondern "die Erweiterung des Bestands an Elementarkenntnissen um die in der bisherigen Allgemeinbildung vernachlässigten Dimensionen der Technik und der gesellschaftlichen Arbeitsorganisation" (5) beträfen, er bezieht aber nicht ein, daß diese Quälifikationsentwicklung bereits ihren ersten, zeitlich verzögerten Niederschlag im Bildungs- und Ausbildungswesen gefunden hat. Gemessen am Ziel der vollständigen Integration beruflicher irnd allgemeiner Bildung sieht Baethge in der Einführung des 9. bzw. 10. Hauptschuljähres und des damit verbundenen Berufsbildung.sgrundjahr'es sowie der Einführung der Arbeitslehre in den Hauptschulen, der neuen Mathematik und des technisch-naturwissenschaftlichen Unterrichts in den Grundschulen nicht etwa erste struktureile und inhaltliche Reformen, die eine Bewegung in dieser Richtung darstellen, und an die es daher im Kampf um die Durchsetzung einer wissenschaftlich fundierten und polytechnischen Allgemeinbildving anzuknüpfen gelte, sondern nichts weiter als Stückwerk und Beweis für die unveränderte Fortdauer der alten Strukturen. Die bestehenden Konzepte und praktischen Versuche zur Integration von Allgemein- und Berufsbildung, wie etwa das (78)

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Integrationsmodell für die Sekundärstufe II des Deutschen Bildungsrates oder das integrierte Kollegstufenmodell in Nordrjiein-Westfalen als der "bisher umfassendste(n) Versuch der Integration von berufsbildenden und gymnasial-allgemeinbildenden Inhalten"(6), machen für Baethge deutlich, weil es sich bei ihnen erst um "Teilintegrationsförmen"(7) bzw. eine "partielle Integration"(8) handele, - "daß Integration unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen nicht erreichbar"(9) sei. Die Radikalität, mit der Baethge die Halbherzigkeit und den Stückwerkcharakter der Bildungsmaßnahmen aufdeckt, und die Schonungslosigkeit, mit der er etwa am Integrationskonzept des Bildungsrats kritisiert, "daß sich bereits auf der Ebene der Konzeptualisierung ein nicht benannter politischer Kompromiß vollzogen hat"(lO), sichern ihm breite Resonanz gerade bei den Teilen der demokratischen Bildungsreformbewegung, die die genannten Mängel im Bildungsbereich bereits als Mängel des Systepis erkannt und sich zu ihrer Bekämpfung durchgerungen haben. Sein Gestus schonungsloser Anklage scheint die Bereitschaft zum wirklichen Kampf zu signalisieren. Doch die Radikalität in der Entlarvung schlechter Zustände verbündet sich bei Baethge mit der Feststellung der Aussichtslosigkeit ihrer schrittweisen Verbesserung. Diesem Negativurteil verleiht er durch die spezifische Mischung von konkreten biXdungspolitischen Analysen mit politisch-ökonomischen Begründungsversuchen mehr Gewicht und Tiefe und verschafft sich Aufmerksamkeit bei jenen Teilen der antikapitalistischen Bildungsreformbewegung, die ihre politische Praxis nicht auf eine bloß moralische Protesthaltung gegenüber der Bildungsmisere, sondern auf eine materialistische Analyse der gesellschaftlichen Entwicklungstendenzen gründen wollen. III. Willkürliche Macht des Kapitals 1. Profitinteresse als Qualifikationsschranke. Die Behauptung, die Ausbildungsstruktur der Industriearbeiter habe sich in den letzten hundert Jahren nicht verändert, begründet Baethge damit, daß die "relative(n) Stagnation der Qualifikationen der Arbeitskräfte im Produktionsbereich ... genau dem Gesetz des Kapitalverwertungsprozesses unter den Bedingungen relativer Mehrwertabschöpfuirg (entspricht) ..., das in der Diremption (Auseinanderklaffen) des in die Produktionsmittel eingegangenen Wissens (und damit des zu ihrer Entwicklung notwendigen Wissens) und der zu ihrer Bedienung erforderlichen Qualifikationen seinen bildungspolitischen Niederschlag findet"(ll). Diese "genaue Entsprechung" versucht er daraus abzuleiten, "daß der technische Fortschritt sich für den einzelnen Kapitalisten nicht oder zumindest sehr viel weniger lohnen würde, wenn er neben den erhöhten Investitionen in die Maschinen sich auch noch mit gravierenden Kosten für die Entwicklung der Arbeitsvermögen belasten müßte"(12). Einerseits tendiert das einzelne Kapital immer dazu, die Lohnkosten niedrig zu halten und insofern solche Maschinen bevorzugt einzusetzen, die möglichst niedrige Qualifika^ tionen brauchen - darin ist Baethge zuzustimmen. Anderer-

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seits ist das Kapital genauso bestreit, eine effektive Nutzung - volle Auslastung, pflegliche Behandlung etc. der eingesetzten Maschinerie zu erreichen. Dies erfordert den Einsatz entsprechend qualifizierter Arbeitskräfte. » Beide Bestrebungen können zueinander in Widerspruch geraten. So wurden z.B. anfänglich die NC-Maschinen von den Herstellern mit dem Hinweis angeboten, daß zur Bedienung der NC-Maschinen niedrig qualifizierte angelernte Arbeitskräfte genügen und somit Lohnkosten auch absolut gespart würden. Die Anwenderbetriebe entdeckten aber sehr bald, daß erst Facharbeiter mit Erfahrungen in der Metallzerspanung und einer entsprechenden Einarbeitung an der NC-Maschine eine ökonomische Nutzung der NC-Technologie gewährleisteten. Dieser Widerspruch gewinnt an Schärfe und Bedeutung, je mehr durch Mechanisierung und Automatisierung taylorisierte Arbeitsverrichtungen zu Teilfunktionen einer zunehmend komplexeren Maschinerie werden - abgesehen von abgespaltenen transitorischen Resttätigkeiten wie z. B. die der 'Feeder1. Da sich das Einzelkapital unter dem Druck der Konkurrenz, bei Strafe seines Konkurses, nicht der technischen Entwicklung der angewendeten Arbeitsmittel enthalten kann, sondern es im Gegenteil die Erzielung eines Extraprofits anzustreben gezwungen ist, wird es, wenn die technischen Notwendigkeiten eines insgesamt profitableren Produktionsprozesses dies erfordern, keineswegs mit Investitionen in die Qualifizierung der Arbeitskräfte zögern oder auf den Ankauf höher qualifizierter Arbeitskräfte verzichten dürfen. Wobei die beiden genannten Bestrebungen des Kapitals auf der jeweils erreichten technischen Entwicklungsstufe Optimierungsmöglichkeiten offen lassen. Die Erhöhung der Lohnkosten bzw. des Werts der Arbeitskraft zeitigt ihre Wirkungen als tendenziellen Abzug vom Profit erst im N ac hhinein als unbewußtes und ungewolltes Resultat der Jagd nach dem Profit.(13) Sobald allerdings der Anreiz des Extraprofits nicht mehr gegeben ist, weil inzwischen die neue Stufe der Produktivkräfte und der entsprechenden Qualifikationsanforderungen sich allgemein durchgesetzt hat und Profitminderungeneintreten, fordert das Kapital vom Staat die Übernahme mehr oder weniger großer Teile des notwendigen Aufwandes für das neue Niveau der Qualifikationen wie es gleichzeitig seinen eigenen Aus- und Fortbildungsaufwand zu minimieren bestrebt ist. So fordert das Kapital sowohl eine teilweise Erstattung seiner Qualifizierungskosten als auch eine Ausweitung und Veränderung des staatlichen Bildungsund Ausbildungswesens. Ist das Kapital dabei eher an einer kurzfristigen Behebung seiner Verwertungsschwierigkeiten interessiert, so liegt die Initiative zur langfristigen Sicherung der Reproduktionsbedingungen des Kapitals beim Staat. Er drängt daher viel eher auf eine entsprechende Ausweitung und Veränderung der staatlichen Bildungs- und Ausbildungsinstitutionen. Damit wird der Prozeß der Verallgemeinerung der notwendig geforderten Qualifikationen vorangetrieben. Das Kapital kann den gesellschaftlichen Produktionsprozeß nur profitlich ausbeuten, wenn es selbst oder der kapitalistische Staat den erforderlichen Qualifikationen der lebendigen Arbeit (80)

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Rechnung trägt, ohne die die Arbeitsgegenstände nicht entsprechend den Naturgesetzen in zweckbestimmte Gebrauchsgegenstände verwandelt werden können, die dann vom Kapital als Waren auf den Markt geworfen werden. Auch Baethge bestreitet nicht(l4), daß in den sechziger Jahren die Entwicklung der industriellen Produktion und vieler Dienstleistungsprozesse von der maschinellen zur automatischen Produktionsweise unter der Wirkung der Kapitalgesetze begonnen hat.(15) Die in der großen Industrie vorherrschenden Detail- und Routinetätigkeiten werden in der automatischen Produktionsweise zu Funktionen der Maschine und des Maschinensystems, vergegenständlicht in Steuerungsprogrammen und Regelkreisen. Die Automation verdrängt zwar den Menschen aus den unmittelbaren Produktionstätigkeiten, aber nicht aus der materiellen Produktion überhaupt. Im Kapitalismus führt diese Entwicklung allerdings, wie die nunmehr seit mehreren Jahren anhaltende Krise deutlich zeigt, zu verstärkter Arbeitslosigkeit und Kurzarbeit vor allem der niedrig qualifizierten Arbeiter und Angestellten statt zu einer allgemeinen Verkürzung der Arbeitszeit. Die neben dem Produktionsprozeß verbleibende notwendige Arbeit, die nur in enger Kooperation aller Beschäftigten vollziehbare Leitung, Kontrolle, Wartung und Instandhaltung, also die kooperative 'Beherrschimg1 des Produktionsprozesses, verleiht der menschlichen Arbeit eine völlig neue Bedeutung, die sich aber unter kapitalistischen Eigentumsverhältnissen nur in verstümmelter Form herausbildet.(16) Diese Entwicklung der gesellschaftlichen Arbeit läßt vermuten, daß sich unter den herrschenden kapitalistischen Eigentumsverhältnissen, wenn auch in gehemmter und bruchstückhafter und zum Teil gar pervertierter Form, dennoch die Aufhebung der alten Trennung zwischen Hand- und Kopfarbeit anbahnt, sich die geistig-schöpferische Tätigkeit der Beherrschung und Entwicklung der Produktion auf die Seite der Produzenten schlägt und von diesen daher höhere Qualifikationen verlangt. 2. Verabsolutierung hemmender Faktoren als Methode Derartige Entwicklungstendenzen werden aber von Baethge aufgrund seines methodologischen Ansatzes in Frage gestellt. In einer Vorstudie zu einer empirischen Untersuchung der Zusammenhänge von Produktion und Qaulifikation grenzen Baethge u.a.(17) ihren eigenen Untersuchungsansatz ab von der in "der gegenwärtigen Situation falschen Vorstellung, der Bildungssektor sei. in größerem Umfang zu autonomer Veränderung fähig" und von "der in unterschiedlichen Schattierungen vorgetragenen Auffassungj der Produktionssektor leite im Interesse der Sicherung seiner eigenen Dynamik eine durchgreifende Reform des Ausbildungsbereiches ein".(l8) In der Auseinandersetzimg mit anderen Ansätzen der. Bildungsforschimg gelangen sie, indem sie den Blick auf die unzulängliche Realisierung von Bildungsreformen richten, zu der Auffassung, daß "wirtschaftliches Wachstum und technischer Fortschritt, zumindest auf der gegenwärtigen Entwicklungsstufe der Produktionstechnik, in einem gewissen Umfang auch (81)

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ohne Qualifikationserhöhungen und Verbesserungen im Bilduftgssystem realisiert werden (können)"(19)• Es wird die These formuliert, daß in der privatwirtschaftlich organisierten Produktion "die Betriebe durch eine entsprechende Ausgestaltung sowohl der Produktionstechnik wie auch der Organisation industrieller Arbeit in der Lage sind, die Produktivkraft der Arbeit im wesentlichen auf der Basis des verhandenen Qualifikationspotentials zu steigern" (19a). Wird einerseits, mehr implizit formuliert, ein dynamischer, aber gleichwohl objektiver Zusammenhang zwischen technischer Entwicklung und Qualifikationserhöhung konstatiert, so wird andererseits unterstellt, daß aufgrund gegebener Machtkonstellationen das Kapital Produktionstechnik und Arbeitsorganisation und mithin die Qualifikationsstruktur seinen Interessen entsprechend gestalten und so den objektiven Zusammenhang außer Kraft setzen kann. Dementsprechend kommen sie in der Vorstudie zu ihrer empirischen Untersuchung zu folgender Konzeption: Es sind "die Faktoren im Produktionsbereich aufzuweisen, welche die Entwicklung des Ausbildungsbereichs hemmen"(20). Wie sollen aber überhaupt hemmehde Faktoren aufgewiesen werden können, wenn man nicht weiß, was für Ausbildungsinhalte bzw. Qualifikationen sich wie durchsetzen wollen? Die wenn auch nur in Ansätzen verwirklichten Reformen im Bildungs- und Ausbildung^wesen müssen allerdings von diesem Ansatz her als unbedeutend ignoriert werden. Auf der Suche nach den hemmenden Faktoren im Produktionsbereich werden diese zu absoluten Schranken jeglicher Entwicklung erhoben, statt sie als formationsspezifische und also transitorische zu erkennen. Dementsprechend wird konstatiert, daß zwar im vergangenen Jahrzehnt vereinzelt automatische Verfahren eingeführt worden seien, aber die kapitalistischen Verwertungsbedingungen so starke Automatisierungssperren darstellten, daß es "in absehbarer Zeit in der industriellen Fertigung und bei Bürotätigkeiten zentrale Bereiche geben (wird), deren Entwicklung weiterhin durch konventionelle Rationalisierungs- und Mechanisierungsverfahren bestimmt ist"(2l), somit eine weitere Verbreitung der Automation für fast ausgeschlossen gehalten wird. Aber nicht nur die anhaltende Dauerarbeitslosigkeit und der gegenüber früheren Krisen wesentlich höhere Anteil arbeitsloser Angestellter, sondern vor allem auch die vergangenen Tarifkämpfe in der Druck- und in der Metallindustrie zeigen im Gegenteil, daß sich die Automation immer mächtiger in allen Zweigen der Wirtschaft durchsetzt«(22) Zwar wird eine Anhängigkeit der Qualifikation von der Produktion nicht in Frage gestellt und mithin ein gesetzmäßiger Entwicklungszusammenhang implizit zugrundegelegt, aber dieser Zusammenhang wird als durch mächtige Interessen auflösbar vorgestellt. Es wird behauptet, daß die verwertungsbedingte Hemmung der Qualifikationsentwicklung deshalb möglich sei, weil das Kapital selbst bei sich entwickelnder Technik erstens "eine immer modifizierte Anpassung der Technik an das vorhandene Qualifikationspotential"(23) vollziehe und zweitens durch nachgeschobene arbeitsorgani(82)

' - 7 satorische Veränderungen den gestiegenen Qualifikationsbedarf wieder reduzieren könne.(24) Dementsprechend kann dann festgestellt werden, daß trotz expandierender Produktion und einer Erhöhung des Niveaus der Produktionstechnik das der- * zeitige Qualifikationsniveau und die derzeitige Struktur des Bildungs- und Ausbildungswesens beibehalten werden kann. (25) Die Entwicklungsperspektive des technischen Fortschritts und der Qualifikationen gerät damit insofern aus dem Blickfeld. als nicht mehr die Bedingungen und Notwendigkeiten, also die Gesetzmäßigkeiten der technischen und qualifikatorischen Entwicklung auch und gerade unter kapitalistischen Produktionsverhältnissen untersucht werden, mit denen "im Rücken" überzeugender grundlegende Reformen in Bildung und Ausbildung, Wirtschaft und Gesellschaft gefordert werden könnten, sondern dem mächtigen Interesse des Kapitals allein das Interesse der Arbeitenden entgegengesetzt werden soll; "allein durch eine neue, bewußte auf Höherqualifizierung ausgerichtete Zielsetzung bei der Gestaltung von Produktionstechnik und Arbeitsorganisation (wäre) eine ausreichende Basis für eine expansive bildungspolitische Prämisse zu schaffen."(26) Allein die Zielsetzung bleibt bloßes Wollen, wenn nicht die Elemente, die ihre Umsetzung in gesellschaftliche Wirklichkeit überhaupt erst ermöglichen, bereits als Notwendigkeiten der Entwicklung der herrschenden Produktionsverhältnisse erscheinen. 3. Willkürliche Veränderbarkeit der Technik Nach Baethge ist die Entwicklung der Technik von dem jeweiligen Arbeiterbild des Kapitals abhängig: "Der Taylorismus mit seinem Bild vom 'dressierten1 bzw. dressierbaren Arbeiter, dem eine möglichst repetive, zerteilte Arbeit adäquat sei, bei maximaler Ausschaltung des individuellen Einflußspielraums auf d^e zeitliche und inhaltliche Gestaltung von Verrichtungen ist keinswegs überwunden. Die Prinzipien der Arbeitsorganisation ebenso wie die Überlegungen, die in die Planung und Gestaltung der zukünftigen Arbeitsplätze, in die Konstruktion der technischen Apparatur, d.h. in die Realisierung der Produktionstechnik selbst eingehen, orientieren sich wesentlich an einem Arbeiterbild, dem es soweit wie möglich Dispositionsspielraum und Autonomie bei Ausübung seiner Arbeit zu entziehen gilt."(27) Baethge und Schumann ist hier zunächst zuzustimmen: Da das Kapital - repräsentiert durch eine immer kleinere Zahl von Eignern - Tag für Tag den Produzenten die von ihnen geschaffenen Werte enteignet und ihnen das Recht auf Selbstbestimmung über das Was und Wie der Produktion nimmt, muß es, solange es existiert, an der Nichtentwicklung von Produzentendemokratie, also an der Unmündigkeit, d.h. der Nichtentwicklung der Produzentenpersönlichkeit interessiert sein. Da es Formen der Technik und Arbeitsorganisation gibt, die die Persönlichkeitsentwicklung der Produzenten hemmen oder zerstören, gehen die Autoren völlig zu Recht davon aus, daß - da das Kapitalinteresse vorherrscht ein Interesse an solcher Technik und Arbeitsorganisation (83)

real vorhanden und empirisch nachweisbar ist. Wenn man die Implikationen und Grundannahmen der Autoren bis zu diesem. Punkt rekonstruiert hat, fällt eine Unscharfe ins Auge: Einerseits legen sie ein Arbeiterbild dar, das während der gesamten kapitalistischen Gesellschaftsformation vom Kapital intendiert werden muß; andererseits wird angedeutet, daß es sich zugleich auch innerhalb des Kapitalismus in der Umwälzung befinde: der "Taylorismus ... ist keineswegs überwunden."(ebd.) - Wodurch aber wird das Kapital gezwungen, entgegen seinem Existenzinteresse an Arbeiterunmündigkeit, an Unentwickeltheit der Arbeiterpersönlichkeit, die Überwindung des Taylorismus zuzulassen? Die Antwort auf diese Frage macht eine Denkbewegung erforderlich, die einerseits jedermann denken können muß, will es ernstlich die Entwicklungsdynamik der kapitalistischen Gesellschaft begreifen, die andererseits dem Denkenden nach Maßstäben biesherigen Denkens abenteuerlich erscheinen muß, denn es werden in dieser Denkbewegung schreiende Gegensätze verknüpft, sie werden im Denken rekonstruiert als notwendig auseinander hervorgehend. Konkret: Es ist der schmutzige Zweck des Profits, das Interesse an Bereicherung durch Arbeiterenteignung, der sein Gegenteil, die Entwicklung der Arbeiterpersönlichkeit, als Mittel der wirksameren Bereicherung erzeugt. Der schmutzige Zweck treibt immer wirksamer ein Mittel hervor, das immer stärker gegen ihn zu rebellieren und ihn schließlich aufzugeben vermag. Bezogen auf die Entwicklung der Arbeiterpersönlichkeit als Mittel der Profitsteigerung heißt dies: Durch sein eigenes Profitinteresse - diesen Realwiderspruch rekonstruieren Baethge und Schumann nicht konsequent, was folgenreich ist für ihre Gesamtkonzeption - ist das Kapital gezwungen, technischen Fortschritt voranzutreiben und damit zugleich die Arbeitstätigkeiten zu vermenschlichen, indem die physisch schweren Arbeiten durch den Einsatz billiger Maschinerie ausgemerzt werden, indem Menschen als zu langsame, zu ungenaue, zu leicht ermüdbare Verrichter routinemäßiger Wahrnehmungs- und Denkoperationen ersetzt werden durch elektronische und sonstige Maschinerie, die millionenfach schnellerv genauer, zuverlässiger operiert,und zugleich vielfach billiger ist. Rücksichtslos den Profitzweck verfolgend wird das Kapital so im Nebeneffekt zum Umwälzer des produktionsnotwendigen Arbeiterbildes: das Auseinanderklaffen des Wissens der Ingenieure, das in die Entwicklung und Herstellung der Produktionsmittel eingegangen ist, und der zur Bedienung notwendigen Qualifikationen wird, entgegen Baethge, zusehends reduziert, weil die Maschinenbediener nicht mehr ausschließlich abstumpfende Routinearbeit verrichten, sondern Eingriffe, z.B. in St.örungsfällen, vollziehen, die die intellektuelle Rekonstruktion der Funktionslogik automatischer Anlagen voraussetzen, wobei in der automatischen Maschinerie kompliziertere Funktianszusammenhänge verkörpert sind und begriffen werden müssen als in der vorautomatischen. Eine praktisch-strategisch und forschungsstrategisch folgenreiche Wirklichkeitsverkennung widerfährt ihnen jedoch, (84)

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wo sie erkennen müßten, daß das. Kapital »Motor1 der technischorganisatorischen Produktivkraftentwicklung ist, und daß das Kapital, indem es diese Entwicklung 'zum Laufen1 bringt, zugleich auch 'Motor* der massenhaften Entwicklung der Arbeiterfähigkeiten ist. Die technische Entwicklung erscheint den Autoren vielmehr als willkürlich steuerbar gemäß dem Entmündigungswillen des Kapitals: dort, wo in der Wirklichkeit ein Auseinanderklaffen sich verschärft zwischen dem Kapital 'motor' und der von ihm angetriebenen Technik- und Arbeiterentwicklung, vermögen Baethge und Schumann nur eine durch die soziale Macht des 'Motors' herbeigezwungene Einheitlichkeit zu erkennen. Die technische Entwicklung scheint t o t a 1 ausdeterminiert durch den Kapitalwillen und da dieser auf Arbeiterentmündigung zielt, ist sie für dieses Ziel widerstandslos verfügbar. Genährt wird diese Vorstellung durch die Tatsache , daß in der Wirklichkeit das kapitalistische Unternehmen ausschließlich über die großen Investitionen und damit -über alle wesentlichen technisch-organisatorischen Entwicklungen entscheidet? zugleich scheint das Kapitalsubjekt mit grenzenloser, rational nicht nachvollziehbarer Willkür zu herrschen, was bei der Durchsetzung einer neuen Stufe technischer Entwicklung besonders krass und inhuman zutage tritt: da koexistieren in ein und demselben Betrieb rückständige und entwickelte Techniken; da werden an einer technisch höchentwickelten Anlage nicht nur hochqualifizierte Arbeiten verrichtet, sondern auch äußerät stupide, wodurch der Verdacht der Arbeiter genährt wird, die Technikentwicklung werde in Richtung einer ArbeiterSpaltung gesteuert, während in Wirklichkeit die Automatisierung bestimmter Arbeitsfunktionen noch nicht, die Vernutzung unqualifizierter Arbeitskraft dagegen immer noch profitlich ist; da werden - in der Annahme, es sei profitlich - ungenügend qualifizierte Leute an moderne Anlagen gestellt. - Schließlich, darauf ist später einzugehen, gibt es natürlich auch faktisch die Verhinderung oder die Veränderung technisch-organisatorisch neuer Arrangements zum Zweck der Arbeiterentmündigung. Erst wenn diese Empirie des Alltags mit historischer Rekonstruktion der Entwicklung von Arbeitstätigkeiten und Technik verknüpft wird, wird erkennbar, daß es drei Entwicklungsmomente gibt, deren Spannungsverhältnis ..zueinander historisch nicht konstant bleibt: a) der Profit als 'Motor' der Produktivkraftentwicklung und als 'Motor' gesellschaftlicher Anstrengungen, die private Aneigung des Mehrwerts durch eine Eigentümerminderheit für die Mehrhieit zu verschleiern und die Mehrheit zum freiwilligen Verzicht auf Selbstbestimmung zu gewinnen, b) die Entwicklung von Technik und Arbeitsorganisation und c) die Verallgemeinerung betrieblicher Qualifikationsanforderungen und produktionsbedingter Persönlichkeitsentwicklung. Die Streitfrage ist also: Ist der Profit nur 'Motor' von b) und c), der diese beiden Entwicklungen zwar vorantreibt und zur Blüte bringt, aber zusehends durch deren in Gang gekommene Eigenbewegung überflüssig und schließlich zum Hemm-

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nis der Eigenbewegüng und durch sie selbst aufgehoben wird? Oder ist die Technikentwicklung eine willkürlich von a) aber auch von c) in Dienst nehmbare Kraft, sodaß sie einerseits raffiniertes Gehäuse neuer Arbeiterhörigkeit, andererseits aber gegen die Unternehmensleitungen durchzusetzendes entscheidendes Kampfmittel und Arrangement für. die Entwicklung der Arbeiter ist? Der letzten Auffassung scheint Baethge nahezustehen. 4. Technik als Herrschaft Die Entwicklung von Technik und Arbeitsorganisation wird nach Baethge vom Kapital systematisch in Dienst genommen, um die Produzenten auf einer niedrigen Qualifikationsstufe zu halten. Aus dem Arbeitsprozeß selbst und aus der notwendigen Vorbildung für ihn können sich demnach keine Einsichtsfähigkeiten entfalten, durch die die Funktion der Technik als Herrschaftsinstrument durchschaut werden könnte. Da das Kapital zugleich verhindere, daß im Rahmen von Ausbildungsveranstaltungen auf diese Funktion der Technik reflektiert wird, vervollkommnet es seine Herrschaft.(27a) Die Unterwerfung der Produzenten unter das Kommando des Kapitals wird von Baethge dargesteilt als die Unterwerfung der Produzenten unter die Sachzwänge bestehender Produktionstechnik, die sie als nicht beliebig veränderbar denken können und deren Entwicklungsrichtung sie anerkennen. Die Produzenten "begreifen Technik als Sache, als Objektives, Unveränderbares, dem man sich unterwerfen muß, ohne die sozialen Interessen, die in sie eingegangen sind und ihr die spezifische Form als Produktionsmittel gegeben haben, erkennen zu können. Dies von der Ausbildungsverfassung induzierte, wenn auch nicht von ihr bedingte, Unbegreifen von Technik als besonderer Ausdrucksform von Herrschaft erst hilft langfristig die Interessenrichtung der ökonomischtechnischen Entwicklung sichern: daß sie in ihrer Entwicklungsrichtung nicht vordringlich an den Bedürfnissen der mit ihr Arbeitenden, sondern an den*Interessen der qua Besitz über sie Verfügenden orientiert ist."(28) Baethge grenzt seine Aussage über die Auswirkungen der Technik nicht ein auf rückständige Technik, die doch tatsächlich häufig die Produzenten zur Verrichtung von Arbeiten zwingt, durch die die schöpferischen Fähigkeiten verstümmelt werden; er dehnt sie vielmehr explizit aus auf "den Stand der entfalteten Produktivkräfte spätkapitalistischer Produktion". Baethges grundlegender Fehler besteht darin, daß er zwischen dem Profitinteresse als Zweck und der sich entwickelnden Technik als Mittel zu diesem Zweck keinen Widerspruch zu erkennen vermag. Die "'objektivierten Sachgesetzlichkeiten1 der technischen Struktur des Produktionsprozesses" werden in Wirklichkeit vom Kapital in Dienst genommen, um ideologisch Verhältnisse zu rechtfertigen, die im Widerspruch zur weiteren Entwicklung der Produktivkräfte stehen. Baethge setzt Technik jedoch der Kapitalistischen Herrschaft gleich, so daß sie sich "von selbst" zur Durchsetzung von kapitalistischer (86)

-11 Herrschaft zu eignen scheint: "Die unmittelbare Anschauung des betrieblichen Arbeitsprozesses in der hochmechanisierten Produktion mag leicht als technisch induziert und unveränderbar erscheinen lassen, was in Wirklichkeit der historisch spezifischen Organisationsform der Produktion zu schulden ist, wenn nicht systematisch Reflexionsprozesse die x Arbeits- und Ausbildungssituation begleiten."(29) Baethge konstruiert damit ein Gegeneinander von Denken, das der gegenwärtigen Produktionstechnik angepaßt ist und daher auch nur minimale Entfaltung erfordert, und der Reflexion auf "die Verbesserung der Gesellschaft. Da produktionsbezogenes Denken nur in geringem Ausmaß entfaltet werden mui&, wie Baethge behauptet, dienen die institutionalisierten Bildungsprozesse hauptsächlich der Erziehung zur System- und Betriebsloyalität. Da dieses Denken aufgrund seiner "Anpassung"'an bestehende Produktionstechnik auf einer systemkonformen Stufe verbleiben muß und keine Keime zum Eingreifen und Verändern enhält, wird die Reflexion bei Baethge zur eigentlich verändernden Kraft, die den aus der Produktion entspringenden Qualifikationsahforderungen äußerlich gegenübertritt. IV. Baethges Strategie der Bildungsreform 1. "Politische Kritik der Technologie" Wenn aber Baethge die derzeitige Technik und Organisationsstruktur der kapitatlistischen Produktion als entscheidendes Hemmnis für die Durchsetzung der Integration von Allgemein- und Berufsbildung ansieht, so ist seine Schlußfolgerung, daß sich eine emanzipatorische Bildungsreformpolitik gerade nicht an den aus der Produktion erwachsenden Anforderungen an die beruflichen Qualifikationen orientieren könne, nur konsequent: "Eine emanzipatorische Bildungspolitik wird deswegen in ihrer Orientierung die der heutigen Ausbildungspraxis zugrunde liegende Bedarfs- und Leistungsperspektive zugunsten von solchen Inhalten vernachlässigen müssen, die der Entfaltung des Individuums zu einem autonomen Mitglied in der Gesellschaft mehr dienen. Das bedeutete ...,daß die produktive (ökonomische) Funktion des Bildungssystems hinter die kommunikative, die politische und sozialpolitische Funktion innerhalb der Bildungspolitik zurückzutreten hätte."(30) Als Programm für die Realisierung einer solchen emanzipatorischen Bildungspolitik bietet Baethge die sog. "politische Kritik der Technolgie"(31) als praktisches Konzept der Didaktik der Jugendausbildung an, "die den Jugendlichen die scheinbar nur technisch begründeten Determinanten ihrer Arbeitssituation auch als politische erklärt und sie somit gegenüber scheinbar objektivierten ökonomischtechnischen Wandlungsprozessen als Subjekte handlungsfähig macht" (32') • Aufgrund der naheliegenden Assoziation zur "Kritik der politischen Ökonomie" scheint dieses Programm gerade für Gegner des Kapitalismus eine besondere Plausibilität zu besitzen: Die berechtigte Kritik an der "Sachzwang-Ideologie", deren sich die herrschende Klasse bedient, (87)

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um als Herrschaft der Sache und als technische Rationalität auszugeben, was in Wirklichkeit ihre gesellschaftliche Herrschaft über die Masse der Arbeitenden und Profitrationalität ist, wird bei Baethge umgemünzt in eine Kritik der Technik selber und Leugnung von Sachgesetzlichkeiten überhaupt. Damit wird an antikapitalistisches Bewußtsein appelliert, um es unterderhand in ein anti-technisches bzw. anti-ökonomisches Bewußtsein zu verwandeln. Die praktische Folge eines solchen Programmes ist dann der Kampf um die Durchsetzung einer "neuen Technik", die nicht an den Interessen der "qua Besitz über sie Verfügenden", sondern "vordringlich an den Bedürfnissen der mit ihr Arbeitenden" (33) orientiert sei. Doch wie schafft man eine Technik gemäß den Bedürfnissen der Arbeitenden? Die Vorstellungen über die konkrete Gestalt und das konkrete Funktionieren der "neuen Technik" gelangen bei Baethge über solche allgemeinen Aussagen, wie die, daß sie eben nicht wie die alte "kapitalistische" Technik sein dürfe und den Bedürfnissen einer emanzipatorischen Bildungspolitik entsprechen müsse, nicht hinaus. Damit geraten sie in die Nähe utopischer bzw. frühsozialistischer Träume von einer ganz anderen Technik, bei deren Gestaltung weder die Gesetze der Ökonomie der Zeit noch sonst irgendeine Sachgesetzlichkeit bestimmend sein sollen. Der Umgang mit Technik scheint damit zum Spiel zu werden, das Prinzip polytechnischer Bildung wird degradiert zum spielerischen Umgang mit technischen Geräten, die keinen weiteren ökonomisch-praktischen Nutzen zu haben brauchen.(33a) Demgegenüber müßte "Politische Kritik der Technologie" die Jugendlichen nicht nur " g e g e n ü b e r scheinbar objektivierten ökonomisch-technischen Wandlungsprozessen als Subjekte handlungsfähig"(ebd., Hervorhebung durch uns) machen, sondern ihnen auch bewußt machen: eben gerade d u r c h moderne Produktionstechnologie h i n d u r c h setzen sich Produktionshandlungen des einzelnen Arbeiters, der diese Technologie benutzt, um in gesellschaftlichen Nutzen oder Schaden von erheblicher Tragweite! Die Jugendlichen müßten sich ihres Bedürfnisses nach solchen produktiven Handlungen bewußt werden, Lust danach entwickeln, sie müßten lernen, Technik danach kritisch zu beurteilen, ob sie den gesellschaftlichen Wirkungsradius des Produzentenhandelns vergrößert oder verkleinert, ob sie dem Produzenten Initiative zur Verbesserung seines Wirkungsradius eröffnet. Diese Kritik an der Technologie ist politisch, da sie danach fragt, ob durch sie hindurch die Subjektivität der Produzenten gesellschaftlich folgenreich wird, sodaß sich die Überschreitung der klassischen Grenze zwischen Ökonomie und Politik anbahnt. Gerade diese Kritik, die vom Interesse der Persönlichkeit an möglichsfsinnvollem Produktionshandeln und vom Interesse der gesellschaftlichen Produktion an entwickelten Persönlichkeiten ausgeht, wird besonders klar und kompromißlos - sie ist ja nicht primär an der Maximierung des individuellen Konsums des Produzenten selbst orientiert - die Schranken des Kapitalismus beurteilen: die in der Technologie steckenden Möglichkeiten der Persönlichkeitsentwicklung (88)

883 und gesellschaftlich sinnvollen Handelns der Produzenten drängen immer stärker auf Niederreißung der Schranken des bornierten Profitkalküls. 2,.' Instrument eil es Lerninteresse als Bildungsbarriere Voraussetzung für die Durchsetzung seines Programms der "politischen Kritik der Technologie" ist nach Baethge die Überwindung des bei Lehrlingen und Arbeitern empirisch vor*findbaren "instrumenteilen Lerninteresse(s)n(3k) an "unmittelbar praktisch-verwertbaren Berufsqualifikationen"(35) sowie des Mangels an "realen Lernmotivationen für Bildungsprozesse, die nicht unmittelbar verwertbar sind"(36): "Unabhängig davon, wie sehr dieses Lernbewußtsein dem sozioökonomisehen Status von Lohnabhängigen und auch der Struktur der Ausbildungsprozesse adäquat sein mag, Wird man konstatieren müssen, daß ihm in dieser Orientierung das Spezifische des traditionellen Bildungsverständnisses fehlt, das Lernen als Prozeß der bewußten Auseinandersetzung mit der Natur und der Umwelt zum Zweck ihrer Beherrschung und der individuellen Identitäsbildung faßte ..."(37) Die spontan-materialistische Orientierung auf praktische Erfordernisse, das Interesse an der praktischen Nutzung von Wissen sowie - im Falle von Weiterbildungs- und Umschulungsmaßnahmen - die in der Produktionstätigkeit bereits erworbenen fachlichen und gesellschaftlichen Kenntnisse, Fähigkeiten und Haltungen der Arbeiter und Lehrlinge sind für Baethge gerade keine günstigen Voraussetzungen, an denen in (politischen) Bildungs- und Weiterbildungsprozessen anzuknüpfen wäre, sondern erweisen sich für den politischen Bewußtseinsprozeß eher hinderlich. Dem entspricht ein weiterer Prograiiimpunkt seiner "politischen Kritik der Technologie": das "individuelle Sicherungs- und Anspruchsdenken"(38) als Motiv organisierten politischen Handelns müsse zugunsten einer "kollektive(n) politische(n) Identifizierung"(39) überwunden werden. Damit wird abstrakt gegeneinandergestellt, was doch nur verschiedene Phasen des politischen Bewußtwerdungsprozesses - verstanden als Prozeß der Erkenntnis der gemeinsamen Interessen - sein können; erst die Erfahrungen mit den praktischen Realisierungsversuchen des Wunsches nach Sicherung der individuellen materiellen Existenz können schrittweise zu der Einsicht führen, daß dieses Interesse gar nicht anders als kollektiv re'alisiert werden kann; damit wird erst die Bereitschaft zu kollektivem politischen Handeln geschaffen. Nach Baethge aber soll sich der Prozeß der Erkenntnis der gemeinsamen politischen Interessen in Bildungsuhd Weiterbildungsveranstaltungen gerade nicht, als Erkenntnis der gemeinsamen materiellen Situation vollziehen, sondern unter Absehung von ihr.(40) Mit seiner Abqüalifizierung des "instrumenteilen Lerninteresses" und des "pragmatischen Bewußtseins"(4l) der Lehrlinge und Arbeiter als Hemmnisse einer emanzipatorischen Bildungsreformstrategie rückt Baethge diese unversehens in die Nähe des humanistischen Bildungsideals einer zweckungebundenen Bildung, an der er selber kritisiert, daß "der ihr "zugrundeliegende Bildungsbegriff nicht politisch gewen(89)

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det wurde, sondern als reflexive Selbstbefreiung ins Bewußtsein des Individuums gelegt war"(42)•'Das. positiv Aufhebenswerte am humanistischen Bildungsideal, das Ziel einer zur Beherrschung von Natur und Gesellschaft fähigen Persönlichkeit, wird nicht auf seine tatsächlichen Realisierungsmöglichkeiten aufgrund der Entwicklung der Produktion und der Anforderungen an die Qualifikationen der Produzenten hin untersucht, sondern von vornherein mit dem Hinweis auf den kapitalistischen Charakter der Produktion gegen diese ausgespielt* 3> Lehrer als gesellschaftliche Avantgarde Indem bei Baethge das humanistische Bildungsideal der zweckfreien, auf Reflexion abstellenden Bildung im Gewände antikapitalistischer Kritik auftritt, Reflexion von vorneherein als Kontrapunkt zur Aneigung produktionsnotwendigen fachlichen und gesellschaftlichen Wissens konstruiert wird, muß sein bildungspolitisches Programm gerade bei jenen Teilen der im Überbaubereich tätigen Intelligenz auf fruchtbaren Boden fallen, bei denen sich tendenziell antikapitalistisches Bewußtsein - aufgrund der Erfahrung des Verlusts eines Teils ihrer Privilegien und der Erkenntnis der gesellschaftlichen Ursachen - mit einer Unkenntnis des materiellen Produktionsbtereichs verbindet: wie z.B. bei der in den sog. "sinnvermittelnden Berufen" tätigen Intelligenz, insbesondere den Lehrern. Diesen wird durch Baethges Programm der kritischen Reflexion der Technologie eine Schlüsseifunktion zuerteilt. Wenn nämlich die Reflexion zum entscheidenden Vehikel einer antikapitalistischen Bildungsreformstrategie gemacht wird, dann ist - allen verbalen Beteuerungen zum Trotz - gar nicht mehr die Arbeiterklasse selbst die entscheidende Kraft in der antikapitalistischen Bewegung, sondern es sind die Lehrer als Initiatoren und Leiter der Reflexionsprozesse. 4. Bildungsexpansion durch "Humanisierung der Arbeit" Danach Baethge die bestehende Technik und Organisationsstruktur der Produktion aufgrund ihrer Determiniertheit durch das Profitabilitätsprinzip keine Chance für eine Höherqualifizierung der Arbeiter bietet, muß der gewerkschaftliche Kampf in den Betrieben darauf gerichtet sein, "bei der Gestaltung von Produktionstechnik und Arbeitsorganisation eine ausreichende Basis für eine expansive bildungspolitische Prämisse zu schaffen"(43)• In den Betrieben soll der Kampf um die "Humanisierung der Arbeitsbedingungen" und um die Aufhebung der durch die jeweilige Technik bedingten "restriktiven Arbeitsbedingungen" aufgenommen werden für eine "möglichst ganzheitliche, umfassend qualifizierte und mit großem Dispositionsspielraum ausgestattete Arbeitssituation"(44). Diese Strategie erscheint einleuchtend, verspricht sie doch die Beseitigung extrem geteilter Arbeitstätigkeiten, die die Arbeitenden in ihrer körperlichen Bewegung vereinseitigen und in iherer intellektuellen Entfaltung verstümmeln. Eiii Weg zur Realisierung der Bedürfnisse der Arbeitenden nach qualifizierter,schöpferischer Arbeit scheint damit gefunden. (90)

883 Indem aber der Blick auf die humanere "Gestaltung" der Produktionstechnik und Arbeitsorganisation gerichtet wird, gerät die Entwicklungsperspektive der Produktionstechnik, die Automatisierung von Produktion und Verwaltung, aus dem Blickfeld» Diese zu erkennen, ist allein geeignet, nicht nur vereinseitigende und verstümmelnde Arbeitstätigkeiten wirksam auf Dauer zu beseitigen, sondern auch die kollektive Beherrschung der unter der Herrschaft des Profitprinzips vorangetriebenen Vergesellschaftung der Produktion durch die arbeitenden Menschen selbst in Angriff zu nehmen. "Humanisierung der Arbeitsbedingungen" enthält nicht von vornherein die Perspektive, bessere Bedingungen für die Entwicklung der Subjekte zu schaffensondern zielt zunächst auf eine höhere Arbeitsleistung, die bekanntlich den Eignern der Produktionsmittel allein zugute kommt. D.h*, die "Humanisierung" muß unter der Entwicklungsperspektive der Automatisierung zu einem Kampffeld der Arbeitenden und ihrer Gewerkschaften gemacht werden, indem sie die Veränderung der Arbeitsbedingungen selber in die Hand nehmen. Dies bedeutet eben nicht, daß durch "Humanisierung" Prämissen für eine Bildungsexpansion geschaffen werden, sondern daß durch die Automatisierung expansive Bildungsreformen, z.B. im Sinne einer Integration allgemeiner und beruflicher Bildung, notwendig werden,die Voraussetzungen für die gesellschaftliche Beherrschung der Entwicklung der neuen Stufe der Technik schaffen. 5* Resignative Konsequenzen Baethges Konzept einer "emanzipatorischen Bildungspolitik" macht die "politische Kritik der Technologie" zum Hauptinhalt einer anzustrebenden Integration von Allgemein- und Berufsbildung. Demgegenüber habe die produktive oder ökonomische Funktion des Bildungswesens zurückzutreten.(45) Mit dieser Gegeneinanderstellung macht er es den Gegnern einer demokratischen Bildungsreform besonders leicht, mit dem Argument, die Staatsfinanzen seien beschränkt und zur "Siche*rung des Wohls aller" sei eben eine Beschränkung der Bildungs- und Ausbidlungsausgaben auf die unmittelbaren Zwecke der Produktion erforderlich, alle Demokratisierungsforderungen als Gefährdungen der ökonomischen Rationalität zurückzuweisen. Indem er zwar die Abhängigkeit der Qualifikationen von den technischen Einrichtungen des Arbeitsplatzes und der Arbeitsorganisation erkennt, aber die Entwicklung dieser Faktoren als keinen Sachgesetzlichkeiten unterliegend ansieht, stellt er die Steuerung der Qualifikationen und der Bildungs- und Ausbildungsprozesse in das subjetive Belieben des Kapitals. Alle staatlichen Bildungsreformprogramme kann er so als "Instrument der Massenloyalisierung" (46) identifizieren, wobei die wirklichen Veränderungen im Bildungswesen, die auf die Qualifizierung bezogen sind und deren - im Sinne demokratischer Bildungsreform - entwicklungsfähigen Potenzen, unerkannt bleiben müssen. Die von Baethge hiermit unterstellte Identität von Qualifikation und Systemintegration läßt im Bildungswesen nur den Kampf um die "politische Kritik der Technologie" zu, die, da sie nicht in der Entwicklung der wirklichen Produktionsprozesse und (91)

Qualifikationsanforderungen verankert gesehen wird, notwendig abstrakt bleiben muß. Da sich aber einerseits die Notwendigkeiten der Produktion und der Qualifikation auch unabhängig von ihrer Erkenntnis und bewußten Nutzung durchsetzen und andererseits die Ausbeutung des gesellschaftlichen Produktionsprozesses durch das Kapital nicht allein durch kritische Reflexionsprozesse überwunden werden kann, muß die Realisierung seiner Konzeption einer "politischen Kritik der Technologie" als Schwerpunkt emanzipatorischer Bildungspolitik letztlich Resignation auslösen, weil sie von den Gegnern begründet und erfolgreich zurückgeweisen werden kann. V. Perspektiven demokratischer Bildungsreform Eine demokratische Bildungsreformpolitik hat anders als im Verfahren Baethges die widersprüchliche Entwicklung in der Bildungsreform zu analysieren und dabei ihr Augenmerk auf die analytische Trennung von verallgemeinerbaren qualifikatorischen und systemintegrativen Aspekten zu richten. Dabei liefert die Perspektive der Qualifikationsentwicklung, die auf der Grundlage der Automatisierung und der damit verbundenen weiteren Vergesellschaftung der Arbeit die Reflexion der Produktion und der Gesellschaft zunehmend zu einem nötwendigen Erfordernis macht, selbst die Basis für die Analyse und Bekämpfung der systemintegrativen Aspekte. Das Kapital fordert einerseits Reformen der allgemeinen und beruflichen Bildung, weil es Arbeitskräfte benötigt, die den Anforderungen der in Umwälzung befindlichen Produktionsprozesse gewachsen sind, und kämpft zugleich gegen solche Reformen, die ihre profitliche Ausbeutung des gesellschaftlichen Produktionsprozesses tendenziell in Frage stellen. Gerade weil die vom automatischen Produktionsprozeß geforderten höheren technischen und ökonomischen Kenntnisse und Fähigkeiten und kooperativen Verhaltensweisen tendenziell die Erkenntnis der gesellschaftlichen Zusammenhänge ermöglichen, versucht das Kapital seinen ideologischen Einfluß zu verstärken und in entsprechenden Bildungs- und Ausbildungsstrukturen abzusichern. Diesen ideologischen Einfluß kann das Kapital solange nicht voll durchsetzen, wie ein demokratisches Kraftepotential im Bildungswesen aktiv ist. Dessen Entschärfung und Reduzierung durch Berufsverbote, institutionelle Reglementierungen und reduzierte Rahmenrichtlinien sind konkret und praktisch zu bekämpfen. Gerade in der heutigen Periode der anhaltenden Wirtschaftskrise gewinnt diese!r Kampf um die Erhaltung demokratischer Errungenschaften eine besondere Bedeutung, nicht nur weil in den letzten Jahren der kapitalistische Staat besonders scharf gegen Reformen und Reformer vorgeht, sondern weil diese Wirtschaftskriese aufgrund von Investitionssubventionen und Krediterleichterungen bei hoher Arbeitslosigkeit einen neuen Automationsschub und damit gleichzeitig einen Anstieg der erforderten Qualifikationen von Arbeitern und unteren Angestellten erwarten läßt Kapital und Staat erklärten mehrfach, daß die Wirtschaft nur (92)

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aus der Krise herauskommen könne, indem sie mit technologisch hochwertigen Produkten, das sind in der Regel Investitionsgüter, die Märkte zurückerobere. Unter den gegenwärtigen Krisenbedingungen werden dadurch erstens die Techniken der Herstellung dieser Investionsgüter und zweitens die Branchen, in denen sie angewandt werden, umgewälzt. Die in dieser Entwicklung liegende Tendenz der Verringerung der Tätigkeiten unmittelbarer Produktbearbeitung erhöht die Anforderungen an die technischen, naturwissenschaftlichen und organisatorischen Fähigkeiten, insbesondere an die Fähigkeiten zur Kooperation und Verantwortung, deren Entfaltung bei den Produzenten zwar vom Kapital unter seiner Aufsicht und Leitung zur Aufrechterhaltung seiner Herrschaft über den Produktionsprozeß gefordert werden, die aber zugleich als allgemeine Qualifikationen für die gesellschaftliche Bewältigung der Produktionsprozesse in wachsendem Maße erforderlich sind. Die Erlangung eines höheren Maßes allgemeiner Handlungsfähigkeit ist kaum ohne ein größeres Maß fachlicher Qualifikationen denkbar. Diese Qualifikationsentwicklung drängt somit auf eine Integration rein fachlicher Berufsbildung und einer Allgemeinbildung, die sowohl die gesellschaftliche Arbeit als auch-die Gesellschaft selbst zum Gegenstand hat. Diese Integrationstendenzen sind von einer emanzipatorischen Bidlungspolitik aufzugreifen und perspektivisch fortzuentwickeln, wobei vor allem die kapitalismusspezifischen Formen der Kooperations- und Verantwortungsfähigkeiten von ihren zur gesellschaftlichen Produktionstätigkeit notwendigen Inhalten analytisch zu trennen und abzuwehren sind. Von der Realisierung solcher Bildungsund Ausbildungsformen, die dieser zu erwartenden Qualifikationsentwicklung Rechnung tragen, hängt die zukünftige gesellschaftliche Existenz nicht nur der Produzenten ab. Daraus folgt, daß erstens der Kampf um die Erhöhung der Bildungsausgaben zu Lasten der gerade erst wieder erhöhten Rüstungsausgaben erneut aufgenommen werden muß und daß zweitens eine an den zukünftigen praktischen Erfordernissen orientierte inhaltliche und strukturelle Integration der allgemeinen und beruflichen Bildung in der Sekundarstufe II von der demökra tischen Bildungsreformbewegung als fundamentale Forderung an die staatlichen PIanungsinstanzen gestellt werden muß. Die praktisch erforderliche Allgemeinbildung, die Lernen als Prozeß der bewußten Auseinandersetzung mit der Natur und Gesellschaft zum Zwecke ihrer Beherrschung begreift, steht . nicht, wie Baethge anklingen läßt, dem in;?trumenteilen Lerninteresse der Arbeiter, das an "unmittelbar praktisch verwertbaren Berufsqualifikationen"orientiert ist, negativ gegenüber, sondern es ist als Ausgangspunkt für die Aneignung ihrer eigenen produktiven Kräfte aufzugreifen. Was die Arbeiter praktisch lernen, ist sowohl unmittelbare Pröduktionsnotwendigkeit als auch Voraussetzung dafür, daß sie zukünftige "Beherrscher" ihre gesellschaftlichen Produktionsprozesses sein können. Die internalisierten Schranken des instrumenteilen Lerninteresses sind im Prozeß des Lernens selbst aufzuheben. Grundlage dafür ist das beim Übergang zu automatisierter Produktion erforderliche ständige Lernen. (93)

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Die Reflexion der Entwicklung der gesellschaftliche^ Arbeit, der Entwicklung der materiellen und subjektiven Produktivkräfte sowie die Entwicklung der Gesellschaft ist zentrales Moment aller demokratischen Bildungsreformen, aber sie ist nicht als reiner Akt des Bewußtseins, als verselbständigte "politische Kritik der Technologie" der gesellschaftlichen Praxis entgegenzustellen, sondern hat bewußt an die je konkrete gesellschaftliche Praxis anknüpfend die sie kennzeichnenden RealwiderSprüche in ihrer Entwicklung und ihrer Perspektive aufzuzeigen. Jene realen Widersprüche in der Entwicklung der gesellschaftlichen Arbeit, die tendenziell auf eine gesellschaftliche Beherrschung der Produktions- und Dienstleistungsprozesse durch die Produzenten selbst drängeh, sind in ihrer praktischen Konkretheit in den Bildungs- und Ausbildungsprozessen aufzugreifen, um eine an der Berufspraxis orientierte Handlungsfähigkeit zu erreichen. Diese steht nicht im Gegensatz zur organisierten gesellschaftlichen Handlungsfähigkeit, die zur schrittweisen Durchsetzung einer vernünftig organisierten Gesellschaft notwendig ist, sondern ist deren Voraussetzung und Element. Eine Berufsbildung, die orientiert ist an dem "institutionellen Zweck des Betriebes ..•, der profitablen Produktion von Gütern oder der Erstellung von Dienstleistungen"(k7), steht nicht, wie Baethge meint, im Gegensatz zur "Entfaltung der menschlichen Produkt iv^kraft im weitesten Sinne des Wortes"(48), sondern ist deren Voraussetzung. Nur in der betrieblichen "Ernstsituation" kann die neueste Entwicklung der Produktion und ihre Anwendung sowie die betriebliche Situation der gesellschaftlichen Arbeit konkret erfahren werden, deren formationsspezifische Ausprägung in den schulischen Ausbildungsteilen zu reflektieren sind. Eine materialistisch fundierte Bildungpolitik hat die Entwicklungslogik der Qualifikationen in der Automation, die sich nicht gegen, sondern unter der Wirkung der Kapitalgesetze als die zukünftige Produktionsweise bereits durchsetzt, zu analysieren und das in eine zukünftige,1 vernünftig organisierte Gesellschaft Verallgemeinerbare herauszuarbeiten« Auf dieser Grundlage sind Inhalte und Strukturen einer integrierten Allgemein - und Berufsbildung zu erarbeiten, die die vom automatischen Produktionsprozeß geforderte höhere Rationalität in der Demokratisierung von Bildung, Wirtschaft und Gesellschaft praktisch werden läßt und die bloße Bejahung unseres gesellschaftlichen Systems zurückweist« Da der kapitalistische Staat als Träger des Bildungs- und Ausbildungswesens einerseits den Notwendigkeiten der Qualifikationsentwicklung Rechnung tragen muß und andererseits sich in seinen Strukturen und Entscheidungen die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse niederschlagen, bieten sich einer einheitlich handelnden demokratischen Bewegung wachsende Chancen, notwendige und mögliche Reformen im Bildungs- und Ausbildungswesen durchzusetzen. Diese Chancen sollten genutzt werden* (94)

Anmerkungen 1) M. Baethge: Abschied von Reformillusionen. Einige politisch-ökonomische Aspekte am Ende der Bildungsreform in der BRD, in: betrifft: erZiehung, Heft 11, 1972, S. 19-28. 2) Seit 1972 erscheinen in zunehmender Zahl Veröffentlichungen, die das Ende der Bildungs- und Hochschulreform voraussagen oder aber behaupten, daß es nie eine Reform gegeben habe. 3) M. Baethge: Abschied, S. 274) Ebd. S. 22. 5.) M. Baethge: Die Integration von Berufsbildung und Allgemeinbildung als Forschungskonzept für die Berufsbildungsforschung, in: Deutscher Bildungsrat. Gutachten und Studien der Bildungskommission, Bd. 50, Teil I, Bildungsforschung.' Probleme - Perspektiven - Prioritäten. Im Auftrag der Bildungskommission hrsg.: H. Roth und D. Friedrich Stuttgart 1975, S. 290. 6) Ebd., S. 2597) Ebd. 8) Ebd., S. 260 9) Ebd., S. 259 10) Ebd. 11) M. Baethge: Abschied, S. 22. 12) Ebd. 13) Bei diesen politisch-ökonomischen Überlegungen stützt sich Baethge weitgehend auf Altvater und Huisken« Vgl. dazu E. Altvater und F* Huisken (Hrsg. ): Materialien zur poli-«tischen Ökonomie des Ausbildungssektors, Erlangen 1971* Vgl dazu auch die Kritik von F. Haug: Zum Streit um die Bildungsökonomie. Altvater und die Folgen, in: Das Argument, Heft 88, 197^, S. 883-909. (Reprint in diesem Heft.) 14) M. Baethge, F. Gerstenberger, H. Kern, M. Schumann, H.-W. Stein und E. Wienemann: Produktion und Qualifikation. Eine Vorstudie zur Untersuchung von Planungsprozessen im System der beruflichen Bildung. Hannover 1975» 2. Aufl.. 15)Vgl. Projektgruppe Automation und Qualifikation, F. Haug, M. Baumgarten, U. Gluntz, H. Gottschalch, H. May, R. Nemitz, Ch. Ohm, I. Schütte, W. van Treeck, S. Wenk und G.. Zimmer: Automation in der BRD, Berlin West 1975y in: Argument -Sonder band 7» 3. Aufl. 1979. 16) F. Haug, U. Gluntz, R. Nemitz, W. van Treeck, G. Zimmer (Projekt Automation und Qualifikation): Automation führt zur Höherqualifikation. Thesen über Hand- und Kopfarbeit, in: Demokratische Erziehung, Heft 4, 1975» S. 90^96. (Reprint in diesem Heft.) 17) M. Baethge u. a.: Produktion und Qualifikation. 18) Ebd., S. 19 19) Ebd., S. 18 19a) Ebd., S. 1 8 / 1 9 20) Ebd., S. 19, Hervorhebungen durch die Verfasser. 21) Ebd., S. 4l. Vgl. dazu H. May und R. Nemitz (Projekt Automation und Qualifikation): Kann der Kapitalismus die Produktivkräfte noch weiterentwickeln? Bericht über eine Diskussion in der DDR. In: Marxistische Blätter, Heft 3, 1976, S. 108-115- (Reprint in diesem Heft.)

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22) Vgl. zur Durchsetzung der Automation auch unsere Untersuchung; Automation in der BRD, a.a.O.. 23) M. Baethge u. a., S. 66. , 2k) Ebd., S. 6 7 . 25) Ebd., S. 79. 26) Ebd., S. 80. 27) M. Baethge u. M. Schumann: Weiterbildung und die Verfassung gesellschaftlicher Arbeit, in: Neue Sammlung, 13Jg., 1973, s. 150. 27a) Ebd., S. 265. 28) Ebd. 29) Ebd., S. 277. 3.0) M. Baethge: Ausbildung und Herrschaft. Unternehmerinteressen in der Bildungspolitik. Frankfurt/M. 1970, S. 221. 31) M. Baethge: Die Integration, S. 295. 32) Ebd., S. 296. 33) Ebd., S. 265. 33a) Vgl. R. Nemitz :> Technik als Ideologie. In: Das Argument, Heft 103, 1977, s. 360-381. 34) E b d S . 278. 35) Ebd. 36) M. Baethge und M. Schumann: Weiterbildung, S. 144. 37) M* Baethge: Die Integration, S. 278. 30) Ebd., S. 281. 39) Ebd. 40) Dem entspricht an anderer Stelle seine idealistische Bestimmung der "allgemeinen Interessen" als aus 1"allgemeinen Konsens entstandene(n) Interessen" und seine Charakterisierung des Widerspruchs zwischen gesellschaftlicher Produktion und privater Aneigung als "die grundlegende Widersprüchlichkeit zwischen privater Verfügung über den Produktionsprozeß und allgemeinen Bedürfnissen". M. Baethge: Die Integration, S. 292. 41) Ebd., S. 282. 42) Ebd., S. 266. 43) M. Baethge u. a.: Produktion, S. 80. ~ 4,4> M. Baethge und M. Schumann: Weiterbildung, S. 151. 45) Siehe Anmerkung 31. 46) M. Baethge: Abschied, S. 27. 47) M. Baethge: Die Integration, S. 274. 48) Ebd.

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Nora Räthzel und Gerhard

Zimmer

Ermöglicht die Qualifikationsentwicklung Bildung für alle? Thesen zu einem perspektivischen Bildungsbegriff* 1. Die Entwicklung des Menschen, soweit sie als mehr oder weniger gesellschafdich institutionalisierter Prozeß vor sich geht, betrifft auch nach einem Jahrzehnt begonnener Bildungsreformen die einzelnen Individuen noch in deutlich ungleicher Weise. Diese beobachtbare Ungleichheit spiegelt sich auch in der Unterschiedlichkeit der Begriffe, die für den Bildungsund Erziehungsprozeß verwendet werden. Da ist die Rede von „Menschenbildung", von „Bildung" und „Ausbildung", von „allgemeiner" und „beruflicher Bildung". In den sechziger Jahren ist der Begriff „Qualifikation" Mode geworden, wobei der wie auch immer interpretierten Qualifikationsentwicklung eine zentrale Bedeutung für Veränderungen im Bildungswesen beigemessen wird. Wie sehr der begonnene Prozeß der Aufhebung der Ungleichheiten im Bildungs- und Ausbildungswesen - soweit dies dort allein möglich ist - noch in seinen Anfängen steckt, zeigt sich auch gerade darin, daß eine genaue Abgrenzung wie eine präzise Bestimmung, was mit jedem Begriff eigentlich gemeint sein soll, ebenso schwierig ist wie die Bildung eines Begriffes, der die Aufhebung der Ungleicheit perspektivisch zum Ausdruck bringt. Gerade in einer Zeit, in der konservative Bildungspolitiker und -theoretiker eine verschärfte öffentliche Kampagne nicht nur um die Verhinderung und Rückschraubung struktureller Reformen, sondern auch um ideologische Fesselung wissenschaftsorientierter Bildungsinhalte und -ziele mittels eines konservativen Erziehungsbegriffs führen, könnte eine Klärung der verwendeten Begriffe für die politische Orientierung im Kampf um demokratische Bildungsreformen nützlich sein. Mit dem Streit um Begriffe wird ein Streit um unterschiedliche Bildungskonzeptionen geführt, die ganz verschiedene bildungspolitische Konsequenzen haben. Zur Klärung wäre eine historische Ableitung der Begriffe und ihrer Bedeutungsinhalte und eine Auseinandersetzung mit der bisher dazu erschienenen Literatur erforderlich. Hier können nur einige Zusammenhänge zwischen den Begriffen, ihrem Gebrauch und ihrer praktischen Relevanz aufgezeigt und Vorschläge zum Sprachgebrauch formuliert werden. Mit der skizzenhaften Darlegung der historischen Entwicklung des Gegensatzes von Bildung und Ausbildung soll zum einen gezeigt werden, wie eine historische Ableitung der Begriffe angegangen werden könnte, und zum anderen, von welchem Standpunkt aus die Perspektive einer allseitigen Entwicklung aller Menschen denkbar und realisierbar wird. 2. Der bis heute existierende praktische Gegensatz von Bildung und Ausbildung wurde bereits von den Neuhumanisten theoretisch begründet: Bildung als allgemeine Menschenbildung, deren Ziel die möglichst allseitige Entwicklung des Individuums war, wurde unterschieden von der Ausbildung, die in „Spezialschulen" oder Handwerks- bzw. Industriebetrieben stattfand und deren Ziel die Vermittlung von Kenntnissen und Fertigkeiten für ein Gewerbe oder einen Beruf war. Diese Unterscheidung spiegelte eine Struktur des Bildungswesens wider, die sich über Jahrhunderte entwickelt hatte: Es gab auf der einen Seite eine große Vielfalt höherer kirchlicher und bürgerlicher Schulen (Latein-, Gelehrten-, Ratsschulen usw.), die als Bildungsanstalten des Klerus, von Gelehrten, von Beamten sowie von Teilen des städtischen Bürgertums eine jahrhundertealte Tradition hatten. Der gemeinsame Kern dieser Schulen bestand in der formalen Schulung in den alten •Die folgenden Hiesen wurden in einer gekürzten Fassung von G. Zimmer als Diskussionsbeitrag der Arbeitskonferenz der, «Demokratischen Erziehung" am 7. Oktober 1978 in Frauenberg bei Manburg vorgelegt.

Nora Räthzel/ Gerhard Zimmer Sprachen und der Vermittlung der klassischen Überlieferungen. Darin sah man den wesentlichen Bestand allgemeiner Menschenbildung. Zwar führte die bereits im 12. und 13. Jahrhundert sich vollziehende Veränderung im Handel, im Geldverkehr und in den Produktionstechniken sowie der Ausbau von Wissenschaftsdisziplinen wie Mathematik und Astronomie, neben der Erschließung neuer griechischer und arabischer Schriften, zu einem ständig vermehrten Bildungswissen, das in Wissenschaftseinteilungen und Wissenschaftslehren geordnet und in großen Enzyklopädien - vom 13. Jahrhundert auch in den in Volkssprachen verfaßten Laienenzyklopädien - dargestellt wurde. Aber in der bis ins 17. Jahrhundert herrschenden Schulwirklichkeit in den „höheren Schulen" fand das enzyklopädische Bildungswissen in der Regel keine Berücksichtigung. Bestenfalls wurden Teile in den Oberklassen der „höheren Schulen" gelehrt; das Erlernen der alten Sprachen stand jedoch weiterhin im Zentrum des Unterrichts. Erst als die industriemäßige Produktion als hauptsächliche Produktionsweise sich durchzusetzen begann, fanden auch die Naturwissenschaften, Mathematik und neuere Sprachen als Inhalte einer allgemeinen Bildung entsprechend den Bildungsbedürfnissen der Fabrikanten, Kaufleute, aber auch der Handwerker und Gewerbetreibenden mit der Entwicklung von Realschulen im 18. und 19. Jahrhundert Eingang in die Schulwirklichkeit. Daneben gab es eine „volkstümliche" Elementarbildung für die zeitlebens mit Handarbeit beschäftigten Fabrikarbeiter, Tagelöhner, Bauern, Handwerker, Soldaten usw., in der Lesen, Schreiben und Rechnen neben Religion vermittelt wurden. Frühe Vorläufer haben die Elementarschulen u. a. in den im 15. und 16. Jahrhundert in den Städten von Zunfthandwerkern gegen die „höheren Schulen" gegründeten deutschen Lese- und Schreibschulen. Erst mit der sich rasch entwickelnden kapitalistischen Produktionsweise wurde eine elementare Bildung für die breiten Volksmassen notwendig und mit der Einführung der gesetzlichen Schulpflicht im 18. und 19. Jahrhundert auch allmählich praktisch durchgesetzt. Damit entstanden die Volksschulen. 3. Es waren die Pädagogen der deutschen Aufklärung („Philanthropen"), gegen die die Neuhumanisten ihr Bildungskonzept entwickelten. Die Philanthropen forderten gegen alle bisherige Büdungspraxis etwa Mitte des 18. Jahrhunderts die Bildung aller Menschen zur „Vollkommenheit", d. h. der gleichmäßigen Entwicklung aller Fähigkeiten der Individuen, und zur „gesellschaftlichen Brauchbarkeit", d. h. der Ausbildung in Kentnissen und Fertigkeiten zur Ausübung eines Gewerbes oder Berufes; s Erstens sollten „die sämtlichen Kräfte" des Zöglings „dergestalt verhältnismäßig geübt werden, daß sie, jede in ihrer Art, gleich starker und anhaltender Anstrengungen fähig werden mögen" (Campe, S. 27). Zweitens sollten alle Menschen diese Erziehung bekommen, insbesondere die bisher benachteüigten Schichten: So spricht Campe von zwei „Sonderbarkeiten" bisheriger „bürgerlicher Verfassungen", nämlich: „erstlich die große und unverzeihliche Nachlässigkeit, deren sich bisher fast alle Staaten in Ansehung der Erziehung der allerzahlreichsten und nützlichsten, ja fast der einzigen wirklichen erwerbenden Klassen ihrer Untertanen - der Bauern und der Bürger - schuldig gemacht haben; und zweitens die noch größere und fast noch unverzeihlichere Vernachlässigimg der gesamten zweiten Hälfte der Menschheit - des weiblichen Geschlechts" (Campe, zit. nach Heydorn und Koneffke, S. 113). Drittens sollten alle Menschen zur „gesellschaftlichen Brauchbarkeit" erzogen werden. Diese „Brauchbarkeit" sollte zugleich die Freiheit des Individuums durch wirtschaftliche Unabhängigkeit, d. h. eigene Arbeit, garantieren. „Wer frei sein soll, muß lernen, frei sein zu können, frei kann aber nur derjenige sein, der auf eine seiner Stellung entsprechende Weise Kopf und Hand gebrauchen kann und mag" (von Oldenburg, zit. nach Heydorn und Koneffke, S. 74). Diese Büdungs- und Erziehungsforderungen der Phüanthropen, in denen die Ideale des aufsteigenden Bürgertums, wie sie in der Französischen Revolution für alle Gesellschaftsmitglieder formuliert wurden, erkennbar sind, haben ihre ökonomische und gesellschaftliche Grundlage in der sich immer mächtiger entwickelnden bürgerlichen Produktions- und Verkehrswei88

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Qualifikation und Bildung se, in der der von feudalen Abhängigkeiten befreite selbständig produzierende und handeltreibende Mensch als Einzelindividuum praktische Realität zu werden begann; die Verbindung von ,,Vollkommenheit'' und „Brauchbarkeit" konnte so auch als praktisch anzustrebendes Ideal der Entwicklung aller Menschen formuliert werden. Mit dieser Konzeption war zugleich eine politisch-emanzipatorische Absicht verbunden: Campe u. a. hofften, die feudalen Verhältnisse in Deutschland auch mit dem Mittel der Erziehung ändern zu können. Die Erziehung der Individuen zu vernünftigen und selbständig handelnden Menschen würde dazu führen, daß diese auch für die Herstellung vernünftiger gesellschaftlicher Verhältnisse sorgten. f Als einen Weg zur Verwirklichung dieses Ideals, der Verbindung von „Vollkommenheit" und „Brauchbarkeit", propagierten die Philanthropen die sogenannten Industrieschulen, in denen die Kinder im Wechsel mit der Arbeit, entsprechend ihren „kindlichen Trieben", in Lesen, Schreiben und Rechnen unterrichtet werden sollten. Da diese Schulen meist große Handwerksstuben waren, die von Landesfürsten oder Verlagskapitalisten betrieben wurden und ihren Unterhalt selbst erarbeiten mußten, fand der „literarische Unterricht" meist doch bei der Arbeit selbst statt, z. B. beim Spinnen oder Nähen, und bestand dann lediglich im Vorlesen aus der Bibel oder dem Katechismus, so daß die Kinder weniger zur „Vollkommenheit" erzogen wurden als vielmehr zur „Brauchbarkeit für andere" und als Ausbeutungsobjekte mißbraucht wurden. Die Industrieschulen waren Schulungsstätten der Arbeitskräfte für die fürstlichen Manufakturen und dasVerlagskapital. Die Ausbildung zur „Vollkommenheit" fiel der Entwicklung der anderen Fähigkeiten zum Opfer. Festzuhalten aber ist, daß in den Industrieschulen, die als Vorläufer der Volksschulen angesehen werden können, breite Teile der Bevölkerung zum ersten Mal Kenntnisse erlernten, wie Lesen, Schreiben und Rechnen, die jahrtausendelang Mitgliedern der herrschenden Klassen oder ihren Intellektuellen vorbehalten gewesen waren. Dies war ein Fortschritt trotz .der unmenschlichen Formen, in denen er sich durchsetzte. Die Industrieschulen waren also nicht in der Lage, die Erziehung zur „Brauchbarkeit" mit der Erziehung zur „Vollkommenheit" zu verbinden. Dies ist vor allem darauf zurückzuführen, daß die bäuerlichen und handwerklichen Arbeiten, die von der breiten Bevölkerung verrichtet wurden, kaum die Entfaltung aller Fähigkeiten der Individuen erforderten. Drei Viertel der Bevölkerung lebte auf dem Lande, war also Kleinbauer, Tagelöhner oder Leibeigener, nicht einmal ein Prozent waren Manufakturarbeiter, der Rest waren in Zünften und im Verlagswesen organisierte Handwerker (vgl. Schüfest). Dieser sich in der Praxis der Industrieschulen zeigende Widerspruch zwischen „Vollkommenheit" und „Brauchbarkeit" blieb den Philanthropen nicht verborgen. Die Unrealisierbarkeit einer Erziehung, die „Vollkommenheit" und „Brauchbarkeit" gleichermaßen gerecht wird, erkennend, schlugen sie sich auf die Seite der „Brauchbarkeit". Auf die selbst gestellte Frage, „ob es bülig ist, die Veredelung des Subjekts seiner Brauchbarkeit für andere aufzuopfern", antworteten sie: Die Gesellschaft habe ein „unwidersprechliches, heiliges Recht", daß das einzelne Individuum, „selbst auf Kosten seiner höchsten Vollkommenheit, ihr diene, weil sie die Quelle, die Schöpferin dieser Vollkommenheit ist". Dementsprechend forderten sie vom Staat, daß er „Form und Grenzen des Volks- und Kinderunterrichts, insofern solches Wohl den Staat angeht, aufs genaueste bestimmte" (Vülaume, S. 109 f.). 4. Gegen dieses Nützlichkeitsdenken, das die Entwicklung aller Fähigkeiten des Individuums den Erfordernissen seiner gesellschaftlichen Brauchbarkeit unterordnete, wandten sich die Neuhumanisten, indem sie umgekehrt forderten, daß sich die Arbeit der Entwicklung der Individuen unterzuordnen habe. „Im Mittelpunkt aller besonderen Arten der Thätigkeit nämlich steht der Mensch, der ohne alle, auf irgend etwas Einzelnes gerichtete Absicht, nur die Kräfte seiner Natur stärken und erhöhen, seinem Wesen Werth und Dauer verschaffen wül" (Humboldt, I, S. 235).

Nora RäthzelundGerhard Zimmer Nicht die zweckfreie Bildung des Menschen unabhängig von seiner Arbeit ist Humboldts Intention, wie oft angenommen wird, sondern alle Tätigkeiten sollen der „Stärkung" und „Erhöhung" aller Individuen dienen. Dieser Standpunkt der Beurteilung von Bildung und Arbeit, von „Vollkommenheit" und „Brauchbarkeit", ist dem der Philanthropen entgegengesetzt: Während die Philanthropen den Standpunkt „der Gesellschaft" einnahmen, urteilten die Neuhumanisten vom Standpunkt „des Individuums". Dieser Standpunkt erlaubt es, diejenigen Arbeiten bzw. Tätigkeiten, die die Entwicklung des Menschen verhinderten oder gar zerstörten, von jenen zu unterscheiden, die die Entfaltung aller Kräfte förderten. In diesem Sinne ist an diesem Standpunkt festzuhalten. Wenn, wie zur Zeit Humboldts, in der beginnenden industriellen Produktion die konkreten Tätigkeiten den Menschen eher verkrüppelten als entwickelten, mußte diese Sichtweise jedoch dazu führen, den meisten Tätigkeiten einen Nutzen für die Entwicklung der Individuen abzusprechen. Konsequenz war, daß der Ausbildung für einen Beruf oder ein Gewerbe keine bildende Kraft zugesprochen und damit ihre Integration in die allgemeinbildenden Schulen abgelehnt wurde. Der Anspruch einer gleichen allgemeinen Menschenbildung für alle, die von den Neuhumanisten ebenso wie schon von den Philanthropen formuliert wurde, mußte vor der gesellschaftlichen Wirklichkeit kapitulieren. Es wurde als unumgänglich angesehen, daß es für die verschiedenen Bevölkerungsschichten unterschiedliche Schulgattungen gab. Der Unterschied zwischen den Schulgattungen (Elementarschulen, Bürgerschulen, Gelehrtenschulen) sollte dadurch gemildert werden, daß in allen Schulgattungen nur Wissen von hohem Allgemeinheitsgrad vermittelt werden sollte, damit möglichst alle Fähigkeiten der Kinder auf dem jeweiligen Niveau der Schulgattungen, der sie angehörten, entwickelt werden, ohne sie schon frühzeitig zu spezialisieren (Humboldt, II, S. 172). Die Neuhumanisten formulierten damit Bildungsforderungen, die nur für die herrschende Klasse, also für diejenigen, die von der materiellen Produktion befreit waren, zu verwirklichen waren. Dennoch ist anzunehmen, daß diese humanistische Bildung nicht zweckfrei war, sondern die Kenntnisse und Fähigkeiten vermittelte, die die bürgerliche Klasse für den Ausbau ihrer Herrschaft in Wirtschaft, Staat und Gesellschaft benötigte. 5. Das einseitige Festhalten der Philanthropen an der „Brauchbarkeit" und der Neuhumanisten an der „Vollkommenheit" ist aus den unentwickelten Produktivkräften erklärlich, die die Einheit beider in der Wirklichkeit und daher auch in einer auf Verwirklichung gerichteten Theorie nicht zuließen. Ohne die Entwicklung der Produktivkräfte, der Tätigkeiten und Qualifikationen sowie deren Umsetzung in der weiteren Entwicklung der Bildungs- und Erziehungstheorie und -praxis an dieser Stelle weiter verfolgen zu können, sei soviel kurz festgehalten, daß mit der Entwicklung der großen Industrie und den darin neu entstehenden Tätigkeiten einerseits die Volksschulbildung erweitert wurde und andererseits die höhere Bildung um naturwissenschaftliche Fächer, Mathematik und neuere Sprachen, in der jüngsten Zeit auch um solche Fächer wie Technik und Arbeitslehre erweitert wurde. Darüber hinaus wurde die Ausbildung in betrieblichen Lehrwerkstätten und staatlichen Berufsschulen institutionalisiert. Die mit der maschinellen Produktion gestiegene Anzahl unterschiedlichen Personals in den produktionsvorbereitenden und -steuernden Bereichen wurde in ein entsprechend vielfach gestuftes berufliches Ausbildungssystem umgesetzt, das von den Berufsschulen, in denen einfache anwendungsbezogene technische und technisch-rechnerische Grundlagenkenntnisse und -fähigkeiten (z. B. für Facharbeiter) vermittelt wurden, bis zu den Fachhochschulen reichte, in denen mathematische, technisch-naturwissenschaftliche, betriebsorganisatorische und -ökonomische Kenntnisse und Fähigkeiten vermittelt wurden, die für konstruktive, planende und leitende Funktionen qualifizierten. In diesen Entwicklungen, insbesondere in den neuen Unterrichtsfächern in den allgemeinbildenden Schulen als auch in den allgemeinbildenden Fächern: Deutsch, Englisch, Sozialkunde usw. in den berufsbildenden Schulen, zeigen sich erste Annäherungstendenzen allgemeiner und beruflicher Bildung, deren Integration aber auf-

Qualifikation und Bildung grnnd der gesellschaftlichen Teilung zwischen Hand- und Kopfarbeit und ihrer Verdoppelung in der materiellen Produktion zwischen planenden und ausführenden Tätigkeiten noch nicht als Notwendigkeit erschien. 6. Als allgemeines Resultat kann festgehalten werden, daß der Entwicklungsstand der Arbeit wesentlichen Einfluß auf die Formulierung und Verwirklichung von Bildungskonzeptionen hat. Im folgenden sollen einige Ausführungen, die wir an anderer Stelle über die Entwicklung der Tätigkeiten und erforderlichen Qualifikationen in der automatischen Produktion gemacht haben, kurz wiederholt werden, um die daraus resultierenden Folgerungen für die Diskussion des Bildungsbegriffs ziehen zu können:1 2 Die Entwicklung der Automation ist gerade dadurch gekennzeichnet, daß auf der Seite der Produktionsmittel die Steuerung und Regelung der Bewegungen einer Maschine, eines Maschinensystems oder gar einer ganzen Fabrik durch ein automatisches Steuer- und Regelsystem bewerkstelligt wird. Auf der Seite der Produzenten ist die Automation die Emanzipation von organischen Schranken: zum Beispiel von konzentrierter Daueraufmerksamkeit, Wahrnehmungsfähigkeit, Reaktionsgeschwindigkeit, von der Speicher- und Abruffähigkeit des Gehirns. Für den Produzenten bedeutet dies zunächst das Heraustreten aus unmittelbaren produktiven Tätigkeiten, d. h. Entlastung von Routinetätigkeiten nicht nur der Hände wie in der großen Industrie, sondern auch des Kopfes. Damit wachsen dem Produzenten Tätigkeiten zu, die die Entfaltung seiner schöpferischen Fähigkeiten tendenziell fördern. Unter kapitalistischen Produktionsverhältnissen setzen sich aber diese Entwicklungsmöglichkeiten keineswegs widerspruchsfrei durch, sondern sind im Gegenteil mit verheerenden Folgen für die Persönlichkeitsentwicklung des Menschen verbunden: zum Beispiel einer höheren Dauerarbeitslosigkeit wenig qualifizierter - insbesondere Jugendlicher - bei gleichzeitiger Überbeschäftigung qualifizierter Arbeitskräfte. Für das Kapital ist es kostengünstiger, die von ihm für seine Verwertungsbedürfhisse qualifizierten Arbeitskräfte auch intensiv zu nutzen. Als Automationsarbeiter erhält der Produzent die neuen Arbeitsfunktionen der Vorbereitung, Überwachung, Kontrolle und Instandhaltung, die sich von vornherein auf den gesamten Herstellungsprozeß eines oder mehrerer Produkte beziehen. Zur Ausübung dieser Arbeitsfunktionen benötigt er in zunehmendem Maße die Kenntnis des naturwissenschaftlich-technischen, mathematischen und betriebsökonomischen Funktionszusammenhangs der regulierten Prozeßvariablen, die Kenntnis der technischen und - in rudimentärer Form der wirtschaftlichen Folgen von Störungen und Fehlhandlungen, in manchen Fällen auch über den 1 Unsere Thesen zur Qualifikationsentwicklung sind bekanntermaßen heftig umstritten, wir werden dazu in Kürze die Resultate unserer empirischen Untersuchungen vorlegen. Vgl. zu dieser Diskussion u. a.: F. Haug, U. Gluntz, R. Nemitz, W. van Treeck und G. Zimmer: Automation führt zur Höherqualifikation. Thesen über Hand- und Kopfarbeit. In: Demokratische Erziehung, 1. Jg. (1975), Heft 4, S. 90-96; W.Rügemer: Automation, Qualifikation und subjektiver Faktor. Eine Auseinandersetzung mit der Projektgruppe Automation und Qualifikation. In: Demokratische Erziehung, 3. Jg. (1977), Heft 3, S. 305-314; F. Haug und R. Nemitz: Wer ist das Projekt Automation und Qualifikation? In: Demokratische Erziehung, 3. Jg. (1977), Heft 5, S. 594-597; O. Mickler, W. Mohr, U. Kadritzke unter Mitarbeit von M. Baethge und U. Neumann: Produktion und Qualifikation. Bericht über die Hauptstudie im Rahmen der Untersuchung von Planungsprozessen im System der beruflichen Bildung - eine empirische Untersuchung zur Entwicklung von Qualifikationsanforderungen in der industriellen Produktion und deren Ursachen, Teil I, Göttingen 1977, S. 9 ff. Projektgruppe Automation und Qualifikation (F. Haug, H. Öottschalch, H. May, R. Nemitz, Ch. Ohm, N. Rätfizel, W. van Treeck, Th. Waldhubel, S. Wenk, G. Zimmer): Theorien über Automationsarbeit. ArgumentSonderband AS 31, Argument-Verlag, Berlin/West 197. In Vorbereitung: Projektgruppe Automation und Qualifikation: Automationsarbeit. Empirische Ergebnisse (Arbeitstitel). Argument-Sonderband 43, erscheint voraussichtlich 1979. 2 Es bedarf noch eigener Untersuchungen, um zu klären, welche Veränderungen in der Zirkulationssphäre Qualifikationsveränderungen zur Folge haben. Vgl. dazu den interessanten Aufsatz von Georg Auernheimer: Mündigkeit und Allgemeinbildung als Erziehungsanforderungen der bürgerlichen Gesellschaft. In: Demokratische Erziehung, 3. Jg. (1977), Heft 3, S. 291-304. Im folgenden werden nur die aus der Entwicklung der gesellschaftlichen Produktion ableitbaren Qualifikationen betrachtet, weil die Anforderungen an die Befähigung zur Reproduktion des Arbeitsvermögens oder an die Befähigung zur Bewältigung des praktischen Lebens in der kapitalistischen Gesellschaft, außerhalb der unmittelbaren Arbeitstätigkeit, sich mit der kapitalistischen Gesellschaftsformation verändern, aber wie diese Resultat der Entwicklung der materiellen Produktion und daher aus deren Entwicklung letztlich zu erklären sind.

Nora Räthzel/ Gerhard Zimmer Betrieb hinaus, da er andernfalls nicht verändernd in den Prozeß eingreifen könnte. Diese neuen Arbeitsfunktionen erfordern auch neue Haltungen gegenüber dem gesamten Herstellungsprozeß, wie Verantwortung, Initiative, Lernbereitschaft, ökonomisches Denken usw., die nicht mehr durch. Stücklohnformen oder Aufsicht erzeugt werden können, sondern die angemessen nur auf zunehmend wissenschaftlichen Kenntnissen um die Funktionszusammenhänge und Gesetzmäßigkeiten der Produktion gedeihen können. Die erhöhten Qualifikationsanforderungen, größeres Wissen, geübtere Denkfähigkeiten, Einsicht in größere Zusammenhänge bis hin zu anfänglichen ökonomischen Überlegungen, können so die Grundlage bilden für ein Denken und daraus folgendes Handeln, das nicht beim Produktionsprozeß selber stehenbleibt, sondern darüber hinaus auch die gesellschaftlichen Verhältnisse, unter denen produziert wird, reflektiert. Mobilisiert werden kann ein solches kritisches Denken durch die Verschärfung des Konflikts zwischen den Erfordernissen einer zunehmend vergesellschafteten automatisierten Produktion, denen die Produzenten in ihrem Produktionshandeln Rechnung tragen müssen, und den privaten Zwecken der Produktion. Da die von den Produzenten entwickelten Qualifikationen zunehmend die Herrschaft des Kapitals in Frage stellen, das Kapital zugleich aber um seiner Existenz willen diesen Qualifikationen Rechnung tragen muß, wird es ständig versuchen, die erforderlichen Qualifikationen so gering als möglich zu halten und zugleich immer neue Strategien zur Aufrechterhaltung seiner Klassenherrschaft entwickeln (vgl. F. Haug). Indem der Gesamtprozeß der Arbeitsgegenstand jedes kooperierenden Automationsarbeiters ist, er daher auch von allen begriffen werden muß, hören sie auf, vereinseitigte Detailarbeiter zu sein. Eine Angleichung der Unterschiede in den Tätigkeiten und damit auch in den Qualifikationsanforderungen über verschiedene Branchen hinweg wird möglich, mithin werden die Qualifikationsanforderungen eine größere Allgemeinheit erlangen. Erst heute, scheint es, kann Marx' Satz - ausgesprochen für die große Industrie - seine volle Gültigkeit bekommen: „Aber von dem Augenblick an, wo jede besondere Entwicklung aufhört, macht'sich das Bedürfnis nach Universalität, das Bestreben nach einer allseitigen Entwicklung des Individuums fühlbar" (Marx, S. 157). Inder automatischen Produktionsweise wird dieses Bedürfnis nach allseitiger Entwicklung zu einem Erfordernis der Produktionsweise selbst; unter kapitalistischen Produktionsverhältnissen wird es in vielfältiger Weise gehemmt und verbogen. 7. Welche Folgerungen können daraus für den Büdungsbegriff gezogen werden? Das sich entwickelnde Bedürfnis nach allseitiger Persönlichkeitsentwicklung muß von der demokratischen Bildungsreformbewegung auf der Grundlage der gestiegenen Denkanforderungen und neuen Haltungen aufgegriffen und aktiv zur weiteren Entfaltung gebracht werden: War durch die Trennung von Hand- und Kopfarbeit die theoretische Reflexion auf Ziel und Durchführung der gesellschaftlichen Produktion vom arbeitenden Menschen getrennt, so werden jetzt die Möglichkeiten der theoretischen Reflexion der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung durch die Erfordernisse der gesellschaftlichen Produktion selbst geschaffen. Ist die Anstrengung des Denkens allein die Voraussetzung für die Erkenntnis der Strukturen und Gesetzmäßigkeiten der widersprüchlichen Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft, so hat bislang die Teilung von körperlicher und geistiger Arbeit verhindert, daß die Potenzen des Denkens von-allen Menschen in gleicher Weise realisiert werden konnten. Mit der tendenziellen Aufhebung der Trennung von Hand und Kopf entstehen größere Möglichkeiten massenhaften und organisierten gesellschaftlichen Handelns zur sozialen Umgestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Für die wissenschaftliche Fundierung dieses gesellschaftlichen Handelns müß die sich verändernde Realität auf der Grundlage historisch-struktureller Rekonstruktion ihrer Entwicklung ständig neu analysiert werden, gewonnene Erfahrungen sind auf ihre Verallgemeinerbarkeit, fixierte Erkenntnisse auf ihre Gültigkeit hin zu prüfen, Schlußfolgerungen für praktisches gesellschaftliches Handeln zu ziehen. Dazu braucht es denkende Individuen (vgl. W.F Haug). Dies erfordert die Entwicklung der Fähigkeiten aller Individuen in Bildung und Ausbildung sowie in einer berufsbegleitenden Weiterbildung. 92

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Qualifikation und Bildung 8. Die Entwicklung der Qualifikationen der Produzenten, trotz ihrer widersprüchlichen Entwicklungsweise im Kapitalismus, macht die Aufhebung der traditionellen Trennung von Bildung und Ausbildung notwendig. Es wird eine wissenschaftsorientierte Allgemeinbildung zusammen mit einer allgemeineren beruflichen Grundausbildung für wechselnde darauf aufbauende Spezialisierungen erforderlich. Diese Entwicklungstendenzen sind kaum mehr mit dem Begriff Ausbildung, der immer die besondere berufliche Bildung für spezielle gesellschaftliche Arbeitsfunktionen meint, zu erfassen. Aber auch der neuhumanistische Bildungsbegriff, der humanistische Bildung nur als private, ungesellschaftlich-individuelle und fern den Notwendigkeiten gesellschaftlicher Arbeit gefaßt hat - in dieser gesellschaftlichen Form des Privaten allerdings Qualifikation der Bourgeoisie zur Herrschaft war - , ist dazu ungeeignet. Mit der obenangedeuteten Entwicklung der Qualifikationen bekommt die Entwicklung und Förderung aller Potenzen aller Individuen ihre materielle Grundlage in der gesellschaftlichen Arbeit. Erstmals in der Geschichte der Menschen zeichnet sich aufgrund der Entwicklung der materiellen und subjektiven Produktivkräfte ab, daß die Bildung und Erziehung zur „gesellschaftlichen Brauchbarkeit" der Bildung und Erziehung zur „Vollkommenheit" nicht entgegensteht, sondern im Gegenteil ihrer bedarf; „Vollkommenheit" in wachsendem Maße sowohl Voraussetzung als auch Resultat „gesellschaftlicher Brauchbarkeit" wird. Auf diesem Hintergrund wird es möglich und notwendig, jedem die Kenntnis der historischen Entwicklung der natürlichen und gesellschaftlichen Bedingungen der Produktion und Reproduktion sowie grundlegende Fähigkeiten zur ständig erneuten Analyse und Verallgemeinerung der realen Entwicklung zu vermitteln. Die Verwirklichung dieser Möglichkeiten bedarf des demokratischen Kampfes in der Bildungsreform, insbesondere im curricularen Bereich. Die mögliche allseitige Befähigung aller arbeitenden Menschen wird zugleich die Voraussetzung und Grundlage freier Betätigung aller in Politik, Kultur, Wissenschaft und Bildung; diese Betätigungsfelder bleiben dann nicht länger den arbeitenden Menschen verschlossen. Darin liegen auch Möglichkeiten, allen Produzenten Einsichten und Fähigkeiten zu vermitteln, auf deren Grundlage sie selbstbestimmend und solidarisch für die demokratische Umgestaltung der Produktions- und Reproduktionsverhältnisse, der gesellschaftlichen Verhältnisse überhaupt zu kämpfen besser in der Lage sind. Damit ist im Qualifikationsbegriff auch der Gedanke der Emanzipation des Individuums, wie er im neuhumanistischen Bildungsbegriff formuliert ist, positiv enthalten. So kann der bei den Aufklärern und Neuhumanisten unlösbare Widerspruch zwischen „Vollkommenheit" und „Brauchbarkeit" oder zwischen Bildung und Ausbildung auf der Grundlage der entwickelten Produktivkräfte aufgehoben werden. Es ist daher gerechtfertigt, dem Qualifikationsbegriff in der Bildungstheorie und Bildungspolitik eine zentrale Bedeutung zuzumessen. Das heißt zugleich, daß alle Forderungen nach wissenschaftlicher bzw. emanzipatorischer Bildung für alle konstitutiv auf die Entwicklung der Qualifikationen bezogen werden müssen, wollen sie nicht letztlich dem neuhumanistischen Bildungsideal erneut verfallen. 9. Ein Bildungsbegriff, der nicht den Qualifikationsbegriff als grundlegendes und bestimmendes Moment enthält, sondern statt dessen die freie Entfaltung der Persönlichkeit nur unabhängig von gesellschaftlicher Arbeit für verwirklichbar hält, wird angesichts der realen Entwicklungsperspektiven regressiv und in seiner Umsetzung in bildungspolitische Forderungen illusionär. Ein solcher Standpunkt legt nahe, erneut eine Trennung der Bildung vorzunehmen in eine berufsqualifizierende, als notwendige Voraussetzung individueller Existenzsicherung durch Lohnarbeit, und in eine davon abgehobene emanzipatorische Allgemeinbildung, als Voraussetzung für die freie Entfaltung der Individuen fern gesellschaftlicher Arbeit. Bildung, die gerade die Befähigungen für die Emanzipation aller Menschen von Naturzwängen und von gesellschaftlichen Entwicklungsschranken schaffen hilft, wird so schwer erkämpfbar. Auch ein Standpunkt, der der derzeitigen Situation in der Bildungsreform, insbesondere dem verstärkten Vordringen konservativer Erziehungsideologie, mit der Forderung einer von Qualifikationserfordernissen unabhängigen emanzipatorischen Allgemeinbildung im Sinne der Vermittlung demokratischer Haltungen, Normen und Werte allein entgegentreten will, macht (103)

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nicht nur die emanzipatorische Bildung zu einer aus den technischen und ökonomischen Notwendigkeiten nicht ableitbaren, bloß moralisch gewünschten und damit von den Herrschenden leicht im Namen anderer Moralvorstellungen angreifbaren, sondern verkennt den notwendigen inneren Zusammenhang von Bildung und Qualifikation, verkennt den inneren Zusammenhang von wissenschaftlich fundierter Einsicht in die Entwicklung von Natur, Arbeit und Gesellschaft und demokratischen Haltungen und Handlungsmotiven, der gerade in der Perspektive der Qualifikationsentwicklung Realität werden kann. So wenig die Erkenntnis der Gesetzmäßigkeiten und Perspektiven der Qualifikationsentwicklung schon die Lösung konkreter Probleme der Bildungsreform ist, so dringend notwendig ist es für eine demokratische Bildungspolitik, diese Entwicklungstendenzen zur Grundlage ihrer Kritik sowie ihrer Forderungen und Perspektiven zu machen. Nur auf dieser materiellen Basis haben in der kapitalistischen Gesellschaft Bildungsreformforderungen Aussicht auf Erfolg, weü ihr „Bündnispartner" die sich entwickelnde Wirklichkeit selber ist - vorausgesetzt, sie werden organisiert und in breiter Zusammenarbeit aller demokratischen Kräfte vertreten.

Literatur: G. Auernheimer: Mündigkeit und Allgemeinbildung als Erziehungsanforderungen der bürgerlichen Gesellschaft. In: Demokratische Erziehung, 3. Jg. (1977), Heft 3, S. 291-304. J. H. Campe (1746-1818): Von der nötigen Sorge für die Erhaltung des Gleichgewichts unter den menschlichen Kräften. In: H. Blankertz (Hrsg.): Bildung und Brauchbarkeit. Braunschweig 1965. F. Haug: Erziehung und gesellschaftliche Produktion. Kritik des Rollenspiels. Frankfurt am Main 1977. Texte zur Kritischen Psychologie, Band 7. F. Haug, U. Gluntz, R. Nemitz, W. van Treeck, G. Zimmer (Projektgruppe Automation Qualifikation): Automation führt zur Höherqualifikation. Thesen zur Hand- und Kopfarbeit. In: Demokratische Erziehung, 1. Jg. (1975), Heft 4, S. 9 0 - 9 6 . W. F. Haug: Das sozialistische Kollektiv braucht denkende Individuen und durch Einsicht vermittelte Verbindlichkeit. In: Das Argument, Heft 98, 1976, S. 6 4 8 - 6 6 7 . K. -H. Heinemann: Fritz Helling - Porträt eines politischen Pädagogen. In: Demokratische Erziehung, 4. Jg. (1978), Heft 5, S. 4 9 5 - 5 0 9 . H.-J. Heydorn und G. Koneffke: Studien zur Sozialgeschichte und Phüosophie der Büdung. Band I: Zur Pädagogik der Aufklärung. München 1973. H.-J. Heydorn: Zu einer Neufassung des Bildungsbegriffs. Frankfurt am Main 1972. F. Hoffmann: Allgemeinbüdung. Eine problemgeschichtliche Studie. Köln 1973. W. von Humboldt: Werke I., Darmstadt 1960. W. von Humboldt: Werke II., Darmstadt 1960. Geschichte der Erziehung. Berlin/DDR 1973, 11. Aufl. K. Marx: Das Elend der Philosophie. Berlin/DDR 1971. Marx-Engels-Werke, Band 4.

O. Mickler, W. Mohr, U. Kadritzke unter der Mitarbeit von M. Baethge und U. Neumann duktion und Qualifikation. Bericht über die Hauptstudie im Rahmen der Untersuchung von Planungsprozessen im System der beruflichen Bildung - eine empirische Untersuchung zur Entwicklung von Qualifikationsanforderungen in der industriellen Produktion und deren Ursachen. Teü 1, Göttingen 1977. Projektgruppe Automation und Qualifikation: Automation in der BRD. Berlin/West 1976, 2., verbesserte Aufl., Argument-Sonderband 7. ADies.: Entwicklung

der Arbeitstätigkeiten und die Methode ihrer Erfassung. Berlin/West 1978. Argument-Sonderband 19.

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Dies.: Theorien über Automationsarbeit. Berlin/West 1978. Argument-Sonderband Dies.: Automationsarbeit: Empirie. In Vorbereitung für 1979.

31.

A. Rang und B. Rang-Dudzik: Elemente einer historischen Kritik der gegenwärtigen Reformpädagogik. Die Alternativlosigkeit der westdeutschen Alternativschulkonzepte. In: Schule und Erziehung, Band VI: Reformpädagogik und Berufspädagogik. Argument-Sonderband 21, Berlin/West 1978, S. 6 - 6 1 . W. Rügemer: Automation, Qualifikation und subjektiver Faktor. Eine Auseinandersetzung mit der Prajektgruppe Automation und Qualifikation. In: Demokratische Erziehung, 3. Jg. (1977), Heft 3, S. 3 0 5 - 3 1 4 . ör Schilfert: Deutschland 1648-1789. Lehrbuch der deutschen Geschichte. Band 4. Berl i n / D D R 1975. P. ViUaume: In: H. Blankertz (Hrsg.): Bildung und Brauchbarkeit. Braunschweig 1965.

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Holm Gottschalch, Hannelore May, Rolf Nemitz (Projekt Automation und Qualifikation)

Freiheit und Planung Überlegungen zur Bildungsreform /. Totaler Numerus clausus, Regelstudienzeit, Streichen von Planstellen, Kürzen von Sachmitteln - s o macht sich zur Zeit „Bildungsplanung" bemerkbar. Der Protest der Betroffenen ist einhellig. Er ist so naheliegend, daß es überflüssig zu sein scheint, sich dabei aufzuhalten. Und doch - prüft man die Kritik genauer, stößt man auf einen Widerspruch. Mit welchem Recht wird beispielsweise gegen den Numerus clausus protestiert? Mit dem Grundrecht des einzelnen auf freie Berufswahl: „Alle Deutschen haben das Recht, Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte frei zu wählen", so heißt es im Grundgesetz. Anders jedoch wird argumentiert, wenn Einspruch erhoben wird gegen das Zusammenstreichen der Bildungsreform. Hier wird die Planungsunfähigkeit des Staates kritisiert. Daß überhaupt geplant wird, ist dabei als Selbstverständlichkeit akzeptiert. Die Diskussion um die Bildungsreform wird also von ganz unterschiedlichen Standpunkten aus geführt. Es kann sogar vorkommen, daß, wer bislang gegen Verplanung und Reglementie.> rung sich zur Wehr setzte, jetzt in der Krise dagegen zu Felde zieht, daß die meisten Plane als „zu teuer" gestrichen werden. Wer aber einerseits Planung als Verplanung bekämpft, andererseits Planung gegen Fehlplanung verteidigt, setzt sich dem Verdacht der Wülkür aus: Gleichgültig ob geplant wird oder nicht, scheint er einzig daran interessiert zu sein, etwas Negatives zu finden, das eine Mal mit individueller Freiheit, das andere Mal mit gesellschaftlicher Planung sich verbündend. Auf welche Seite soll man sich schlagen, wenn man nicht unglaubwürdig werden will?

//. Das Bürgertum selbst ist in seinen liberalen Kritikern zu der Einsicht gekommen, daß individuelle Freiheitsrechte ohne materielle Gleichheit zur Farce werden. Von Anatole France stammt der Satz: „Bei uns hat jeder die Freiheit, unter den Brücken von Paris zu schlafen." Zwar sind alle gleichermaßen frei, man braucht aber Geld, wenn man diese Freiheitsrechte zu mehr wahrnehmen will als ungestört zu verkommen, und das Geld ist in dieser Gesellschaft sehr ungleich verteilt. Immer noch ist z. B. der Zugang zu besserer Bildung, wiewohl jedermanns Recht, auch eine Frage des Einkommens. Die Versicherung, daß man doch die Freiheit habe, zu tun und zu lassen, was man wolle, wirkt als Schleier, der die Herrschaft einer kapitalkräftigen Minderheit und eines unkontrollierten Krisenmechanismus unsichtbar machen soll. Umfassende Eingriffe in die Organisation der Gesellschaft sind notwendig, um wirkliche Freiheit statt bloß juristischer durchzusetzen. Wenn man diesen allgemeinen Überlegungen auch zustimmen mag, im konkreten Fall zeigt sich schnell, wie sehr jeder daran hängt, selber zu entscheiden, was er zu tun und zu lassen hat. Die banalste Planung, z. B. die eines Termins, kann in Bedürfnissen und Eigenheiten der beteiligten Individuen auf schier unüberwindliche Schranken stoßen. So wie der notorisch Unpünktliche dem allgemeinen Interesse an Pünktlichkeit sein Bedürfnis nach individueller 24

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Freiheit und Planung Zeitgestaltung opfern muß, so verlangt jede Planung ein Zurückstecken. Wer immer schon Schauspieler werden wollte und auf einmal gesagt bekommt: Du kannst nur Maschinenbau studieren, wir haben genug Schauspieler, der wird, abgesehen von seiner Eignung, kaum begeistert auf diesen neuen Beruf umschalten können. Es ist sogar möglich, daß er sich in seiner individuellen Freiheit so getroffen fühlt, daß er schon aus Widerwillen gegen den aufgezwungenen Beruf niemals ein guter Ingenieur wird. Insofern Planung einem allgemeinen Zweck dient, kann sie nur das befriedigen, was dem einzelnen mit den anderen gemeinsam ist. Seine Besonderheiten sind bedroht durch Egalisierung. Dieser „Zwangscharakter der Planung", auch der einfachsten und alltäglichen, ist ein Anknüpfungspunkt dafür, daß Planung als Inbegriff von Herrschaft und Gleichmacherei suggeriert werden kann und die Vision eines Orwellschen 1984 heraufbeschwört. Daran ist einleuchtend, daß „totale Planung" ganz unsinnig wäre, wie z. B. die Reglementierung des Sexuallebens durch Gesetze, die erwachsenen Menschen vorschreiben, was sie miteinander tun dürfen und was nicht.

III. Doch das Festhalten an den persönlichen Wünschen kann mit den eigenen Interessen kollidieren. Es setzt, etwa im Falle der Berufswahl, dort, wo das Individualinteresse verwickelt ist in gesellschaftliche Interessen, eine Art „prästabilierte Harmonie" voraus, nämlich daß das, was ich werden will, immer auch gebraucht wird. Und wem es etwa gegen allerlei Widerstände gelungen ist, seine Sehnsucht nach dem Theater geltend zu machen und Schauspieler zu werden, sieht sich bald, mit Tausenden Kollegen, die ebenfalls diesem Bedürfnis nachgingen, arbeitslos auf der Straße. Der gesellschaftliche Bedarf macht sich jetzt mit Macht geltend, und manch einer wird sich, arbeitslos, fragen, ob es nicht besser gewesen wäre, wenn er sich von vornherein bei der Berufswahl etwas mehr Zwang angetan hätte. Der Zwang gegenüber privaten Interessen, die sich den gesellschaftlichen entgegenstellen, ist Voraussetzung der allgemeinen Freiheit. Das Individuum hat durch Planung also durchaus nicht nur etwas zu verlieren. In vielen Fällen werden Beschränkungen individueller Freiheiten längst als selbstverständlich angesehen. Der Impfzwang bei Pocken z. B. wird zwar in Frage gestellt, weil, da durch ihn die Pocken nahezu ausgerottet sind, das Risiko größer scheint als der Nutzen, kaum aber wegen der Einschränkung des Rechts der Eltern auf die Pflege ihrer Kinder oder gar wegen der Unverletzlichkeit der Person. Durch die Schulpflicht wird ein anderes Elternrecht eingeschränkt, das auf die Erziehung ihrer Kinder. Auch hier jedoch wird sich kaum eine Mehrheit finden, die der Brechung des feudalen Elternrechts nachtrauert. Im Gegenteil: Schulpflicht wird, wie Impfzwang, als zivilisatorische Errungenschaft angesehen, nicht als Verplanung des Individuums. Schüler, die noch am stärksten die Schulpflicht als Freiheitsentzug empfinden, gehen auf die Straße, um für mehr Unterricht und damit für mehr Schulpflicht zu demonstrieren. Wenn das Sonderinteresse, das sich durch gesellschaftliche Planung bedroht sieht, nicht nur als individuelle Eigenart auftritt, sondern ausgestattet ist mit Geld und Macht, setzt es sich als Privatbesitz gegen Planung zur Wehr. In solchen Fällen ist Planung heftig umstritten. So kämpfen die Ärzte um ihre Niederlassungsfreiheit, eines der Grundrechte dieser auf Privatproduktion basierenden Gesellschaft. Da sie sich dort niederzulassen pflegen, wo das Geldverdienen am bequemsten ist, haben sie eine Unterversorgung der Bevölkerungsmehrheit herbeigeführt. Die Krankenkassen fordern deshalb Aufhebung der Niederlassungsfreiheit durch Bedarfeplanung, ohne sich durch die Vorstellung einer Plandiktatur besonders beeindrucken zu lassen. Nicht nur von engagierten Sozialisten wird ein noch heiligeres Freiheits-

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Projekt Automation und Qualifikation recht dieser Gesellschaft in Frage gestellt: das auf Privateigentum an Grund und Boden. Angesichts steigender Mieten und fehlender Wohnungen stößt die Besetzung von leerstehenden Wohnungen bei vielen zumindest auf Verständnis. Zu offensichtlich verdienen hier einige ihr Geld auf Kosten der Allgemeinheit. Dieses Geldinteresse ist ein Sonderinteresse; das Vermieten von Wohnungen ist, im Gegensatz zum darin Wohnen, nicht verallgemeinerbar. Wer sollte Mieter sein, wenn alle Vermieter sind? Wo jedoch Überfluß an Wohnungen und Ärzten herrscht, wird Planung als Verwaltung des Mangels überflüssig. Solange sie darauf beschränkt bleibt, macht sie sich für diejenigen, die weniger Mangel litten, als Entzug bemerkbar. Wer möchte sich schon freiwillig dem Mangel aussetzen? Oft wird deshalb Planung mit Mangel gleichgesetzt, einer der Gründe für die verbreitete Planungsfeindlichkeit. So wirkt die Hauptwaffe des Kalten Krieges, der Antikommunismus, der mit Hilfe des offenkundigen Warenmangels in der DDR genährt wurde und dazu führte, die Gleichung Mangel = Planung = Sozialismus zu verbreiten, als Planungsfeindlichkeit gegen den auch im Kapitalismus immer dringlicheren Plan. Die Geister, die sie gerufen, werden sie so leicfit nicht wieder los. Wo immer jedoch die Allgemeinheit ihre Interessen durch Planungszwang verwirklicht sieht, akzeptiert sie die Unterdrückung von Sonderinteressen. IV. Im allgemeinen Interesse liegt auch eine Berufsplanung, die verhindert, daß mangelnde Versorgung einerseits, Arbeitslosigkeit andererseits entstehen. Die Kontingentierung von Ausbildungsplätzen und die Planung der Ausbildungszeit ist Teil solcher Berufsplanung. Dennoch stoßen gerade Numerus clausus und Regelstudienzeit auf Widerstand. Warum? Die Kritik hat ganz unterschiedliche Motive. Es verbirgt sich einiges an elitärer Planungsfeindlichkeit dahinter, die Angst vor der Vermassung und vor dem Verlust von Privilegien. Dahinter steckt aber auch die Einsicht, daß sich in solcher Planung nicht immer die allgemeinen Interessen durchsetzen. Es ist offensichtlich, daß ein Numerus clausus in Medizin nicht im Interesse der Patienten, sondern der Ärzte ist, die auf diese Weise die Konkurrenz klein halten wollen. Hier setzt sich ein Standesinteresse in Gestalt von Planung durch, gesellschaftliche Vernunft für sich beanspruchend, die es nicht hat. Eklatant ist auch der Widerspruch, daß einerseits massenhaft Lehrer fehlen, andererseits Tausende von Lehrern arbeitslos sind, weil Planstellen fehlen. Der Stellenplan ist derart, daß er die Lehrer wieder der Anarchie des Arbeitsmarktes ausliefert, der sie lange Zeit entzogen waren. Hier setzt sich nicht nur ein einzelnes Sonderinteresse durch, sondern das ganze auf Herrschaft der Sonderinteressen gegründete System. Denn das Kunststück, Privatbesitz und Krisenfreiheit miteinander in Einklang zu bringen, ist wieder einmal nicht gelungen, und dem Staat geht das Geld aus. Die noch denkbare Finanzierung der notwendigen Bildungsausgaben aus dem Rüstungshaushalt stößt an die Grenzen des Systems. Es bleibt die Verwaltung des Mangels, eines Mangels, der zudem die Tarnung bietet, hinter der sich die Aufhebung der freien Berufswahl durch Berufsverbote bequem verstecken läßt. In den Berufsverboten setzen sich besonders eklatant die Privatinteressen durch. Denn verfolgt werden alle, die die Beseitigung des Privateigentums an Produktionsmitteln im Interesse der Allgemeinheit auch nur erwägen. Was die Einschätzung von Planung so schwierig macht, ist also, daß sich ganz unterschiedliche Interessen dahinter verbergen können. Sonderinteressen müssen sich meist als Allgemeininteresse tarnen und kommen oft sogar erst bei Planung zur vollen Entfaltung. Im Faschismus wurde dies massenhaft erfahren, auch dies einer der Gründe für Planungsfeindlichkeit. Wo es heißt, das Individuum müsse seine persönlichen Bedürfnisse zurückstellen hinter das Allgemeinwohl, fürchtet es den Verrat. 26

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Freiheit und Planung

V. Angesichts der halbherzigen und doppeldeutigen Bildungsplanung ist man leicht geneigt, „wahre", „eigentliche" Planung im Kapitalismus für unmöglich zu halten. Jeder Plan im Kapitalismus scheint ein Un-Plan zu sein. Wenn jedoch „eigentlich" gar nicht geplant wird, was bedeutet es dann, daß immer mehr Menschen weiterführende Schulen und Hochschulen besuchen? Offenbar werden mehr qualifizierte Arbeitskräfte gebraucht als früher. Wo dieser Zusammenhang nicht gesehen wird, verwandelt sich die Losung „die Universität den Massen" zum Begriff der „Massenuniversität", wird Biidung-für-alle zur Bedrohung des bürgerlichen Individuums; die Verachtung vor den Massen verdunkelt dabei den berechtigten Kern des Protests, den Mangel an Planstellen und Sachmitteln. Wäre es prinzipiell unmöglich, daß auch im Kapitalismus für die Allgemeinheit geplant wird, dann müßte jede Verbesserung etwa des Schulsystems oder des Verkehrssystems abgelehnt werden. Die Allgemeinheit hätte kein Interesse am Bau von Deichen, denn was sie schützen, ist das Privateigentum. Nicht alles jedoch, was dem Kapital nützt, muß der Arbeiterklasse schaden. Es käme kaum jemand auf die Idee, den Zehnstundentag wieder einführen zu wollen, weil durch den Achtstundentag die Ausbeutung zugenommen hat. Trotzdem besteht dieser Zusammenhang. Es ist im Kapitalismus fast unmöglich, Fortschritte für die Mehrheit zu erringen, ohne das Kapital als Nutznießer auf den Fersen zu haben. Umgekehrt kann aber auch das Kapital seine Fortschrittsleistungen selten nur für sich behalten. Wie soll man sich nun konkret zur Einschränkung der Berufsfreiheit, zu Numerus clausus und Regelstudienzeit verhalten? Wenn die Kontingentierung und Proportionierung von Studienplätzen dem gesellschaftlichen Bedarf entspricht, dann müßten Numerus clausus und I^egelstudienzeit begrüßt werden. Ebenso wäre zu unterstützen, daß die Bundesanstalt für Arbeit solche Umschulungsmaßnahmen verweigert, die sich nach Lage des Arbeitsmarkts als zwecklos erweisen. Aber was ist die „Lage des Arbeitsmarktes", was ist der „gesellschaftliche Bed a r f ? Nicht das, was jedes Einzelkapital gerade braucht, nicht die schnell sich wandelnde Lage des Marktes, das kurzfristige Interesse an Profit. Befürworten muß man einen Plan, der sich nach den langfristigen Entwicklungen der Produktion und der Gesellschaft richtet. Sie bestimmen den gesellschaftlichen Bedarf, und die Lage des Arbeitsmarktes ist nur insofern von Bedeutung, als sie diese langfristigen Tendenzen widerspiegelt, wie etwa derzeit, wo das Kapital bei wachsender Arbeitslosigkeit seine Stärke wirksamer nutzt, um den Werktätigen neben Sozialabbau auch die trostlose Perspektive eines perspektivlosen Berufes aufzuzwingen. Wo sich hinter gesellschaftlichen Plangrößen feudale Standesinteressen verbergen (wie beim Numerus clausus für Mediziner), ist das bürgerliche Recht auf freie Berufswahl eine wichtige Waffe. Wo jedoch der einzelne durch die kurzfristigen Verwertungsinteressen bedroht ist, reicht das nicht aus. In Krisen und kapitalistischer Planung setzt sich zwar langfristig auch gesellschaftliche Vernunft durch, aber auf eine für die Individuen katastrophale Weise. Nur in dem Maße, wie sie Planung kontrollieren, wird die Bewegungsweise des Fortschritts menschlich. In ihrem Interesse liegt es deshalb, eine Mitbestimmung zu erkämpfen, die von den Lehrinhalten und -methoden bis zu den Klassenfrequenzen und Planstellen reicht, von der Schule bis zum Staatshaushalt. Nur so wird es gelingen, eine Planung durchzusetzen, die bewußt nach Maßgabe des Möglichen die allgemeinen Interessen der Individuen verwirklicht, ohne daß der einzelne der blind sich durchsetzenden Vernunft geopfert wird. Die Entwicklung der Produktivkräfte liefert dabei den festen Boden unter den Füßen, ohne den die Forderung nach planvoller Verwirklichung der gemeinsamen Interessen eine luftige Utopie wäre. Durch Mitbestimmung müssen auch jene individuellen Freiheitsrechte gesichert werden, die nicht nur bürgerliche, sondern auch Menschenrechte sind. Bedroht ist gegenwärtig vor allem das nach demoskopischen Erhebungen am höchsten geschätzte Recht auf freie Meinungsäußerung. Ohne dieses Recht kann Planung nicht Planung selbstbewußter, freier Individuen sein. Wo Berufsverbote drohen, sollen die Individuen daran gehindert werden, ihre Allgemeininteressen gegen die planenden Sonderinteressen durchzusetzen.

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HANNELORE MAY / ROLF NEMITZ

Kann der Kapitalismus die Produktivkräfte noch weiterentwickeln?* \

Wäre der Sozialismus nichts weiter als eine Hoffnung der ausgebeuteten Menschheit, so müßte sie zugleich daran verzweifeln. Daß die Gesetze bekannt sind, nach denen die Gesellschaft sich auf dieses Ziel hin bewegt, macht den Sozialismus zur Wissenschaft, auf die Verlaß ist. Zu den wichtigsten Einsichten des wissenschaftlichen Sozialismus gehört die Analyse der Produktivkraftentwicklung: Das Kapital ist gezwungen, die Entwicklung von Arbeitskräften, Wissenschaft und Technik so weit voranzutreiben, daß schließlich die sozialistische Form der Produktion zur rationellsten wird. Dies macht die vorwärtsweisende Seite des Kapitals aus, es arbeitet durch wissenschaftlichen und technischen Fortschritt dem Sozialismus in die Hände. Die Produktivkraftentwicklung, als eine Grundlage wissenschaftlicher Politik, wird deshalb von der sozialistischen Bewegung mit großer Aufmerksamkeit verfolgt, und unter seinen größten Feinden hat das Kapital deshalb zugleich seine größten „Verehrer". Andererseits spricht die sozialistische Bewegung dem Kapitalismus zunehmend seine Fortschrittlichkeit ab, sie hat zur Verwirklichung des Fortschritts den Sturz des Profitsystems auf ihr Programm gesetzt und weist in ihrer Theorie auf die fortschrittsfeindlichen Seiten des Kapitalismus hin. Lenin bezeichnete bekanntlich den Monopolkapitalismus als „faulenden Kapitalismus": Das Monopol erzeuge „unvermeidlich die Tendenz zur Stagnation und Fäulnis. In dem Maße, wie Monopolpreise, sei es auch nur vorübergehend, eingeführt werden, Verschwindet bis zu einem gewissen Grade der Antrieb zum technischen und folglich auch zu jedem anderen Fortschritt, zur Vorwärtsbewegung .. Es ist praktisch von großer Bedeutung, sehr genau angeben zu können, wie sich nun die fortschrittliche und die rückschrittliche Seite des Kapitalismus zueinander verhalten, denn es gibt kaum einen Lebensbereich, der nicht durch die Produktivkraftentwicklung beeinflußt wird. Die Monopolisierung ist eng mit der technischen Entwicklung verknüpft; das Verhältnis der Wirtschaftszweige zueinander kann durch technische Neuerungen umgewälzt werden (vgl. etwa die Ablösung des einst führenden Industriezweigs Schwerindustrie durch Chemie und Elektroindustrie); die Entwicklung der Arbeitstätigkeiten ist ein wesentlicher Bestandteil der Produktivkraftentwicklung (die Elektronik z. B. brachte ganz neuartige Berufe und Anforderungen mit sich); Bildung und Wissenschaft sind weitere Elemente des wissenschaftlich-technischen Fortschritts (Vorgänge wie etwa die Bildungsreform oder die Einrichtung von Großforschungsprojekten können ohne Bezug darauf gar nicht erklärt werden). Darüber hinaus ist die Produktivkraftentwicklung von zentraler Bedeutung für die Konkurrenz der Systeme; und selbst solche „philosophischen" Fragen wie die nach der historischen Berechtigung des Kapitalismus können ohne Kenntnis der Produktivkraftentwicklung nicht beantwortet werden. Die Frage nach den Entwicklungsmöglichkeiten des Kapitalismus wird sich vor allem immer dann stellen, wenn wissenschaftlich-technische Umwälzungen Wendungen in der Politik notwendig machen. Nach der Entwicklung der Großen Industrie (die von Marx im „Kapital" analysiert wurde) gab es vor allem zwei große Produktivkraft-Schübe, die eine Neuorientierung erforderlich machten: die Einführung von „Taylorsystem", Fließband und ähnlichen Rationalisierungsmaßnahmen in den 20er Jahren, die unter dem Stichwort „kapitalistische Rationalisierung" von der Linken diskutiert wurden, und die „wissenschaftlich-technische Revolution" nach dem zweiten Weltkrieg, gekennzeichnet vor allem durch die zunehmende Automatisierung der Produktion. „Kann die wissenschaftlich-technische Revolution unter den Bedingungen des staatsmonopolistischen Kapitalismus durchgeführt werden?" Jürgen Kuczynski beantwortet diese Frage mit Nein. Er bestreitet zwar nicht, daß es im Kapitalismus immer noch wissenschaftlich-technischen Fortschritt gibt, meint aber, daß die wissenschaftlich108

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KANN DER KAPITALISMUS DIE PRODUKTIVKRÄFTE. technische Revolution „auf breiter Ebene, insbesondere im gesamtwirtschaftlichen Reproduktionsprozeß" nicht verwirklicht werden könne. Sein Hauptargument: Mit der Entwicklung der Produktivität steigt fortwährend die organische Zusammensetzung des Kapitals, da der Anteil der wertschaffenden Arbeit abnimmt; damit sinkt aber auch die Profitrate. Spitzt man diese Entwicklung weiter zu, komme man auf das „Modell eines vollautomatisierten Produktionsapparates mit v bestehend aus einem Arbeiter, der auf einen Knopf drückt, um die Produktion in Gang zu setzen... Nur ein einziger Arbeiter würde Mehrwert und somit Profit schaffen, nur ein einziger Arbeiter würde ausgebeutet werden. Das heißt, die kapitalistische Wirtschaft würde insofern ihren Charakter völlig verändern, als Profitmacherei und entsprechende Ausbeutung, d.h. Raub des Mehrprodukts durch die Eigentümer von Produktionsmitteln praktisch abgeschafft worden wären..." (1697) Diese Argumentation klingt nicht nur theoretisch schlüssig, sie hat auch die sinnliche Erscheinung von Automation — riesige Anlagen und wenige Arbeiter an Schaltpulten — auf ihrer Seite. Dennoch ist Kuczynskis Gedankenexperiment kein Beweis. Bereits die von ihm gestellte Frage geht falsch an das Problem heran. Andreas Schüler fragt in seiner Replik: „Was heißt, die wissenschaftlich-technische Revolution .durchführen'? ... Im gewöhnlichen Sprachgebrauch knüpft sich... an den Begriff ,Durchführung* die Vorstellung von einer dem eigenen Willen unterworfenen Handlung... Gerade so faßt Kuczynski auch die Durchführung der wissenschaftlichtechnischen Revolution." (566) Dieter Klein analysiert, ohne direkten Bezug auf Kuczynski, den fundamentalen Fehler solcher Auffassungen, nämlich als bewußte Bewegung zu unterstellen, was nur blind wirkende Mechanik des Systems ist: „Es wäre... unrichtig anzunehmen, daß die Kapitalisten den politökonomischen Effekt von Automatisierungsmaßnahmen für die Verwertung des Gesamtfinanzkapitals in Rechnung setzen und danach handeln können. Im Konkurrenzkampf um die monopolistischen Extraprofite sehen sich die einzelnen Monopolunternehmen gezwungen, auch die Vorteile der Automatisierung gegenüber den anderen Konkurrenten zu nutzen. Sie treiben daher die Automatisierung im Maße des Profitablen voran. Noch niemals in der Geschichte des Kapitalismus hat der tendenzielle Fall der Profitrate die einzelnen Unternehmer daran gehindert, ihren individuellen Profit durch Maßnahmen zu steigern, die negativ auf die Verwertungsbedingungen für die ganze Klasse der Kapitalisten wirkten." (99) Falsch ist also nicht das Gesetz, daß die Profitrate mit der Entwicklung von Wissenschaft und Technik gegen Null strebt, sondern die Vorstellung von seiner praktischen Durchsetzungsweise. Es wird für beherrschbar gehalten, was in kapitalistischen Gesellschaften letztlich unbeherrschbar ist. Darüber hinaus ist die Analyse des Profitratenfalls unvollständig. Kuczynski referiert zwar die Marxsche Analyse über das Gesetz als solches, nicht jedoch dessen Unterschungen über entgegenwirkende Ursachen und über die Entfaltung der inneren Widersprüche des Gesetzes. Konkret macht sich der Fall der Profitrate nicht in reiner Form geltend, sondern modifiziert durch entgegenwirkende Ursachen. Wenn man sie unterschlägt, wird der Abstand der Theorie von der Wirklichkeit unpraktisch groß. Es läßt sich zwar mit Recht sagen, daß die Durchführung der wissenschaftlich-technischen Revolution „auf breiter Ebene" nicht gelingen kann, jedoch, wie Alfred Lemmnitz anmerkt, „ist der Begriff ,auf breiterer Ebene* ein recht relativer Begriff" (387). I.

Diese Wirklichkeitsferne der reinen Abstraktion „v — O" macht sich auch bei der Frage der Arbeitslosigkeit bemerkbar. Der Inbegriff der Automatisierung ist die sich selbst regulierende Maschine, darum scheint Durchsetzung von Automation Abschaffung von Arbeit überhaupt zu bedeuten. Kuczynski folgert daraus, daß die „Vollautomatisierung ein solches Ansteigen der Arbeitslosigkeit bringen würde, daß das Monopolkapital auch aus .sozialen Gründen' es nicht riskieren könnte, die wissenschaftlich-technische Revolution auf breiter Ebene in der Zivilindustrie durchzuführen." (1696) Ganz allgemein gesehen, ist unbestreitbar, daß Automation im Kapitalismus zu Arbeitslosigkeit führt. Doch das ist nicht automationsspezifisch, da jede Produktivkraft(m)

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HANNELORE MAY / ROLF NEMITZ entwicklung im Kapitalismus tendenziell Arbeitslosigkeit bedeutet. Kuczynski läßt darüber hinaus auch hier die Analyse der entgegenwirkenden Ursachen unberücksichtigt. Zwar wirft technischer Fortschritt im Kapitalismus fortwährend Arbeiter auf die Straße, ein Teil von ihnen kann jedoch durch die Vergrößerung der Kapitale aufgefangen werden; die „relative Überbevölkerung" existiert zu einem beträchtlichen Teil in „fließender Form", fließend zwischen Betriebsabteilungen, Betrieben und Branchen. Darüber hinaus sind die staatlichen Strategien zur Konjunktursteuerung und Vermeidung von Arbeitslosigkeit zu berücksichtigen. Aus Gründen der Systemkonkurrenz ist „Vollbeschäftigung" in der BRD bislang ein Ziel staatlicher Wirtschaftspolitik gewesen. Das Scheitern dieses Konzepts ist zwar offensichtlich, es muß jedoch bei der Untersuchung der Frage, wie der Kapitalismus mit den „sozialen Folgen" der Automation fertig wird, in Rechnung gestellt werden. Es wäre gefährlich, den Staat für gänzlich unfähig zu halten, auf Krisenursachen und -folgen Einfluß zu nehmen. Die Absorption von Arbeitskräften durch den weitgehend krisenfreien Rüstungssektor, die Verlagerung der Arbeitslosigkeit in unterentwickelte Länder durch das Entlassen ausländischer Arbeiter und andere Maßnahmen wirken nach wie vor. Vor allem aber ist zu berücksichtigen, daß das Nichteinführen von Automation erst recht zu Arbeitslosigkeit führt, denn in Konkurrenz und Krise haben die am besten ausgerüsteten Betriebe die größten Chancen, und das Arbeitsplatzrisiko ist für diejenigen Arbeiter am geringsten, die die modernste Technik beherrschen. Gegenwärtig zeigt sich das deutlich an dem hohen Anteil niedrig qualifizierter Arbeitskrähe an den Arbeitslosen. Wenn man einfach nur an dem Zusammenhang Automation — Arbeitslosigkeit festhält, folgt daraus als gewerkschaftliehe Strategie: Bekämpfung der Automation zur Sicherung der Arbeitsplätze — was reaktionär und zudem wenig erfolgversprechend wäre. Wenn man jedoch den zusätzlichen Zusammenhang zwischen adäquater Qualifikation und relativer Arbeitsplatzsicherheit berücksichtigt, folgt daraus die Forderung nach Verbesserung des Bildungswesens, Umschulung, Weiterbildung. Denn Automatisierung schafft nicht nur einfach Arbeit ab, sie schafft zugleich neue Arbeit und verändert die Struktur des Gesamtarbeiters. Darüber hinaus führt die Automatisierung zu erhöhten Anforderungen an das Bildungs- und Gesundheitswesen und an die sonstige Infrastruktur. Damit kommt es zu einer Umverteilung von Arbeitskräften aus der immittelbaren Produktion in diese Bereiche. Schließlich ist zu fragen, welches Ausmaß an Arbeitslosigkeit sich das Monopolkapital aus „sozialen Gründen" leisten kann. Das amerikanische Beispiel kann einen das Fürchten lehren: hohe Arbeitslosigkeit und enorme Schwächung der Arbeiterbewegung.

n. Als weiteres Hemmnis für die „wissenschaftlich-technische Revolution" führt Kuczynski die Rüstung an. Sie wird begriffen als Abzug von den zur Entwicklung der zivilen Produktivkräfte zur Verfügung stehenden Mitteln. Der staatsmonopolistische Kapitalismus sei nicht in der Lage, die wissenschaftlich-technische Revolution voll durchzuführen, „weil Monopolherrschaft eine intensive Rüstungswirtschaft bedeutet, und auch die USA... nicht in der Lage sind, intensiver zu rüsten und gleichzeitig die Zivilindustrie wissenschaftlich-technisch durch Automatisierung zu revolutionieren". (1696) Ähnlich heißt es bei Klein: „Am greifbarsten werden die Schranken des Kapitalismus bei der wissenschaftlich-technischen Revolution in der teilweisen Umkehrung der Entwicklung der Produktivkräfte in Destruktivkräfte, in der Rüstung und Militarisierung deutlich." (100) Die Schwäche der Analyse besteht wiederum darin, daß sie bei allgemeinen Zusammenhängen stehenbleibt. Eine differenziertere Einschätzung gibt Lemmnitz: Kuczynski könne „die Behauptung, daß kein Land die wissenschaftlich-technische Revolution auf ihrem gegenwärtigen Niveau in der Rüstungsproduktion und gleichermaßen in der Zivilproduktion anwenden kann, weil es nicht über die dazu notwendigen ökonomischen Potenzen verfüge, nicht aufrechterhalten. Die Ausgaben, die beispielsweise die Sowjetunion und die anderen sozialistischen Länder für die Verteidigung ausgeben, müssen so groß sein, daß sie der Rüstung der imperialistischen Länder Paroli bieten können... Das ist zweifellos, ökonomisch gesehen, eine große Belastung für die 108

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KANN DER KAPITALISMUS DIE PRODUKTIVKRÄFTE. Wirtschaft der Sowjetunion und der Länder der sozialistischen Staatengemeinschaft. Das kann aber weder die Sowjetunion noch die DDR noch die anderen sozialistischen Länder daran hindern, die wissenschaftlich-technische Revolution auch in der Zivilproduktion zu verwirklichen." (313) Lemmnitz kommt außerdem auf den „zivilen Abfall" zu sprechen. Er weist darauf hin, „daß die Grenze zwischen der Rüstungsproduktion und der zivilen Produktion recht fließend ist, beispielsweise beim Raketenbau, in der Flugzeugindustrie, bei der Nutzung der Atomenergie, in der chemischen Industrie und selbst beim Automobilbau". (391) Damit lenkt er das Augenmerk auf die Analyse des inneren Zusammenhangs von militärischer und ziviler Produktion. Militärische Produktion ist nicht nur Abzug von ziviler Produktion, sondern im Kapitalismus gleichzeitig vielfach deren Voraussetzung. Klein wendet dagegen ein, „daß... Rüstungsforschungs- und Entwicklungsprogramme nur ein Fünftel bis ein Sechstel des wirtschaftlichen Wachstumseffekts erbringen, den der gleiche Forschungsaufwand im zivilen Bereich ergeben würde". (100) Es geht jedoch darum, wie leistungsfähig das existierende kapitalistische System im Vergleich zum existierenden sozialistischen ist, nicht im Vergleich zu einem ausgedachten Kapitalismus ohne Rüstung. Die ungeheure Vergeudung durch Rüstung kann gar nicht bestritten werden. Es muß aber gefragt werden, ob dies nicht die dem Imperialismus entsprechende perverse Bewegungsweise technischen Fortschritts ist. Kuczynski sieht richtig, daß die Automation am höchsten in der Rüstung entwickelt ist. Er verweist darauf, daß wir heute erst ganz am Anfang der wissenschaftlich-technischen Revolution stehen — davon gibt es „eine Ausnahme, die jedoch nicht den Produktions-, sondern den Destruktionsprozeß^ betrifft. Das moderne strategische Waffenarsenal wird nicht mehr durch den Menschen als Hauptagenten bedient. Er tritt neben den Destruktionsprozeß, reguliert und bewacht ihn." (1692) Die Entwicklung der Produktivkräfte erfordert inzwischen die Mobilisierung gesellschaftlicher Ressourcen in einem Ausmaß, das im Kapitalismus einzig noch im Krieg gegeben ist, der die Grenzen des Einzelkapitals sprengt und alle Kräfte der Gesellschaft mobilisiert. Für die Analyse des zivilen Abfalls" dieser Kriegswirtschaft führt die quantitative Betrachtung — z. B. wieviel Prozent ziviler Patente aus der Rüstung stammen — nicht weit. Statt dessen muß gefragt werden: Woher kommen die Elemente ziviler Automation? Es läßt sich zeigen, daß sie — vom Transistor bis zur numerisch gesteuerten Werkzeugmaschine — ihren Ursprung in der Rüstung haben. Das heißt nicht, daß die permanente Hochrüstung nicht zu Ungleichgewichten führt, zu chronischen und akuten Krisen. Trotzdem ist sie immer noch eine entscheidende Quelle technischen Fortschritts.2 Die Entwicklung von Arbeitskraft und Technik verlangt immer höhere Investitionen und immer umfassendere Planung zur Durchsetzung der Automation. Im Kapitalismus ist gesellschaftliche Planung nur ein „Uberbau" auf der ihm entgegengesetzten Basis des Privatbesitzes, der eine harmonische Entwicklung aller wirtschaftlichen Bereiche verhindert. Es muß also geprüft werden, auf welche Weise die Privatheit der Produktion sich als Schranke für die Produktivkraftentwicklung erweist — eine Frage, die Kuczynski so nicht stellt, die aber von Klein ausführlich behandelt wird. Er verweist darauf, daß im Kapitalismus durch die „zyklischen Krisen, durch Stagnationstendenzen, durch Strukturkrisen und durch ökonomische Verluste im Konkurrenzkampf die volkswirtschaftliche Effektivität der wissenschaftlich-technischen Umwälzungen im Verhältnis zu den Möglichkeiten der planmäßigen und krisenfreien Entwicklung des Sozialismus stark gemindert" wird. (97 f.) Es muß jedoch zugleich die widersprüchliche Tatsache berücksichtigt werden, daß die Schranken der Planung, die Privatheit der Produktion, auch Bedingungen der Produktivkraftentwicklung im Kapitalismus sind. Konkurrenz bedeutet nicht nur Hemmung der Produktivkräfte, sondern „auf der Jagd nach monopolistischen Extraprofiten ... werden Wissenschaft und Technik vorangetrieben" (Klein, 97). Schließlich muß die Effektivität kapitalistischer Planung selbst berücksichtigt werden. Ihre fortwährenden Niederlagen bedeuten ja nicht ihre völlige Wirkungslosigkeit. Es „hat die Monopolbourgeoisie sowohl mit den nationalen als auch mit den internationalen Formen des monopolistischen und staatsmonopolistischen Kapitalismus (113)

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HANNELORE MAY / ROLF NEMITZ gewisse Bewegungsformen für den sich verschärfenden Widerspruch zwischen dem zunehmend gesellschaftlichen Charakter der Produktivkräfte und den kapitalistischen Produktions- und Aneignungsverhältnissen geschaffen. Diese Bewegungsformen der Widersprüche des Kapitalismus sind Formen der Anpassung des Imperialismus an die neuen Entwicklungsbedingungen." (Lemmnitz, 393 f.) III. Neben der Frage nach der konkreten Durchsetzungsweise von wissenschaftlichtechnischem Fortschritt wird in den hier referierten Beiträgen ein weiterer Themenkomplex diskutiert: die Bedeutung der Produktivkraftentwicklung für die Arbeitskraft. In den Antworten darauf liegt der wichtigste Ertrag der Diskussipn. Bei Kuczynski wird aus dem Produktionsarbeiter ein „Knöpfchendrücker": Wir „können uns doch wirklich unschwer auch vollautomatisierte Industrien vorstellen . ... Um das theoretische Modell zu vollenden, bedarf es nur noch des .Knopfes', auf den man drückt, um die Produktion in Gang zu setzen . . ." (1693) Tatsächlich sieht man in riesigen Hallen an gigantischen automatischen Anlagen nur wenige, vereinsamt wirkende Arbeiter, deren körperliche Tätigkeit vor allem darin besteht, auf die berühmten Knöpfe zu drücken. Aber erinnert eine solche Betrachtungsweise nicht an die Charakterisierung eines Schreibenden als eines Menschen, der damit befaßt ist, Flüssigkeit auf Papier zu übertragen? Lemmnitz schreibt dazu: „Zweifellos hat diese Maschine einen Knopf, sogar mehrere Knöpfe. Aber was ist das für ein Arbeiter, der diese Maschine errichtet und bedient? Wer baut überhaupt diese Maschine? Kommen solche Arbeiter etwa mit der alten Achtklassenschule aus?" (390) Bei anderen Autoren finden sich ähnliche Äußerungen: „In den industriell entwikkelten Ländern wird eine abgeschlossene Oberschulbildung immer mehr zur Minimalbedingung, um Arbeit zu erhalten. Die Bedienung komplizierter Automaten und die Lenkung technologischer Prozesse wird ohne einen hohen Stand der Allgemeinbildung und Berufsausbildung unmöglich. Letztere setzt eine ständige Erhöhung der Qualifikation voraus, eine Weiterbildung der Arbeitskräfte auf allen Ebenen und in allen Zweigen der Volkswirtschaft. Diese sich jetzt abzeichnende Tendenz wird sich in Zukunft verstärken..." (Kudrow, 3) Klein stellt einen ausführlichen Katalog der Entwicklungsperspektiven der Produktionsarbeiter vor: „Das Ersetzen körperlicher und auch geistiger Funktionen des Arbeiters durch Maschinen ermöglicht das Eindringen in die Beschaffenheit der Maschinensysteme, die Kombination einfacher Aufsichtsarbeit mit komplizierter Wartungs- und Reparaturtätigkeit, eine komplexe Verantwortung bei entsprechend höherer Allgemeinbildung, Neuererarbeit, das Nachdenken über die Organisation des gesamten Produktionsablaufs, den Einfluß auf die betrieblichen ökonomischen Prozesse bei entsprechender politökonomischer und betriebsökonomischer Bildung, die Teilnahme an der Lösung neu auftretender sozialer Fragen." (95) Soweit herrscht Einigkeit: Automation verlangt höher qualifizierte Arbeitskräfte, eine Entwicklung, die weltgeschichtliche Bedeutung hat: „Die wissenschaftlich-technische Revolution führt damit an die Schaffung der materiell-technischen Voraussetzungen für die volle Entfaltung der schöpferischen Persönlichkeit der Werktätigen heran." (Klein, 94) „Der Arbeiter und sein .Werkzeug' ist unter den Bedingungen der entfalteten wissenschaftlich-technischen Revolution der Mensch als allseitig entwickeltes .gesellschaftliches Individuum', dessen geistige und körperliche, wissenschaftliche und künstlerische usw. Fähigkeiten sich voll entwickeln und der die Naturprozesse und die Prozesse der gesellschaftlichen Arbeit als Arbeitsmittel beherrscht und sich ihrer zur Produktion des gesellschaftlichen Reichtums bedient." (Lemmnitz, 390) Wenn aber die technische Entwicklung den Produzenten mehr und mehr Entscheidungsfähigkeit und Schöpfertum abverlangt, so stößt dies auf die Schranke der Eigentumsverhältnisse. „Von diesen hängen in starkem Maße das Interesse der Produzenten an ihrer Arbeit, ihre Entscheidungsfähigkeit, der Grad ihrer Eigenverantwortung, die Ausnützung ihrer Bildungspotenzen entsprechend dem jeweiligen Stand der 108

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KANN DER KAPITALISMUS DIE PRODUKTIVKRÄFTE. Wissensentwicklung und die Entfaltung ihres Schöpfertums ab." (Klein, 93) Die Technik fordert, daß die Produzenten sich wie Eigentümer verhalten, daß sie verantwortlich Entscheidungen treffen: die Besitz- und Herrschaftsinteressen müssen dies mit allen Mitteln zu verhindern suchen. „Das Profitinteresse zwingt die Bourgeoisie, zumindest große Teile der Arbeiterklasse besser auszubilden als je zuvor, damit sie die moderne Technik und Technologie bedienen können. Ihr Herrschaftsinteresse aber zwingt sie dazu, die Bildung der Arbeiterklasse in engen Grenzen zu halten, weil sonst die Aufrechterhaltung der Ausbeutung und der geistigen Manipulation der Werktätigen in größere Gefahr gerät." (Lamberz, 831) In welchen Formen wird dieser Konflikt ausgetragen? Die Antworten darauf weichen erheblich voneinander ab. Eine extreme Position nimmt Fukasz ein. Er zitiert zustimmend A. Barjonet, demzufolge die Veränderungen durch die kapitalistische Anwendung der Automation im wesentlichen zu einem „Wandel der Leiden" führe. „Von diesen Veränderungen ist die grundlegende, daß eine Verschiebung von der Muskelermüdung zum nervlichen und geistigen Verschleiß stattfindet."8 „Eigentlich" führt die technische Entwicklung demnach zu einer Höherqualifikation, die kapitalistische Form der Produktion reduziert jedoch geistige Arbeit auf „geistigen Verschleiß". Abgesehen davon, daß „Geist" nicht bei Beanspruchung verschleißt, sondern bei Nichtbeanspruchung, hat Fukasz von der physiologischen Seite her sicherlich recht: die nervliche und geistige Belastung nimmt zu. Diese Betrachtungsweiseblendet jedoch aus, was das Wichtigste ist, nämlich, was diese beanspruchten Nerven und der belastete Geist tun. Ähnlich widersprüchlich argumentiert Kudrow. Einerseits: „Die Bedienung komplizierter Automaten und die Lenkung technologischer Prozesse wird ohne einen hohen Stand der Allgemeinbildung und Berufsausübung unmöglich." (Kudrow, 3) Andererseits: „Die Automatisierung verstärkt nur die Verwandlung des Arbeiters in ein Anhängsel der Maschine." (Kudrow, 6) Der offenkundige Widerspruch wird von beiden Autoren so aufgelöst: Die Technik ermögliche zwar die schöpferische Entfaltung der Arbeit, aber ob dies Wirklichkeit werde, hänge von der gesellschaftlichen Anwendung ab. Die Entwicklung der Technik sei zwar „grundlegende Voraussetzung für die Veränderung des Charakters der Arbeit zum Schöpferischen hin", aber diese notwendige Voraussetzung sei nicht hinreichend, denn es werde nicht durch die technische Revolution, sondern durch die sozialistische Anwendung der Technik im Interesse und zum Wohle des Menschen... schöpferische Arbeit ermöglicht..." (Fukasz, 56) Diese Argumentation steht zum einen in Widerspruch zu der von denselben Autoren konstatierten Höherqualifizierung im Kapitalismus. Darüber hinaus ist zu fragen, wie das konkret aussehen soll, daß erst die sozialistische Anwendung der Technik schöpferische Arbeit ermögliche. Soll das für jede Technik gelten? Wenn ja, wie soll etwa der monotone und unschöpferische Charakter von Fließbandarbeit durch die Anwendung im Sozialismus verwandelt werden in eine vielseitige und schöpferische Fließbandarbeit? Sicherlich läßt sich im Sozialismus das Fließband mit mehr Rücksicht auf den Menschen einsetzen, der unschöpferische und unmenschliche Charakter von Fließbandarbeit ist jedoch durch die Technik determiniert. — Wenn die These jedoch nur für Automation gilt, heißt das, daß Automation zwei entgegengesetzte Arbeitsweisen zuläßt: sowohl schöpferische als auch unschöpferische, je nach Produktionsverhältnissen. Wie soll das gehen? Leider lassen die Autoren sich nicht eingehender auf dieses Problem ein. Aber wie verträgt sich ihre These mit der Ökonomie der Zeit? Auch im Sozialismus muß die Arbeit nach Rationalitätsgesichtspunkten organisiert werden. Schöpferische Arbeit kann der Technik nicht beliebig aufgepfropft werden, sondern muß auch und erst recht im Sozialismus, selbst die rationellste Beherrschung von Technik sein. Trotzdem sollen grundsätzlich unterschiedene Arbeitsweisen möglich sein bei Anwendung derselben Technik. Klein sieht das Problem etwas anders: „Ob diese Möglichkeiten von Wissenschaft und Technik für die Persönlichkeitsentfaltung umfassend genutzt werden, hängt vom Charakter der Produktionsverhältnisse ab." (Klein, 94; Hervorhebung R.N./H.M.)Im Kapitalismus wird nicht danach gefragt, welche Möglichkeiten die Technik für die Persönlichkeitsentfaltung bietet. Hier wird die Persönlichkeit gerade nur soweit entfaltet, als dies zur Bewältigung des Arbeitsprozesses zwingend notwendig ist. Weil

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1X3

HANNELORE MAY / ROLF NEMITZ Persönlichkeitsentfaltung mit Kosten verbunden ist, wird versucht, sie auf das Minimum zu reduzieren. Und da die Entwicklung von Eigenverantwortung, Entscheidungsfreude und schöpferischer Arbeit in Widerspruch zur Stellung des Lohnabhängigen steht, können diese Anforderungen sich nur sehr konfliktreich durchsetzen. Dieses Problem wird besonders deutlich von Lemmnitz gesehen: „Der Kapitalismus kann auch in seiner staatsmonopolistischen Form nicht ohne die Entwicklung der Arbeitskraft existieren. Er muß bei bedeutenden Teilen der Arbeiterklasse Kenntnisse und Fähigkeiten entwickeln, die zwar nur der Meisterung der modernen Technik dienen sollen, die aber im Zusammenhang mit den sich verschärfenden sozialen Widersprüchen, der Aktivität der marxistisch-leninistischen Parteien der Arbeiterklasse und der Entwicklung des Klassenbewußtseins die Bereitschaft zum revolutionären Kampf fördern." (396) Das zentrale Problem besteht also darin, daß das Kapital unter d*em Druck der Kapital- und der Systemkonkurrenz die wissenschaftlich-technische Revolution entwickeln muß, und daß die moderne Technik nicht funktionieren kann, wenn die Arbeiter nicht mit den entsprechenden Qualifikationen, Fähigkeiten und Haltungen ausgestattet sind. Das Kapital ist also gewissermaßen zum Schöpfertum der Arbeiter verdammt — ob es will oder nicht. Wie im Kapitalismus diese Widersprüche ausgetragen werden, ist eine Forschungsfrage. Welche Strategien wird das Kapital einschlagen, um Produzenten zu entwikkeln, die sich wie Eigentümer verhalten ohne Eigentümer zu sein? Lemmnitz weist auf die Bedeutung der Manipulation durch Konsum hin: „Zum Beispiel ermöglicht die gewaltige Steigerung der Produktivkraft der Arbeit dem Monopolkapital die Steigerung der Reallöhne bei gleichzeitiger Steigerung der Ausbeutung. Liegt hier eine ökonomische Wurzel der Verbreitung des Sozialdemokratismus?" (Lemmnitz, 397) Darüber hinaus wäre nach „tiefergehenden" neuartigen Manipulationsstrategien zu fragen. Sie dürften vor allem im Erziehungsbereich und in der Produktion selber angesiedelt sein.4 So falsch es wäre, überall immer nur Manipulation zu wittern, so falsch wäre es, solche Herrschaftstechniken zu unterschätzen. IV.

Die Entwicklungspotenzen des Kapitalismus können nicht anders begriffen werden als durch die Analyse der Faktoren, die das System seiner inneren Beschränktheit entgegensetzen kann. Das „zugespitzte Zuendedenken von Tendenzen" (Kuczynski, 1697), wie z. B. des Falls der Profitrate, ergibt nicht die ganze Wahrheit, selbst wenn diese Entwicklung die entgegenwirkenden Prozesse dominiert. Schüler arbeitet diesen Fehler klar heraus. Kuczynski beruft sich bei seinem Verfahren des „zugespitzten Zuendedenkens von Tendenzen" auf Lenin, der es angewandt habe in seiner Auseinandersetzung mit Kautskys These, daß an die Stelle des Kampfes der nationalen Finanzkapitale untereinander die gemeinsame Aufteilung der Welt durch das internationale Finanzkapital treten würde. „Kuczynski beruft sich in seiner Analogie zu Unrecht auf Lenins Auseinandersetzung mit der Kautskyschen Theorie vom Ultraimperialismus. Lenin hat nie behauptet, daß die Monopole vor dem ,Welttrust4 «anhalten* müssen. Er ertappt Kautsky bei dem Fehler, eine Tendenz — die der Monopolisierung — zu verabsolutieren, ohne die andere der damit verbundenen Zuspitzung des Konkurrenzkampfes zwischen den Monopolen und der Ungleichmäßigkeit der Entwicklung zu beachten... Niemand wird bezweifeln, daß die wissenschaftlich-technische Revolution... die... Konflikte weiter vertieft. Aber weder führen diese Widersprüche an irgendeinem zu konzipierenden Punkt von selbst zum Zusammenbruch des Systems, noch kann man sich vorstellen, daß die Imperialisten zur Vermeidung einer weiteren Zuspitzung der Konflikte eines Tages ausrufen: .Wissenschaftlich-technische Revolution! Kommando halt! Bis hierher und nicht weiter, sonst geht die Sache schief!" (Schüler, 567) Soll die Theorie die wirkliche Bewegung analysieren, darf sie ihr Augenmerk nicht ausschließlich auf den fernen Fluchtpunkt der gegenwärtigen Entwicklung richten; entscheidend ist das Wie der Entwicklung, denn dies bestimmt, wo und wie eingegriffen werden kann. Die Charakterisierung dieses Wegs als „Zuspitzen der Widersprüche" darf nicht, wie es bisweilen geschieht, interpretiert werden als: mit dem Kapita108

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KANN DER KAPITALISMUS DIE PRODUKTIVKRÄFTE. lismus geht es bergab — das wäre keine widersprüchliche Bewegung mehr, sondern widerspruchsloser Untergang. Die ungeheure Flexibilität des Kapitalismus, der immer neue Uberlebensmittel gefunden hat, muß als historische Erfahrung in die Analyse eingehen. „Zuspitzen der Widersprüche", diese Formulierung lenkt den Blick auf beide Seiten. — Die Frage nach der „vollen Durchsetzung der wissenschaftlich-technischen Revolution" im Kapitalismus ist unpraktisch gestellt, denn ihre Beantwortung kann keinen Weg zum sozialistischen Ziel angeben. Die praktisch wichtige Frage ist nicht, was die herrschende Produktionsweise im Sinne absoluter, quantitativer Vorherrschaft ist, sondern: wodurch die gegenwärtige Entwicklung beherrscht wird. Für die Arbeit im Bildimgsbereich z. B. ist beides wichtig, daß die Automatisierung zu tiefgreifenden Veränderungen von Bildungsinhalten und -formen führen muß, und daß die systemnotwendigen Reformen fortwährend an finanzielle und politische Schranken stoßen. Nur die Schranken sehen, nicht das sich in diesen Schranken immer noch Entwickelnde, macht handlungsunfähig. „Der Kapitalismus kann auch iti seiner staatsmonopolistischen Form nicht ohne die Entwicklung der Arbeitskraft existieren ... Und auf diesen realen Entwicklungsprozeß muß sich die theoretische und ideologische Arbeit der marxistisch-leninistischen Wissenschaftler orientieren, damit der Marxismus-Leninismus das bleibt, was er ist, eine Anleitung zum Handeln für die Arbeiterklasse." (Lemmnitz, 396) * Die Diskussion selbst besteht aus folgenden drei Aufsätzen: Kuczynsld, Jürgen: Kann die wissenschaftlich-technische Revolution unter den Bedingungen des staatsmonopolistischen Kapitalismus durchgeführt werden?, in: Wirtschaftswissenschaften, Heft 11/1972, S. 1691—1699. Lemmnitz, Alfred: Warum kann die wissenschaftlich-technische Revolution im staatsmonopolistischen Kapitalismus nicht verwirklicht werden?, in: Wirtschaftswissenschaften, Heft 3/1973, S. 387—397. Schüler, Andreas f Bemerkungen zum Artikel von J. Kuczynski, „Kann die wissenschaftlich-technische Revolution unter den Bedingungen des staatsmonopolistischen Kapitalismus durchgeführt werden?", in: Wirtschaftswissenschaften, Heft 3/1973, S. 566—569. Außerdem wurden folgende Beiträge hinzugezogen: Fukasz, György: Die wissenschaftlich-technische Revolution und die Veränderungen der Arbeit, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Heft 7/1973, S. 820—640, zitiert nach: Marxismus Digest 21, Heft 1/1975, S. 38—61. Klein, Dieter: Die Grenzen des Kapitalismus in der wissenschaftlich-technischen Revolution, in: Einheit 1/1975, S. 93—101. Kudrow, W. M.: Wissenschaftlich-technischer Fortschritt im Kapitalismus und seine sozialen Folgen (Thesen), in: IPW-Berichte, 4. Jg. (1975), Heft 2, S. 2—7. Lamberz, Werner: Ideologische Arbeit für das Feld der Wirtschaft, in: Einheit 8/1975, S. 826—837. 1 Lenin, Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus, in: Lenin, Werke, Bd. 22, Berlin 1960, S. 281. 2 Diese Thesen werden genauer ausgeführt in: Projekt Automation und Qualifikation: Automation in der BRD, Berlin/West 1975, vor allem in Kapitel VI, „Genese von Automation". 3 A. Barjonet: La condition ouvrifcre et l'gtat de la technique, in: Cahiers du Communisme. Heft 4/1963, S. 34, zitiert bei Fukasz, 48. 4 Vgl. z. B. zum Produktionsbereich: Holm Gottschalch, Die Psychologie des Job Design. Untersuchungen zum Charakter der Lohnarbeit am Beispiel motivationsgerechter Arbeitsgestaltung als Versuch der Systemsanierung, Diplomarbeit am Psychologischen Institut der FU Berlin (Druck in Vorbereitung); vgl. z. B. zum Erziehungsbereich: Frigga Haug, Kritik des Rollenspiels (Druck in Vorbereitung).

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Bibliographie Veröffentlichungen der Projektgruppe Automation und Qualifikation Waldhubel, Tb. u. S. Wenk: Wissenschaftlich-technischerFortschritt und individuelle Emanzipation. Zur Diskussion um die Sozialistische Persönlichkeit und ihre Entwickung in der DDR. In: Sozialistische Politik 36, 8 Jg. (1976), H.2, 63-85 dies.: Technischer Fortschritt, Entwicklung der Persönlichkeit und marxistische Theorie. Antwort auf W. Wotschak. Teil I. In: Sozialistische Politik 40,9 Jg. (1977), H.2, 82-99; Teil II. In: Sozialistische Politik 41,9jg. (1977), H.3, 7487 Gottschalch, H., u. Ch. Ohm: Kritische Bemerkungen zur Polarisieruiigsthese bei Kern und Schumann. In: Soziale Welt, 28. Jg. (1977), H.3, 340-363. Überarbeitete und erw. Fassung in: Projektgruppe Automation und Qualifikation: Theorien über Automationsarbeit. Argument-Sonderband AS 31, Berlin/West 1978 Hang, F., u. R. Nemitz: Wer ist das Projekt Automation und Qualifikation? In: Demokratische Erziehung, 3 Jg. (1977), H.5, 594-597 Haug, F., Ch. Ohm u. Th. Waldhubel: Kritische Psychologie und Arbeit. In: K. Holzkamp u. K.-H. Braun (Hssg.): BerichtBd.II, Köln 1977, 477-510 Haug, F.: Zum Stand der Arbeitswissenschaft. In: Kritische Psychologie (II). Argument-Sonderband AS 15, Berlin/West 1977, 72-83 Waldhubel: Automationskrank durch Langeweile und Knöpfchendrücken. Kritik der Vigilanzforschung. In: Kritische Psychologie (II). Argument-Sonderband AS 15, Berlin/West 1977, 83-104 Gottschalch, H.: Humanisierte Arbeit? Kritik sozialpsychologischer Strategien zur Hümanisierung der Arbeitswelt. In: Blätter für deutsche und internationale Politik. Teil I: 22.Jg. (1977), H.7, 841-851; Teü II: 22.Jg. (1977), H.8, 9981013 Haug, F., W.v.Treeck u. Tb. Waldhubel: Umfrage zum Stand arbeitsorientierter Arbeitswissenschaft. In: Forum Kritische Psychologie 3, Argument-Sonderband AS 28, Berlin/West 1978, 154-179 Haug, F.: Dialektische Theorie und empirische Methodik; In: Das Argument III, 1978, 644-656 dies.: Thesen über gewerkschaftsorientierte Wissenschaft. In: Das Argument 112, 1978, 792-797 Ohm, Ch., u. G. ZimmerAutomutioa der Konstruktion - Qualitikationseritwicklung als Ansatzpunkt gewerkschaftlicher Strategien. In: R. Koschnitzke u. H.-G. Rolff (Hrsg.): Technischer Wandel und soziale Verantwortung. Essen 1980. Im Druck. Ohm, Ch., u. S. Wenk: Integration von Technologie- und Qualifizierungspolitik als Problem gewerkschaftlicher Strategie. In: D. Janzen, O. Keck u. W.-D. Webler (Hrsg.): Wissenschafts- und Technologiepolitik. Berlin/Frankfurt 1980. Im Druck. Wenk, S.: Entwicklung der Arbeit • Neue Problemfelder und Kampfaufgaben. In: Nachrichten (Hrsg.): Rationalisierung - Auswirkungen - Antworten. Nachrichten-Seminar am 1. u. 2..Dezember 1979. Frankfurt/M. 1980. IM Druck. Haug, F.: Was hat materialistische Psychologie mit Arbeit und Arbeitslosigkeit zu tun? In: f. Haug (Hrsg.): Arbeit, Arbeitslosigkeit und Persönlichkeitsentwicklung. Kongreßbericht II. Internationaler Kongreß Kritische Psychologie, Marburg, 4.-6.5.1979. Köln 1980. Im Druck. Zimmer, G.: Humanisierung der Arbeit und Persönlichkeitsentwicklung. In: F. Haug (Hrsg.): Arbeit, Arbeitslosigkeit und Persönlichkeitsentwicklung. Kongreßbericht II. Internationaler Kongreß Kritische Psychologie, Marburg, / 4.-6.5.1979. Köln 1980. Im Druck. \

ARGUMENT-SONDERBÄNDE AS Automation und Entwicklung der Arbeitsbedingungen Projektgruppe Automation und Qualifikation AS 7 Band I: Automation in der BRD 3. verbesserte, um Register, Literaturverzeichnis und Nachwort erweiterte Auflage 1979

_ AS 19 Band II: ~ Entwicklung der Arbeitstätigkeiten und die Methode ihrer Erfassung AS 31 Band III: Theorien über Automat ionsarbeit

~

Kategorien Automationsarbeit in der Industriesoziologie: »Qualifikation«, »Kooperation«, »Autonomie« Automationsarbeit in den Arbeits Wissenschaften: Analytische Arbeitsbewertung, »Belastung«, »Beanspruchung«, Kognitive Prozesse

Positionen Kern/Schumann, Mickler, Fricke und Soziologisches Forschungsinstitut Göttingen

Tabellarische Übersicht Untersuchungen zur Automat ionsarbeit bis 1977 »Diese konstruktiv-kritischen Aufsätze gehören zu den fundiertesten Analysen, die die Industriesoziologie hierzulande in den letzten fahren hervorgebracht hat« R. Bispinck, WDR, 15.1.1979

AS 43 Band IV: Automationsarbeit: Empirie Im Anschluß an eine Auseinandersetzung mit empirischer Methodik (Datenauswertung und Datengewinnung) werden die Ergebnisse aus den Untersuchungen in 100 Betrieben der Bundesrepublik und Westberlins vorgestellt. Einzelpreis AS 7:18,50 DM, fOr Studenten 15,- DM (326 S.) In jedem Jahr erscheinen ca. 10 Argument-Sonderbande. Jeder Band ca. 216 Seiten; Einzelpreis: 15,50 DM, Schüler und Studenten 12,80 DM. Auswahl-Abo (3 Bände nach Wahl): 38,40 DM (Stud. 33,-DM) zzgl. Versandkosten. Qesamt-Abo: alle Bände zum Abo-Preis, ohne Versandk.

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ARGUMENT Niederes Schulwesen und niedere Erziehung, Schulreform. Lehrpläne Geschichte, Chemie. Bildungschancen, Sonderpädagogik. VHS* Weiterbildung. Politische Bildung: Gesellschaftsbilder 15,50; 12,80 f. Stud. (Abo: 12,80/11,-).

THEORIEN ÜBER IDEOLOGIE AS 40 DEOLOGE/ WMEJUSTUETK/ MASSQKUU IR WTWÖRFE ZU EN IER THEORET S ICHEM SYHTHESE

Marx, Engels, Lenin. Lukäcs. Gramsci. Althusser. Bürgerliche Ideologietheorie, Luhmann, Berger/Luckmann. Eigene Position des PIT. Projekt Ideologie-Theorie (PIT). 15,50; 12,80 f. Stud. (Abo: 12,80/11,-). W. Haug: Ideologie/Warenästhetik/ Massenkultur Thesen über Ideologie. Kritische Psychologie und Ideologie-Theorie. Thesen zur ästhetischen Erziehung. SH 33 4,00 DM.