Preußische Jahrbücher: Band 61 Januar bis Juni 1888 [Reprint 2020 ed.]
 9783112338667, 9783112338650

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Preußische Jahrbücher. Herausgegeben

von

H. von Treilschke und H. Delbrück.

Einundsechzigfter Band.

Januar bt- Juut 1888.

Berlin, 1888.

Druck und Verlag von Georg Reimer.

Inhalt. Erstes Heft. Derselbe. (Otto Schroeder.).....................................................................................Seite I. H. WichernS Bedeutung für die sociale Bewegung unserer Zeit. (Alexan­ der v. Oettingen.).............................................................................................. —

1

China als Verbündeter Deutschlands. (Hauptmann Tanera.)...................... — Goethes Werke. (Constantin Rößler.)................................................................... — Politische Correspondenz: Die Getreide-Zolle und die Kartell-Parteien. (D.) — Kolonialpolitische Korrespondenz. (6.) — Französische, russische Politik. —

55 65

England. — Deutschland. (cd.)................................................................... — Notizen: Carl Lamprecht, Skizzen zur Rheinischen Geschichte. — A. H. Dr. Post,

75

Afrikanische Jurisprudenz.

...............................................................—

27

95

Zweites Heft. Joseph Victor von Scheffel ..................................................................................... — Das altpreußische Tabacksmonopol. (Dr. Charpentier.).................................... — Rechtsstudium und Prüfungsordnung. (Oberlandesgerichtspräsident EcciuS.) — Die Kaiserkrönung im Museo Nazionale zu Florenz. (Prof. Dr. Schmarsow.) — Politische Correspondenz: Die Finanzlage. (D.) — Französische, russische

101 145 164 186

Politik. — England, (cd.)................................................................................ Notizen: Rudolf Hellgrewe, Aus Deutsch-Ost-Asrika. Wanderbilder................

— —

198 212

Julius Hölder. Vier Jahrzehnte württembergischer Politik. (Wilhelm Lang.)



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Noch einmal Rechtsstudium und Prüfungsordnung mit besonderer Rücksicht auf den praktischen Vorbereitungsdienst. (Goldschmidt.)........................... Die Bauernbefreiung und die Gutsherrlichkeit in Preußen. (Conrad Bornhak.) Politische Correspondenz: Veröffentlichung des deutsch-österreichischen Bündniß-

— —

244 278



290



312

Drittes Heft.

vertrageS. — Rede des Reichskanzlers vom 6. Februar. — Rußland. — Frankreich. — England. — Ein vierzigjähriges Jubiläum, (cd.) — Die

Verlängerung der Legislaturperiode und des Socialistengesetzes. (D.) . . Notizen: Carl C. T. Litzmann, Emanuel Geibel. — Adolf Langguth, Goethe als Pädagog...........................................................................................................

IV

Inhalt.

Viertes Heft. Kaiser Wilhelm. Eine neue Auffassung der Kirchengerichte. (Max Lenz.)............................... Seite 319 Ueber die Dichtersprache. (K. Brnchmann.).......................................................... — 353 Dietrich von Nieheim. (Bruno Gebhardt.).......................................................... — 379

Goethe und Diderot über die Malerei. (Oskar Döring.)............................... — Politische Correspondenz: Kaiser Wilhelms Heimgang. — Der Thronwechsel. —

Frankreich. — Rußland. — England. ( Sie abzuholen' (20. Febr. 1801). Wenn so das Wort sich in die Umgangssprache einnistet, was soll dann in stilisirter Rede werden? Wilhelm Meisters Lehrjahre begannen zu erscheinen im Jahre 1794, doch hatte Goethe an diesem seinem ersten, seinem einzigen Roman seit dem Februar 1777 gearbeitet. Die ersten beiden Bücher enthalten nur Fälle de» harmonischen Typus. Ueberall ein gewisier ParalleliSmU» zwischen zwei eng auf einander bezogenen Sätzen oder satzartigen Gliedern. Ueberall, auch in Fällen wie (114) .Wer mit einem Talente zu einem Talente geboren ist, findet in demselben sein schönstes Dasein', oder (II9) .Bald mit einem Kinde auf dem Arm, bald deffelben beraubt', überall, mein ich, verträgt noch das Pronomen eine leichte Betonung. Das Un­ heil beginnt aber mit dem dritten Buch (III11). .Sie hatten sich unter diesem Gespräch weit in den Park verloren und waren auf die Landstraße, welche durch denselben ging, gekommen'. Hier würde doch die Betonung de» Pronomen- nur die abgeschmackteste Verzerrung de» Gedanken- ergeben. 3m fünften Buche heißt eö Obgleich bei der neuen Bearbeitung Hamlet» manche Personen weggefallen waren, so blieb die Anzahl derselben doch immer noch groß genug'. Auf den ersten Blick erscheint dies in milderem Lichte. Haupt-

Derselbe.

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und Nebensatz im Concessiv-Verhältniß, eine häufige Erscheinungsform deS harmonischen ThpuS. Aber wie, wenn man dahinter kommt, daß mit .denselben' hier die andern gemeint sind, die übrig gebliebenen, nicht weggefallenen, daß also mit der .Anzahl derselben' nicht auf den genannten Gegenstand Bezug genommen wird, sondern alsein auf den Begriff, der freilich über Dauer oder Wechsel dessen, was er. umfaßt, erhaben ist? So wird ja wohl die Schönheit des Romans auch erhaben fein über dem, was an stilistischen Einzelheiten ein anderes Jahrhundert ander­ wünschte? nein, was der Dichter selber in glücklicheren Stunden ander­ sagte und schrieb. Er selber, der noch nicht metamorphierte Goethe ist e», der uns diesen Maßstab anlegen lehrte. Seit 1790, also seitdem er sich da- papierne, da- heißt da- enklitische .derselbe' angewöhnte, scheint er auch die Kollision dieser Wortfratze mit dem echten Wort .der selbe' unangenehm zu empfinden. Wenigsten- sehen wir ihn seit 1790 eine Differenzirung anstreben. In der JdentitätS-Bedeutung setzt er von jetzt ab mit Vorliebe .derselbige', auf diese Weise freilich zwiefach von der mündlichen Sprache sich entfernend, und jedeMal ohne sie zu verschönen, sollt ich meinen. Doch die schlimmsten Fälle der papiernen Derselbigkeit sollen wir noch kennen lernen. Nicht in den Novellen von 1795 und 1801, nicht in den Wahlverwandtschaften, nicht in den ästhetischen Aufsätzen, nicht in dem herrlichen Stück über Winckelmann. Bis hierher erscheint .derselbe ganz überwiegend im harmonischen Typus. Besonders streng sind die Sätze in der Charakteristik WinckelmannS gebaut. Den Gipfel der Nich­ tigkeit erreicht .derselbe' bei Goethe erst in Dichtung und Wahrheit, seit 1811. Immerhin etwa- ist daS Pronomen noch in Sätzen, wie (DWII 7) Merkwürdig ist seine Frage...» so wie die Beantwortung derselben guten Sinn zeigt': Harmonischer Typus. Aber eine taube Nuß, ein Wind-Ei, ein Nicht- ist e- in Sätzen wie (14) .Er billigte unsere Mei­ nung und die Gründe derselben', oder (II 7) .Gottsched- Kritische Dicht­ kunst überlieferte eine historische Kenntniß vom Rhythmus und den verschie­ denen Bewegungen deffelben', oder (III12) .Ging man ... In die Reichs­ verfassung und die von derselben handelnden Schriften ...' Wa- helfen un- Goethe und seine Werke, wenn der Papierne und die Ränke deffelben nicht durchschaut werden? Wa- hilft die Mutter mit ihrer Sprache, wenn die Gouvernante und die papiernen Regeln derselben herrschen sollen? Wa- ist da- deutsche Reich mit all seiner Herrlichkeit, wenn die deutsche Sprache oder auch nur einige wichtige Glieder derselben erstarren sollen? Denn ich darf diesen Typu» wohl den erstarrten nennen, einen steinernen Gast, willkommen vielleicht, wer weiß warum? dem be-

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Derselbe.

rechnenden Verstände, unheimlich jedoch dem klopfenden Herzen, und widrig warmen Lippen. Ehe wir von der Betrachtung de» Goethischen Gebrauch» scheiden, noch einige Kleinigkeiten. Ist e» Zufall, daß der Nominativ de» Pronomen» in sämmtlichen Schriften .von 1771 bi» 1814 sich unter 180 Fällen, steife Briefe abgerechnet, zweimal findet (1805 und 1811), im Jahre 1814 da­ gegen unter den 52 Fällen de» dritten Buch» von Dichtung und Wahrheit allein sechsmal? Oder ist e» auch ein Zeichen dafür, daß der alternde Goethe in ein immer freundlichere» Verhältniß zu dem in ähnlicher Lage schwebenden Pronomen trat? Nebenbei bemerkt, enklitisch bleibt e». darum doch. Nie steht e», soviel ich sehe, bei Goethe am Anfang der Sätze außer mit Präpositionen. Doch! einen Fall finde ich noch, wo der No­ minativ einen volleren Ton trägt. In der Widmung seine» Briefwechsel» mit Schiller an König Ludwig von Bayern schreibt Goethe von seinem Freunde .Durch Allerhöchste Gunst wäre sein Dasein durchaus erleichtert..., derselbe auch wohl in ein heilsamere», bessere» Klima versetzt worden'. Die Zuschrift ist datiert .den 18. Oktober 1829’. Und endlich: Al» Goethe den Theil von Dichtung und Wahrheit vollendet hatte, der den Titel .Italienische Reise' führt, verbrannte er eine große Menge der brieflichen und tagebucharligen Urkunden, gottlob nicht alle. Die erhaltenen, im Jahre 1886 bekannt gewordenen gestatten einen Vergleich, der nicht immer zu Gunsten de» alten Goethe ausfällt: .Wenn man diese Werke nicht gegenwärtig sieht, hat man doch keinen Begriff davon'. So schrieb Goethe den 19. Septbr. 1786 von Vicenza. Daran» machte der siebenundsechzigjährige .Wenn man diese Werke gegen­ wärtig sieht, erkennt man erst den großen Werth derselben'. Von Assisi 1786 .Der Platz selbst steigt ein wenig und e» kommen vier Straßen zusammen, die ein sehr gedruckte» Andreaskreuz machen'. Und 1816 .Dieser (Platz) steigt selbst ein wenig an und e» kommen auf demselben vier Straßen zusammen...' Den 27. Okt. 1786 .Terni liegt in einer köstlichen Gegend, die ich diesen Abend von einem Spaziergange um die Stadt mit Freuden be­ schaute'. Und 1816 .Da» Städtchen liegt in einer köstlichen Gegend, die ich auf einem Rundgange um dasselbe her mit Freuden beschaute'. Der erste, der in solchen Wendungen den Zopf erkannte, war August Wilhelm Schlegel. Mehr altfränkisch al» alterthümlich nennt er den häufigen Gebrauch de» Fürwort» .derselbe', wo e» ohne allen Nachdruck stehe und ungefähr wie da» veraltete französische icelui herauSkomme. Da» war im Frühjahr 1812 in der Anzeige von Winckelmannö Werken. Gegen Ende de» Jahre» erschien der erste Band der Grimmischen

Derselbe.

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Märchen, der zweite zu Anfang deS Jahre- 1815, auch Monumenta 6ermaniae, friedlicher, als die unsere Freiheitskämpfer sich auf den Schlacht­ feldern errichteten, unscheinbarer, als die großen historischen labentibus Imperii rebus geplanten, libertate uriiversorum discrimine et nobilissimo

sanguine fuso recuperata im Jahre 1818 beschlossenen und seit 1826 (1824)

erscheinenden, und harmloser, als die daS unvergleichliche Brüderpaar uns in

gelehrteren Arbeiten hinterlassen, aber für deutsches Gemüths- und Geistes­ leben, für Sprache und Poesie wichtig und wirksam vielleicht nicht minder, als jene alle.

Wehe un8, wenn wir und namentlich unsere Frauen ver­

lernten zu unseren Kindern in der Sprache der Grimmischen Märchen zu reden! Und wehe unseren Kindern! Der Naturlaut unserer Muttersprache

tönt nirgend reiner, als hier.

Und das Wesen deutscher ErzählungSweise,

deutschen SatzbauS, deutschen Ausdrucks liegt nirgend so offen zu Tage,

,WaS wohl Goethe zu diesen Märchen gesagt haben mag?

al« hier.

Seine Kindheit war mit Märchen genährt worden; an Märchen lernte er erfinden; und ein Knabenmärchen, freilich mit der reifsten Kunst auSgeführt,

giebt er uns als sein ältestes dichterische- Produkt'. Wilhelm Scherer (I. Grimm'150).

So fragen wir mit

Goethe war mit seinen LebenS-

crinnerungen beschäftigt, als die Märchen herauskamen. nicht beachtet zu haben.

Er scheint sie

Für die Geschichte deS deutschen Geistes aber

gehören sie, mit dem jungen Goethe iint> mit der jungen Germanistik, zu dem Quell, daraus er sich Verjüngung getrunken hat und trinken wird.

Genug der großen Worte!

Wie steht eS bei den Märchen mit dem

papiernen Gernegroß? Hier, wo mündliche Sprache wiedertönt, wie selten in einem Buche, ist .derselbe' ja undenkbar.

Doch da stoßen wir auf

einen seltsamen Schwank, .von dem Mäuschen, Vögelchen und der Brat­

wurst'. Darin steht einmal .Derselbe andere Vogel' und dann (von der Maus)

.wollte durch vas GemüS schlingen und schlupfen, dasselbe zu

schmelzen'.

Schon in diesen wenige» ausgehobenen Worten ist deS Auf­

fallenden genug.

.Derselbe' steht hier noch volllönig, am Anfang deS

Satzes und mit einem Substantiv verbunden. Dann .schlingen' im Sinne

von sich schlängeln, sich winde»; da»» .schlupfen' für .schlüpfen'; dann .Gemüs', wie die vorangehenden Synonyma Speise und Brei anzudeuten scheinen, für .MuS'; endlich .schmelzen' mit Schmalz bereiten.

So bedarf

eS gar nicht weiterer Beispiele um uns den Gedanken nahezulegen, daß

hier eine alte schriftliche Vorlage Wort für Wort wiedergegeben sei. Und sieh da, in den Gesichten PhilanderS von Sittewald, die als Quelle

angeführt werden, steht unter den übrigen Alterthümlichkeiten auch beidemal .derselbe'.

Nur hat Wilhelm Grimm, er ist ja der Hauptredaktor der

Sammlung, im ersten Fall die Worte .andre Bogel' Preußische Zahrbücher. Bd. LX1. Heft 1.

hinzugefügt, 2

im

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Derselbe.

zweiten .dasselbe' au- .daffelbige' gemildert. Wie denn unter anderem auch da» schöne, .de» Leben» verfallen' seinem Sprachgefühl verdankt wird: Moscherosch schrieb, wenn man dem Druck (1650) trauen darf, .deßwegen sei sie ihm da»'Leben verfallen'. Und au» einem .deßwegen so deckte der Vogel den Tisch' machte W. Grimm .derowegen so deckte...' Genug, die» sichtlich und mit feinstem Verständniß alterthümlich gehaltene Märchen fällt für un» fort. Ebenso natürlich die im Schweizer Dialekt gegebenen, in deren einem, dem vom Bogel Greif, .sälbeSmöl' für .jene» Mal, damal»' steht. Diese Stücke gehören also zu den Ausnahmen, welche die Regel bestätigen. Die Regel aber lautet .Wo die Grimmischen Märchen unsre heutige Sprache wiedergeben wollen, ist ihnen .derselbe für .er', .desselben' für .fein' und so weiter unbekannt. Daß ein solches Beispiel, noch dazu von Kinder- und HauSmärchen gegeben, in einer Zeit, die zugleich mit den höchsten Problemen des Sein» und Denkens beschäftigt ist, nicht sofort allgemeine Nachfolge finden kann, versteht sich von selber. Dennoch läßt sich, von diesem Quell au-, eine Strömung verfolgen bis in die für Weltumsegler schiffbaren Gewäffer. Die Grimms selber meiden da- Wort nicht ängstlich, doch ist eS bei ihnen selten, namentlich bei Jacob Grimm. Die Germanisten überhaupt halten, wie billig, ihren Stil ziemlich rein, in unerwartetem Maße ist der her­ vorragend mündliche Stil Wilhelm Scherer» durch da» papierne Pronomen entstellt. Bei Herman' Grimm finden sich ungefähr soviel .derselbe', wie seine Schriften Bände zählen. Ebenso bei Heinrich von Treitschke. Don den erzählenden Dichtern schließen sich Tieck, dann Alepi», Scheffel, Auerbach an. Dahn» teutonische Romane haben manche Geschmacklosig­ keit, diese nicht. Unser Verzeichniß macht jedoch keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Daß ich e» überhaupt soweit geben kann, verdank ich der Beihülfe Verständniß- und liebevoller Freunde und Freundinnen, der ich mich für die Zelt von Goethe abwärts erfreuen durfte, und die mir Monate voll unerquicklichen Spionieren» erspart hat. Äu» der Reihe der unbeeinflußt gebliebenen hebe ich Ranke heran». Er ist dem unglückseligen Wort mit Haut und Haaren verfallen. Und nicht blo» der neunzigjährige, sondern auch der dreißiger. Auch hab ich keinen wesent­ lichen Unterschied zwischen den mehr betrachtenden und den mehr erzäh­ lenden Abschnitten gefunden. Die Zahl der Fälle erreicht, soviel ich sehe, in keiner der früheren Schriften Ranke» und, wenn ich den ZeitungSre» porter abrechne, bei keinem Schriftsteller de» Jahrhundert» die gleiche Höhe, wie in Ranke» Weltgeschichte. Die Art aber ist überall die gleiche, e» ist die de» alten Goethe von 1814. Eine besondere Betrachtung verdienen die beiden Schweizer Dichter,

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denen heute vor allen die Aufgabe zugefallen scheint, die Ehre der deutschen Litteratur zu retten. Beide sind in hohem Grade derselbig. Aber ebleibt die Frage zu untersuchen, wieweit sie unter einem berechtigten Ein­ flüsse ihre- HeimathSdialekteS stehen. Eine prinzipiell sehr schwer zu ent­ scheidende Frage, bei der auseinander zu halten ist, ob es sich' um bloße Vokabeln handelt, durch deren Einführung aus der Mundart der Litteratur­ sprache manch nützliches Wort gewonnen wurde — man kennt die Zwilling-Worte, wie sanft und sacht —, oder um syntaktische Dinge. Daß e- sich bei .derselbe' um mehr als um eine Vokabel handelt, ist wohl außer Zweifel. Nun denn, das schweizerische .derselbe': Zwingli in der Fastenpredigt von 1522 redet von den Korinthern:. .Die selben habend nach jrem bruch jren abgötten thier, al- kalber, schaf, oder ander spyS ufgeopfert, im selben ufopfren aber, gab man ein großen teil, etwann gar wider zu essen den opfrenden.'

AegidiuS Tschudi (f 1572) im Chronicon helveticum: .In selbigen Tagen ... saß zu Steinen ... Wernherr von Stouffach... Der selb Wernherr hat ... ein schön nilto Huß gebuwen. Wie nun der Landt-Bogt Geßler zum selben Huß kumpt...

Man sieht, altdeutscher Typus, nicht viel ander- al- bei Luther. In Schweizer Volksliedern (L. Tobler 1882 und 1884) finden wir: 1368

die selbe wol gelegen bürg die hat der ber zerbrochen.

1386

als do der selbig herre wol für die linden zog ... die selben Herren alle, so da die landschaft hat.

1443

sie tratend alle hinder sich, die selben Schwizerknaben.

1544

ein Franzos kam getraben, der selb schrei überlut.

1656

wie sie umb die Todten beten Hand, die selbigen abzutragen.

1798

Wehrt euch für der Vater Glauben, der allein unS Wahrheit lehrt, laßt euch selben niemals rauben, er ist Blut und Leben werth.

Bodmer und Breitinger, Johannes Müller, der .glauben-werthe Mann, und Pestalozzi schrieben bekanntlich da- Litteraturdeutsch ihres JahrhunderS. Hören wir jedoch aus unserm Jahrhundert noch JeremiaGotthelf. In diesem Dorf ist begreifllich auch ein Wirthshaus, und in selbem ein Wirth'. Ferner sein häufige- .an selbem Abend', .selb ist 2*

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wahr': so werden wir wohl darüber einig sein, enklitisch ist da- Pronomen hier bis auf den heutigen Tag nicht geworden. Der Herausgeber der Schweizer Volkslieder hat mir auf meine Anfrage dies bestätigt. Eine Stelle aus einem Zeitungsbericht, wie wir sie tagtäglich genießen: von Anträgen ist die Rede; dann heißt es .Dieselben sind dem Vorstand aus der Mitte deS Vereins mitgetheilt, und derselbe hat sich dieselben an­ geeignet' erklärt der nach Geburt und Bildung gleich kompetente Gelehrte, auch abgesehen von ihrer unvolkSthümlichen Fassung überhaupt, im Schweizer Dialekt für unmöglich. Man würde wohl beginnen können Die se'be" ADträg, aber nie und nimmer fortfahren und der se'b hät 6ich die se'be" a"geignet Die- schwere .der selb' wird sich keiner unter meinen Lesern erinnern bei Keller oder seinem jüngeren Land-mann gelesen zu haben. Selbst da, wo sie chronikartig alterthümeln, bringen sie eS über ein zahme.selbiger' nicht hinaus. Niemals ist da-Pronomen mit einem Substantiv verbunden, ganz vereinzelt steht eS bei Keller am Anfang des Satze-, einige Male hat Keller die Form .selbe', wie Goethe auch (auS Rom, 22. November 1786). Alle- in allem gewährt da- Wort bei Keller kein andere- Bild als etwa bei Spielhagen oder in jedem beliebigen Berliner Zeitung-blatt. C» ist ganz unbetont, ist Lückenbüßer für unbehagliche Genetive, ist bequemlichcö DifferenzirungSmittel und dient auch sichtlich und absichtlich zur bloßen Berschnörkelung der Rede; daher die zahllosen Nominative und Akkusative. Indeß bet Keller möcht ichs gar nicht missen. Seinem Stil steht da- Krause wohl an, wie die Runzeln seinem verehrten Angesicht. Er ist trotz der Gothik im Satzbau, wie im Aufbau der Er­ zählungen, oder grade weil er diese Gothik so eigen au-gebildet, ein großer Dichter. Doch Meister Konrad? — e- wird erlaubt sein, den deutschen Dornamen deutsch zu schreiben. Ich hatte seinen Jenatsch, den Heiligen und die Richterin gelesen, ehe ich .genossen' hatte. Und al- ich auf die Spur kam, und die Pirsch begann, da hätt ich mich hoch und höchst verschworen, bei ihm da- gefährliche Schwarzwild der Tintenworte nicht anzutreffen. Seine gedrungen lichtvolle Sprache, so sagt ich mir, einem fest gegründeten, fröhlich aufsteigendcn Schloßbau vergleichbar, kann, muß alle Surrogate verschmähen. Bei ihm würde .derselbe' sich au-nehmen, wie zwischen granitenen Pfeilern und marmornen Schwibbögen eine Pappwand mit Smhrgel bestrichen, wie mitten unter leuchtenden Wangen ein grinsender Todtenschädel. Ich la- noch einmal. Wie wuchs meine Zuversicht als ich auf den ersten 171 Seiten seine- ge­ waltigen Jürg Jenatsch die Luft rein fand; hatte doch Keller auf den ersten 171 Seiten seine- grünen Heinrich bereit- über 70mal dem

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schlimmheiligen Letalis geopfert. Und nun stieß mir da- Wort gleich zweimal auf, in den nächsten zwei hundert Seite» wieder je zweimal, und in den letzten fünfzig sogar sechsmal, darunter zweimal in eines Menschen Rede. Und wenn der Dichter hier noch sparsam umzugehen scheint mit dem einstmals so werthvollen, jetzt durch den Mißbrauch so arg rntwerthrten Pronomen: ein ander Mal in der Hochzeit dcS Mönches, begegnet eS auf jeder sechsten Seite (nach der Buchausgabe, in Kleinoktav). Aber eines unterscheidet ihn, auch bei diesem Worte, von allen anderen: er be­ schränkt sich fast auf den harmonischen und den symmetrischen TypuS. Das giebt bei ihm selbst diesem entarteten Wort eine Haltung, eine Würde, die eS seit Wilhelm Meistere Lehrjahren nicht mehr besessen, und die zuweilen nicht ohne Wirkung ist. Hier bescheidet sich der Geschichtsschreiber, der lediglich Thatsachen festzustellen und zu beurtheilen hat, aber nicht darf ändern und bessern wollen. Doch zur vollen Würdigung des gcsammten Thatbestandes in unserer Litteratur, zum Verständniß der Erscheinung, daß wir In heutiger Prosa uns eine Darstellung sei eS deS jüngsten Eisenbahnunglücks oder der Perikleischen Politik, der thierischen Elektricität oder der schwersten Seelen­ kämpfe, kaum vorstellen können ohne daS im besten Fall preziöse .derselbe', bedarf e», wie man gewiß schon längst gefühlt hat, noch einer Frage: Welche» Interesse hat der große Unbekannte, unter dessen geheimer Re­ daktion fast alle unsere Bücher, namentlich Lehrbücher, Grammatiken, Stil­ musterbücher und sonstige PreiScourante, und leider auch viele unserer Dichtungen geschrieben werden, der sogar über Reden und. über Kirchen­ gebete eine grausame Censur ergehen läßt, welche» Interesse hat der Papierne an unserem Pronomen? .Die Eltern sehen ihre Wanderung fort und lassen die Kinder ge­ währen. So kommtS, daß diese ziemlich weit zurückbleiben.' Wohinter? Hinter wem zurückbleiben? fragt ingrimmig der große Exakte. Und . wer auf ihn hört, antwortet treuherzig .hinter denselben'. Oder: Jenatsch spricht. .Der Cardinal Richelieu findet den Bericht deS Herzogs Rohan über die Märzereignisse in Chur lückenhaft und wünscht eine vollständige Darstellung von meiner Hand.' Wie? irgend eine Darstellung? einen beliebigen, nur vollständigen Aufsatz? Nach dieser Probe steht zu fürchten, daß der Cardinal auch die neue Darstellung der Märzereignisse lückenhaft finden wird. Also: Darstellung derselben. Oder: Poggio erzählt, wie er an eine Kirche kam, wie er den Haupt­ eingang offen fand und eintrat. Der Paplerne fängt die Worte auf. Und sogleich haben sie ein ganz andere» Ansehen .und den Haupteingang

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Derselbe.

derselben offen findend, betrat ich sie'. Sie klingen auch ganz ander». Aber deutsch? Endlich: Welche Wurzeln der Weltlust oder der Weltsorge wohl da» Fräulein Lucrezia noch draußen zurückhielten? denn sie sprach von dem Kloster trotz ihre» Wohlwollen» nur al» von ihrer einstweiligen Herberge. Da» ist sehr nachlässig gesprochen. Ersten» weiß man nicht, gegen wen, oder richtiger, für wen da» Fräulein Lucrezia Wohlwollen hegt. Zweiten» ist da» Fräulein keine sie, sondern ein eö. .Denn diese» sprach von dem Kloster, trotz seine» Wohlwollen» für daffelbe, nur al» von seiner einst­ weiligen Herberge.' Da» erst ist klar und scharf gedacht und gesagt. E» giebt eine Sprache, in der Ausdrücke wie Wohlwollen gern durch den betreffenden Objekt-begriff näher bestimmt werden. Da» ist die lateinische. E» stünde schlimm um unsere Bildung, wenn wir nicht Latein lernen könnten, ohne dadurch unser Deutsch zu verderben. Moriz Haupt begann seine Festrede am Leibniztage 1861 folgender Maßen. .Wir feiern alljährlich da» Andenken de» Ahnherrn unserer Akademie, nicht um e» vor Bergeffenhett zu schützen: denn kaum wäre solche» Schutze» ein Andenken werth, da» seiner von Jahr zu Jahr be­ dürfte.' Man kann dem Papiernen keinen größeren Kummer machen, al» mit solchen Sätzen. Seiner! wa» ist da»? saus oder suae oder suorum, Buarum oder sui? wie e» scheint sui, de» Schutze». Aber .seiner, eui’ ist reflexiv, wie doch auch da» deutsche .sich'. Also hätten wir ein An­ denken, da» de» Andenken» von Jahr zu Jahr bedürfte. Zum mindesten . ist .seiner' persönliche» Pronomen. Und weder Schutz noch Andenken sind Personen. So tiftelt und deutelt aller Scheingrammattker Oberster und verlangt im Namen der Deutlichkeit und Genauigkeit, der Uebltchkeit und Richtigkeit .kaum wäre solche» Schutze» ein Andenken werth, da» des­ selben von Jahr zu Jahr bedürfte'. Aber die Stelle hat noch einen Flecken: .Nicht um e» vor Bergeffenhett zu schützen'. Da» Andenken eine» so großen Manne» ist viel zu wichtig, um .daffelbe' mit einem so kahlen, unfeierlichen.e»' abzuthan. Ohne Feierlichkeit, ohne Schwung ist der Papierne nie. Jeder Zoll an ihm, jede Haarlocke ist Schwung. In der Zeit, al» der Zopf noch für die einzig menschenwürdige Haartracht galt, wurde .er' oft nicht sehr freundlich für .du' gesagt. Seit dem ist da» nackte .er, sie, e»' etwa» anrüchig geworden. Einem Philosophen wird die Ehre, in die preußische Akademie ge­ wählt zu werden. In seiner Antrittsrede gedenkt er die Frage zu streifen, wie viel der Akademie im Sinne ihre» Stifter» die Philosophie sein kann. Goldne Worte strömen ihm zu, vom philosophischen Glauben, der belebt

Derselbe.

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und wachsen läßt, wie da» Sonnenlicht. Und durch seine Wahl, meint er, habe die Akademie wohl nur dieser Ueberzeugung erneuten Ausdruck geben wollen. .Entspricht sie doch dem hoffnungskräftigen Geiste Leib« nizenS.' Ueber Nacht kommt der Papierne und korrigirt ihm das Con­ cept. .Dieselbe entspricht dem hoffnungskräftigen — ein satanisches Lächeln überfliegt die welken Züge des großen Pessimisten — Geiste von Leibniz natürlich. Also mit tiefer Verbeugung .Dieselbe entspricht'. Warum nicht .Hochdieselbe'? Hierher gehören die meisten Alkusative und wohl sämmtliche Nomi­ native von .derselbe'. Man verlangt sie um die Rede wohlfeil zu adeln, sie durch irgend etwas von der gemüthlichen Bierkneipennatürlichkeit, wie der ungemüthliche Schopenhauer sagt, zu entfernen. Hierher gehört auch die Form .daselbst' für .dort'. .Nähme ich Flügel der Morgenröthe und bliebe am äußersten Meer, so würde mich doch deine Hand daselbst führen und deine Rechte mich halten.' Solche Stellen merkt sich der Böse, jedoch nicht, um sich von der sieghaften Stärke des Guten zu überzeugen, son­ dern um das schwungvolle .daselbst' überall da zu schreiben, wo es die Menschen nicht sprechen. Zu verlangen, daß die Litteratur nichts Höheres zu leisten habe, als ein Konterfei der gewöhnlichen Rede mit allen ihren Zufälligkeiten, aller Brette, allen Unebenheiten, Riffen, Sprüngen, mit allem Geschwätz, lieblich und häßlich durcheinander, das wäre Barbarei. Die Ver­ edelung aber durch Vertauschung einzelner Wörter und Wendungen her­ beiführen zu wollen, ist Pfuscherei. Die mündliche Sprache ist tumultuarisch und bedarf der Zucht, wenn Dauernde- soll geschaffen werden, der Zucht, die mit ihrer innersten Natur rechnet, nicht der Dressur, welche die Natur veredeln will, indem sie sie mechanisirt — .sie sie'? da» ist doch wohl der Verbefferung fähig. Gewiß. Aber wie nur? Der Papierne weiß Rath. .Die Richterin holte die Krystalle hervor. Nachdem sie dieselben eine Weile in der Hand gehalten . . .' ES ist da- übliche Mittel die Mißklänge, die durch Häufung von Fürwörtern entstehen, zu vermeiden. — .Sie sie' war zu tief gegriffen, eine Umschreibung deS Begriffs Natur, wie etwa .die beseelte oder die organische zu mechanisiren', wäre zu hoch. Die echte Prosa liegt in der Mitte zwischen der Umgangs- und der Dichtersprache, und grade dieser Mitte entspricht da» artige Wort .der­ selbe', da» sich von der Ueberladenheit einer poetisirenden Prosa und der Hemdärmeligkelt der gewöhnlichen Rede gleich weit entfernt hält. Da hätten wir denn wieder einmal eine sogenannte goldene Mittel­ straße, auf der man so bequem dahinfährt — wohin nur? — in die trostlose Wüste der absoluten Prosa. Wissen wir denn, was au» der

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Derselbe.

Sprache, was aus dem Denken würde, wenn man die dichterischen Elemente herauSnähme, herausnehmen könnte? Weit genug freilich haben wir» darin gebracht. Unser Denken gestaltet sich immer katalog-, immer kompendienhafter. In der Erzählung lieben wir das Perfekt und das Plus­ quamperfekt, Zeitformen, die da» deutsche Verbum gar nicht einmal besitzt, die wir erst künstlich durch Hilfsverba herstellen müssen. So erzählen wir weniger, alS wir aufzählen. Wir lassen weniger entstehen und ge­ schehen, als wir Fertiges und Geschehenes konstatiren, excerpiren, rubririren. Wir lieben daher Substantiva. Täglich entstehen neue —ungen. Da ist denn die Noth, die Substantive richtig auf einander zu beziehen und gehörig zu ergänzen, groß genug. Und man ist froh, wenn sich der­ selbe' als Nothnagel darbietet. Wer daraufhin in einer gebildeten Sprache, die e» ja unleugbar mit mehr Abstraktionen zu thun hat, alö die weniger durchgebildete, das Pro­ nomen für schlechthin unentbehrlich erklärt, den bitt ich nur, es einmal mit den Mitteln, die ihm die mündliche Sprache, die Sprache de» jungen Goethe und, mit gewissen Einschränkungen, die Sprache Jacob GrimmS an die Hand giebt, zu versuchen. Er wird erfahren, wie reich an uner­ schöpften Hilfsquellen die lebendige Sprache ist, wie auch hier neuen Aufgaben jauchzend immer neue Kräfte entgegcnwachscn. Daß freilich zu einer Meisterschaft in der Prosa ein mittleres Maß von Kräften ausreiche, daß die Kunstprosa überhaupt ein mittleres sei zwischen ich weiß nicht welchen Extremen, dieser Glaube, so tröstlich er sein mag, ist nicht der meine. Ich habe für diese .mittlere' Prosa, die ungefähr de» Herrn Daniel Sanders .nicht gehobener Rede' entsprechen mag, einen andern Namen. .Kennen Sie sie?' klingt nicht besonders schön. .Kennen Sie die­ selbe?' klingt garnicht. Jenes ist schlicht, dies dünkt sich wohlgesetzt. Jene» ist läßlich, dies peinlich. Jenes ist der Umgangssprache gemäß, auch einer StiflSdame vornehme Züge entstellt eS nicht; es findet sich S. 28, 85 (hier sogar zweimal), 158, 187 der Heysischen Novelle: die» aber nimmt einen höheren Flug. Also .nicht gehoben' und möchte doch gehoben scheinen; da» unscheinbar große verachtend, im unbedeutenden schwelgend; nicht mehr unbefangen, und doch noch nicht wieder unbefangen; nicht Natur, nicht Kultur; nicht niedrig, nicht hoch; sondern, wie der Papierne überhaupt, subaltern. Da» ewig gestrige: der sinnlose Scharfsinn, der triviale Schwung, der klanglose Wohlklang, das alles kennzeichnet den großen Subalternen. Der sitzt und sammelt und sichtet gewordenes, als wär es nicht geworden. Vor allem Werden hat er eine abergläubische Fllrcht. AuS lauter Ortho-

Derselbe

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doxie ungläubig; aus Konservatismus destruktiv; nicht sterbend, aber auch nicht lebend, das ist der große Derselbe: Vielleicht muß eS neben der Volks- und der Litteratursprache eine subalterne geben, in Verfügungen und Protokollen, in Zeitungsberichten und Katalogen. Meinetwegen. Wenn wir nur nicht soviel der Art lesen müßten und nun, ehe wir- uns versehen, in den papiernen Jargon ver­ fielen. Wie manches Wort hat nicht den Weg auS der Amtsstube durch die Zeitung in die Litteratur gemacht! Die Gerichte setzen einen Termin an .behufs Auflassung eines Grundstücks'. Der Reporter kommt auf eine frühere Nachricht zurück .behufs Richtigstellung derselben'. Und Ernst von Wildenbruch läßt im Astronomen dem Kellner die Krüge reichen .be­ hufs frischer Füllung mit Pschorr-Bräu'. WaS in der Gerichtssprache stilvoll sein mag, unter dem Vermischten der Zeitung nicht sonderlich auffällt, in der Novelle nimmt sich-, und das soll eS doch wohl nicht, pofsirlich auS. Doch Akten- und Büchermenschen müssen sein. Warum sollen sie nicht am Ende ihren eignen Stil haben? Aber herrschen sollen sie doch nicht, weder im Staat noch in der Kirche, und in der Wissenschaft so wenig, als in der Dichtung. Wer hierin mit mir einverstanden ist, der zeig e» auch in feiner Sprache! Ich hab etwas laut gesprochen. So darf ich nicht schließen. Ick Kirnte sonst doch noch In Verdacht kommen, Goethe oder Ranke oder Konrad Ferdinand Meyer für subalterne Geister zu halten, oder wenigstens für subalterne Stilisten, weil sie sich dem Einflüsse des Papiernen nicht ganz entzogen. In jeder lebenden Sprache, auch der frühsten, ist verblaßte», ist halb- und mißverstandenes und doch durch stillschweigende Konvention geaichteS, ist vererbte und verjährte Unsitte, ist süßer Schlendrian. Und diese Harmlosigkeit grade befähigt sie zum höchsten, durch sie allein ist sie schöpferisch und schmiegsam. Nun liegt hier ein Fall vor, wo die schrift­ liche Sprache sich ein Mittel geschaffen zur bequemen und deutlichen Scheidung und Bindung. Sie hat ihren Bedarf einmal dadurch gedeckt, daß sie den eigentlichen Gehalt eine» Worte» der mündlichen Sprache ver­ flüchtigte um so, wenn auch ohne Nachdruck, doch meist unzweideutig die Bezüge zwischen den besprochenen Dingen anzugeben. Sie hielt eS nicht unter ihrer Würde, grade da, wo sie Staat machen möchte, sich mit einer Wendung zu schmücken, die der mündlichen Sprache de» gemeinen Manne», wie de» ungemeinen, zu schlecht ist. Wenn da» ein Mißbrauch ist, nun auch die Besten haben sichs gestattet. Und man gewöhnt sich daran. Solche Erwägungen mildern da» Urtheil dem einzelnen Schriftsteller gegenüber. Sicherlich zutreffend sind sie bei dem Liebling der Musen und

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Derselbe.

der deutschen Mädchen, der mit der selben Gelassenheit .sie sie' schreibt, wie er von Dictorinen» kleiner Figur und den Vorzügen derselben (220), von den Augen eine- Kinde- und dem Blick desielben (267) berichtet. Ja sogar .welch letzterer' verschmäht er nicht. Ich will den Satz (309) nicht herschretben. Er ist gar zu sehr verunglückt. Auch kann selbst für diese müssige, löschpapierne Wendung der junge Meister sich auf den alten be­ rufen, der in Dichtung und Wahrheit (I 7) von mehreren nicht dem Feuer übergebenen Stücken spricht, der Laune de- Verliebten, den Mitschuldigen, an welchem letzteren er, wie er sagt, immerfort mit besonderer Liebe besierte. Aber dem herrschenden Prosastil wird dadurch da- Urtheil nicht er­ spart, daß er bi- heute kaum recht flügge geworden, daß er von den Eier­ schalen seine- Ursprung- noch manche- Stück mit sich herumschleppt, daß er noch nicht so weit erwachsen ist, um da», wa- er zu sagen hat, in einer menschlichen Sprache zu sagen, da» heißt in einer Sprache, die nicht blos bequem au» der Feder, sondern auch bequem vom Munde geht, die nicht blo- durch optische Zeichen andeutet, wa» sie will, sondern auch klingt. .Dieser Mensch redet, wie ein Buch', ist ein kranke- Lob. Umgekehrt sei die Losung: .Die- Buch redet, wie ein Mensch'.

I. H. Wicherns Bedeutung für die sociale Bewegung unserer Zeit. Don

Alexander v. Dettingen. Friedrich Oldenberg:

Johann Hinrich Mchern.

Sei» Leben und Wirken

nach seinem schriftlichen Nachlaß und den Mittheilungen seiner Familie.

Zwei Bände.

Hamburg 1886/87 (Agentur des Rauhen Hauses, und Mauke Söhne, vormal- Perthes,

Besser und Mauke).

ES ist noch kein Jahrzehnt vergangen seit dem Tode Johann Hinrich WichernS, eine» Mannes, der nicht blos als Bahnbrecher für da» Werk der „Inneren Mission" einen Platz in der Geschichte der christlichen Kirche sich errungen, sondern auch in die sociale Bewegung unserer Tage thatkräftig und segensreich eingegrlffen hat. Sein TodeStag war der 7. April 1881. Er hat also vor kaum sieben Jahren da» Zeitliche gesegnet. Aber sein Sterben oder wie er selbst sagte, seine „Arbeit de» Sterbens" reichte bis in die letzte Hälfte de» vorigen Jahrzehnt» hinein. Seit 1874 von Schlaganfällen heimge­ sucht, erlahmten seine Geisteskräfte dermaßen, daß dieser Mann rastloser Arbeit, stürmischer Thatkraft und hinreißender Beredsamkeit gezwungen ward nicht nur sich zu beschränken, sondern — selbst der Kraft und Sprache beraubt — in kläglich gelähmtem Zustande Jahre hindurch sich in schwerer Leidensnacht abzuquälen, ja schließlich mit weiblicher Handarbeit die trüben Stunden sich zu kürzen. Es liegt ein ergreifend tragisches Ge­ schick darin — eine Gottesfügung, die nur ein also geschulte», in schwerster Anfechtung erprobtes Christengemüth verstehen und mit wahrhaft kindlicher Ergebung ertragen konnte! Nicht blos für die Gegenwart, für alle Zetten christlich-deutschen Volkslebens, ja weit über die Grenzen Deutschlands hinaus, wo immer evangelisches Leben pulsirt, wird die Erinnerung an den Gründer de» Rauhen Hause», an den Vater der von ihm zuerst so benannten „Innern

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2 H- Wichern- Bedeutung für die sociale Bewegung unserer Zeit.

Mission", an den in thätiger Liebe sich verzehrenden Pfleger deS GefängnißwesenS von jedem Menschenfreunde hochgehalten werden, welchem die Schäden der Kirche und das sociale Elend auf der Seele brennen. Ja kein Gebildeter unserer Tage darf ignortren, waS — trotz schroffer Einseitigkeit und allzustürmischer Vielseitigkeit — dieser Mann Gottes, dieser echte deutsche Patriot, dieser rüstige Arbeiter und großartige Or­ ganisator mit selbstverleugnender Dransetzung all seiner Kräfte für sein Volk und seine Kirche Heilsames gewirkt und Fruchtbringendes angebahnt hat. Die ganze sogenannte „Berliner Bewegung" und mit ihr zusammen­ hängend die christlich-sociale LebenS- und Liebesarbeit in ganz Deutsch­ land ist — abgesehen von ihrer unseligen Verquickung mit politischer Partei-Agitation in den Stöckerschen Kreisen — eine Frucht Wichernscher Vorarbeit und Aussaat. Die „Politik" hat er von seiner rein christlichen LiebeSthätigkeit, wie wir sehen werden, stets fern halten wollen. Aber in die sociale Frage nach ihrer ethischen und religiösen Seite, namentlich in die Regulirung und Ausgestaltung des preußischen Gefängnißwesens hat Wichern durch persönliche Wucht seines Charakters und durch amtliche Wirksamkeit so lebendig eingegriffen, daß die Preußischen Jahrbücher trotz mannigfach abweichenden Standpunktes, wie mir scheint, die Pflicht haben, in ihren Annalen zu verzeichnen, was er gewesen und wie er gewirkt. Dabei dürfte es für die Leser dieser Zeitschrift von Jntereffe sein, wenn eS sich durch eine Darstellung der Persönlichkeit und deS Entwicke­ lungsganges diese» seltenen ManneS Herausstellen sollte, in welcher Weise die Innere Mission und die sociale Frage der Gegenwart sich gegenseitig berühren, und wie diese Berührung in WichernS Leben und Wirken Fleisch und Blut gewinnt. Einen willkommenen Anlaß und Anhaltspunkt dafür bietet die jüngst zum Abschluß gebrachte reichhaltige Biographie Wichern» von Fr. Olden­ berg. Dieser durch fast dreißig Jahre hindurch seine Arbeitslast mit tragende intime Freund deS Hingeschiedenen war wohl wie kein Anderer dazu befähigt, da» Bild deö gewaltigen Manne» un» vor die Seele zu stellen. Es ist ihm da» auch in vieler Beziehung gelungen, namentlich was die Fülle de» Stoffe» und die treue, verständnißvolle Verwerthung der Quellen betrifft. Die von Wichern selbst redigirten „Fliegenden Blätter" (seit 1844) de» Rauhen Hauses und eine Reihe von Druckschriften und „Denkschriften" über die Sache der inneren Mission au» Wichern» eigener Feder können zwar einem Jeden, der sie lesen und studtren will, da» ausreichende Material bieten, um sich ein treue» Gesammtbild von dem Manne und seinem rastlosen Streben zu machen. Aber in dem un­ vorliegenden Buche Oldcnbergö ist auch der reiche Briefschatz und sonstige

I. H. Wichern» Bedeutung für die sociale Bewegung unserer Zeit.

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handschriftliche Nachlaß, besonder- da» Tagebuch WichernS in einer Weise verwerthet, die dem Gesammtbilde frischere Leben-farbe verleiht. Zu be­ dauern ist freilich zweierlei, in sachlicher wie in formeller Beziehung. WaS die Form der Darstellung anlangt, so liest sich da- Buch zwar bequem. Die Sprache ist ohne pietistischen Beigeschmack, frisch und an­ regend. Aber die Durchführung ist zu breit und ermüdet den auch für solche Dinge sich lebhaft interessirenden Leser. Da» Buch würde — wa» dringend zu wünschen wäre — auch in weiteren, der Sache der „Inneren Mission" noch fernstehenden Kreisen mehr beachtet werden, wenn nicht alle Einzelheiten in der allmählich fortschreitenden Ausgestaltung de- Rauhen Hause» und der damit verknüpften Institute mit einer fast protokollarischen Genauigkeit beschrieben würden. In Sachen der Philanthropie — wie in den statistischen Mittheilungen über da» Gebiet der inneren Mission — muß man möglichst kurz und prägnant da» Eigenartige in der Entwicke­ lung de» Ganzen hervorheben, um den Eindruck de» Gesammtbilde» nicht zu verwischen, mit Einem Wort, um — nicht langweilig zu werden. All die Comitö-Verhandlungen z. B. und die einzelnen officiellen und officiösen Aktenstücke hätten ganz wegfallen oder in einer Beilage für Detailforscher zusammengestellt werden können. Mir scheint, daß wir Deutschen nur zu leicht bei biographischen Arbeiten an dem Fehler laboriren, daß wir zu viel Material, zu wenig scharf ausgeprägte Charakterisirung bieten. Und in der formellen Abrundung könnten wir viel von den französischen, ja auch von englischen Biographen lernen. Wichtiger jedoch erscheinen mir folgende sachliche Bedenken. DaS unS vorgeführte Bild WichernS, ich meine nicht blos seiner Person, son­ dern seiner ganzen Wirksamkeit, ist zu ideal gefärbt, ich möchte sagen zu stark retouchirt. Dadurch verliert e» die markige Charakterbestimmtheit, wie sie B. in der vorgedruckten Photographie so wohlthuend berührt. Außer der „Heftigkeit" WichernS, die hier und da in milder Theilnahme als ein Naturfehler erwähnt wird, unter welchem er selbst wie seine Um­ gebung oft gelitten, erscheint der Mann schier wie ein Heros aus dieser sublunarischen Welt. Nur in den Selbstbekenntnissen, die au» seinem Tagebuche stammen, wird un» hier und da Gelegenheit geboten, einen flüchtigen Blick in die Nacht seiner inneren „Kämpfe" zu thun. Für den Berfaffer erscheint Wichern in seiner ganzen Lebensarbeit theil» wie ein genialer Bahnbrecher, theil» wie eine verkannte Größe. Die eigenartigen Schwächen — oder sagen wir lieber da» Allzustarke, titanenhafte Drän­ gende, einseitig Subjektive in seiner an» Gewaltsame streifenden Natur — treten nicht greifbar genug in der Darstellung hervor. E» leidet also, wie mir scheint, die vorliegende Biographie an dem-

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I. H. WichernS Bedeutung für die sociale Bewegung unserer Zeit.

selben Fehler, den die meisten Nekrologe jüngst Verstorbener an sich tragen. Der schöne alte Spruch: de mortuis nil nisi bene — hat doch nur in dem Sinne Geltung, daß man im persönlichen Urtheil denen gegen­ über milde Schonung und zuvorkommende Liebe walten laste, die al- Ver­ storbene vor Gott stehen und unserem richtenden Urtheil entnommen sind. Da- ergiebt sich für jeden tiefer Empfindenden schon daraus, daß sich die Todten nicht mehr vertheidigen können. Aber in einer historischen oder biographischen Darstellung — soll sie ander- ein werthvolle- monumentum aere perennius sein — muß da- Charakterbild de- Manne- Plastisch voll und ganz, in seiner lebensvollen Wirklichkeit hervortreten. Dazu ge­ hören auch die eigenartigen Schattenseiten: die Schwächen und Einseitig­ keiten; die Narben und Runzeln dürfen nicht verwischt, auch nicht allzu zart behandelt werden. Sonst fehlt dem Bilde jene vollsäftige Natür­ lichkeit, die un- auch den großen Mann, ja ihn gerade menschlich lieb ge­ winnen, in die Werkstätte seine- heißen Ringen- htnetnblicken läßt und un- wirklich glauben macht, daß er ein Mitkämpfer und trotz aller her­ vorragenden Gaben ein armer Mitsünder ist. Ich meine da- natürlich nicht blo- im Sinne jener Armensünderschaft, deren jeder ernste Christ sich bewußt ist und die er so zu sagen ohne roth zu werden bekennt. Die- wird ja auch im vorliegenden Buche, mag e- sich um tiefere Selbst» bekenntniste pe- Helden oder nm Urtheile des Darsteller- handeln, durch, au- nicht verdeckt oder verschwiegen*). Es sind vielmehr die ganz eigen­ artigen Charaktergebrechen und die sich daran knüpfenden schwerwiegenden individuellen Kämpfe, die wir miterleben möchten, um warm zu werden. Sonst stehen wir der geschilderten Persönlichkeit oder ihrer Leistung blobewundernd oder — wa» bei kritischer Anlage de- Leser- sich dann so leicht einstellt — kühl und ablehnend gegenüber. Ein Paneghriku- läßt — wie ein Bild auf purem Goldgründe — meist kalt. Wir müsten bet jeder guten Biographie etwa- empfinden von jenem: da- ist doch Fletsch von meinem Fleisch und Bein von meinem Bein! Sonst fehlt da­ warme, allgemein humane und specifisch christliche Interesse. In dieser Hinsicht sollten alle modernen theologischen Biographen sich an der urgeschichtltchen, biblischen Berichterstattung ein Muster nehmen, wo die Marktgkelt der Helden ebendeshalb bei Groß und Klein die volle Theilnahme weckt, weil ihre kleinen und großen Sünden nicht ver­ schwiegen werden. Ganz fehlt ja diese Seite der historischen Darstellung auch der ge­ nannten Biographie nicht. Namentlich weckt die Schlußdarstellung — da-

*) Siehe j. B. die schöne Stelle Dd. I, S. 52 ff.

I. H. Wichern- Bedeutung für die sociale Bewegung unserer Zeit.

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tiefe heiße Leid des schwergeprüften Manne» — da» volle Mitgefühl. Und all die Mühen und Sorgen, die sein aufreibender Beruf ihm auferlegte, sowie die mannigfachen Kämpfe und schweren Erfahrungen, welche die „Gegner der inneren Mission" (vgl. Bd. II, S. 284 ff.) dem Bahn­ brecher auf diesem Gebiete bereiteten, werden eingehend beschrieben. Aber da» Unrecht ist stet» und ausschließlich auf Seiten der „Gegner", und der Held de» Buche» erscheint mehr wie ein von den Feinden de» posi­ tiven Christenthum» unschuldig Verfolgter, ja wie ein nicht nur von Welt­ kindern, sondern auch von den kirchlichen Theologen mißhandelter Märtyrer seiner guten Sache. Da, glaube ich, steht e» in Wirklichkeit doch sehr ander». Die Ge­ walt seiner Thatkraft und der Eifer seiner Liebe-arbeit streifte oft an da» Gewaltsame und Uebereifrige. Solche Fehler, welche ja immer bei her­ vorragenden Männern die Kehrseite ihrer Tugenden sind, prägen sich in den nachweisbaren Fehlgriffen auf dem Gebiete ihrer Wirksamkeit au». Da» wird sich un» de» Näheren ergeben, wenn wir zunächst sein Leben und Wirken Im Ueberblick un- vergegenwärtigen, um sodann seine Leistungen auf dem Gebiete der „Inneren Mission" in ihrem Zusammenhänge mit der socialen Frage principiell zu beleuchten.

Zeit und Ort seiner Geburt (1808, 21. April) — die große freie Stadt Hamburg in der Periode ihrer Knechtung durch französische Macht­ haber (Mortier) — sind bestimmend gewesen für die erste Entwickelung de» Knaben. Sein Großvater, ein schlichter lutherischer Arbeiter au» der hannöverischen Landgemeinde zu Stade, war mit seiner Frau Catharina von Santen, einer reformtrten Holländerin, schon im vorigen Jahrhundert nach Hamburg öbergesiedelt. Diese frommen Eheleute verkörperten in ihrem häuslichen Zusammenleben den Sinn der Union, der für den ton« fessionellen Standpunkt der Erweckten jener Zeit typisch wurde. Wichern» Vater, streng und fromm erzogen, war ein armer, mit fleißiger und müh­ seliger Arbeit sich durchschlagender Comptoirist und Tran-lateur. Die Mutter, Caroline, Tochter eine» Buchhalter» Wittstock, war eine ernste und energische Frau, voll Verstand und Mutterwitz, wenig redend aber stet» den Nagel auf den Kopf treffend; nach de» Sohne» eigenen Ausdruck konnte sie' „lachen wie ein Kind und arbeiten wie ein Mann". Ihr Erstgeborener Johann Hinrich war ein Knabe von tiefem Gemüth, wenn auch herb und heftig. Streng erzogen lernte er früh die Noth de» Leben» kennen. Nahrung-sorgen im Hause, drückende Fremdherrschaft von Außen bekümmerten die Eltern, während der Heranwachsende Knabe in

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I. H. Wichern» Bedeutung für die sociale Bewegung unserer Zeit.

einer Spielschule bei Frau Schlüter sich erging und am Liedersingen sich derart erquickte, daß ihm die Musik zeitlebens die schönste Jugender. lnnerung blieb. — Vier Jahre war der kleine „Heini" alt, als im Jahre 1812 die Nachricht von der Niederlage der Franzosen in Rußland Ham­ burg erreichte. „Viele, die ihre Hande längst nicht gefaltet" — so be­ zeugte Wichern später selbst — „haben in jenen Tagen beten gelernt." Trotz der Ahnung des Gewaltigen und Großen, wie es jene Zeit bewegte, hatte der fünfjährige Knabe bei allem „Zorn gegen die Fran­ zosen" doch ein lebhaftes Interesse für die militärischen Aufzüge und Pa­ raden. Eine Zeit lang wurde Hamburg daS „französische Zwing-Uri", wo Davoust willkürlich hauste. Die Familie Wichern mußte über Altona nach Buxtehude flüchten, wo die dort einquartierten Kosaken Heini'S „Gaudium" waren. WichernS fanden kümmerliche Unterkunft auf einem stillen Landgut (Kulau), wo der Knabe in seiner Freude an Kühen und Pferden sich erging und nebenbei vom Vater in den Elementen unterrichtet wurde. So vergaßen sie Krieg und Kriegsgeschrei. AlS im Mai 1814 der Friede eintrat und Bennigsen seinen Einzug inS wieder befreite Hamburg hielt, kehrte auch die Wichernsche Familie zurück. Der Vater lebte wieder seinem kümmerlich ihn nährenden NolariatSberuf, durch welchen er die bis auf 7 Kinder wachsende Familie kaum erhalten konnte. Gleichwohl ge­ lang eS, den Heranwachsenden ältesten Knaben bei einem jungen Theologen EhlerS, einem Schüler Pestalozzi'S unterzubringen. Dem lebhafte» Kinde ward es sauer unter dem Zwang der Schulbank. Aber Pflichttreue und Lernbegier lag ihm im Blute. Blondlockig mit großen blauen Augen und Grübchen in den Wangen, die Lippen charakterfest geschloffen, die Stirn vorragend mit starken Hellen Brauen, die das seelenvoll tiefblickende Auge beschatteten — so erschien der Knabe wie ein Miniaturbild des späteren Mannes, leicht erregbar bis zum Jähzorn, aufbrausend, na­ mentlich wenn er Ungerechtigkeit sah, und der Schulzucht sich ungern fügend. Wegen „eines harmlosen Muthwillens" hart bestraft, wurde er vom Vater aus der ersten Elementarschule genommen, wo der rationalistische Religionsunterricht ohnehin dem frommen Sinne des Elternhauses wenig entsprach. Zu dieser Zeit war eS dem Knaben die schönste Erquickung, wenn er AbendS mit dem durch Arbeit überbürdeten Vater am Klavier musiciren durfte. ES folgten nun die eigentlichen Lehr« und Bildungöjahre (1818—1826) in der Hamburger Lateinschule und dem Johanneum, einem nach dem Fachklaffenshstem eingerichteten Gymnasium unter der Leitung deS gelehrten Dr. Gurlitt, der sich als .einen „Missionar der Vernunft­ religion" ansah und in seinem Zorn über die damals bekannt gewordene»

I. H. WicheniS Bedeutung für die sociale Bewegung unserer Zeit.

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95 Thesen von Claus Harm- gegen alle „Schwärmerei und intoleranten Buchstabenglauben" auftreten zu müssen glaubte. In dieser Schule konnte der Heranwachsende Knabe kaum pro-periren. Durch die häusliche Noth gezwungen mußte er vom vierzehnten Jahre ab viel Privatstunden geben, um die jüngeren Geschwister mit erhalten zu helfen. So waren denn seine Schulleistungen keine glänzenden. Aber da- Leben schulte ihn; „der Acker wurde für die Zukunft bereitet und ein scharfer Pflug zog für die Saat de- ewigen Säemann» seine Furchen" (I, S. 26). Noth von außen, große Arbeitslast und die stetige Plage de- Kopfschmerze» — da» waren die hauptsächlichsten Heimsuchungen, die da» Leben ihm brachte. Innerlich aber — und da» war ihm wohl da» Schwerste — verzehrte er sich in allerlei religiösen Zweifeln, die ihm Niemand lösen konnte, obwohl der Knabe dieselben offen dem Vater vortrug und dieser bei den Disputationen für den in der Schule verhöhnten Bibelglauben eintrat. „Mein Vater" — so schreibt Wichern selbst — „war der Einzige, der mich ganz ver­ stand wie ich war, mit allen meinen Gebrechen und auch mit Allem, wa» in mir zum Lichte emporstrebte" (I, S. 43). Einen großen Eindruck machte eö schon damals auf den Jüngling, daß der ehrenfeste Senator Hudtwalker — welcher später von so großer Bedeutung für Wichern'» Lebensarbeit wurde — muthig gegen Dr. Gurlitt und seine Genossen für den Bibelglauben eintrat. Auch leistete der wahrheitSdurstige und feurige Junge, welcher am Sonntage lebendig-gläubige Predigten vom Pastor Strauch hörte und da» Evangelium mit der Muttermilch eingesogen hatte, unbewußten Widerstand gegen die verflachenden Anschauungen, die' ihm in GurlittS ReligionSstunden nahe traten. Um den „unglückseligen Zwiespalt" loS zu werden, beschloß er Theo­ logie zu studiren. Er wollte „die Wahrheit von Christo ergründen" und sie womöglich „in die Welt htnauSpredigen". Das war aber leichter gesagt als gethan. Der Vater erkrankte schwer und starb im Jahre 1828. ES war daS ein bedeutsamer Wende­ punkt in Wichern» Leben. Die Nahrungösorgen mehrten sich. Die Mutter suchte durch ein Geschäft mit holländischen Waaren sich und die Kinder zu ernähren. Ihr Hinrich war eifrig bemüht, namentlich durch Klavier­ stunden (für die er 8 Sch. die Stunde bekam) zu helfen — selbst noch ein Sekundaner im Johanneum! Da hat er persönlich die bittere Er­ fahrung der Armuth machen müssen, er der später so viel Armen helfen sollte! Die Confirmation bet einem bibelgläubigen Candidaten Wolter», der durch S^leiermacher und Neander in Berlin angeregt worden war, griff

entscheidend in Wichern» Leben ein (1825). Preußische Jahrbücher. Dd. LXL Heft 1.

Der Entschluß Theologie zu Z

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I. H. Wichcrni Sebeutung für dir sociale Bewegung unserer Zeit.

studiren reifte unter der steigenden äußeren und inneren Noth, die seine ganze Willen-- und Thatkraft In Anspruch nahm. Da» persönliche Studium der Schrift weckte in dem frühreifen Jüngling da» Selbstgericht. „Die ganze Gebrechlichkeit seine» Glauben»- und Gebet-leben», der Stolz seiner Natur, die leidenschaftliche Heftigkeit, die ihn bisweilen übermannte, traten im Spiegel de» göttlichen Worte» ihm strafend entgegen und trieben ihn in einen Kampf wider sich selbst, den er, nur zu oft al» einen vergeblichen zu beklagen hatte" (I, S. 52). Ja, ihn faßte der Zweifel, ob e» ihm je beschieden sein werde, zum Siege hindurchzudringen. Er bekennt selbst seine Angst: „trotz allen Gebet» von den Wogen der Anfechtung wieder auf den Fel» der Selbstsucht, von der er sich lo-zurtngen begonnen, hilflos zurückgeworfen zu fein“ (I, S. 53). Einem so ehrlich Kämpfenden mußte e» schließlich gelingen. Er absolvirte da» Gymnasium und — da vorläufig wegen mangelnder Mittel an Universität-studium nicht zu denken war — trat er al» Milleiter der Jugend, selbst kaum achtzehnjährig (28. Januar 1826) In die PlunS'sche Pension-anstalt bei Hamburg (in Pöseldorf) ein. Fast zwei Jahre lang lernte er e» hier, die erste Probe für seinen Erzteherberuf abzulegen. Sein Hauptgrundsatz wurde e» dabei, die Individualität der Schüler möglichst zu wahren, da» Gewissen zu wecken, strenge Zucht wie gegen sich so gegen die Kinder zu üben und zugleich die knabenhafte Fröhlichkeit in Spielen und Singen, Turnen und Ringen zu fördern. Nebenbei be­ suchte er die Vorlesungen im akademischen Gymnasium. Für sich studirte er Homer, Horaz und la» da» neue Testament im Urtext. Auch vertiefte er sich in die christlich-aScetische Literatur (Goßner, Thoma» von Kempi», Arnd, FenSlon). E» erstarkten jene christlichen Gedanken, die der originelle Schuster Oswald — ein moderner Theosoph wie weiland Jakob Böhme — schon in Hamburg, wo Wichern ihn öfter» besuchte, in dem ahnungs­ vollen Knaben geweckt hatte. Auch durch Hamann» und Claudiu»' Schriften ward er lebhaft angeregt. Zum vollen inneren Frieden kam er zwar nicht. Die Selbstanklagen kehren in seinem Tagebuch stet» wieder: er sei felsenhart, voll thörichter Einbildungen, leicht zum Zorn erregbar, reich an guten Vorsätzen und „guten Werken" — aber doch „bettelarm". Gute christliche Freunde trösteten und richteten ihn wieder auf, namentlich der schon genannte Wolter- und Johanne» Claudiu-, der Sohn de» Wand»becker Boten (in Samb»). Er vertiefte sich immer wieder in» Evangelium und hielt al» achtzehnjähriger Jüngling (1826, 23. Juli) feine erste Pre­ digt in Hamm (bei Hamburg), in welcher er den Gegensatz der „Kinder der Welt" und „der Kinder de» Licht»" al» einen schneidenden hinstellte. Die Herbigkeit seine» Naturell» trat dabei klar zu Tage. Sie spiegelt

I H- Wichern- Bedeutung für die sociale Bewegung unserer Zeit. sich

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auch in dem seinem Tagebuch damals eingefügten Motto Luther-:

„Und soll dies mein Reim sein:

cedo nullt d. i. beiseits aus, was im

Wege ist — hie fährt er daher, der niemand weicht!"

ES war nur gut,

daß er zugleich die- erste Heft feine- Tagebuchs mit Luther» erster These

(„Thut Buße") zierte.

Bedeutsam und charakteristisch für seinen Entwickelungsgang war auch die zweite Predigt, die er von Pastor Rautenberg aufgefordert am MichaeliSfest 1826 hielt.

Diese» Fest hatte ihn, wie er selbst berichtet, „zur

Ehrfurcht vor Kinderseelen

„Die Kleinen, Geringen, die

begeistert."

Schwachen hat Gott zu seinem Eigenthum erwählt; . . . . o könnte die

Menschenfischerei mein Handwerk werden mein Leben lang!" Run, dieser schöne und große Beruf drängte sich ihm bald genug, noch vor Beginn seiner Universität-studien auf.

Durch die gottbegnadete,

in Leiden gereifte Tondtchterin Luise Reichardt (Tochter de» berühmten

Componisten de» LiedeS „Was ist de» Deutschen Vaterland?") erfuhr er von der

unter der Leitung de» Grafen von der Recke in Düsielthal

blühenden Erziehungsanstalt für verwahrloste Kinder.

chardt,

deren Namen

Durch Luise Rei­

„wie ein schöner Choral durch WichernS ganze»

Leben getönt hat", wurde er auch mit Amalie Steveking, der ehrwür­ digen Armenpflcgerin, und durch den schon genannten Senator Hudtwalker mit dem „geistvollen, weitschauenden, die Zukunft de» Vaterlandes wie de»

Reiches Gotte»

auf dem Herzen tragenden" Syndikus Sieveking

be­

kannt, der später am meisten dazu beigetragen hat, das Rauhe Haus zu

begründen. Wichern verließ da» Pluns'sche Erziehungsinstitut, um in Hamburg, bei der Mutter wohnend, Fühlung zu gewinnen mit den Nothständen der

Zeit, namentlich der verwahrlosten Jugend.

In einem mit durch ihn be­

gründeten halb frommen, halb ästhetischen „Verein" von Gleichgesinnten —

zu denen auch seine Freunde Otto Spekter (der bekannte Zeichner), Julius Milde, Ferd. Mutzenbrecher u. A. gehörten — hielt

„über die sittliche Verwilderung der Jugend". auch viel und fröhlich musieirt, so

daß

er einen Vortrag

In diesem „Verein" wurde

er den drastischen Namen „der

Hundetanz" erhielt. Die Musik und die Lieder waren immer wieder Wichern» Erquickung beim sorglichen Blick

in die Zukunft und bei dem ihn um­

gebenden unruhigen Treiben: „Alle» geht im Galopp" — klagt er selbst — „Ein» drängt da» Andere".

Endlich kam Hilfe durch

Da» Ziel blieb ihm verschleiert.

mehrere Stipendien, die ihm angeboten

wurde. So ward es ihm ermöglicht drei Jahre (1828—31) dem Studium

der Theologie sich zu widmen, zuerst in Göttingen, dann in Berlin. Der Abschied von der guten, prächtigen Mutter, die nun ohne den Der« 3*

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I. H. Wichern» Bedeutung für dir sociale Bewegung unserer Zeit.

sorger, ihren Aeltesten, in Hamburg durchzukommen suchen mußte, wurde ihm bitter schwer. Aber daß eS ihn hinaus drängte in die Welt des Studiums kann man dem zwanzigjährigen, vielgeprüften, stürmisch-unmittel­ baren Jüngling wohl nachfühlen. In Göttingen, wo er mit Ed. Huther (dem später berühmt gewor­ denen Exegeten) zusammenwohnte, wurde er besonder- durch Lücke ange­ zogen, dessen „johanneische Natur" ihm wohlthat, während er gegen Ewald Mißtrauen hegte. Bei dem beginnenden Kampf zwischen der wissen­ schaftlich wachsenden Erkenntniß und dem praktischen Glauben-leben retteten ihn, wie er selbst bekennt, die KindeSerinnerungen. Gegen daS burschikose Studentenleben verhielt er sich „ablehnend". Er wollte arbeiten! Bor ungesundem Philisterthum oder Kopfhängerei schützte ihn sein christlicher Jdeali-muS und feine frische Natürlichkeit. Dem pietistischen Conventikelwesen blieb er ebenso fremd wie den studentischen Extravaganzen. Humaniora aber studirte er, indem er z. B. bei Dahlmann Geschichte und bei HauSmann Nationalökonomie hörte. Durch Kösters Briefe über Schleiermacher ward er nach Berlin hingezogcn. Ihm erschien schon jetzt Christus allein als das urbildliche Centrum — Alles andere war ihm Peripherie oder scholastische Formel. Da glaubte er bei Schleiermacher und Neander für sein Bedürfniß Nahrung zu finden. Im April 1830 steuerte der junge Student hinaus in den Ocean der Großstadt, wo er zuerst in einem Dachstübchen der Brüderstraße einen stillen Ankerplatz fand. DaS ihm bei allem Glanz und Elend der Haupt­ stadt überkommende Heimweh suchte er durch Vertiefung in die Arbeit zu überwinden. Aber die wissenschaftlich-theologischen Interessen scheinen ihn doch nicht in erster Linie dort gefesielt zu haben. Schleiermacher erschien ihm „kalt", Neander wenigsten- „kühler alö Lücke", Hegel wie eine „Berg­ kuppe mit Schnee und EiS". Dennoch hörte er fleißig bei allen Dreien, auch bei Ritter Geographie. Goßner hat wohl geistlich auf sein christ­ liches Leben den größten Einfluß gehabt. Wissenschaftlich suchte er sich durch Schrislstudium zu fördern. Allmählich erst ward er durch Schleiermacher- Mystik gepackt und durch seinen Geist erwärmt. Mit Neander, dem „letzten Kirchenvater" wie er ihn nannte, verwuchs er mehr und mehr und schloß sich ihm auch in persönlichem Verkehr innig an. Hengsten­ berg war ihm zu starr und — zu politisch, namentlich in seinem bekannten unerquicklichen Streit mit Wegscheider und GeseniuS in Halle. Schon hier — wie später wiederholt — erhob der Jüngling Protest gegen „die Vermischung kirchlicher und politischer Tendenzen" und wollte nichts von ausgeprägt kirchlicher Orthodoxie wiffen. Da- Christenthum sei „nicht Doctrin, sondern Leben auS Gott".

In Berlin wurde er unwillkürlich tiefer htneingezogen in die sociale Noth, welche seit dem Ausbruch der Julirevolution auch schon hier eine politische Bedeutung zu gewinnen begann. Durch Neander hatte Wichern den achtzigjährigen Baron v. Kottwitz, den „edlen Patriarchen voll christlicher Barmherzigkeit" kennen gelernt, einen herrnhuthtsch angeregten Christen, der in Berlin fast ausschließlich unter den Armen und Noth­ leidenden lebte. Außerdem machte er die später für ihn so bedeutsam ge­ wordene Bekanntschaft mit Bethmann-Hollweg, dessen Losungswort auch „die Barmherzigkeit" war. Durch diesen wieder kam er in Be­ rührung mit dem katholischen Armenarzt Dr. JultuS, welcher über Ge­ fängnißwesen laS und zuerst mit Entschiedenheit für die Einzelhaft eintrat und besonders den BesserungSzweck beim Strafverfahren betonte. Für sich studirte Wichern daS Leben der Quäkerin Elisabeth Frey und lernte ihre hcldenmüthige Aufopferung für die Gefangenen bewundern, während der Oberfinanzrath Semler ihn in daS Gefängnißwesen selbst etnführte. Kurz, Wichern bekennt selbst in der Berliner Zett „ein Gefangener der Gefangenen" geworden zu sein. Auch besuchte er wiederholt die Kopf'sche Anstalt für verwahrloste Kinder (am „Urban"), wo nur die kasernenartige Einrichtung mit mllitärisch-diSciplinirter Schulung ihm mißfiel und er den Hauch evangelisch-christlicher Freiheit vermißte. Während dieser Zeit keimte bei ihm bereit- der Gedanke eine- RettungShauseS, welcher in dem Jahre 1830 durch einen Besuch in Hamburg Nahrung erhielt, wo der fromme Senator Hudtwalker den Plan zu einem „christlichen Verein" entworfen und durch solch eine „Gesellschaft zur Verbreitung christlichen SinneS" in Gemeinschaft mit Pastor Rauten­ berg nicht blos gegen den in Hamburg sich breit machenden Rationalis­ mus des Hauptpastor Dr. Wolff (an St. Catharina) reagiren, sondern namentlich durch Sonntagsschulen, Laienmission, Erziehungsanstalten für verwahrloste Kinder die'unteren Schichten der Gesellschaft aus dem Pfuhl der Gottlosigkeit retten wollte. Da fing Wichern Feuer. Er suchte, nach Berlin (zu Fuß!) zurück­ gekehrt, rasch seine Studien zu beendigen und dann zu Hause bei der Mutter trotz aller Nahrungssorgen und immer wieder nothwendig werden­ der Privatstunden, seine Examenarbeiten zu vollenden, um sich dann, nach­ dem er 1832 Candidat geworden, als „miles christianus“ in den Dienst seine- Herrn zu stellen. Die Bekenntnißschriften der lutherischen Kirche, wie daö in Hamburg vom Kirchenregiment gefordert wurde, glaubte er unterzeichnen zu dürfen, ohne „dem Buchstaben sich zu unterstellen". „Ein Missionar zu werden für daS mehr als heidnische Elend In unsern Mauern" — daS ward diesem Hamburger Kinde mehr und mehr

I. H. Wichern« Bedeutung für die sociale Bewegung unserer Zeit.

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ein Herzensbedürfniß. Auf Anregung des Pastor Rautenberg ward ein „Besuchsverein" gegründet, dessen Seele allmählich Wichern tourte, nach­

dem er die Stelle als Oberlehrer an der Sonntagsschule zu St. Georg übernommen.

Persönlich machte er „Entdeckungsreisen" in die moralischen

Wüsteneien der Großstadt.

Tief ergriffen von dem physischen und morali­

schen Elend der niederen Klassen, namentlich der Kinder, hielt er bei der

Jahresfeier jenes „christlichen Vereins" (1832, 26. Februar) seine erste zündende Rede,

in welcher er die Gewissen zu packen wußte,

so

daß

sich eine größere Anzahl Helfer und Helferinnen meldete, die sich dem unter Anderen Fräulein Amanda Böhme,

„Besuchsverein" anschlossen,

die später als seine treue Gattin und „junge Mutter" der armen Kinder ins rauhe Haus einzog.

Das haarstäubende Elend von Kindern, die unter den Augen ihrer

gottlosen Eltern zu Grunde zu gehen drohten, war der Anlaß zur Idee

des Rettungshauses.

Der 8. October 1832, wo eine Versammlung deS

Besuchsvereins gehalten wurde, ward „die Saatstunde" für daS zukünftige

Rauhe Haus, daS Wichern bereits den Anwesenden im Geiste entwarf.

Die entsittlichten Familien,

die er als „Pflanzschulen der Verbrechen"

kennen gelernt hatte, in welchen von Glied zu Glied die Gott- und Sitten­ losigkeit sich fortzeuge, weckten in ihm den Gedanken, nicht etwa ein großes

Waisenhaus oder eine kasernenartige Kleinkinderbewahranstalt zu gründen, sondern im christlichen Sinne

eine individualisirte Erziehung innerhalb

familienartiger Gruppen zu ermöglichen.

So erstand in seinem Geiste der

ganze fertige Plan, wie er bald in der Wirklichkeit ausgeführt werden sollte.

Seine Gedanken arbeiteten bereits wie Maurer- und Zimmerge­

sellen.

Er sah schon Anfang, Werden und Wachsen dieses kleinen Dorfes

von Familienhäusern für Knaben und Mädchen, die „wie Geschwister" unter einem Hausvater oder einer Mutter mit Hülfe leitender „Schwestern"

und „Brüder" als „Familienglieder organisch" leben und arbeiten sollten,

Spielplätzen,

mit einander verbunden

in der Mitte ein Betsaal,

mit einem Haus

arbeit", für die „Oekonomie".

mit Gärten und

für den „Vater", für die „Handwerks­ Ja selbst die Idee einer Bildungsanstalt

für Laiengehülfen in der Gemeinschaft der großen „Hausfamilie" schwebte

ihm als „Keimpunkt des späteren Brüderhauses"

vor der Seele.

Er

„schaute schon" — wie sein Biograph berichtet — „die froh geschäftige Kinderschaar,

dem Untergange entrissen,

Gottesliebe einer

die hier im Lichte christlicher

besseren Zukunft entgegenreifte!

Er hätte ausjauchzen

mögen vor Freude". Am bedenklichsten erscheint uns bei diesem sonst so schönen und er­

hebenden Gedanken zweierlei:

erstens

der Versuch,

die Kinder

ihren

3. H. Wicherns Bedeutung für die sociale Bewegung unserer Zeit.

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Eltern — natürlich auf „gütliche Weise" — so abzunehmen, daß — nach Wicherns eigenen Worten — „dadurch möglichst der alte Familienstamm abgebrochen" werde;

es sollten die Eltern kontraktlich auf ihr Recht bis

zur Confirmationszeit verzichten.

Und sodann:

die Erwartung, daß in

dem herzustellenden „christlichen" Familienleben „ein mit gesunder frischer

Lebenskraft ausgerüstetes Geschlecht" hergestellt werden könne.

solche Weise zusammengruppirte „Familie"

Die auf

erschien ihm nicht etwa als

ein Surrogat, als ein durch die Noth gebotener kümmerlicher Ersatz, son­

dern als wirkliches „LebenSideal", als eine relativ höhere, weil reinere, von christlichem Geiste getragene Gemeinschaft.

Darin zeigt sich meines Erachtens die Einseitigkeit deS Standpunktes,

den Wichern gegenüber der schreienden socialen Noth vertrat.

Die Uner­

setzbarkeit des natürlichen, gottgesetzten Familienlebens, das immerhin doch

Künstliche, Gemachte in der projectirten Form der „christlichen" Hausgenossenschoft; ferner die bedenkliche Zusammensetzung dieser Hausgenossen-

schaftcn auS lauter mehr oder weniger „Verwahrlosten"; das gut gemeinte, aber doch eine Illusion bergende Bestreben, Vater und Mutter, Brüder

und Schwestern ihrer natürlichen Pflicht zu entbinden und all diese,

der

irdischen sittlichen Weltordnung einmal providentiell eingefügten, wirklich

„organischen" Gebilde durch eine noch so fein, in christlicher Liebe herge­ stellte häusliche Vereins form zu ersetzen — kam ihm, dem Begeisterten, eine wirkliche Gefahr zum Bewußtsein.

nicht als Absicht,

die eigenartige Begabung,

Gründers,

das

Die unleugbar gute

große Organisationstalent deS

die aufopfernde Hingabe an den schönen Zweck und die auS

ehrlichem Glauben herausgeborene Willensenergie halsen jene Mängel überwinden.

In Jahr und Tag am 30. Okober 1833, dem eigentlichen

Stiftungstage — ward das „Rugehaus" wenn auch in bescheidenstem An­ fänge zu dem genannten Zwecke eingerichtet.

Durch den Syndikus Karl

Sieveking in Hamm bei Hamburg wurde das von seinem früheren Be­

sitzer Rüge sogenannte kleine Haus in Horn, wo arme Handwerksburschen bisher erzogen worden waren, nebst einem hübschen Stück Land geschenkt. Wichern hatte damals gerade einen Ruf nach Livland (als Hauslehrer zu einem Herrn von Güldenstubbe) erhalten,

lehnte aber denselben ab und

— ging mit fröhlichem Muth an die Arbeit, welche bald einen so weiten

Umfang und reich gesegneten Fortgang gewinnen sollte.

Wir verfolgen die großartige Entwickelung dieser einzig in ihrer Art

dastehenden Anstalt nicht ins Einzelne.

Das erforderte eine eigene Mono­

graphie, wie sie zum fünfzigjährigen Jubiläum (Oktober 1883), welches

Wichern nicht mehr erleben sollte,

von der Agentur des Rauhen HauseS

in den Druck gegeben worden ist.

In den ersten dreißig Jahren waren

40

I. H. Wicherns Bedeutung für die sociale Bewegung unserer Zeit.

640 Kinder, über 400 Brüder und 50 Gehülfinnen geschult worden und

diese Zahlen haben sich bis in die Gegenwart fast verdoppelt.

ÄuS dem

unscheinbaren Keime, dem strohgedeckten Häuschen unter der großen Kastanie,

wo Wichern mit seiner Mutter und drei armen Jungen, Einer, ein Findling, schier ein homo ferus war,

unter denen

einzog, ist in einigen

Jahrzehnten ein weitverzweigter Baum geworden, dessen Früchte nicht blos

ganz Deutschland, sondern bis nach Amerika und Rußland hinein den

evangelischen Glaubensgenossen zu Gute kamen. Von prinzipieller, weitgreifender Bedeutung wurde namentlich die

„Brüderanstalt", welche 1845 dem Organismus deS Rauhen Hauses ein­ gefügt war.

Hier

sollten

einfache Handwerksleute für den Dienst der

Barmherzigkeit geschult werden, um als Helfer in der Inneren Mission, als Begründer neuer Rettungsanstalten, als Gefangenwärter rc. verwendet

zu werden.

Auch hier lag die Gefahr nahe,

daß eine Art evangelischen

„Ordens" nach römischem Muster sich entwickele.

Aber Wichern meinte,

wir sollten uns nicht scheuen „von der katholischen Kirche zu lernen"; man

dürfe das „Ordenswesen" nicht so zu den Todten werfen.

Die „Brüder

des Rauhen Hauses" sollten in evangelischem Geiste der großen Auf­ gabe dienen, welche uns das wachsende Massenelend in der schier heidnisch

verwahrlosten Christenheit unserer Tage

bietet.

Ob dieses ideale Ziel

auf diesem Wege auch nur annährend erreicht worden ist, werden wir später sehen. Nicht ohne Bedenken erscheint unS ferner der seit 1845 auftauchende

und bald darauf unter Oldenbergs Leitung verwirklichte Plan,

ein Pen­

sionat für verwahrloste Söhne höherer Stände dem Anstattsorganismus einzufügen.

Zeigten sich doch schon

bei den Kindern niederer Stände,

wenn es galt eine Gruppe Verwahrloster durch den Stand familienhafter Hausgenossenschaft zu verbinden, schier unüberwindliche Schwierigkeiten! Wie mußten diese wachsen, wo in Art eines gymnasialen Internats aus

allen Himmelsgegenden zusammengeströmte,

vornehm

gewöhnte Tauge­

nichtse durch die Zucht anstaltlichen Lebens zu ordentlichen Christenmenschen herangebildet werden sollten?

Viel hat der frische, diesen Gefahren zu steuern.

Christenthum spinnefeind. wie er in dem

fröhliche Geist des Hauses dazu beigetragen, Wichern war jedem gesetzlich-schablonenhaften Das rüstige Arbeitsleben, der muntere Gesang,

von der Agentur des Rauhen Hauses herausgegebenen

Büchlein: „Unsere Lieder" zu Tage trat; die sich wiederholenden gemein­

samen Festtage nach sauerer Mühe, das selbsteigene Bauen und Herstellen

der Werkstätten, wie sie von der Bereitung der Holzpantoffeln an bis zur Buchdruckerei und Buchbinderei sich erhob, die stramme Schulzucht,

die

I. H. Wicherns Bedeutung für die sociale Bewegung unserer Zeit.

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sich erweiternde Land- und Gartenarbeit, und vor Allem der fromme Sinn biblisch-evangelischen Glaubens und ausdauernd waltender Liebe sicherten die Lebensfähigkeit des Organismus und weckten das Vertrauen in den

weitesten Kreisen, so daß stets wieder die ungeheuern Geldmittel, die dazu

nöthig waren, beschafft werden konnten. Aber die Grenzenlosigkeit der Aufgabe und die sich immer wieder neu

daran knüpfende Nöthigung, dem massenweise auftauchenden socialen Elend nachzugehen, drückten wie eine kaum zu bewältigende Last auf Wicherns

Schultern.

Sein schöner Grundsatz:

„Es kommt allewege nicht auf das

Vielsein, sondern auf daö Treusein an" — wurde hier auf eine harte

Probe gestellt.

Die Anstalt sollte nach dem ihm vorschwebenden Ideal

der „Mittelpunkt einer kleinen christlichen Welt werden", vor Allem „auf

die Angehörigen der aufgenommenen Kinder einen heilsamen Einfluß üben und sie mit diesen für das Reich Gottes zu gewinnen suchen".

Dadurch

sollte „göttliches Leben zunächst in die Vaterstadt Hamburg wieder ein­ strömen".

Dorthin erstreckte sich

auch — besonders nach dem Brande

von Hamburg — seine nächste über die Grenzen des Hauses

gehende MissionS-Arbeit.

hinaus­

Hier wurzeln die Keime der Stadtmission, die

seit 1847 in Hamburg durch Besuch der Eltern angemeldeter Kinder be­

gonnen wurde. Selbstverständlich konnte Wichern dieser weitverzweigten Aufgabe nicht nachkommen ohne theologische Gehülfen,

die es ihm ermöglichten auch

das HauS zu verlassen und durch Reisen das Interesse für die in seinem

warmen Herzen

aufsprossenden Ideen der Inneren Mission zu wecken.

Jüngere Theologen, vorzugsweise Th. Rhiem und Oldenberg wurden dazu verwendet und seit 1849 unter WichernS Oberaufsicht ein „Jnspec-

torat" eingerichtet. . Er selbst hat seit 1837 ununterbrochen Reisen gemacht, um für die von ihm zuerst sogenannte „Innere Mission" die Herzen zu gewinnen und

die Grundsätze klar zu legen.

Seine geradezu staunenerregende Kenntniß

der socialen Nolhstände und seine fortreißende, aus warmem Herzen und klarem Kopf hervorströmende Beredsamkeit wirkten zündend.

das er im Jahre 1841 zum ersten Mal wieder betrat,

Und Berlin,

sollte bald der

Mittelpunkt seiner durchgreifenden Arbeit zur Bewältigung der dringendsten

socialen Nothstände werden. Von dem Jahre 1844 ab, wo er wieder in Berlin war, und durch

den Minister Eichhorn und Hofprediger Snethlage zum ersten Male mit König Friedrich Wilhelm IV. Fühlung gewann,

beginnt sein specifisches

Interesse für das Gefängnißwesen zu erwachen, wie dasselbe durch die neue Anstalt in Moabit im Sinne der Einzelhaft entwickelt werden sollte.

42

I. H. Wichern» Bedeutung für die sociale Bewegung unserer Zeit.

Hier versenkte sich Wichern Frage.

besonders

in das Studium der socialen

die Ueberzeugung, daß in den „infernalen Erschei­

Er gewann

nungen des Socialismus"

viel

„verdeckte Wahrheiten"

enthalten seien.

Die christliche Kirche müsse die socialen Fragen der Zeit mit den Kräften des Evangeliums durchdringen und zwar, „vermittelst freier Gemeinschaften".

dividualisirte Organisation"

wie er meinte, vorzugsweise

Die „Gläubigen" sollten durch „in-

im Gegensatz zur Staats- und Masscnkirche

sich an die Spitze stellen und die Arbeit rüstig angreifen, namentlich durch Pflege der Gefangenen und entlassenen Sträflinge, sowie andererseits durch

Stadtmission und Vereinsarbeit in

Sonntagsschulen,

Kinderbewahran­

stalten, Arbeitshäusern, Heimstätten für Verwahrloste rc. rc. Wie sehr Wichern durch sein weites Herz und durch rastlose LiebeS-

arbeit überall hin helfend einzugreifen sich gedrungen sah, können wir an dem Rettungswerke wahrnehmen, das er 1848 (Anfang März) im hun­ gernden Oberschlesien übernahm, als der Typhus unter den armen Webern

wüthete.

Mit elf „Brüdern" kam er nach Berlin, um auf den Schauplatz

des Elends zum Grafen Hochberg-Pleß zu reisen und sich zur Verfügung

zu stellen.

Am 18. März um 1 Uhr wollte der König ihn noch sprechen.

Es kam nicht dazu.

der Geschütze, brochen.

Bei der Rückkehr aus Schlesien war es der Donner

der ihn in Berlin empfing.

Die Revolution war ausge­

Für Wichern eröffnete sich ein neues Feld der Arbeit,

wo die

„Innere Mission" mit der socialen Frage in engste Berührung treten sollte.

Lange vorher schon hatte Wichern theils durch die „Fliegenden Blätter des Rauhen Hauses" theils in einzelnen Schriften („Nothstände der pro­

testantischen Kirche und

die innere Mission" 1844) den ihn beseelenden

Grundgedanken an die Oeffentlichkeit gebracht.

„Wer hilft den elenden,

getauften Menschenkindern, die den Mächten des Verderbens Preis gegeben

sind und thatsächlich zu Heiden werden, auS ihrem Elend?

Der Dämon

der Empörung findet seine Werkzeuge in diesen Massen. Sie werden ein Spielball der socialen Wühler. Was thut die Kirche?

Der Staat thut das Mögliche dagegen.

Sucht sie wirklich daS Verlorene?"

„Die Zeiterscheinungen mahnen uns"

— so

schreibt er (Fliegende

Blätter 1845, S. 162) — „daß der Tag so fern nicht mehr sein wird,

wo auch die Widerstrebenden von

einer inneren Mission werden reden

müssen, nachdem der wirkliche Abfall vom Christenthum noch offenkundiger

wird hervorgetreten sein. ..

Die Meisten hören nur den fernen Donner

und vernehmen von da und dort her die Kunde von einem Erdstoß, den

sie selbst noch gar nicht empfinden. und den Spuren nachgeht, die

Wer aber die Augen öffnet zu sehen

in diesen Krater hinabführen, der muß

mit Blindheit geschlagen oder in Gott weiß welche Nebeltheorien verloren

I. H. Wicherns Bedeutung für die sociale Bewegung unserer Zeit.

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sein, um die Nothwendigkeit einer christlichen Gemeindethätigkeit wie die der inneren Mission in Frage zu stellen."

Er wollte also die evangelische Kirche an ihre sociale Pflicht mahnen. „Kommen die Leute nicht mehr in die Kirche, so muß die Kirche zu ihnen

kommen" — meinte er.

Als nun die Revolution, die er selbst in Berlin

erlebte, ausbrach, da beginnt ein neuer Abschnitt in seinem Lebens- und

LiebeSwerk.

Er fühlte all die fieberhaften Zuckungen der Zeit mit.

ergriff ihn mächtig.

Es

„Erst jetzt wird das Leben des Lebens werth" —

so bekennt er — „der Donncrwirbel der Zeit ist die Posaune GotteS, die

uns wach ruft aus dem Schlaf zum heiligen Kampf."

In einem hochbedeulsamen Artikel der Fliegenden Blätter 1848 Nr. 7: „Die Revolution und die innere Mission" — entwickelte er so zu sagen

sein Programm, aus welchem hervorgeht, daß er nunmehr der drängenden

heißen Noth gegenüber nicht die „Gemeinde" als solche, sondern die christ­ liche Association als das Mittel ansieht,

um den Massen mit grundsätz­

lichem Ausschluß aller Politik näher zu kommen und ihnen wahrhaft geist­

liche und so weit es möglich erschien,

auch leibliche Hülfe zu bringen.

„Mit den Kräften freier und mächtiger christlicher Bereinigungen muß man bauen, um den Feinden das Terrain abzugewinnen,

jetzt als

von einem Heerde die Lohe emporsteigt.

von welchem

Der Tag der vollen

Entfaltung der inneren Mission ist jetzt angebrochen!

Die Thaten, für

die wir hier das Wort reden, gehören nicht der Politik an, sondern liegen auf dem socialen Gebiete.

Es giebt einen christlichen Socialismus,

von dem der französische nur eine Karikatur ist."

In den festgegliederten

freien Verbindungen — so hofft er zuversichtlich — existire eine Macht des Geistes, von welcher aus der Sturm zu beschwichtigen ist.

Nur Muth!

Es müsse eine organische Vereinigung aller Gemeinden für innere Mission zu Stande kommen.

Auf diesem Wege könne und werde die Kirche den

Kranken die Arznei bieten.

Sie habe nicht „Politik zu treiben" — daS

wird er nicht müde zu wiederholen; — sie habe auch nicht die „Lösung der schwierigen

socialen Frage zu

Staats und der Gesellschaft.

übernehmen".

Das sei Sache deS

Einmischung in politische Wahlagitation und

socialpolitische Verfassungsfragen wäre für die Kirche ein verhängnißvoller

Irrthum, durch welchen sie sich vollends daS Grab graben würde.

Sie

habe nur in lebendiger Liebe zum Volk das Evangelium neu zu verkünden

und durch thatsächlichen Dienst an den Verirrten und Versäumten ihre Kraft zu bethätigen.

Dazu müßten alle Bildungsschichten der christlichen

Gesellschaft kraft ihres

allgemeinen Priesterthums wachgerufen werden.

Jedes christliche Haus, jedes gläubige Gemeindeglied müsse ein Zeuge der Wahrheit werden.

Dazu müßten neue Wege gebahnt, neue Vereine ge-

44

I. H. Wichrrni Bedeutung für die sociale Bewegung unserer Zeit.

schaffen werden, um zu den unerreichten Proletariermassen zu gelangen.

Armen- und Arbeiterpredigten verlangte er, Sonntag-schulen, Pflege der Gefangenen, Arbeitshäuser für die Entlaffenen,

mehr Brüderanstalten,

um Laiengehülfen zu schaffen, Herbergen zur Heimath, organisirte Stadt. Missionen, mit Hinzuziehung von Frauenkräften, namentlich in den größeren

Centren, wie Berlin, Hamburg u. s. w. Diese „lauten Signale, in den Sturm der Zeit hineingerufen, die

schlummernden Gewissen zu wecken",

verhallten nicht

um

ohne Echo.

Wtchern wurde mit seinem Bußruf der Herold der inneren Mission in ganz Deutschland.

Durch die christliche Liebe-thätigkeit sollte, wie er

meinte, ein „neue- Heil-moment in der Kirche geboren werden".

Und

„wie ist die innere Mission al- Gemeindesache zu behandeln" — diese-

Thema, welche- auch die Schwierigkeit de- Problem- scharf kennzeichnete,

beschäftigte ihn fortwährend.

Er sprach

über dasselbe auf dem ersten

Wittemberger Kirchentage (zugleich dem ersten Congrcß für innere Mission

den 20. September 1848).

Seine gewaltige Rede zündete. Er riß durch die

lebendige, auch statistisch reich begründete, durch seine persönlichen Erfah­ rungen handgreiflich werdende Schilderung der Nothstände Jedermann hin, der ihn hörte.

Stundenlang konnte man dem von seiner heiligen Sache

so tief erwärmten Manne lauschen, ohne zu ermüden, wie ich da- selbst

1851 auf dem Elberfelder Kirchentage erfuhr.

Am 14. September 1848 ward in Berlin, neben dem schon 1847 entstandenen „Evangelischen Verein für kirchliche Zwecke" der „Central-

au-schuß für innere Mission" begründet, der von nun ab ein Mittelpunkt für die stetige, fortschreitende Arbeit wurde unter dem Präsidium von Bethmann-Hollweg, unter Betheiligung von Stahl, Graf Schlippenbach,

Geheimrath von Mühler, Senffl-Pilsach u. A.

desselben.

Wichern war die Seele

Seine Thätigkeit mußte nun zwischen dem Rauhen Hause und

dem Werk der inneren Mission getheilt werden.

Daraus ergab sich

manche Collision der Pflichten, unter welcher er schwer trug. Er sorgte nach

Kräften für Stellvertretung im Rauhen Hause (Rhiem, Oldenberg wurden Oberhelfer, später sein eigener Sohn Johannes).

Berlin wurde da-

Hauptfeld seiner Wirksamkeit, obwohl er erst acht Jahre später (1857) in preußischen Staatsdienst trat.

Ihm schien eS heilige Pflicht im Hinblick

auf Berlin- centrale Bedeutung für da- ganze evangelische Vaterland, in diesem „Sodom und Gomorrha" neue- christliche- Leben zu pflanzen und

zu pflegen.

Achtzehn „Parochialvereine" wurden begründet; Herbergen für

Dienstmädchen eingerichtet; der Prostitution entgegengearbeitet; Reform der

Gefängniffe gefordert; die Saatkörner für eine Berliner Stadtmission ge­ streut (unter Beistand de- Generalsup. Hoffmann), der Plan de- später

I. H. Wichern» Bedeutung für die sociale Bewegung unserer Zeit.

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(seit 1858) so segensreich wirkenden Johannisstifte-, eine- BrüderhaufeS und einer Erziehungsanstalt für Verwahrloste (bei Moabit), entworfen. Kurz die gegenwärtige „Berliner Bewegung" ist gar nicht denkbar ohne jene ersten Anstöße deS unvergeßlichen Wichern. CS war die „Sturm- und Drangperiode" seiner Lebensarbeit, die ihn und seine Kräfte aufzuzehren, ihn geradezu zu zerreißen drohte. Denn nun begannen die ewigen Reisen hin und her, nicht blos durch Nord- unb Süddemschland, sondern auch nach England, um im Anschluß an die evangelical alliance den „internationalen Charakter" der inneren Mission im Hinblick auf den „weltgeschichtlichen Beruf und die Katholicität" der protestantischen Kirche möglichst zu fördern. Aber auch hier sollte — wie auf dem dritten Kirchentag in Stuttgart (1850) betont wurde — „alles Politische ferngehalten werden". In dieser Zeit wuchs das intime Verhältniß WlchernS zur königlich­ preußischen Familie. Friedrich Wilhelm IV. und seine Gemahlin, Königin Elisabeth, machten persönlich einen Besuch im Rauhen Hause, während Wichern wieder nach Schlesien geeilt war, um dort zu helfen. In amtlich­ preußischer Vollmacht begannen nun seit 1852/53 die Gefängnißreisen und dahin bezüglichen eifrigen Studien Wichern-. Er entschied sich nach dem etwa- modisicirtcn pensylvanischcn System für die „(bedingte) Einzelhaft" ohne absolute- „Schweigsystcm". Die demgemäß nothwendig werdende Reorganisation des Zellengefängnisses in Moabit wurde auf einer Conferenz, in welcher der König selbst präsidirte, nach Wichern- Rathschlägen beschlossen. Dazu erschien eS ihm nothwendig, mit den bisherigen Beamten, die sich den Wichcrnfchen Theorien, sowie seiner Praxis in der seelsorgerischen Behandlung der Gefangenen entgegenstellten, wenn eS sein müsse „einen Krieg auf Leben und Tod" zu beginnen. Wichern schimpft in seinen Briefen weidlich über die „büreaukratische Unfehlbarkeit" preu­ ßischer Würdenträger und über daS „Paschathum subalternen Beamten­ dünkel«". „Die Gefangenen sind hier eingefroren" — meint er (1854) — „in PolareiS; die Sonne der Gnade muß erst zu scheinen beginnen, wenn dies Eis gelöst werden soll." Ob hier nicht gerade die Gefahr einer Verwechselung oder Ver­ mischung der staatlich-gesetzlichen Gefängnißordnung, und der christlich­ seelsorgerischen Behandlung dieser Frage vorliegt, wage ich nicht zu ent­ scheiden. Eö erscheint jedenfalls bedenklich, wenn an die Stellen „büreaukratischer Unfehlbarkeit" die Gefahr geistlicher Jnfallibilität tritt, welche, wie dem „Vater", so auch den „Brüdern" deS Rauhen Hauses nicht allzufern lag. So konnte es leicht dazu kommen, daß jenes staat­ liche „Paschathum" einem sei eS auch protestantisch gefärbten „Papstthum"

wich. Zu?leugnen ist e» wohl kaum, daß diese zum GefSngntßdienst tech­ nisch doch nur schwach vorbereiteten „Brüder" durch daS vermeintliche Monopol ihrer christlichen Erziehung und Gesinnung Alle» ersetzen zu können meinten. Ihr Eifer war, wie da- allen orden-mäßigen Gemein­ schaften eigen ist, ein sehr großer. Die Gefahr eine- treiberischm We­ sen» war keineswegs eine fernliegende. Und die confequent auSgeföhrte Einzelhaft erhöhte bet der seelsorgerischen Behandlung diese Gefahr. Der Sturm gegen Wichern in Tage-blättern und Broschüren brach lo» — besonder- nach dem 1861 erfolgten Tode Friedrich Wilhelm- IV. Nicht blos gegen die vielen früher schon laut werdendem Stimmen der confessionell-lutherischen „Gegner" seiner inneren Mission hatte Wichern sich zu vertheidigen; eS erstand eine ganze Schaar politischer Gegner, (vor allem Holtzendorff)*) die gegen diese- Eindringen „pietistisch" geschulter Aufseher und geistlicher Grundsätze in da- Gefängnißwesen Protest und vielfach übertriebene, ungerechte Klagen erhoben. Trotz alledem wurde Wichern am Schluß de» Jahre» 1856 amtlich nach Preußen berufen und nicht nur al» Oberconsistorialrath dem Ober­ kirchenrath eingegliedert, sondern al» „vortragender Rath für Strafan­ stalten und Armenwesen" dem Ministerium eingefügt. Damit beginnt die letzte, schwerste, und wie mir scheint verhängnißvolle Periode seiner Arbeits­ zeit von 1857 bi» zum April 1866, wo er schließlich durch Krankheit ge­ nöthigt ward, seine Arbeit mehr und mehr einzuschränken. Bedenklich

war schon der stete Wechsel de» Wohnsitze»: während de» Winter» in Berlin, während de» Sommer» im Rauhen Hause! Nie ist er seit dieser Zeit wieder seine» LebeU» recht froh geworden. Der Hamburgische Can. didat, den die Hallesche Universität 1852 zum Doctor der Theologie er­ nannt hatte, dessen Leben-lust bisher die Freiheit war und dessen belebmde und organisirende Kraft in der Unmittelbarkeit persönlichen Wirken» ruhte, so daß er sich doch am wohlsten in seiner Armen-Kinderschaar fühlte, hatte nun den Kampf zu bestehen gegen den Formalismus der Büreaukratie und, selbst amtlich gebunden, dem Strom der Mißgunst, welcher sich gegen die von ihm vertretenen Prinzipien richtete, einen Damm entgegeizuzusetzen. Er schreibt darüber schier verzweifelt an seine im Rauhen Heuse zurückgebliebene Frau, und klagt vor Allem über da» politische und kirch­ liche Parteiwesen. Im Widerspruch zu seiner eigenen Neigung and zu seinen Grundsätzen wurde er genöthigt in da» politische Getriebe sich *) vgl. Holtzendorff: Die Brüderschaft de» Rauhen Hause» ein protestanticher Orden im Staatsdienst. 1861. Dagegen erschienen: Ortlofs, Da» Zellmge« fängnist in Moabit. 1861. Oldenberg, Die Brüder de» Rauhen Hauset rc. 2. Aust. 1862.

hinelnzubegeben und namentlich im Abgeordnetenhause (besonder» in der Sitzung vom 2. October 1862) der leidenschaftlichen Opposition Stand zu halten. Wa- half da der im Oberkirchenrath Mähler gegenüber gel« tend gemachte Borwurf Wichern-, daß „auch nur der Schein einer Ver­ mischung de» Politischen und Kirchlichen gefährlich und vom Uebel fei". Er mußte selbst seine Sache im Abgeordnetenhause führen und trotz seiner großen Beredsamkeit gelang es ihm nicht, die Majorität zu gewinnen. Ja, der vom Staat 1857 mit Wichern geschlossene Contract wurde 1862 abgelehnt, die Mittel dafür verweigert und ihm sogar der Pension-betrag entzogen. Meine» Erachten» war dieser Schlag für Wichern ein Segen. Er mußte nunmehr al» Glied de» evangelischen Oberkirchenrath» sich auf die reine Mission-arbeit concentriren und hat in dieser letzten Zeit seiner Berliner Wirksamkeit viel für die Anbahnung der so gesegnet arbeitenden Berliner Stadtmission, besonder» durch Gründung und Ausgestaltung de» „evangelischen JohanneSstifteS" gethan. Wa» gegenwärtig unter Stöckerthatkräftiger, wenn auch zu sehr centraltsirter Leitung durch die Berliner dreißig Stadtmissionare von ihrem Mittelpunkte au», dem Stadtmission». Hause Johanne-tisch Nr. 6, geleistet wird, ruht wesentlich auf Wichern» Schultern. Nur würde der Heimgegangene entschiedene Einsprache erheben gegen den sich auch in die Stadtmission einmischenden Geist der antisemi­ tischen und socialpolitischen Parteiagitation. Diese Seite der sonst so heilsamen „Berliner Bewegung" ist dem Geiste Wichern- nicht conform. Gerade in seiner letzten ihm noch gegönnten Arbeit-zeit (1862—69) versuchte e- der schon alternde Wichern in da» Problem der „socialen Frage" sich immer tiefer hineinzuarbeiten und eine „Lösung der Arbeiterfrage" vom rein evangelischen Standpunkte anzubahnen. Zugleich setzte er unausgesetzt alle Kraft daran, dem Uebel der öffentlichen Sittenlosig. kett entgegenzuwirken. Aber seine Kraft erlahmte. E- klingt bei diesem Mann übersprudelnder geistiger Kraft geradezu kläglich, wenn er darüber jammert, daß eine unüberwindliche Müdigkeit ihn übermanne. Wie wäre sonst da- jetzt öfter» vorkommende „Cinschlummern am Schreibtisch" bei ihm, der früher Nächte durchwachen und durchbeten konnte, möglich gewesen! Al- er bei der Berliner Oktoberversammlung 1871 in der Garnisonkirche einen Vortrag halten wollte „Ueber die Mitarbeit der evangelischen Kirche an den socialen Aufgaben der Gegenwart" — konnte er ihn nicht zu Ende führen, noch auch die Aufmerksamkeit der Zuhörer mehr fesseln. Gleichwohl interessirte er sich fort und fort für die Einzelheiten im Leben und Arbeiten de- Rauhen Hause-. Dort hatte sich durch Wichern» Abwesenheit ein gesetzliche- Wesen eingebürgert und da- schon erwähnte

48

I. H. WichernS Bedeutung für die sociale Bewegung unserer Zeit.

Pensionat für Söhne höherer Stände erwies sich als Schmerzenskind bet ganzen Anstalt. Die von Wichern geforderte Reform und Entlassung dnguhen, Tuhen-Quan rc. geschlagen. Da traten reguläre chinesische Truppen auf und gleich darauf brachte der Telegraph die Nachricht der französischen Niederlage bei Bac-Lö. Nun übernahm General Briöre de l'Jsle an Stelle des abbcrufenen Generals Millot den Oberbefehl, bedeutende Ver­ stärkungen wurden au- Frankreich nach Tonkin geschickt und die Franzosen rückten gegen die chinesische Armee, deren Zahl natürlich von den franzö­ sischen Blättern ähnlich übertrieben wurde, wie die der deutschen Heere 1870/71, vor, um blutige Rache zu nehmen. ES gelang die chinesischen Avantgarden bei Zam, Kep und Ku zurückzudrängen und bis Langson vorzurücken. Die Franzosen selbst gaben zu, daß die Chinesen viel bester bewaffnet und ausgebildet und geschickter geführt worden seien, alö man erwartete und daß ihre Rückzüge langsam und regelrecht stattfänden. Plötzlich traf die Nachricht ein „die Brigade Negrier ist bei Langson ent­ schieden geschlagen, ein großer Theil der Artillerie und fast der gesammte Train sind verloren, Oberst Herbinger hat die französischen Reste durch schleunigen Rückzug vor Vernichtung gerettet." So war eS auch. Der französischen Phrase „Rache für Bac-Lä" hatte man Ströme von Blut und schweres Geld geopfert und Alles umsonst; die Chinesen waren und blieben Sieger. Solche Sprache verstand man endlich in Europa und jetzt fing man eigentlich erst an, sich mit den bezopften Bewohnern des chinesischen Reiches näher zu besassen. Immer noch gibt eS ja Leute genug, welche sich durch kleine für unser jetziges Auge lächerliche Aeußerlichkeiten — vor 100 Jahren wurde z. B. der Zopf ganz anders angesehen — be­ stimmen lassen, über China oberflächlich hinwegzugehen und zu glauben, eS herrschten dort noch dieselben Zustände wie vor etwa 20 Jahren, weil z. B. der Chinese noch immer seinen Zopf trägt. Der denkendere Theil Europa- jedoch und insbesondere unsere Staats­ organe stehen jetzt auf einem anderen Standpunkte. Ein sprechender Be­ weis dafür ist der Umstand, daß deutsche Officiere der Marine und des Landheeres offieiell Urlaub erhalten haben, um bei der chinesischen Flotte und in den Militärschulen von Tientsin rc. al- Lehrer zu fungtren. Daß

China al» Verbündeter Deutschland».

57

damit sich daS deutsche Reich für einen Erfolg der letzteren verbürgt, wird wohl Niemand behaupten. Allein ebensowenig wird eS Officlere beurlauben, um ihre Kraft auf ganz aussichtslose Versuche zu vergeuden. Dieselben hätten in letzterem Falle verzichten oder den Abschied nehmen müssen. Man erkennt also jetzt China, nachdem eS in Tonking Sieger blieb, in Europa so sehr an, daß die Franzosen z. B. den Gedanken gar nicht zu fassen wagen, für die Niederlage von Langson Revanche zu verlangen. Damit haben sie daö Heft in Asien aus der Hand gegeben und schon jetzt läßt eS sich voranSsehen, daß ihre Stellung in Annam und im Delta dcS Long-Ka nur von der chinesischen Gnade abhängt und keine allzu­ lange sein wird. Aehnlich, wenn auch nicht in so ausgeprägtem Maße, ist eS im Norden Chinas" der Fall in der Gegend des Amur und im Küstengebiet von Sichota Alin. Die Geschichte Chinas beweist, daß kein Volk so zähe an dem Gedanken der Wiedergewinnung eines früher besessenen und später verlorenen Gebietes festhält, als das chinesische. Thian-SchanNanlu und KuldSha haben dies in neuerer Zeit bewiesen und, wer will, kann sich eine Lehre daraus ziehen. Ich wenigstens halte den Schluß für berechtigt, daß wenn das schla­ fende noch unter dem Eindruck der Niederlagen von 1859 und 1860 stehende schwache China eS verstand, den Nückgewinn verschiedener ver­ lorener Provinzen zu erreichen, so wird daS erwachende, unleugbar er­ starkende China, dessen Selbstbewußtsein durch die Siege gegen die Fran­ zosen 1884 und 1885 mächtig gehoben wurde, eö wohl auch verstehen, die weitere Zurückerlangung früher ihm gehöriger Länderstrecken eventuell mit Gewalt durchzusetzen, wenn der geeignete Zeitpunkt gekommen ist. Dann wird es den Russen wenig nützen, daß sie bis zu jenem Mo­ mente vielleicht noch einige Tausend russischer Bauern mehr angesiedelt haben. Die seit 1882 bis jetzt in das südliche Usurigebiet (um Wla­ diwostok) gebrachten 15,300 russischen Bauern halten die feit" Anfang dieses Jahrzehntes in Petersburg so sehr gefürchtete chinesische^Jnvasion nicht auf.. Auch der voraussichtlich in einigen Jahren vollendete Bau der Eisenbahn von Wladiwostok nach NikolSkoi und Bnssa (sämmtlich Städte im südlichen Usuri-Gebiet, also östlich der chinesischen Mantschurei) wird daran wenig ändern. Ich gehe sogar soweit, daß ich glaube, nicht einmal der Bau der gegenwärtig geplanten und auf Grund der bei An­ lage der transkaspischen Bahn vom Generallieutenant Annenkow gemachten Erfahrungen in 7 Jahren zu vollendenden Bahn durch ganz Sibirien bis an daö japanische Meer kann den Verlust deS Amur- und Usuri-

Gebiete- für Rußland verhindern. Höchsten- wird die Rückgabe desselben an China verzögert werden, vorausgesetzt, daß nicht Ereignisse eintreten, welche China bestimmen, noch vor Ausbau dieser Bahn die Abtretung energisch zu verlangen. China'- Politik war freilich bi- jetzt nie eine aggressive. Sogar noch 1885 haben seine Staatsmänner im Momente de- Siege- den zur Verfolgung der geschlagenen Franzosen sich aufmachenden Generalen, so Toujoui, Lien, Sons und anderen ein gebieterisches Halt zugerufen und Frieden mit dem niedergeworfenen Gegner geschlossen. Dies war kein Zeichen von Schwäche, sondern von jener klugen, man kann sagen schlauen Mäßigung, welchen die chinesischen Politiker von jeher au-zeichnet. Tonking wird al- reife Frucht ihnen von selbst wieder zufallen. Wozu also jetzt, wo so viel zu organisiren und zu schaffen ist, einen unnöthigen Krieg fortsetzen, der viel, sehr viel besser zu verwendende- Geld kostet? So dachte man in Peking und handelte darnach. Daß diese friedliche Stim­ mung aber nur eine Folge berechnender Ueberlegung ist und schnell einer anderen Strömung weichen kann, beweisen die großen Anstrengungen, welche man in China gegenwärtig in politischer und militärischer Be­ ziehung macht, um die Stellung des Reiches gegenüber dem AuSlande und seine Leistungsfähigkeit zu heben. Zur Zeit reisen chinesische höhere Beamte in den Grenzprovinzen umher, um das Verhältniß der Lehn-Völker genauer zu präcisiren und ihren Verband mit China inniger zu gestalten. Bei Korea ist dies schon geschehen; Tibet und die Staaten deS chinesischen Turkestan- sind theils gefolgt, theils werden sie sich in Bälde vollständig fügen. In Zukunft wird ein Vorgehen gegen einen solchen Tributärstaat feiten- einer außerchinesischen Macht nach den Aeuße. rungen deS Marquis Tseng in Peking als Kriegserklärung aufgefaßt werden. Ebenso befaßt sich ein neuerdings ausgestellter Ausschuß mit der Frage der Verhütung gewaltthätiger Behandlung von im Ausland leben­ den Chinesen, waS bisher undenkbar war, da auSgewanderte oder nur außer Land verreiste Chinesen von ihren Land-leuten beinahe wie Aus­ gestoßene betrachtet und deßhalb ihrem Schicksale überlaffen wurden. Die politische Vertretung China'- in Europa hat sich zu einer festen und ernsten gestaltet und wir müssen gestehen, daß manche unserer euro­ päischen Diplomaten von einem oder dem anderen bezopften Sohne dehimmltschen Reiche- etwa- lernen können. Wa» die Erstarkung China'in militärischer Beziehung betrifft, so hat sie alle Erwartungen über­ flügelt. Al- die Franzosen erfuhren, daß sie mit regulären Chinesen zu­ sammenstoßen würden, war von dem theatralischen Aufputz derselben, von ihren Luntenflinten, Fähnchen rc. rc. die Rede. Statt dessen stieß man

China als Verbündeter Deutschlands.

59

auf einfach uniformste und mit vortrefflichen HinterladSgewehren be­ waffnete Truppen, deren Generale sich durchaus nicht so unfähig zeigten, al-'man für sicher angenommen. Jetzt stehen die Chinesen noch viel besser. Die DersuchSabtheilung in Petschlli, deren Schöpfer Li-HungTchang, der Großsecretär deS Reiche-, ist, hat die Stärke von 10000 Mann erreicht und die bei ihr erzogenen Leute werden dazu verwendet, das ganze chinesische Heerwesen nach deutschem Muster umzugestalten. Die Exercierund Schießübungen werden nach deutschen Reglement-, die Felddienst­ übungen nach dem Werke deS Generals Campe betrieben. Da» Haupt­ verdienst der Uebersetzungen dieser Bücher gebührt dem früheren chine­ sischen Gesandten in Berlin Li-Fong-Pao und seinem Setretär King-inthai. Die Artillerie ist mit Krupp'schen Kanonen ausgerüstet und wird vollständig nach deutscher Art ausgebildet. In Peking wurde eine Kriegs­ schule errichtet, deren Vorstand ein früherer preußischer StabSofficier ist, und in Tientsin entstand eine Artillerie- und Jnfanterie-Schießschule. Außerdem wurden durch Li-Hung-Tschang noch in Schan-tung und Schan-si Kriegsschulen für je 200 Schüler eröffnet. Dieselben sind dem Tootai (General) Aang unterstellt. Wie die Nachrichten von Ende 1886 lauten, sind schon 100000 Mann der Mantschurischen Armee vollständig europäisch bewaffnet und ausgebildet. Die ganze Friedensstärke der chinesischen Armee beträgt 300000 Mann, die Kriegsstärke über 1 Million. Wenn die neue Organisation durchgeführt ist, werden diese Zahlen weit überschritten werden. Der größte Theil dieser Truppen steht in der Provinz Tschili, d. h. um Peking und nördlich davon in der Mantschurei, also in nächster Nähe deS russischen Amur- und Usuri-Gebiete- in Garnison. Daß die Flotte in den letzten Jahren ganz außerordentliche Fort­ schritte gemacht hat, verkündeten ja alle Zeitungen laut genug. Deutsch­ land hat dazu die beiden vorzüglichen Panzerkorvetten „King-Duen" und „Lai-Auen" erst vor Kurzem geliefert (erbaut vom „Vulkan" in Stettin) und erreichten dieselben mit den in England (bei Armstrong in Newcastle) gebauten Kreuzern „Ching-Auen" und „Slih-Auen", sowie einem neuen Torpedoboote erst vor wenigen Tagen ihre neue Heimath. Seit 1884 gibt eS in China zwei getrennte Flotten. Die für den Pec-Ho und das nordchinesische Meer bestimmte bestand zu Anfang 1887 auS 4 Thurmschiffen, 7 gepanzerten Rammkreuzern und 23 Kanonen­ booten (wovon 3 Kreuzer und 12 Kanonenboote noch in Bau). All' die» sind ganz moderne und modern armirte Schiffe von vorzüglicher Construction und hervorragender Fahrgeschwindigkeit. Dazu kommen noch 24 für den Pec-Ho und die Küstenvertheidigung bestimmte. Torpedoboote,

China att Verbündeter Deutschland».

60

Die südliche Flotte besitzt ebenfalls zahlreiche moderne, sehr gute Kriegs­

schiffe und zwar 15 Panzer, schiffe.

14 Kanonenboote und 15 KriegStranSport.

Die Torpedo-Abtheilung dieser Flotte (unter Leitung deS früher

deutschen Torpedcr-LieutenantS Kretschmer) besteht auS: 11 Torpedobooten

1 Schulschiff, 3 Dampfbarkassen,

1. und 2. Klaffe,

96 Fischtorpedo»,

500 Seeminen, 2 elektrischen Lichtstationen, 2 Torpedobatterien, 2 Minen­

räumer, 4 Minenleger und 15 Kutter. Militär- und Marine-Schule.

Im Whampon ist eine neue

Zu den angeführten Flotten kommt noch

das oben erwähnte erst kürzlich in China eingetroffene neue Geschwader. Man ersieht aus diesen kurzen Andeutungen, daß China durchaus kein zu verachtender Gegner mehr ist und bei den ganz colossalen Hülfs­ mitteln, die ihm zu Gebote stehen, bald sogar ein sehr gefürchteter wer­

den wird. Betrachten wir nun das Verhältniß Deutschlands zu diesem asiatischen

Niesenreiche,

so

muß ich vorauöschtcken, daß ich bei Beurtheilung deS

Verhältnisses ton Staaten zu einander auf rein praktischem Standpunkte stehe.

Keine Sympathie oder Antipathie, keine StammeSverwandschaft der

Völker oder BlutSverwandschaft der Fürsten, keine Verträge und Ab­

machen rc. bestimmen eine dauernde Bundesgenossenschaft oder doch ein dauerndes Zusammengehen zweier Nationen so sehr, wie da» gleiche ge­

meinsame Interesse.

Wenn eine und dieselbe Haltung beiden nützt, so

verbindet die» mehr, als alle anderen, immer doch nur künstlichen BereinignngSmittel. Nach diesem Grundsatz untersucht, finden wir, daß kein Land mit Deutschland so gleiche Jntereffen hat, al» China.

Einen gemeinsamen

Wunsch in Beziehung auf Erwerb, also einen Zankapfel gibt eS für diese

beiden Reiche nicht.

So lächerlich wird nicht

einmal ein Franzose sich

machen wollen, daß er unS Gelüste auf chinesisches Gebiet in die Schuhe

schiebt und daß die Chinesen deutschen Colonien gefährlich werden könnten,

daö erleben wir und noch eine ganze Reihe von Generationen auch nicht. Dagegen haben wir beide die gleichen Feinde.

Rußland und Frankreich

im Verhältniß zu Deutschland — nun hierüber brauche ich wahrlich nichts zu sagen. Rußland und Frankreich zu China verhalten sich aber, wie ein

hungriger Bär und ein gieriger Geier neben einer weidenden Heerde.

Wo ein unbeschützteS Stück erhascht werden konnte, da schnappten die

beiden zu und immer noch sind sie auf der Lauer, guter Biffen abfällt.

ob nicht ein weiterer

So nahmen die Russen 1859 den Chinesen, als

diese gerade mit Jakub-Bek in Thian-Schan-Nanlu zu thun hatten, da» Amur- und Usuri-Gebiet von Neuem ab, 1863 raubten sie da» Land um

China al» Verbündeter Deutschlands.

61

den Jssik-Kul und zu beiden Seiten deS Jli, von 1874—80 wurde da» Gebiet um den Saikan-See am oberen Jrtisch bi» zum Tarbagatai-Gebirge von der Dsungarei loSgerifsen und 1883 fiel da» Tengri.Chan-

Gebiet und da» Thal de» Narhn in russische Hände.

Daß die Franzosen

sich den chinesischen Tributärstaat Annam aneigneten und Tonkin besetzten, habe ich schon genug erwähnt.

Kurz, unsere beiden guten Freunde, die

sich so gerne an unserem Tische auf unsere Kosten satt essen möchten, sind auch die beiden und noch dazu einzigen guten Freunde China'», welche

mit ihren Krallen vom chinesischen Speck abreißen, wa» nicht unter ganz sicherem Verschluß steht.

Die» hat man endlich in China erkannt und

deßhalb geht man, freilich mit aller Bedächtigkeit, aber ernst und kon­ sequent daran,

sich in den Stand zu setzen, weitere Gelüste der liebens­

würdigen Nachbarn abweisen und

ihren früheren Raub wieder zurück

erlangen zu können. Lange wird e» nicht mehr dauern, dann kann China

mit Frankreich und Rußland ein Wort reden, da» man in Pari» und

Petersburg recht unangenehm vernehmen wird. brauchten,

Wozu wir Jahrhunderte

um nämlich unsere Kriegsmittel auf den jetzigen Standpunkt

zu bringen,

da» machen Länder wie China und Japan, in Folge ihre»

Reichthums und der hohen Kultur in Jahrzehnten und noch schneller durch, denn wir mußten allmählich erfinden und ausbilden, jene brauchen nur

nachzumachen.

Und daß sie gründlich nachmachen, dafür wollen' wir

Deutsche schon sorgen, denn in unserem Jntereffe liegt eS ja, daß China möglichst schnell und kräftig erwacht.

Wie eS dann dem russischen Bär,

dem französischen Geier ergehen wird, wenn die große unzählbare chine­

sische Heerde sich aufrafft und unter ihren Hufen niedertritt, was sich feindlich entgegenstellt — wer weiß eS? — Das Prestige der überlegenen europäischen Kriegskunst

ist verloren.

Roch erreicht China in seinen

modernen Kampfmitteln seine beiden Gegner zwar nicht; in einigen, viel­ leicht in wenigen Jahren aber wird eS gleich und dann überlegen und

zwar so colossal überlegen sein, wie seine BevölkerungSzahl Rußland und Frankreich weit überragt.

Vielleicht führt einmal ein neuer Tamerlan

die chinesischen Kanonen an den Tobol, an den Ural und an die Wolga; vielleicht herrschen die Chinesen bald wieder am Song Ka und dringen in

da» Me-Khong Delta vor! Wer weiß, ob solche Ereigniffe nicht eintreten, wenn wir Bär und Geier an der Brust fassen und eS sehr in unserem Jntereffe liegt, daß diesen gierigen Feinden ein neuer Gegner in den Rücken fällt.

DieS sind

ja AlleS Phantasiegebilde, aber ich halte sie für natürlich, für wahrscheinlich.

An dieser Stelle erscheint eS mir nicht überflüssig, einen Blick auf die vierte europäische Großmacht zu werfen, welche von den bisher er-

62

Lhina als Verbündeter Deutschlands.

Wähnten Fragen am meisten berürhrt wird und umgekehrt maßgebend auf sie einwirken kann, nämlich auf England. Diese- kommt bei Berück­ sichtigung der deutsch-chinesischen Verhältnisse in eine Doppelstellung. In allgemein politischer Beziehung 'tft eS auf den festen Anschluß an die eventuelle deutsch-chinesische Vereinigung angewiesen und muß alle» nur Mögliche thun, um ein solche- Bündniß zu erstreben und dauernd zu machen; al- Handel-volk ist eS auf uns eifersüchtig. Noch mehr als China ist England von dem russischen Bären und seinen Raubgelüsten bedroht. Seit Jahren zielen ja alle Maßnahmen der Rüsten darauf hin, nach Indien vorzudringen, um von dem Reichthum diese- SchatzkastenS zu naschen, vielleicht sogar sich diese- ganze Land anzueignen. Schritt für Schritt sind zuerst russische Kaufleute, dann russische Soldaten mit den Waffen in der Hand und zuletzt russische Soldaten mit den Werkzeugen zu Bahnbauten in Centralasien vorgedrungen und nunmehr wirklich an der Grenze von Afghanistan angekommen. Mit staunen-werther Aus­ dauer, Schnelligkeit und Geschicklichkeit haben sie die Eisenbahn von UzunAda am ka-pischen Meer über Gök-Tepe, Aökabat, Kaachku, Merw nach Tschardjui am Amu-Darja vollendet und in wenigen Monaten wird deren Fortsetzung auf dem rechten Sarafschan-Ufer durch Buchara bi- Sa­ markand vollständig fertig sein. Auch die Zweigbahn von Tschardjui nach Kilif; eine der südlichsten Städte von Buchara am oberen Amu-Darja, dicht an der afghanischen Grenze ist begonnen und geht mit Riesenschritten ihrer Vollendung entgegen*). Diese- Vorgehen gilt den Engländern in Indien und sie wissen eS auch deutlich genug. Das englisch-indische Kaiserreich steht also auf dem gleichen Standpunkte wie China, das heißt, eS muß immer bereit sein, sich der heißhungrigen Begierden des russischen Bären zu erwehren. Dies macht die Engländer zu naturgemäßen Verbündeten der Chinesen und da­ mit in weiterem Sinne zu den unsern. Betrachtet man überdies da­ direkte Verhältniß Englands zu China, so muß man zur Ueberzeugung kommen, daß ernste Zerwüfniste zwischen diesen Ländern, z. B. Grenz­ streitigkeiten unwahrscheinlich sind. Die natürliche Gestaltung deS Landezwischen beiden Staaten und da- Verhältniß der letzteren zu den dortigen Bevölkerungen schließen Ursachen für kriegerische Verwickelungen auS. Die indisch-chinesische Grenze bilden die höchsten Gebirgsketten der Erde, ter Himalaya und die von tief eingeschnittenen parallel mit der Grenze laufenden Stromthälern durchschnittenen Alpen von Tibet und Tünau. •) Neue Nachrichten sprechen zwar v»n theilweisen Bedrohungen dieser neuen Dain« linien durch den Flugsand.

Wer einmal den Krieg der Bayern und Franzosen gegen die Throler in Tyrol studirt hat, weiß wie schwierig dieser war. Dennoch dürfte der­ selbe — in dem verhältnißmäßig kleinen und niederen Gebirge der Alpen in nächster Nähe der wegsamen und cultivirten Ebenen von Südbayern und der Lombardei — ein wahres Kinderspiel gegen einen etwaigen Krieg im Himalaya gewesen sein. Daher kommt eS ja auch, daß die Herrschaft der Engländer über die dort ansässigen Völker theils eine durch nur frei­ williges Uebereinkommen geschaffene wie in KaShmir, theils eine nur nominelle wie in Nepal und Bhutan ist. In letzterem Lande beschränkt sie sich sogar darauf, daß die Engländer sich durch Besetzung der Orte Buxa und Dewangiri nur daS friedliche Verhalten deö Dalb Radscha garantieren lasten. Aehnlich, wenn auch nicht in so ausgeprägtem Maße, geht eS den Chinesen mit ihrem Grenzlande Tibet, über dessen Hirten­ bevölkerung sie auch eine mehr nominelle, als wirkliche Herrschaft ausüben. Da also sowohl England als China an der indisch-chinesischen Grenze zuviel mit der Ruhighaltnng der eigenen Unterthanen zu thun haben, so ist an Verwickelungen resp. Grenzverletzungen durch entsendete Heere vorläufig nicht zu denken. Raubeinfälle von einzelnen Stämmen sind dort aber nicht gebräuchlich, da die Bevölkerungen zu fest ansässig sind und würden jedenfalls die nicht dafür verantwortlichen Regierungen auch nicht mit einander entzweien. Ebensowenig werden die gegenwärtig zwischen den Engländern und dem kleinen von China unterstützten Staate Sikkim herrschenden Eifersüchteleien wegen deS Theehandels rc. ernste Folgen haben. Sikkim, englischer Tributärstaat zwischen Nepal und Bautan hat nur 50000 Einwohner und wird eben ganz dem indischen Reiche einverleibt, wenn eS Schwierigkeiten machen sollte. Eher könnten wegen Hongkong, wo die Engländer eine Garnison haben, oder wegen irgend welcher HandclSangelegenheiten Zwistigkeiten auSbrechen. Aber eS ist wohl anzunehmen, daß die Engländer sich in Berücksichtigung der allgemeinen Constellationen der äußersten Vorsicht befleißigen werden. Wie sehr sie auf ihr gutes Verhältniß zu China bauen, zeigt, daß sie Port Hamilton, die Insel, die das japanische Meer im Süden und damit das AuSgangSthor der russisch-sibirischen Häfen sperrt, und die die klugen Britten in der letzten Krisis daher schon be­ setzt hatten, jetzt den Chinesen ohne Weiteres wieder überliefert haben. Durch eine neue Pacificbahn von Quebec bis New-Westminster gegenüber Victoria auf der Insel Vancouver, bloß auf canadisch-britischem Gebiet haben die Engländer sich zu diesem zukünftigen KriegStheater eine neue sichere und schnelle Verbindung geschaffen.

64

China als Verbündeter Deutschland«. Immerhin ist England gegen Rußland in Asien auf die Abwehr

hingewiesen und

eS

liegt

daher

nur

in

seinem

daS Zu­

Interesse

sammenhalten der beiden Staaten, welche allein im Stande sind, seinen eventuellen Angreifer so zu beschäftigen, daß er gar keine Zeit hat an

Indien zu denken, möglichst zu befördern und zu unterstützen.

Die- wird

man auch in England einsehen und dieser höheren Rücksicht zu Liebe nothgedrungen die eifersüchtige Regung unterdrücken, welche die in letzterer Zeit immer stärker werdende Concurrenz Deutschlands in China in Be­

ziehung auf den Handel mit diesem Lande bei den Engländern hervorge­

rufen hat.

Hier befinden wir uns mit England nicht im Einverständniß,

aber doch nur in einem friedlichen Wettstreit und wenn wir allmählich

Vortheile erlangen, so liegt dies eben daran, daß wir besser arbeiten als

die Engländer.

DaS

beweisen z. B. die

England für China gebauten Kriegsschiffe.

in Deutschland und

in

Erstere haben sich schon bei

der Abnahme und auch auf der Fahrt in ihre neue Heimath den letzteren weit überlegen gezeigt. ruht.

England hat zu lange auf seinen Lorbeeren ge­

Seine Industrie arbeitet vielfach nur nach alter Schablone.

Es

darf sich nicht nur in militärischer, sondern auch in industrieller Beziehung aufrütteln.

So sehr und mit Recht man bestrebt ist, politische und kommercielle Verhältnisse der Staaten auSeinanderzuhalten und voneinander zu trennen,

so ist eS doch nothwendig, daß sie immer wieder an manchen Punkten zusammentreffen und

aufeinander einwirken.

DaS derzeitige

günstige

politische Verhältniß China- zu England befördert auch die commerciellen Beziehungen.

DaS günstigste Verhältniß aber waS in dieser Richtung

denkbar ist, hat China zu Deutschland. Mit England steht China nur gut,

weil ihm Rußland und Frankreich noch gefährlicher, noch feindlicher sind und England würde seinerseits wohl weniger zurückhaltend auflreten in der Ausdehnung seines Kolonialreichs auf chinesisches Gebiet, wenn ihm nicht China ein so erwünschter BundeSgenoffe gegen die beiden anderen

Großmächte wäre. besorgen.

Bon Deutschland aber hat China niemals etwas zu

Deutschland ist das einzige Land, welches diesen hinterasiatischen

Groß-Nationen, den Chinesen und Japanern europäische Cultur bringen kann ohne die europäische Herrschaft, selbst ohne die Besorgniß vor euro­

päischer Herrschaft.

Durch seine Gegnerschaft zu Rußland und Frankreich

tritt China gleichzeitig in politische Beziehungen zu Deutschland, infolge deren wir wieder ein ganz besonderes Interesse an dem Erwachen und

der Erstarkung de» chinesischen Reiches, als unseres natlirgemäßen Ver­ bündeten haben.

Goethes Werke. Herausgegeben im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen.

Weimar, Döhlau.

So ist sie da, die Goetheausgabe, welche der deutschen Nation als­ bald nach Eröffnung des Goetheschen NachlaffeS versprochen wurde. Wie nennen wir sie im Unterschied von den zahlreichen vorhandenen und zweifel­ los noch kommenden Goetheauögaben? 9m Folgenden soll sie nach der erlauchten Veranstalterin als SophienauSgabe bezeichnet werden. Die SophienauSgabe wird bekanntlich in vier Abtheilungen erscheinen, von denen eine unter dem Namen Goethes Werke die Dichtungen und alle auf die Persönlichkeit des Dichters, auf Kunst, auf Zeitereigniffe, auf die Erzeugnisse fremder Dichter, auf die allgemeinen Probleme de- Leben­ bezüglichen Schriften umfaßt. Die zweite Abtheilung enthält die natur­ wissenschaftlichen Schriften, die dritte die Tagebücher, die vierte die Briefe. E- liegen vor: von der ersten Abtheilung Band 1, den ersten Theil der Gedichte enthaltend, und Band 14, den ersten Theil des Faust ent­ haltend; von der dritten Abtheilung Band 1, die Tagebücher von 1775 biS 1787 enthaltend; von der vierten. Abtheilung Band 1 und 2, die Briefe von 1764 bis 1771 und von 1771 bis 1775 enthaltend. Dem ersten Band der Werke ist ein Vorwort von Herman Grimm und ein Dorbericht von Bernhard'Suphan vorauSgeschickl. Nach dem Borbericht werden die Namen der Redaktoren, 5 an der Zahl, und sodann die Namen der Mitarbeiter, 67 an der Zahl, angegeben. Natürlich kehren die 5 Re­ daktoren unter den 67 Mitarbeitern wieder. Wie verhalten sich nun die Redaktoren zu den Mitarbeitern? Zunächst denkt man wohl, daß die Bearbeitungen einzelner Werke oder einzelner Theile einzelner Werke durch die Mitarbeiter den Redaktoren eingesendet und von diesen, sei eS in collegio, sei eS mit »ertheilten Aufgaben, abschließend geprüft und geneh­ migt werden. Wenn däS so wäre, so möchte man gern wissen, warum die Herren Redaktoren sich nicht den Namen Herausgeber beigelegt haben. Ferner wäre eS nicht ohne Bedeutung, zu erfahren, ob und wie sie ihre Aufgabe getheilt haben. Denn der Nerv aller menschlichen Leistung ist Preußische Jahrbücher. Vd. LXI. Heft L 5

Torthe« Werke.

66

Verantwortlichkeit ist die nothwendige Ergänzung zum

Verantwortlichkeit.

Verdienst, wie sie die unentbehrliche Bedingung zur gerechten Würdigung Und e» handelt sich hier um ein Werk, da- ein große» Verdienst

ist.

in Anspruch nehmen darf und nehmen soll, um die Herstellung de» Ka­ non» der Schöpfungen unser» größten Dichter». antwortlichkeit erkennbar, darum

Darum muß die Ver­

muß sie möglichst individuell, darum

müssen die Hauptleistungen abgegrenzt sein. Die Theilung der Aufgaben ist aber eine ganz andere, und der

Verantwortlichkeit hat man vielleicht sogar zu viel geschaffen.

Im Ein­

gang der jedem Band beigegebenen Lesarten werden nämlich die Be­ arbeiter al» Herausgeber genannt.

Da

alle Mitarbeiter selbständige

Goetheforscher und literarisch namhafte Männer sind, so kann diese» Ver­

fahren al» natürlich und selbst al» unvermeidlich erscheinen, ein Verfahren, bei welchem die sogenannten Redaktoren sich vielleicht nur die Prüfung

der vorgelegten Arbeiten im Ganzen vorbehalten haben.

Dennoch läßt

sich die Frage nicht unterdrücken, ob diese» Verfahren sich bei der ersten

Abtheilung wird.

der dichterischen und verwandten Werke zuträglich erweisen

Bei dieser Abtheilung kommt e» ja darauf an, die Mustergestalt

der Goetheschen Werke,

den Kanon herzustellen, wie wir sagten.

Da

werden alle aufgestellten Grundsätze zum Erreichen der wünschenSwerthen Uebereinstimmung nicht genügen. Denn man wird doch nicht etwa sich auf

die Philologie berufen und sagen: jene» Werk ist in dieser, jene» in einer

andern Form der Sprache, Schreibung u. s. w. überliefert worden!

Da­

von später noch ein Wort.

Groß und allgemein war im Krei» der Goethefreunde, der nicht alle Deutschen, aber wohl die besten Deutschen umfaßt, die Spannung auf

diese Sophienau-gabe.

Sehr

verschiedenartig

sind die Ansprüche, die

man an eine musterhafte GoetheauSgabe erheben kann, und sie hatten wohl alle ihre Vertreter.

E« gab und giebt einen Anspruch, der sich eine

GoetheauSgabe denkt, welche den

LebenSgang de»

Dichter» in seinen

Werken nach der Zeltfolge veranschaulicht und daher bei jedem großen und kleinen Werke die historische Abwandlung von der Urgestalt bi» zur letzten

Feststellung vor Augen bringt.

Danach würden wir von den Gedichten

z. B. einen ersten Abschnitt erhalten, etwa da- Jahrzehnt von 1765 bi»

1775 umfassend.

Bet jedem Gedicht würde

man den ersten Entwurf,

dann die Veränderungen nach der Zeitfolge bi» zum endgültigen Text er­

halten, wie ihn die von Goethe selbst veranstaltete und überwachte Aus­ gabe letzter Hand festgestellt hat.

Die Herausgeber der Sophienau»gabe

haben diesen Plan, wie verlautet, wohl in ihrer Mitte erwogen, aber schließlich verworfen.

Sie haben beschloffen,

sich an die vom Dichter

Goethe« Werke.

67

selbst geleitete Ausgabe letzter Hand zu halten, als Nachtrag zu den einzelnen Bänden aber bet jedem Werk die Lesarten, d. h. die Verände­ rungen zu geben, welche eS vom ersten Entwurf bis zum Abschluß er­ fahren hat. Dor dem Erscheinen dieser Ausgabe habe ich auch zu denen gehört, die eine historisch, biographische Ausgabe erwarteten und für da­ wichtigste Bedürfniß hielten. Jetzt bin ich anderer Meinung geworden und glaube, die Herausgeber der SophienauSgabe haben sich durch den Weg, den sie gewählt, den Anspruch auf allseitigen Dank erworben. Denn wie man auch zu dem Dichter stehe, ob auf der Stufe de- ersten Genießenö, ob auf der Stufe de» feineinvringenden und liebevollen BerständniffeS, immer muß man die Kunstgestalt in ihrer vollkommensten Ausprägung vor Augen sehen, vor den sinnlich-geistigen Augen, nicht vor den letzteren allein, was eine Anstrengung bleibt. Das also ist der erste Dank, der den Herausgebern gebührt, daß sie zur Geltung gebracht, was das erste Erforderniß jeder GoetheauSgabe bleibt: die reinliche, ein­ ladende Gestalt deS Textes, und zwar deS Texte- auf der Stufe seiner vollkommenen Durchbildung. Der zweite Dank gebührt ihnen aber für die Noten, die sich nicht unter dem Text, sondern ganz außerhalb deffelben, im Anhang befinden, auf die auch im Text keine den ruhigen Fluß de» Aufnehmen- störenden Zeichen verweisen. Durch die Zählung der BerSzeilen ist e» vollkommen leicht, sich au» den Noten in den Gedichten zu­ rechtzufinden. Denn so soll e» fein: man soll nicht mit den Gedichten die Noten zu studiren gezwungen oder auch nur begierig gemacht werden, sondern man soll die Noten für sich studiren und eS leicht haben, die betreffenden Gedichtstellen bei diesem Studium aufzufinden. Eine nicht leichte Aufgabe war e-, die Grundregel festzustellen für da-, wa» in diesen Noten gegeben werden sollte, für die sachliche Aus­ dehnung und die sachliche Begrenzung. Die Noten zu jedem Werk sollten nicht einen Kommentar deffelben bilden. Da» war die erste Regel, und ich glaube, man hat mit dieser Beschränkung wohlgethan. Aber auf der andern Seite mußte man sich genau sagen, wa» man mit den Noten be­ zweckte, wa» also nothwendig in denselben stehen mußte. Mit der Ueberschrift, welche man bei allen Bänden den Noten gegeben und welche „Lesarten" heißt, scheint der Zweck genügend bezeichnet und sein Maß angegeben. So ist e» doch aber nicht. Mit den bloßen Le-artm würde niemand etwa» anfangen können. Da» Wenigste, wa» man außerdem wiffen muß, sind die Orte, wo sie sich finden. ES bedarf also einigen Unterricht» über die verschiedenen Handschriften, Drucke, welche in Be­ tracht kommen, und damit erhält man bereit» den Anfang zu einem histo­ risch-biographischen Apparat. Ich bin nun der Meinung, daß man hierin 5*

68

Gorche« Werke.

ein klein wenig weiter hätte gehen müssen, und lege e» den Herausgebern ernstlich an da- Herz, die Zweckmäßigkeit dieser Erweiterung zu erwägen. In den Noten sind überall die ersten Drucke angeführt, zuweilen aber findet sich die sehr dankenSwerthe Zugabe einer Anführung der Entstehung. Ich meine nun, bei jedem Werk müßte da- Datum der Entstehung und wo dieselbe mehrere Daten in sich begreift, nämlich den ersten Anlaß, den ersten Abschluß und die etwaige Umbildung, diese Daten den Noten beige« fügt werden. Am besten ständen diese Notizen wohl jede- Mal am Anfang der Noten. Zwei mögliche Einwände weisen wir leicht zurück. Erstlich kann nicht die Rede sein von einem zu großen Raumersorderniß; waS ich wünsche, kann in 2—12 Druckzeilen gegeben werden. Zweiten- kann auch nicht die Rede sein, daß man damit zur Mittheilung unsicherer Ergebnisse gezwungen werde. Bis zu einer gewisien Grenze finden sich sichere Anhaltspunkte überall, und wo eS rathfam wird. Unsichere- beizu­ fügen, kann man sich durch kürzeste Andeutungen, nöthigenfallS durch bloße Fragezeichen vor dem Tadel sicherstellen. Unbegründete- gegeben zu haben. Denn — die- sage ich zur Begründung meiner Forderung im Ganzen — die Roten oder Lesarten haben keinen Zweck, wenn sie nicht den historisch­ biographischen Apparat gewähren, wenigsten- für jeden Solchen, dem der äußere Verlauf von Goethe- Leben fest im Geiste haftet. Fürst BtSmarck hat einmal gesagt, er sei bereit, mit den Juwelen au- den Goetheschen Werken sich auf einer wüsten Insel einschließen zu lassen. Ich meine, die Sophtenau-gabe sollte ein ähnliche- Ziel vor Augen haben, sie sollte gerade so viel geben, daß man für den Rest eine- mehr oder minder langen Leben» seine geistigen Bedürfniffe in ihr befriedigen könnte. Nun hat allerdings Herman Grimm im Dezemberheft der deutschen Rund­ schau viel Schöne» gesagt, ersten- darüber, daß die poetischen Schöpfungen kein Datum haben, zweiten- darüber, daß die Auflösung eine» Werke­ ln seine Entstehungsgeschichte, wodurch au- dem Werk eine Folge von Stücken wird, die unter verschiedenen Gestirnen entstanden sind, daß diese Auflösung unter Umständen den Genuß de- Kunstwerk- al» solchen, den höchsten, wahren Genuß zerstören kann. Dem setze ich folgende» ent­ gegen, zunächst in Bezug auf den zweiten Punkt, womit aber auch der erste widerlegt wird. Wo ein geistige- Werk mühsam aus der Leiter unsichern, tastenden Suchen» zur Vollendung emporgeklommen, da wird durch die Kenntniß seiner Entstehungsgeschichte die Wirkung de» Ganzen geradezu beeinträchtigt. Darum ist e» gut, daß bei den meisten Werken die Urkunden über ihre Entstehung verloren gegangen. Aber auf Goethe findet die- keine Anwendung. Er ist auch unter den zufälligen Anregungen, in den Anläufen und Bruchstücken seiner Werke anziehend, liebenswürdig,

Goethe« Werke.

69

groß, fast immer der ganze Goethe. So erklärt e» sich, daß in nicht wenig Fällen eigensinnige Liebhaber die ersten Gestalten der Werke den späteren vorziehen. Aber auch abgesehen von solchen Geschmacksrichtungen: wir können die Werke Goethe» fast nicht mehr genießen, ohne jede» der­ selben sogleich in die Totalität der anziehendsten Persönlichkeit zu ver­ setzen. Ueberdie» ist in Goethe wie in allen großen Dichtern viele» Enigmalische, da» jeder anthellnehmende Leser deuten will. E» hat sich aber schon zur Genüge gezeigt, daß die geistreichste Deutung minder anziehend ist, al» die Erklärung, die wir im eigenen Leben de» Dichter» finden. Bi» auf einen gewissen Grad sind heute alle Goetheverehrer zugleich Goetheforscher geworden. Jeder Goetheverehrer will in den Werken zu­ gleich sich diese einzige Persönlichkeit vergegenwärtigen, diese» wunderbare Leben, wunderbar nicht durch die Erhebung über die Naturgesetze, sondern durch die Macht de» allseitigen geistigen Zauber» innerhalb der Natur­ gesetze. Darum, meine ich, ist in der Sophtenau-gabe im Ganzen der rechte Weg eingeschlagen, da» wirkliche Bedürfniß der rechten Goethefreunde befriedigt worden. E» giebt keinen von der Persönlichkeit de» Dichter» abgelösten Genuß der Goetheschen Werke mehr, darum soll un» die Aus­ gabe in einer den künstlerischen Genuß nicht beeinträchtigenden Form die Hülfsmittel gewähren, un» in die entsprechenden Momente de» persön­ lichen Leben» zu versetzen. Aber wir wiederholen, eine Ausgabe, welche den Genuß der Werke ermöglichen und sogar steigern will, darf nicht die Werke in die Vorgänge der Entstehung auflösen. Also ist, wa» nöthig und gut bleibt, bi» auf die kleine Lücke, die sich ergänzen lassen wird durch die Hinzufügung gewtffer Entstehung-daten, hier geschehen. Da» ist wohl alle» Lob, wa» dem Plan de» Unternehmen» gegenüber zu spenden möglich war. Mit aufrichtiger Genugthuung für da» schöne Gelingen eine» hochwünschenSwerthen Unternehmen» wird t» hier ausgesprochen. Beschäftigen wir un» nun ein wenig mit der Durchführung, wie sie bi» jetzt vorliegt. Wa» oben gesagt war, gilt, wie von selbst ersichtlich ist, zunächst von der Abtheilung der poetischen und verwandten Werke. Bei der Abtheilung der Tagebücher konnte, wie der Herausgeber richtig bemerkt, eigentlich nur von der Vorlegung eine» gedruckten Facsimile die Rede sein. E» konnte sich um keinerlei Bearbeitung de» Rohstoff» han­ deln. Wa» nun aber die Abtheilung der Briefe betrifft, so ist e» ja von großem Werth, die Goetheschen Briefe vollständig in chronologischer Reihen« folge vor die Augen zu bekommen. Bei dieser Abtheilung, wie auch bei der der Tagebücher ist der Zweck der Ausgabe ganz und gar der historisch­ biographische. Aber auch hier habe ich eine Erwägung vorzuschlagen. Obschon viele dieser Briefe Beantwortungen sind, braucht t» doch bet

70

Goethe- Serie.

btefen Antworten oft nicht der Kenntniß de- Anlasse-. In andern Fällen aber gewährt die Antwort weder Verständniß noch Genuß, sondern höch­ sten- Unruhe und Neugierde, wenn man den Anlaß nicht vor sich hat. Hier, meine ich, sollte bet gewissen Briesen der Gegenstand deutlich ge­ macht werden, indem In manchen Fällen der Anlaßbrtef in kleinerer Schrift vorgedruckt würde, in andern Fällen die Erläuterung durch die Noten gegeben würde. Denn ich halte für unstatthaft, daß man die Sophtenau-gabe nur soll benutzen können, wenn man die andern Aus­ gaben der verschiedenen Briefwechsel, wo Anlaß und Erwiderung nebeneinanderstehen, zur Hand hat. ES mag angehen, daß Goethe- Briefe an Schiller ohne die Anlässe und Erwiderungen dastehen, weil man die wichtigeren dieser Briefe fast auswendig kennt; wer versteht aber z. B. den Brief an Herder im ersten Band Nr. 78? In den Noten wird man allerdings fein säuberlich an die Briefe au- Herder- Nachlaß verwiesen und da- ist alle-. Aber wa- ist damit geholfen? Hier muß entweder der Anlaßbrtef vorgedruckt, oder, wenn dieser nicht vorhanden, in den Noten eine Erläuterung oder auch die Mittheilung gegeben werden, daß der Brief ein ungelöste- Rätsel enthält. Doch nun noch einmal zu der Ausgabe der poetischen Werke, bei welcher der Zweck, wie vorher auSgeführt wurde, nicht bloß historisch-bio­ graphisch ist. Wa» ich jetzt deutlicher, al- vorhin, sagen will, ist diese». Bei den poetischen Werken muß die Sophtenau-gabe da- Ziel in- Auge fassen, die kanonische Gestalt der Goetheschen Werke herzustellen, und dabei kann, ja muß die Thatsache zum Vorschein kommen, daß die kanonische Gestalt in keiner"der bisherigen, auch In keiner der von Goethe über­ wachten Ausgaben vorltegt: einfach in Folge der alten Erfahrung-that­ sache, daß kein Autor im Stande ist, den Druck eine» seiner Werke btzur Fehlerlosigkeit herzustellen, auch nicht durch die Unterstützung guter und treuer Gehülfen. Der vereinten Aufmerksamkeit verschiedener Ge­ schlechter, der vereinten Pietät gleichzeitig zusammenarbettender Männer kann die- aber endlich gelingen. Philologisch kann die Aufgabe freilich nicht gelöst werden. Da» heißt: die Grundsätze der Textkritik, welche die herrschenden geworden sind für die Herausgabe der Schriftsteller deAlterthum», sind nicht anwendbar für die Erreichung de- Kanon- der Goetheschen Werke. Ich erläutere die-. Die philologischen Grundsätze für die Textkritik der alten Schriftsteller sind bekanntlich nicht immer dieselben gewesen. E» gab eine Zeit, wo diese Grundsätze auf den beiden Voraussetzungen beruhten: 1) der Originaltext, da er der einet Klassikers ist, muß in Form und Gedanke möglichst vollkommen gedacht werden; 2) der moderne Kritiker trägt den Maßstab der Vollkommenheit

Sorthes Werkt.

71

untrüglich in sich und ist also befugt, au» seinen Mitteln alle» Matte, Schwache, anscheinend Widersinnige zu verbeffern. Dieser Voraussetzungen hat sich die Philologie — man hat die Wahl zu sagen: längst, oder auch: vor nicht allzulanger Zeit, entschlagen. An die Stelle sind folgende Bor« auSsetzungen getreten: 1) die kanonische Textgestalt wird am sichersten derjenigen Handschrift entnommen, welche die auf äußere Beglaubigung gestützte Vermuthung für sich hat, dem Original am nächsten zu stehen; 2) wo die Annahme einer Entstellung de» Original», eine» Fehler» der Handschrift nicht abgewiesen werden kann, darf die Verbesserung nicht er­ folgen au» angeblich allgemeinen Geschmack»« oder Bernunftregeln, son« dern au» der Individualität de» Schriftsteller» heran», in welche sich der Kritiker hineingelebt haben soll. E» sollte keine» Worte» bedürfen, daß weder die erste noch die zweite dieser Regeln für eine Goetheausgabe au-reichen kann. Wir würden un» nach der ersten an die Ausgabe letzter Hand und zur Ergänzung an die dieser Ausgabe nächststehenden Textgestalten zu halten haben. Wir wiffen aber, daß die Au-gabe letzter Hand nach Grundsätzen hergestellt wurde, welche Goethe mit dem jugendlichen Göttling, den er sich zum Gehülfen erwählt, vereinbarte. Weder wurden diese Grundsätze überall befolgt, noch waren sie überall in Uebereinstimmung mit dem innern Gmiu» der Werke, noch erschöpfen sie den Umfang der Aufgabe. Die Ausgabe letzter Hand hat un» also die kanonische Gestalt der Goetheschen Werke noch nicht gegeben, und e» ist da» schönste Ziel der SophienauSgabe, diese Gestalt erst herzustellen. Der Kanon muß geschöpft werden au» dem Genius der Werke, wie ihn die Herausgeber nachzuempfinden und sich eigen zu machen imstande sind. Hier muß ich nun auf dm früher er« wähnten Punkt zurückkommen, daß e» ein Uebelstand ist, wenn die Her« auSgeber bet den Dichtungen und verwandtm Erzeugniffen sich nicht über die Darstellung de» Geniu» dieser Werke durch Wortbildung, Wort« schreib»«- und Interpunktion verständigen, sondern jeder sein eigene» abweichende» Verständniß und Sprachgefühl zur Geltung bringt. Die Textgestalt der poetischen Werke in der SophienauSgabe Üegt un» bi» jetzt vor für den ersten Theil der lhrischm Gedichte und für den ersten Theil deS Faust. Diese Faustbearbeitung, sowie die besondere Aus­ gabe de» Urfaust, beide von Erich Schmidt besorgt, will ich später in einem eigenen Artikel behandeln. Jetzt will ich mich auf die Bearbeitung de» ersten Theile» der lyrischen Gedichte beschränke», welche der verdien­ teste aller Goetheforscher, Gustav von Loeper, besorgt hat. Die willige Anerkennung diese» Berdienstc», noch mehr der stet» nur auf die Sache gerichtete Eifer diese» trefflichen Manne» wird mir den Freibrief für die

72

Goethes Werke.

Aeußerung verschiedener mehr oder minder geringer Ausstellungen ver­ schaffen. Gustav von Loeper ist der verdiente Verfasser einer bereit» vor fünf Jahren bei Gustav Hempel zu Berlin erschienenen Ausgabe der Goethe« scheu Gedichte mit Anmerkungen. Er konnte also die frühere Arbeit der jetzigen zu Grunde legen, er hatte sie nur zu kürzen und außerdem die In den letzten fünf Jahren etwa hinzugekommenen Aufschlüffe zu benutzen. Auch wir können unS auS den früheren „Anmerkungen" Raths erholen, wo un» die jetzigen „Lesarten" etwa im Stich laffen, nicht ohne die An­ merkung unsrerseits, daß die „Lesarten" für sich ein Ganzes bieten müssen. In den früheren „Anmerkungen" ist überall der nöthige Aufschluß über die Entstehungsdaten gegeben. Diese Aufschlüffe hätten mit geringen Kürzungen sollen in die SophienauSgabe übergehen, wie sie e» in einigen, nur zu wenigen Fällen auch gethan haben. Nun einige Einzelheiten. Da» Gedicht „Stirbt der Fuchs, so gilt der Balg", beginnt in der SophienauSgabe: „Nach Mittage saßen wir u- s. w."

Da fällt mir ein, wie im Jahr 1850 und folgende bei Cotta die schöne Ausgabe in dreißig Bänden erschien. Der ungenannte Bearbeiter war Heinrich Düntzer. Bet jedem Band schüttete Salomon Hirzel in Zarncke» literarischem Centralblatt über diesen Ungenannten Eimer von Sarkasmen au». Namentlich bekreuzigte er sich über da» „unglückliche musikalische Gehör, was dieser Mann hat". Endlich ließ Düntzer einen ganzen Band Kartons mit einem Vorwort drucken, worin er sich gekränkt vertheidigte, aber beinahe allen Ausstellungen nachgab. Er war von Hirzel auch wegen de» „nach Mittage" verspottet worden. Aber hier blieb der sattelfeste Schulmeister fest. Er sagte: eine Präposition mit dem Dativ ist kein Adverb, Adverb wird nur vom Genitiv gebildet, nachmittag» das geht, aber Nachmittage geht nicht. So muß wohl auch Loeper gedacht haben, aber er hat Unrecht. Da­ musikalische Gehör entscheidet, und sein Spruch würde gelten, auch wenn e» eine sonst nicht vorkommende Wortbildung geschaffen hätte, wovon wir ja Beispiele bei Goethe finden. Aber jene» Nachmittage ist nicht einmal ein Hapaxlegomenon. Die Präpositionen mit dem Dativ und adverbialem Charakter finden sich unzählig in unserm Sprachgebrauch: nach Tische, vor Tische, bei Tische, bei Leibe, bei Gott(e) u. s. w. Ja, wird Loeper sagen, da wird aber nirgend» die Präposition mit dem Hauptwort zu einer einzigen Wertform verschmolzen. Hin und wieder ist die» aber doch wohl geschehen, z. B. mit bei Leibe, beileibe, und die Ausgabe letzter Hand

Goethe- Werke-

73

schreibt, so viel ich weiß, stet- imstande für im Stande. Da geht Nachmittage noch viel eher und ist hier durch die Melodie ohne weitere- geboten. Ich schlug die entsprechende Form in der bekannten Fauststelle auf und sand bei Erich Schmidt: „Will Nachmittage wiederkommen.-

Bravo, Erich Schmidt! Aber er verdient doch Tadel, weil er seinen Kollegen nicht bekehrt hat. Da- ist so ein Fall, wo die Herausgeber sich über die Darstellung der Wortbildungen verständigen müßten. Jetzt aber weiter. In dem Gedicht „Frühzeitiger Frühling" lesen wir: Tage der Wonne, Kommt ihr sobald? Schenkt mir die Sonne, Hügel und Wald?

Da» Komma hinter Wonne steht in allen Handschriften und Drucken, also ist e- vor der Philologie gerechtfertigt. Aber e- schimpfirt da» Ge­ dicht, und so ist e» nicht gerechtfertigt. Welch ein kläglicher Gedanke, zu dem da- Komma zwingt, die Sonne al- Akkusativ und die Tage al» Geber der Sonne aufzufassen! Da- ganze Gedicht widerspricht dem, welche- alle Erscheinungen de» Frühling» nicht al- Wirkungen der Tage, sondern al» selbständige Erscheinungen und daher die Tage der Wonne al» Wirkung dieser Erscheinungen auffaßt. In dem Gedicht „Rastlose Liebe" treffen wir wieder auf eine alte, aber abscheuliche Le-art: Wie soll ich pichen? Wälderwart- ziehen?

Herder in seinen durch die vortreffliche Austastung de- Texte» so werth­ vollen Abschriften hatte bereit» da» richtige: Wie! Soll ich fliehen? WAderwärtS ziehen?

In der Hempelau-gabe hatte Loeper wenigsten- ein Komma hinter wie. Warum nun in der SophienauSgabe die alte, offenbar nur au» Flüchtig­ keit hervorgegangene Entstellung? Man denke sich doch Goethe da- Ge­ dicht recitirend, und man wird die Unmöglichkeit fühlen, die Frage in einem quomodo zu suchen, anstatt in einem quid? In dem Gedicht „Trost in Thränen" fällt In Zeile 12 auf: „ Vertraue den Verlust."

In der Hempelau-gabe werden wir belehrt, daß diese Form sich au» Goethe- Handschrift herschreibt. Da- sollte die SophienauSgabe auch bemerken, weil man sonst zu leicht an einen Druckfehler denkt. Denn wer entsinnt sich gleich, daß „vertraue" hier für „anvertraue" zu verstehn? In dem Gedicht „Weltseele" führt unS die SophienauSgabe wieder

Goethes Werke.

74

den Hiatus vor Augen, bei dem sich Einem die Kehle im Halse umdreht,

Zeile 10:

„3n< Weit' trab Weitr' hinan." Da sich die Lesart „In- Wett' und Weit' hinan" schon gut bezeugt findet,

so brauchte selbst die Philologie un» nicht die Kehle umzudrehea. In den „Lesarten" ist die erste Gestalt de- Gedichte- „An den Mond"

mltgetheilt, aber nicht mit der vortrefflichen Herderschen Lesart in Zeile 12:

.Hallet ihr wie ein Gespenst" durch welche die erste Gestalt erst begreislich und schön wird.

AuS der

HempelauSgabe ersehen wir freilich, daß Loeper diese- „Hallet" für ein unleserliche» „Haltet" ansehen zu müssen glaubt.

die Trefflichsten und Gescheitesten unbegreiflich. die Geschmacklosigkeit zutrauen,

Manchmal sind eben Wer will dem Dichter

daß er die unglückliche Selbstmörderin,

die todte Laßberg, und die vergötterte Stein al- gemeinsame Halterinnen

angeredet habe?

Dagegen ist die Ausdrucksweise wahr und hochpoetisch,

die einem erschütternden Ereigniß nachhängende Stimmung al- nachhallen, hallen zu bezeichnen, und der Kampf gegen diese gefährliche Stimmung

bildet den Schluß des Gedichts.

Wenn da» Hallen von einer Unglücks­

that die Folge hoffnungsloser Liebe ist, so wird die Heilung in einer männlichen Freundschaft gesucht.

Doch genug der Einzelheiten. Herausgebern zu zeigen,

daß

Ich habe sie nur erwähnt, um den

e- zahlreiche,

liebevolle Begleiter ihrer

Arbeit giebt, deren erster Widerhall nur eilige Besprechungen sein konnten.

Noch eine allgemeine Bemerkung hinsichtlich der Schreibung.

Jakob

Grimm hat un» so schön und nachdrücklich den häßlich störenden Apostroph

verwiesen.

Im vorigen Jahrhundert hat ihn eine pedantische Laune zu­

erst eingeführt und so findet ihn die Philologie in Goetheschen Handschriften und

ersten Drucken.

Mußte er

wirklich detbehalten werden und un»

überall die Kleinodien entstellen, in denen Kunst und Natur untrennbar Ein- geworden?

Mußten malen und Maler wirklich geschrieben werden

wie da» Mahlen de» Müller-,

in

Beibehaltung

einer veralteten und

überflüssigen Schreibung?

Alle Fragen fasse ich zusammen in der Einen: ist e» die Pflicht der

Sophienau-gabe, un- Sinn und Melodie der Goetheschen Dichtung mit den un» gemäßen Mitteln so entsprechend al» möglich zu versinnlichen,

oder ist e» ihre Aufgabe, un- die Dichtung in ihrem wechselnden, un­ sicheren, zuweilen den wahren Sinn und Klang verdeckenden Aeußeren

mit philologischer Treue nach der für den Philologen achtbaren Bezeugung vor Augen zu führen?

Constantin Rößler.

Politische Correspondenz. Die Getreide-Zölle und die Kartell-Parteien.

Der wichtigste Punkt für die Beurtheilung der erneuten Erhöhung der Getreidezölle ist die Thatfrage: rxistirt ein landwirthschastlicher Nothstand oder

nicht?

Männer, deren bona fides keinem Zweifel unterliegen kann, habe«

diesen Nothstand bestritten.

Dennoch kann er unsere- Erachten- für Niemand

zweifelhaft sein, der sich einigt Zahlen und einige vor Aller Augen liegende

Berhältniffe mit Unbefangenheit klar macht.

Al- im Jahre 1885 die größere

Hälfte der »ationalliberalen Partei für 30 Mark Zoll auf die Tonne Roggen

und Weizen stimmte, da stand der RoggenpreiS in Berlin auf etwa 140, der Weizenprri» auf etwa 160 Mark (pro Tonne). so

Diese Preise wurden also al­

gesährlich für die Landwirthschaft angesehen, daß man den bestehenden

10 Mark Zoll noch 20 Mark hinzufügte.

Im Herbste de» Jahre» 1887 kostete

nun der Roggen 120, der Weizen noch nicht 150 Mark und diese Preise be­

deuten noch nicht ganz da» natürliche Niveau, soudern waren etwa» zu hoch, weil man mit großer Bestimmtheit binnen Kurzem die Zollerhöhuug erwartete.

Man darf darauf hin wohl noch nahezu 10 Mark absetzen.

Trotz der 30 Mark

Zoll waren also die Preise für die beide» Hauptgetreidearten noch sehr erheb­

lich geringer, al- im Jahre 1885.

Ei« Theil der Differenz wird dadurch au-»

geglichen, daß die Ernte de- Jahre» 1887 besser war al- die de- Jahre» 1885;

aber Niemand hat behauptet, daß auch nur entfernt (da auch 1885 eine keines­ wegs schlechte Ernte hatte) die beiden Faktoren sich gegenseitig ausheben.

Da

nun ferner in fast allen anderen landwirthschastlichea Produkten annähernd

ähnliche, in manchen, wie Spirit»»*) und Zucker noch schlechtere Berhältaiffe obwalten, so kann sich Niemand, der 1885 einen landwirthschastlichen Schutz­

zoll für geboten hielt, der Consequenz enlziehen, daß eine Berstärkung diese»

Schutze- uicht nur ebenso, sonder» »och um so viel nothwendiger fei, al» die Preise heute noch niedriger sind al- damals.

*) Bon den Vortheilen, welche da» Branntweinsteuer-Gesetz den Brennern zudachte, ist ihnen bisher noch nicht» zu Gute gekommen. Theil» ist der Weltmarktpreis noch immer weiter gesunken, theil» ist die Differenz der beide« Steuerportioue» nicht voll zu realisiren.

76

Politische Eorresponhenz.

Der einzige Einwand, der erhoben werden könnte, ist, daß die Verhältnisse de- laufenden Jahres zufällige seien, daß vielleicht schon im nächsten Jahr die Preise wieder eine Höhe erreichen, bei denen, wenigsten- mit Hülfe de- Zollevon 30 Mark, da- GroS der Landwirthe sich zu halten vermag. Diese Mög­ lichkeit ist gewiß nicht völlig abzuleugnen. Krieg oder sonstige Weltereigniffe können die Preise so sehr in die Höhe treiben, daß sogar die alten Zolle auf­ gehoben werden müssen. Mit solchen außerordentlichen Dingen aber hat die Gesetzgebung zunächst nicht zu rechnen. Wir haben einfach zu fragen, ob aller menschlichen Wahrscheinlichkeit nach die Gründe, welche den derzeitigen Zustand herbeigeführt haben, weiter bestehen werden. Da ist zunächst empirisch zu be­ achten, daß die augenblicklichen niedrigen Preise keineswegs bloß dem laufenden Jahre eigenthümlich sind, sondern daß wir uns seit einer Reihe von Jahren in einer Periode fast unausgesetzt sinkender Preis« befinden, so sehr, daß selbst die starke Zollerhöhung von 1885 fast gar keinen positiven Erfolg hatte, son­ dern nur daS weitere Sinken für einen ganz kurzen Moment aufhielt. Bon dieser Beobachtung haben wir aufzusteigen zu den allgemeinen Gründen dekrankhaften Zustande-. Solcher Gründe kennt man zwei, von denen die Einen diesen, die Andern jenen betonen. Der eine ist die Aufschließung neuer großer Agriculturgebiete durch die modernen Communication-mittel, namentlich in Amerika und Ruß­ land, der andre ist die Demonetisirung deö Silber- in allen Culturstaaten resp, die Werthsteigerung de- Golde-, de- allgemeinen WerthmefferS. Wie man auch über diese beiden Erscheinungen denken mag, sicher ist, daß in beiden eine baldige Aenderung nicht zu erwarten steht. Gerade zur rechten Zeit für die Verhandlungen im Reichstag — wenn auch in viesen kaum er­ wähnt — ist ein vortreffliche- eingehende- Werk über „Die landwirthschaftliche Konkurrenz Nordamerika-" von Professor Max Gering*) in Bonn erschienen, welche- zu dem Schluß kommt, daß diese ruinöse Concurrenz zwar nicht mehr sehr lange, aber doch noch auf einige Zeit anhalteu würde. Bi- aller frucht­ bringende Boden in Amerika unter den Pflug genommen sei, darüber könnten zwar noch 40—50 Jahre vergehen, aber die Preise de- Getreide- seien nun­ mehr so tief gesunken, daß selbst hier auf dem jungfräulichen Boden die ProductionSkosten nicht mehr gedeckt werden. Einige Besserung sei also mit der Zeit, indem da- Bedürfniß der wachsenden Volt-menge der Produktion nach­ kommt, zu erwarten, aber nicht eher. Der augenblickliche Preisdruck ist also nicht als ein vorübergehender Mo­ ment zu betrachten und damit ist zum wenigsten für alle Diejenigen, die 1879 und 1885 für die Getreidezölle gestimmt haben, die Confequeuz unabweisbar.

*) Die landwirthschaftliche Konkurrenz Nordamerika- in Gegenwart und Zukunft. Landwirthschaft, Kolonisation und Verkehr-wesen in den Vereinigten Staaten nnd in Britisch-Nordamerika. Auf Grund von Reisen und Studien dar­ gestellt von Max Gering. Leipzig, Duncker u. Humblot. 1887. 759 S.

Politische Lorrespoudeuz.

77

daß zur Zeit bei noch viel schlechteren Verhältnissen auch noch höhere Zölle aldamalS erforderlich sind. Dem steht nun folgende Betrachtung gegenüber. Hohe landwirtschaftliche Schutzzölle sind, wenn auch für den Augenblick nothwendig, immer eine große Gefahr. Auf die Dauer sind sie niemals aufrecht zu erhalten. Entweder der niedrige Weltmarktpreis bleibt bestehen, dann wird sich im Ausland der Arbeits­ lohn'solchen niedrigen Preisen allmäblig accomodiren und so die Concurreuzverhältniste für unsere Industrie verschlechtern. Oder aber der Weltmarktpreis für Getreide geht in die Höhe, dann wird daS landwirthfchaftliche Interesse im Laude suchen, den Zoll langer aufrecht zn erhalten, als er berechtigt ist; eS wird dann dasjenige wirklich eintreten, was die Freihandelspartei jetzt mit Un­ recht behauptet, daß nämlich die Landbesitzer sich auf Kosten der Allgemeinheit durch die Zölle bereichern. WaS wäre also angesichts dieser Lage die Aufgabe deS staatsklugen Führereiner Partei gewesen, die weder den bestehenden Landbesitzerstand wirtschaftlich zu Grunde gehen lasten will, noch sich dem Verdacht auSsetzen, einseitige agra­ rische Interessen zu befördern? Ostenbar folgende: für den Augenblick möglichst hohe Zölle zu creiren, um möglichst viel Familien zu retten; für die Zukunft aber Garantien zu schaffen, daß die Zölle niemals gemißbraucht werden können. In den verschiedensten Formen lasten sich solche Garantien denken. Man könnte nach Analogie deS Socialistengesetzes die Zölle nur auf wenige Jahre bewilligen, damit immer in kurzer Frist der Reichstag von neuem prüfen kann, ob sie noch vonnöthen sind. Oder man könnte den BuudeSrath verpflichten, bei einer be­ stimmten Preishöhe, deren Eruirung seinem Ermessen anheim gegeben würde, den Zoll wieder aufzuheben. Oder man könnte die Wiederaufhebung an eine schon jetzt fest formulirte Bestimmung über die PreiSgrenze, anknüpfend an die osficiellen Börsennotirungen binden. Speciell die Durchführbarkeit diese- Vor­ gehen- ist uns von fachmännischer Seite versichert worden und Sering, der gewiß ein vortrefflicher Kenner ist, hält sogar da- alte englische System der gleitenden Scala trotz all' seiner Mängel für anwendbar (S. 590). Auch noch andere Garantien rein politischer Natur wären denkbar. Bon alledem aber ist nicht- geschehen. Man hat statt dessen den traurigsten aller Auswege ergriffen, nämlich den Zoll statt auf 60 M., wie ihn die Regierung vorschlug, auf 50 Mart zu normiren; mit andern Worten: so niedrig, daß er den Land­ wirthen eine vielfach nur ungenügende Hülfe bietet und doch so hoch, daß er im Fall einer Theuerung eine ungeheure politische und sociale Gefahr einschließt und vom ersten Augenblick an der demagogischen Agitation den herrlichsten Stoff bietet zur Ausmalung de- Bilde- von der neuesten socialpolitischen Idee, der „Bewucherung deS Hungers". Schwächlicher und ungeschickter zu verfahren, war in der That nicht möglich. In dieser sachlichen Verkehrtheit sehen wir aber noch nicht den größten Schaden. Biel wichtiger und viel schädlicher erscheint un- die Rückwirkung auf unser politische- Parteileben. Als daS Kartell geschloffen war und seinen glänzenden

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Politische Korrespondenz.

Sieg erfechten hatte, da sprach einer unserer verehrten Mitarbeiter an dieser Stelle die Hoffnung au-, daß auS dem momentanen Bündniß sich eine dauernde Parteiverbiuduug entwickeln möge, welche für die Zukunft die deutsche Politik bestimme. Wir fügten diesem Au-spruch damals sofort hinzu, daß wir den Wunsch und die Tendenz desselben naturgemäß theilten, daß wir aber auf die Verwirklichung keine Hoffnung hatten. Die Regierung werde vielmehr ab­ wechselnd bald mit dieser bald mit jener Parteicombination sich verbünden, um daS Reich zu regieren. Für daS Ideal eine- stabilen conservativ-liberalen Re­ gimes in Deutschland fehle eS an vielem, vor allem an der genügenden Dis­ ciplin, Führung und Einsicht bei den Nationalliberalen. Nur zu sehr und zu bald hat sich die Voraussagung bestätigt. Man stelle sich vor, welche Stellung daS Kartell im politischen Leben Deutschlands heute einnehmeu würde, wenn die Nationalliberaleu hier einmal Doctrin und Tradition bei Seite setzend mit freiem, entschlossenem Schritt den Conservativen entgegengekommen und ihnen als Pfand dauernder politischer Freundschaft die Sicherung ihres höchsten Lebensinteresse-, Erhaltung der Besttzverhältnisse in der Laudwirthschaft, dargebracht hätten. Für eine Generation wäre damit daS Kartell gesichert gewesen. Der Einfluß deS Centrums wäre vielleicht für immer gebrochen, die böse Neigung im ConservatiSmuS hier den Anschluß zu suchen, erstickt. DaS drohende Ge­ spenst einer Bereinigung der protestantisch-klerikalen Elemente mit den katholischen wäre verscheucht, die Herrschaft deS freien Gedankens in Deutschland, den trotz allem wesentlich die Natioualliberalen repräsentiren, wäre gesichert gewesen. Da­ bei konnte, wie wir sahen, daS Zollgesetz so eingerichtet werden, daß eS die wirthschaftlichen Gefahren für die Zukunst eliminirte. ES war auch nicht ein­ mal nöthig, daß die gesammte nationalliberale Fraktion sich dem Manöver auschloß. Wenn nur ebenso viel wie 1885, etwas über die Hälfte der Fraetion den Conservativen den Pact anbot, so hatte sie daS Heft in der Hand; die Agrarier unter dem Centrum und die Polen hätten reichlich die fehlenden Stimmen gestellt. So leicht war es, der nationalliberalen Partei die führende Stellung im Reichstag zu erhalten und sie für unabsehbare Zeit zu befestigen. Wie haben statt dessen die Herren von Bennigsen und Miquel in diesem entscheidenden Feldzug operirt? Bereit- im Sommer, als der Reichstag noch beisammen war, erkannte die Regierung die der Landwirthschaft drohende Gefahr und beschloß, ihr mit einer neuen Zollerhöhung zu begegnen. Der landwirthschaftliche Minister verkün­ digte es im Abgeorduetenhause. Die Hälfte der Wirksamkeit hing davon ab, daß nunmehr da-, was geschehen sollte, gleich geschah. Zögerte man bi- in den Winter, so entging nicht nur gerade den schwächsten Elementen unter den Laudwirtheu, welche, ihre Production nicht so lange zurückhalten konnten, der ihnen zugedachte Schutz, sondern die Spekulation hatte auch Zeit, solche Massen fremden Getreide- in- Land zu ziehen, daß für da- erste Jahr überhaupt nur eine geringe Wirkung zu erwarten war und von dieser der Hauptvortheil nicht den Laudwirtheu, sondern den Spekulanten zufiel. Dieser Zustand ist eingetreten.

Politische Torrespondenz.

79

weil, wie glaubhaft verlautete, der Führer der nationalliberalen Fraction seine Zustimmung im Sommer versagte

und wegen

de- Zusammenwirken- beim

Branntwein-Gesetz da- Kartell zusammengehalten werden mußte.

Gewiß war

eS der Fehler der Regierung, ihre Absicht zu verkünden, ehe sie sich nach dieser

Seite den Rücken gedeckt hatte; ein unberechenbarer Schaden ist dadurch an­

gerichtet worden.

Aber auch wenn jener Fehler nicht gemacht worden wäre,

die Thatsache, daß durch den Einfluß der Nationalliberalen die Action gegen die Natur der Dinge auf den Winter verschoben wurde, bleibt bestehen.

Mit

diesem von jedem Gesichtspunkt au- schädlichem Inhibitorium war die Thätig­

keit der nationalliberalen Führung

erschöpft.

AlS die Vorlage nun wirklich

kam, spaltete sich die Fraktion und die Häupter hielten sich in schweigender

Passivität abseits.

Kann man erwarten, daß eine Fraction von so wenig Cou-

sistenz und Initiative jemals zu einer dauernd dominirenden Stellung in der

Volksvertretung gelange? Mit dieser Zerfahrenheit vergleiche man nun einmal die Taktik der andern

„Mittelpartei", des CentrumS.

Das Centrum hat ganz dieselben disparaten

Elemente in seiner Compositon, wie die Nationalliberalen, ja eigentlich noch

viel disparatere: eS hat extreme Agrarier und extreme Demokraten in seinen Reihen, die beide unter den Nationalliberalen fehlen. Der Führer selbst, Herr

Wiudthorst, ist „principiell" Freihändler. wie über die Höhe,

Ueber die Berechtigung der Zölle,

über daS Verhältniß der verschiedenen Getreidearten zu

einander, über die UebergangSbestimmungen, wie über den sogenannten Iden-

titätS-NachweiS gingen die Meinungen im Centrum so weit

irgend wo anders.

auseinander wie

Die FractionS-DiSeiplin hat da- alle- überwunden.

So­

bald sich zeigte, daß die Nationalliberalen nicht den Muth hatten, da- dornige Ding anzupacken, griff mit, man muß fast sagen, mit kecker Hand Herr Windt-

horst zu und binnen Kurzem war er eS, der die Situation beherrschte. Er hat sich um die Conservativen ein Verdienst erworben und er hat sie zugleich seine Waffen fühlen lassen.

Nur gerade daS Nothdürftigste hat er ihnen bewilligt

und doch gezeigt, waS feine Bundesgenossenschaft werth ist.

Noch kein Jahr

ist vergangen seit der zerschmetternden Wahlniederlage und Herr Wiudthorst fungirte wieder als Führer des Hauses.

Nun werden darum doch wieder bei nächster Gelegenheit auch die Kartell­ parteien zusammenwirken.

Schon bei der Frage der Verlängerung der Legis­

laturperiode wird Herr von Bennigsen wieder als Führer deS Haufe- auf­ treten.

Ja schon bei der Berathung der neuen Wehrvorlage, obgleich hier ja

eine eigentliche Führung nicht stattfand, war doch der Eindrvck und man möchte sagen, der Klang und derWiderhall seiner Rede wie der der Ansprache eine- Führer-. In diesem Tone wurde sie gehalten und so wurde sie im ganzen Hause aus­

genommen.

Nicht- wäre daher unrichtiger, al- von Sprengung deS Kartells

zu sprechen: aber eS gab von Anfang an zwei Auffassungen deS Kartells, die Einen sahen darin den Keim der zukünftig regierenden Partei, die Anderen eine

bloße Parteiverbindung für bestimmte Gebiete und diese letztere Auffassung hat

Politische Lorrespondenz.

80 Recht behalten.

Die letzte Möglichkeit, wenn sie überhaupt existirte, alle besten

Elemente der Bildung und nationalen Gesinnung zu einer geschloffenen Macht zusammenzufaffen, ist vorübergegangen und verloren.

Um sich völlig klar zu machen, daß eS wirklich die nationalliberale Partei ist, welche die Schuld an dieser immerhin beklagenswerthen Entwicklung trifft, und nicht etwa ein unvernünftig übertriebener, moralisch unerfüllbarer Anspruch

der Conservativen und der Regierung, braucht man sich bloß den Zustand aus­

zumalen, in dem wir heute wären, wenn wir garkeine landwirthschastlichen Denn principiell liegt die Frage doch allein da: sind über­

Schutzzölle hatten.

haupt unter Umständen hohe Schutzzölle selbst auf das Brodkorn gerechtfertigt? Wird diese Frage erst bejaht, so kann die respective Höhe eine unübersteigliche

Schwierigkeit nicht mehr bieten.

sind bereit- ein hoher Zoll.

Auch die bisher bestehenden 30 Mark Zoll

ES mag sein, daß eS Jemand für unmöglich

hält, für solchen Zoll zu stimmen.

Wer aber unter gewiffen Umständen 30

für richtig hält, dem können nicht unter allen Umständen 60 als eine Unmög­

lichkeit erscheinen.

Diese Steigerung ist eine Kleinigkeit gegenüber der Creation

deS Zolles selbst.

Hätten wir also heute keine Zölle, so wären wir in dem

Zustand, daß seit einer Reihe von Jahren, mit kurzen Ausnahmen, alle Land­

wirthe für ihre Producte Preise erhalten, die allmählich fast bis auf die Hälfte der früher als normal geltenden angelangt wären.

Für den Roggen*) würden

sie nicht 120, sondern 70—80 Mart (pro Tonne) erhalten, ein Preis, der (im

jährlichen Durchschnitt) einmal im Jahre 1849,

1837 existirt hat.

120 und 200 Mark bewegt,

247 Mark gestiegen.

kommen,

dann erst wieder im Jahre

Sonst hat sich der Preis in dieser Periode meist zwischen ist oster

über 200 Mark,

einmal (1868) auf

Für Weizen würde der Landwirth etwa 120 Mark be­

ein Preis, der (im jährlichen Durchschnitt) wieder bis 1837 nicht

existirt hat; sonst hat er sich meist zwischen 150 und 240 bewegt und ist ein­

mal (1868) auf 330 Mark gestiegen.

Annähernd ebenso ist eS mit allen an­

deren landwirthschastlichen Producten, seit den letzten Jahren sogar mit Fleisch

und Butter.

Unsere sämmtlichen Landwirthe wären also auf nahezu die Hälfte

ihrer gewohnten Brutto-Einnahme reducirt.

Man mag daneben in Gegen­

rechnung stellen so viel man will, niedrigere Preise im Einkauf, Niedergang

deS Zinsfußes, selbst Heruntergehen der HauptauSgabe, der Löhne, obgleich erfahrungSmäßig diese nur sehr schwer und langsam von einem einmal erreichten Niveau herabsteigen: dennoch würde für die ungeheure Mehrzahl der Landwirthe eine Netto-Einnahme überhaupt nicht geblieben sein.

Wir würden also ohne

die Zölle einen Besitzwechsel erlebt haben, wie ihn die Welt kaum je gesehen hat;

die große Menge unserer Rittergutsbesitzer und Bauern hätte von den alt­

ererbten Sitzen abziehen muffen; die Hypothekenbesitzer,

also wesentlich der

jetzige Kaufmanns- und Rentnerstand, wären in den Besitz eingerückt oder

*) Die Zahlen nach Francke „Deutschlands Getreidehandel Zeitschr. d. Kgl. Preuß. Statist. Bureau- 1887.

und

Getreidepreise".

Politische Torrespondcnz.

81

hätten die bisherigen Eigenthümer als Pächter weiter wirthschaften kaffen. Auch die bestehenden socialen Berhältniffe würden damit um und umgekehrt werden. Die materielle und moralische Verwüstung, welche diese Umwälzung, diese Zerstörung zweier großen GesellschaftSschichten, deS Gutsbesitzer- und Bauern­ standes begleitet hätte, die Devastirung der Güter, di« Lohnkämpfe, die socialen, politische« und ethischen Nachwirkungen wären unberechenbar geworden. DaS einzige Land, welche» nicht zu dem Hülfsmittel des Schutzzoll» gegriffen hat, England, hält seine socialen Berhältniffe dadurch aufrecht, daß die Masse deS Grundbesitze- in wenigen sehr starken Händen und nach Art der Fideikommisse festgelegt ist. UnS hat der Schutzzoll vorläufig vor der Katastrophe bewahrt. Ein Theil der Nationalliberalen hat sich seiner Zeit daS Verdienst erworben, an der Er­ richtung diese» DammeS mitzuarbeiten. E» konnte keine bessere« sachlichen Gründe, verbunden mit den stärksten taktischen Gründen, geben, auch diesmal sich an der Arbeit zu brtheiligen. Man hat eS nicht gethan. Die Behauptung, unter deren Schutz sich diese Action vollzog, ist, daß wirthschaftliche Fragen keine politischen Fragen seien. Diese Behauptung aber ist eine Fiction; jede Seite der Geschichte unserer Parteien lehrt eS und die Folgen de» neuesten Zollgesetzes werden e» in der unerfreulichsten Weife abermals lehren. D.

Kolonialpolitische Korrespondenz. Südwestafrika.

Ende Dezember.

Auf dem Gebiete der jungen deutschen Kolonialpolitik haben sich in den letzten Wochen eine Reihe sehr bedeutungsvoller Ereignisse abgespielt. — Unsere Oktoberkorrrspondenz, welche am Schluffe auf die große Wahrscheinlichkeit de» Vorhandensein» von Gold und Diamanten im Hererolande hinwicS, war kaum geschrieben, al» der Telegraph die Meldung übermittelte, daß das bi» dahin nur vermuthete Gold soeben wirklich gefunden worden sei. Diese Thatsache hat mit einem Schlage die Aussichten jenes bisher soviel bespöttelten Landes und der deutschen Kolonisation daselbst von Grund au» verändert. Noch im November war das einzige äußere Merkmal der deutschen Schutzherrschaft in Südwestafrika der Reich-kommissar Dr. Göring, welcher einsam zu Pferde da« Land durchstreifte, jagte oder mit den Häuptlingen gelegentlich Verhandlungen führte. Die eigentliche Besitzerin deS Gebiete», die deutsche Kelouialgesellschaft, hatte ihre Ochsenwagen verkauft, den letzten Bevollmächtigten längst abberufen, verwaltete ohne ein Lebenszeichen zu geben den Rest deS Kapitals in Berlin und wies jede- Drängen z« energischer Thätigkeit ironisch ab. Bon Zeit zu Zeit veröffentlichte sie Berichte über daS Schutzgebiet und ihre Thätigkeit, welche der prinzipiellen Opposition den besten Stoff zu lautem Hohne gaben und auch die Frennde überseeischer Erwerbungen gründlich abzuschrecken geeignet waren. Preußische Jahrbücher. Bd. LXL Heft 1.

ß

82

Politische Lorrelvonbenz.

Mittlerweile lagen die Eingeborenen in unendlicher Fehde. Immer aufS neue fiel der für Jan Jonker kämpfende Hendrik Witboi mit seinen Hottentotten im Gebiete MahareroS ein, trieb die Rinderheerden weg und stahl auch gelegent­ lich des ReiLSkommissarS Pferde, wahrend die HereroS mit Sengen und Morden sich zu rächen suchten. Der Handel und Verkehr erloschen im Schutzgebiete unter solchen Umstanden fast vollständig; die Missionare, oft in Lebensgefahr, bestürmten ihre Gesellschaften und daS Reich mit Bitten um Hilfe. Ben einer genauen wiffenschaftlichen Erforschung deS ungeheueren Gebietes, von der Er­ richtung einer auch noch so kleinen Truppenmacht, welche nach sachverständigem Urtheil im Stande sein würde, den Frieden aufrecht zu erhalten, war gar keine Rede mehr. Man begrüßte eS daher allgemein als ein höchst erfreuliches Ereigniß, als im Frühling dieses Jahres eine Handelskompagnie sich bildete, welche 'so viel Vertrauen in daS Schutzgebiet setzte, daß sie für Absendung von Expeditionen und die Ausbeutung des Vieh- und Fischreichthums der Kolonie Geldmittel aufwendete. Schien eS doch wenigstens der Anfang zu einer wirtschaftlichen Ver­ werthung de- großen, nach dem Urtheil aller, die dort gelebt haben, überaus gesunden und nichts weniger als unfruchtbaren Landes. Wo nämlich für regel­ mäßige Bewässerung gesorgt wird, trägt der Boden überraschend reiche Früchte und daS Wasser ist keineswegs so selten und schwer zu beschaffen, wie eS zu­ erst den Anschein hatte. Fast überall ist Brunnengraben von Erfolg begleitet gewesen, selbst im dürren Angra Pequena, und die Herstellung größerer natür­ licher Wasierbecken dürfte nicht allzu schwierig sein. Noch jetzt ist Wild im Lande sehr zahlreich, besonders Antilopen, Zebras, Trappen, Fasane und eö find nicht 40 Jahre her daß noch Elephanten, Flußferde, Löwen und andere große Thiere hier häufig vorkamen. Der Rinderreichthum deS Landes ist be­ kannt. Aber die auf die wcstafrikanische Kompagnie gesetzten Erwartungen haben sich nicht erfüllt. Schon die erste Expedition ist als gänzlich gescheitert anzusehen. Der Berather derselben, der angeblich mit dem Lande vertraute August Einwald, war für diesen Posten völlig untauglich. ES war noch ein Glück, daß er in Kapstadt sich von dem Unternehmen loösagte. Die Führer der Expedition, die Lieutenants von Steinacker waren zwar durchaus ehrenwerthe Leute, entbehrten aber leider jeder kaufmännischen und geschäftlichen Vorbildung und jeder Kenntniß der Verhältnisse. Auch die in Masse ihnen von dem Vorstand der Kompagnie mitgegebenen Tauschartikel erwiesen sich als unbrauchbar. Die Kotillonorden, Kronleuchter, alten Kleider erregten den Spott der Eingeborenen und waren für den Tauschverkehr unverwendbar. Bei den unzureichenden Geldmitteln konnte Herr von Steinäcker an eine Reise nach Ovamboland und dem Ngamisee überhaupt nicht denken. Ja selbst eine Fahrt nach Otahandja war nur nach Aufnahme von Geld zu ermöglichen. Die mit den Verhältnissen Vertrauten stellen der Thätigkeit dieses Herrn, welcher noch allein ein Reise nach dem Sandfischhafen unternommen hat, das beste Zeugniß aus. Die Herrn Zehlicke und Brückner scheinen dagegen von

Politische Lorresponden;.

83

seinen Leistungen sehr unbefriedigt geblieben zu sein, denn sie haben die auf sie ausgestellten Wechsel seiner Zeit zu zahlen verweigert und ihn selbst ab­ berufen, ohne der ihm zugesicherten freien Rückreise und der Lösung seiner für sie als Generalbevollmächtigter eingegangenen Verbindlichkeiten auch nur Er­ wähnung zu thun. Herr von Steinäcker hat darauf das Eigenthum der Kom­ pagnie mit Beschlag belegen lassen. Man kann sich ohne besondere Phantasie vorstellen, welchen Eindruck dieser Gang der Dinge im Schutzgebiete gemacht hat. DaS Vertrauen auf die Zukunft der Kompagnie ist natürlich noch mehr gesunken und auf die seitdem mit einem alten Hamburger Schooner abgesandte Expedition, welche der Kapitain BoShard führt, wird auS guten Gründen auch nicht viel Hoffnung gesetzt. Unter solchen Umständen war selbst der schaffenSmuthige, unermüdliche ReichSkommiffar nahe daran an der Ankunft deS Unternehmens zu verzweifeln als Ende Juli eine australische Diggergesellschaft in Walfischbai eintraf. Der Führer derselben, ein gewisser Stevens, war der Sohn eines Arbeiters, welcher bei der vor mehr als 30 Jahren mit Abbau einer Kupfermine im Hererolande beschäftigten Gesellschaft angestellt gewesen war. Ein glücklicher Zufall hatte ihn damals beim Schürfen nach Kupfer auf einer Felseninsel deS SwakopfluffeS ein reich mit Gold durchsetztes Gestein finden lassen. Er hielt seine Entdeckung geheim, da es ihm aber an Mitteln fehlte dieselbe selbst zu ver­ werthen, ging er nach Australien, wo er in den Goldfeldern eine gute Anstellung fand. Oft erzählte er seinen Söhnen von dem Goldfunde, beschrieb ihnen den Platz und ermahnte sie noch auf dem Sterbebette nach dem Hererolande zu reisen. Der älteste Sohn unternahm eS den letzten Wunsch deS VaterS aus­ zuführen. Begleitet von 4 andern DiggerS trat er die weite umständliche Reife nach Kapstadt an und hörte hier zu seinem Erstaunen, daß das Ziel seiner Fahrt mittlerweile in deutschen Besitz gekommen sei. Er suchte daher den Vertreter der Berliner Kolonialgesellschaft in Kapstadt auf und trat mit ihm in Verhandlung, die bei dem geringen Interesse der Gesellschaft für diesen Besitz raschen Erfolg hatte. Die Digger erhielten Erlaubniß zum unbeschränk­ ten Schürfen und die Zusicherung eines KlaimS von 250 UardS im Geviert an jedem Fundorte. Ein Handelshaus in Kapstadt schoß im Vertrauen auf den Erfolg der Digger ihnen weitere Geldmittel vor, worauf sie die Reise nach Walfischbai fortsetzten. Hier sanden sie beim ReichSkommiffar vollstes Entgegen­ kommen und Unterstützung. Er stellte ihnen sogar seine eignen Pferde zur Verfügung. Bald fand Stevens die Stelle auf, welche den Schilderungen seines VaterS zu entsprechen schien. Auf der Spitze eines Hügels, welcher eine kurze Strecke von Otyimbingue entfernt mitten in dem zur Sommerszeit aller­ dings trockenen Bette des SwakopfluffeS liegt, begann er zu graben und schon in einer Tiefe von 3 Fuß stieß er auf ein Quarzriff, welches einen reichlichen Goldgehalt zeigte. Ermuthigt durch den über Erwarten raschen Erfolg wurde noch an anderen Stellen eingehauen, auch dort mit Erfolg. Bald führten die Eingebornen, nachdem sie erst die Beschaffenheit deS goldführenden Gesteins 6*

Politische Correspondenz.

84

kennen gelernt hatten, die Digger noch zu andern Stellen oder brachten ganze Säcke reichlich goldhaltiger Erze von noch unbekannten Orten.

Die /Digger

waren von ihrem Glücke förmlich berauscht, sie sprachen nur noch von den

Millionen von Pfunden, welche der Boden an Gold berge und auch Dr. Göring

war hocherfreut in der Hoffnung daß für das Land, dem er bereits einige Jahre seines Lebens geopfert, jetzt eine andere Zeit anbreche.

Er entschloß sich zu­

sammen mit Stevens selbst wieder nach Kapstadt zu reisen,

die Angelegenheit energisch zu betreibenihre Klaims auszubeuten,

um von dort aus

Die Digger besitzen nicht die Mittel

englisches Kapital ist zwar bereit ihre Rechte zu

kaufen, aber sie ziehen vor zunächst mit der Deutschen Kolonialgesellschaft als der Eigenthümerin des Haupitheils der Goldadern in Verhandlung zu treten.

Bei der Schwierigkeit und Langwierigkeit des Schriftwechsels zwischen Kap­

stadt und Berlin benutzte Dr. Göring einen längeren Urlaub, um selbst mit

dem ersten Schiff nach Deutschland zu reisen, die Goldproben zu überbringen

und die Entschließungen der Kolonialgesellschaft zu beschleunigen. Man weiß welches freudige Erstaunen die ersten telegraphischen Meldungen

von den Goldfunden in Deutschland erregten.

Die Kolonialgesellschaft wurde

durch sie wenigstens insoweit aufgerüttelt, daß sie in der Presse gegen die Reelameartikel der westafrikanischen Kompagnie vorging.

Aber zu wirklich er­

sprießlicher Thätigkeit entschloß sie sich erst als Dr. Göring in Berlin erschien

und in beredter Weise die durch die Goldsunde eröffneten Aussichten, sowie die

Stimmung im Schutzgebiete und im Kaplande schilderte und darlegte, was zu­ nächst zu thun unerläßlich sei.

zember eine Sitzung

Es wurde nunmehr für Freitag den 16. De­

des Aussichtsrathes der Kolonialgesellschaft anberauutt.

Unter zahlreicher Betheiligung in Anwesenheit der Geheimen Räthe des Aus­

wärtigen Amtes Dr. Krauel und Dr. Kayser sowie des Reichskommissars wur­ den dabei in 4 stündiger Sitzung alle Seiten der Angelegenheit gründlich er­

örtert.

Man gelangte zur Einsicht, daß die Grundlage aller definitiven Schritte

eine genaue fachmännische Untersuchung des Landes sein müsse, ausgesührt von einem mit den Verhältnissen in Goldländern vertrauten Bergingenieur.

Der

Beschluß kam zustande, für diesen Zweck sogleich einen größeren Theil des Ge­

sellschaftsvermögens aufzuwenden.

Für nicht weniger nothwendig erkannte man

nun auch die Bildung einer kleinen bewaffneten Macht, welche den Frieden

zwischen den Eingebornen aufrechthalten und Ruhestörer strafen soll.

Nach

den Ausführungen der Sachverständigen läßt sich dieser Zweck durch die An­ stellung einiger Unteroffiziere als Instruktoren, welche geeignete Eingeborne zu Soldaten ausbilden, genügend erreichen.

deur der Truppe genügen.

Ein Lieutenant dürfte als Komman­

Von dem Antrag auf sofortige Ertheilung eines

kaiserlichen Schutzbriefes nahm die Gesellschaft einstweilen Abstand.

Ehe der

Goldreichthum des Landes und seine sonstige Verwerthbarkeit genügend festgestellt sind, würden die durch den Schutzbrief auferlegten Pflichten die Gesell­

schaft unverhältnißmäßig belasten.

Ueberdies ist auch eine komplicirtere staat­

liche Verwaltung des Schutzgebietes zur Zeit nicht von Nöthen.

Die Wirk-

Politische Correspondenz.

85

samkeit des Reichskommifsars wird fürs nächste noch völlig ausreichen, zumal wenn ihm eine bewaffnete Macht zur Seite steht und gelegentlich einmal ein

Kriegsschiff an der Küste erscheint und Truppenabtheilungen, welche einen der Hauptorte besuchen, landet.

Das alles aber würde nichts helfen, wenn nicht

zugleich eine kapitalkräftige Gesellschaft in Deutschland besteht, welche sich mit den Diggern verständigt und die Ausbeutung der Goldminen nimmt.

in die Hand

Dieser wichtigste Schritt ist gleichfalls am 16. insbesondere aufs Be­

treiben des bekannten Herrn von Lilienthal geschehen.

Der Kölner Millionär

von Oppenheim, Georg von Bleichröder, Bankdirektor Funck aus Mannheim,

Bankier Heymann aus Breslau, Freiherr von Eckardstein, Dr. Hammacher und andere haben sich mit ihm zu einem Konsortium vereinigt, welches sogleich

eine Verständigung mit den Diggern angebahnt hat und eine Bergwerkgesell­ Das Reich wird dieselbe durch beschleunigten Erlaß eines

schaft bilden will.

Gesetzes über die Eigenthums- und Abbauverhältnisse der Goldminen unter­

stützen, eine übrigens nicht leichte Aufgabe, wenn man die gänzliche Unvertraut­

heit unserer Juristen mit dieser Materie in Betracht zieht.



Unter allen

Umständen ist ein vorläufiger Abschluß erreicht und für das südwestafrikanische

Schutzgebiet bricht nach langen Jahren der Wirren und Kämpfe ein neuer Morgen an.

Der einzige Mann aber, der nie das Vertrauen zu seiner Zu­

kunft und seinen Aussichten verloren hat, der Elberfelder Herr Ludwig von Li­

lienthal kann mit Befriedigung auf den Erfolg blicken,

dauer gefunden hat.

den seine zähe Aus­

Wenn noch etwas für diese Kolonie zu wünschen bleibt,

ist es die Abtretung der Walfischbai durch England und die Errichtung einer

regelmäßigen Dampferverbindung mit Kapstadt.

Solange England nämlich

den Haupthafenplatz des Landes in seinem Besitz hat, wird der Handel immer gewissen Unannehmlichkeiten ausgesetzt bleiben und im Falle von Zerwürfniffen

mit England überhaupt in seiner Existenz bedroht sein.

Man darf sich wohl

der Hoffnung hingeben, daß die befreundete englische Regierung jenen für sie

ganz werthlosen Platz aufgiebt, sobald sie sieht, daß Deutschland mit der Kolo-

nisirung Südwestafrikas Ernst macht.

Was die Verbindung der Kolonie mit

Kapstadt anbetrifft, so wird dieselbe zur Zeit nur durch 2 ganz ungenügende kleine Segler besorgt, die je nach den Windverhältniffen oft einen Monat zu der Fahrt brauchen.

Ohne die Einstellung eines Dampfers ist an ernstliche

Bewirthschaftung des Schutzgebietes nicht zu denken. erze

erst reichlich

Sobald übrigens Gold­

gewonnen werden, dürfte eine direkte häufige Verbindung

des Landes mit Europa nöthig sein, da die Verarbeitung der Erze wohl hier

wird erfolgen müssen.

Ostafrika.

Zur Freude aller verständigen Anhänger der Kolonialpoliük sind die Nach­ richten über die Thätigkeit und ziemlich spärlich geworden.

die Erfolge der ostafrikanischen Gesellschaft

Nur gelegentlich verlautet, daß das Netz der Sta­

tionen erweitert und die Anlage von Versuchsplantagen eifrig betrieben wird.

86

Politische Eorrespondenz.

Zur Zeit werden Seiten- verschiedener Deutscher Missionsgesellschaften lebhafte Versuche gemacht, in Afrika festen Fuß zu faßen und die Engländer auch auf diesem Gebiete überflüssig zu machen. Die Errichtung eine- deutschen Kranken­ hause- zu Sansibar ist ebenfalls im Werke. Ueber die Ausführung de- im Sommer zwischen dem Sultan und Dr. Peter- zustande gekommenen VertrageS über die Pachtung der gefamutten FestlandStüste hört man noch nichts. In Wito ist die Lage der Dinge noch immer wenig erfreulich. Die im Sommer durch Gustav Denhard eingerichtete Erhebung von Zöllen an den Gränzen de- Sultanats wird zwar fortgesetzt, findet aber bei den Arabern von Lamu, deren Handel darunter erheblich leidet, und bei dem Vertreter deKolonialvereins vielfachen Widerstand. Die Somalis im Norden sind noch immer unruhig und führen von Zeit zu Zeit Raubzüge nach den Galladörfern auö. Sultan Achmed ist ihnen gegenüber ziemlich wehrlos. Entmuthigt durch viele UnglückSfälle, getäuscht in ihren Erwartungen auf bewaffnete Unterstützung Seitens Deutschlands haben feine Suahelikrieger alle- Selbstvertrauen ver­ loren. Abergläubisch fürchten sie irgend einem bösen Verhängniß verfallen zu sein, dem sie sich wehrlos ergeben. Neuerdings ist auch das Verhältniß deSultan- zum deutschen Reiche getrübt. Die Vertreter de- Kolonialvereins haben so viele Beschwerden über den Sultan und seine Bevollmächtigten die Gebrüder Denhardt erhoben, daß der deutsche Generalkonsul in Sansibar den Sultan Achmed mit ernsten Maaßnahmen bedroht und zur Wahl anderer Rath­ geber aufgefordert hat. Im Schutzgebiete angesiedelte Deutsche sollen indeß anderer Ansicht über das Verhalten deö Sultans und seines Vertreters Gustav Dehnhardt sein, haben den Suaheliherrscher vertheidigt und über da- Vorgehen de- Kolonialvereins Klage geführt. Am 27. Dezember hat die so lange hinausgeschobene Konstituirung der Witogesellschaft endlich stattgefunden, nachdem 600000 Mark Kapital gezeichnet worden waren. Den Vorstand bilden der frühere kaufmännische deutsche Konsul in Petersburg Weber, der Kaufmann Meßthaler au- Nürnberg und der Ber­ liner Kaufmann Schwabe. Ihnen steht ein auö 15 Personen zusammengesetzter VertvaltungSrath zur Seite, welchem unter andern Fürst Hohenlohe-Langen­ burg, Gras Fred-Frankenberg-Tillowitz, Geheimrath Simon, sowie Prosesior Kirchhof angehören. Die Ertheilung von Korporationsrechten und eines kaiser­ lichen Schutzbriefes wird bereits betrieben. Die kaufmännische Leitung wird in Europa durch den Nürnberger Kaufmann Scharrer, in Lamu durch den be­ kannten Kaufmann Kurt Töppen besorgt. Bei einigem Geschick und Glück dürfte gerade diesem Unternehmen ein sicherer Erfolg vorauSzusagen sein. Bei keinem zweiten Kolonialgebiete lauten alle Urtheile so übereinstimmend günstig wie bei diesem.von Clemens Denhardt sorgsam auSgewähltem Landstücke. Die Fruchtbarkeit de- BodenS ist hier nicht von gefährlichen Fiebern begleitetet, alle Bieharten gedeihen ausgezeichnet, und große Schiffe können leicht bi- dicht au die Küste gelangen. Wenn irgendwo muß hier die Plantagenwirthfchaft Erfolg haben.

Politische Eorrespondenz^

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Bon entscheidender Wichtigkeit für die gesammte deutsche Kolonisation in Ostafrika wird übrigen-, wie wir schon früher auSführten, eine regelmäßige Dampferverbindung mit Europa sein. Die bisherige Linie ist ebenso langsam wie zu selten befahren und leistung-unfähig. Die Schwierigkeit liegt darin, daß in den ersten Jahren ein solche- Unternehmen wahrscheinlich die Kosten nicht decken wird. Denn noch sind die Beziehungen zu Europa und insbesondere zu Deutschland nicht groß genug; der Handel geht, da die große Mehrzahl der Kaufleute Indier sind, welche ihre Hauptverbindungen mit ihrer Heimath haben, noch immer vorwiegend auf Segelschiffen nach Indien. E- ist daher der Ge­ danke aufgetaucht eine Dampferverbindung zwischen Bombay, Aden, Sansibar einzqrichten, doch scheint derselbe im Publikum wenig Anklang gefunden zu haben, wie denn überhaupt der Werth einer Verbindung Deutschland- mit diesem wichtigen Kolonialgebiete noch nicht genug gewürdigt zu werden scheint. Bon geringem Einfluß auf die Schicksale Ostafrika- dürfte dagegen ein Ereigniß sein, welche- gleichfalls gegen Mitte diese- Monat- stattgehabt hat, die Verschmelzung de- KolonialvereinS mit der Gesellschaft für deutsche Koloni­ sation. Beide Vereine haben mit der Abzweigung de- Wito- und da- Bra­ silianischen Unternehmen- von dem einen, der ostafrikanischen Gesellschaft von dem anderen ihren eigentlichen Leben-nerv verloren und werden un­ fehlbar dem Schicksal der meisten Vereine verfallen. Schon jetzt spricht der überaus spärliche Besuch selbst der wichtigsten Versammlungen hierfür. Die allgemeine kritiklose Propaganda für Kolonialpolitik ist gegenwärtig mehr schädlich al- nützlich. Deutschland hat alle freien Territorien okkupirt und die Geldleute werden durch Artikel in den Verein-zeitschriften oder Reden in Versammlungen oder sogenannten allgemeinen Kongressen wahrlich nicht zu größerem Entgegenkommen bewegen werden. Höchsten- bieten die Vortragsabende verschiedenen nicht genug anerkannten Reisenden Gelegenheit zur Au-tramung ihrer Ansichten, und die Zeitschriften sind eine Lagerstelle von langweiligen Reisebriefen und sonst nicht unterzubringenden Artikeln. Die Verhandlungen über den Ausgleich der beiden Vereine dauern bereit- seit dem Frühjahr 1887. Nachdem die Generalversammlung de- Kolonialverein- im Prinzip denselben gutgeheißen hatte, traten am 16. Mai Vertreter beider Ge­ sellschaften zu einer gemeinsamen Berathung zusammen und setzten eine Kom­ mission zur Ausarbeitung der neuen Statuten ein. Die neu entstandene Deutsche Kolonialgesellschaft wird von den 2 Präsidenten Fürst Hohenlohe und Dr. Peter-, 4 Vertretern und einem zahlreichen Ausschuß geleitet werden. Der westdeutsche Verein für Kolonisation, welchen seiner Zeit Missionsinspektor Dr. Fabri ge­ gründet hat und der in den letzten Jahren auch nur ein sehr unbemerkte- Da­ sein führte, ist jetzt von seinem Gründer und Präsidenten al- selbständige Ver­ einigung aufgelöst worden und sind seine Mitglieder der neuen Kolonialgesellschaft beigetreten. S.

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Politische Korrespondenz. Französische, russische Politik. — England. — Deutschland. Berlin, Ende Dezember 1887.

Wir hatten Herrn Grevy — hoffentlich ist unseren Lesern der Vorgänger deS jetzigen Präsidenten der französischen Republik noch nicht verschollen — verlassen, als er ein Ministerium suchte, daS bereit wäre, seine Abdankungs­ botschaft mit der ministeriellen Verantwortlichkeit zu decken. Die Präsident­ schaft-krisis war bekanntlich dadurch au-gebrochen, daß Clemenceau am 19. No­ vember eine Interpellation über die innere Lage rinbrachte, deren Verhandlung der Ministerpräsident Rouvier um fünf Tage aufzuschieben bat, bis die Opera­ tion der Rentenkonversion beendigt sei. Die Kammer lehnte diese Bitte ab und daS Ministerium reichte die Entlastung «in. Nun ersuchte der Präsident die parlamentarischen Führer nach der Reihe um die Bildung deS neuen Mi­ nisteriums, alle lehnten ab. Die Einen fürchteten die Unlenksamkeit der Kammer, die andern waren in der Verschwörung, welche um jeden Preis Grevh stürzen wollte. Um ihn zu stürzen, wurde eine Komödie der aller­ frechsten Berläumdungen gegen GrevyS Schwiegersohn, den Banquier Wilson, in Scene gesetzt. An Grevy selbst mit seiner notorischen Rechtschaffenheit traute man sich nicht heran. Einem Lebemann wie Wilson, einem echten Pa­ riser TypuS, konnte man ohne allzugroße Mühe allerlei Zweifelhaftes und Un­ zweifelhaftes anheften, das keine Notoritat verträgt, auch nicht unter den heu­ tigen Parisern, die alle bereit sind, den Stein zu werfen, den jeder zuerst verdient hätte. Al- Leistung im grotesk Komischen verdient die BerläumdungS» kornödie zur Verdeutlichung der französischen Zustande unserer Tage auf die Nachwelt überzugehcn. Wir erwähnen nur einen Zug. Die erste Anzeige deS CaffarelskandalS war durch ein Blatt, le XIX. siede, erfolgt, daS ein gewisser PortaliS herauSgiebt, wie eS heißt, ein herabgekommener Sprosse des Grafen PortaliS, der aus dem ersten Kaiserreich bekannt ist. Der heutige PortaliS hat, wie eS scheint, seinen Stern auf den General Boulanger und auf den russischen Rubel gesetzt. Er behauptete, im Besitz höchst belastender Beweis­ stücke gegen Wilson zu sein. Dann bang er sich ein Subjekt, Namens Zulpha, welches Angelo der Bandit und Muley Hassan der Mohr sich geweigert hätten, al- Dritten im Bunde aufzunehmen, weil ihnen der Kerl viel zu unanständig. Monsieur Zulpha also verübte einen Mordanfall auf PortaliS, da man ihn aber nicht wie Muley Hassan auf die Tortur bringen konnte, glaubte ihm nie­ mand, daß er von Wilson gedungen worden. Nun.erfand PortaliS ein neueGeschehniß und behauptete, seine Beweisstücke gegen Wilson seien ihm durch einen Einbruch entwendet worden, dessen Zeuge Zulpha gewesen. PortaliS und Zulpha, der heruntergekommene Graf und der verdummte Mohr ver­ schwanden indeß ungehört von der Bildfläche. ES braucht gar nicht solcher Grotesksprünge, wie die ihrigen, um die Pariser in Flammen zu setzen. Wenn diese- Volk die Laune hat, sich zu erhitzen, dann ist eS genau wie daS römische Volk in Shakespeares Cäsar, daS den unrichtigen Cinna todt schlägt, weil er

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Cinna heißt. So braucht man den Parisern nur zu sagen, da und dort ist ein Mensch, der euch UebleS thut, den müßt ihr todtschlagen! und sie schlagen ihn tobt. Wenn daS auf der Stelle angeht nämlich. Wenn eS nicht gleich angeht, haben sie nach einer Stunde den Mann sammt seinen Thaten ver­ gessen. So ist eS mit Wilson gegangen. Doch so weit sind wir noch nicht. Die Berschwörung gegen Grevy, deren Waffe die Verleumdung Wilsonsein sollte, wurde zu dem Zweck eingeleitet, Freycinet zum Präsidenten und Boulanger zum Kriegsminister zu machen. Wer eS aber so eilig hatte mit der Wiedererhebung BoulangerS zum Kriegsminister, war der Rubel auf Reisen. Wir haben diesen Zusammenhang bereit- in der vorigen Correspondenz ange­ deutet, dieser Andeutung hat die Kölnische Zeitung, der wir unsern Dank auSzudrücken nicht verfehlen, ein weit hallendes Echo gegeben, daS bis zum Ohr der französischen Zeitungen gedrungen. Diese haben natürlich mit Aerger und' Spott sich dagegen aufgelehnt, daß ihre innern StaatSkrisen mit ausländischem Gelde gemacht werden sollen. Wäre nur nicht die französische Geschichte voll solcher Beispiele! Wir betonen dabei, daß wir nichts von der Geschichtsauf­ fassung halten, welche hinter allen Ereignissen die Hand der Intrigue sieht. Ja, diese Hand ist zu sehen, aber nicht wie sie die Fäden lenkt, sondern wie sie ohnmächtig an ihnen zerrt. DaS hat sich sogar in diesem Fall wieder bewahr­ heitet. Die russische Kriegöpartei bedurfte deS General Boulanger, aber sie hat ihn nicht auf den Sessel deS Kriegsministeriums hinaufheben können. ES ist eigen genug, wie daS zugegangen. Zwei Männer haben die Verschwörung, welche die vereinten Radikalen und Chauvinisten an die Spitze der Republik bringen sollte, vereitelt. Der eine Mann ist JuleS Ferry. Unter den Republikanern der Kammer und deS Senats bilden die gemäßigten Republikaner die überwiegende Mehrheit. Sie waren entschlossen, bei der Präsidentenwahl ihre Stimmen auf JuleS Ferry zu vereinigen. Nun war bis zum letzten Augenblick sorgfältig verheimlicht worden, wem die Stimmen der Monarchisten zufallen würden. Da überkam die Ra­ dikalen mit einemmale die Angst, es könnte die große Majorität der Stimmen durch eine Bereinigung der ModeradoS und Monarchisten auf JuleS Ferry ge­ lenkt werden. Die Geberden der Radikalen in dieser kritischen Lage boten wiederum einen Anblick der grotesken Komik. Sie bestürmten plötzlich Grevy, Präsident zu bleiben, und versprachen, Wilson fürder unangetastet zu lassen. Dieser Leistung war aber noch etwas andere- voraugegangen. Bei der ersten Wahrscheinlichkeit der Wahl Ferry- hatten die Radikalen gedroht, Pari- mit Barrikaden zu bedecken. Aber sie mußten in Erfahrung bringen, daß General Saussier, der Kommandant von Pari-, der zweite Tödter der Verschwörung, die besten Anstalten getroffen hatte, einen Straßenaufruhr niederzuwerfen. Nun kam der Grote-ksprung zu Grevy- Füßen mit dem Flehen, die Republik wieder in seine Hände zu nehmen. Trauriger Weise gab der alte Mann nach. Er­ halte, nachdem er kein neue- Ministerium gefunden, den Ministern versprochen gehabt, auf den 1. Dezember die Abdankung-botschaft den Kammern zu über-

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Mitteln, weshalb die Minister da- EntlaffungSgefuch zurückzogen und den Kam­ mern eine präsidentielle Mittheilung ankündigten. Statt deffen ließ er mittheilen, die Umstände hätten sich geändert, er habe nichts mitzutheilen. DaS Ministe­ rium erklärte, daß eS nunmehr daS EntlaffungSgefuch erneuert habe, welchenur zurückgenommen worden, um die Abdankungöbotfchaft ministeriell zu decken. Die Kammer klatschte Beifall, die Radikalen, weil Grevy bleiben wollte, die ModeradoS und Monarchisten, weil die Minister unter Grevy nicht weiter dienen wollten. DaS war zwei Uhr nachmittags, die Kammer vertagte sich bis vier Uhr. Auch die Radikalen hatten nicht alle die von Henry Rochefort, dem tollen Affen, auögegebene Losung angenommen, Grevy zum Bleiben zu nöthigen. Rochefort hatte es in seinem Blatt gesagt, wenn Grevy Boulanger zum KriegSminister mache, sei er den Radikalen willkommen. Aber Clemeuceau wollte von dieser Wendung nichts wiffen. Er hatte eine Ahnung, daß selbst daS wetterwendische Temperament der Pariser nur ein gewisses Maß von Drehungen verträgt. Roche­ fort prahlte, man könne einen Sturm, den man erregt, auch wieder beschwichtigen, aber der ernsthaftere Clemeuceau fühlte, daß man damit den Sturm auf sich selbst lenke. So wurde denn um vier Uhr von einem Anhänger ClemenceauS der Antrag gestellt: die Kammer vertagt sich bis sechs Uhr in Erwartung, die zugesagte Mittheilung zu empfangen Die Annahme war die Aufforderung der Kammer an Grevy, abzudanken. Um sechs Uhr ließ er sagen, daß er am folgenden Tage, da er keinen Konflikt mit der Kammer wünsche, die Mittheilung machen werde. Gleichzeitig erklärten die Minister, daß sie nun wieder in Funktion träten, um die Abdankung zu decken. Am 2. Dezember wurde die Abdankung verlesen. Am 3. sand in Versailles der Kongreß zur Präsidentenwahl statt, das heißt die Vereinigung deS Senats und der Kammer zu einem einheitlichen Wahlkörper für die Ernennung des Präsidenten. Am Wahltage veranstalteten die Republikaner unter einander eine Vorwahl, die wiederum eine überwiegende Majorität für Ferry ergab. Run begann die Wahlhandlung deS Kongresses, und daS Geheimniß der Monarchisten, bis dahin sorgfältig bewahrt, trat an den Tag. Sie stimmten nicht einheitlich. Die Orleanisten stimmten für Saussier mit einem mühselig ausgeklügelten, in der That recht einfältigen Schachzug. Die Bonapartisten wollten noch klüger sein, vermochten aber nicht, alberner zu sein. Sie stimmten für den orleanistischen General Appert, der dafür gilt, als Bot­ schafter in Petersburg durch die Kaiserin von Rußland die Heirath ihres Bru­ ders, deS dänischen Prinzen Waldemar mit einer orleanistischen Prinzessin ver­ mittelt zu haben. Mit dieser Wahl wollten die Bonapartisten zeigen, daß ihnen daS Wohlgefallen deS russischen HofeS über alles geht. Sie hätten nur auch hinzufügen sollen, daß sie bereit sind, dem Grafen von Paris zu ge­ horchen, wenn der Kaiser von Rußland eS befiehlt. Durch die klugen Manöver der monarchischen Parteien wurden die Repu­ blikaner belehrt, daß sie sich einigen müßten, um die monarchischen Kandidaten abzuhallen, da keine Aussicht war, die monarchischen Stimmen für einen republikanischen Kandidaten, welcher eS auch sei, zu gewinnen. Da trat Ferry

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inS Mittel, der die relative Majorität erhallen hatte. Er bat, für Sadi Car­ not zu stimmen, indem er seine Freunde belehrte, daß die Radikalen nimmer ihrem Haß gegen ihn entsagen, indem er die Radikalen belehrte, daß die ModeradoS nimmer für Freycinet-Boulanger stimmen würden. Die Belehrung wurde beherzigt und Sadi Carnot Präsident. Was bedeutet diese Wahl? Sadi Carnot genießt den doppelten Ruf einedurchaus ehrenwerthen Mannes und eines entschiedenen Republikaners. Alim Jahre 1871 die Nationalversammlung in Bordeaux die Präliminarien von Versailles zu genehmigen hatte, gehörte der jetzige Präsident zu der geringen Minorität, welche die Genehmigung versagte. In der jetzigen Kammer war er Mitglied der sogenannten radikalen Linken, einer Gruppe, welche nicht so weit links steht, wie die äußerste Linke. Wenn die Stimmen aller Republikaner bis auf nicht zählende Ausnahmen sich für Carnot vereinigten, so lagen natür­ lich verschiedene Rechnungen zu Grunde. Der Radikalismus glaubte, Carnot werde ein Ministerium Clemenceau einsetzen und diesem nach Auflösung der Kammer die Leitung der Wahlen in die Hände legen. Der chauvinistische Theil der Radikalen, Rochefort und sein Gefolge hielten den Neinsager von Bordeaux mindestens zum Ergreifen der ersten Kriegsgelegenheit für fähig. Die ModeradoS dagegen verließen sich auf CarnotS zweifellose Ehrenhaftigkeit und rechneten: ein Mann, der ein Gewisien hat, kaun weder aus Ehrgeiz, noch auS Leichtsinn, noch aus Fanatismus das Land ohne Rücksicht auf die Welt­ lage in ein verderbliches Unternehmen führen. ES scheint, daß die ModeradoS diesmal richtig gerechnet haben. Carnot versuchte zunächst ein Ministerium der sogenannten republikanischen Concentra­ tion, d. h. die Bildung eines Ministeriums auS allen republikanischen Gruppen. Aber er kam damit so wenig vorwärts, wie Grevy schon im Mai vor der Bil­ dung deS Ministeriums Rouvier und jetzt wieder im November damit vorwärts gekommen war. Die ModeradoS verlangten nicht nur die wichtigeren Minister­ stellen, sondern wollten überhaupt nur ungern radikale Kollegen; die Radikalen wollten wenigstens einige der wichtigen Ministerien. So war denn der Präsi­ dent schließlich froh, als er endlich in dem Senator Tirard einen Moderado fand, der überhaupt ein Ministerium zu bilden den Muth hatte. Denn andere Führer warfen dem Präsidenten ein, daß ein Moderadoministerium in der gegenwärtigen Kammer sogleich wieder die vereinigten Monarchisten und Radi­ kalen gegen sich haben würde und folglich nur durch die Auflösung sich zu be­ haupten Aussicht habe. Auch das Ministerium Tirard kann diese Lage natür­ lich nicht ändern. ES scheint nur den Uebergang bilden zu sollen zu einem Ministerium von ausgesprochenem Charakter, den Uebergang, welchen man be­ durfte, da man vor dem Frieden der Zuckerbäcker stand und also vorläufig an keine Auflösung denken konnte. Die Radikalen sind natürlich' wüthend und be­ trachten sich als die Getäuschten. Aber auch sie durften die Achtung vor dem Frieden der Zuckerbäcker nicht verläugnen und mußten sich bequemen, da man noch kein Budget für 1888 zu Stande gebracht hatte, dem Ministerium ein

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provisorische- Budget aus vrei Monate zu bewilligen oder, wie mau in Frank­ reich sagt, */i3 deS nächstjährigen Budgets. Die Radikalen erklärten indeß, auch diese s/12 nur bewilligen zu wollen, wenn das Ministerium die Bewilligung nicht als Vertrauensvotum fordere. Die Stellung der Vertrauensfrage ist denn auch unterblieben, das Ministerium hat feine 3/12, und die Kammern sind in die Ferien gegangen. Aber ganz Frankreich, so viel eS noch au andere Dinge als an die NeujahrSgefchenke denkt, beschäftigt sich mit der Frage der Auf­ lösung. Daß dieselbe unvermeidlich, leuchtet aller Welt ein. Aber man sagt sich, daß, um die Neuwahlen mit Erfolg zu leiten, ein Ministerium vorhanden sein muß, welches die Wähler einen klaren Charakter und eine feste Haltung erkennen läßt. Die Mehrheit der Franzosen wünscht wohl, daß JuleS Ferry durch den Präsidenten an. die Spitze des Ministeriums gerufen werden möchte. Ob aber Carnol mit seiner Vorgeschichte und seinen Neigungen, die ihn nach links ziehen, den Kampf gegen den Radikalismus aufnehmen wird, muß zweifel­ haft erscheinen. Außer dem innern Staatsproblem, das in Frankreich nie gelöst wird und die Nation in ewiger Unruhe erhält, reizt von der andern Seite daS äußere Staatsproblem, welches jetzt die Revanche heißt. Ein großer Theil der Fran­ zosen fühlt doch, daß trotz aller für daS Heer verausgabten Summen Frank­ reich zur Aufnahme jenes Problems nicht in der Verfaffung ist. ES giebt viele Franzosen, welche begreifen, daß zum Unternehmen eines großen Krieges nicht bloß eine Armee gehört, für die man ungeheures Geld verschwendet hat, ohne zu wissen, mit welchem Erfolg, sondern daß man zu einem solchen Unter­ nehmen auch unter den günstigsten Umständen deö Heeres einer confolidirten Regierung bedarf. Franzosen, welche diese Einsicht haben, empfinden natürlich ein Grauen vor der jähen Herbeiführung eines Krieges. Anders wiederum die Radikalen, die sich einbilden, durch den Krieg emporzukommen. So sehr man abgeläugnet hat, daß die Panslavisten zum Sturm gegen Grevy geblasen, fühlt man doch Beschämung schon über die Möglichkeit einer Thatsache, die im Ausland geglaubt wird und an der man im Geheimen nicht mit voller Sicherheit zweifelt. Gleichzeitig mit dem Beginn der PräsidentschastSkrisiS in Frankreich ist Rußland in daS Stadium der offenbaren Kriegsvorbereitung getreten. Ein Theil der Franzosen möchte ruhig bleiben,, bis eine Probe der russischen Waffen vorliegt, daß sie den Centralmächten gewachsen sind. Aber schon hört man den Lärm der rubelbegeisterten Chauvi­ nisten, welche Frankreich lieber heute wie morgen daS Schwert ziehen sehen möchten. Ein Mordanfall aus JuleS Ferry wurde mit Recht, obwohl der Mörder anscheinend ein Wahnsinniger ist — falls er nicht etwa Komödie spielt — auf die unaufhörlichen schamlosen Anreizungen Rocheforts zurückgesührt. FerryS Ansehen ist durch den Anfall nnr gewachsen, aber auch der Haß der Radikalen gegen den Staatsmann, von dem sie erwarten, daß er ihnen die Pforten der Regierung verschließt und zugleich die deS Einflusses auf daS Volk, ist grenzen-

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lo» gewachsen. So ist schon die nächste Zukunft Frankreichs unberechenbarer, al» je, und niemand auch nur de» morgenden Tage» sicher. • * ♦ Unmittelbar nach der Reichstag-eröffnung am 24 November wurde die bedeutende Zunahme der nicht mehr zu verbergenden Truppenansammluugen an der russisch-östreichischen Grenze bestätigt. Gerade ein Jahr vorher, am 25. November 1886, hatte der Kaiser die Erneuerung de- SeptennateS, außer­ dem aber den Eintritt der Heeresverstärkung schon zum 1. Januar 1887 vom Reichstag gefordert. Darüber kam eS nachher zur Auflösung deS Reichstage-. Als man bei der ersten Berathung der neuen Wehrvorlage den Kriegsminister zur Rede stellte, warum er, wenn die neue Forderung so dringlich, so spät mit derselben hervorgetreten sei, gab er zur Antwort: er habe eben erst die That­ sachen erfahren, welche die Vorlage so dringend gemacht. Die- bezog sich auf den Beginn der russischen Rüstungen. Rußland aber verharrte daS ganze Jahr bei der Haltung, Deutschland durch seine Preffe maßlos angreifen zu lassen und gegen die Zustände in Bulgarien fortwährend zu protestiren, ohne den mindesten Vorschlag einer Aenderung hören zu lassen, als die Phrase: vor allem müsse die gesetzliche Ordnung hergestellt werden. Die russischen Rüstungen aber nahmen unausgesetzt ihren Fortgang. Im November 1887 befand sich die russische Armee dem strategischen Aufmarsch an der Westgrenze nahe, außer­ dem war aber auch in Beßarabien und in der Krim stark gerüstet worden. Man konnte jetzt annehmen, daß Rußland mit Erzwingung deS Durchmärschedurch Rumänien in Bulgarien einrücken und vielleicht durch Drängen auf die rückständige Entschädigung von 1878 die Pforte zur Duldung eine- solchen Vorgehen- zu bewegen suchen werde. Unter Voraussetzung eines solchen Pla­ ne- konnte man vermuthen, daß die Aufstellung an der galizischen Grenze nur den Zweck habe, Oestreichs Passivität zu erzwingen. AlS Alexander III. trotz aller Andeutungen, daß man seinen Besuch für unzeitig halte, am 18. Novem­ ber in der deutschen Hauptstadt weilte, hatte er wohl auf daS Gesuch deS Fürsten BiSmarck um eine Unterredung gerechnet. Die Vermuthung liegt nahe, daß Alexander III. erfahren wollte, ob ein Kampf Rußland- gegen Oestreich außerhalb Oestreichs Grenzen für Deutschland schon den casus foederis bilde. Er wird die verneinende Auskunft erhalten, aber seinerseits sich nicht darüber geäußert haben, ob Rußland daS östreichische Gebiet zu vermeiden unter allen Umständen entschlossen ist. Man muß sogar viel weiter gehen und sagen: nie­ mand kann wissen, ob Rußland, seine ungeheure Armee einmal mobilistrt, nicht vorziehen wird, anstatt deS Marsches nach dem Süden, Oestreich oder selbst Deutschland unmittelbar anzugreifen. Die- ist die jetzige Situation, die niemand für beruhigend halten wird. Aber sie ist noch unentschieden. Am 15. De­ zember suchte der russische Invalide, daS amtliche Organ deS Kriegsministeriums, in einem Artikel, von dem man nur sagen kann: so hat seit Napoleon I. keine Regierung amtlich gelogen, nachzuweisen, daß Rußland in der Anlage seiner Militär­ verbindungen wie in dem augenblicklichen Stand seiner Streitkräfte hinter den

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Nachbarmächten weit zurückstehe und nur die nothwendigsten BertheidigmngSmaßregeln treffe. Die Kölnische Zeitung brachte bald eine niederschmetternde Widerlegung und enthüllte den bedrohlichen Stand der russischen Offensiranllagen und Offensivrüsiungen. Darauf hat der Brüffeler Nord, der bekannte Ver­ treter der russischen Publizistik mit offiziösem Charakter innerhalb der Civiilisation, erwidert: ein amtliche- Blatt könne nur durch ein amtliche- Blatt wider­ legt werden. Offenbar denkt der Nord, daß kein amtliche- Blatt eine- civilistrten Volke- so lügen kann, wie der Invalide, und daß folglich em Krieg der militärischen Amtsblätter da- beste Mittel für den russischen GeneralstaL ist, den Stand der deutschen und östreichischen Sicherung-maßregeln kotiern zu lernen. Darauf möchte man mit einer Berliner Reden-art antworten. — Die jetzige Lage kann indeß nicht andauern. Die Sendung de- Grafen Peter Schuwaloff nach Berlin scheint anzuzeigen, daß man den Boden in Berlin noch einmal prüfen lassen und noch einmal sich überzeugen will, wie weit es möglich ist, mit Oestreich Krieg zu führen, ohne Deutschland zum Gegner zu haben. Vor solchen Prüfung-versuchen, die leicht dem Gegner den Samen liefern können, um Mißtrauen unter Freunden au-zusaen, könnte man Sorge empfinden bei jedem andern Staatsmann, der ihnen ausgesetzt wäre, als bei dem Fürsten Bismarck. * * Von England haben wir zunächst zu sagen, daß seine Staatsmänner wie­ derholt ihre Frieden-zuversicht bekundet haben. Das beweist nur, daß diese Staatsmänner über die politischen Vorgänge heute die schlechtesten Nachrichten wie da- schlechteste Urteil haben. Der Terydemokrat, Lord Randolph Churchill, ist nach Petersburg gereist. Er baut seine Zukunst aus die englische Demo­ kratie und weiß, wa- diese will, nämlich die Republik mit dem verstorbenen Großherzog an der Spitze, da- heißt im vorliegenden Fall: England- Macht und Reichthum ohne einen einzigen Kanonenschuß und ohne einen einzigen Blut-tropfen. Zu diesem Zweck sucht der pfiffige Lord sich mit den Panslavisten anzufreunden, indem er ihnen den Verzicht aus Afghanistan und auf die Störung der Fahrt durch den Suezkanal gegen Englands Neutralität bei einem europäischen Krieg abhandeln will. Wa- diese politischen Strategen mit ein­ ander au-macheu, dürste indes für den Lauf der Dinge ganz unerheblich sein. * - * * Die innern Angelegenheiten de- deutschen Volk- werden in den preußischen Jahrbüchern in der Regel an anderer Stelle behandelt, al- in diesen a-Correspondenzen. Heute möchten wir ihnen eine allgemeine Bemerkung widmen. Mancher denkende Patriot, der die Politik nicht bloß als die Kunst ansteht, von der Hand in den Mund zu leben, mag über den Gang unserer innern Politik Bedenken, selbst Sorgen, selbst unwilligen Widerspruch empfinden. Nur schiebe mau diesen Gang nicht allzu eifrig auf die Unzulänglichkeit der Staatsmänner. Alle- wa- in der innern Politik geschieht, kann nur mit halber Kraft, mit halbet Theilnahme, mit halber Gedankenarbeit, mit halbem

Notizen.

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Ueberblick geschehen. Keinem um sich blickenden Mann kann entgehen, daß wir überall nur Provisorien schaffen, weil eine europäische Krisis herannahts, die unsere Stellung, wie wir zuversichtlich glauben, nicht verringern, wohl aber durchgreifend verändern wird. Wenn jene Krisis überstanden, und hoffentlich glorreich Überstanden ist, dann wird es Zeit fein, mit der ganzen Kraft unserer Einsicht und unseres Willens an die Lösung der Probleme zu gehen, deren Lücken wir hente mit dürftigen Lappen zustopfen. So geht es überall, in der Wirthschaft wie in der Schule, im Recht wie in der Religion, und so fort. Heute müffen wir den vergeblichen Versuch machen, unsern Weg allein zu gehen. Aber der Weg der europäischen Kulturvölker kann nur zum Ziele führen, wen» er in Gemeinschaft zurückgelegt wird. DaS wichtigste Gut, was unS die herannahende Krisis bringen muß,, ist die Solidarität der Kulturvölker, von der wir anscheinend weiter als je entfernt find, deren Verlust aber un­ stärker al» je empfinden läßt, wie unentbehrlich sie ist. ro.

Notizen. Carl Lamprecht, Skizzen zur.Rheinischen Geschickte. 1887, 8. 246.

Leipzig, Alph. Dürr

Während der intensiven Arbeit an seiner, vorzugsweise auf daS Moselland bezogenen, urkundlichen Darstellung „Deutsche-WirthschaftSleben im Mittelalter" hat der Verfasser Anregung gehabt, verschiedene Aufgaben der Untersuchung in Bortragen und Abhandlungen zu gerundeten Bildern zusammenzufaffen. ES war auch bei der Ueberfülle deS Stoffes schwierig, in dem großen Werke, ohne eS allzusehr auSzudehnen, gewiße einzelne Ergebnisse durchsichtig und leicht faßlich zu gruppiren, und Abhandlungen für spezielle Zwecke führen ihrer Natur nach zur Herbeiziehung entfernterer Gesichtspunkte und zu willkommenen Er­ weiterungen. Deshalb ist eS dankenSwerth, daß sich der Verleger entschlossen hat, eine Reihe dieser Aussätze, welche meist an wenig bekannten Orten zer­ streut sind, dem Leser in handlicher Form vereinigt darzubieten. Daß dabei grundsätzlich aller gelehrte Apparat weggelaffen worden ist, der, wie der Ver­ fasser sagt, meist an früherer Stelle beigegeben war, scheint unS zwar nicht er­ wünscht. Wir verzichten ungern auf die Annehmlichkeit und die Förderung, die Beweismittel für Neues und Alteö so in der Hand zu haben, daß sie leicht aufgesucht und weiter verwendet werden können. Aber wir erkennen an, daß der vielleicht größere Leserkreis diesen Anspruch nicht stellt, und bei den an­ ziehend und lebensvoll geschriebenen, reichen Stoss bietenden Darstellungen die Nachweisungen nicht entbehrt.

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Ueberblick geschehen. Keinem um sich blickenden Mann kann entgehen, daß wir überall nur Provisorien schaffen, weil eine europäische Krisis herannahts, die unsere Stellung, wie wir zuversichtlich glauben, nicht verringern, wohl aber durchgreifend verändern wird. Wenn jene Krisis überstanden, und hoffentlich glorreich Überstanden ist, dann wird es Zeit fein, mit der ganzen Kraft unserer Einsicht und unseres Willens an die Lösung der Probleme zu gehen, deren Lücken wir hente mit dürftigen Lappen zustopfen. So geht es überall, in der Wirthschaft wie in der Schule, im Recht wie in der Religion, und so fort. Heute müffen wir den vergeblichen Versuch machen, unsern Weg allein zu gehen. Aber der Weg der europäischen Kulturvölker kann nur zum Ziele führen, wen» er in Gemeinschaft zurückgelegt wird. DaS wichtigste Gut, was unS die herannahende Krisis bringen muß,, ist die Solidarität der Kulturvölker, von der wir anscheinend weiter als je entfernt find, deren Verlust aber un­ stärker al» je empfinden läßt, wie unentbehrlich sie ist. ro.

Notizen. Carl Lamprecht, Skizzen zur.Rheinischen Geschickte. 1887, 8. 246.

Leipzig, Alph. Dürr

Während der intensiven Arbeit an seiner, vorzugsweise auf daS Moselland bezogenen, urkundlichen Darstellung „Deutsche-WirthschaftSleben im Mittelalter" hat der Verfasser Anregung gehabt, verschiedene Aufgaben der Untersuchung in Bortragen und Abhandlungen zu gerundeten Bildern zusammenzufaffen. ES war auch bei der Ueberfülle deS Stoffes schwierig, in dem großen Werke, ohne eS allzusehr auSzudehnen, gewiße einzelne Ergebnisse durchsichtig und leicht faßlich zu gruppiren, und Abhandlungen für spezielle Zwecke führen ihrer Natur nach zur Herbeiziehung entfernterer Gesichtspunkte und zu willkommenen Er­ weiterungen. Deshalb ist eS dankenSwerth, daß sich der Verleger entschlossen hat, eine Reihe dieser Aussätze, welche meist an wenig bekannten Orten zer­ streut sind, dem Leser in handlicher Form vereinigt darzubieten. Daß dabei grundsätzlich aller gelehrte Apparat weggelaffen worden ist, der, wie der Ver­ fasser sagt, meist an früherer Stelle beigegeben war, scheint unS zwar nicht er­ wünscht. Wir verzichten ungern auf die Annehmlichkeit und die Förderung, die Beweismittel für Neues und Alteö so in der Hand zu haben, daß sie leicht aufgesucht und weiter verwendet werden können. Aber wir erkennen an, daß der vielleicht größere Leserkreis diesen Anspruch nicht stellt, und bei den an­ ziehend und lebensvoll geschriebenen, reichen Stoss bietenden Darstellungen die Nachweisungen nicht entbehrt.

Bon älteren bereit- veröffentlichten Abhandlungen, die nur neuer Bearbei­ tung unterworfen worden sind, enthält der Band: „Recht und Wirthschaft zur Frankenzeit", „Die geistliche Reformbewegung in den Moselklöstern de- 10. Jahr­ hundert-", „Stadtherrschaft und Bürgerthum zur deutschen Kaiserzeit", „Die Schicksale de- Bauernstandes während de- Mittelalter- und seine Lage gegen Schluß de- 15. Jahrhundert-", endlich die sehr gut einführende kunstgeschicht­ liche Bearbeitung: „Der Dom zu Cöln, seine Bedeutung und seine Geschichte". Al» noch nicht veröffentlichte Arbeiten erscheinen darin „Da- Rheinland als Stätte alter Cultur" und „Stadtköluische- Wirthschaft-leben gegen Schluß deMittelalter-". Erstere ist ein Ueberblick über die wesentlichen Ergebniffe des gedachte» Hauptwerke-, zugleich ein Nachweis, weshalb die Veränderuagea de- deutschen WirthschaftSlebenS im Mittelalter Anregung und Vorbild vorzugsweise vom Mosellande her erhielten. Die Darstellung zeigt, wie dir linksrheinischen Gebirge vor der Römerzeit nur spärlich und okkupatorisch von den Ebenen auS benutzt waren, und wie sie erst unter der römischen Verwaltung in daS Straßennetz und die StationSverbände hineingezogen wurden, welche die Verpflegung und die militärischen Bedürfniffe der aus dieser Linie allmählig zu acht Legionen anwachsenden Garni­ sonen erforderten. Eifel und HunSrück wurden mit Germanen und ©atmeten besetzt; zahlreiche Villen, selbst in abgelegene« Thälern, zeigen die hohe Kultur und die friedliche Entwickelung, welche daS herrschende Beamtenthum bei aller Ausbeutung der Bevölkerung zu verbreiten verstand. Die Völkerwanderung brachte im 4. und 5. Jahrhundert völlige Zerstörung und Rückfall in Wüstung zugleich aber stärkere Bevölkerung und damit da­ immer anwachsende Bedürfniß neuer Rodungen. Schon am Ende der Merovinger Zeit machte sich geltend, daß die reichen Hülfsmittel der alten Kultur nicht völlig verloren gegangen waren. Sie wurden erhalten und ergänzt durch den früh romanisirten Süden. Aber über ein Jahr­ tausend bi- gegen da- Ende de- 18. Jahrhundert- dauerte eS, ehe die einfache durch Gemenglage, gemeinschaftlichen Weidegang, Flurzwang und feste Feld­ schläge in gleicher Mittelmäßigkeit gebundene alte Wirthschaft, der rationellen, von Wiffeuschaft und Kapital getragenen Technik der modernen Zeit zugänglich wurde. Während de- Laufe- so vieler Jahrhunderte breitete sich immer nur der gewöhnliche, den Einrichtungen der ersten Ansiedelung entsprechende Ackerbau auS. Er drang in die Wälder und Heiden vor. Die einzigen erheblichen Neuerungen und Berbefferungen, Wiesenkultur und Weinbergsaulagen, haben ihre erste und Hauptstätte im Rheinlande. Lamprecht hat zuerst die Rodungen topographisch genau verfolgt, und ihre historischen Bedingungen festgestellt. Er giebt Rechen­ schaft über dle verständige Art de- Vorgehen», über Ort-anlage, Feldeintheilung, Verhältniß von Acker, Wald und Wiese. Der damalige Bauer verstand weniger vom intensiven Fruchtbau, aber mehr von Bodenbeurtheilung, Messung, den Möglichkeiten de- Neubruchs und den Forderungen der Siedelung, als der heutige.

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Die Hauptzeiten deS Ausbaus deS Landes fallen früh. Die erste Periode liegt vom 6. bis 9. Jahrhundert. Unter den Karolin­ gern wurde von dem alten, trockenen und milden Kulturlande aus, daS auch in der BölkerwanderungSzeit die Masten ernährt hatte, eine erste Furche der Be­ siedelung die Flußthäler aufwärts in die Oeden deS Hunsrücks, der Eifel und deS WesterwaldeS gezogen, und man wagte mit niedrigen Deichungen in die mit Waldmaffen bedeckten UeberfchwemmungSgebiete deS Niederrheins vorzu­ dringen. Ortsnamen und Dialekte zeigen daS Eintreten des Fränkischen Ele­ mentes. Die auffallend glänzende Iris, daS schwarze Haar und die untersetzte Ge­ stalt erinnern gegendweise, wie imTrierschen und Saarbrückenschen, au die Reste der Kelten. Am Niederrhein überwogen wohl schon seit älterer Zeit die Germanen. In daö 11—13. Jahrhundert, in die Stauferzeit, fällt die zweite RodungSperiode. Alle Waldungen mit wenigen Ausnahmen wurden in Angriff ge­ nommen. Die eigenthümliche plateauartige Gestaltung der rheinischen Grau­ wackengebirge führte dazu, die nur zu Weinbergen, Lohhecken und Weiden geeigneten steilen Hänge der schroff eingeschnittenen Thäler zu durchbrechen und ausgedehnte Siedelung oben, auf den rauhen Hochflächen, zu versuchen. Theil­ würden taniit alte Bannforsten und Markenholzungen, theils Waldungen geist­ licher und adliger Güter, theils Almenden älterer Bauerngemeinden zur Urbarkeit gebracht. Den größten Einfluß darauf übte die Kirche. Die verschiedenen Orden waren die Begründer der erweiterten Kultur und erzielten angemestene Er­ träge aus ungünstigeren Lagen. Klosterfilialen und Kirchen entstanden in den abgelegensten Gegenden und trugen zur Hebung derselben durch wirthschaftliche Erkenntniß unv höhere Bedürfnisse bei. Innerhalb deS Laienadels aber, der durch diese Kulturen begüterter wurde, entstanden die sozialen Abstufungen, welche noch heut gelten und zugleich Bildungsstufen waren. Seit dem 9. Jahr­ hundert unterlag die Gemeinsreiheit der Zerstörung. Die Neuschopfung war eine mehr und mehr gegliederte Aristokratie von bestimmtem Klaffengeiste. Seit 1200 stand die Landwirthschaft still, aber die Industrie blühte auf. Tuchmacherei kam auS Flandern nach Cöln, Aachen, Goch, Emmerich, Lein­ wandbereitung nach Erkelenz, Bleicherei und Färberei nach Barmen und Elberfeld, Lohgerberei in Eifel und Westerwald. An der Ruhr bis zur Sieg, und um Aachen und Luxemburg begann mit leichten Rennfeuern die Bearbei­ tung der Eisenerze. Die Holzkohlen und Wafferkräste gestatteten die Arbeit im Kleinen, die sich gleichmäßig und gleichartig verbreitete und die Werkzeug- und Kurzwaarenindustrie begründete, welche bi- auf den heutigen Tag noch die Concurrenz selbst der großartigsten Fabrikation-stätten auöhält. Die Industrie aber bedarf deS Handels und des Marktes. Seit 1200 be­ kamen deshalb auch die deutschen Städte ihren vollen Charakter, der sie zum modernen Städtewesen entwickelte. Die Grundlagen diese- intensiven städtischen Leben- haben schon die Römer gelegt. Cöln, Koblenz, Trier, Mainz, WormS, Straßburg u. a. geben davon Zeugniß. Aber die Deutschen verstanden und achteten diese Civilisation nicht, Preußische Jahrbücher. 8b. LXI. Hefti. 7

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Notizen.

sondern zerstörten die Städte, wie die Denkmäler der Kunst. Erst im 13. Jahr­ hundert entstanden in ihren Hauptorten, an den Sitzen der Kirche und der Großen und den von der Natur gegebenen Stauungspunkten des anwachsendeu Verkehr-, die Bürger, welche im 14. und 15. Jahrhundert die Führung der Nation übernahmen. Durch ihre Vermittelung entrissen Renaissance und Resormation da- deutsche Volk der Rohheit. Die Auffassung der Stadt al- communale Persönlichkeit erwuchs im späteren Mittelalter. Sie war der bleibende Inhalt der republikanischen Autonomie, die sich von den großen Städten, wie Cöln, Aachen, Trier, im 14. und 15. Jahr­ hundert auf die kleinen übertrug. Noch heut sind durch diese Persönlichkeit die Städte dem Adel ebenbürtige Gestaltungen. Im 17. und 18. Jahrhundert endlich versuchten die Territorien im Ge­ gensatz zu der mittelalterlichen Trennung von Stadt und Land eine einheitliche Aussasiung de- Staat-lebens zu erreichen. Ihr Bewußtsein und ihre Einrich­ tungen gaben den Grundgedanken der modernen Monarchie, die un- endlich den nationalen Großstaat gebracht hat Der Aussatz „StadtcölnischeS WirthschaftSleben gegen Schluß deS Mittel­ alters" führt in überzeugender Weise das Bild näher auS, wie die damals aller­ dings größte und vorgeschrittenste Stadt Deutschlands sich in ihrer Persönlich­ keit auSgestaltet hat. Man sieht darin den Anstoß zu diesen gemeinsinnigen und zugleich streitbaren, gewaltthätigen Verwaltungen, welche, im Gegensatz zu der Selbstgenügsamkeit unv Stabilität der Landwirtdschast, mit ihren Anfor­ derungen an alle Hülfskräfte der Kultur auch die Regierungen zu der Wohl­ fahrtspolitik und der Landeskulturgesetzgebung unserer Zeit sortgenffen haben. Die genaue Kenntniß aller einzelnen Zweige der städtischen Verwaltung und Polizei ist für wenige Städte, wenn überhaupt, in gleichem Grade möglich, als für Cöln. Sie ist jedenfalls noch nicht in gleicher Vollständigkeit aus dem reichen Inhalte der städtischen Archive erhoben und durchsucht. Der Verfasier zeigt auS dem engen Zusammenhänge aller Befugnisse, die der Rath trotz der Revolution von 1396 in den Gewerks- wie HandelSverhältniffen wirksam ausübte, daß in Cöln von einer Herrschaft der Zünfte in deren eigenem Interesse nicht gesprochen werden kann, sondern daß die Organe der allgemeinen bürgerlichen Gemeinde im wesentlichen einen überraschend durch­ greifenden Schutz deS Publikums durchzusühren bestrebt und berechtigt waren. Die geringe Arbeiterzahl und der kleine KreiS der Betriebsmittel waren für den einzelnen Gewerbtreibenden genau festgestellt, und die gelieferten Waaren in Betreff der richtigen Leistung wie deS angemeffenen Preises streng kontrolirt. UeberdieS waren die Zünfte nicht geschloffen und bestanden keineSwegeS nur auS Handwerkern. Fast alle Bürger waren bei einer Zunft eingeschrieben. DaS Stadtregiment aber hielt die Zunftgenoffen bei einem engen aber noch be­ haglichen Leben ohne gegenseitige Concurrenz fest. Auch der Handel, an dem Fremde nur auf Grund von Privilegien Theil nehmen durften, lag in ähn­ lichen vom Rathe aufrecht erhaltenen und auch nach Außen politisch mit Festig-

Notizen.

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feit gewahrten Schranken. Die Darlegung M gesammten Detail- der! ein­ schlagenden Bestimmungen und Maßregeln ist sehr anschaulich und beweisend, fast mit etwa- zu viel Scheu, da- letzte Wort über die völlige Unhaltbarkeit solcher Zustände auszusprechen, geschildert. Der Leser wird keine der mitgetheilten Abhandlungen au- der Hand legen, ohne sich zu sagen, daß er eine Fülle de- Neuen und Anregenden empfangen hat.

Meitzen.

Dr. Post, Albert, Hermann: Afrikanische Jurisprudenz. Ethnologisch­ juristische Beitrage zur Kenntniß der einheimischen Rechte Afrika-. 2 Theile in einem Bande. Oldenburg und Leipzig, 1887. Schulzesche Hof-Buch­ handlung. XV 480 und 192 S. 8°. Seit die Reisen in wenig bekannte von der europäischen Zivilisation noch unbeleckte Länder während der letzten Jahrzehnte immer häufiger geworden sind, hat die Mode überhandgenommen ethnographische Sammlungen anzulegen. Ge­ wöhnlich umfassen dieselben Bekleidung-gegenstände, Waffen, Götzenbilder und Geräthschaften der eingebornen Stämme, und e- läßt sich nicht leugnen, daß diese Dinge geeignet sind unS Leben und Treiben der verschiedenen Völker­ schaften anschaulich zu machen. WaS indesien den Naturforscher, den Juristen und Volkswirth, den Philosophen weit mehr interessiren würde, wären genaue Beobachtungen der Sitten, Gebräuche, religiösen und rechtlichen Vorstellungen der sogenannten Wilden, da sie geeignet wären unS den Schlüssel zu mancher noch ungelösten Frage zu geben. Doch gerade in dieser Beziehung sind die Ergebnisse der meisten Reisen recht geringfügig. ES ist eben sehr schwer bei selbst längerem Aufenthalt an einem Orte daS Leben der Leute genauer zu er­ kunden; die Geheimhaltung vieler, besonders religiöser Bräuche, die Schwierig­ keit der Verständigung mit den Leuten legen viele Hindernisse in den Weg. Der Forscher, welcher die Berichte der Reisenden wissenschaftlich verwerthen will, hat überdies noch mit den Uebertreibungen seiner Gewährsmänner zu rechnen. Trotz alledem ist bereits ein recht reiches Material auf diesem Ge­ biete zusammengekommen und eS sind Versuche gemacht worden, durch Ver­ gleichung der gleichen Gebräuche bei den verschiedensten Völkern auS demselben allgemeine Resultate zu ziehen. Zuerst wohl in England und Frankreich, wo der Besitz eigener Kolonien, die praktische Nothwendigkeit in die rechtlichen nnd sittlichen Verstellungen unzivilisirter Völker näher einzudringen ganz von selbst zu solchen Studien nöthigten. Die Werke von Lubbock, Giraud • Teulon, M'Lennan, LewiS Morgan haben auf diesem Gebiete bahnbrechend gewirkt. In Deutschland, wo die genannte Anregung fehlte, wo mächtige alles beherr­ schende Schulen die RechtSgeschichte und Philosophie monopoliflren, haben die Bestrebungen auf dem Gebiete der ethnologischen Jurisprudenz bisher wenig Anklang gefunden. Gestützt auf die allerdings dem Qnellenmaterial oft an­ haftende Unsicherheit, auf die von dem Herkömmlichen abweichende Methode

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Notizen.

wird jener Richtung im Allgemeinen kurzweg der wissenschaftliche Charakter aberkannt. Doch sehr mit Unrecht unseres Erachtens. Wir rechnen eS dem Richter am Landgericht in Bremen Dr. Albrrt Hermann Post als ein großes Verdienst an, daß er schon seit einer langen Reihe von Jahren eifrige Studien dem Gebiete der ethnologischen Rechtswissen­ schaft zugewendet hat. Er eröffnete die Reihe seiner diesbezüglichen Schriften 1872 mit einer kleinen Flugschrift: Einleitung in eine Naturwiffenschaft des Rechts. Ihr folgte 1875 eine speciellere Forschung: die GeschlechtSgenoffenschaft der Urzeit und die Entstehung der Ehe, 1876 der Ursprung deS Rechts, 1878 die Anfänge deS Staats- und RechtSlebenS, 1884 die Grundlagen deS Rechts und die Grundzüge seiner Entwickelungsgeschichte. DaS erste bedeutendere Werk waren die 1880 und 1881 in 2 Banden erschienenen Bausteine für eine allgemeine Rechtswissenschaft auf vergleichend-ethnologischer Basis, wo Post zum ersten Male alle seine mit Bienenfleiß gesammelten vergleichenden Beob­ achtungen auf den verschiedenen Gebieten deS rechtlichen Lebens zusammen­ gestellt hat. In einer 1886 veröffentlichten Broschüre: Einleitung in daö Stu­ dium der ethnologischen Jurisprudenz legte er die Gedanken, welche ihn bei seiner Arbeit leiten, in lichtvoller, klarer Weise den verschiedenen auf ihn gemachten Angriffen gegenüber dar und stellte als sein Programm für die nächsten Jahre die genaue Sammlung aller Rechtssitten und -anschauungen aller Völker auf. AlS beste Art der Anordnung des Materials bezeichnet er darin diejenige nach Völkern. DaS Werk, dessen Titel an der Spitze dieses Aussatzes steht, ist nun der erste Schritt zur Ausführung deS Programms, welches Post sich vorgezeichnet hat. Mit unendlicher Mühe hat der Autor aus dem Wüste der Reisebeschreibungen alleS, waS auf das rechtliche Leben der uncivilisirten Völker Afrikas von Bezug ist, hierin systematisch geordnet und, so weit eS eben nach dem jetzigen Stande der Wissenschaft angeht, dem Leser für die rechtlichen und sittlichen Vorstellungen dieser Stämme ein Verständniß zu verschaffen gesucht. DaS Buch ist natürlich kein vollendetes Werk, aber eS ist voll interessanter Dinge und bietet dem Leser Anregung in Fülle. Insbesondere aber für Männer, welche in Zukunft Reisen in uncultivirte Länder unternehmen, wird daS Werk ein überaus nutzbringender Begleiter sein. Wenn sie jederzeit die von ihren Vorgängern gemachten Irrthümer berichtigen und an der Hand deS Gegebenen neue Erfahrungen sammeln, wird ein für die Wissenschaft überaus hochzuschätzendeS Material zusammenkommen. Und vielleicht wird dasselbe auch prak­ tischen Nutzen zu bieten im Stande sein. Seit Deutschland in die Reihe der Kolonialmächte getreten ist, beginnt ja ein bessere- Kennen und Verstehen der Gebräuche und Vorstellungen der Bewohner unserer überseeischen Besitzungen auch für weitere Kreise nothwendig zu werden. A. Z.

Verantwortlicher Redacteur: Professor Dr. H. Delbrück Berlin W. Wichmann-Str. 21. Druck und Verlag von Georg Reimer tn Berlin.

Joseph Victor von Scheffel. Scheffel- Leben und Dichten von Johanne- Proelß.

Berlin 1887.

Verlag von

Freund und Jaekel.

Eine schöne und dankbare Aufgabe war es, das Leben Scheffels, diese» jüngsten Liebling» unsrer Nation zu schreiben. Der Biograph wird in diesem Falle nicht, wie ea leider sonst so oft geschieht, sich genügen kaffen müssen an der eignen Freude und Befriedigung, welche da» liebevolle Eingehn auf hervorragende Menschen gewährt, sondern er wird sicher sein dürfen, daß sein Werk Empfänglichkeit und Verständniß bei einem größeren Leserkreise findet. Da» Buch kommt zur rechten Zeit: Weckt doch der Name Scheffel in tausend Herzen ein freudige» Echo dankbarer Erinnerung an schöne, unvergeßliche Stunden, vom Zauber seiner Dichtungen verklärt. Selbst unsrer schnelllebigen Generation erscheint e», als sei erst gestern die Kunde von seinem Tode zu ihr gedrungen, und gern legt sie einen Kran; auf das Grab ihres entschlafenen Dichters und läßt rückblickend noch einmal sein verklärte» Bild voll auf sich wirken. Und wie treu, wie lebenswahr führt eö uns Proelß vor die Seele! Wohl spielt sich vor unsern Augen eine dunkle Tragödie ab; aber nicht eigner Schuld, sondern schwerem Verhängniß erliegt der Held, unser lebhafte» Mitleid erregend. So legen wir da» Buch mit der dankbaren Empfindung au» der Hand, daß un» Scheffel- Persönlichkeit daraus lieb und vertraut geworden ist, daß wir ihn kennen und verstehen gelernt haben in allem, was er erlebt und erstrebt, gelitten, erstritten und gefehlt, hat. Um in diesem Grade seiner Aufgabe gerecht zu werden, hat sich der Biograph weder Mühe noch Fleiß verdrießen laffen: Mit genauster Sorgfalt ist ein große- Ma­ terial gesammelt, au» dem heraus un» alles, was irgendwie Schlaglichter auf Scheffels Entwicklung-gang werfen könnte, mitgetheilt wird. Eine Fülle von Briefen, Akten, Zeugnissen noch lebender Zeitgenossen reden mit eigner Sprache charakteristisch zu un- und geben dadurch dem Buche einen besondern Reiz, dem bekannten Worte Emerson- entsprechend, der jede Biographie möglichst autobiographisch gestaltet haben will. Allerdings Preußische Jahrtüchee. 83b. LXL Heft 2. g

Joseph Victor von Scheffel.

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muß bemcrkl werden, daß der Laie die ausführliche Darlegung aller dieser Quellen entbehren könnte: Glaubt er ja so gern unbedingt seinem Autor!

DaS Buch, das in der vorliegenden Gestalt stellenweise etwas Schwer­

fälliges, Langsames hat, würde sich ohne das häufige Hervortreten der mühseligen Forschungsarbeit bequemer lesen.

Wir erfreuen uns gern am

munter steigenden Strahl des Springbrunnens und

mögen doch nicht

daran erinnert sein, wie viel Mühe seine Ausschachtung kostete.

Auch hat

der Autor diesen Mangel selbst gefühlt; denn er spricht in der Vorrede von einer spätern Bearbeitung, die den Stoff noch einfacher und plasti­ scher gestalten werde.

Daß das Buch, obgleich es auf Schritt und Tritt

landläufige Irrthümer widerlegt, so gar nicht den Charakter des Polemi­ schen trägt, wissen wir dem Darsteller zu besonderm Dank.

Nur ganz

vereinzelt, wenn es ihm erscheint, als habe die Fama seinem Helden gar

zu übel mitgespielt, spürt man die innere Erregung zwischen den Zeilen. DaS Buch, ein stattlicher Band von fast 700 Seiten, enthält eine Reihe hübscher Illustrationen, meist Oertlichkeiten darstellend, welche für Scheffels Leben und Dichten bedeutungsvoll geworden sind.

Mehrere Porträts des

Dichters, sowie ein reizvolles Bild seiner früh verstorbnen Schwester

interessiren unS lebhaft.

Möge der Wunsch gestattet sein, ihrer Reihe

auch das lebenswahre Bild der Mutter, das mir aus dem Ruhmannschen

Buche her bekannt ist, zugefügt zu sehn.

Aus der Fülle dessen, was unS

Proelß bietet, möge hier ein kurzer Abriß folgen; er will den Leser durstig machen, an der Quelle selber zu schöpfen. —

Johann Victor Scheffel wurde am 16. Februar 1826 in Karlsruhe geboren,

wo sein Vater damals Ingenieur und Hauptmann, später die

Stellung

eines Oberbauraths bekleidete; er war ein ernster, strenger

Mann, ein pflichttreuer Beamter, ein tapfrer Offizier, der sich im Kriege, wie im Frieden gleich sehr ausgezeichnet hatte.

Des Dichters Mutter,

Josephine geborne Krederer, die Tochter eines wohlhabenden Kaufmanns und Stadtschultheißen, stammte aus Oberndorf am Neckar. in Charakter und-Temperament sehr verschieden,

Eltern Goethes.

DaS Ehepaar

erinnert uns

an die

Der Verlauf von Scheffels Lebensgeschichte zeigt beides,

wie sehr sein Vater auf „deS Lebens ernstes Führen" bedacht war, und welche wohlthätige Wirkung des Mütterchens Frohnatur allezeit auf den

Sohn auSgeübt hat.

Frau Josephine wird von allen, die sie gekannt

haben, als eine lebenslustige, anregende Frau geschildert, welche Herz und Kopf auf dem rechten Fleck hatte und nicht nur daheim im Stillen, son­

dern auch in einem größeren Kreise nach außen hin, ihre Stellung wohl auszufüllen wußte.

Beide

Großelternhäuser

Scheffels

standen

in

den

Thälern

des

103

Joseph Victor von Scheffel.

Vom Epheu alter Erinnerungen umsponnen, redeten sie

Schwarzwaldcs:

dem Knaben mit steinerner Zunge von früheren Zeiten.

Proelß hält

diesen Umstand für sehr bedeutungsvoll und geht ausführlich

den ver­

schlungenen Beziehungen nach, welche seinen Dichter durch uralte Familien­

tradition mit jener Kultur des Mittelalters verbinden, deren Gestalten er später so markig und klar zu zeichnen gewußt hat; mit psychologischem

Scharfsinn weist er nach, wie hier die Keime zu Scheffels späterem dich­ terischen Schaffen zu suchen seien:

Dichter dazu geführt

habe,

„Daß nicht gelehrte Liebhaberei den

alte Klosterchroniken zu studiren

und die

einer vergangnen Kultur zu neuem Leben erstehen zu

Trümmerstätten

lassen, daß etwas Andres ihn vielmehr begabte, diese Bilder mit farbigem, daseinsfreudigem,

blutdurchströmtem Leben zu erfüllen.

Ihm war diese

Welt von Klein auf nichts Todtes, sondern etwas Lebendiges; die Phan­

tasie des Knaben schon hatte sich gewöhnt und es sich zur zweiten Natur werden lassen, die Reste der heimathlichen Vorzeit künstlerisch zu ergänzen

und mit buntem Leben zu bevölkern."

So lauschte der Dichter schon als

Kind dem lebendigen Quell der Geschichte:

Doch blieb ihm das geheim­

nißvolle Leben und Weben der Natur darum nicht fremd.

Der Vater

nahm ihn häufig auf seinen Inspektionsreisen mit, so daß dem Knaben schon früh Wald und Feld vertraute Stätten wurden und

in ihm jene

starke Liebe zur Natur erwachsen ließen, welche dem Manne zeitlebens eigen

geblieben

ist.

Glückliche Kinderjahre verlebten Joseph und seine

jüngre Schwester Marie in dem stattlichen Hause der Stefanien-Straße. War doch die Mutter immer bereit,

obgleich auf ihr die Sorge für ein

drittes geistig und körperlich verkrüppeltes Kind

lastete,

auf die Spiele

und Liebhabereien der andern beiden verständnißvoll und fördernd einzu­

gehn.

So hören wir, daß

sie mit ihnen spielt,

ihnen selbsterfundnc

Märchen erzählt, ja daß unter ihrer Leitung Joseph und mehrere seiner Kameraden auf einem Speicher des Hauses eine Aufführung des Götz

veranstalten.

Der Dichter hat ihren Einfluß auf sein eignes Schaffen

lebhaft gefühlt und gelegentlich selbst bekannt:

„Wenn Sie meine dich­

terische Art begreifen wollen, dann müssen Sie den Grund nicht in meinem Leben suchen; das ist sehr einfach verlaufen.

Es kam alles von

innen heraus; meine Mutter hätten Sie kennen müssen, was ich Poeti­

sches

in mir habe,

das habe ich von ihr."

Ihrer klaren,

offnen Ge­

müthsart ist es auch zu danken, daß bei bewußter Zugehörigkeit zur katho­ lischen Kirche ein gesunder Geist der Toleranz und Freiheit in Scheffels

Vaterhause waltete, der den begabten Knaben bald zu selbständigem Denken erstarken ließ.

Seine Schuljahre absolvirte er auf dem Gymnasium zu

Karlsruhe, allezeit ein vorzüglicher Schüler, der seine häuslichen Aufgaben 8*

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Joseph Victor von Scheffel.

leicht bewältigte: So blieb ihm manche fttUe Stunde für seine Lieblingsgegenstände, Geschichte und Literatur. Eine wohl verbürgte Anekdote er­ zählt, daß er schon als halbwüchsiger Bub' für alte Volksbücher eine leidenschaftliche Vorliebe gehabt und diese mit Aufwand seines ganzen Taschengeldes befriedigt habe. AlS es ihm einst daran mangelte, wußte er doch zum Inhalt eines solchm begehrten Schatzes zu gelangen: Bor dem Meßstand de- Trödlers Posto fastend, las er gegen Erlegung einiger Leihgebühren die ganze Geschichte in Eile durch. Und noch der Primaner fühlte sich von dem romantischen Geiste jener alten Sagen berührt: In ritterlichem Kostüm, alS Helden des König Artus angethan, feierten Scheffel und seine Freunde ihre ersten Kneipabende: Ihm dem blonden, zart auSsehenden Jüngling ward die Rolle der schönen Königin Ginevra zuertheilt, die er in weißem, wehenden Schleier an goldnem Reife be­ festigt, mit der ihm eignen mädchenhaften Scheu durchführte. Lange blieb diese charakteristisch für ihn: Gern floh er das laute Treiben seiner Genossen und die redseligen Kreise seiner Mutter, um auf seiner stillen Dachstube hoch, über den grünen Wipfeln deö Gartens eignen Träumereien nachzuhängen und sie gestaltet zu Papier zu bringen, fei eS In Worten oder Linien. Froh feines hübschen Zeichentalentes ward er nicht müde, eö zu üben, nicht ahnend, welch Danaergeschenk ihm damit geworden war: Wieviel Conflicte seines Lebens ihm daraus erwachsen würden. Schon damals hatte er den lebhaften Drang, seine Zukunft darauf zu gründen, ein Maler zu werden. Allein der gestrenge Herr Major wollte nicht- davon wissen; sein Wunsch war, den Sohn möglichst bald in einer soliden Beamtenlaufbahn versorgt zu sehn; deshalb erwählte er ihm das Studium der Rechte. Dem unbeugsamen, väterlichen Willen galt es zu gehorchen; doch wußte der Sohn die Erlaubniß zu gewinnen, München, besten Kunstschähe ihn lebhaft anzogen, al- erste Universität be­ ziehn zu dürfen. Man hat oft behauptet, daß Scheffel, seinem eignen Worte gemäß: „Man spricht vom vielen Trinken stet», doch nie vom vielen Durste", ein allzu flotter Bruder Studio geworden sei. Diese Annahme ist irrthümlich; der stille, fleißige Lhceat blieb auch als Student seinen Grundsätzen treu; ja er lebte so solide, daß selbst der Vater ihm die Mahnung er­ theilte, getrost mehr Geld zu verbrauchen. Zu einer richtigen Vorstellung deS Studiosus Scheffel möge uns ein Wort des gealterten Dichters ver­ helfen: „Wenn jemand meinen Gaudeamus in die Hand bekommt und liest da alle die durstigen Lieder hintereinander in einem Zuge weg, da mag er wohl denken: „Nun der hat's schön mitgemacht in seinen Stu­ dententagen". Aber er hätte doch Unrecht; wohl bin ich von Herzen lustig

Joseph Steter von Scheffel.

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gewesen im trauten Freundeskreise und habe des Studentenleben- Freuden durchgenossen, wie irgendeiner. Aber da- hatte immer seine feste Zeit, imd ich bin auch fleißig im Hörsaal gesoffen und habe mich der Mühe nicht verdrießen kaffen, mich durch das Corpus Juris und all das schwere Zeug juristischer Gelehrsamkeit, da- manchem langweilig vorkommt, redlich durchzuarbeiten." Wir haben viele Zeugniffe darüber, wie er immer wieder auf'- neue versucht hat, dem einmal erwählten Studium Reiz abzugewinnen; stet» vergeblich, Jung-Werner» Worte stammen au- deDichterS eigenster Erfahrung: .Römisch Recht, gedenk' ich Deiner, Liegt'« wie Alpdruck auf dem Herzen, Liegt'« wie Mühlstein mir im Magen, Ist der Kops wie brettvernagelt."

Außer den juristischen Vorlesungen, die ihm diesen Stoßseufzer entlockten, hörte Scheffel andre Collegia, welche ihn mehr fesselten, Kunstgeschichte, Aesthetik, Geschichte und Philosophie. E» ist bezeichnend, daß bei den Fachkollegien nur das Belegen, bei den philosophischen und historischen Vorlesungen der fleißige Besuch bezeugt ist. Kein Wunder, daß in dem kunstsinnigen München Scheffels Liebe zur bildenden Kunst doppelt er­ starkte. Ihr dankte er auch seine Freundschaft mit Friedrich Eggers, dem spätern berühmten Kunsthistoriker, der er zeitlebens treu geblieben ist. AlS nach 30 Jahren ihn die Kunde von EggcrS Tode erreicht, schreibt er: „Es ist mir, als wäre ein Stück von mir selber begraben; denn wir haben unsre Studienjahre in idealer Liebe zur Kunst und idealer, per­ sönlicher Freundschaft verlebt und in München, wie in Berlin uns Stoffe und Gedanken gesammelt, die weit in da- spätre Leben hinein­ reichten." Trotz seiner künstlerischen Neigungen ließ Scheffel sein Brod­ studium nicht außer acht: Hatte er in München und später in Heidel­ berg, wo er den Winter 1844 verlebte, verschiedne nicht juristische Vor. lesungen gehört, so gestaltete sich sein Lehrplan für seine beiden letzten Semester in Berlin und Heidelberg ganz fachgemäß, „die Würfel sind ge« fallen", schrieb er an einen Studienfreund, den spätern Amtsrichter Schwanttz, „wenn e- nicht in Gotte- Namen geht, so ochse ich in Drei« teufelSnamen und gedenke jedenfalls in diesem Winter ein ziemliches Stück vorwärts zu kommen". Demselben treuen Freund, dem er sein ganzeLeben hindurch, jede Falte seines Herzens offen gelegt hat, schrieb er einige Monate später: „Die tüchtige Erfüllung eine- Berufe» kann einem unmöglich das Leben in dunklem Schatten erscheinen lassen; ich meinerseits freue mich eher auf den Anfang meines praktischen Rechts­ leben», wo da», was man so ledern hineinochst, allmählich auch Leben und

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Joseph Victor von Scheffel.

Gestalt.erhält." Doch auch die trockne Jurisprudenz führte ihn auf Oasen, auf denen sich sein Geist heimathlich umwittert fühlte. Mit Eifer und Freude vertiefte er sich in die von Grimm und Andern neu her­ vorgeholten deutschen RechtSaltenhümer, deren Werth dem römischen Recht gegenüber, er so gern vertheidigte: »Sind verdammt wir immerdar, den Großen Knochen z» benagen, Den al» Abfall ihre» Mahle» Un» die Römer hingeworfen? Soll nicht auch der deutschen Erde Eignen Rechte» Blum' entsprießen; WaldeSdoftig, schlicht, kein üppig Wuchernd Schlinggewächs de» Südens?"

In Heidelberg war Scheffel eifriger Burschenschafter und gehörte, wie Proelß ausführlich berichtet, nach einander mehreren Verbindungen an; obgleich jederzeit für Freiheit begeistert, war er doch in seinen politi­ schen Anschauungen zu maßvoll, um nicht da- unklare Stürmen und Drängen vieler seiner Zeitgenossen nach unmöglichen Zielen zu verurtheilen. Für ihn lag die Poesie des Studentenlebens in dem, was feine Verse sagen: „Nicht tasten und nicht rosten, Weisheit und Schönheit losten, Durst löschen, wenn er brennt; Die Sorgen singen mit Scherzen, Wer da» thut, bleibt im Herzen Zeitleben» ein Student."

Viele Motive und Stimmungen der spätern GaudeamuS-Lieder stammen sicher auS dieser Zeit: So auch der Keim zu den berühmten Liedern de» RodenstetnerS, dessen Spukgeschichte Scheffel mit drei Genossen auf einer winterlichen Wandrung durch den Odenwald zu ergründen suchte. Daheim sorgte man sich indes um ihn und forderte ihn mehrfach auf, nach Karlsruhe zurückzukehren, um sich den Examensarbeiten zu widmen, ja eine» Tage» erschien sogar der Diener des Vater» bei ihm, mit der nicht mißzuverstehenden Wendung, er solle ihm beim Etnpacken helfen: So mußte denn geschieden sein. „O Heidelberg, o Heidelberg Du wunderschöne Stadt. Gut' Nacht Studentenleben, Ich werd' jetzt Kandidat."

ist der letzte Der» des Liedes, mit dem er sich von seinen Freunden der Frankonia, verabschiedet. Ein Jahr lang blieb er „Kandidat"; doch wurde er in seiner Examensvorbereitung jäh durch die politischen Ereignisse de»

Jahre- 1848 unterbrochen. Proelß läßt e- sich in seinem dritten, der Badischen Revolution gewidmeten Kapitel sehr angelegen sein, seinen Helden gegen den Borwurf kühler Zurückhaltung angesichts der Freiheits­ bestrebungen in Schutz zu nehmen; er berichtet, daß Scheffel in jenen Tagen genau „wie jeder andre begabte, edel angelegte, feurige junge Mann mit Begeistrung geschwärmt, gearbeitet und geirrt habe". Ein Theilnahmenloser hätte sich nicht unter den Delegtrten der Studenten­ schaft auf der Wartburg befunden, noch wie Scheffel der Eröffnung deParlamentes in Frankfurt beigewohnt. Daß er früher, als mancher An­ dere ernüchtert, klar für einen Dretundzwanzigjährlgen, fast zu klar die Un­ fruchtbarkeit der Bewegung durchschaute, welche sich vor seinen Augen ab­ spielte, hat seinen Grund auch darin, daß er, der inzwischen Sekretär beim alten Welker geworden war, manchen Blick hinter die Couliffen that. Wie sehr der verrottete Schlenderian in der Geschäftsführung des deutschen Bundes seinen Spott herausforderte, zeigt das bekannte übermüthige Ge­ dicht, deffen Ironie sich auch gegen seine eigne Person richtet: »ES war ein Kommissar!,

Der soff bei Tag und Nacht. Er hatt' einen Sekretari Hat « ebenso gemacht.

Depeschen, Dries' und Akten Macht' ihnen wenig Müh,

Sie kneipten und tabackten

Don spät bi» morgen» früh. Und lag der Kommissari

De» Morgen» noch im Thran,

So fing der Sekretari

DaS Sanfen wieder an. Wo war der Kommiffari, Der soviel sausen konnt'? Wo war sein Sekretari?

Sie war'n beim deutschen Bund."

Hatte Scheffel für die Frankfurter Zustände nur ein ironische- Achsel­ zucken, so berührte ihn die frohe Thatenlust, die kampfbereite Stimmung der Schle-wigschen Herzogthümer, die er bei Gelegenheit von WelkerLauenburger Reise kennen lernte, durchaus sympathisch. Wie warm er für ihre Sache empfand, geht au- einem spätern Brief an einen väter­ lichen Freund in Schleswig hervor: „Wenn ein guter Wille und ein heiliger Zorn über unser deutsches Elend hinreichten, um mich armen Schreiber an den Platz hinzustellen, wo jetzt jeder hingehört, der noch Herz und Ehre im Leibe hat, so stände ich längst al» Wehrmann bei

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Joseph Victor von Scheffel.

einem Ihrer tapfern Bataillone und hörte die dänischen Kugeln pfeifen. Verhältnisse, Umstände, Rücksichten, und wie all die lumpigen Motive heißen, die den edlen Trieb im Menschen abtödten, wollen e- ander-, und so bleibt mir nur der miserable, leider Gotte- echt deutsche Trost, Ihnen theurer Herr, mit der Feder meine Theilnahme au-zudrücken. Ein reiche- Maß von Prüfungen ist über Sie verhängt; aber wa- Sie leiden, und wa- Ihr Land leidet, wird eine Stelle finden, wo e- gutge­ schrieben wird bi- zur großen Abrechnung. Ich weiß, daß Sie mit der nordischen Manne-ruhe Ihr Schicksal tragen, und daß Sie bereit sind, noch mehr hinzugeben im Kampf für deutsche- Recht und deutsche Ehre, und darum wäre e- eitel Mühe, Worte de- Troste- beizubringen. Wer so mit dem Schwerte in der Faust seine Pflicht thut, der tröstet sich selber und verachtet da- Pack, da- da draußen herumsitzt , und die Hände im Schoß liegen hat. Und wenn'- unser Geschick nicht ist, daß wir al» alteund schwache- Kulturvolk un- zu Grabe legen sollen, und wenn unser Deutschland durch eiserne That mal wieder jung geworden ist, dann wird sich'- noch dankbar an seine besten Söhne in Schleswig-Holstein erinnern und wird zu den Kämpfern von Idstedt sagen: Ihr seid die Einzigen, die eö verstanden und mir den Weg zum Gesundwerden zeigten." Nachdem er in dieser aufgeregten Zeit Staat-- und Doctor-Examen absolvirt, begab sich Sckessel nach'Karlsruhe, wo er den Ausbruch der badischen Revolution erlebte. Ihren unheilvollen Ausgang voraussehend, befand er sich in bitterm Zwiespalt; der folgende Brief charakterlsirt seinen Standpunkt. „Da- war ein böses halbes Jahr, seit ich Dir nicht mehr geschrieben habe. Und jetzt? „Sie hängten ihre Harfen an die Weiden­ bäume bei Babylon und trauerten und weinten um Zion." Jetzt sind wir soweit gekommen, daß wir Badenser unser kleine- Vaterland verloren und kein große» dafür gewonnen haben. Altveutschland, wo bist Du zu finden? — Eben begraben sie'- in Schleswig und unsre Ehre dazu. — Lieber alter Freund! Ich bin noch zu deprimirt von alledem, was in den letzten 3 Monaten an mir vorüberzog, als daß ich Dir ausführlich auf Deine theilnahmvollen Zeilen vom 20. Juni antworten könnte. Ich kann Dir nur soviel sagen: Es geht mir gut, insofern ich nicht todlgeschoffen oder europaflüchtig bin — schlecht, insofern ich mit Hoffnungen, Träumen, Aussichten vollständig an die Luft gesetzt bin und leider noch ein Herz für den Jammer bei uns und in Deutschland habe, so daß ich gegenwärtig im Sinne unsrer badischen Restaurationskünstler zu nicht- oder zu sehr wenig tauge An der Revolution in Baden habe ich keinen Theil genom­ men, nicht weil ich keine Revolution wünschte, sondern weil ich eine ganz andre Organisation de- deutschen Reich-verfassungSkampfeö anstrebte."

Die bittre Bemerkung, daß er im Sinne der badischen Restaura­ tion-künstler zu nicht- tauge, bezieht sich auf ein persönliche- Erlebniß. Er war den Civilkommissarien v. Orff und Schaaf al- Sekretär beige­ geben; al- man ihm in der Folge da-Ansinnen stellte, sich an der Unter­ suchung gegen politische Verbrecher zu bethciligen, fand er die- mit seiner Ehre unvereinbar; so wurde er „seiner Stellung plötzlich enthoben". Diese Episode zeigt, daß er ebenso wenig gewillt war, die Reaktion zu unterstützen, al- er einige Wochen vorher der Demagogenpartei hatte dienen wollen. Seinem Gewisien folgend, hatte er sich, al» in Karlsruhe alle Bande der Ordnung gelöst waren, der Emigrantenkolonie in Auerbach angeschloffen. Sie bestand au- einer Reihe ordnungsliebender Bürger­ familien, sowie au- einer Anzahl von jungen, krieg-tüchtigen Männern, welche unter der provisorischen Regierung nicht dienen wollten; unter ihnen befanden sich mehrere Profefforen, wie Gervinu» und HSusier und Beamte, wie Dr. v. Preen, Scheffel- ehemaliger Vorgesetzter. Mit den beiden Letzteren war Scheffel schon in Heidelberg Mitglied eine- ge­ selligen Verein», de- sogenannten „Engeren Au-schuffe-" gewesen, deffen fröhliche Tafelrunde in Auerbach fortgesetzt wurde. Ueber die Entstehung de- Engeren, der 1841 von dem Historiker Häusser gestiftet wurde und bi- zu dessen Tode im Jahre 1867 bestand, berichtet Proelß viel Jnteresiante» und Belustigende-. Ein KreiS bedeutender Männer, der sich regelmäßig bei einem Glase Wein, zusammenfand, um in anregendem Gespräch die Tage-fragen zu erledigen, über alle» Wissen-werthe zu diSputiren und endlich in harmloser Fröhlichkeit de- Leben» Sorgen zu ver­ gessen; da- war der „Engere", zu dem sich Scheffel mit allen Fasern seine- Herzen- hingezogen fühlte: In dieser Atmosphäre zündenden Witze» lösten sich Gemüth und Zunge und strömten über in lustigen Weisen. Die meisten der später unter dem Namen Gaudeamus gesammelten Lieder find für diesen Verein gedichtet, wie eS die Widmung, die kurz nach Meister Häusser- Tode geschrieben, ausdrücklich bekennt: „3tt diesem Thal der weißen Blüihenbäume

Kam mir de» Orte- Genin» oft genaht, Und fügte Scherz, Humor und heitre Traume

Zum Wisfeu»ernst der alten Musenstadt. Er ging nicht steif in klassischen Gewänden,

Ging keck und flott und trank wie ein Student, Und glich nicht viel den nenn antiken Tanten,

Die man im Mhthu» mit Apollo nennt. Wa» er mich lehrte, bracht' ich in den Engern,

Wo eine treubewährte Freundesschaar Den Mittwoch in den Donnerstag zu tängern

Beim goldnen Rheinwein oft beflissen war.

Da fiel- nicht schwer, die Saiten hell zn schlagen,

Selbst wllrd'ge Pfarrhcrrn wurden singend laut, Wenn un- ein Meister, dessen Tod wir klagen

Mit kundiger Hand den Maientrank gebraut."

Der hier erwähnte würdige Pfarrherr ist der Pfarrer Schmezer zu Ziegelhausen, das Urbild des Pfarrer- von AßmannShaufen und Augur­ don Tegulinum. Er war eS, der, im Besitze einer herrlichen Stimme und eines großen schauspielerischen Talente-, die Trinklieder Scheffelzuerst im Engeren zu hinreißender Wirkung brachte, wie er andrerseits auch durch seine Borträge über naturgeschichtliche Fragen, die er mehrere Winter hindurch vor einem erlesenen Publikum in Heidelberg hielt, Scheffel zu seinen humorvollen, naturwiffenschaftlichen Gedichten anregte. Doch so viele heitre Stunden Scheffel auch mit den Freunden de- Engeren ver« lebte, schon damals empfand er als Quelle feine- Humor- eine innre Melancholie, deren Grund er selber in den politischen Berhältniffen sucht, wenn er gelegentlich schreibt: „Da- Anschauen und zum Theil Miter­ leben der vielen schiefen und kuriosen Verhältniffe, an denen seit 1848 unser Vaterland so reich ist, geben meiner Poesie eine ironische Bei­ mischung, und meine Komik ist oft nur die umgekehrte Form der innern Melancholie." — Da- Jahr 1850 führte Scheffel zuerst in eine feste Amtsthätigkeit: Er erhielt die Stellung eine- Dienstrevisors bei dem Amte in Säkkingen; dieses freundliche Städtchen auf der Grenze zwischen deutschem Rheinland und deutscher Schweiz gelegen, bildet einen der vorgeschobensten Posten des Großhcrzogthums Baden; eS liegt in schöner, fruchtbarer Umgebung, und der erfahrne Heidenapostel Fridolin hat gar mal gewußt, wa- er that, als er gerade hier eine Ansiedlung in- Leben rief. Proelß, dessen Sammelfletß dem Dichter auf Schritt und Tritt nachgegangen ist, erzählt, wie e- eigenartig berühre, in Säkkingen überall Erinnerungen an ScheffelBuch zu begegnen. Da heißt die besuchteste Wirthschaft „Zum schwarzen Wallfisch in Askolon", der nahe Waldsee, „Scheffel-See" und der darauf kreuzende Dampfer sogar „Hidigeiget". Da- malerische Waldstädtchen aber grüßte ihn, wie eine längst vertraute Stätte: So genau entspricht da» dichterische Bild der Wirklichkeit. Zwei Jahre verlebte Scheffel hier in anmuthigem Gemisch ernster Arbeit und froher Muße. Zwar seine Amts­ thätigkeit gab ihm wenig zu thun; desto mehr aber lockte es ihn, in dieser Umgebung, welche ihn mit Augen alter Zeiten geheimnißvoll an. schaute, zu den Quellen zu steigen, und ihnen abzulauschen, was die ein­ zelnen Denkmäler ihm zuflüstern wollten. Proelß sieht mit Recht den Schwerpunkt des Säkkinger Aufenthaltes für unsern Dichter in der Er-

Joseph Victor von Scheffel.

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forschung dieser alten Geschichten; er Hat ihm dabei fleißig über die Schulter gesehn und weiß den Ernst, mit dem Scheffel hier die gründ­ lichsten Forschungen betrieben, nicht genug zu rühmen. Wenn wir un» vom Zauber der Scheffel'schen Dichtung umweht fühlen, die so mühelos, so leicht dahinfließt, ahnen wir nicht, welch' Stück Gelehrtenarbeit dazu gehörte, diesen Gestalten und Zuständen einen so fröhlichen Auferstehungs­ morgen zu bereiten. Noch aber war der Sang vom Oberrheln nicht ge­ schrieben; noch sammelte der junge Amt-revisor Bausteine dazu. Nicht nur Chroniken und Archive, nicht nur der heilige Brunnen der Perga­ mente allein schenkten ihm Gewißheit: Auch Land und Leute gaben ihm Auskunft; auf seinen Wanderungen durch den Schwarzwald ging ihm, der mit den Augen de- Maler- zu sehen verstand, manche Offenbarung über mittelalterliche Cultur und Lebensweise auf, saß doch droben im Schwarzwald das allemanische Bölkletn der „Hetzen". Scheffel hat den Charakter diese- Volk-stamme-, der unberührt von allen Neuerungen moderner Zeit zähe am Althergebrachten festhält, ausführlich geschildert in einem kulturhistorischen Aufsatz „die Hauensteiner", der 1853 im Jahr­ gang de- Cotta'schen Morgenblattes erschien. Ent Vergleich zwischen dieser Arbeit und der Trompeterdtchtung, die, obgleich sie erst später zu Papier gebracht wurde, doch al- Frucht de- Säkkinger Aufenthalte- be­ trachtet werden muß, ist insofern interessant, al- er zeigt, wie wohl Scheffel den Dichter vorn Forscher zu. trennen wußte. Während die ProsaArbeit überall die gewlffenhafteste Benutzung alter Geschicht-werke ver­ räth, finden wir im Liede den Granit de- Historisch-Gegebenen mit üppigem Schlinggewächs freier Erfindung überdeckt. Die erste Anregung zu seiner Dichtung soll Scheffel einem Grabmal auf dem Säkkinger Kirch­ hof danken, dessen lateinische Inschrift in deutscher Uebersetzung lautet: „Ewige Ruhe der Seele und de- Leibes suchte hier bet Lebzeiten und sand durch einen-ruhigen, seligen Tod daS in gegenseitiger Liebe unver­ gleichliche Ehepaar, Herr Franz Werner Kirchhoffer und Frau Maria Ursula v. Schönau. Er am letzten Mai 1690, sie am 21. März 1691. Sie leben in Gott." Als Scheffel sich des Nähern nach diesen Beiden erkundigte, erfuhr er folgende Sage: Werner Kirchhoffer, ein Bürgersohn in Säkkingen wohl bewandert in der Musik, spielte öfter» mit anderen Genoffen im Schlöffe de» kunstltebenden Freiherr», dessen einzige» Töchter­ lein er bei diesen Gelegenheiten sah und lieb gewann: Wohl war auch sie ihm zugethan; allein der Vater, der ihre Liebe entdeckt hatte, trennte sie,, indem er die Tochter an den kaiserlichen Hof zu Wien brachte. Bor ihrer Abreise schwur sie Werner ewige Treue und versprach ihm, dadurch Kunde von ihrem Aufenthalte zu geben, daß sie ihren Namen-zug an die

112

Joseph Victor von Scheffel.

Kirchenthür schreiben werde. Sie hielt Wort; da- Wiedersehen zwischen ihr und Werner, der inzwischen Kapellmeister geworden war, erregte die Aufmerksamkeit des Kaisers, der den jungen Musiker In den Adelsstand erhob und so eine Verbindung zwischen den beiden Liebenden ermöglichte. Wir sehn, Scheffel hat das Thema beibehalten, es aber umgestaltet und durch eine Reihe eigner Motive ergänzt. In das lose Gewebe deS EpoS ließ sich so manches Selbsterlebte und Erschaute einfügen. Wir irren nicht, wenn wir in Jung-Werner, der seiner staubigen Schreibstube ent­ laufen ist, um ein freier Jünger der Kunst zu werden, den Dichter sehn, der ähnliche Gelüste hatte, den eS auch zog, als fahrender Schüler die Welt zu durchstreifen, einsam seine Bahn zu wandeln und'in der Natur Beruhigung und Genesung für das kranke Herz zu finden: „Strauß' im Wald, im grünen, Heilern Wo die Menschenstimmea schweigen, Wo ans dnst'gen Farrenlräntern Nächtlich schwebt der Elfenreigen.

Dort versteckt von Stein und Moose Rauschet frisch und hell die Welle, Dort entströmt der Erde Schooße Ewig jung die Wunderquelle.

Dort umrauscht von Walde-frieden Mag der kranke Sinn gesunden Und deS Lenze» junge Blüthen Sprossen über alten Wunden."

Wie Jung-Werner hatte auch er erster Liebe Leid und Lust erfahren in dem Verhältniß zu seiner heitern, schönen Cousine Emma Hein, deren gast­ liches Vaterhaus zu Großlaufenburg er von Säkkingen aus, oft besuchte. Ihr gelten die anmuthigen Liebeslieder in dem Lyrischen Intermezzo, wie daS schwermuthSvolle Gedicht: «Behüet Dich Gott, er wär' zu schön gewesen, Dehüet Dich Gott, eS hat nicht sollen sein",

in dem daS Geschick seiner unerwiderten Liebe auSklingt. Trotz vieler heitrer Stunden, welche ihm den Säkkinger Aufenthalt noch in der Er­ innerung lieb machten, schied Scheffel nach Ablauf von zwei Jahre» doch nicht ungern auS der Waldstadt: War er doch der kleinen Berhältniffe in dem Grade mehr und mehr überdrüssig geworden, als ihm seine Berufs­ thätigkeit täglich trockner und öder erschien. Der Dichter regte sich in ihm, und mit mächtigem Flügelschlage flehte seine Seele um Freiheit. Ehe ihr aber diese goldne Gabe zu theil wurde, gab eS bittre Kämpfe nach innen und nach außen. Ein Brief vom 7. Oktober giebt uns Ein­ blick in seine Seelenzustände, er schreibt an Schwanitz: „Sind nun schon

Joseph Victor von Scheffel.

113

6 Jahre, feit ich bei Dir in Jena eingezogen — und ich bin noch der­ selbe fahrende Schüler, ohne Ruhe, ohne Stellung mit unbefriedigtem Drang in- Weite; Du aber bist Bürgermeister zu Eisenach. S'ist kaum erlaubt. E- bleibt mir nicht- übrig, als Dir ein wehmüthige-: „Leben Sie gefälligst hoch, Herr Bürgermeister" zuzurufen und mir selbst einige moralische Borstellungen aufeämmern zu lassen. Wa- mich betrifft, so habe ich am 1. September Säkkiugen verlassen und mich sofort in die Graubündtner Alpen verzogen, wo ich an den Quellen de- Rhein und auf den wilden Höhen de- Bernina, wo nur noch da- Murmelthier in den Steinritzen pfeift und die Gemse flüchtig über die unermeßlichen Schneefelder und Gletscher hinstreift, meine Gedanken von den kleinen Miseren badischer Kanzteithätigkeit habe au-ruhen lassen und an größere Dimensionen gewöhnt. Schlug mich sodann über Tirol und Salzburg durch München durch zu den Meinigen zurück und werde nun ein stilleWinterleben führen." Diese Reise ist nicht nur um ihrer befreienden Wirkung auf Scheffel- bedrückte- Gemüth willen wichtig, sondern auch des­ halb, weil ihre Eindrücke, Scheffel zu seinem ersten schriftstellerischen Auf­ treten veranlaßten. Mit Professor Häusser zusammen hat er sie in Reise­ briefen niedergelegt, deren 6 unter dem Titel „Au- den rhätischen Alpen", noch in demselben Jahre in der Aug-burger Allgemeinen Zeitung er­ schienen. Proelß sagt von ihnen: „ES waren nicht etwa blos unter­ haltend und belehrend geschriebene Skizzen von interessanten Reiseein­ drücken, welche die gelehrte Bildung der Autoren wiederspiegeln, die im Grunde aber nur oft Geschilderte- in ihrer Weise behandeln; sie hatten auch dem Stoffe nach den Reiz der Neuheit; denn damals war daEngadin noch jungfräulicher Boden." Er nennt ihn so in touristischer, wie wissenschaftlicher Beziehung. Scheffel- Wunsch, die Briefe mit Häusser gemeinsam für die Veröffentlichung umzuarbeiten und diesen zu dem Zweck nach Heidelberg zu begleiten, fand die Einwilligung de- Vater-, der seinen Sohn gern al- Arbeit-gefährten eine- so berühmten Mannesah. Scheffel verlebte genußreiche Herbstwochen in seiner geliebten Stadt, in fröhlichem Verkehr mit der Tafelrunde de- Engeren, unter deren Ge­ nossen er sich damals besonder» an den Theologen Schmezer und den Philosophen Friedrich Knapp anschloß. Wieder unterlag er ganz dem Reiz de- Genin- Loci Heidelberg-; kein Wunder, daß er dann den Gegensatz doppelt empfand, al- er im December eine neue Amtsthätigkeit in Bruchsal beginnen mußte. Nach dreimonatlicher Ausübung derselben schreibt er: „In mir hat sich allmählich ein Gefühl unendlichen Ekel­ angesetzt, da- noch einmal zu irgend einer Explosion kommen wird, und leider habe ich sogar den Humor verloren, der sonst al- grüne Pflanze

(Mauerpfeffer, sedum acre) aus den Trümmern abgelebter Zeiten hervvrsproßte..... Bruchsal ist eine langweilige Seestadt und Sekretär am Hof­ gericht ist eine langweilige sociale Position. Die ganze lebensfrische An. schauung der Dinge wird durch diese» ewige Actenlesen, durch diese Hantirung mit Tinte und Feder demoralisirt. Ich halt'- nicht lange mehr au» und bin schier im Begriff meinen Glauben an die Rechtswissenschaft selber zu verlieren. Ich stehe hier ganz allein — niemand kennt urid versteht mich, Erfahrung und Mcnschenverachtung hat mich selbst schweig, sam, mißtrauisch, spürnasig gemacht. Höchsten» fahr' ich einmal nach Heidelberg, zu meinem Graubündtner Reisegefährten, Professor Häusser und frische mich in guten Erinnerungen an Engadin und rhätische Alpen. Pracht an." Der Biograph weist nach, daß eS mit dem „Alleinstehn" nicht wörtlich zu nehmen sei, daß vielmehr Scheffel auch in Bruchsal Freunde gewonnen habe, wie z. B. den HofgerichtSrath Preuschen, der den Leser deS Trompeters insofern besonders interessirt, al» er glücklicher Besitzer eine» sehr intelligenten Katers namens Hidigeigei war, woraus hervor­ geht, „daß der philosophische Kater im Trompeter keine phantastische Er. findung, noch weniger eine ergrübelte Nachahmung andrer literarischer Kater, sondern sammt seinem Namen dem Leben entnommen ist." Ob­ gleich Scheffel dauernd unter dem drückenden Gefühl lebte, sich in der Wahl seine» Berufe» geirrt zu haben, wurde er doch dessen Aufgaben vollkommen gerecht; e» ist amtlich beglaubigt, „dgß er sich fortwährend durch seine Leistungen im Sekretariat, sowie durch erstattete Borträge, sowohl hinsichtlich deS Fleißes, als hinsichtlich de» Talentes und der Kenntnisse in hohem Grade wahrhaft ausgezeichnet habe." So war e» nicht Leichtsinn und Arbeit-unlust, was ihn zu dem.entscheidenden Bruch mit der Beamtenlaufbahn führte, sondern das heiße Drängen de» künst­ lerischen Genius. Zunächst freilich trieb er ihn auf verkehrte Bahnen; denn al» endlich der Herr Major den Bitten seine» Sohne» und vor allen denen seiner Gattin nachgebend, einwilligte, Joseph Künstler werden zu lassen, geschah e» in der Voraussetzung, daß sich derselbe in Rom zum Landschaftsmaler auSbtlden werde, eine Hoffnung, die sich auf eine Reihe hübscher, landschaftlicher Skizzen von der Schweizer Reise heimgebracht, stützte. E» war nicht leicht, sich loszumachen, sein erste» Gesuch wurde zurückgewiesen und erst, nachdem er ausführlich dargethan hatte, daß die beabsichtigte Reise, wie er hoffe, für seine weitere Wissenschaftliche und universelle Ausbildung von Nutzen sein werde, wurde der Ur. laub ertheilt. Man sah ihn ungern scheiden: „Aber Herr Praktikant, be­ denken Sie doch", sagte ein ihm wohlwollender Vorgesetzter, der mit Leib und Seele Jurist war, „in zwei Jahren können Sie HofgerichtSaffessor

in Mannheim sein". Auch diese verlockende Aussicht, sür die Scheffel nur ein zweifelhafte- Lächeln hatte, konnte ihn nicht halten, und im Mai 1852 fuhr er nach Rom. «Mein Hutschmuck die Rose, Mein Lager im Moose; Der Himmel mein Zelt!

Mag lauern und trauern, Wer will Hintern Mauern.

Ich fahr' in die Welt."

Und welche- Stück Welt that sich ihm damals auf! Wie mag Herz und Auge sich vollgesogen haben an der sonnigen Pracht de- Südens! Doch machte er sich gleich mit deutschem Fleiß und Ernst an die Arbeit, um bei Ernst Millers, den er sich zum Meister erkoren, zu studiren. Dieser, ein geborener Oldenburger, stand damals auf der Höhe seines Ruhme-; er hatte in München und Dresden studirt, war aber erst im Süden zum Meister herangereift. Seine historischen Landschaften, die er im Sinne eine- Claude Lorraine und Toussin au-führte, hatten seinen Namen weit über die Alpen bekannt gemacht. Ihm gesellte sich Scheffel aleifriger Schüler zu. Aber so sympathisch ihm mit der Zeit die Persön­ lichkeit de- Lehrers wurde, seine künstlerische Auffassungsweise, welcher jede Freude am Humor und Genrehaften fehlte, vermochte er sich nicht anzueignen. So blieben seine Zeichnungen nur sklavische Nachahmungen des Lehrers, und der große Fleiß brachte keinen Segen. Zunächst em­ pfand das Scheffel nicht; die großen Eindrücke, welche ihm hier aller-' orten nahetraten, die dankbare Empfindung, hier ganz seinen künstlerischen Neigungen leben zu dürfen, liehen seiner Seele Flügel und ließen ihn unendlich glückliche Tage verleben. Während er selber noch immer die Hoffnung festhielt, daß sein Talent ihn zum Maler berufe, hatten seine Freunde schon längst die Erfolglosigkeit seine- Streben- erkannt. Der Brief eine- damals ge­ wonnenen Freundes, de- Maler- Eduard v. Engerth, dessen gastfreieHau- er oft besuchte, schildert den Eindruck, den Scheffels Wesen und Begabung auf unpartheiische Dritte ausübte, so charakteristisch, daß wir eS uns nicht versagen, ihn wenigstens theilweise hier folgen zu lassen: „Wie er früher oder später war, weiß ich nicht; mir lebt Scheffel- als einer der liebenswürdigsten, anregendsten Menschen, die ich je kennen gelernt, in der Erinnerung fort. Er sprach nicht blo- gern und viel, sondern auch ganz ausgezeichnet in Form und Inhalt. Was hatte er nicht alle- gesehen und studirt! Er war so ziemlich in allen Sätteln gerecht; er wußte mit den Archäologen über Alterthümer, mit un- Malern

116

Joseph Victor von Scheffel.

über Kunst, mit den Historikern über Geschichte, mit den Poeten über Literatur zu sprechen, zu disputiren, als ob er jedes Einzelnen spezieller BerufSgenosse wäre; nie war er um ein Faktum verlegen, und sein Standpunkt war stets ein geistreicher, ja nicht selten ein ganz origineller. Aber vielleicht das.Beste daran war die Art, wie er sich gab, — so durchaus natürlich und anspruchslos. Der Mann war nicht geistreich, weil er cs sein wollte, sondern weil eS ihm Bedürfniß war, sich mitzurheilen, — ein Mensch voll der reichsten Gaben, voll überschäumender Kraft, eine reine, schöne, groß angelegte, glücklich entwickelte Natur: So ist Scheffel un- allen erschienen Gleichwol verließ unS ihm gegenüber eine zwiespältige Empfindung nicht; wir freuten unS des prächtigen, erquicklichen Genossen und dabei mußten wir doch immer denken: „Jammerschade wenn aus diesem unge­ wöhnlichen Menschen nichts weiter werden soll, als nach langen Jahren harter Arbeit ein Landschaftsmaler, wie viele andre." Gegen die Ver­ nünftigkeit seines Entschlusses, jetzt noch Maler zu werden, schien so ziem­ lich alles zu sprechen.. Nicht blos, daß er alles hatte aufgeben müssen, wa» er an Wissen und Arbeit für feine Zukunft angelegt; nicht blos der entschiedene Widerspruch seiner Eltern, von denen er materiell ganz und gar abhängig war, sondern hauptsächlich sein Alter und die geringe Stufe der künstlerischen Vorbildung, auf der er stand. Sechsundzwanzig Jahre alt, war er eben erst dazu gekommen, nach der Natur zu zeichnen; an Pinsel und Palette durfte er noch lange nicht denken. Das war selbst bei außergewöhnlicher Begabung spät, vielleicht zu spät. Und lag hier eine solche Begabung vor? Wir konnten eS nicht finden; unleugbares Talent war ja vorhanden, bei einem Dilettanten hätte man eS sogar ein sehr hervorragendes Talent genannt; aber ungewöhnlich war an diesem Schüler der Kunst nicht die künstlerische Kraft, sondern nur die Begeiste­ rung, der eherne Wille. „Ich will und muß ein Maler werden", sagte er und handelte danach; an Fleiß und Energie übertraf ihn niemand. Gegen welche Hindernisse er, dem seit der Knabenzeit das Landschafts­ zeichnen da» höchste Vergnügen gewesen, eS sich endlich erkämpft, seinem Drange folgen zu dürfen erzählte er gerne, immer wieder und ohne Ver­ bitterung; so spricht einer, der nach harten Kämpfen einen Sieg errungen ein Glücklicher, der auf Zeiten de» Unglücks zurückbliüt. Schon der bloße Entschluß habe ihn zu einem andern Menschen gemacht, so ver­ sicherte er. Kurz — wenn je ein Künstler seiner innern Stimme, feinem Dämon vertrauen durfte, so war Scheffel auf dem rechten Wege, als er unter Millers Anleitung streng stilisirte Landschaftsstudien zeichnete. In diesen Monaten hat ihn wohl kein Zweifel beirrt, unS aber bedrückte

Joseph Victor von Scheffel.

117

derselbe. Ihm gegenüber sprachen wir dies freilich nicht auS; eS hätte ihn gekränkt und zu welchem andern Berufe, konnten wir ihm rathen? Die praktische Juristerei widerte ihn an, zu einer Gelehrtenlaufbahn etwa als Historiker oder Germanist, fehlte ihm wohl nicht die Vorbildung — er wußte auf beiden Gebieten so viel, wie mancher junge Dozent — aber die Neigung; auch sahen wir ja klar, daß er eine Künstlernatur war. Da deutete er unS selbst an, welcher Weg wohl der richtigste für ihn wäre. Nicht etwa, daß er unS von seinen dichterischen Versuchen oder Plänen gesprochen hätte. Im Gegentheil I — daS war so ziemlich das Einzige, worüber er niemals sprach, so daß wir monatelang keine Ahnung davon hatten, daß er schon manches Lied geschrieben und sogar hatte drucken lassen. Aber seine Erzählungsweise brachte unS darauf: „Da­ ist ja ein Dichter!" Wenn wir so beim Mittag- und Abendessen bei­ sammen saßen, und er unS ein Erlebniß aus seiner Heimath, eine selt­ same Gestalt oder Begebenheit auS seiner Studentenzeit oder NechtSpraxiS erzählte, schon da mußten wir uns dies unwillkürlich sagen; denn wie rund kam alles heraus, wie künstlerisch gefügt und abgewogen! Und noch mehr, wenn er etwas berichtete, was einige von unS selbst mitange­ sehen: eine Begegnung mit einem Betteljungen, oder einem Hirten in der Campagna, eine Exkursion in die Berge, das Gehaben unsrer Wirthö­ lente *u. s. w. ES war ja alles wahr und doch ganz anders, als wir's gesehen; wie wußte seine Phantasie abzurunden, sein Gemüth zu verklären, sein Geist zu vertiefen! Scheffel konnte mündlich erzählen, wie ich'ö kaum wieder von jemand gehört habe; die einfachste, nüchternste. Begebenheit wurde in seinem Munde spannend und reizvoll. Dabei sprach er unasfektirt, wie immer, und dennoch ganz ander-, als sonst im Gespräch; nicht blos, was den Ton der Stimme, sondern auch was die Ausdrucks­ weise betrifft, welche durchaus eigenthümlich war, und Wendungen auf« wies, wie man sie sonst wohl nur schreibt, aber nie spricht." Es wird dann weiter von Engerth erzählt, wie seine Frau ganz unter dem Ein­ druck von Scheffels Erzählungsgabe eines Abend- auSgerufen habe: „Aber Scheffel, Sie sind ja ein Dichter, schreiben Sie doch das Zeug auf!" eine Bemerkung, der alle Anwesenden lebhaft beigestimmt hätten; doch habe Scheffel dem eifriger werdenden Gespräch ein Ende gemacht mit den Worten: „Vielleicht später einmal, wenn ich bereits ein Maler von Beruf bin; dann schadet eS nichts mehr, wenn ich ab und zu etwas schreibe. Jetzt würde eS schaden; eS könnte mich ablenken von dem Beruf, für den ich geboren bin." Noch also war er in dem verhängnißvollen Irrthum befangen; aber obgleich er ihm in der Folge noch manche goldne Stunde widmete, die allmählich aufsteigenden Zweifel, ob er daS Preußische Jahrbücher. Sb. LXI. Heft 2 9

118

Joseph Victor von Scheffel.

Rechte thue, die aufdämmernve Gewißheit, daß er sich abermals in der Berufes geirrt habe,

Wahl seines

Schwcrmuth über sein Gemüth

warfen

wieder

den

Schleier der

und verscheuchten die sonnige Heiterkeit,

die er sich hier für immer erobert zu haben glaubte.

Es ist bezeichnend,

daß der erste Brief, den er von Rom aus an Häusser richtet, nicht das Geringste von seiner Malerthätigkeit erwähnt, sondern nur davon spricht,

daß

er gern für die allgemeine Zeitung Reiseskizzen schreiben würde.

Also der Gedanke an

literarische Thätigkeit war ihm wieder, vielleicht

durch daS Zureden der Freunde nahe gerückt, und mit ihm tauchte die

Erinnerung an den Sagenstoff auf, mit dem er sich in Sälkingen so ein­

gehend beschäftigt hatte.

Und inmitten all der sonnigen Pracht des

Südens überkam ihn das Gefühl der Sehnsucht nach den ernsten Tannen des Nordens, denen er so manches Geheimniß abgelauscht, des Heimwehs nach deutscher Art und Sitte, die er so lieb und werth gehalten hatte,

ein süße- Erinnern an das ferne Lieb im Schwarzwald dämmerte auf: Und es klang und sproßt' und wogte Wie die ersten Keime eine« Unvollendeten Gedichts.

Der innern

verläßt er im

Stimme gehorchend, die ihn

in die Einsamkeit ruft,

Februar Rom, geht nach Capri und schreibt hier, ohtie

irgend etwas von Quellenmaterial erreichbar zu haben, die TrompeterDichtung

in

einem

Zuge

nieder.

Der Stoff war ihm

so zu eigen

geworden, daß er ihn vollkommen beherrschte: Erlebtes und Erforschtes hatten sich zu einem harmonischen Ganzen verschmolzen.

Proelß bespricht

diesen Prozeß des Genaueren und weist mit kundiger Hand im Gewebe, der Dichtung

Kette und

Einschlagsfaden nach.

Das Gesammtergebniß

seiner Ansichten über den Trompeter als eine Beichte deS Dichter», zieht er in folgende Worte zusammen: „Unsre Darstellung hat den Zusammen­

hang zwischen Scheffels seitherigem Leben und dieser Dichtung bi« in'S Einzelne nachgewiesen.

Sie hat gezeigt, wie die Liebe zur heimischen

Vorzeit und heimischen Landschaft ihm anererbt und anerzogen war; wie andrerseits die starken klammernden Organe seines kräftig männlichen Wesens und sein patriotischer Sinn ihn zur Theilnahme zwangen an der

gewaltigen Zeitbewegung, welche in den Bestrebungen der Frankfurter National-Versammlung

ihren Mittelpunkt hatten, wie weiter die große

Enttäuschung, die ihm aus dem Zusammenbruch dieser Bestrebungen er­

wuchs, seine Seele antrieb, Trost und Erquickung in dem Verkehr mit der stillen Natur des heimischen Schwarzwaldes, in der geistigen Be­

schäftigung mit dessen Vorzeit zu suchen und die Unzufriedenheit im Justiz­ dienst ein romantisches Ideal des fahrenden Spielmannes früherer Zeiten

Joseph Victor von Scheffel. in ihm auSbildcte.

119

Wir haben andrerseits erfahren, wie diese Liebe zur

Natur und die Freude an ihrer farbigen, sinnlich greifbaren Erscheinung in ihm den Trieb zu

ihrer künstlerischen Gestaltung immer mächtiger

werden ließen, wie er diesen Trieb aber irrthümlich für den sich melden­ den Beruf zum Landschaftsmaler nahm,

bis

er in der Ausübung dieses

Berufes mit immer deutlicher werdender Klarheit erkannte, daß Beruf vielmehr fei, jenem Triebe als Dichter zu folgen.

fein

Und alle jene

Enttäuschungen und Irrungen, wozu die des Herzens noch kamen, hatten bcigetragen in feinem Innern einen Stoff anzusammeln, und auözureifen,

der

jetzt dem Bedürfniß

nach einer energischen Bethätigung des völlig

erstarkten poetischen Talentes fertig zum Gestalten entgegenwuchs.

Das

ist der einzig geartete Charakter grade dieses Gedichtes; daS erklärt auch

seinen außerordentlichen Erfolg.

Es giebt keine andre Dichtung moderne»

Ursprungs, welche dem Stoffe nach einen so romantischen Charakter hat,

dem Wesen nach aber so unmittelbar aus den innern Kämpfen einer eigenartigen Künstlernatur, aus dem eigensten Erleben erwachsen ist, und

die in ihrer Ausführung so realistisch wäre." Wie daS Singen und Sagen eigner Erlebnisse allezeit die

unsrer Dichter befreit und erhoben hat, so

Seele

wurde auch Scheffel durch

seine Dichlerthat zum neuen Menschen: Der Dämon innern Zwiespaltes

wich von ihm, und sein Gemüth kostete wieder fröhliche,

stimmung; sie ist

selige Jugend-

eS, die er selbst als Grundton seiner Dichtung,

lcrchenfröhlich bezeichnet hat.

Er, der im Februar,

als

eine Beute dunkler

Gedanken von Sorrent nach Capri gefahren war, kehrte im April als Gesunder nach Sorrent zurück, wo ihm sogleich der glückliche Zufall eine verwandte Seele entgegenführte, den jugendlichen

Paul Heyse.

Eine

kurze, aber schöne Frist verlebten die Beiden am blauen Meeresstrande:

Gern haben sie beide auch später jener goldnen Zeilen gedacht.

Sowohl

im „Gaudeamus“ wie in den Poesien HeyseS finden sich Beziehungen

darauf. Leider nahmen die schönen Tage ein jäheS Ende, ein Brief auS der Heimath, der Scheffel die schwere Erkrankung seiner Schwester meldete, rief ihn

im Mai dahin zurück.

Daheim

erwartete

ihn eine schwüle

Stimmung, die wenig zu seinen jüngsten Erlebnissen, für die er so gern

frohe Theilnahme gefunden hätte, paffen wollte.

Die Eltern waren

bedrückt durch die Krankheit der Tochter, die kurz vorher ihre Verlobung mit einem

geachteten Officier aufgelöst hatte.

man nicht zufrieden.

Wenn auch

Auch mit Joseph war

der Vater den Reiz der Trompeter­

dichtung empfand, schien sie ihm doch nicht genügendes Talent zu ver­ rathen, um

die Zukunft des Sohnes darauf zu bauen; er gab diesem 9*

Joseph Victor von Scheffel.

120

Zweifel und dem Mißmuth darüber, daß Joseph die

Beamtenlaufbahn

aufgegeben hatte, unverhohlen Ausdruck; das aber wußte Scheffel

be­

stimmt, daß er sie nie wieder betreten werde: „Im Dienst, im Dienst, o schlimmes Wort, Das klingt so hart und frostig!"

So wurde denn beschlossen, daß er die akademische Laufbahn ver­ suchen solle, ein Entschluß,

der ihn mit trüben Ahnungen erfüllte: «Ich

bin, wie mir fast scheint, im Begriff, mich zu

einem dummen Streich

vorzubereiten, nämlich zur hoffnungslosen Privatdozenten-Carriere."

Was

seine Seele litt in jener Zeit innerer Bcdrängniffe, denen nachzugrübeln,

ihm

eine hartnäckige Augenentzündung

unfreiwillige Muße gab,

lesen

wir in.einem Briefe an Frau v, Engerth, mit dem er ihr ein Exemplar des inzwischen bei Metzler in Stuttgart erschienenen Trompeters schickt:

Jede Zeile athmet Sehnsucht nach Rom und der dort verlebten glücklichen Zeit.

Noch trüber lautet ein vom 10. Juli datirter Brief an Schwanitz:

„Den Gruß eines aus Italien Heimgekehrten, der müd', matt und uner­ quickt von der Heimath und

sitzt und sich

ihren Zuständen in seiner alten Dachstube

auSruht, wirst Du hoffentlich noch in Gnaden annehmen,

zumal, wenn ich ein reuiges Gesuch um Generalpardon wegen langen

Schweigens damit verbinde.

Jenseits der Alpen hab' ich bald vergessen,

welche Bestimmung die Tinte und der Streusand im Leben haben.

scheint'S mir, muß die arme Seele wieder viel schreiben lernen.

Jetzt

Ich lebe

zur Zeit in der unerträglichen Stellung eines Mannes, der noch keinen Boden unter den Füßen hat.

In den Staatsdienst gehe ich nicht zurück,

zum Maler bin ich zu alt, bleibt mir wahrscheinlich nichts

Privatdozent kommt Rath.

müssen."

und Proletarier in Heidelberg zu werden.

übrig

als

Kommt Zeit,

Ich war ein Jahr glücklich und werde mich damit trösten

Und wie erging es ihm, als er zum Zweck jener gelehrten

Abhandlung, die ihm zur Habilittrung verhelfen sollte, sich Heidelberger Bibliothek

in alte Chroniken vertiefte?

selber in der Vorrede zum Ekkehard berichtet:

auf der

Er hat eS uns

„Den Poeten aber

ereilt

ein eignes Schicksal, wenn er sich mit der Vergangenheit genauer bekannt macht.

Wo andre, denen die Natur gelehrtes Scheidewasser in die Adern

gemischt, viel allgemeine Sätze und lehrreiche .Betrachtungen

der Arbeit herauöätzen, wachsen ihm Gestalten empor;

als Preis

erst von wallen­

dem Nebel umflossen, dann klar und durchsichtig, und sie schauen ihn ringend an und umtanzen ihn in mitternächtigen Stunden und sprechen:

„Verdicht' uns!"

Und weiter berichtet er, wie er eines Morgens den

Folianten, den Quellen der Gestaltenseherei Valet gesagt habe und hin-

auSgezogen sei auf den Boden, den einst die Herzogin Hatwig und ihre

Joseph Biclor von Scheffel.

121

Zeitgenossen beschritten, und in der ehrwürdigen Bücherei de- alten Gallu- gesessen habe, und in schaukelndem Kahn über den Bodensee gefahren sei, und sich eingenistet habe bei der alten Linde am Abhang de- Hohen-Twiel, wo jetzt ein trefflicher, schwäbischer Schultheiß die Trümmer der alten Veste behüte, und wie er schließlich auch zu den luftigen Alpenhöhen emporgeklommen sei, wo da» Wildkirchlein keck wie ein Adlerhorst herunterschaut auf die grünen Appenzeller Thäler: „Dort in den Revieren deS schwäbischen MeereS, die Seele erfüllt von dem Walten erloschener Geschlechter, daS Herz erquickt vom warmen Sonnen­ schein und würziger Berglufl hab' ich diese Erzählung entworfen und zum größesten Theil niedergeschrieben." So entsteht der Ekkehard unter ähn­ lichen Bedingungen wie der Trompeter: Beide Male stellt der Dichter zu wissenschaftlichem Zweck Forschungen an; beide Male ist das Resultat nicht eine gelehrte Arbeit, sondern eine Dichtung. DaS Kapitel über Ekkehard ist eins der schönsten im Proelßschen Werk: Man fühlt dem Verfasser bei jedem Worte nach, wie ihm daS Buch an'S Herz gewachsen ist, und der Leser, dessen Seele in frohem Wiederhall erklingt, folgt ihm gern bei seinen interessanten Ausführungen, denen allerdings viel gelehr­ tes Scheidewasser beigemischt ist. Seiner Ansicht nach habe Scheffel nicht zum ersten Mal im Jahre 1853 die Casus Sancti Galli und die übrigen Quellenschriften, welche den Ekkehardstoff behandeln, in der Hand gehabt; doch habe ihn der von früher her vertraute Stoff gerade jetzt aus zwiefachen Gründen angezogen; einmal, weil ihn das Geschick des unglücklichen Mönches anmuthete, wie etwas Selbsterlebtes und zweitens, weil ihn der Stoff anregte, sich an dem Streit der Germanisten, der damals um den Ursprung des Nibelungenliedes entbrannt war, zu be­ theiligen. Scheffel war in diesem Winter dem Germanisten Holtzmann näher getreten, und war durchdrungen von dessen Hypothese, daß daS Nibelungenlied das Werk eines Dichters und nicht wie die Lachmannsche Theorie annahm, die Bearbeitung oder Zusammenziehung verschiedener Einzelgesänge von verschiedenen Dichtern herrührend, sei. Holtzmann behauptete sogar, daß das ursprüngliche, leider verloren gegangene Gedicht, vom Schreiber Konrad deS Bischofs Pilgrim v. Passau lateinisch gedichtet sei, entsprechend dem Gebrauch der Geistlichkeit deS 10. Jahrhunderts. Als Beweis dafür sollte das noch vorhandene Walthati-Lied, dessen lateinischen Text die Tradition einem Mönche Ekkehard zuschreibt, gelten. Freilich wollten die Gegner diese Behauptung nicht anerkennen, sondern grade in dem fremdländischen Gewände den undeutschen Ursprung dieseS LiedeS sehn. Scheffel nahm lebhaft Parthei; aber er kleidete seine Ansicht nach Dichterart nicht in gelehrte Sätze, sondern focht mit andern Waffen:

122

Joseph Victor von Scheffel.

Er übersetzte da- Gedicht; nicht in sklavischer Weise Wort für Wort, wicht in antiker Form. Im Versmaß der heimischen Nibelungenstrophe ließ er eS auferstehn in all seiner rauhen Urwüchsigkeit und Natürlichkeit. Er selber hat 20 Jahre später seine Arbeit kritisirt: „Die deutsche UeVer­ setzung, ähnlich, wie ihr lateinisches Vorbild, eine Jugendarbeit des Verfassers und eben darum von einem glücklichen Hauch jugendlicher Frische durchweht, macht keinen Anspruch auf Worttreue und sucht nach Abstreifung der virgilianischen Flitter den Inhalt in moderner Kunstform knapp und sicher wiederzugeben." Alö ihm nun bei der Verdeutschung deS alten Heldengesanges die Frage aufstieg, wie kam ein Mönch dazu, seiner Leier so kriegerische Töne zu entlocken? Da trat ihm die Gestalt jenes Ekkehard vor die Seele, der Frau Hatwig Virgil gelehrt nnd während der Zeit seines Aufenthaltes auf dem Hohen-Twiel den Ungarn­ einfall erlebt hatte, und ob er auch wußte, daß das Lied einem andern Ekkehard zugeschrieben wird, in seiner Phantasie verschmolzen sich beide Gestalten zu einer, in deren tragischem Geschick er sein eignes zu schauen glaubte. WaS er selber erlebt hatte: Sich beugen müssen unter verhaß­ tem Zwang, verurtheilt zu sein, thatenlos dem entbrannten Freiheitskampf zuzuschauen, endlich das Leid einer hoffnungslosen Liebe, von dem er sich durch eine Dichterthat befreit hatte, das alles konnte er in der Gestalt deS Ekkehard anklingen lassen, der gleich ihm den verlornen Frieden in der Einsamkeit der Berge im Verkehr mit den Geistern seiner Lieder wiedersindet. Dazu die Fülle realer Anschauungen, welche ihm zuström­ ten: War ihm doch der Boden, auf dem der Roman spielt, ein von seiner Jugend her vertrauter. Mit jenen Stätten hatte sich schon die Phantasie des Knaben beschäftigt: Ihren Zauber von neuem auf sich wirken zu kaffen, sucht er sie im Frühling und im Herbst 1854 zu längerem Ver­ weilen auf; hier in tiefster Bergeinsamkeit schreibt er t>en größesten Theil der Erzählung nieder: Daher der große Zug, der sie durchweht; die ganze Geschichte muthet uns an, wie eine ernste, schöne Gebirgslandschaft, deren markige Züge sich unauslöschlich dem Geiste cinprägen. Man hat oft Scheffels Verdienst schmälern wollen durch die Behauptung, daß an­ gesichts der ausführlichen Quelle von einem eigentlichen freien dichterischen Schaffen garnicht die Rede sein könne. Wie wenig ahnen die, welche dieses Urtheil fällen, von der Kunst, die angewendet worden, um auS dem rohen Marmorblock dieses lebendige Gebilde zu gestalten. Ist daS Verdienst deS Bildhauers deshalb geringer, weil das Material ein edles? Wohl hat der Dichter viel realistisches Detailwerk fast wörtlich der Klosterchronik entnommen; aber was dort vereinzelt steht, auf andre Personen und Jahrzehnte bezüglich, hat er geschickt aneinander gereiht zur

Joseph Victor von Scheffel. Ausmalung seine» Zeitbildes.

123

Was auf dem Hohen-Twiel begonnen

war, setzte Scheffel in Heidelberg fort: Hatte ihn

sein Buch über Tag

beschäftigt, so fand er Abend» Zerstreuung und Anregung im Kreise deö

„Engeren", erlebte.

der in den Jahren 1853 und 1854 seine höchste Blüthezeit

Für ihn entstanden damals einige der bekanntesten

Gaudeamus»8iebent, z. B. daS Lied vom

unter den

„schwarzen Wallfisch zu AS-

kalon", „das wilde Heer", dessen Refrain: „Giebt'» nirgends mehr 'nen Tropfen Wein, des Nachts um halber zwölf?" den Protest des Engeren

gegen die damals verhängte, frühe Polizeistunde drastisch zum Ausdruck bringt.

Zu dem Freundeskreise des „Engeren"

gehörte in jener Zeit

auch der Schriftsteller Otto Müller, mit dem Scheffel nach seiner Rück­ Diesem Freunde las er

kehr von dem Hohen-Twiel lebhaft verkehrte.

den Ekkehard bruchstückweise vor; durch ihn bestimmt, übergab er seine

fertige Arbeit der Meidingerschen Verlagsbuchhandlung in Frankfurt a. M.,

nachdem er sie noch

im Einverständniß mit dem Verleger, mit einer

Reihe gelehrter Anmerkungen versehn hatte, die dem Buche seinen ge­

schichtlichen Charakter wahren

sollten.

Im

Februar

1855, etwa ein

Jahr, nachdem er eS begonnen, war der letzte Federstrich daran gethan;

im Juni zog eS hinaus, von frohen Hoffnungen seines Autors, dem eben die

ersten Lorbeeren für seinen Trompeter

erblühten, begleitet, einem

großen Erfolge entgegen.

Bis zu dem Jahre 1855 bi» zur Vollendung des Ekkehard geht daS LebenSschifflein

doch

des Dichters, wenn auch mit einzelnen Schwankungen,

mit froh geschwelltem

Segel vorwärts.

Berechtigten die beiden

Erstlingswerke, die ein so frisch sprudelndes Dichtertalent verriethen, nicht

zu großen Erwartungen?

Daß sich diese nie erfüllten, daß des Dichters

Schwungkraft mehr und mehr erlahmend, in der Folge nur noch Bruch­

stücke zu schaffen vermochte,

ist eine traurige Wahrheit, deren Erklärung

wir in der Tragödie finden, welche uns die zweite Hälfle des Proelßschen BucheS vorführt: Wir sehen den Dichter nach heißem Kampfe zum

müden Manne werden, deffen Stimme verhallt.

Er erliegt nicht, wie

man so oft böswillig angenommen hat, eigner Schuld, etwa den Folgen

eines zu intensiven Lebensgenusses, sondern der Verkettung unglückseliger Verhältnisse, vor allem dem unseligen Zwiespalt seiner eignen Natur. Vergegenwärtigt man sich alle die Schwankungen seines Gemüthslebens,

von denen Proelß berichtet, so ahnt man, wie verhängnißvoll wieder und wieder der Dämon innerer Schwermuth in dieser Seele seine dunklen

Fittige geregt hat:

Mitleid, nicht Vorwürfe sollte man diesem Leben

zollen: „O welch' ein edler Geist ward hier zerstört!" Gleich nach Vollendung

des

in so freudiger Stimmung verfaßten

Joseph Bieter von Scheffel.

124

Ekkehard trat eine Reaktion ein, die sich in tiefer Abgespanntheit zeigte:

„An dem Roman Ekkehard," so schrieb er bereits im Mai an Schwanitz, habe ich mich schier zu Schanden gearbeitet; jetzt ist alle- im Reinen, die Korrekltiren sind fertig, nächsten Monat erscheint eS im Verlag von

Mcidinger in Frankfurt, und ich gehe mit dem erbeuteten Honorar (es

waren 1200 Suiten) nach Italien, da mir die hiesige Luft etwas zu stubengelehrt und einseitig ist, um mich jetzt schon darin niederzulassen;

später werd' ich doch nicht anders können, als hier mein Zelt aufzuschla­

gen."

So ging er denn trotz vorgerückter Jahreszeit nach dem Süden,

in Begleitung des jungen Anselm Feuerbach, der damals deS Großherzogs die „Assunta" TitianS kopiren sollte.

im Auftrage

Scheffel empfand

für den jungen Maler, der trotz seiner Armuth getreulich seinen Idealen nachging, große Sympathie; seine Bilder, besonders der sterbende Aretin hatten ihn lebhaft interessirt, ja letzterer ihm sogar den Plan zu einem neuen Roman in die Seele gelegt.

DaS Gefühl der Zuneigung war ein

gegenseitiges; die Reise daher genußreich und förderlich.

richtet den Seinen über die gemeinsame Fahrt:

Feuerbach be­

„Scheffel ist ein feiner

liebenswürdiger Mensch, und. wenn ich an alle die Gespräche im Wagen zurückdenke, so weiß ich nicht, was schöner war, die Mittheilung in stiller

Begeisterung oder die Natur, durch die wir fuhren,"

und

über ihren

spätertn Verkehr in Venedig: „DaS Verhältniß zwischen mir und Scheffel war ein unsrer beiderseitigen Natur entsprechendes, wohlthuendeö, förder­

liches:

Keine himmelstürmende Gymnasiastenfreundschaft oder läppische

Vertrauensseligkeit,

sondern

eine

auf

gegenseitiges

Verständniß,

auf

Achtung und Zuneigung gegründete Haltung, um nicht zu sagen Zurück­

haltung, welche lieh."

der Zeit

unsres Zusammenseins bleibenden Werth ver­

Beide Künstler, Maler und Dichter gaben sich in Venedig mit

Begeistrung dem Studium der herrliche»! Kunstwerke hin, welche die alte

Dogenstadt beherbergt.

Tag für

Tag waren sie eifrig an der Arbeit,

trotz des heißen Juli, trotz der Cholera, welche um sie her Opfer heischte.

Wie lebhaft Scheffel den Zauber der alten venetianischen Meister empfand, davon geben seine Briefe aus jener Zeit beredtes Zeugniß: er begreift jetzt, „daß das Malen fein Koloriren von Cartons

ist,

sondern eignes,

volle-, in Farben und nur in Farben sich bewege«,des Denken".

Titian

selber hatte eS ihm angethan; neben ihm verblaßte daS Bild des Aretin

und eifrig machte er sich daran auf der Bibliothek die nöthigen Vor­ studien zu einem Titian-Roman zu machen, in fceffen Vordergründe die

Gestalt einer Schülerin des

alten VenetianerS, Irene di Spilimbcrgo

stehe«, sollte; diese schöne, hochbegabte Jungfrau, deren früher Tod von

den Künstlern jener Zeit bitter beklagt wird, mahnte ihn an die eigne.

Joseph Victor von Scheffel. geliebte Schwester;

125

ihr wollte er in seiner Dichtung ein Denkmal setzen.

Trotz aller aufgebotenen Energie, forderte die Natur schließlich ihr Recht: Die beiden Reisegefährten mußten die Stadt verlassen, um an den Seen

Erholung zu suchen.

„Als hohläugige Gespenster"

funkelnden Gardasee nach Castell Toblino. und

schrieb dankerfüllt:

fuhren sie über den

Feuerbach fand hier Genesung

„Gesegnet sei dieser stille, reine, heilige, von

keiner Kultur berührte Gebirgswinkel mit seiner herben,

großen Natur,

seiner frischen, kräftigen Luft und seinen einfachen, guten Menschen.

Wer

weltmüde und wessen Herz von dem wüsten Treiben der Großstädte ver­ Während er Ruhe und

wundet ist, der möge hier Heilung suchen."

Frieden athmete, wurde Scheffel von einer krankhaften Rastlosigkeit ge­ peinigt, die ihn zu keiner Schaffensfreudigkeit kommen ließ.

such auf Grund der in Venedig gestalten, scheiterte.

Der Ver­

gemachten Studien seinen Roman zu

Er scheiterte, wie Proelß

sagt:

„an der krankhaft

gesteigerten Eindrucksfähigkeit, an der Unruhe seiner Phantasie, an einem

Zwiespalt, der sich in seinem geistigen Wesen geltend machte, die einmal in der Phantasie vorhandenen poetischen Pläne und

Bilder durch die

realen Eindrücke des Lebens, sowie durch die exakten Ergebnisse seiner

Studien immer aufs neue beeinflussen zu lassen.

Die einzige literarische

Frucht dieses idyllischen Aufenthalte- waren eine Reihe lose aneinander­

gefügter Reiseskizzen.

Ursprünglich nur für den

„Engeren"

bestimmt,

fanden sie später in einer angemessenen Umarbeitung Aufnahme in einer neuen von Otto Müller gegründeten Zeitschrift, dem

„Frankfurter Mu­

seum" unter dem Titel „Aus de» tridentinischen Alpen"; sie gehören zu

dem Besten, was auf diesem Gebiet geschrieben worden ist, wie die Aus­ züge, welche Proelß giebt, beweisen. gebracht werden, entsteht der Gedanke

Indessen die Reisebilder zu Papier

an einen neuen Roman: „Georg

v. FrundSberg, der aber nicht zur Ausführung

Wanderbnch Fragment bleibt.

kommt, wie auch das

Vier Wochen dauert der Aufenthalt mit

Feuerbach in Toblino; dann wendet sich Scheffel nach Meran; hier bricht

die schwere Krankheit,

deren Vorboten er schon lange gefühlt, aus; eine

gefährliche Gehirnentzündung treibt ihn in die Heimath zurück und hält

ihn monatelang von jeder geistigen Arbeit fern.

Der erste Versuch nach

dreimonatlicher Unthätigkeit, die Umarbeitung der Reisebriefe vorzunehmen,

wirft ihn aus'S neue auf das Krankenlager; noch im März schreibt er die traurigen Worte:

„Mein ganze- Nervenleben ist durch die übertrie­

bene Arbeit am Ekkehard zerrüttet; ich bedarf wohl noch Jahr und Tag, um mich zu erholen, wenn nicht ehi zweiter Anfall mein arme- Hirn

für immer in den Ruhestand versetzt." Die peinigende Angst, allmählich völliger GeisteSumnachtung zu er-

126

Joseph Victor von Scheffel.

liegen, verläßt ihn erst in Lichtenthal, »vohin ihn seine treue Kranken­ pflegerin, seine Schwester Marie begleitet.

Wenn etwas den gesunknen

Muth deS Dichters heben konnte, so war es die Anerkennung, welche man

dem Ekkehard von allen Seiten zollte.

Noblesse oblige, und keiner

empfand lebhafter, als Scheffel selbst, daß sein Talent ihn zu neuen Leistungen verpflichte:

So versucht er auf einer neuen Reise, die er im

Mai 1855 nach Süd-Frankreich unternimmt, neue poetische Schaffenslust

zu gewinnen; leider vergeblich, er erkrankt abermals, muß erst in Bordighera, dann in Genua rasten, um endlich ein an Leib unv Seele Gebrochner in daS Vaterhaus zurückzukehren.

Wie hart die bösen Geister der Selbst­

pein und Schwermuth das einst so frohe Dichtergemüth bedrängten, geht erschütternd hervor au- dem in Bordighera entstandnen Gedicht:

„Dem

Tode nahe*, dessen bittre Ironie dem Leser in'S Her; greift. Der Dichter wünscht in Italien unter Palmen zu sterben. „Der Tod aber ries von der Straße her:

Gemach daS hat keine Eile; Noch immer magst Du im Lcbensmeer

Abzappeln Dich eine Weile. Kein übler Geschmack:

So am Palmenstrand

Ein Grab in italischer Erden!

Du mußt, o Freund, erst im deutschen Land

Lebendig zur Mumie werden!"

Aehnliche Stimmungen athmen auch die Briefe, in welchen er seine damaligen Eindrücke niederlegt; sie sind 1857 bei Westermann unter fol­

genden Titeln: „Avignon", und

„Ein Gang zur großen Carlhause in der Dauphinöe", „ein Tag am Quell zu Vaucluse"

erschienen.

Wohl

geben sie dem Leser interessante, fesselnde Schilderungen von Land und Leuten; doch sind sie nicht wie die früheren Reisebilder mit dem herzer­

quickenden Humor des Dichters getränkt.

Diesen, seine beste Gabe, ge­

wann er erst ganz allmählich wieder an der Heilsquelle zu RippoldSau

im Schwarzwald, wo ihm unter verständiger ärztlicher Behandlung völlige Genesung zu theil wurde.

Dankbar hat er den stillen Badeort in zwei

Gedichten, „RippoldSau", und „die Schweden in RippoldSau" verewigt.

Im Herbst kehrte Scheffel in seine Vaterstadt zurück, um zunächst die Reisebilder auS Süd-Frankreich für den Druck vorzubereilen, und für

seine Zukunft eine feste Basis zu suchen. Angeregt durch mehrere Freunde, die in München lebten, beschloß er, dort seinen Wohnsitz zu nehmen und sich der dort bestehenden Dichterkolonie anzuschließen.

Seine Ueber-

siedlung schien sich unter einem günstigen Stern zu vollziehn:

Eine Fülle

von Beziehungen, theils aus Karlsruhe, theils aus seiner Studentenzeit her,

Joseph Victor von Scheffel.

127

erschlossen ihm den Zutritt in die künstlerisch belebten Kreise; sowohl am Stammtisch der Dichter, Getbel, Heyse, Riehl, als auch an der fröhlichen Tafelrunde, welche Meister Schwind um sich schaarte, war er ein gern ge­ sehener Gast. Auch da- Glück einer behaglichen Häuslichkeit ward ihm dadurch zu theil, daß seine Schwester Marie auf seine dringende Auffor­ derung nach München kam, um dort ihrer Kunst zu leben. Ihr feines Verständniß für alles, was er dichtete, der Zauber ihrer anmuthigen Er­ scheinung, ihr holdes, weibliches Walten wirkte befruchtend auf seine Phantasie. Wieder erschien ihm die Gestalt der lieblichen Jpene und regte ihn zu bedeutendem Schaffen an. Marie Scheffel muß nach dem Urtheil aller derer, die sie gekannt haben, in der That ein selten begabte» Menschenkind gewesen sein: „Alt und Jung war von ihrer Schönheit entzückt", schreibt Bodenstedt, „eS ging wie ein Zauber von ihr aus, dem sich die Damen ebenso wenig entzieh» konnten, wie die Herren, und der auch merkwürdiger Weise Neid und Eifersucht, die gewöhnlichen mensch­ lichen Regungen bevorzugten Persönlichkeiten gegenüber, garnicht auf­ kommen ließen. Einer flüsterte dem Andern zu: „Welch entzückendes Geschöpf!" „Schlank und hoch, wie eine Schwarzwaldtanne", sagt Felix Dahn, „schön mit ihren prachtvollen, goldbraunen Flechten und von herz­ gewinnender, unwiderstehlicher Anmuth deS Leibes und mehr noch der Seele. Tief, innig, echt poetisch, ohne jedes sentimentale Gethu, — wie wir an der Isar sagen, — voll des köstlichsten, schalhaften Humor- von unvergleichlicher Innigkeit, Sinnigkeit und angeborner Lieblichkeit jeder Bewegung, der Stimme, des Aufschlagens der langen Wimpern, der seelenvoüen, hellbraunen Augen. Ich sehe noch — nach einem Menschen­ alter! — ihr reizendes Lächeln, wenn sie die allemannischen Gedichte Hebel-, oder — und da- stand ihr am holdesten, die kleinen Scherzge­ dichte ihrer Mutter in jener Mundart vortrug." Zwischen den Ge­ schwistern herrschte ein wunderbar zarte-, innige- Verhältniß, „sie liebten sich wie Audifax unv Hadumoth". So begann da- Jahr 1856 dem Dichter unter den günstigsten Auspicien; zum ersten Mal sollte sein Fuß festen Boden gewinnen: Auf Riehl- Veranlassung war ihm eine re­ daktionelle und schriftstellerische Thätigkeit an dem von königlicher Gunst getragnen großen literarischen Unternehmen „Bavaria" angeboten; mit Freude war er darauf eingegangen: Da traf ihn der schwerste Schlag seines Leben»; seine Schwester erkrankte an einer TyphuS-Epidemie und starb nach 12 Tagen in den Armen der tief gebeugten Eltern, welche der trostlose Bruder herbeigerufen hatte. WaS dieser Verlust den Dreien be­ deutete, lesen wir in einem tief traurigen Brief der Mutter: „Sie können sich nicht denken, wie ich leide; anstatt, daß eS milder werden sollte, wird's

128

Joseph Victor von Scheffel.

immer ärger, und die Leere immer leerer und die Lücke immer klaffender. Sie war der Stern unsre- Leben-, — mit ihr ist alle- versunken, waFreude heißt, — denken Sie die Kunst, — sie war e-, die uns mit ihr verbunden. Sie vermittelte die Poesie und alle Künste mit dem schweren Gange unsre- Werktaglebens. Durch sie gewann alle- Interesse, Reiz, Farbe. In einer Wüste hätt' ich mit ihr glücklich sein können." Wa­ der Bruder verlor, läßt sich nicht schildern; sein Schmerz wurde noch ver­ schärft durch die Selbstanklage, daß er sie veranlaßt habe, nach München zu kommen. Da- Leben, die Arbeit verlor jeden Reiz für ihn. „Ist eS nicht ein Verhängniß, daß ich in München eine Arbeit begann, in der ich allen Glanz einer edlen, jugendschönen, der Kunst zugewandten Weiblich­ keit in Gestalt von Titian- Schülerin Irene schildern wollte und zu Marien sagte: „Wenn, wa- Gute- hineinkommt, so ist'- von Dir; aber sie muß früh sterben, die Gestalt meiner Dichtung! Jetzt kommt der Tod und reißt mir mein beste- Leben von der Seite, und ob ich je wieder eine Feder anrühren kann, weiß ich nicht." Wochenlang saß er traurig und einsam in seiner Mansardenstube, der todten Schwester gedenkend; al- Todtenopfer widmete er ihr, die kleine Geschichte Hugideo. In der Gestalt de- unglücklichen Juthung, der in seiner einsamen Klause das Bild seiner verstorbnen Geliebten, der keuschen Priesterin Benigna Serena, in trüben Gedanken anst ant, alles andre um sich her vergessend, malte er sich selbst und sein tiefes Seelcnleid. Zurückzukehren an die Stätte, wo er mit der Verstorbnen so glücklich gewesen war, vermochte er nicht und lehnte alle dahin zielenden Auffordrungcn ab. So blieb er für'Erste bei den gebeugten Eltern, wenig im stände, sie zu trösten. Eine Reise, die er auf ihr Zureden nach Nord-Frankreich unternahm, gab endlich seinen selbstquälerischen Gedanken eine Ableitung, so daß er wieder klaren Blicke» in die Zukunft zu schauen vermochte. Während er in Heidelberg die mitgebrachten Reisetagebücher ordnete und im Verkehr mit dem Engern alten Leben-muth Wiedergewann, entwarf die Mutterliebe allerlei Pläne, um ihrem Sohne endlich zu einer festen Anstellung zu verhelfen. Bei ihren weitreichenden Beziehungen, die sich bi- in die höchsten Kreise erstreckten, wurde e- ihr auch möglich, ihre Wünsche verwirklicht zu sehn. Leider in einer für den Sohn verhängnißvollen Weise: Von zwei Seilen wurden ihm fast gleichzeitig Anerbietungen gemacht: Dichter oder Biblio­ thekar? Hätte Scheffel diese Frage entscheiden dürfen, er hätte da- freie Poetenloo- vorgezogen; aber eS war zu spät; schon hatte er sein Wort gegeben, die Stellung eine- Bibliothekar- in Donaueschingen und damit die Pflicht zu übernehmen, die dortige durch Ankauf von 12000 Bänden bereicherte Bibliothek zu revidiren und zu ordnen, eine ebenso mühevolle,

Joseph Victor von Scheffel.

129

toie gelehrte- Wissen voraussetzende Arbeit. Der zweite ungleich Per« lockendre Ruf kam auS dem Thüringer Lande. Durch den Kommandanten der Wartburg, Bernhard v. ArnSwalde, den alten, treu bewährten Freund seiner Mutter wurde Scheffel die ehrenvolle Aufforderung übermittelt, al» Gast de» kunstsinnigen Großherzogs von Weimar, der ihm schon bei frühren Gelegenheiten Beweise seine» Wohlwollen» gegeben hatte, einen längten Aufenthalt auf der sagenumsponnenen Wartburg zu nehmen, um sich hier zu neuem Schaffen zu begeistern. Wahrlich ein schöner Auftrag! Ganz geeignet, Scheffel» Phantasie, Flügel zu leihen, zumal ihm der Ort seit 48 ein gar vertrauter war. Die wenigen Tage, welche er, vor dem Antritt seine» neuen Amte» dort verlebte, gehören zu den glücklichsten seine» Leben». „Für mich werden diese zwei November-Wartburgtage von mächtiger Bedeutung sein Aufrichtung des Muthe» und der Lebens­ freude, Lust zu neuer, ernster Arbeit und viel andre» Gute wird darallS hervorgehn." In dieser Stimmung hatte er auch dem Großherzog zuge­ sagt, einen kulturhistorischen Roman, dem Ekkehard ähnlich au» dem Sagengebiet der Wartburg zu schreiben; da» Schwindsche FreSko-Gemälde „der Sängerkrieg" legte ihm den Gegenstand für seinen neuen Roman nahe, wie er selbst gelegentlich dem Meister schreibt: „Der Sängersaal aber mit dem großen Bilde de» Sängerstreite» hat schier die Lust in mir wachgerufen, jene Zeiten de anno 1207, wo die Kritik in Gestalt de» Scharfrichter», Meister» Stempfel der Poesie zur Seite stand, sonst aber fröhlich Leben war, einmal mit der Feder dem Pinsel Herrn v. Schwind» nachznzeichnen." Zunächst mußte die Ausführung diese» Gedanken» noch vertagt, die Arbeit in Donaueschingen in Angriff genommen werden. Scheffel begann sie mit froher Zuversicht: Fühlte er sich hier doch an der besten Quelle, um die für seinen Roman unentbehrlichen Vorstudien zu machen. Warum dieser trotz de» sauren Fleiße», der darauf verwendet wurde, trotz der Zähigkeit, mit der der Dichter jahrelang den Plan eine» Wartburgroman» festhielt, ihm wieder und wieder seine besten Gedanken und Hoffnungen widmend, nicht über Bruchstücke hinauSkam? Proelß weiß für diese» Räthsel eine doppelte Erklärung, eine innere und eine äußere. Während Scheffel zu den Stoffen seiner beiden ersten Dichtungen persönliche Lebensbeziehungen hatte, fehlen ihm diese dem neu erwählten gegenüber. Nicht seiner exakten Forschung-methode allein war der glück­ liche Wurf de- Ekkehard zu danken, sondern der harmonischen Verschmel­ zung von Wahrheit und Dichtung. Ohne diese innre Fühlung erschien ihm da» Quellenstudium kahl und unfruchtbar. Dazu die große Schwierig­ keit, welche der Stoff selbst dem Dichter bot: Wie sollte er au» diesem Gewirr von Sage und Geschichte den rothen Faden finden, an dem er

Joseph Victor von Scheffel.

130

mit der Treue des Epikers die Perlen der einzelnen Episoden aufreihcn konnte?

Wenn er auch dem Maler das Recht zugestand, die vepschiednen

geschichtlicher Treue in einem

Elemente der Sage mit Hintenansetzung

einzigen hochdramatischen Moment zusammenzufassen, den Dichter hielt er

gebunden

an die

mühseligem,

So begann er denn in

ehrne Macht der Geschichte.

was als Ur­

umfassenden Studium alles das zu befragen,

kunde des 12. und 13. Jahrhunderts ihm Auskunft über Lebensanschauung

und Verhältnisse jener Zeit geben konnte.

Zwar war die germanistische

Forschung in lebensfrischer Entfaltung begriffen; doch fehlte ihr noch jeder Ueberblick über den eignen Reichthum; so mußte Scheffel auf ungebahnten

Wegen weiter tasten.

Was ihm ein Glück gedünkt,

an der Quelle der

alten Handschriften zu sitzen, wurde ihm mehr und mehr eine Versuchung zu neuer Zersplittrung.

Daneben der dauernde Zwiespalt in seinem Amte:

„Als Bibliothekar hatte

er die Handschriften

auf ihre buchgeschichtliche

Bedeutung hin zu prüfen, zu ordnen, zu beschreiben; als Dichter mußte er dieses äußere Moment gering achten

gegenüber der Bedeutung, die

für ihn der lebendige Inhalt der Bände hatte."

.Mehr noch als das,

drückte seine freie Seele das Gefühl doppelter Verpflichtung.

April klagt die Mutter an Arnswalde:

Worte hält er sich in Weimar gebunden und meint,

Donaueschingen,

dieser Zwiespalt

größesten Besorgnisse ein."

macht

Schon im

„Mit dem Herzen und mit dem

er sei es auch in

ihn krank und

flößt uns die

Die anspruchsvolle Doppelthätigkeit war zu

viel für seine reizbare Seele: Wo er ging und stand, begleiteten ihn die

schattenhaften Gestalten seines Romanes, Blut zu geben vermochte.

ohne daß er ihnen Fleisch und

Endlich im Juni erwirkt er sich von seinem

Fürsten die Erlaubniß, die Vormittage der nächsten Monate einer literari­ schen Arbeit widmen zu dürfen.

Zwei Anfangskapitel zur „Viola" ent­

stehn schnell hintereinander und werden nach der Wartburg gesendet, als Pfand, daß er dauernd des gegebnen Versprechens gedenkt.

Doch schon

stockt der Dichter. Ihm hat sich die Erkenntniß erschlossen, daß der Roman nicht auf der Wartburg beginnen, sondern zuerst ein Bild der allgemeinen

Kulturverhältnisse der damaligen Zeit entrollen müsse; so sieht er sich am Beginn eines schier endlosen Weges, und bedrückende Gedanken, wie und

wann er ihn zurücklegen solle, steigen auf:

„Es wäre mir ein kaum zu

vermeidender Gedanke", so schreibt er am 1. Juli an ArnSwalve, „wenn Ihr gnädiger Herr und Großherzog, dem ich seiner Zeit davon gesprochen, ehe eine Hand an die Ausführung gelegt war, mich für einen leicht mit

dem Wort fertigen Luftschlösserbauer halten

könnte.

Aber erst bei den

Vorstudien habe ich bemerkt, wie das Hohenstaufenjahrhundert mit seiner eleganten, ritterlichen Vollendung, seinen großen Intentionen, seiner nicht

131

Joseph Victor von Steffel.

specifisch deutschen, sondern durch die Kreuzzüge kosmopolitisch gefärbten Dichtung,

weltlichen und individuellen Charakterzügcn

seinen kirchlichen,

scharf unb ernst aufgefaßt sein will, ehe mau es wagen darf, lebende Ge­ jener Zeit mit kecken Strichen zu zeichnen."

stalten

die sich hier kund thut, ist ein schlimmer Vorbote:

Die Zaghaftigkeit, Die Mutter hatte

Recht gehabt, wenn sie von schweren Besorgnissen schrieb; das alte Nerven­ leiden packte ihn abermals und trieb ihn in krankhafter Unruhe hinaus;

die Einladung des sächsischen Großherzogs zur Theilnahme an der Jubel­ feier der Universität Jena benutzte er dazu,

einen

längten Urlaub zu

nehmen und 6 Wochen lang ein unstätes Wanderleben zu führen.

Von

wo er plötzlich die Festfreude flieht, geht er

Reinhartsbrunn und Jena,

nach Belgien und Frankreich,

immer von neuem die Beute dunkler Ge­

danken, bis er endlich abermals in Rippoldsau anlangt.

Auch die Kunde von dem Erfolge seiner humoristischen Lieder ver­ mag

nicht, ihn

aufzuheitern:

„Das Fortlebcn ' meinet Bummellieder

im Volke macht mir, seitdem die facies melancholica an die Stelle des alten, tollen Humors getreten,

einen wehmüthigen Eindruck;

ich gedenke

dabei an den Laertes, da er müd' und alt mit zerrissenen Lederschienen

„£> wär' ich ein solcher, wie damals, da wir

seinen Hausgarten pflanzt: Nerilon stürmten,

das mauerumwallete Städtlein!"

rechte poetische Stimmung;

so

ist

Das war nicht die

aus den nächsten Monaten auch nur

eine wissenschaftliche Arbeit zu verzeichnen:

„Die Handschriften altdeutscher

Dichtungen der Fürstlich Fürstenbergischen Hofbibliothek in Donaueschingen.

Geordnet und

beschrieben

von I. Victor Scheffel.

Die

Uebersendung

eines Exemplars an den Kommandanten der Wartburg begleitet Scheffel mit

folgenden Worten:

„Ich

lege Ihnen ein Exemplar bei,

daß

Sie

sehn, was für mechanisches — und doch wieder lehrreiches und in innigem

Zusammenhang mit meinen poetischen Entwürfen treiben hatte.

stehendes Zeug ich zu

Ueber die Viola habe ich viel nachgedacht, aber wenig ge­

schrieben

den Stoff habe ich jetzt beisammen.

Herrliche Motive.

Im Mai geh' ich — so Gott will, droben ab, begebe mich auf die alten

Nibelungenfährte nach Passau und Oestreich,.... es giebt eine schöne Episode

mit Heinrich v. Ofterdingen,

nachdem

er im ersten Sängerstreit unter­

legen, in Passau das Nibelungenlieo entdeckt, — von dort komme ich über

Nürnberg auf die Wartburg.

Dann, lieber Major, sperren Sie mich als

Gefangnen oben ein, bis ich fertig bin, die konzentrirteste Einsamkeit wird

mich am besten vorwärts bringen.

Meine Seele sehnt sich aus den Ge­

schäften nach freier Arbeit der Dichtung."

Noch aber war diese ersehnte

Zeit nicht gekommen; noch 5 Monate galt es in Donaueschingen auszu­ harren.

Eifrig

beschäftigt mit dem

einleitenden Kapitel, welches das

Joseph Victor von Scheffel.

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Hohenstaufcnzeitalter in Bildern auS dem Leben der Thüringer Kreuz­ durchforschte der Dichter fleißig die Chroniken der

fahrer schildern sollte,

alten Klöster und Burgen im Oberrheingau; die Berührung mit den altvertrauten Stätten erwies sich von neuem anregend und befruchtend.

Derselbe Prozeß, den er uns in der Vorrede zum Ekkehard schildert, voll­ zieht sich:

WaS die alten Pergamente über daS Leben der schwäbischen

Ritter auf den wohlbekannten Burgen am Oberrhein erzählen, verdichtet sich ihm zu einem Bilde klösterlichen und ritterlichen Lebens, in dessen

Mittelpunkt die Gestalt des jugendlichen JuniperuS steht.

Dem Kloster­

zwang entlaufen, um ein Fahrender zu werden und die Liebe der stolzen Rothtraut zu gewinnen, hat er mehr als einen Zug vom Dichter selbst.

„Die Geschichte deS Schwaben JuniperuS"

unter diesem Titel schrieb

Scheffel die kleine Dichtung in Donaueschingen nieder, um sie später als

Einzclepisode dem Roman Viola einzufügen; vielleicht war eS auch seine Absicht, dem JuniperuS in der Folge eine Erzählerrolle zu übertragen;

wenigstens läßt folgende Briefstelle diese Deutung zu:

„ES drängt sich

eine Hauptfrage auf, ob ich nicht daS Ganze in Form einer Chronik oder

eine- Gedächtnißbuches eines Zeitgenossen, der nm 1207 Mönch zu ReinhartSbrunn gewesen sein könnte, und alles Damalige auf der Wartburg als eignes persönliches Miterlebniß erzählt, darstellen will." — Wenn

auch leider Fragment geblieben, ist die kleine Erzählung, die 1866 in Buchform erschien, sehr lesenSwerth; sie gemahnt in Form und Inhalt an den Ekkehard. Nach einem Jahr erhielt er einen langern Urlaub, um eine geschicht­ liche Arbeit zu fertigen.

Zu dem lang geplanten Besuch auf der Wart­

burg kam cS aber auch dieses Mal nicht.

DaS Vaterhaus machte Rechte

geltend, denen sich Joseph nicht entziehn konnte; beide Eltern waren in Folge der schweren Schicksalsschläge nicht mehr die Alten; sie brauchten, nicht allein um ihrer selbst, als um des unglücklichen, verkrüppelten Bru­ ders willen eine Stütze, umsomehr, als die politische Lage den Ausbruch

eines Krieges wahrscheinlich machte.

Da dieser auf Oestreich beschränkt

blieb, so konnte der Dichter zwar die Wanderschaft längs der Donau

unternehmen,

um

dingen nachzugehn:

den

Fußtapfen

seines Helden,

Heinrich

v. Ofter­

Aber die leivige Politik verdarb ihm alle Freude.

Während er In seinem Roman Nord und Süd in brüderlicher Vereini­

gung für große gemeinsame Ziele wirkend, darstellen wollte, mußte er er­ leben, daß in Wirklichkeit die Gegensätze geschärfter waren, denn je. Unter

dem Eindruck des Krieges,

„ein Land, daS leidet, soll man nicht als

Tourist durchstreifen", gab er die Reise nach Wien auf, und wandte sich

den Thüringer und Fränkischen Landen zu, ihre Berge und Thäler auf

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langen Fußwandrungen durchstreifend. Ohne jeden Apparat von Gelehr­ samkeit gab er sich ganz und unmittelbar dem Genuß der schönen Natur hin. Wie eine Erlösung kam eS über ihn; frohe SangeSlust regte sich in seinem Herzen, und echt und frisch ließ er seine Stimmung in einer Reihe der anmuthigsten Weisen, die er je gedichtet, ausklingen: Wohlauf, die Lust geht frisch und rein. Wer lange sitzt, muß rosten; Den allersonnigsten Sonnenschein Laßt uns der Himmel kosten. Jetzt reicht mir Stab und Orden-kleid Der fahrenden Scholaren, Ich will zu guter Sommerzeit Jn's Land der Franken fahren.

Zum heil'gen Beit vom Staffelstein Komm' ich empor gestiegen, Und seh' die Lande nm den Main Zu meinen Füßen liegen. Bon Bamberg bi- zum Grabfeldgau Umrahmen Berg und Hügel Die breite, stromdurchglänzte Au — Ich wollt', mir wüchsen Flügel! —

Er hoffte diese Lieder später an geeigneter Stelle seinem Roman ein­ zufügen: „Meine Liedcrmappe ist merkwürdig angewachsen; ich werde freilich nicht alles für das Buch brauchen können; aber eS ist besser, wenn eS so unter GotteS freiem Himmel im Ueberfluß zuströmt, als wenn man auf der Studirstube mühsam am Schwefelholz schnitzen muß." So rückte er denn frohen Muthes im Herbste 1859 in die.ehrwür­ digen Hallen der Wartburg ein, um unter ihrem gastlichen Dach zwei förderliche Monate in lebhaftem Verkehr mit dem kunstsinnigen Fürsten­ paar zu verleben. Obgleich er dankbar das Wohlwollen anerkannte, welches ihm der Großherzog bei jeder Gelegenheit bewies, scheute er sich doch, ihm gegenüber in ein AbhängigkeitSverhältniß zu treten. So lehnte er bescheiden, aber bestimmt die ihm zugedachte Bibliothekarstrlle ab. „Ich bin als Poet in der sonderbaren Lage dadurch am meisten ge. fördert zu sein, daß man mich jedes Dienstverhältnisics enthebt: Ich würde meinen, für die Poesie angestcllt zu fein, wenn ich eine dauernd bindende Position annähme, und das würde mir alle Freude am Schaffen beunruhigen." Ein Hofleben mit seinem glänzenden, aber oberflächlichen Treiben war seiner innersten Natur zuwider: So verließ er, als der hundertjährige Geburtstag Schillers heranrückte, die Wartburg, um nicht an den offiziellen Feierlichkeiten theilnehmen zu müssen. Während ganz Deutschland seinem großen Dichter huldigt, zieht er einsam und menschenPreuhische Jahrbücher. 81. LXL Heft 2. IQ

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scheu seine Straße: „Festgewühl, lange Reden und Zweckessen machen mich allezeit unglücklich. Durch da- schlichte Gelöbniß, mich wieder auf Jahr und Tag mit Verzicht auf alle» äußere Leben in den Dienst der Kunst zu geben, hoffe auch ich mein Theil an der Feier des Dichter« ge­ nommen zu haben." Diese Worte an den treuen, väterlichen Freund auf der Wartburg geschrieben, finden ihre Ergänzung in einem langen Brief an den Großherzog; wir können ihn deS Raumes wegen leider nur theilweise bringen, obgleich gerade der Schluß einen tiefen Blick in Scheffels warmes Gemüth gestattet: „Eingeschlossen in eine winterliche Klattse, mit der Aussicht auf einen kahlen Wald, schneebedeckte Dächer und einen von krächzenden Raben besetzten Ahornbaum habe ich stündlich Anlaß die sonnigen Wartburgherbsttage in verklärende und verklärte Erinnerung zurückzurufen. Wie viel farbenreiche Bilder aus Burghof, Säulenhallen, Sälen und Kemenaten, — wie viel liebliche und erhebende Eindrücke persönlichen Erlebnisse- — bleiben für immer wohlthuend der Seele einge­ prägt! Von jenem ersten Kommen des Burgherrn bis zu dem letzten Abend deS FackelzugeS, Gesanges und mittelalterlicher Mahlzeit! Ich greife fast verspätet zur Feder, noch einmal meinen wärmsten und an­ hänglichsten Dank auszusprechen. Reich an Anregung und Ermuthigung, erquickt von den Zeichen theilnehmenden Wohlwollens, die mir durch Cure Königliche Hoheit und die gnädigste Großherzogin wurden, bin ich zu meinen Eltern, die mich dringend und sehnlichst erwarteten, in meine Werkstatt zurückgekehrt; die Stuben, darin ich von aller Welt abgesperrt, mich festgesetzt, sind mit meiner Jugend und meinem Schaffen mannigfach verwachsen und nur Fran Fantasie mit ihrem unsichtbaren Haushalt hat hier Einfluß. Ich hoffe in diesem Winter ein gut Stück vorwärts zu kommen; ein Ende seh' ich aber zur Zeit noch nirgends: Die Gestalten kauern und lauern ungebannt in allen Winkeln. Entschuldigen möchte ich mich nachträglich, daß ich bei Anlaß des Schillerfeste» nicht nach Weimar oder Jena hinübergekommen, mich noch einmal vorzustellen und de» Scheidenden Dank zu wiederholen: Seit 4 Jahren macht mir ein nur zur Noth überwundne» Gehirnleiden das Meiden aller größeren Versammlungen und Aufregungen zur unange­ nehmen Nothwendigkeit, hält mich von jedem Besuch deS Schauspiels und lebhafterer Geselligkeit fern und beschränkt mich auf ein selten unterbrochneS Leben in Einsamkeit und Natur. So wäre ich ein unbrauchbarer Festgast gewesen, wenn auch die Richtung deS Herzens ob der unerwartet stattlichen Kundgebung deutschen Geistes und die männliche Verehrung, welche ich jenem gewaltigen und reinen Geniu» zolle, mich sonst wohl dazu vereigenschaftet hätte." Der Brief gipfelt in einer warmherzigen

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Bitte, der Großhcrzog möge seine Theilnahme dem Maler Feuerbach, an

dem sich die Jugendgeschichte Schillers — verkannt und verarmt — wieder­

hole, zuwenden. Die krankhafte Menschenscheu, welche Scheffel von der Wartburg trieb

und ihn auch daheim ein Einsiedlerleben führen, ja sogar auf die gemein­ samen Mahlzeiten

mit den Seinen verzichten hieß, war abermals der

Vorbote

psychischen Leidens.

schweren

Das

einem gegebnen Versprechen gegenüber,

endlicher Mühe

und Arbeit

dem Ziele

Gefühl der Verpflichtung

die traurige Gewißheit trotz un­

ferner zu stehn, denn je, die

quälenden Zweifel, ob er je das Nebelgebilde werde auflösen können, das

alle- peinigte feine Seele und lähmte seine Arbeitskraft.

Am Ende war

eS doch der Conflict zwischen Forscher und Dichter, dem er erlag:

Bausteine, die der Eine mühvoll zusammengetragen,

Die

wollten sich in den

Händen des Andern nicht zu jenem stattlichen Bau zusammenfügen, den er erstrebte.

Mit genialem Scharfsinn hatte er dem zerfaserten und un­

klaren Sagenstoff einen leitenden Grundgedanken abgerungen:

führlicher Darstellung wollte

In aus­

eins der interessantesten Probleme de-

er

13. Jahrhunderts, den Gegensatz zwischen Kunst- und Volkspoesie schildern.

Im Sängerkrieg auf der Wartburg entfalten,

sie endlich doch

um

Volksliedes zu neigen,

sollte erstere

ihre prunkende Fahne

vor der rührenden Einfachheit deS alten

das Nibelungenlied von Heinrich v. Ofterdingen

aufgefnnden und im Laut der Heimathfprache mitgetheilt, winnen.

stellte,

den Preis ge­

Man begreift, welche Anfordrungen der Dichter an sich selber wenn

er diesen Plan in großem Style ausführen wollte,

welch

verschlungne Pfade er wandern mußte, um bas Ganze kunstgerecht aufzu­ bauen.

Proelß bemerkt mit Recht, daß es ein verhängnißvoller Irrthum

deS Dichters

gewesen

sei,

sich

damals zum Epiker berufen zu fühlen,

während ihn sein heißes Blut und sein gesteigertes Empfindungsleben zum

Lyriker drängte.

Wie ihm auf seiner Thüringer Wandrung eine Anzahl

reizender Lieder gelungen war, so hören wir ihn im Sommer deS nächsten

JahreS

am

Chiemsee

wiederum

in

stiller Bergeinsamkeit seiner Leier,

Töne tiefer Empfindung, heiligen Ernstes entlocken, die er später in der

Sammlung, „Frau Aventiure“, Heinrich v. Ofterdingen in den Mund legt: Endlich, endlich, milder Friede Kehrst Du wieder bei mir ein — Grimmer Schmerz löst sich im Liede In den Wind entschwebt die Pein. Bleicht und schwindet, wüste Träume, Steig zu Grabe Wahnsinn-nacht: Ferne blaue Alpensäume Mahnen, daß ein Tag noch lacht.

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Joseph Victor von Scheffel.

Wie lange hatte er wiederum diesen Frieden entbehren müssen! Aber­ mals lagen traurige Zeiten hinter ihm: Nicht allein die erfolglose und übertriebne Arbeit hatten ihn diese» Mal krank gemacht und fast dem Wahnsinn nahe geführt; sein Herz blutete unter einer neuen Enttäuschung: Die Braut, die er begehrt, hatte man ihm versagt, „well", wie er selber mit Bitterkeit schreibt „trotz aller Schillerfeste und Schillerstiftungen, trotz alles schönen Geredes und Schwärmens für die Kunst, der Künstler selber in Deutschland immer noch zu den Leuten von verdächtiger Position ge­ rechnet wird, dem man ein wohlerzognes Töchterlein nicht gut zur Frau geben kann". Erklangen aus diesem Grunde die meisten der damals entstan­ denen Weisen ernst und schwermüthig, so blitzte doch auch gelegentlich der alte Humor auf, wie z. B. in dem entzückenden Gedicht zu Hebels hundert­ jährigem Geburtstag; freilich ist es der Humor, der „die lächelnde Thräne im Wappen hat". Zwei Monate blieb der Dichter auf der stillen Insel am Chiemsee, eifrig beschäftigt mit Studien „zu einer großen Prosa-Episode", langsam genesend unter dem Eindruck des erwachenden Frühlings. Anfang Mai brach er seine Zelte ab, um das Salzkammergut zu durchwandern, alles mitnchmend, was für seine Arbeit irgendwie von Bedeutung sein konnte. In St. Wolffgang am Abersee machte er längte Rast; der Anblick der alten Einsiedelei dicht am Falkenstein, wo in den Jahren 972—77 der heilige Wolffgang, ehedem mächtiger Bischof von Regensburg ein stilles Klausnerleben geführt hatte, regte ihn dichterisch an. Der Gedanke, daß einer der Großen dieser Welt müde all des Schein- und Flitterwesens sich hier in die großartige Bergeinsamkeit geflüchtet habe, um In der Natur in stiller Beschaulichkeit zu leben, berührte ihn außerordentlich sympathisch. Sich in die Seele dieses frommen, deutschen Mannes versenkend, dichtete er damals die Bergpsalmen, deren erster seine eigne damalige Stimmung ganz kennzeichnet. „Landfahriges Herz, in Stürmen geprüft, Im Wetterkampf erhärtet, und oftmals doch Zerknittert von schämigem Kleinmuth, Ausjauchze in Dank Dem Herrn, der Dich sicher geleitet t Du hast eine Rnhe, ein Obdach gesunden, Hier magst Du gesunden, Hier magst Du die ehrlich empfangenen Wunden Ausheilen in sriedsamer Stille."

Die Bergpsalmen sind im Gegensatz zu den andern Dichtungen Scheffel« wenig bekannt, wohl, weil sie ein gewisses Studium voraussetzen. Proelß hat mit seinem Urtheil über dieselben vollkommen Recht: „daß

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zwar der getragne, mit ungewöhnlichen Wortbildungen versetzte Styl der Dichtung einem unmittelbaren, leichten Genuß d.e- gebotnen Schönen im Wege steht, daß aber dieselbe andrerseits plastisch sich darbietende, be­ deutende Landschaftsschildrungen von grandioser Schönheit enthält, die in geistiger, wie in poetischer Beziehung gleich gehaltreich sind." So brachte Scheffel auch von dieser Reise einen vollen Strauß von Liedern heim; doch hielt er ihn für weniger wichtig, als die wissenschaftlichen Ergebnisse derselben, über die er dem „Herrn der Wartburg" in einem langen Brief berichtet, gleichsam einen Beweis gebend, daß er be­ ständig seiner Schuld gedenke. „In 14 Tagen ist die Fahrt zu Ende, der Rohstoff gewonnen, und die künstlerische Verarbeitung kann fröhlich weiter gedeihen. Aber proteuSartig ändern sich Entwürfe und Gestaltungen unter der schaffenden Hand, und ich weiß nicht Tag noch Stunde, wo etwa» Fertige» herausgeschafft sein wird." Wenn er hier die Hoffnung auf fröhliche Verarbeitung aussprach, so war da» abermals ein bittrer Irrthum, wie er selber in einem spätern Briefe im Oktober bekennen muß: „Mit einer Selbstanklage sehe ich' den Bergwald sich herbstgelb färben und sehe, daß nahezu ein Jahr versäumt und verträumt ist, seit ich von der Wartburg und ihrem theuren Herrn mit selbsttrauenden Ver­ sprechungen schied. Wieviel des Erhofften und Versprochncn ist verwirk­ licht?" ES folgt nun ein Rechenschaftsbericht über da», was geschehn ist. Der Brief ist insofern besonder» interessant, als er einen Einblick ge­ währt in den gelehrtrn Apparat, mit dem der Dichter arbeitet; der ge­ reizte Ton, den er seiner persönlichen Lage gedenkend anschlagt, weissagt abermalige Seelenkrankheit. WaS un» der Biograph von ihrem Ver­ lauf erzählt, ist erschütternd. Mehr und mehr hatten Mißtrauen und Bitterkeit seinen Blick getrübt; von krankhaftem Argwohn gefoltert, beob­ achtet er seine Beziehungen zum Weimaraner Hofe; in Folge einiger Mißverständnisse glaubt er sich vernachlässigt, „wie Heinrich v. Ofter­ dingen von seinem Fürsten verstoßen und verbannt!" Dieser quälende Gedanke, der sich bi» zum Verfolgung-wahnsinn steigert, läßt ihn den verzweifelten Entschluß fassen, da» HauS der Eltern heimlich zu verlassen. Drei Tage bleiben diese ohne Kunde von ihrem verschwundnen Sohn; endlich kommt die Nachricht, daß er schwer krank in dem Hause eine» Arzte» in dem schweizerischen Ort LieSthal daniederliege. In welchem Zustande ihn die geängstete Mutter fand, wie sich bei dem Wiedersehn mit ihr eine Klärung de» umnachteten Geiste» zeigte, erfahren wir au» einem Brief von ihr: Ein Taffoschicksal nennt sie das LoS ihre» un­ glücklichen Sohnes mit vollem Recht. Er ist reizbar und empfindlich, wie Taffo, mißtrauisch in seiner Beziehung zum Fürsten, unentschlossen inbezug

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Joscph Victor von Scheffel.

auf seine Arbeit, „er kann nicht enden, kann nicht fertig werden". So wurde nach und nach „sein frei Gemüth verworren und gefesselt". Langsamer denn je genaß Scheffel von dem schweren Leiden: Da- neue Jahr findet ihn noch in.der Nervenanstalt zu Brestenberg; nur mit tiefstem Mitleid kann man den folgenden NeujahrSgruß an seinen hohen Herren lesen: „Ein feindlich Geschick hat seit zwei Monaten meiner Hand die Feder entwunden und mich gezwungen, als übel zugerichteter Kämpe die Wahl­ statt zu räumen. Anstatt auf den Graal behütenden Mont Salvatsch zu traurigem Schluß manch heitrer Irrfahrt auf den „Gebrestenberg" ver­ schlagen, alldort wie einst Herr Walter von der Dogelweide im bösen Tegernsee, mit Wasser gepflegt und gehöhnt, — dabei an Leib und Ge­ danken zum halbsiechen Mann geworden, hab' ich täglich neuen Anlaß, Goethe- Wort: „Dichten ist eigentlich ein Uebermuth" zu überdenken und Gott zu bitten, daß er mich nicht weiter heim suche. E- ist da- erste Mal in meinem Leben, daß ich einer freudig mir selbst auferlegten Verpflichtung nachzukommen mich außer Stand sehe.... aufrecht hält mich gegen den'Selbstvorwurf leichtsinniger Ueberschätzung und abenteuernden Scheine- der Trost, daß die Verwicklung meineStoffe- und meiner Gestalten keine unlösbare, daß meine Krankheit, so bedrohlich sie auch auf da- arme Haupt niederschwirrte, keine unheilbare, und daß, — wa- die lieben Briese Euer Königlichen Hoheit mit unser« löschlicher Schrift dem Herzen einprägten — eine au- feinbesaiteter Seele entsteigende Theilnahme dem Leidenden mit so liebevollem. Gemüth-wunden heilenden Verständniß enigegenkommt, daß ein andrer al- der eigne Bor­ wurf nicht zu befürchten steht. Leider Gotte- ist wenig Aussicht, alte Scharten au-wetzen zu dürfen; auf Jahr und Tag wird schier alle- ernstere Schaffen brachgelegt sein: Die Gefahr einer bleibenden Umnachtung alle- Denken- war in den Er» lebnissen dieser Novembertage gleich einem auf Pistolenschußentfernung schwarz vorüberziehenden Gespensterschiff eine allzu nahe, al- daß ich nicht zur größten Behutsamkeit mich aufgefordert fühlte. Vielleicht darf ich später einmal die Noth, in der ich schwebte, und wie Gotte- sichtbare Hand de- Umdüsterten Schritte lenkte, meinem hohen Gönner al- heitre Geschichte erzählen, zur Zeit schmerzt noch jede Erinnerung. Euer Königliche Hoheit bitte ich darum, mich al- einen auf lange, unbestimmte Zeit zu müßigem Vegetiren Verurtheillen, zu ernstem, regel­ rechten Geschäft Unfähigen vergessen zu wollen. Der einsamen Weltferne imb den Wasserquellen de- BrestenbergeS vertraue ich auf den Rath de- in solchen Leiden erprobten Professor

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Griesinger, der zu meinem Glück statt, wie früher in Kairo, zur Zeit in

Zürich thätig ist, den Weitergang meiner Heilung.

Ganz aufgeben kann

ich aber die Gestalten meiner Träume und die Arbeit meine» Herzen» erst dann, wenn die arme Seele für immer und zu jeder Arbeit unfähig geworden, und die» wird, so Gott will, noch nicht mein Fall sein, wenn

zur Zeit auch ein wenig Bleistiftzeichnen und Herumstetgen im Schilf, und

an den fluthumspülten Mauern de» alten Halbvyler Schlosse» schier meine einzige vernünftige Beschäftigung sein darf.

Heute um Mitternacht, da fern über den See sich herschwingende

Glocken da» neue Jahr etnläuteten, hab' ich an die Heimath und an Euer Königliche Hoheit mit aufrichtigen und ernsten Wünschen gedacht.

Der

Glockenklang durchtönte friedlich den heulenden Sturm der Winternacht

mög' e» ein gute» Zeichen sein in windesbrautgeschüttelter Zeit!

Ich geharre in kranken, wie In gesunden Tagen al»

d. 1. Januar 1861.

Euer Königlichen Hoheit gehorsamst ergebner

Josef Biet. Scheffel. Im März kehrte Scheffel auf dringenden Wunsch seiner Eltern, die

ihn für gesunder hielten, al» er war, heim; nach wie vor, dem Tiefsinn verfallen; nicht» vermochte ihn aufzuheilern: Vergeben» schrieb ihm Häusser,

daß für die besten Kompositionen seiner Trinklieder ein Preisgericht ein­

gesetzt sei, und daß

ein Sängerquartelt die preisgekrönten Lieder unter

jubelndem Beifall in Karlsruhe, Heidelberg lind Mannheim In Concerten

vorgetragen habe.

War er für freundliche Eindrücke unempfänglich,

so

reizte ihn alle» Unangenehme doppelt: So ein unseliger Buchhändlerstreit

der ihn zu einem langwierigen Prozeß veranlaßte und für ihn jahrelang die Quelle bittern Aerger» wurde.

Aber ob er sich auch in dem ganzen

folgenden Jahr, da» er größtentheil» auf Reisen zubrachte, unfähig fühlte, an dem Torso der „Viola" weiter zu arbeiten, so verharrte er doch nicht

in völligem Schweigen.

Mehr und mehr war der Entschluß in ihm

gereift, statt de» Romane» eine Sammlung von Liedern im Ton der

alten Zeit herauSzugeben.

„Ritter, fahrende Schüler, Mönche.......... Alle»

bunt durcheinander, aber jede» eine besondre Seite der mittelalterlichen Kultur repräsentirend."

Und schon im Frühling 1863 stellt sich auf der Wartburg „Frau Aventiure", diesen Namen hatte er der Gedichtsammlnng gegeben, ein,

al»

„ein mit Fldelklang vorauSeilende» Zeichen"

erst

durch da» noch unvollendete Prosawerk wahrhaft werde

können.

de» Danke», den er abstatten

Um den Liedern der Frau Aventiure gerecht zu werden, ist e»

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Joseph Victor von Scheffel.

nothwendig, ihre Vorgeschichte zu kennen; man begreift dann, warum sie vielfach mit gelehrtem Schnörkelwerk beschwert sind. Wie da- Verständ­ niß dieser erst durch die Anmerkungen, welche dem Buche beigegeben sind, erschlossen werden, so giebt e- andre — und eS sind die meisten der Sammlung, — welche den Weg zu jedem Herzen finden müssen. Wenn Scheffel unter der Maske de- fahrenden Spielmanns aus eigen­ ster Empfindung und Erfahrung heraus, da- Leben und Weben in der Natur, die Freude an ihren ewigen Wundern verkündet, findet er Töne, die nur dem Dichter von Gottes Gnaden eigen sind. Das Büchlein fand auf der Wartburg gar freundliche Aufnahme; als ihm aber dafür eine Auszeichnung, die Ernennung zum Professor, in Aussicht gestellt wurde, meldete sich wieder der alte Unabhängigkeitssinn, dem jedeS^Band und sei eS das ehrenvollste, verhaßt ist. In dem ausführlichen Brief an ArnSwald, dem er feine Gründe auSeinandersetzt, warum er auf die ihm zugedachte Ehre verzichten müsse, stehen die für seine Auffassung so be­ zeichnenden Worte: „Fassen Sie meine Persönlichkeit, wie sie ist. ES steckt soviel melancholische, brütende, 'die Einsamkeit als nothwendige Lebensbedingung aufsuchende Natur in mir, daß mich alle andern Be­ ziehungen zu Staat und Gesellschaft in Verlegenheit, — in eine falsche Position — setzen. Wenn ich mein Leben frei gestalten könnte, würde ich ein abgeschiedenes Häuslein im Gebirge oder an einem See bewohnen, und die Städte nur ausnahmsweise betreten." „Da- abgeschiedne Häus­ lein im Gebirge und am See" fand der kranke Dichter bald; in Pien­ zenau in Oberbayern brachte er die nächsten Jahre in einem solchen stillen Landhause zu. Die Einsamkeit inmitten herrlicher Natur wirkte heilend auf Herz und Gemüth, so daß die bösen Geister der Menschen­ scheu und de- Argwohns bald freundlichern Empfindungen Platz machten, und der Klausner von Pienzenau gern sein Haus alten Münchener Freunden öffnete. Einer derselben Ludwig Steub hat von manchem fröhlichen Fest- und Wandertag, den er und andre Freunde dort verlebt haben, berichtet. Scheffel gab diesen Aufenthalt, der ihm so wohlgethan, nur ungern auf: Nicht die Kälte des Dezembers vertrieb ihn; er gehorchte den Wünschen der Eltern, die ihren Sohn zu Weihnachten daheim haben wollten. Die Freude der Mutter über sein gesunde- AuSsehn war groß: Er schien ihr und dem Leben wiedergeschenkt. Und wie jubelte sie erst, alö er sich kurz darauf mit der Tochter des bayrischen Gesandten v. Mal­ zen verlobte. Wie glücklich sie über diesen auf gegenseitiger HerzenSneigung gegründeten Bund ist, spricht ein Brief an den alten Freund auf der Wartburg in beredten Worten auS: „Hören Sie nun lieber Freund, und theilen Sie unsre Freude! Joseph ist verlobt — er hat

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ein Herz gewonnen, — das ihn mit seltner Hingebung liebt, da- ihm mit Freude und Lust die größten Opfer bringt und seine Liebe über alle­ stellt. Seine Braut ist Caroline v. Malzen, — die einzige Tochter de­ alten Freiherr« v. Malzen, der seit neun Jahren al- bayrischer Gesandter hier wohnt. Sie giebt also Verhältnisse und eine Lebensweise auf, die Joseph ihr nicht bieten kann; aber die Beiden lieben sich so unendlich, daß alle- Andre ganz untergeordnet erscheint. Der Vater natürlich dachte ander-, und e- war sehr zweifelhaft, ob er seine Einwilligung geben werde. Doch er that, wa- wir ihm nie genug danken können. Hätte er seine väterliche Gewalt dieser Liebe entgegengestellt, so hätten wir jetzt zwei sehr unglückliche Menschen, während jetzt Freude und Dank zu Gott und seiner gnädigen Lenkung in allen Herzen waltet." Im August 1864 fand die Vermählung in Karl-ruhe statt: Wa­ da- Mutterher; für die Zukunft dieser Beiden erflehte, schien sich herrlich zu erfüllen. Von gleicher Liebe zur Natur, zu stillem, häuslichen Glück in den eigenen 4 Wänden beseelt, verlebten die jungen Eheleute die ersten Monate in ihrem lieblichen Heim zu Seon, da- Scheffel ganz nach eignem Geschmack eingerichtet hatte: „AlS umsichtiger, thätiger, für alle- sorgender Hauövater ruhte er nicht, bi- alle- bequem, nett und behaglich war, und erst dann führte er seine geliebte Caroline an den eignen Heerd, der ihr nun unbeschreiblich wohl gefällt, so meldet ein Brief der Mutter, der eö freilich immer ein Kummer bleibt, daß der Sohn in selbstgewählter Entfernung von ihr verharrt. Seine Unabhän­ gigkeit zu wahren, ist ihm nach wie vor innerste- Herzen-bedürfniß: So lehnt er, wie es scheint, in vollem Einverständniß mit der Gattin sowohl eine ehrenvolle Berufung zum Direktor de- germanischen Museums ab, wie auch alle Vorschläge, welche ihm von dem Weimaraner Hofe kamen; den Hofrathstitel, den ihm die Güte des Großherzogs zu Weihnachten befcheert, läßt er dankend über sich ergehen. So leuchtete dem Dichter endlich nach langen trüben Jahren die Sonne des Glückes; was er so lange und schmerzlich entbehrt, genoß er jetzt mit bewußtem Dankgefühl: Noch einmal wurde er der alte frohgemuthe Scheffel; fleißig bei der Arbeit, die ersten Früchte seine» dichte­ rischen Schaffens einzuheimsen, neue Auflagen seiner Dichtungen vorzu­ bereiten, da» vorhandene Material zu sondern und zu sichten, blickte er mit Hellen Augen in die Zukunft, die ihm al» nächste», hochwillkommene» Geschenk, einen Besuch seiner Mutter bringen sollte. Ach, welch erschüt­ ternder Uebergang von der Freude zum Schmerz war dem Armen bereitet: Statt die Mutter am eignen Heerd zu begrüßen, mußte er nach Karlsruhe eilen, nm sie zur letzten Stätte zu geleiten: Ein jäher Tod

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hatte ihrem thätigen Leben ein Ende bereitet. Der Dichter begrub mit ihr da- treuste Herz, da- er besessen: WaS war ihm sein Vaterhaus ohne diesen Mittelpunkt! Doch zwang ihn die Pflicht für Vater und Bruder in seinen öden Hallen zu bleiben. Seine Gattin hielt nock ein halbes Jahr das eben begründete junge Hauswesen in Seon aufrecht, um im Herbste ihrem Manne nach Karlsruhe zu folgen. ES ist bekannt, daß Scheffel- Ehe keine glückliche gewesen ist, daß kurz nach der Geburt deS Sohnes eine Trennung eintrat, die 18 Jahre dauerte. WaS ver­ anlaßte die Frau zu diesem Schritt? Waren eS nicht auözusöhnende Verschiedenheiten der Charaklere, der Lebenögewohnheiten? Vermochte sie die Schwierigkeiten, welche naturgemäß aus dem gemeinsamen HauSwesen mit Vater und Bruder ihres Gatten für sie erwuchsen, nicht zu tragen oder litt sie unter den reizbaren, wankelmüthigen Stimmungen ihre- Mannes allzusehr? ES mag alles dieses mitgespielt haben, um den unheilvollen Bruch, der Scheffel aus'S Tiefste verletzte, herbeizuführen. Daß Proelß unS die ausführliche Darstellung der unerquicklichen Verhältnisie, welche einer solchen Trennung vorauSzugehen pflegen, erspart, ist dankenSwcrth. Der Dichter sollte nicht zu den Glücklichen gehören, denen im eignen Hause Wohl bereitet ist. Daß ihn diese neue schmerzliche Erfahrung nicht wieder zum menschenscheuen Einsiedler machte, ist ein Beweis dafür, daß die Krisis in seinem Nervenleiden überwunden und er wieder zu voller Gesundheit erstarkt war. Von diesem Gefühl getragen, gab er dem Drängen seiner Freunde nach und begann die Herausgabe seiner Lieder aus „dem Engern und Weitern", die er in den letzten Jahren um einige der besten vermehrt hatte. Nur ungern hatte er den Entschluß gefaßt: „Ihr werdet sehn, daß ich mit diesen Liedern in den Ruf eines Lump und Kneipgenie komme," eine Prophezeihung, mit der er leider Recht behalten hat. Eine eigne Fügung wollte cS, daß als er im Be­ griff stand die Arbeit abzufchlicßen (März 1867), der Begründer des Vereins, Häufler starb: So erlebte von den alten Freunden nur Schmezer die Herausgabe der Lieder, die Scheffel unter dem Namen „Gaudeamus“ in die Welt sandte. Sie haben demselben alle Ehre gemacht und viele Herzen mit Fröhlichkeit erfüllt. Durch deS Dichters Seele aber zog bei der Erinnerung an alle die frohen Stunden, welche sie ihm zurückriefen, leise Wehmuth, die in der schönen Widmung zum Ausdruck kommt. Auch des Erfolges, der ihm von allen Seiten entgegendrang, wurde er nicht froh: WaS frommte es ihm, wenn Fremde für seine Lieder Theilnahme und Verständniß hatten, und er der Einen, die seinem Herzen die Nächste war, kein Beifallslächeln abzugewinnen vermochte. „ In schriftstellerischen Arbeiten habe ich Glück, im Leben wenig." Diese Empfindung der

Joseph Dieter von Scheffel.

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Resignation ist ihm geblieben. Sie überträgt sich auch auf uns, wenn wir sein fernere» Leben überblicken. Wohl gestaltete eS sich sorgenfrei, so daß er seine Wünsche, weit über das ursprüngliche Maß erfüllen konnte, — statt deS bescheidnen HäuSleinS am See, ward ihm die schöne stattliche Besitzung zu RadolfSzell'zu Theil, — wohl genoß er eine Be­ liebtheit und Berühmtheit, wie sie nur selten einem Dichter beschieden gewesen ist; — hat doch der Ekkehard in 90, das GaudeamuS-Liederbuch in 50 und der Trompeter in 140 Auflagen und Ausgaben bei Lebzeiten deS Verfassers Verbreitung gefunden, — wohl glückte eS ihm, seinem Drang nach Freiheit und Unabhängigkeit zu genügen, ein freier Mann auf freiem Boden zu sitzen, trotzalledem hat man daS Gefühl eines ge­ knickten Lebens. Warum mußte feine Dichterstimme so früh verhallen? Diese Frage drängt sich immer wieder von neuem auf, wenn wir hören, daß er noch 18 Jahre unter unS geweilt hat. WaS er in ihrem Ver­ lauf gedichtet, sind nur kleinere Gelegenheitsdichtungen, die, wie Proelß sagt, nur literarischen Werth haben: „Sie sind nicht Offenbarungen jener mit elementarer Kraft aus dem Innern hervorbrcchenden Poesie und entbehren im allgemeinen die naive Frische der Empfindung, die kräftig trotzige Selbstständigkeit deS Gedankens, die ungesucht malerische An­ schaulichkeit der Schilderung und den heiter lächelnden Humor." Er selber fühlte die Erschlaffung seine- Talentes. „WaS meine Lage beim Beginn dieses Jahres 1872 betrifft, so gestatte ich mir nur wenige An­ deutungen: ES ist dafür gesorgt, daß die Bäume nicht in den Himmel wachsen. Nach dem Tode meines Vaters 1869 sind die Sorgen und Mühen deS Lebens reichlich an mich herangetreten. E» ist eine Ehren­ sache für mich, als einziger naher Verwandter die Vormundschaft und Pflege meines von Jugend an gelähmten Bruders zu führen. Selbst­ verständlich kehren auch die Musen bei einem Manne, der um Marktund Holzpreise Sorge zu tragen hat, nicht mehr viel ein. Seit drei Jahren ruht meine Dichtung und die Feder revidirt Rechnungen. AlleSchlimme trägt aber einen Keim des Guten in sich; und wie ich lächle, wenn im Garten die Rosen erfrieren und der Kohl gedeiht, so muthet es mich seltsam an, daß bei dieser poesielosen Wirthschaft, die Berhältniffe vorwärts gehn und mir im vorigen Jahre gestattet haben, ein kleine- Grundstück am Bodensee zu erwerben, auf dem ich — zu stillem Studiren und Schaffen — ein bescheidenes LandhäuSlein zu bauen ge­ denke." Wohl hat er studirt und geschafft bis an sein Lebensende; aber seine Stimme ist nicht mehr in die Welt gedrungen. Sich ganz der Erziehung seine- einzigen Sohne- widmend, al- sorgsamer Hau-vater sein Gut selbst verwaltend, lebte er in ländlicher Zurückgezogenheit. Daß

144

Joseph Victor von Scheffel.

er trotzdem kein Vergessener war, erkannte er dankbar an seinem öOsten Geburt-tag, der ihm au- allen Gauen.de- Vaterlandes Zeichen der Theilnahme und Verehrung brachte. Scheffel nahm mit gleicher Genug­ thuung die Grüße au- Wien, Graz und Prag, wie die Ehrenmitglied­ schaft so mancher Studentenverbindung, 'so manches bürgerlichen geselligen Verein-, die Ehrenbürgerschaft der Städte, deren Ruhm seine Poesie verklärt hatte, wie die ihm zugedachten Orden und das Diplom an, mit welchem ihm sein Landesherr, Großherzog Friedrich von Baden in den erblichen Adelsstand erhob. Sie that ihm wohl diese allgemeine Liebe, und er dankte sie seinem Volke, wenn sie ihm auch da- wehmüthige Wort entringt: „Wäre die Fülle dieser Tage homöopathisch über da­ ganze Leben vertheilt gewesen, so hätte sie anregend gewirkt." Die letzte Dichtung, zu der er sich, schon den Todeskeim im Herzen aufraffte, war da- Festlied zum Heidelberger Jubiläum. Als eS in den August-Tagen vorigen Jahres in freudiger Begeistrung von tausend Lippen klang, weilte der Dichter nicht mehr unter den Lebenden; am 9. April war er zur ewigen Ruhe eingegangen. Ein letzter Lichtblick war dem Sterbenden geworden durch die Gegenwart der ihm so lang ent­ fremdeten Gattin, welche auf die Kunde seiner schweren Krankheit herbei­ geeilt war. So löste sich auch dieser Mißklang angesichts de» Tode»; versöhnt ging der Dichter heim: Da- Bild, welche- in der Todesstunde

von ihm gemacht worden, trägt den Ausdruck ewigen Friedens. Portum inveni, so hat Proelß sein letztes Kapitel überschrieben; treulich hat er seinen Helden bi- zum letzten Hafen geleitet; immer er­ folgreich bemüht, ihm des Leser- volle Theilnahme zu wahren. Wa» böswillige Verleumdung, wa» thörichtes Mißverständnlß dem Dichter nachgesagt haben, ist wie Nebel vor der Sonne zerstoben. Der Biograph wandelte in den Spuren LessingS; wa» er für Scheffel gethan, entspricht deffen Worten: „Ich selbst kann mir keine angenehmere Beschäftigung machen, als die Namen berühmter Männer zu mustern, ihr Recht auf die Ewigkeit zu untersuchen, unverdiente Flecken ihnen abzuwischen, die falschen Verkleisterungen ihrer Schwächen aufzulösen, kurz alle- da- im moralischen Verstände zu thun, wa- derjenige, dem die Aufsicht über einen Bildersaal anvertraut ist, physisch verrichtet."

Das alt-preußische Tabacksmonopol. Die Verbreitung des TabackSgenufseS in Deutschland ist eine Frucht de» dreißigjährigen Krieges; die Söldnerhorden haben die in England gegen Ende des 16. Jahrhunderts aufgekommene Gewohnheit des Rauchens und Schnupfens allenthalben eingeführt. Umsonst war dagegen der Bann der Päpste und das Eifern der Geistlichkeit von der Kanzel. Die LandesHerren, zuerst auch auf Beschränkung der neuen Sitte bedacht, fanden e» bald nützlicher dieselbe durch Steuern zu einer Einkommensquelle zu machen. Früh schon fanden Versuche statt die Tabackspflanze in Europa zu ziehen. In der Mark Brandenburg waren es zwei Juden, David Nathan und Hartwig Daniel, welche sich zu einem ersten Versuch deS TabacköbauS in größerem Umfang entschlossen. Um ihr Unternehmen zu sördern ertheilte ihnen der Große Kurfürst unterm 24. Mai 1676 gegen Zahlung einer jährlichen Pacht für 12 Jahre das Recht in Alt- und Uckermark sowie in den Ruppinschen und Priegnitzschen Kreisen ausschließlich Taback zu pflanzen, zu verarbeiten und zu handeln. Nur Berlin, Cölln und Friedrichswerder behielten die Freiheit auch anderweitig ihren Tabacksbedarf zu decken. Zur Bedingung wurde den Monopolpächtern gemacht, daß ihr Fabrikat gut und nicht theurer als in den Nachbarländern sei. Der Große Kur­ fürst dürfte bei dieser Maßregel vom Beispiel Frankreichs, welches 1674 daS TabackSmonopol einführte, geleitet worden sein. Aber seine Erfolge waren weniger günstige als dort. Die beiden Unternehmer konnten ihrem Vertrag nicht nachkommen. Ende 1681 machte der Kurfürst daher einen andern Versuch, die Tabacksindustrie in seinen Landen zu heben. ES er­ hielten „einige sogenannte Interessenten" auf ihr Gesuch hin daS Privileg 20 Jahre lang in Churmark und Hinterpommern ausschließlich die TabackSsplnnerei (d. h. Herstellung deS damals hauptsächlich verbrauchten Rollentaback») zu betreiben und, da der heimische Tabacksbau zur Zeit noch unzureichend sei, daS nöthige Rohmaterial bi» auf weiteres vom AuSlande einzuführen. Jeder nicht von der Gesellschaft mit einem Stempel versehene Taback sollte der Konfiskation unterliegen. Der Tabacksbau

146

Da- alt-prenßische Taback-monopol.

wurde durch diese Maßregel völlig freigegeben und ihm nur sicherer Absatz verschafft. Unter den Händen der französischen RefugiöS, später der Pfälzer und der aus den lothringischen BiSthümern flüchtigen Protestanten nahm der Anbau der Tabackspflanze einen immer bedeutenderen Aufschwung, welchen die Negierung durch hohe Besteuerung der fremden Blätter unter­ stützte. Bald erwies sich die Zahl der privileglrten Fabriken zu klein, um die gesammte heimische Tabacksproduktion aufzunehmen und eS wurden daher neue Konzessionen zur Tabacköspinnerei in den Residenzstädten, in Brandenburg, Prenzlau, Magdeburg und Colberg ertheilt. Auch erhielten die französischen Tabacksbauer in der Uckermark daS Recht zur Selbst­ verarbeitung ihrer Erzeugniffe. Diese Erlaubniß wurde von Friedrich Wilhelm I. allen Tabackspflanzern ertheilt. Das vom Großen Kurfürsten eingeführte Konzessionssystem war damit zerstört. Bon Seiten der ge­ lernten Tabacksspinner erhoben sich allerdings heftige Beschwerden, und 1714 erbaten dieselben, um sich einigermaßen von der Konkurrenz zu be­ freien, die Erlaubniß eine Innung bilden zu dürfen. Die Regierung hielt indessen eine solche Maßregel damals nicht für angebracht. Sie be­ sorgte, daß dadurch „verschiedene TabackSpflanzer und Spinner Anlaß nehmen dürften, sich in die benachbarten Länder zu begeben und daselbst die Tabackspflanzerei nebst einem TabackScommercio anzurichten". — Bis 1717 zahlten die im Lande gebauten Tabacke keine Steuer, nur von den Fabrikaten wurde eine Acrise erhoben. Weil aber viel märkischer Rohtaback ins Ausland ging und dann theilweise auch verarbeitet wieder ein­ geschmuggelt wurde, belegte man 1718 die Ausfuhr von Tabacks blättern mit einer Steuer von 6 Pfennigen für jeden Thaler des Werths. Uebrigenö war die Gesammteinfuhr ausländischen Tabacks in die Mark eben nicht bedeutend. Für 1719 wird sie z. B. nur auf 225 Ctr. berechnet. Aber der König hegte den Wunsch allen Taback im Jnlande fabrizirt zu sehen. Als ihm daher 2 Kaufleute, die Oberhof- und Kriegsfaktoren MofeS und EliaS Gompert den Vorschlag machten, gegen Ertheilung eines Privilegs die Fabrikation der ausländischen Tabackssorten zu übernehmen, ging er trotz der ablehnenden Haltung deS Generaldirektoriums darauf ein. Unterm 14. August 1719 erhielten die genannten Kaufleute das ausschließ­ liche Recht der Herstellung der bisher vom Ausland bezogenen Tabacks­ sorten für Chur-, Neumark, Magdeburg, Minden, Halberstadt und Ra­ vensberg. Die Einfuhr von Taback wurde gleichzeitig bei Strafe ver­ boten. Die GompertS zahlten für diese« Monopol jährlich 2000 Thlr. und stellten dem König einen langen Gardisten, der ihnen etwa 1300 Thlr. kostete. Seltsamer Weise scheinen sie aber doch nicht auf ihre Rechnung gekommen zu sein, denn schon kaum 2 Jahre später boten sie dem König

Da» alt-preußische Tabackemonopol.

147

gegen Erstattung der Kosten Abtretung ihre- Unternehmen- an und zwar mit der seltsamen Motivirung, daß sie dasselbe ja nur zum Nutzen der Rekrutenkafse begonnen hätten und leicht ein Gewinn von 10 bis 20000 Thalern jährlich daran zu machen sei. Da» Generaldirektorium, zum Gutachten aufgefordert, sprach sich gegen alle Monopole auS, weil sie den Unterthanen und damit auch dem „höchsten Interesse" schädlich seien. Der König werde solche Maßregeln nicht für eine solide Verbesserung der Re­ venuen, sondern „vor Wind" halten. ES empfehle sich lediglich Aufhebung deS Privileg- und Entschädigung der Staatskasse durch eine kleine Er­ höhung der TabackSaccise. Von Entschädigung der GompertS könne füglich die Rede nicht sein, da sie bei ihrem angeblichen hohen Prosit ohnehin genug gewonnen haben müßten. Auf eine erneuerte Eingabe der Gom­ pertS hin, worin sie dem König nochmals Uebernahme ihres Geschäfts antrugen, „damit wir wegen übermäßigen Profils künftig keinem Verdruß oder Recherche exponirt fein möchten", ließ Friedrich Wilhelm ihnen seine Absicht mittheilen, ihre Konzession aufzuheben und sie befragen, welche Entschädigung sie beanspruchten. Sie bezifferten dieselbe auf 80000 Thlr. Von den 96000 Thlrn., welche sie für Einrichtung der Fabrik und Bor­ räthe ausgegeben, hätten sie bisher erst 16000 wieder eingenommen. Da» Generaldirektorium war allerdings mit dieser Rechnung gar nicht einverstanden; eö erklärte dem König, daß die Entschädigung höchstenS 25000 Thlr. betragen könne und hielt eine genaue Prüfung der Bücher für unabweislich. Obwohl der König den GompertS sehr wohlgeneigt gewesen zu sein scheint, setzte daS Gcneraldirektorium seinen Willen durch und nahm eine Durchsicht der Geschäftsbücher vor. Doch vermochte man damit zu keiner Klarheit zu gelangen. Man versuchte, wie der König eS wünschte, die Kaufleute in den Provinzen zu bewegen die Gompertschen Vorrälhe zu kaufen, doch dieselben wurden allenthalben für zu schlecht er­ klärt. ES ist nicht ersichtlich, ob die Herren Oberhof- und Kriegsfaktoren die verlangte Entschädigung erhalten haben. Man scheint ihnen schließlich die Fortführung ihrer Fabrik biS zum Absatz ihrer Borräthe freigestellt zu haben. Erst Ende November 1721 wurde die Einfuhr fremder Tabacksfabrikate in den Provinzen, für welche ihr Privileg gegolten hatte, wieder freigegeben. Für eine Reihe von Jahren blieb nun Tabacksbau und -Verarbeitung unbeschränkt, und das fiskalische Interesse wurde lediglich durch Eingang-zoll vom ausländischen sowie Acctse vom einheimischen Erzeugniß gewahrt. Aber eS zeigte sich, daß ohne kostspielige Kontrolle die Umgehung derselben sehr häufig war. Besonders auf dem Lande ließ sich die nöthige Ueberwachung nur sehr schwer durchführen, so lange jeder Tabacksbauer das Recht zum Spinnen befaß. In den 30er Jahren

DaS alt-prenßischc Tabacksmonopol.

148

sah sich daher die Regierung genöthigt, Beschränkungen eintreten zu lassen.

Man ließ die Befugniß zum Tabackspinnen nur den gelernten Meistern in den Städten und schuf Innungen der Tabacksspinner.

Trotz dieser

Maßregeln blieben die Acciseerlräge mäßig und die Steuerfähigkeit deS

Tabacks wurde in keiner Weife hinreichend auSgenützt. Erst als die Kriege Friedrichs des Großen Preußen aufs äußerste

erschöpft hatten und jede Steuerquelle sorgfältig aufgesucht werden mußte,

kam die wirksamere Besteuerung deS Tabacks wieder in Frage.

Die

sehr hohen Erträge deS Monopols in Frankreich, Oesterreich, Spanien und Portugal ließen die Vorzüge dieser Besteuerungsart klar hervortreten.

Doch scheint der König zur Einführung eines staatlichen Monopols keine

Neigung besessen zu haben.

Er entschloß sich vielmehr trotz der schlechten

Erfahrungen seiner Vorgänger Privatleute zu Privilegiren. Ein Marseiller

Kaufmann Roubaud erbot sich 1764 zur Durchführung deS TabackSmonopols in Preußen, und am 4. Mai 1765 wurde ihm das ausschließliche Recht im preußischen Staate Taback einzuführen und zu verkaufen über­ tragen.

Alle Fabrikanten wurden angewiesen ihre Borräthe und Geräthe

an die von Roubaud zu gründende ferme g6n6rale de tabac gegen

Bezahlung abzuliefern und die Tabacksbauer durften nur noch an sie ihr

Gewächs verkaufen.

Die Beamten der Ferme sollten öffentlichen Charakter

erhallen und überall und jederzeit zu Nachforschungen wegen Conlrcbande befugt sein.

Der Pächter verpflichtete sich dagegen jährlich dem Staate

1100000 Thlr. zu zahlen und guten Taback in hinreichender Menge zu bestimmten Preisen zu fabriziren. Der Vertrag sollte vom 1. Januar 1766 an für 15 Jahre gelten.

Indessen ist er nie zur Ausführung gekommen,

vielmehr trat Roubaud sein Privileg auf der Stelle an eine Gesellschaft von 10 Industriellen ab, welche ihm dafür 20000 Thlr. und eine jährliche Rente versprachen. ES gelang ihm auch die Zustimmung deS Königs zu dem

Geschäft zu erlangen.

Am 6. Juli 1765 schloß die Regierung einen Ver­

trag mit den Tabacköfabrikanten:

Isaac Salingre auS Stettin, Samuel

Schock aus Potsdam, Balthasar Targa, Jean Buiffon, Paul Lecoy, Joh.

Haubenstrücker, I. H. Ulrici, Jean Laqueux, Louis Gautier und Ch. E. Jordan aus Berlin.

Diese Unternehmer sollten die Pacht im Voraus

vierteljährlich zahlen.

Im übrigen gleicht der Kontrakt im wesentlichen

dem mit Roubaud geschloffenen. der neuen Einrichtung durch

Vertrages mitgetheilt.

Dem Publikum wurde deS Wesentlichste

ein Edikt wenige Tage nach Abschluß deS

Im Eingang desselben wurde als Hauptzweck der

Maßregel die kräftigere Förderung der Tabacksindustrie in Preußen be­ zeichnet.

Die 10 Unternehmer hatten die Absicht daS nöthige Kapital durch

eine Aktiengesellschaft aufzubringen und wandten sich zu diesem Zwecke so-

Da» alt-preußische Tabacktmeuopol. gleich an die Oeffentlichkelt.

149

Gleichzeitig entwarf der Geheime Finanzrath

von Calzabtgi den Geschäft-plan der Ferme.

Er theilte die Monarchie

In 6 Departements (wovon Westfalen übrigen- später für 38000 Thlr. in Unterpacht gegeben wurde).

Die Oberleitung sollte In den Händen

von 10, au» den Interessenten gewählten, gutbezahlten Direktoren liegen,

zu welchen 2 Regierungskommissare berathend und beaufsichtigend traten. Alle 2 Monate wurde eine Generalversammlung der Aktionäre in» Auge gefaßt.

In jedem Departement wurde eine Provtnzialdirektion ntederge« Zur Hinderung de» Schleichhandel» ernannte man einen General«

setzt.

inspektor,

Oberstlieutenant von Wangenheim,

und stellte

Reitern und Fußvolk bestehende Brigaden unter.

ihm 5 je au»

Für die unausbleib­

lichen Rechtsstreite erhielt jede» Departement ein Pachtung»«, Berlin ein

Die Gehälter waren ohne Ausnahme sehr reichlich

Oberpachtungsgericht.

bemessen, die ersten Kosten de» Unternehmen» also nicht niedrig. Trotzdem

wäre ihm ein Erfolg wohl sicher gewesen, rasch zusammengekommen.

wenn nur da» Aktienkapital

Doch in dem kleinen Lande von 5 Millionen

Einwohnern, wo lange Kriege den Wohlstand zerrüttet hatten, auf den Markt gebracht.

herigen Tabacksfabrikanten

fehlte e»

2000 Aktien zu je 1000 Thlr. wurden

an Geld und Unternehmungsgeist.

Aber außer den 282 Stück, womit die für ihre Borräthe

entschädigt wurden,

bis­

und

250 Stück, welche der König übernahm, wurden nur noch 435 Aktien ab­

gesetzt.

Die erste Pachtrate konnte daher schon nicht zum richtigen Termin

bezahlt werden.

keiten

Am 1. Januar 1766 betrugen die Zahlung-verbindlich­

920000 Thlr.,

der Kaffenbestand

aber

nur 560000 Thlr.

Generalversammlung war rathlo» und mit Freuden ging

Die

man auf da»

Anerbieten eine» Unbekannten ein, welcher 200 bi» 250000 Thlr. jährlich

zu leihen versprach,

wenn

und 3'/, % An» erhalte.

er

dafür eine Jahre-reute von 6000 Thlrn.

Auch der TabackSabsatz ging schlecht.

Da die

Detailverkäufer einige 100 Thaler Kaution zahlen und sich einer Menge

Visitationen au-setzen sollten, fanden sich bei der Niedrigkeit der Provision in vielen Orten keine geeigneten Persönlichkeiten.

Ferme fehlte e» an Geschäft-kenntniß,

Der Oberleitung der

Uneinigkeit herrschte,

Mißbräuche

rissen ein, so daß schon im Februar 1766 die beiden Königl. Kommissare zurücktraten.

Sie erklärten, sie wollten nicht länger den Mißbräuchen un­

thätig zuschauen.

Man habe ihnen keinerlei Einfluß gewährt, nie hätten

sie auch nur einen ordentlichen Kassenetat zu sehen bekommen. Auf ihren

Bericht hin erhielt die Gesellschaft von der Regierung den Rath die Ge­ hälter um die Hälfte herabzusetzen. ab.

Der König seinerseits sah

Leitung de- Unternehmens um. Preußisch« Jahrbücher. Bd. LXI. Heft 2.

Man änderte nun den ganzen Plan

sich nach einem geeigneten Manne zur Er glaubte einen solchen in dem FranH

Da» alt-preußische Taback-monopol.

150

zosen Grand de Crech gefunden zu haben, welcher sich auch nicht abgeneigt

zeigte dem Wunsche de» König- zu willfahren.

Friedrich II. versprach

ihm im Nothfall mit seiner Kaffe für ihn einzutreten und korrespondirte mit ihm über die verschiedene Mißstände der bisherigen Ferme.

wurde angewiesen die Aktionäre zu bewegen sich Crech

Calzabtgi

unterzuordnen.

E» fanden auch Besprechungen statt, aber mitten In den Vorbereitungen

starb Crech eine- plötzlichen Tode-.

ging.

Der König half sich nun so gut eS

Am 13. April 66 ließ er den Pächtern mittheilen, daß er den mit

ihnen geschloffenen Vertrag aufzuheben gedenke, und schon am 18. April

mußten die bisherigen Direktoren abdanken und die Geschäfte einer neuen du Vignon,

Direktion bestehend au» Calzabigi,

B. von Schwerin und

Frhrn. von Wangenheim abtreten. Die Sache machte im Publikum große» Aufsehen; die gewesenen Direktoren

fehlen,

ließen e-

an Schmähungen

nicht

so daß sich die Leitung der Ferme zu beruhigenden Erklärungen

in den Zeitungen genöthigt sah.

Aber auch Calzabtgi zeigte sich unfähig

die Geschäfte der Ferme in befferen Gang zu bringen, und die Zuweisung

einiger Regiebeamten blieb gleichfalls fruchtlos. Bücher der Gesellschaft,

de Launah,

wurde. zahlen.

wobei

genau revidiren,

Natürlich war die Direktion E» wurde

Da ließ der König die

e- scheint durch den Leiter seiner Regie,

wie

die

größte Verwirrung

festgestellt

nicht im Stande am 1. Juli zu

daher am 3. Juli

eine Generalversammlung der

Aktionäre berufen, in welcher der Oberst von Quintu- JciliuS im Auf­ trage de- König» erklärte,

bei dem Unvermögen der Gesellschaft

ihren

sehe sich derselbe genöthigt die Ferme in

Verpflichtungen nachzukommen,

seine eigenen Hände zu nehmen.

Er wolle Niemand schädigen, sei daher

zur weiteren Verzinsung der Aktien mit 10% bereit und wolle sogar für künftige Dividende einstehen.

Die bisherigen Fabrikanten würden auch

in Zukunft beschäftigt werden.

Der Vorschlag des Königs fand allgemeine

Annahme und am 11. Juli 1766 erschien das Patent wegen Errichtung der GeneraltabackSadmintstration.

Dieselbe erhielt an Dorräthen, Geräth»

schäften und dergleichen von der Ferme für 559276 Thlr., 3966 Thlr. übergeben.

die Administration

an Baargeld

Da» gesammte Aktienkapital, deffen Verzinsung

übernehmen

mußte,

belief sich auf 1127700 Thlr.

Trotz dieser Schuldenlast hat dieselbe sehr guten Erfolg gehabt und Ta­ back-bau wie -industrie in Preußen zweifellos gefördert.,

E» betrug die Tabacköerndte in Preußen 1767/68

26074 Ctr. 64664



im Durschnttt 1776/82 jährlich 149232



1772/73

Die Ausfuhr an Taback belief sich 1768/69 nur auf 590 Ctr., 1781/82

war sie auf 20671 Ctr. gestiegen.

Der Reingewinn belief sich 1785/86

Das alt-preußische Taback-monopol.

151

auf 1729063 Thlr., d. h. ein Elftel der Einkünfte de» damaligen preußi­ schen Staat»! Daß die Generaltabacksadministration allerdings im Publikum sehr beliebt gewesen wäre, läßt sich nicht behaupten. Die Tabacksbauer, welche bei dem stets sichern und lohnenden Absatz ihrer Erzeugnisse gern den Anbau ins Ungemessene vergrößert hätten, klagten über die Beschränkung der Taback-cultur, welche die Administration naturgemäß von Zeit zu Zeit eintreten lassen mußte. Mit mehr Recht beschwerten sie sich, daß dieselbe den Blättereinkauf nicht selbst betrieb, sondern durch eine Blättermagazin­ gesellschaft , deren Hauptdepot in Berlin war, auöüben ließ. Der Preis de- Monopoltabacks war hoch, im Durchschnitt um 200% höher al» der gewöhnliche, doch hat sich dieser Umstand weniger fühlbar gemacht. Für» Ausland wurden natürlich niedrigere Preise gerechnet. Die Hauptbe­ schwerde richtete sich vielmehr gegen die lästige aber unvermeidliche Kon­ trolle zur Verhütung von Umgehungen de- Monopolgesetzes. Nach dem Muster der Regie hatte man berittene Zollbrigaden errichtet, welche un­ ausgesetzt das Land durchstreiften und beim leisesten Verdacht die Häuser durchwühlten. Kein Reisender blieb von ihnen unkontrollirt, und Unge­ rechtigkeiten oder Gewaltmaßregeln ließen sich eben nicht immer vermeiden. Daß die Mehrzahl dieser Beamten Franzosen waren, trug nicht dazu bei ihre Beliebtheit zu erhöhen. Die Schulzen und Dorfgerichte waren an­ gewiesen sie jederzeit zu unterstützen, doch im Stillen nahmen sie gewöhnlich für die Schuldigen Partei und verriethen die Ankunft der Zollreiter. Die Dörfer standen in einer Art Kartell gegen die Monopolbeamten. ES soll vorgekommen sein, daß Brigadier- in Hinterhalte gelockt und heimlich er­ schlagen wurden. Ihr Tod blieb gewöhnlich ungerächt. Zu einer Zeit, wo die aufklärerische Literatur Englands und Frankreich» Mode in Deutsch­ land war, wo man im Genusse wohlthätigen Frieden» für Freiheit und Menschenwürde in unklare Begeisterung zu gerathen begann, wurden die Härten de» Monopol» doppelt gefühlt und ein allgemeiner Haß richtete sich gegen diese Schöpfung de- großen Königs. Aber unbekümmert darum widmete ihr derselbe seine Zuneigung. Mit größter Aufmerksamkeit hat er da- Rechnungswesen, wie den Ein- und Verkauf de- Taback» verfolgt, die Amtsführung der Beamten, den Gang der Fabriken studirt. Bis in kleine Details hinein zeugen die Akten von feinen praktischen Vorschlägen und Anordnungen. Mit verschiedenen Fachmännern trat er in Brief­ wechsel über Veredlung der heimischen Produktion und ließ geschickte Arbeiter aus Holland kommen. Da ereilte den König der Tod, und ein vollkommener Umschwung trat ein. Die Härten de» Friedricianlschen System- waren auf die 11*

DaS alt-preußische Tabacksmonopol.

152

Dauer den Zeitgenossen immer unerträglicher vorgekommen. Nun athmete alles auf, begrüßte mit Jubel den neuen Monarchen und erwartete von

ihm eine Aenderung der Verwaltung.

Und Friedrich Wilhelm II., der

ohnehin nie besondere Zuneigung bei dem verstorbenen Oheim gefunden

hatte, der mit Hochgefühl sich seiner Popularität bewußt war, sich auf der Stelle, trotzdem

entschloß

ihm die nöthige Erfahrung völlig abging,

den Klagen der Wortführer Rechnung zu tragen.

Schon die Thatsache

war bedeutungsvoll, daß er eine Denkschrift, welche ihm der damals in

Berlin

abenteuernde Mirabeau schon am Tag der Thronbesteigung zu

überreichen wagte, und in welcher eine vollständige Reform des Staats

im Sinn der phhsiokratischen Schule verlangt wurde,

nahm.

huldvoll entgegen­

Die Beseitigung der unbeliebtesten Einrichtungen Friedrichs des

Großen hatte er wohl schon vorher beschlossen.

Knall und Fall

wurde

nun die Regie aufgehoben, und ihr verdienter Leiter, de Launah, in schmäh­ lichster und ungerechtester Weise abgesetzt.

tabackSadministration.

Günstling des Königs, Beyer,

Dasselbe Loos traf die General-

Den Plan zur Aufhebung General von Werder,

derselben entwarf der

allein mit seinem Rathe

ohne irgend einen Sachverständigen zu Rathe zu ziehen.

Generaldirektorium

wurde die

Dem

erste Kenntniß von der wichtigen Maß­

regel durch eine Kabinetsordre vom 11. November 1786 gegeben, in der

es hieß: „Seine Königliche Majestät von Preußen, Unser allergnädigster Herr, sind durch die, über den zeitherigen TabackS-Zwang uud über die mit dem Cafföe getroffene Einrichtung, von allen Seiten in Höchstdero Staaten ge­

führten Klagen, um so mehr bewogen worden darunter eine Enderung zu treffen, weil die Folge dieses Zwanges und dieser Einrichtung, die Contre-

bande nemlich,

manchen nützlichen Unterthanen auf Abwege geführt, die

ihm und seiner Familie verderblich geworden,

und weil die daraus ent­

sprungenen Chicaneusen Visitationen, so lästig sie dem ehrlichen Manne gefallen, gleichwohl zum Nachtheil der revenues deS Staats, den Contrebandier von Gewerbe keineSweges zurückgehalten, vieleicht nicht getroffen haben.

AuS wahrer landesväterlicher Vorsorge für das Beste der ge­

treuen Unterthanen und stets bedacht, denen selben die zur Erhaltung deS Staates unvermeidlichen Lasten zu erleichtern und sie, bey deren Entrich­

tung für Bedruck,

Mißbrauch und Chicanen zu sichern,

haben dahero

Sr. K. M. einen vorläuffigen Plan entwerfen lasten, nach welchem die bisherigen hohen Accise=®efäüe vom Caffse abgeschafft und die General-

Tobacs-Administration aufgehoben und dagegen eine mäßige nach richtigen Grundsetzen auszumittelnde Caffee und Todacs-Steuer in sämmtlichen Pro­

vinzen eingeführet werden soll."

Das alt-preußische Tabacksmonopol.

153

Zur Deckung des entstehenden Ausfalls wurde eine Accise von Kaffe

und Taback sowie eine nach Klassen eingetheilte direkte Steuer in Aus­

sicht genommen.

Den Aktionären wurde Bezug von 8% Zinsen bis 1792

oder Rückzahlung des Kapitals freigestelll.

neraldirektoriums waren Schulenburg-Kehnert

Die alten Beamten deS Ge­

über die Maßregeln entrüstet.

Der Minister

weigerte sich entschieden die KabinetSordre durchzu­

führen; er erhielt in Folge dessen seinen Abschied ohne Pension.

Soviel

bewirkten aber die Vorstellungen des Generaldirektoriums doch, daß wenig­ stens der Plan einer direkten Steuer, welche bis dahin nie in Preußen

erhoben worden war, fallen gelassen wurde.

Freilich der Ersatz war noch

schlimmer: es wurden die Accisen für Brod, Zucker und Bier sowie die Stempelgebühren erhöht.

Mit dem 1. Januar 1787 war die Tabacks­

industrie wieder frei, und das Volk in der Freude, die lästigen Kontroll­ beamten los zu sein, übersah einstweilen die Bertheuerung der Nahrungs­ Die Beamten der fridericianischen Schule waren

mittel.

und blieben

dagegen erklärte Feinde der Maßregel des Königs. Ihre Stimmung fand einen interessanten Ausdruck in einer anonymen

Broschüre, welche bald nach Veröffentlichung der KabinetSordre unter dem Titel erschien:

„WaS ist für und was ist gegen die General-TabackS-

Abministration zu sagen."

paucis

offendar maculis.“

„Ubi plura nitent in carmine non ego

Nach

einer Darlegung

der theoretischen

Gründe, welche bei Einführung deS Monopols maßgebend gewesen sind,

widerlegt die Schrift die einzelnen gegen dasselbe damals vorgebrachten Beschwerden.

Eine Menge Menschen stoße sich am Namen; alle Mono­

pole seien schädlich, ergo auch die Tabacksadministration.

Aber warum

wendeten sie sich da nicht lieber gegen die für Salz, Holz, Eisen, allge­

mein

nothwendige Dinge,

kräftige Besteuerung

bestehenden

Monopole,

eines Luxusartikels anzufeinden!

statt

die möglichst

Die fernere Be­

hauptung, daß die Administration sehr viele drückende Zoll- und Accise-

einrichtungen nöthig mache, sei unrichtig, denn jene Maßregeln seien in erster Reihe durch die Regie veranlaßt worden. sei die Klage,

die natürliche Freiheit der Landleute schädige.

des

Noch weniger berechtigt

daß die Administration den Tabacksbau beschränke und so Sei doch erst in Folge

sicheren Absatzes und des guten Preises, welchen der Staat zahlte,

der Tabacksbau Preußens zu seiner jetzigen Ausdehnung gelangt. der Fortschritt der Tabacksfabrikation

Auch

werde keineswegs durch die der

Monopolverwaltung mangelnde Konkurrenz nothwendig aufgehalten.

Eine

gute Leitung werde sicher möglichst vollendete Leistungen anstreben.

Am

schwersten wiege der Vorwurf, daß das Monopol den Kleinhandel aufzieht

und damit eine Menschenklasse ins Leben ruft, welche von Jugend auf

mit dem Gesetz im Kampfe liegt. Die nachtheiligsten Folgen für die all­ gemeine Moralität sind nothwendige Wirkung. Endlich führe dieser BesteuerungSmoduS eine Menge Belästigungen deS Reisenden und Bürger mit sich. Die Bisitationen und Prozesie haben allgemeinen Mißmuth und Minderung der Vaterlandsliebe bewirkt. Doch erstlich sei auch mit an­ deren Artikeln als Taback Schleichhandel getrieben worden und dann könnte eine vorsichtige Herabsetzung der Preise denselben einschränken. Gegen die Plackereien deS Publikums dürften strenge Vorschriften ge­ nügen. Mit Recht betont die Broschüre schließlich, daß vor allem die Un­ möglichkeit den durch die Aufhebung deS Monopols entstehenden Ein­ nahmeausfall in besierer Weise zu decken für dasselbe spreche. Seien doch ohnehin alle Lebensmittel schon hoch besteuert, eine noch höhere Belastung derselben sei eine offenbare Ungerechtigkeit gegen die Gesammtheit zu Gunsten der Raucher und Schnupfer. Endlich würde bei Aufhebung der Administration zweifellos der Konsum des feineren ausländischen Tabacks erheblich zunehmen, der heimische Tabacksbau und -industrie damit aber schweren Schaden erleiden. „Wenn sich ein Land in einen entbehrlichen und willkürlichen Verlust seines Gelde- setzt, und sich von freien Stücken fremden Staaten und entfernten Ländern auf ewige Zeiten tributär macht, so wird demselben eine ohnheilbare und immerfort eiternde Wunde ge­ schlagen, welche seine besten Lebenssäfte, wie ein Wampier aussauget, der Circulation tagtäglich neue Summen entziehet, folglich die Mittel der Betriebsamkeit und der Konsumtion vermindert, nach und nach eine Schwindung in den öffentlichen Einkünften verursachet und den ganzen Staat in einen consumtiven und paralitischen Zustand bringt." Der Anonymus schließt mit dem dringenden Appel an den König, die TabackSadmtnistration zu erhalten und den beklagten Uebelständen durch Fretgebung deS TabackSbauS, Herabsetzung dek Preise, Aufhebung der Blättermagaztngesellschast und Beschränkung der Visitationen rc. abzuhelfen. ES scheint, daß die sehr eindringlich, mit Sachverständniß und warmem Patriotismus geschriebene Broschüre im Publikum tiefen Eindruck gemacht hat. Der König und seine Berather waren höchlich erbittert. Die Ber­ liner Zeitungen veröffentlichten sogleich eine Ordre Friedrich Wilhelms II. an den GeneralfiScal d'ASniereS, da- Pamphlet zu unterdrücken, und den miserable Scrivailleur, welcher eS verfaßt, zu verfolgen. Auf feine Ent­ deckung wurde ein Preis von 100 Thalern gesetzt. Doch der Uebelthäter meldete sich freiwillig. ES war der Geheime Finanzrath von Borcke, ein Sohn deS verstorbenen Ministers, ein ehemaliger Beamter des General­ direktoriums, welcher dem König selbst früher nahe gestanden. Er wiedie vollkommene Zuverlässigkeit und gesetzliche Provenienz seine- Materials

Da« alt-preußische Tabacksmonapol. nach,

und der Monarch

Man

begnügte

155

stellte die Untersuchung gegen ihn wieder ein.

sich seine Schrift auf literarischem Wege zu bekämpfen.

Neben einer von der Regierung veranlaßten Broschüre:

und Wiederlegung

der Schrift:

»Beantwortung

Wa- ist für und was ist gegen die

General-Tabacks-Administration zu sagen?

Berlin, gedruckt bei CH. S.

Spener 1787* erschienen noch zwei andere Flugschriften in dieser Richtung:

»Prüfung

der Schrift:

Was

ist für rc.?

Berlin

bey

1787* und „Gedanken eines Patrioten über die Schrift: Berlin, gedruckt bei Peter Bourdeaux."

Arnold Weder

WaS ist für rc.?

Während Borke den merkanti­

listischen Standpunkt und daneben die rein praktische Anschauung der An­ gelegenheit vertritt, sind die 3 Gegenschriften durchaus in dem Sinne der

damals eben modern gewordenen phhsiokratifchen Theorie,

Adam Smith zur allgemeinsten Herrschaft gelangt ist,

ihrer Anschauung

ist das Tabacksmonopol schlimmer

Monopol in Preußen.

welche durch

abgefaßt. als

Nach

jedes andere

Freilich treffe e» einen entbehrlichen Gegenstand,

aber der Taback sei jetzt im allgemeinen ebenso nothwendig wie Bier,

Semmel und andere- geworden.

Zur Erhaltung de- Leben» genüge ja

auch Brod und Wasser, doch lehre die Geschichte nicht, daß die damit zufriedenen Völker besonder» glücklich oder mächtig geworden seien.

Die

Bedrückungen de» Publikum» durch lästige Kontrollen legen die Gegner der Generaltabacksadministration zur Last.

Borke» ausschließlich

Ohne

die strengsten Aufsichtsmaßregeln sei daS Monopol gar nicht aufrecht zu

erhalten.

An dem

Aufschwung de» Tabacksbau»

Friedrichs II. nicht den geringsten Antheil.

habe

die Maßregel

Lediglich die durch den Abfall

der Vereinigten Staaten veranlaßte Mindereinfuhr amerikanischer Blätter nach Europa habe den Absatz und damit den Bau de» preußischen Ta­

back» gesteigert.

Die Furcht, daß

die Freigebung der fremden Einfuhr

den Verbrauch deS heimischen Kraule- beeinträchtigen werde, sei ganz un­ begründet.

theuer fein.

Der fremde Taback werde

dem

großen Haufen immer zu

Auf die Verbesserung der Fabrikation müsse die Aufhebung

de» Monopol» energischer als jede Vorschrift wirken, e» sporne nicht» so den Fortschritt an al» da» eigene Interesse.

Besonder» führen die drei

Schriften natürlich die Großziehung deS Schmuggel» und die verderbliche Wirkung der Visitationen gegen da» Monopol In» Feld.

Eine geringe

Preisherabsetzung werde den Schleichhandel nicht hindern, eine bedeutende vereitle den Zweck de» Monopol».

Gegen die Mißbräuche bei den Durch­

suchungen der Häuser und Reisenden schütze keine Vorschrift.

Wäre e»

so leicht ihnen vorzubeugen, so wäre e» ja unverantwortlich, daß e» nicht

längst schon geschehen. „Wie sehr seufzte da» Land nach dieser Befreiung!*, ruft der Offi-

156

Das alt-preußische Tabacksmonopol.

ziosus am Schlüsse, „Wie froh nahm man die Nachricht davon auf! wie

rief die allgemeine Stimme deS Volks!

Und jetzt da unsers Wünsche

erhört sind, jetzt da unser König mit Aufopferung seines eigenen Inter­ esses uns frei und unabhängig

machte, die wir so gerne,

von den CommiS der Administration

wie eine Legion Teufel in unsere Häuser

kommen sahen, jetzt wollen wir auf einmal die Gnade eines Fürsten ver­

kennen, der sich durch diese Handlung eines der größten Verdienste um

sein Volk erwarb!" hebung

Auch eine andere der Broschüren sieht in der Auf­

der Tabacksadministration die glorreichste Handlung des neuen „Glückliche Preußische Unterthanen", heißt eS in ihr, „welche

Monarchen.

die Vorsicht nun schon in einer langen Reihe von Jahren mit lauter treff­

lichen Beherrschern beglücket!

Ihr nahet auch dem Zeitpunkt, wo ihr an­

fangen werdet, daS Gute zu genießen, was eure Vorfahren mit Anstren­ gung all ihrer Kräfte erworben haben; denn Friedrich Wilhelm hat euern

Fleiß bemerkt,

er hat alle Hindernisse beobachtet, welche eurem Empor­

streben entgegenstanden und euren Muth niedergedrückt haben, und seine erste königliche Handlung ist, daß er die Fesseln zerbricht, welche eure Be­

triebsamkeit gehemmt und euch gedrückt haben!"

Die Aufhebung deS Monopols trat in der That am 1. Januar 1787 in Kraft. gegeben.

Im Anfänge war die Fabrikation von Taback vollkommen frei­

Doch fanden dabei die gelernten Meister, welche bisher von der

Administration beschäftigt worden waren, ihre Rechnung nur sehr schlecht.

Auf ihre Klagen hin und des Umstands wegen, daß wie schon ehemals

auf dem Lande die Accise zu leicht umgangen wurde, trat schon im August

eine Beschränkung des Fabrikationsrechtes ausschließlich

auf sachkundige

und in geordneten Vermögensverhältnissen befindliche Unternehmer in den

Städten ein.

ES erhielten somit eigentlich eine Reihe von Fabrikanten

ein Privileg, das sie denn auch durch Preissteigerungen und Druck der

Tabacksbauern ausnützten, wogegen die Verordnungen der Regierung wenig halfen.

Die Meister der fortbestehenden Tabacksspinnerinnung fanden bei

den Fabrikanten, welche billigere Arbeiter vorzogen, so wenig Beschäfti­ gung, daß sie Klage führten und auch in der That ein Einschreiten der

Regierung zu ihren Gunsten durchsetzten.

Im übrigen muß zugestanden

werden, daß die Prophezeiungen wegen Niedergangs der Tabacksindustrie sich nicht erfüllt haben.

Der Tabacksbau der Monarchie, welche allerdings

mittlerweile einige Vergrößerungen erfahren hatte, betrug: im Jahre 1791

147358 Ctr.

1793

206282 Ctr.

1796

219228 Ctr.

157

DaS alt-preußische Tabacksmonopol.

Die Tabacksfabriken des Königreichs, mit Ausnahme der in besonderer Berwaltung befindlichen Schlesiens beschäftigten:

1790 an Arbeitern

2180

1797 an Arbeitern

2412;

ihre Produktion betrug:

1790

1866564 Thaler

1797

2042939 Thaler;

der Export belief sich: 1790 auf 358434 Thaler 1797 auf 415987 Thaler.

Ob aber der fortdauernde Aufschwung der Industrie lediglich der Aende­ rung der Besteuerungsform oder nicht vielmehr dem steigenden Konsum

und den

allgemeinen Handelskonjunkturen zuzuschreiben ist,

offne Frage.

bleibt eine

Vom fiskalischen Standpunkte aus war die Abschaffung deS

Monopols ein grober Fehler.

Und auch der Volksgunst hatte der König

nicht allzulange zu genießen.

Konnte er doch nicht alle an ihn herantre­

tenden Wünsche erfüllen, die Erhebung der Accisen und Steuern auch damals nicht ohne jede Schädigung privater Interessen durchführen!

Dazu

kamen die politischen Mißerfolge und das anstößige Privatleben des Königs.

Und um allem die Krone aufzusetzen, entschloß sich Friedrich Wilhelm II.

schließlich daS einst so angefeindete Monopol wieder inS Leben zu rufen.

Die Ursache dieses Schrittes ist nicht ganz klar; ob es die durch die Re­

volutionskriege in den Kassen geschaffene Ebbe oder ob eS wirklich nur die Habsucht der Lichtenau, HohmS und Bischoffswerders war, welche mit­

telst deS Monopols sich bereichern wollten, wie der nicht sehr zuverlässige Philippson behauptet, wird Wohl nie vollkommen aufgeklärt werden. Sicher

ist, daß der Finanzminister Struensee wie das Generaldirektorium, obwohl sie einst so heftig sich der Aufhebung der Administration widersetzt hatten, die Wiedereinführung für sehr bedenklich ansahen.

Die Durchführung der

Maßregel wurde durch Kabinetsordre vom 21. Mai 1797 einem Freunde Hoyms, dem frühern Oberpräsidenten SüdpreußenS, Julius von Buggen­ hagen übertragen.

Auf seinen Rath erfolgte sofort ein Verbot der wei­

tern Einfuhr fabrizirten Tabacks. Dieser Schritt des Königs machte unglaubliches Aufsehen.

Von den

Kaufmannschaften aller gtößern Städte ergingen dringende Eingaben gegen

die Wiedereinführung der Administration.

in ihrer Petition zu sagen:

Die Danziger gingen soweit

„Belehrte uns die Cabinetsordre nicht von

der Gewißheit dieses Vorsatzes, so würden wir jeder darauf Bezug haben­

den Nachricht unsern Glauben versagen ... da sie unS für den Handel überhaupt die traurigsten Folgen befürchten läßt.

Denn wie können wir

Hoffnung für den Flor desselben hegen, wenn seine Grenzen immer enger

158

Dal alt-preußische Taback-monopol.

gesteckt und die Quellen seine- Wohlstände» abgeleitet werden. ... Ent­ stehen nun noch weitere Einschränkungen, so muß er endlich glauben, daß man den Handel gänzlich unterdrücken wolle." Die Ansichten eine- großen Theil» der Bevölkerung finden ihre beste Illustration in einer in jenem Moment veröffentlichten Broschüre: „Wer gewinnt, wenn im Preußischen die TabackS-Administration wirklich ringe» führt werden sollte?" Der Autor erwägt zunächst die Gründe, welche den König zu der geplanten Maßregel bewogen haben könnten: die Noth­ lage de» Staat» infolge de» Krieg» mit Frankreich und die Nothwendig­ keit einige Tausend Invaliden zu versorgen. Aber er denkt mit Schrecken daran, daß die letzteren mit der Durchführung der Kontrollvorschriften betraut werden sollen. Bei der Alternative zwischen französischen Beamten und den rauhen preußischen Kriegern ziehe er die erster» bet weitem vor, da sie sich doch immer einen Anstrich von Erziehung und Kultur zu geben wüßten. Unter den obwaltenden Derhältniffen sei aber da» Monopol überhaupt ungeeignet, den Staat-säckel zu füllen. E» seien seit der Auf­ hebung der Administration soviel neue Fabriken entstanden, daß deren Entschädigung Millionen beanspruchen würde. Natürlich müßten auch die seiner Zeit zum Ersatz de» Monopol» eingeführten Steuern wieder abge­ schafft werden, wa» einen neuen Ausfall bedinge. Ohne sehr guten Gang der Geschäfte werde die neue Administration daher kaum die Zinsen der nöthigen Anleihen decken. Im zweiten Theile der Flugschrift werden die schon immer gegen da» Taback-monopol angeführten Gründe vorgebracht. E» werde daffelbe Taback-bau und -handel schädigen, viele Arbeiter brodlo» machen und die ohnehin dürftige Industrie Preußen» im Allgemeinen schädigen. Mit mehr Recht betont der Anonhmu» die schädlichen Wir­ kungen, welche der auf» neue zu erwartende Schleichhandel und die un­ vermeidlichen lästigen Kontrollmaßregeln haben würden. Nur Im äußersten Nothfalle, wenn der Staat gar keinen andern Ausweg sehe, sei auch diese» Monopol zulässig. Aber soweit sei eS mit Preußen noch lange nicht. Eine erhöhte TabackSaccise, gesteigerte Besteuerung de» ftemden Tabacks, stärkere Belastung de» Salze» und endlich Einziehung der geistlichen Stifter werde mehr al» nöthig Geld einbringen. Zum Schluffe weist die Flugschrift auf die Gefährlichkeit einer Maßregel wie der geplanten zu einer Zeit hin, wo überall der Freiheit-schwindel in den Köpfen der Menschen sein Wesen treibe und „die Mißgeburt der französischen Frei­ heit und Gleichheit in vielen verschrobenen deutschen Köpfen gewaltige Gährungen verursache." Die Regierung hat eine Verfolgung dieser Broschüre nicht eintreten laffen, um ihr nicht noch mehr Ansehen zu verleihen. Sie begnügte

Dar alt-preußische Taback-monopol.

159

sich damit, durch den Professor der Mathematik an der Artillerieakademie

und Gouverneur am Kadettenkorps, I. W. A. KoSmann, einen sehr frucht­ baren Schriftsteller, im September 1797 eine Widerlegung zu veranlassen. „Freimüthige Betrachtung der Gründe für und wider die General-Toback-Administration".

In erbärmlichem Stile ist hier auseinandergesetzt, daß

die Nothlage des Staats neue Einkünfte erfordere. objekt al- der Taback sei aber nicht vorhanden.

Ein bessere- Steuer­

Ein Monopol auf diesen

Artikel biete nun vor den andern Besteuerung-arten eine Menge Vor­

E- falle dem armen Mann fast gar nicht beschwerlich, nur der

züge.

wirkliche Konsument trage dazu bei,

eS treffe ein entbehrliche- Genuß­

mittel, lasse jedem die Freiheit sich selbst etnzuschätzen, gewähre dem Käufer wirklich die Sorten, welche er wünscht, schütze vor Fälschungen und verhüte Betrug an Gewicht.

Andrerseits seien die Befürchtungen, daß Tabacks­

handel und -industrie darunter leiden würden, übertrieben.

Der Schmuggel

sei freilich lästig, aber genügende Wachsamkeit werde demselben schon steuern.

Zum Schluffe vertheidigt Koömann besonder- die Absicht de- König- da­ neue Staat-institut zur Versorgung der zahlreichen Invaliden zu benützen.

Mittlerweile

waren die endgiltigen Schritte zur Wiedereinführung

der Gcneraltaback-administration bereit- geschehen.

Am 15. Juni wurde

ein Etat für da- neue Administration-kolleg aufgestellt.

4 Administratoren,

11 vortragenden Räthen,

1 Rechtskonsulenten und 2 Justitiaren bestehen.

ES sollte au»

1 technischen Mitarbeiter,

In Berlin, Magdeburg,

Stettin, Königsberg, BreSlau, Posen und Warschau wurden Provinzial­ direktionen Thaler

eingesetzt.

Für

auSgeworfcn.

Eine

die

erste

halbe Million sollte die Bank vorstrecken,

den Rest brachte man durch Aktien garantirte 6 % ZinS.

Einrichtung wurden 2 Millionen

zu 1000 Thalern auf.

sondern dem König direkt unterstellt.

Präsident derselben und Staat»-

minister wurde am 16. Juni Herr von Buggenhagen. schien da» Patent,

Der Staat

Die Behörde wurde nicht dem Generaldirektorium

welche-

1. Januar 1798 ankündigte.

da- Inkrafttreten

Am 18. Juni er­

de- Monopol-

für

den

Kurz darauf entschloß man sich die Maß­

regel schon am 1. Oktober 1797 durchzuführen.

E» ist nicht zweifelhaft,

daß de- König- Günstlinge in dieser Angelegenheit seine Güte schmählich

mißbraucht haben.

Buggenhagen brachte seinen Sohn und 5 Schwäger,

deren einer bi- dahin Klavierstimmer gewesen sein soll, in gutbezahlten Stellen bei der Administration unter.

Die vom Staat garantirten Aktien

vertheilte die Umgebung de» Monarchen fast ausschließlich unter sich.

Und

wa» am meisten Erbitterung hervorrief, war, daß man die seiner Zeit

zum Ersatz der Monopolerträge eingeführten neuen Steuern ruhig fort­

bestehen ließ.

Die alten Invaliden wurden bei der Besetzung der Stellen

wenig berücksichtigt, der Präsident zog Prlvatlehrer und Lakaien vor, so daß der König dagegen einschreiten mußte. Da- Generaldirektorium protestirte nachdrücklich gegen die ganze Maßregel. ES verlangte Dorlage de» Plan- zur genauen Prüfung, weigerte sich die ablehnenden Bescheide an die Kaufmannschaften zu unterzeichnen und verweigerte Buggenhagen jeden Beistand. In Danzig, wo da- Monopol einen Bruch der ehemals mit Preußen geschloffnen Kapitulation bedeutete, kam eS zu einer förm­ lichen Rebellion, welche von den Behörden geradezu unterstützt wurde. UebrigenS hatte man Sorge getragen, daß die Maßregeln, welche die frühere Administration besonder- verhaßt gemacht hatten, vermieden wur­ den. Der TabackSpreiS sollte öfter- revidlrt und nach den Konjunkturen geändert werden, an Stelle der Blättermagazine traten königliche EntrepotS, deren Inspektoren angewiesen waren, alle Bedrückung der TabackS« verkäufer zu vermeiden. Für Streitigkeiten zwischen ihnen war die Ort-« behörde unter Zuziehung von Sachverständigen Au-schlag gebend. Die bestehenden Fabriken wurden entschädigt, ihre Arbeiter soweit al- möglich übernommen. Die einst so lästigen Brigaden wurden nicht wieder er­ richtet. Doch vermochte da- Alle- nicht die Entrüstung de- Publikum- über die Maßregel zu beschwichtigen. Wie lebhaft die ganze Angelegenheit da­ öffentliche Interesse in Anspruch nahm, ersieht man deutlich au- der Menge der im Sommer und Herbst 1797 erschienenen Flugschriften. Zunächst veröffentlichte ein Gildesekretair Gründler*) eine spottgetränkte bissige Er­ wiederung gegen Ko-mann, auf welche derselbe eine ebenso erbitterte Ant­ wort**) nicht schuldig blieb. Neue Argumente für oder wider da- Ta­ back-monopol sind hier ebenso wenig wie in einer Replik Gründler-***) und einer andern gegen den Regierung-anwalt gerichteten Broschüre von Wilhelm-s) enthalten. Auch auf einen vierten Angriff: „Bon welchen Grundsätzen muß man au-gehen, wenn man über die neu errichtete General-TabackS-Administration nicht unüberlegt und unbesonnen urtheilen will. Don einem Freunde der Wahrheit", konnte sich KoSmann die Ant­ wort nicht versagen. Doch war mittlerweile Friedrich Wilhelm II. ge­ storben, und sein Nachfolger hatte die Wtederaushebung de» kaum neu­ geschaffenen Monopol» sofort beschloffen. KoSmann ist infolge dessen In *) Prüfung und Berichtigung der freimüthigen Betrachtung de» Herrn Professor Ko»mann über die General-Tobacks-Administration. •*) Beantwortung. Ueber de» Herrn Gilde-Sekretär» Gründler vermeintliche Prüfung und Berichtigung der freimüthigen Betrachtung. ••*) Epistel an den Herrn Professor KoSmann. f) Der Professor Kosmann in Hinsicht aus feint Schrift über die General-Toback»« Administration gerichtet.

dieser Broschüre

Da» alt-preußische Taback-monopol.

161

Die Art

seiner Vertheidigung

bedeutend

der Regierung hatte

gemäßigter.

sonst noch Mißfallen

übrigen- auch

erregt.

Ein

Zollbeamter 3. C. H. Wilcken hat sich wohl am treffendsten darüber und

über die ganze Angelegenheit geäußert*). Der preußische Staat, sagt er, ist nach der Versicherung der Regie­ Dasselbe muß durch Steuern

rung in Noth, er braucht brlngeiib Geld.

beschafft werden, aber für sie ist kein bessere» Objekt vorhanden al» der

Taback.

Eine Erhöhung der Accise würde

dem genannten Zweck nun

nicht entsprechen, denn durch die Preissteigerung würde der Konsum im

Inlande und Au-lande abnehmen.

So bleibe

Besteuerung-form da» Monopol übrig.

Antheil de» Zwischenhandel- weg,

al»

einzige entsprechende

Unter seiner Herrschaft fiele der

die Fabrikatpreise würde» daher nicht

übermäßig gesteigert, der Konsum nicht eingeschränkt werden.

sei auch,

Zu bedenken

daß die staatliche Verwaltung dem Kunden reellere Waare al»

der Kaufmann liefere.

Allerdings litten eine Anzahl Fabrikanten Schaden,

derselbe würde aber bei beträchtlicher Steuererhöhung nicht geringer sein; auch

hätte der Handel Nachtheil, doch ihm bleibe noch immer Transit« und Ausfuhr­ vermittlung. Und schließlich würden alle diese Schädigungen nur im Anfang

fühlbar sein, Handel und Industrie rechneten

und der Konsument habe nur Vortheil.

lichen

bald mit dem Unvermeid­

Mehr im Ko-mannschen

Tone ist eine Broschüre de» Krieg-rath» Fischbach gehalten:

der Ursach

de» Murren»

wider

„Prüfung

der Königlichen

da» TobackS-Monopol

Berlin 1797“, während ein andere» Schriftchen: „KoS-

Administration.

mann, Fischbach und Gründler, oder Wer von Ihnen hat Recht? Versuch über die General-TobackS-Administration von La Grange.

Lin

Berlin

1797” in kurzer und treffender Weise den ganzen Streit mit den Worten abfertigt: Weder der eine noch der andere hat Recht, da» TabackSmonopol

ist weder eine Wohlthat noch eine Plage,

sondern einfach eine Steuer.

wird sich bei ihm besser befinden

Da» Publikum

al» bet einer hohen

Accise. 3ndeffen

überwogen

im allgemeinen

die leidenschaftlichen Angriffe

gegen die Wiederherstellung der verhaßten Einrichtung. wissenschaftlicher

gehaltene

Abhandlung:

„Freie»

Auch eine etwa»

Taback-gewerbe

und

Tabacksregal in Hinsicht auf Staatspolizei und Finanzintereffe betrachtet; nebst einer Geschichte de» Taback-gewerbe- in den Königlichen Preußischen Staaten.

gerichtet.

Frankfurt a. d. O. 1797“

ist durchaus

gegen

da» Monopol

Der Schutz de» Publikum» gegen verfälschte und nicht preis­

würdige Waare

wird

hier ganz und gar hintenangesetzt und

in erster

*) Freimüthige Bemerkungen über de» Herrn Professor Kosmann freimüthige Be« trachtnngen.

Da- alt-preußische Taback-monopol.

162

Linie vom theoretischen Standpunkt aus der Betrieb von Gewerben durch

den Staat verdammt.

Zum ersten Male tritt in dieser Broschüre die

Befürchtung auf, daß der Staat auf dem einmal betretenen Wege weiter­ gehe und noch andere Industriezweige dem privaten Betrieb entziehe. —

Sicher dürfte wohl sein, daß der Haß gegen die unwürdigen Günst­ linge Friedrich Wilhelm- II. diese alö ihr Werk erscheinende Einrichtung ganz besonder»

unpopulär

gemacht hat.

Trotz

der noch

bestehenden

finanziellen Schwierigkeiten beschloß daher der neue Monarch, die zu so vielem Widerspruch Anlaß gebende Maßregel nicht weiter durchzuführen.

Am Weihnacht-tage de- Jahre- 1797

unterzeichnete er

ein Patent, in

welchem e- hieß, daß der verstorbene Monarch zur Deckung der durch den Krieg und die politischen Berhältnisie verursachten Kosten zur Wiederher­

stellung der General-TabackS-Administration bewogen worden sei.

„Da

sich aber nach vollbrachter Organisation diese- Institut-, und bei genauer Abwägung de- davon zu erwartenden Gewinn-, gegen

die damit ver­

knüpften Jnkonvenienzen ergeben hat, daß unter den gegenwärtigen Conjunkturen der au- der TabackS-Administration entspringende Bortheil, dem schädlichen Einfluß derselben auf die drei wichtigsten Zweige der LandeSJndustrie, Cultur, Fabrikation und Handel, keineSwegeS da- Gleichgewicht halten würde; und da Uns überdies bei dem Antritte Unsrer Regierung

von allen Klaffen Unsrer getreuen Unterthanen wiederholte und dringende Vorstellungen gegen diese Einrichtung gethan sind: so haben Wir, über­

zeugt von der Wahrheit und Gerechtigkeit dieser Borstellungen; überzeugt, daß die TabackS-Administration den wohlgemeinten Zweck, zu welchem sie

wieder errichtet werden sollte, nicht erreichen kann, in höchsten Gnaden beschloffen, diese Administration, ehe sie noch zur völligen Reife und Festig­

keit gediehen ist, wieder aufzuhcben und die Freiheit der TabackS-Fabrikation,

des TabackS-HandelS, und der TabackS-Culturen ... herzustellen....

So

wie nun hoffentlich keiner Unsrer getreuen Unterthanen die Natur und den Charakter der Bewegung-gründe,

ihr Daseyn verdankt,

welchen die gegenwärtige Deklaration

und Unsere dabei obwaltende,

mit Beiseitesetzung

aller andern Rücksichten, bloß auf da- allgemeine Beste, die Aufrechthaltung

deS NahrungöstandeS und die Beförderung der Industrie und der bürger­ lichen Wohlfahrt gerichtete Absicht verkennen wird: so setzen Wir auch mit

Recht voraus, daß sich ein jeder seinem verhältnißmäßigen Beitrage zum Ersatz deS mit der Aufhebung der TabackS-Administration verknüpften Ver­

lustes mit vollkommenster Bereitwilligkeit unterwerfen werde.

Wir er­

warten die- umsomehr, da ein beträchtlicher Theil der zur Aufbringung

diese-

Ersätze- anzulegenden,

geringen,

hauptsächlich

auf

den

Taback

selbst zu fixirenden Abgaben . . . bestimmt ist. . . denen welche

ihre

Kapitalien ... jur ersten Einrichtung der Administration hergegebm haben, den ungestörten Genuß der in den Aktien verschriebenen Zinsen... zu sichern " Schon vom 1. Februar 1798 ab wurde der Einkauf von Roh« taback und die Spinnerei desselben auf- neue vollkommen freigegeben und kurz darauf dieselbe Freiheit den anderen Zweigen der Taback-in« dustrie ertheilt. Zum Ersatz wurde die Accise erhöht und der Eingang-« zoll für fremden Taback gesteigert. Da- Verhalten Friedrich Wilhelm- II. in der ganzen Angelegenheit wird der Politiker nicht ander- al- bedauern können. E- war unzweifel­ haft ein arger Fehler, ein von dem großen König seit langen Jahren sorgfältig gepflegte- und besonder- geschätzte- Institut ohne jeden ernsten Grund der wechselnden Volk-gunst zu opfern. Einige verständige Re« formen würden die Uebelstände desselben beseitigt, da- Publikum versöhnt haben. Der preußische Staat hätte damit eine reiche und von Jahr zu Jahr wachsende Quelle sicherer Einkünfte erhalten. Die dann inmitten der Stürme de- Revolulion-zeit-alter- versuchte überstürzte Neueinführung der Administration war nicht viel weniger verfehlt. E- blieb Friedrich Wilhelm HI. wohl schwerlich etwa- andere- übrig al- dieselbe kaum nach der Neugeburt fallen zu lasten.

Dr. Charpentier.

Rechtsstudium und Prüfungsordnung. Sem Oberlandesgerichtspräsidenten EcciuS. Recht-ftudium und Prüfungsordnung. Ein Beitrag zur Preußischen und Deutschen Rechttgeschichte von Dr. L. Goldschmidt. Stuttgart. Verlag von Ferdinand Enke. 1887.

I. Zahlreiche Schriften aus den Kreisen der Lehrer der Rechtswissen­ schaft haben in den letzten Jahren mit immer größerer Lebhaftigkeit, wenn auch nicht mit übereinstimmenden positiven Vorschlägen, eine Reform der Erziehung unserer angehenden jungen Juristen gefordert. Die große Be­ deutung dieser Forderung für das gejammte Staatsleben hat die öffent­ liche Aufmerksamkeit angeregt, und als äußerer Erfolg jener Schriften ist zu verzeichnen, daß die preußischen Minister der Justiz und des Unterrichts eine Kommission zur Berathung jener Reformfrage eingesetzt haben. Da mag eS auch einem preußischen Praktiker gestattet sein, in diesen Blättern daS Reformbedürfniß zu besprechen. ES soll dies geschehen an der Hand der oben bezeichneten umfangreichsten und bedeutendsten Schrift über diesen Gegenstand, deren Verfasser nicht nur einer unserer hervorragendsten Theoretiker ist, sondern auch aus dem Grunde besondere Beachtung ver­ dient, weil er al- Mitglied de- Reichsoberhandelsgericht» in ebenso hervor­ ragendem Maße auch den Aufgaben der Praxis gedient hat. Da der Verfasser dieser Besprechung eS sich zur besonderen Ehre anrechnet, einige Jahre dem Lehrkörper einer preußischen Universität al» Professor angehört zu haben, und da er nach Niederlegung de» Lehramt» nicht aufgehört hat, der Rechtswissenschaft nach Kräften zu dienen, darf er nicht fürchten, daß seine von der Mehrzahl der akademischen RechtSlehrer abweichenden An­ schauungen über da» Reformbedürfniß au- einer Abneigung gegen die Rechtswissenschaft erklärt werden. Zunächst einige Worte über den Ton der Goldschmidt'schen Schrift. E» ist da» nicht der Ton jene» Rektorat-vertrag», welcher in der letzten

Sitzungsperiode de» Abgeordnetenhauses seine Würdigung vom Minister» tisch au» gefunden hat, immerhin ist e» ein Ton großer persönlicher Erregung. Bereit» in früheren Schriften und Reden war Goldschmidt für die Nothwendigkeit einer Verlängerung de» Universitätsstudium» der Juristen mit Wärme elngetrcten. Unterstützt in dieser Forderung durch die übereinstimmende Anschauung der Mehrheit der akademischen Lehrer hat er erleben müssen, daß seine Forderung die Anerkennung der Gesetz» -ebung nicht gefunden hat, vielmehr von unseren Justizministern und von der großen Mehrheit der Parlamentarier abgelehnt worden ist. Da» so „Erstrebte und Erlebte", wie der Verfasser sagt (S. 71), hat eine Bitter­ keit in ihm zurückgelassen. Er glaubt in jenem Verhalten eine Unter­ schätzung der Lehrer der Rechtswissenschaft finden zu müssen, wie sie in anderen Fächern nicht vorkomme. Er spricht sogar von der einem großen Theil der preußischen Richter, Anwälte und höheren DerwaltungSbeamten eigenthümlichen, beinahe chnischen Verachtung der Rechtswissenschaft, wie vornehmlich der Staatswissenschaften (S. 69); nach seinen, Slintzing entlehnten, Worten soll eine „mächtige Abneigung gegen alle», waS akade­ misch heißt, in den Kreisen der Regierung und der politischen Körper­ schaften verbreitet sein" (S. 59). Da sind denn auch die Angriffe gegen die preußische Justizverwaltung erklärlich, „welche die bestehenden Zustände bequem finde (S. 171), obgleich die Ergebnisse der eingeschlagenen Irrwege traurig und beschämend seien" (S.68). Au» allen Aeußerungen Goldschmidt'« spricht seine ehrliche Ueber­ zeugung, daß e» in der That mit der juristischen Bildung der preußischen Beamten nicht nur sehr schlecht steht, sondern rückwärts geht. Diese subjektive Ueberzeugung ist zu achten, ihr Inhalt ist aber nicht durch all­ gemein gehaltene Behauptungen, auch nicht durch Erfahrungen über da­ bei der ersten (Referendariat-.) Prüfung gezeigte oder geforderte Maß der Kenntnisse zu erweisen. Bet dem mündlichen in der Berliner juristischen Gesellschaft gehaltenen Vortrag, au» welchem das vorliegende Buch her­ vorgegangen ist, hat Goldschmidt al» Grundlage de» von ihm schon damal­ aufgestellten Satze» die Erfahrung hingestellt, welche er während seiner Thätigkeit beim Reich-oberhandel-gericht durch die Einsicht vieler Akten au» allen deutschen Ländern gewonnen habe, daß die Urtheile der land­ rechtlich gebildeten Juristen am wenigsten wissenschaftlich begründet seien, und daß e» hier mit dem Streben nach handwerksmäßiger Erledigung der Rechtssachen von Jahr zu Jahr schlimmer werde. Dieser Beob­ achtung darf ich die au» gewissenhafter Beobachtung gewonnene abweichende Ueberzeugung entgegen stellen. Ich habe zunächst in den Jahren 1860 bi» 1863 al» Vertreter^»«!, Anwälten bei dem damaligen Obertribunal Akten Prk»ßischr Jahrbücher. Sb. LXI. Heft 2. 12

au« allen Landestheilen in großer Zahl zu sehen bekommen und damal» allerding- auch die Ueberzeugung gewonnen, daß bei vielen preußischen Gerichten mit wenig wissenschaftlichem Sinn, im Anschluß an herauSgerissene Gesetzesparagraphen und an falsch verstandene Präjudizien, Recht gesprochen würde. Ich habe dann wieder in den Jahren 1879 bis 1887, al- Mitglied der JustizprüfungSkommission sehr viele Akten auS allen Landestheilen Preußens auf ihre Verwendbarkeit für die Zwecke des Examens zu prüfen gehabt, hierbei aber zu meiner Freude gefunden, daß jene handwerksmäßige Behandlung der Jurisprudenz, da- Kleben an einzelnen au- dem Zusammenhang gerissenen Paragraphen und die Mißhandlung der Präjudizien ganz außerordentlich abgenommen hat; daß überall auch in den Bezirken de- altpreußischen Rechts sich lebendiges Streben nach Wissenschaftlicker Erforschung des anzuwendenden Recht- erkennen läßt, und daß — um von den Urtheilen rheinisch-rechtlicher Gerichte zu schweigen — zwischen den Urtheilen gemeinrechtlicher und landrechtlicher Gerichte ein wesentlicher Unterschied nicht zu erkennen war. Ich glaube ferner als Mitglied der Prüfungskommission nicht den Ruf gehabt zu haben, daß ich e» mit den wissenschaftlichen Anforderungen an die Prüfung-kandidaten sehr leicht nähme; ich darf auch nicht behaupten, daß ich von allen ge­ prüften Kandidaten den Eindruck gewonnen habe, daß sie möglichst gut ausgebildete, fertige Juristen seien: aber die wissenschaftliche und praktische Reife eine- nickt unerheblichen Prozentsätze- dieser Kandidaten hat mir bet der Prüfung vollste Achtung abgenöthigt; und ich bin ferner, — soviel ich weiß. In Uebereinstimmung mit allen meinen ehemaligen Kollegen der Staatsprüfung-kommission — überzeugt, daß der durchschnittliche Reifegrad der Prüfungskandidaten zur Zeit jedenfalls nicht geringer ist als zu irgend einer Zeit der Vergangenheit. Freilich scheint Goldschmidt auS dem Be­ richt de» Präsidenten der Prüfungskommission auS dem Jahre 1880 etwaandere» herausgelesen zu haben. Er findet S. 201 „In diesem Bericht die unglücklichen Erfolge deS System- au-gedrückt". Aber der Bericht zählt nicht Fehler auf, die allen Geprüften nachzusagen seien, sondern Fehler der nicht bestandenen Prüflinge, deren Prozentsatz auS dem Jahresbericht zu entnehmen ist. Der Bericht warnt vor diesen Fehlern, was doch die Hoffnung erkennen läßt, daß die Warnung nutzen werde. Unglückliche Erfolge des' geltenden System- würden hier also nur dann zugegeben fein, wenn e» ein unglücklicher Erfolg ist, daß nicht alle Geprüfte von den ge­ botenen Mitteln der Ausbildung Gebrauch gemacht haben. Hiernach kann ich mich nicht dadurch erregen lassen, daß ich die beste­ hende Gefahr xiner Entartung des juristischen Nachwüchse- annähme. Meine eigene Ueberzeugung geht im Gegentheil dahin, daß' eß mit der recht»«

wissenschaftlichen Bildung de» Durchschnitt- der preußischen Juristen besser steht al- vor fünfundzwanzig Jahren. Aber darum ist doch nicht weniger ernsthaft zu prüfen, ob Mittel und Wege vorgeschlagen sind, durch welche die Ausbildung der Jugend sicherer und bester gefördert werden kann, al- die- gegenwärtig geschieht. Dabei ist meine- Erachten- einem Satz Goldschmidt'» au- vollster Ueberzeugung zuzustimmen: „daß die gesammte Borbereitung-laufbahn der Juristen vom Beginn der Universität-studien an bi» zur zurückgelegten letzten Staatsprüfung als ein untheilbare- Ganze zu betrachten, und daß jede einzelne Maßregel in ihrer Einwirkung auf den Gefammtverlauf der wistenfchaftlichen und praktischen Borbereitung zu betrachten ist" (S. 293). Gerade au- diesem Grunde verstehe ich e- nicht, wie e- wider alle Vernunft sein soll — (von dem klaren Landesgesetz später!) —, daß da» erste Examen, welche- nach dem Universität-studium abgelegt wird, zu einem bloßen Tentamen herabgesunken und da» „große" Examen nach vollendeter praktischer Schulung naturwidrig zur Hauptsache geworden ist (S. 196). Da» Ideal Goldschmidt'-, von dem sich die preußische Ent­ wickelung zu ihrem Schaden lo-gcriffen haben soll, ist offenbar der Zustand derjenigen Zeiten, in denen „Niemand bezweifelte, daß wer die Universität nach gehörigen Studien, namentlich unter Erlangung eine- gelehrten Grade- verkästen, fähig sei, allenfalls nach einer kurzen praktischen Probe­ zeit selbständig al- Advokat oder als Richter zu- fungiren" (S. 141). Daß die preußische Entwickelung von dieser noch in zahlreichen Ländern bestehenden Auffassung abgegangen ist, da-' ist für Goldschmidt der Grund­ fehler dieser Entwickelung, noch erträglich, al- die altpreußischen Juristen noch die Tradition der Vergangenheit wehrten, immer unerträglicher, je lävgere Zeit da- Landrecht in Preußen galt, durch besten Erlaß sich Preußen „nicht ungestraft von dem gemeinsamen Recht-stamme lo-geristen" hatte (S. 73). Nach Goldschmidt ist hier in den beiden letzten Menschenaltern die Signatur: „da- caput mortuum einer praktischen Schulung ohne geistige Arbeit, ohne wiffenschaftliche Grundlage" (S. 131). Praktische Schulung aber ist ihm etwa- wesentlich Formale-, wa- in der halben Zeit mindesten» zu erreichen ist. Nach allen hervorgehobenen Richtungen hat meine- Erachten» die preußische Entwickelung im Prinzip da» allein Richtige getroffen; im Wesentlichen ist ihr auch die Entwickelung in den anderen deutschen Staaten gefolgt. Freilich kommt e» dabei darauf an, wa» unter praktischer Schu­ lung zu verstehen ist. Alle Welt ist darüber einverstanden, daß die Rechtswissenschaft nicht um ihrer selbst willen oder, weil sie den Mistenden bester, zufriedener, 12*

168

Recht-studium und Prüfung-ordnung.

vollkommener macht, sondern um deshalb den Gegenstand de- Studiums bildet, weil Kenntniß von der Entstehung und von dem Inhalt des gel« tenden Rechts im Dienste der praktischen Rechtspflege nothwendig ist. Bei der Pflege de- IRechtS aber handelt es sich nach dem klassischen Aus­ spruch deS alten Römer- nicht um bloße- Wissen, sondern um ein Können: jus est ars boni et aequi. Der Jurist soll sein Wissen von dem, wabtllig und unbillig, erlaubt und unerlaubt'»st, auf alle-, was da- Leben bringt und bietet, richtig anwenden können. Zu dieser Kunst des Urtheilen» ist auch der junge Jurist zu erziehen. Unternimmt es nun etwa die Uni­ versität ihn darin fertig zu bilden, kann da» überhaupt ein Anderer, als der junge Jurist selbst? Ein Künstler ist nicht derjenige, der gewisse Re­ geln einer Kunst im Gedächtniß hat, und der weiß, wie da» Handwerks­ zeug bet derselben benutzt werden soll, sondern nur, wer wirklich in der Kunst etwa- fertig bringt. Und da- kann Niemand ohne ein Ueben der Kunst, von schwachen Versuchen bi- zum endlichen Gelingen, und erst bet diesem Ueben wird der Lernende auch die Regeln der Kunst völlig- ver­ stehen und sich zu eigen machen. Die historischen, exegetischen, systematischen Vorträge auf der Univer­ sität, im Wesentlichen auch die hier angestellten Uebungen bereichern nur da» Wissen de» Studenten; er nimmt Regeln in sein Gedächtniß auf, erfaßt Begriffe, erlangt einen Einblick in den Zusammenhang de» Rechtssystem». Aber sollte er darauf hin als Richter oder Anwalt thätig sein, er würde — von ganz exceptionellen angeborenen logischen Kapazitäten abgesehen, — sich bald den Anforderungen, welche das Leben stellt, bet aller Gelehrsamkeit nicht gewachsen zeigen. In den Zeiten, in welchen Advokaten und Richter von der Studentenbank genommen wurden, kann die- nicht ohne schwere Benachtheiligung der Parteien und deS Staat­ geschehen fein. Nur allmählich und meist erst durch viele Uebung wird die Urtheil-fähigkeit geweckt und so entwickelt, daß sie den gewaltigen und unbekannten Aufgaben, die täglich da- Leben bietet, gewachsen erscheint. Darum freuen wir unS, daß e» gerade Preußen gewesen ist, wo zuerst erkannt wurde, daß der junge Jurist, ehe er seine Thätigkeit selbständig ohne Schaden üben kann, einer unselbständigen praktischen UebungSthätigkeit bedarf. Die praktische Uebung des jungen Juristen beschränkt sich eben nicht aus ein mechanische- Abrichten in gewissen Formen und Arten der Geschäft», thätigkeit; und nur in sehr beschränktem Maße steht während der prakti­ schen Uebung-zeit der junge Jurist zu den Richtern, Staat-anwälten oder Recht-anwälten, denen er zugewiesen ist, im Verhältniß eine» Schüler« zum Lehrer. Die Hauptsache für seine Fortentwickelung ist vielmehr, daß

er jetzt in die Lage gebracht ist, ju sehen, wie da» tägliche Leben mit tausend Forderungen an den Richter oder Anwalt herantritt, zu beobachten, wie der, dem er überwiesen ist, oder andere gereifte Juristen diesen Forderungen gegenüber thätig sind. Er hat unter der Leitung eine» Andern sich selbst an dieser juristischen Thätigkeit zu betheiligen und die ersten selbstthätigen Versuche zu machen in der Anwendung de» Rechtssatze- auf die Thatsachen de» Leben». Diese Thätigkeit weist ihn mit innerster Nothwendigkeit darauf hin, wie jede» Dorkommntß, da» beurtheilt oder juristisch auSgestaltet werden soll, so einfach e» scheint, eine kaum zu er­ schöpfende Reihe juristischer Gesichtspunkte eröffnet, und daß e» nicht rich­ tig beurtheilt werden kann ohne eingehende Kenntniß der elnschlagenden Recht-institute. So enthält jede» Vorkommniß eine Mahnung zum theo» retischen Studium, jedenfalls zur Erweiterung, Vertiefung, sichereren Aneig­ nung der Rechtskenntniß. Weite Gebiete treten an ihn heran, von denen er auf der Universität nicht ein Wort gehört hat. Er arbeitet In einem landrechtlichen Bezirk und hat bei einem der berühmtesten Rechtslehrer ein Kolleg über Landrecht gehört, sorgsam hat er nachgeschrteben und auf 100 weitläufig geschriebenen Seiten gesammelt, was er über Landrecht hören konnte, — und jetzt sieht er, daß da» Gehörte ihn überall im.Stich läßt, und er soll doch intrikate Fälle nach dem Landrecht entscheiden. Er sieht, daß ihm zunächst obliegt, da» Landrecht vom Anfang bi» zum Ende durchzu­ lesen, spätere Gesetze, auf die ihn ein gütiger Kommentar aufmerksam macht, nachzuschlagen: vielleicht muß er — leider — da die Zeit drängt, sich zunächst wieder wesentlich auf ein Lehrbuch verlassen, und oft geräth er dann — erst recht leider! — in Erinnerung an die gehörten Kollegien auf den Abweg, den Hand- und Lehrbüchern ohne Weitere» zu trauen, ohne eigene Nachprüfung. Oder der gemeinrechtliche Jurist wird schiennigst vor eine Frage des Grundbuchrechts gestellt; und er hat wohl in einer Vorlesung über deutsche» Privatrecht etwa» Allgememeine» von den Grundbüchern und deren Wesen gehört; aber die einzelnen Bestimmungen de» preußischen Grundbuchrechts, da» er anwenden soll, muß er jetzt erst dem Gesetz entnehmen. Oder er soll entscheiden, ob eine gemeinrechtliche Bestimmung durch die preußische Vormundschaft-ordnung aufgehoben ist; daß e» aber eine solche Vormundschaft-ordnung giebt, hat ihm sein ge­ meinrechtlicher Lehrer kaum gesagt, noch weniger gelehrt, welchen Charakter sie hat. Oder irgend ein junger Jurist soll Stellung dazu nehmen, ob eine Handlung und in welcher Weise strafbar ist. Ein lange»'Semester hat er in vielen wöchentlichen Stunden, die sich allmählich bei verrückendem Semester verdoppelten, bei einem bedeutenden Kriminalisten Strafrecht gehört, — sehr interessant und anregend, obgleich er viele» von

Recht-studium und Prüfungsordnung.

170

den tief gehenden philosophischen Erörterungen über die allgemeinen Be­ ziehungen des Strafrechts und darüber, was eigentlich Recht sein müßte,

nicht immer verstanden hat,



über die Begriffe

likte aber hat er in dem Kolleg wenig

gehört,

der

einzelnen De­

der Lehrer hat

ihm

überlassen, sich wenigstens über die Mehrheit derselben aus dem Gesetz­ buch zu informiren.

Einem Andern liegt ein Antrag vor auf Einleitung

einer Zwangsversteigerung.

Im Kolleg über Civilprozeß sind ihm auch

einige wenige Notizen über Zwangsvollstreckung gegeben worden;

aber

von Zwangsvollstreckung in das unbewegliche Vermögen ist ihm nichts

gesagt. DaS alles soll kein Tadel sein und ist kein Tadel für die Männer,

bei denen er auf der Universität gehört hat, aber eS zeigt, wie viele Rechts­ kenntnisse der junge Jurist erst während der praktischen Uebungsthätigkeit

nothwendig neu erwerben

muß.

Anderes hätte er auf der Universität

lernen können, aber er hat es nicht gethan, oder er hat eS wieder ver­

gessen.

Die Mahnung an ihn ist um so lebhafter.

Sie richtet sich auf

Wiedcrauffrischung deS Gehörten, auf Hinabsteigen in die Rechtsquellen, auf das Studium der Gesetze.

und oft schlecht befolgt werden.

DaS sind Mahnungen, die oft überhört

Aber ganz überhören kann sie Keiner.

Und wenn er mit Fleiß und Aufmerksamkeit studirt hat, dann wird eS ihm jetzt gar nicht schwer,

sich auf eigene Hand und ohne Lehrer theo­

retisch weiter zu bilden. Dabei tritt dann noch der Umstand hervor: Der

weniger begabte Student, der einen ihm auf der Universität vorgetragenen

abstrakten Satz mit aufmerksamem Ohr gehört und sehr mühsam

dem

Gedächtniß eingeprägt hat, ohne ihn wirklich zu fassen, findet, daß der­ selbe auf ein

ihm jetzt entgegentretendes Sachverhältniß passen möchte,

und beim Nachdenken darüber geht ihm das volle Verständniß deS Satzes auf, und mit diesem neuen Licht erhellen sich ihm ganze Partien deS an­ geeigneten Gedächtnißwerks.

Und weiter ereignet sich dann, wie wir in

der Praxis an so vielen Jünglingen sehen, von so vielen als eigene Er­

fahrung bestätigt hören: So lange ihnen das Recht eine Summe abstrakter

Satzungen war, schön logisch in ein System gebracht, konnten sie ihm kein Interesse abgewinnen, jetzt will

der konkrete Fall

beurtheilt sein,

und mit der Lust ihn richtig zu beurtheilen, erwacht auch das tiefere Inter­ esse am

Erfassen des

abstrakten SatzeS und seines systematischen Zu­

sammenhangs.

Freilich nach Goldschmidt füllen alle diese Dinge nicht die Zeit deS

im Vorbereitungsdienst stehenden Juristen; nach ihm geht der Vorberei­

tungsdienst ganz andere Wege. unserer strebenden Jugend

Wiederholt betont er: „Die besten Jahre

werden durch

unentgeltliche Schreiberdienste

Rechtsstudium und Prüfungsordnung.

171

verkümmert;" . . . „das preußische Gerichtswesen beruht ganz wesentlich auf der unentgeltlichen Dienstleistung der AuScultatoren, Referendarien, unbesoldeten Assessoren." Vgl. S. 171, 193, 338, 343. Ja freilich! es

hat eine Zeit gegeben, in welcher diese Sätze, am meisten freilich für die

Assessoren, ein gewisses Maß von Wahrheit in sich schlossen.

Aber das

hat sich so vollständig geändert, daß der Justizminister eine noch in das

Regulativ von 1879 aufgenommene Warnung vor Ausnutzung der Thätig­ keit der Referendarien zur bloßen Erleichterung anderer Beamten als

völlig antiquirt streichen mußte. Hat Goldschmidt irgend eine solche Klage auS dem letzten Jahrzehnt gehört, er kann sicher darüber sein, daß er sein

Mitleid verschwendet hat.

Und gar so schlimm ist eS nie gewesen.

Wie

käme es sonst, daß alle diese ehemals zu Schreiberdiensten gemißbrauchten Referendarien zu alten Praktikern geworden sind, die dafür eintreten, daß,

wenn aus den jungen Leuten etwas werden soll, vor allem der vierjährige Vorbereitungsdienst aufrecht erhalten bleibe.

die Sorge wegen der Gefahren,

Nicht besser begründet ist

welche aus der Stellung der Aussichts­

organe zu den Referendarien für die selbständige Entwickelung ihres Cha­

rakters,

besonders

ihres politischen Charakters erwachsen sollen.

Daß

thatsächlich an irgend einer Stelle ein ungerechter oder ungehöriger Druck geübt werde, behauptet Goldschmidt selbst nicht.

Mit Goldschmidt'S Auslassungen über die mechanische Schreiberthätig­ keit, welcher die Referendarien während der praktischen Ausbildungszeit anheimfallen, stimmt eine andere Erörterung nicht recht zusammen.

Er

bespricht S. 226 die Eintheilung der UebungSzeit in Stationen und leugnet

dabei die Erreichbarkeit des verfolgten Ziels,

den Referendar in allen

Zweigen des richterlichen, staats- und rechtsanwaltlichen Dienstes so auSzubilden, wie zur selbständigen Verwaltung dieser Aemter erforderlich ist.

Es genügten nicht vier, nicht einmal acht oder zehn Jahre, um jemand

zu einem ebenso „perfekten" Grundbuchrichter, Konkursrichter, Staatsan­ walt und Rechtsanwalt zu machen.

Gleichzeitig Staatsanwalt, Rechtsan­

walt und Richter kann auch in der That Niemand sein.

Aber was vom

Standpunkte Goldschmidt'S ziemlich dasselbe sagen will, in gleicher Zeit

Grundbuchrichter, Konkursrichter, Richter in Civilprozeß- und Strafsachen,

tn Nachlaß- und Vormundschaftssachen, daneben zugleich mit allen Funk­

tionen der Justizverwaltung betraut und Kurator der Gerichtskasse das soll jeder Amtsrichter sein, und in diese Thätigkeit kann jeder Referendar,

sobald er das Assessorexamen bestanden hat, berufen werden.

Da ist es denn

also doch nöthig, daß der Referendar von allen diesen Thätigkeiten eingehende Kenntniß nimmt. Und da mag es ja richtig sein, zur Perfektion in allen

diesen Zweigen der Thätigkeit wird er nicht gelangen; denn wer erlangt

172

NechtSstudium und Prüfungsordnung.

Vollkommenheit auch nur in einem derselben.

Aber die praktische Aus­

bildung muß es doch ermöglichen, daß er zur selbständigen Au/Sübnng der Amtsrichterfunktionen für befähigt erachtet werden kann. DaS Zugeständ-

niß, daß hierzu vier Jahre kaum auSreichen, hat in der That große Be­

rechtigung.

ES ist der in jedem Examen wiederkehrende Schmerz der

Prüfungskommission, daß auch solche Kandidaten, in deren wissenschaftliche

Befähigung kein Zweifel zu setzen ist, sich praktischen Aufgaben, insbesondere der nächstliegenden Aufgabe der kurzen und erschöpfenden Darstellung der Thatsachen eines Rechtsstreites und einer in der Methode richtigen Be­ sprechung der für seine Beurtheilung erheblichen Gesichtspunkte nicht ge­ wachsen zeigen.

Die Nothwendigkeit, am Studium auf der Universität als der Grund­

lage für die juristische Ausbildung fest zu halten,

wird

ernstlich

von

Die Vortheile, welche aus den Vorträgen der Pro­

Niemand bezweifelt.

fessoren zu ziehen sind, selbst wenn denselben nicht die eminente Lehrgabe

oder wissenschaftliche Bedeutung eines Goldschmidt zuzuschreiben ist, lassen sich nicht leugnen.

Aber im Ernst kann ebenso wenig behauptet werden,

daß juristische Kenntnisse nur auf der Universität zu erlangen und nicht auch

aus Büchern und

durch

eigenes Studium

der Gesetze

gewonnen

werden können, zum allergrößten Theil gewonnen werden müssen.

Wer

von einem durchschnittlich begabten Studenten erwartet, daß er auf der Universität sich zum

fertigen

Juristen ausbildet,

der

erwartet etwas

Thörichtes; wer von einem Studenten auch nach sieben- oder achtjährigem Studium

fordern will, daß er ein eingehendes Wissen von allen im

modernen Staat geltenden Gesetzen, von der historischen Entwickelung, in welcher dieselben entstanden sind, von ihren inneren Beziehungen, kurz eine

völlig umfassende Kenntniß aller Disziplinen des Privatrechts und deö öffent­

lichen Rechts darlegen kann, würde auch dann, wenn er bei dieser Erwartung von der Fähigkeit zur praktischen Handhabung der Gesetze absieht, ebenso etwas

Thörichtes fordern. Ein Student wird vielleicht, wenn er sich nack Gewinnung eines allgemeinen Ueberblicks über die Gebiete der Rechtswissenschaft in einen

bestimmten einzelnen Zweig derselben vertieft, die Kenntniß dieses Wissens­ zweigs sich so vollkommen aneignen könne, daß er darin sogar als brauch­

barer RechtSlehrer auftreten kann, wozu ja nicht immer für nöthig erachtet

wird, daß er auch als praktischer Jurist Brauchbares leisten könne. Aber

eine Rechtsgelehrsamkeit, die alle Zweige deS juristischen Wissens erschöpfend begreift,

ist überhaupt von Niemand zu fordern.

Eine solche RechtSge-

lehrsamkeit ist also gewiß weder im zweiten noch gar im ersten preußischen

Examen darzulegen. weit vor Vollendung

DaS erste Examen bildet nur eine Grenzstation, die

der juristischen Ausbildung liegt.

An Stelle deS

Rechtsstudium und Prüfungsordnung.

173

Lernens unter der Leitung der Universitätslehrer soll fortan durch prakti­ sche Uebungsthätigkeit,

dauernd verbunden mit selbständigen theoretischen

Arbeiten, weiter gelernt werden.

Das Erste Examen soll zeigen, daß der

Kandidat für diesen Uebergang reif ist. Was er darlegen soll, kann und

braucht also nicht zu sein, theoretisches Beherrschen des gesammten RechtsstoffS; sondern er soll, wie daS Gesetz sagt, beweisen, daß er die für den künftigen Beruf erforderliche allgemeine rechts- und staatSwissenschaft-

liche Bildung, d. h. eine Bildung besitzt, die immer noch in großem Um­

fang der Ergänzung und Vertiefung bedarf, die aber doch soweit geht, daß erwartet werden kann, der junge Mann werde durch prak­ tische Thätigkeit und durch ernste wissenschaftliche Arbeit auch

ohne die fortgesetzte Hülfe

akademischer Lehrer dereinst die

volle Befähigung zum praktischen Richteramte erwerben. Darauf, daß die Grenze in dieser Weise richtig bestimmt ist, kommt

alles an.

Danach müssen sich auch die Fragen nach der Einrichtung der

Prüfungen, nach der Dauer der Studienzeit und der praktischen Uebungen beantworten.

II. Goldschmidt's

positive Vorschläge wenden

sich

zunächst der ersten

Staatsprüfung zu. „ Diese muß in allen ihren Theilen geändert werden", „auch die Prüfungs-Kommission ist anders zusammenzusetzen".

Goldschmidt erkennt an, daß der Maßstab, welcher gegenwärtig bei der Referendariatsprüfung angelegt wird, ein strengerer ist, als vor 30 oder 40 Jahren üblich war; dennoch werde etwa von einem Drittel der

Kandidaten das Examen nach einem höchstens einjährigen bloßen Repeti­ tionskurse gemacht, ohne daß sie eigentlich studirt hätten, und von diesen Kandidaten komme ein erheblicher Prozentsatz durch.

Im Einzelnen bekämpft

der Besserungsvorschlag, daß jetzt bis zu 6 Kandidaten gleichzeitig vier

bis viereinhalb Stunden lang — (thatsächlich dauern nach meiner Erfah­ rung die Prüfungen häufig längere Zeit) — aus den verschiedenen Dis­ ciplinen, aber ohne nähere gesetzliche Regelung aus welchen, geprüft wer­ den, hauptsächlich also aus den Pandekten, dem deutschen Privatrecht, dem

Handelsrecht, dem Civilprozeß und dem Strafrecht.

Fortan soll, so will

Goldschmidt, kein Kandidat für seine Person unter

bis 2 Stunden,

und gleichzeitig sollen nicht mehr als zwei bis drei Kandidaten mündlich geprüft werden.

Sie sollen sich dabei über ihre Kenntnisse in den ver­

schiedenen Hauptdisciplinen nach einer gehörigen Prüfung in jeder der­ selben mit entsprechender Dauer ausweisen.

Was hier unter Haupt-

diöciplinen zu verstehen, wird nicht gesagt, nur hervorgehoben, daß dazu

Rechirstudinm und Prüfungsordnung.

174

auch Staat-- und Verwaltung-recht sowie die Staat-wissenschaften zu

rechnen sind, — an einer andern Stelle wird gegenüber einer Bemerkung StSlzel'S in Abrede gestellt, daß irgend Jemand an ein Examen in fünf­ zehn verschiedenen Di-ciplinen denke.

Statt der schriftlichen sog. wiffen-

schaftlichen Arbeit, sollen al- Klausurarbeit „einige* nicht allzu leichte Recht-fälle unter Benutzung der Quellen und üblichen Kompendien orb»,

nung-mäßig bearbeitet, daneben „einige* einfache dogmatische und historische

Themata quellenmäßig erörtert werden. gefunden werden soll,

Wie dabei da- Schlußergebniß

ob der Kandidat in allen diesen Prüfung-theilen

bestanden haben muß, ob er in jedem einzelnen Zweige durchfallen kann

oder nur im Gesammtexamen, in welchem Verhältniß die einzelnen Prü­ fung-gegenstände zu einander stehen sollen, wird nicht erörtert.

Diese- Examen soll, wie zur Zeit, vor einer gemischten, au- prakti­ schen Juristen und Universitätslehrern zusammengesetzten Kommission ab­

gelegt werden, aber die Zusammensetzung dieser durch die verschiedenen Provinzen, wie jetzt, zu zerstreuenden, nicht zu zentralistrenden Kommission dürfe nicht, wie jetzt, den Oberlandeögerichtöpräsidenten überlassen werden,

sondern sei gesetzlich zu regeln.

Prinzipiell und vorwiegend seien Univer­

sitätslehrer zu nehmen; sie allein wüßten, waS im Fache jede- einzelnen der gegenwärtige Stand der Wiffenschaft sei, waS also vom Kandidaten gegenwärtig gewußt werden müsse; meist seien sie auch die besseren Exami­

natoren.

Die Examinatoren müßten da- Recht-gebiet, in dem sie exami-

niren sollen, mit vollstem Sachverständniß beherrschen.

Ich glaube, nach allen angegebenen Richtungen an den bestehenden

Einrichtungen festhalten zu müssen.

Gewiß, nach den Goldschmidt'schen

Vorschlägen würde man von den einzelnen Kandidaten mehr al- bisher

erfahren. Aber die Einzelbeurtheilung der Leistungen, die Zerspaltung deExamens in selbständige Zweige, die alle bestanden, oder in ein mechani­

sche- Verhältniß zu einander gesetzt werden müßten, würde zu'den schwer­ sten Härten und Ungerechtigkeiten führen, zumal entweder über die Leistung

im einzelnen Fache nur der eine wirklich „sachverständige* Examinator zu

entscheiden haben würde, oder eS vorkommen könnte, daß er von der we­ niger sachverständigen überstimmt würde.

In Wahrheit wäre aber auch

der wirklich Sachverständige bei einem großen Theil der Prüfung gar

nicht betheiligt, denn e- soll nur drei Examinatoren geben, aber viel mehr

HauptdiSciplinen,

unter denen sich dann doch solche finden müssen, in

denen nach dem von Goldschmidt bezeugten Hang, in der wissenschaftlichen Forschung sich auf begrenzte Gebiete zu beschränken, die drei gerade bethe!»

ligten Examinatoren wieder nicht Sachverständige ersten

Range- sind.

Und wenn von dem „sachverständigen* Examinator Beherrschung de- neue-

sten Standes der Wissenschaft S. 313 schlechthin in dem Maße gefordert wird, daß er wissen soll, ob die in einem gedruckten Buche ausgesprochene Ansicht eines Rechtslehrers von diesem noch jetzt aufrecht erhalten wird, so.tarnt zwar Goldschmidt das von sich selbst wissen — aber daß jeder andere sachverständige Lehrer deS gemeinen Rechts oder de-Handel-rechtvon den durch den Druck nicht veröffentlichten Meinungsänderungen Gold­ schmidt'- sogleich Kenntniß haben werde, halte ich doch nicht für wahr­ scheinlich. Ist eS richtig, daß dem Candidaten der Eintritt in den praktischen Vorbereitungsdienst erst dann gestattet werden kann, wenn er die einzelnen HauptdiSciplinen, und zwar gerade die auf der Universität gelehrten, wissenschaftlich beherrscht, dann ist eS richtig, da- Examen in Zweigexamina zu spalten. Kommt eS aber nur auf „die für den künftigen Beruf er­ forderliche allgemeine rechts- und staatSwifsenfchaftliche Ausbildung" an, dann ist die gegenwärtige Einrichtung die richtige, bei der nicht nothwen­ dig festzustellen ist, wie sich daS Inventar deS Stand- der Kenntnisse in jeder einzelnen Disziplin herauSstellt. ES ist dann vielmehr, wie der Justizminister sich bei der letztenparlamentarischen Erörterung au-gedrückt hat, in dem zu Prüfenden der „ganze Mensch" ins Auge zu fassen und zu beurtheilen eben nach der Richtung, ob er zur selbständigen Weiter­ bildung die nöthigen Dorkenntnlsse, die erforderliche Bildung-reife hat. Gewiß je mehr man fragt, je länger man die Prüfung au-dehnt, je befangener man dabei den Kandidaten macht, je weniger Erholung man dem einzelnen durch Zwischenfragen an andere gönnt, auf umsomehr wirk­ liche oder scheinbare Lücken und Mängel wird man aufmerksam werden, und darum wird doch da- Gesammtergebniß über die entscheidende Frage kein anderes. Und weiter: wie soll man sich die praktische Durchfüh­ rung denken? Welche- Maß von Kräften ist aufzuwenden, um den Vorschlägen Goldschmidt'- nachzukommen? Welche- Maß der Prüfungs­ zeit wird andererseits erspart, wenn die Fragen von mehreren Kandidaten gehört werden, so daß die von dem einen ungenügend beantwortete Frage sogleich von einem andern zu beantworten ist. Die Vorschläge über die schriftliche Prüfung drohen mit allen be­ kannten Nachtheilen der Klausurarbeiten. Bei Stellung der wissenschaft­ lichen Themata wird gewiß vielfach fehl gegriffen, — aber wie viel häu­ figer würde bei den von Goldschmidt geforderten viel zahlreicheren und nach meiner Erfahrung nicht ohne große Mühe zu formulirenden Rechts« fällen, — von denen jeder Kandidat stet- mehrere neu formulirte fordert! — gefehlt werden. Ich gestehe, daß auch ich kein Freund der wissenschaft­ lichen Arbeiten über herkömmliche Themata bin, bei denen a«S zehn alten

Dissertationen eine neue gemacht wird. Aber immerhin halte ich dafür, daß eine längere, zusammenhängende schriftliche Ausarbeitung al- Theil de- Examen- nicht entbehrt werden kann. Auf der Schule betrübend wenig In deutschen Ausarbeitungen geübt, meist beim Abgang von der Schule zu selbständigem Durchdenken der bearbeiteten Themata auch noch nicht reif, so daß in den Schularbeiten meist nur Anempsundene- wieder­ gegeben wird, hat während der Studienzeit, deren Freiheit auch Gold­ schmidt erhalten will, den jungen Juristen kein Zwang getroffen, die Feder in die Hand zu nehmen. Meines Erachten- ist e- da päda­ gogisch äußerst wohlthätig, daß er weiß, er wird am Schluffe der Stu­ dienzeit eine längere selbständige Ausarbeitung geben müffen. Wenn in derselben auch neue Gedanken nur selten zu Tage treten, wenigsten- hat er die nicht zu entbehrende Fertigkeit zu zeigen, fremde Gedanken, im Geist verarbeitet, in neuer Form vorzutragen. Und wer zwingt denn die Prüfungskommissionen, immer wieder Themata in der alten abstrakten Form der Dissertationen aufzustellen. Man formulire hier Fälle, die mit Leichtigkeit — denn geübtes Urtheil ist von den Kandidaten nicht zu for­ dern — auf eine oder einige beärbeitenSwerthe Rechtsfragen hinführen. Da nimmt die Arbeit gleich einen anderen Charakter an, und die unbe­ queme und verdrießliche Aufgabe, nach den Quellen zu suchen, auS denen abgeschrieben sein könnte, ist selbst für den Examinator vermieden. Und nun endlich diese abscheuliche Willkür deö OberlandeSgerichtSpräfitenten bei der Zusammensetzung der Prüfungskommission für den einzelnen Fall. Wie sich diese Willkür als schädlich erwiesen hat, wird freilich nicht gesagt; aber eS soll gesetzlicher Normen bedürfen: Mir scheint, auS den in einem geographischen Bezirk vorhandenen Kräften muß je nach dem Bestand dieser Kräfte die bestmöglichste Auswahl getroffen werden, — möglichst frei und unbeschränkt. ES kommt nur darauf an, daß der, welcher die Auswahl zu treffen hat, mit den Verhältniffen vertraut, geeignet und vertrauenswürdig sei. Vielleicht ist daS nicht immer der Oberlandesgerichtspräsident. Aber an keiner Stelle würde eine gesetzliche Schablone, an die er gewiesen werden soll, schädlicher wirken al- gerade hier. Und zur Ausführung de- Gesetze- mit seinem Schema wird man doch auch wieder einen vertrauenswürdigen Menschen haben müssen, dessen Ermessen, wa- sich für Goldschmidt mit Willkür itentifizirt, am Ende doch entscheidet. Ich gelange zu Goldschmidt'- Vorschlägen über Verlängerung der Studienzeit und Kürzung der Zeit der praktischen Vorbereitung. Erstere soll von drei auf vier Jahre und zwar ohne Einrechnung deS militärischen Dienstjahr- ausgedehnt, letztere von vier auf drei Jahre gekürzt werden.

Recht-studium und Prkfuuger„Allgemeinen konservativen Monats­ schrift" veröffentlicht hatte. Der Beifall, den die Schrift sogleich gefunden hat (schon wird eine zweite Auflage nöthig), ist ohne Frage wohlverdient. Nicht daß ich ihre Auffassung und Tendenz loben möchte; ich will mich vielmehr in vollen Gegensatz dazu stellen: aber immer wird man die Meisterschaft bewundern müssen, womit der Berfasier auf zwölf kleinen Druckbogen de» gewaltigen Stoffe» Herr geworden ist, den gedrungenen und wohlgegliederten Aufbau seiner Gedanken wie die dialektische Schärfe ihrer Darstellung, die überredende Kraft der einfachen und doch tief, ja leidenschaftlich bewegten Sprache, und den volltönenden Ernst seiner re­ ligiösen Empfindung. Sohm gehört, wie bekannt, zu Denen, welche die christliche Religiosität nur in den Formen eine- „geschichtlich ge­ gebenen", also überlieferten Bekenntniffe» für echt, ja — so will e» nach diesem Buch scheinen — für allein möglich halten: er ist Lutheraner von der strengeren Observanz. Don ganzem Herzen bekennt er sich zu dem Glauben Luther'»; und kein Abschnitt seine» Buche» wüthet un» inniger und überzeugender an al» die paar Seiten, die er dem Reformator ge­ widmet hat; mit wenigen Strichen weiß er da au» den wohlbekannten Zügen ein Bild zu entwerfen, da» un» den geistlichen Helden in Preußische Jahrbücher. Bd. LXI. Heft 4. 23

320

Eixe neue Auffassung der Kirchengeschichtt.

seinen Thaten ganz lebendig vor da- Auge stellt. Wie sehr nun aber auch der Verfasser diese Zugehörigkeit zu dem Neuordner unsere» Glauben-leben» betont, theilt er doch nicht den leidenschaftlichen Wider­ spruch, welchen Dr. MartlnuS allen denen, die Gotte» Wort nicht ganz so bekannten wie er, Sakramentirern und Papisten entgegengesetzt hat. Wohl stellt er sich in dem Streit mit Zwingli, der von einer „vor­ wiegend verstandesmäßigen Erkenntniß" ausgegangen sei und in dem Abendmahl rin „bloße» Gedächtnißwahl" erblickt habe, unverholen • auf die Seite der Wittenberger, deren Aufgabe und Leistung e» vor Allem gewesen sei, „sich in die Tiefen der göttlichen Lehre, in die Geheimnisse der Person Christi und seine» Werke» zu versenken". Aber da» hindert ihn nicht, die hervorragendere „Inbrunst de» religiösen Leben»" bei den Reformirten zu finden, die Energie ihrer Mission-arbeit und die organi­ satorische Kraft zu preisen, mit der sie „da» praktische Leben de» ein­ zelnen Christen wie der Kirche" ergriffen haben. Und so kann er die große Spaltung zugleich „ein nicht genug zu beklagende» Unglück" und „eine Quelle reichen Segen»" nennen, ja den „naturnothwendigen Aus­ druck de» mit dem Wesen de» Protestantismus gegebenen Individualismus". Ganz ähnlich ist seine Stellung zu der Union beider Confessionen in unserem Jahrhundert. Daß man die Vereinigung verschiedener „Be­ kenntnißkirchen" durch „ktrchenregimentliche" Maßnahmen habe erreichen wollen und die Bedeutung de» Bekenntnißunterschiedes für erloschen ge­ halten habe, bedauert er al» einen folgeschweren Irrthum; sogleich aber nennt er eine „segensreiche Frucht" der Bereinigung: die „Förderung de» Austausche» der Geistesgaben" beider Kirchen, die Einwechselung der re­ formirten Verfassung-ideale gegen die „dogmatisch gerichtete Art" de» lutherischen Christenthums, welche- da» Evangelium von der Recht­ fertigung durch den Glauben weit allem anderen voranstelle. Seine De­ finition de» „Wesens und der Kraft der Religion" als des in „dem Ge­ heimniß, dem Mysterium" Wurzelnden, seine Vorliebe für die „Kräfte de» religiösen Gefühle»" muß ihn zur besonderen Anerkennung de- Pie­ tismus führen, der dem in Scholastik erstarrten Dogmatismus de» 17. Jahrhunderts entgegengewirkt und die Wiedergeburt de» religiösen LebenIn unserer Zeit mit bestimmt habe; aber die separatistischen und metho­ distischen Neigungen, die sich damit zu verbinden pflegten, sind ihm doch auch wieder nicht sympathisch. Die Palme in jener Bewegung, dem „Ab­ schluß und der letzten Ausgestaltung de» durch die Reformation ge­ schaffenen Protestantismus", gebühre, so meint er, der lutherischen Kirche. Spener habe die Bewegung zum Siege geführt; er habe in seiner Per­ sönlichkeit die Wirkungen vereinigt, „welche die reformirte Richtung auf

Qine neue Auffqflong der Kirchengeschichte.

321

streng christliches asketische» Leben und die lutherische Richtung auf schriftgemäße Lehre de- GotteSworteS auf ihn geübt hatten". Bei dieser Gleichsetzung der Askese und de» strengeren christlichen Wandel» kann e» un» nicht weiter wundern, daß Sohm den heiligen Haß unsere» Re­ formator» gegen "bte Religion de» „römischen Antichrist'»" nicht gerade theilt. 3m Gegentheil, er bezeichnet ihn selbst gewissermaßen al» den Urheber auch der „katholischen Reformation", wie er mit einem leider be­ liebt gewordenen Ausdruck die Gegenreformation nennt; denn im Kampf um die großen Glaubensfragen sei auch die römische Lehre „zu neuer religiöser Kraft und Klarheit und großen reformirenden sittlichen Impulsen" gelangt; da» Her; der Kirche (und hier ist die katholische Kirche so gut wie die protestantische gemeint) habe wieder pulsirt, und damit sei sie auch gesund geworden. Freilich ist er darum kein Freund der Jesuiten, ob er sie schon al» die Aerzte und Leiter ihrer Kirche bei dieser Wieder­ geburt schildert; sie sind ihm vielmehr die gebornen Gegner de» Pro­ testantismus, und ihr Autorität-princip die Umkehrung der evangelischen GewisienSfreiheil. Selbst der Aufklärung, die er doch al» die Mutter de» omnipotenten Staate» und der Revolution, al» die Verderberin der Religion brandmarkt, weiß er eine gute Seite abzugewinnen: denn sie habe die 3dee der Toleranz geschaffen und damit freie Bahn gemacht für die Ent­ wickelung der naturgemäßen Verhältnisse.zwischen Staat und Kirche, autoritärer Gewalt und individuellen Rechten. Und so weiß er durchweg die geraden Gegensätze zu vereinigen: Katholizi-mu» und Reformation, Lutherthum und Calvini-mu», Bekenntniß und Toleranz, Stabilität und Fortschritt, Unterwerfung und Freiheit. Nur einen ganzen, aber furcht­ baren Feind glaubt er zu kennen: die „Bildung" unsere» Jahrhundert», die materialistische Weltanschauung, welche sich der jetzt lebenden Generation bemächtigt hat, die wilde, Gott verachtende und vergessende Gier nach den Gütern dieser Welt, welche die Maffen de» vierten Stande» gegen un», die Besitzenden und Genießenden, die Gebildeten und Glauben-armen herantreibe. Da» sei der große Riß, der durch unsere Tage gehe. Und so ruft er zum Schluß alle „Bekenner", alle „Positiv-Christlichen" auf, sich zusammenzuschaaren -egen die „Moral de» Antichristenthum»", gegen den feurigen Abgrund, der schon sinneblendend gegen un» heraufwoge; von den Anhängern der päpstlichen Unfehlbarkeit, die mit ihren historischen Apologien „der Wahrheit In da» Angesicht schlagen", bi» hin zu den „liberalen Protestanten, welche Christus und seine Lehre historisch zu ver­ stehen suchen". Hier, und nur hier allein ist sein Protestiren echt: „Noch kann alle- gerettet werden. Aber ein» ist sicher: nicht unsere Bildung wird un» retten, sondern allein da» Evangelium."

322

Eine neue Lusfaffung der Kirchengeschichte.

Indem ich mich nun an eine Kritik dieser geistreichen Formultrungen heranwage, will ich dabei von jedem kirchlichen oder politischen Bekenntniß absehen und keinen andern Standpunkt behaupten als denjenigen, den mein Beruf mir vorschreibt — de- Historiker-. Nur so wird eS offenbar möglich sein den Punkt, die Vorstellung zu treffen, worin sich alle jene Widersprüche zusammenfinden und gewisserweise aufheben, von wo au» aber auch die Willkür ihrer Ansetzung sichtbar werden muß. Zum Glück brauche ich da nur das Allbekannte und, wie ich denke, Bollgesicherte zu wiederholen, sowohl in den Grundsätzen de» Erkennen» al» in den Thal­ sachen selbst: Jedermann würde daffelbe sagen können, wer nur immer seinen Ranke kennt.

Die Parallele mit dem Großmeister der historischen Wissenschaft ist auch deshalb am Platze, weil Sohm ausdrücklich den universalen Charakter seiner Ktrchengeschichte betont: al» einen „Theil der Weltgeschichte", so erklärt er im Vorwort, wolle er sie dem Leser zur Anschauung bringen, die weltbewegende Kraft de» Christenthums darin entwickeln. Blättern wir nun weiter, so bemerken wir frellich, daß unser Autor doch nur einen Bruchtheil dieser Kirchen-Weltgeschichte dargestellt hat. Denn sobald er au» den Zetten der alten Kirche, au- der Epoche de» altrömischen Reiche» heraus ist, erzählt er, so sehr er auch seine Ideen al» die Knotenpunkte der Weltentwickelung hinstellen mag, im Wesentlichen nur deutsche Kirchen­ geschichte. Don der Kirche de» Osten» nimmt er mit dem 7. Jahrhundert ganz Abschied. Der Islam habe sie vernichtet; von der Weltgeschichte selbst sei sie damal» verlassen und liege nun in Todesstarre: „Wann wird", •so ruft er klagend au» (denn seine Toleranz umspannt auch diese HeilSgemeinschaft), „der Geist von oben die einst so Herrliche zu neuem Leben erwecken!" Den Streit der Monophhsiten und Monotheleten, der ebendamals auf» heftigste entbrannt war, den Kampf der Jkonodulen und Jkonoktasten, der sie ablöste — Erschütterungen, welche die ganze griechische Welt, Staat und Kirche, Dogma, Kultus und Verfassung Jahrhunderte hindurch tief erregten — wird er also demnach nicht zur Weltgeschichte rechnen wollen; er geht völlig darüber hinweg. Es war da» Zeitalter, in dem die Einheit der um da» Mittelmeer gelagerten römisch-griechischen Culturwelt zerbrach. Jedermann weiß aber, wie sehr da» Schwergewicht der allgemeinen Entwickelung in den Jahrhunderten der Völkerwanderung noch auf den Centralländern der antiken Welt ruhte, wie eng sich die westlichen Provinzen trotz ihrer barbarischen Herrscher mit dem Centrum de» alten Imperium zu Konstantinopel verbunden fühlten, ja wie abhängig

323

Eine neue Auffassung der Kirchengeschichte.

geradezu nicht bloß Ravenna und Rom, sondern da» ganze Abendland,

Römer und Germanen von dem Justinianeischen Reiche und den Formen seiner Kultur bi» tief In» 8. Jahrhundert geblieben sind.

diese Fülle von Geschichte kaum vorhanden.

Für Sohm ist

Mit ein paar allgemeinen

Wendungen streift er die Revolutionen, in denen da- Arianerthum der Germanenstämme der katholischen Gesittung ihrer Unterthanen erlag, den großen Verschmelzung-prozeß, der den Hauptprovinzen de» römischen Stuhl»

in Kirche und Nationalität auf immer- ihr Gepräge gab; vergeben» suchen wir nach Namen wie Justinian und Theodorich, Gundobad und Leovigild,

Sigismund und Rekkared, Boethiu»,

Leander, Jsivor,

und nach allen

Päpsten; mit keiner Silbe ist in diesem Zusammenhänge von Gregor dem

Großen und feinen hohen Thaten die Rede!

Da» Alle» tritt vor dem

fränkischen Reich zurück, welche» von Chlodwig bi» zu Karl dem Großen den Titel und fast den vollen Inhalt der Erzählung hergiebt.

Auch für

die folgenden Jahrhunderte, 61» zur Reformation, lautet die Ueberschrift:

„Da» deutsche Mittelalter."

Der Kampf zwischen Kaiserthum und Papst­

thum, recht ausführlich geschildert, bildet da» Schema der Entwickelung,

selbst die Epoche der höchsten papalen Macht und die ihre» Niedergänge» werden unter diesem Gesammttttel abgehandelt.

Von andern Ländern ist

immer nur im Allgemeinen die Rede: Frankreich und England begegnen un» zuerst mit ein paar Sätzen im 14. Jahrhundert, Spanien erst unter Ferdinand dem Katholischen, und dann nur. noch einmal ganz kurz bei den

Jesuiten; die Nordgermanen, Slaven, Magyaren, kurz Alle», wa» jenseit»

der deutschen Grenze im Osten oder Norden liegt, theilt da» Schicksal von

Byzanz und bleibt in alter und neuer Zeit völlig unbeachtet. wir denn z. B. nicht» von An»gar und Adalbert,

So erfahren

von Berengar oder

Lanfranc, von Arnold von Bre-cia, von Abälard oder Thoma», Decket,

nicht» von der centralen Stellung der Pariser Universität, nichtAlbigensern

und

Waldensern,

von

von Joachimiten und Spiritualen, von

Wicltf und von Hu» und der husitischen Revolution; e» Ist al» ob der

Autor, welcher der mönchischen Bewegung eingehende Beachtung widmet,

an allen protestirenden Richtungen gegen die offiziellen Kirchen absichtlich vorübergegangen sei (zumal da er auch In den anderen Epochen von ihnen

schweigt), al» ob er noch an der veralteten Vorstellung der Romantik von

dem „christlich germanischen" Mittelalter festhalte, und von der Führer­ schaft der romanischen Nationen, vor Allem Frankreichs, in den hierarchi­

schen Jahrhunderten

nicht»

wiffe oder

wissen wolle.

Wer weiß

nicht,

welcher Antheil den französischen Theologen und Staatsmännern an der Durchführung der könziliaren Bewegung gebührt!

deren Herd auf deutschem Boden.

Für Sohm liegt auch

So sehr überwiegt bei ihm diese Be-

324

Eine neue Auffassung der Kircheugeschichte.

trachtungSweise, daß er der gesammten Renaissance erst im Rahmen der deutschen Reformation-geschichte ihren Platz giebt; erst da spricht er rück« blickend von dieser it'alientschen Entwickelung zweier Jahrhunderte, ohne übrigen» ihre» Einflüsse» auf da» übrige Europa irgendwie'zu gedenken. Durchaus verständlich ist e», auch vom objektiven Gesichtspunkt, daß er dem deutschen Reformator den Hauptplatz in der gesammten Kirchenge­ schichte einräumt: aber unter der „protestantischen Reformation" (§ 35) dann nur wieder die deutsche Entwickelung bi» 1555 und unter der „pro­ testantischen Kirchenverfaffung" so gut wie ausschließlich die lutherisch­ deutsche Landeskirche darzustellen, muß doch al» eine neue Verengung de» GesammttitelS bezeichnet werden. Auch der folgende Paragraph, über da» Verhältniß der lutherischen zu der reformirten Kirche, 3 kurze Seiten, berücksichtigt fast allein Deutschland; Calvin und John Knox erhalten wenige Zeilen; von der großartigen, vielgestaltigen, weltumspannenden Entwickelung de» westeuropäischen Protestantismus lesen wir so gut wie nicht». Die letzten beiden Kapitel (Pieti-muS und Auftlärung; da» neun­ zehnte Jahrhundert) verleugnen vollends den welthistorischen Charakter und richten sich fast allein auf die geistigen Strömungen des deutschen Lebens, welche Sohm zum Theil mit Entwickelung-formen de» französischen Geiste» zusammenwirft, um schließlich mit jener leidenschaftlichen Diatrtbe gegen die höllische Gewalt unserer „Bildung" unmittelbar in den Kämpfen der deutschen Gegenwart auSzumünden. Trotzdem hält er bi» zuletzt an dem Ansprüche fest, den welthistori­ schen Zusammenhang klar gestellt zu haben. Ja er erweitert in einem Rückblick (§ 50) sogar noch den im Vorwort aufgestellten Begriff und setzt ihn der Weltgeschichte selbst gleich: „die Geschichte der Kirche ist die Ge­ schichte der Vergangenheit". Wir unsererseits werden uns mit keiner dieser, genau genommen, sich widersprechenden Definitionen befreunden können; die Kirchengeschichte ist un» weder ein „Theil" der Weltgeschichte noch auch diese selbst, so sehr sie auch zu ihr gehören mag. Vielleicht möchte nun der Verfasser die Worte gar nicht so scharf verstanden wissen wollen, wie sie gestellt sind, sondern etwa so, wie er sich kurz vorher auSdrückl: „Der Geist der gesammten abendländischen Kulturentwickelung spiegelt in der Kirchengeschichte sich wieder." Nicht» kann wahrer sein al» dieser Satz. Jedoch sagt er nicht eben viel. Denn die Kulturentwickelung spiegelt sich nicht minder in der Geschichte der Staaten, der Jurisprudenz, de» Handel»,' der Dogmen, im Großen und Kleinen, Persönlichen und Unpersönlichen, in Allem, wa» irgendje gelebt hat, wieder; wobei ja nohl übrigen» Niemand leugnen wird, daß unter allen diesen Widerspiegelungen der Weltentwickelung die Kirchengeschichte die breiteste und tiefste ist.

Sine neue Auffassung der Kirchengrschichte.

325

Aber wen« wir die scharfen Antithesen, in denen der Autor sich auf jeder Seite seine» Buche» ergeht, durchmustern, werden wir mit einem solchen Vermittlungsversuch doch schwerlich seine Meinung treffen. Bemerken wir, daß er von der Kirchengeschichte al» von der Geschichte der Kirche spricht. Allerdings meint er darunter häufig nur die Kirche, ju der er sich be­ kennt, aber oft auch, und gerade an den Angelpunkten der allgemeinen Entwickelung, einen Gesammtbegriff, der in allen Gestaltungen de» leben­ digen, „positiven" Christenthum» Wiederkehre, und in dem er sowohl eine historische Realität al» eine ethische Forderung, da» Heil der Welt in aller Ewigkeit erblickt. Zwar stellt er ihn ungemein weit, und gerade die umfassendste Form ist ihm die echteste, dem Wesen de» Glauben» gemäßeste: „wo zwei oder drei versammelt sind in Christi Namen, da ist die Ekklesia (die Kirche), denn Christus hat gesagt: wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen (Matlh. 18, 20)". Da» sei die Kirche der apostolischen Zeit gewesen, der „ursprüngliche, echtapostolische Begriff", den erst Luther in dem „allge­ meinen Priesterthum der Gläubigen" wlederhergestellt habe. Aber immer­ hin handelt e» sich ihm nicht blo» um einen Begriff, eine Vorstellung, sondern um eine Existenz, eine wenn auch noch so formlose, dennoch sicht­ bare Gemeinschaft, in der Gotte» Wort erscheint, Christ»» sich verkörpert: „Da» Geheimniß der Gottheit Christi... schließt da» Geheimniß der Kirche in sich. Die Kirche ist nicht blo» Christi Werk, sondern Christi Leib, von seinem Geiste täglich neu geboren, neu belebt. Ihn selber, den Auferstandenen und zur rechten Hand Gotte» Sitzenden hat sie in ihren Versammlungen mitten unter sich. Wie da» Wesen Christi, so ist Wesen und Würde seiner Kirche. Indem die Kirche über Christum nachdenkt, reflektirt sie zugleich über sich selbst." ES ist wahr, die Geschichte dieser Bekenntnißgemeinschaft ist nicht ohne Trübungen und Störungen ver­ laufen: tief verschüttet war und ist noch vielfach der Quell deS Bekenntniffe» und der Kirche; aber auch in den niederen Ordnungen blieb da­ göttliche Geheimniß de» Evangelium» lebendig; alle Jahrhunderte geben Zeugniß von seiner Wahrheit und seiner Kraft; e» blieb da» Salz der Erde und da» Licht auf ihren Wegen. Der Kampf diese» Lichte» gegen die Mächte der Finsterniß, der Ver­ neinung, da» ist die Weltgeschichte; der Sieg der Kirche, da» ist die Ent­ wickelung, und ihr Tod die Todesstarre der Welt. Kirche und Welt sind die Pole aller Geschichte, und nur in der Anerkennung der Kirche und ihre» Bekenntnisses hat Alle» wa» von der Erde und auf Erden ist da» Recht, ja die Möglichkeit des Bestehen» — so ist an den Glauben allein auch die Hoffnung geknüpft.

326

Sine neue Auffassung der Kirchengeschichte.

Sehen wir zu, wohin Sohm in der höchst geistreichen Durchführung dieser Antithese geräth. Er beginnt mit der Welt ohne die Kirche, dem Orbis terrarum der römischen Cäsaren, dem goldenen Zeitalter de- irdischen Leben-, wo die Fülle der Macht, de- Wohlsein- und der Bildung über da» Weltreich au-gebreitet war. Da hinein tritt da» Christenthum, die Gemeinde der Armen, Verachteten, Ungelehrten, und beginnt den Kampf, den unabwend­ baren, schonungslosen, martervollen Kampf, da» unablässige Ringen, bi» dlese Welt und alle ihre Herrlichkeit, Staat und Bildung ihr zu Füßen liegen und ihrem Gott allein die Ehre geben. Staat und Bildung, Anfang» die Gegner der Christengemeinde, bleiben nun aber in dem Wandel der Zeiten die Mächte der Welt, mit denen die geistliche Großmacht, die Kirche sich au-einandersetzen muß. Die heidnische Philosophie, welche sich au» der Skepsis und der Verneinung d»r alten Götterfülle mühsam zur Idee de» einen Gotte» und zur zweifel-kranken Sehnsucht nach Erlösung hin­ durchkämpft, muß freilich, solange sie ihre Selbständigkeit behaupten will, bald vor der leuchtenden Gewißheit der göttlichen Wahrheit verblasien. Aber dann dringt sie in die Kirche selbst ein; al» GnostiziSmu», Arianis­ mus und Clementinische Theologie sucht sie den Abgrund de» göttlichen Geheimniffe» mit dem Lichte menschlicher Vernunft zu erhellen. Vergeben»^ Der Glaube an da- Mysterium der Heil-thatsachen, der Erlösung durch Christus siegt über den Rationalismus, da- Evangelium erwehrt sich, wie einst der Berjudung, so nun der Hellenisirung: jene Versammlung griechischer Bischöfe in Nicäa drückte, unter Führung de» griechischen Kaisers, da» Siegel auf diese „Wiedergeburt de» Evangeliums". In den nun folgenden Jahrhunderten treten diese Gefahren zurück. Die Kirche selbst birgt „In stiller Klosterzelle, unter den schirmenden Fittichen ihrer Forschung und Wissenschaft" die Bildung de» Alterthum». Die Gelüste, welche trotzdem dann und wann auftauchen, eine individuelle, volk-thümliche Bildung zu pflegen (in den Klöstern der Ottonenzeit) oder „dem mönchischen Ideal der Weltflucht ein Ideal de» edlen WeltgenusseS gegenüberzustellen", wie e» da» Ritterthum später versuchte, werden ohne Mühe unterdrückt; auch da» ritterliche Ideal muß dem mönchischen der Bettelorden weichen. Al» aber die Kirche von ihrer weltbeherrschenden Höhe heruntergleitet, ihre Einheit sich auflöst und die Staatsgewalten ihrer Stücke sich bemächtigen, da wagt sich auch die Bildung au- ihren klösterlichen Schlupfwinkeln hervor und regt die befreiten Schwingen zum kühnen Forscherfluge durch die Weiten, der Welt und de» Himmel». Wa» aber sind die Erfolge dieser „Hochfluth de» geistigen Leben-", diese» „Evangelium» der Bil­ dung"? Zweifel und Verneinung alle» Positiven, alle» Ueberirdischen,

Eine neue Auffassung der Kirchengerichte.

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Verachtung aller sittlichen Gebote, bestialischer Egoismus weltlicher Tyrannen, Mord, Verrath und Unzucht selbst auf dem päpstlichen Throne — Li­ der deutsche Streiter Gotte- da- vergessene, wahre, volle Evangelium wieder aufweckt, und nun au- diesem Leben-quell ungeahnte Ströme durch alle Adern der Kirche sich ergießen: „Die Frucht de- 16. Jahrhundert­ war da- Schisma, die Spaltung zwischen der protestantischen und katho­ lischen Kirche, — aber nicht bloß da- Schi-ma, sondern auch diese lang begehrte, heiß ersehnte, endlich mit Geiste-brausen herbeigekommene Refor­ mation. Durch die reformatorische Bewegung, welche von Deutschland au- überall in Christenlanden zündete, ist, in Wirkung und Gegenwirkung, nicht bloß die protestantische Kirche, sondern die ganze Kirche reformirt worden." Auch die humanistische Bildung sei dadurch in den Hintergrund gedrängt worden. Doch bestätigt Sohm, daß sie nicht auSgerottet ward: sondern sie-trat, freilich in zwei verschiedene Lager getheilt, auf- Neue In den Dienst der Kirche. Indem aber die reformatorische Grregung auf beiden Selten mehr und mehr nachließ, erwachte auch die „Bildung", die böse Lust nach der Erkenntniß zu neuer Kraft: unter dem Einfluß naturwissenschaftlicher Entdeckungen und philosophischer Reflexion entstand eine neue Weltanschauung, „welche ihren Standpunkt nicht in dem Glauben der Kirche, sondern in den Erkenntnissen der menschlichen Vernunft suchte". Sie übte Kritik an Allem, wa< bestand, überliefert war, geglaubt wurde; an den Ideen von Gott, Tugend und Unsterblich­ keit hielt sie wohl noch fest, aber da- Positive, Zufällige wollte sie ab­ streifen, um da- Vernünftige, Gesetzmäßige, Natürliche in Recht, Staat und Religion an die Stelle zu setzen: die Religion, da- Gebiet deGeheimnifle-, die Kraft de- Gemüthe-, wollte sie sich erklügeln. Sie er­ rang überall den Sie-, In den protestantischen, wie in der katholischen Kirche; Voltaire und Lessing waren ihre Propheten; Kant ihr Kritiker, und doch noch in ihren Fesseln; sie brachte den Jesuitenorden zu Fall, sie unterwarf sich den römischen Stuhl, sie machte den Staat zum allmächtigen Herrn über die Kirche: ein Joseph II. und ein Friedrich der Große waren ihre Adepten und lenkten ihre Völker nach ihren Geboren; sie stürzte da­ alte Frankreich und zerstörte im Fortgänge der Revolution überall die weltliche Machtstellung der evangelischen wie der katholischen Kirche. DaEnde war wieder allüberall Zerstörung de- geschichtlich Gegebenen, Ver­ ödung de- Gemüthe-, bange- Sehnen nach dem Unbegreiflichen, dem Geheimnißvollen, „nach dem Glauben der Väter, nach dem lebendigen Brot, an desien Stelle man einen Stein gebote.n hatte". Diese Gefühle und kritiklosen Ueberzeugungen erhoben sich allerorten, wo Christ»- noch gelehrt tourte, wo e- eine Kirche gab, unter Katholiken und Protestanten, Luthe-

ranem und Reformirten — anfangs unklar, schwankend, theoretisirend, unionistisch gerichtet, danach aber mehr und mehr zu festen, begrenzten Formen sich ausgestaltend und mit positivem Bewußtsein, realen Zwecken sich erfüllend. Diese- geschah unter dem Einfluß der politisch-liberalen Theorien, die zum Theil ein Erbe der Aufklärung und ihre positive Frucht (in der Toleranz), zum Theil auch eine Gegenbewegung gegen ihre Vergötterung deS Staates waren. Und da- ist nun der Moment, in dem wir leben. So sind die positiven Elemente der Kirche zum Theil wieder auseinandergetreten. Aus dem Katholicismus der Romantik hat sich der UltramontanlSmuS erhoben, ein Todfeind der modernen Bildung-- und Freiheitsideale, herrschbegierig, unduldsam, jesuitisch durch und durch in Politik und Wissenschaft; keine Individualität, keine Confession, kein An­ spruch der Staatsgewalt hat vor ihm Geltung. Gegen ihn schaaren sich die protestantischen Elemente zusammen: die. alten Confessionen und die neuen Richtungen, die Positiven und die historisch, gerichteten Libe­ ralen; die Hammersteinische Bewegung und der evangelische Bund sind desselben Geistes Kinder. Aber wie groß der Hader aller dieser Richtungen untereinander sein mag — in allen ist doch dieselbe Grundstimmung, die gleiche Gegnerschaft gegen die glaubenslose Welt, sind die positiv­ christlichen Ueberzeugungen lebendig; sie alle stehen auf dem Boden de» überlieferten Bekenntnisses; in ihnen allen ist die Kirche. Und so be­ droht sie Alle der eine Feind, die Bildung unserer Tage, welche los­ gelöst von Gott und Geist und Ewigkeit, von Religion, Sittlichkeit und Recht, die Materie, „die erbarmungslose, unerbittliche, in das eiserne Ge­ setz der Notwendigkeit geschmiedete, tote, unbewußte, absolut dumme Ma­ terie" als ihren Gott, al» der Weisheit letzten Schluß verehrt. Da» ist das „Evangelium deS 19. Jahrhunderts". Seit drei oder vier Jahrzehnten ist es da. DaS vorige Jahrhundert hielt ja noch an dem Bekenntniß von Gott, Freiheit und Unsterblichkeit fest: da» unsrige hat auch diesen Plunder über Bord geworfen. Der neue Glaube macht Ernst, wie die positiven Rich­ tungen; er theilt in seiner Weise ihren Realismus. Schon folgen ihm unge­ zählte Schaaren von Gläubigen: die Massen des vierten Stande», denen wir, die „Gebildeten", ihren Himmel und ihre Hölle, die Seligkeit und die Vergeltung geraubt haben. Schon dröhnt den Genießenden der Schritt der Arbeiterbataillone und der Schlachtgesang ihrer Marseillaise in die Ohren: „wir wollen auf Erden glücklich fein und nicht darben". Ein Schritt noch, und die Flammen unter un» züngeln an un- heran; au» der Bildung unsere» Jahrhundert» schlagen sie herauf: „So stehen wir jetzt.. Eine dünne Decke trennt uns von dem feurigen Abgrund, und die Geister, welche wir selbst gerufen^ arbeiten an unserm Verderben."

Einr neue Auffassung der Kirchrugrschichtr.

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Die- ist da- Auf und Ad der einen Antithese, welche sich für Sohm au- der Gegenüberstellung der Grundbegriffe „Kirche" und „Welt" für die Welthistorie ergiebt. Sehr tröstlich ist der Au-blick, zu dem sie unhinführt, wie man sieht, nicht — selbst wohl nicht für den Fall, daß die „Bekennenden" über die Bildung siegen sollten. Denn wa- würden sie da untereinander anfangen? Sohm selbst möchte, denk' ich, die Antwort darauf etwa au- dem Verhältniß formultren, welche- sich fernerhin zwischen Staat und Kirche, zwischen der Recht-gemeinschaft und der Heil-gemeinde entwickeln würde. Vergegenwärtigen wir un- darum, wie er sich diesen Prozeß in den bisher durchmessenen christlichen Jahrhunderten denkt. E- geschieht ganz parallel zu der eben beschriebenen Linie. In der antiken Welt war der Staat da-, höchste Gut, die sittliche Tugend incarnirte sich im Staatsdienste. Da fiel also für die Kirche Bildung und Staat zusammen; mit jener bekämpfte und besiegte sie auch diesen. In solchem Kampf erlitt ihre Verfassung eine für alle Folgezeit entschei­ dende Veränderung: da- allgemeine Prtesterthum der Gläubigen gin­ unter, die Gemeinschaft mit Christ»- und mit Gott ward an äußere For­ men und Bedingungen geknüpft, — und darin besteht da- Wesen de» Katholizi-mu-; „die Kirche war nun auf da- Amt gegründet, nicht mehr auf die Gemeinschaft der Gläubigen al- solche". In dieser Ordnung bestand die Kirche den Kampf mit dem Staat und zwang ihn zur Aner­ kennung ihre- Bekenntnisse-. Auf der Höhe de- Siege- aber erwuch- ihr eine neue Gefahr: der Bund konnte zur Ueberwältigung ihrer Selbstän­ digkeit durch den Staat führen. Im Osten geschah e- so, und da» ward hier, zumal nun auch noch die Araber käme»«, ihr Tod, und so schied die „herrliche" au- der Weltentwickelung au-. Im Westen erwehrte der. römische Patriarch sich dieser erstickenden Umarmung und rettete damit die Freiheit der Kirche. Neue Gefahr entstand mit der Wiederaufrichtung deabendländischen Kaiserthum» durch Karl und danach durch Otto den Großen. Aber die geistliche Natur der Kirche bewährte auf» neue ihre freiheitliche Kraft in der cluniacensischen Bewegung, welche ja auch jene Jndividualisirung klösterlicher Bildung, rechtzeitig erstickte. Zwei Wege lagen damals der Kirche offen zur Befreiung von der Welt: der Verzicht auf die Welt durch völlige Vermönchung (dann hätte sie „mit Fug und Recht" die Be­ freiung von der Staatsgewalt fordern dürfen!) und die Herrschaft über die Welt. Die zweite Richtung siegte. Gregor VII. vollbrachte eS mit Hülfe der mönchischen Bewegung selbst und führte so die Glanzepoche der mittelalterlichen Kirche herauf. Völlig gelang die Ausbildung de» Gotte»staateS zunächst nicht: „da- Reich behauptete sich lebensfähig gegenüber der Kirche; es wie» den Angriff auf die weltlichen Bedingungen feine»

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Eine neue Aufiaffung der Kirchengcschichte.

Dasein- siegreich zurück" (Epoche der Hohenstaufen). Aber die Berktrchlichung der Diäresen und zugleich die Monachistrung der Weltgeistlichen, ja der Laten, der Ritter und zuletzt gar der Bürger, deS dritten Stande­ rn den Tertiariern des h. Franziskus) breitete sich immer weiter aus — und immer mächtiger, anspruch-voller, selbstsüchtiger erhob sich zum Schaden der Gemeinden, der Diöcesen, der Kirche die römische Theokratie. Kaum jedoch auf dem Gipfel der Dermesienheit angelangt, stürzte sie mit dem Exil von Avignon und dem großen Schi-ma in einen Abgrund sittlicher Entartung und politischer Schande; und ihrer geistlichen Führung beraubt, durchzog nun die Christenheit in immer stärkeren Pulsen die Sehnsucht nach einer Reformation; „Kirche und Welt verlangten nach einem neuen Leben-quell". Die Führung übernahmen auf den Concilien von Pisa, Constanz, Basel die geistlichen Fürsten, die Bischöfe, nach ihnen aber, da sie scheiterten, die Staatsgewalten, die nationalen oder die territorialen Landesherren. So drängte sich der Staat unter Connivenz des römischen Stuhls wieder in den heiligen Bezirk der Kirche ein, in derselben Zeit, wo die kirchenlose Bildung der Renaissance ihr Haupt erhob — und die Folge war auch hier nur Auflösung, Zerbröckelung der Kirche, nicht ihre Reformation; nur die Außenwerke wurden gebessert, nicht der Geist, daS Herz gesund gemacht. Martin Luther wie» endlich den Weg der Gesun­ dung der ganzen „Kirche", wie bemerkt, die Bahn, auf welcher auch die römische Kirche „im Kampf und. dadurch zugleich in unwillkürlicher Ge­ meinschaft mit dem Protestantismus die katholische Kirche der Gegenwart hervorgebracht hat". Indem er die Ideale der Weltflucht als Egoismus, al- feige Fahnenflucht erkannte und nachwies, heiligte der Reformator zu­ gleich das weltliche Dasein und entdeckte somit auch das sittliche Prinzip de» modernen Staate-: „der Staat der Gegenwart erhebt sich, die sitt­ lichen Ideale, welche die Welt des Irdischen In sich trägt, treten mächtig neben die kirchlichen Bestrebungen. Die Welt des Irdischen ist frei geworden, sie ist dem Bann, mit welchem die Kirche de» Mittelalter» sie belegt hatte, jetzt entrückt. Die Welt de» Irdischen ist reformirt." Bemerken wir e» wohl! — nicht von den auf dem Grunde der protestantischen Gon« fesstonalität erwachsenen Staaten spricht hier Sohm, sondern von dem „Staat der Gegenwart" überhaupt, und in demselben Zusammenhang, wo er auch von der römisch-katholischen Glauben-gesundung unter dem An­ hauch de» lutherischen Geiste» spricht. Die reformatorische Bewegun­ gebot der in der Auflösung des 15. Jahrhundert» wieder groß gewordenen Beherrschung der Kirche durch den Staat, im Prinzip wenigsten». Halt; sie betonte auf- neue die unweltliche Natur der Kirche, und daß der Staat ihr nur helfen, nicht sie regieren solle; nur al» einen Fall der Noth er-

Eine neue Auffassung bet Kirchengeschichte.

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kannte sie da- landesherrliche Kirchenregiment an, da- in Fortbildung de» früheren Verhältnisse- überall Platz griff. Sohm betont au-drücklich, daß die Reformation-gewalt dem katholischen Landesherren geradeso wie dem evangelischen zugestanden habe, daß auch er mtcht die Kirchengewalt damit habe occupiren dürfen; nach schweren Kämpfen sei diese „Parität" der Bekenntniffe im westfälischen Frieden, und zwar gegen den Witten der Kurie Reich-gesetz geworden. Der reformatorische Geist aber erlahmte, die Aufklärung kam und förderte jene Tendenz de- Staate» zu Ein­ griffen in die geistliche Sphäre bi- zur völligen Unterdrückung ihrer selbständigen Gewalt. Die Epoche, in der eine Rückbildung zu den reformatorischen Prinzipien und eine welthistorische Wandlung sich voll­ zieht, glaubt Sohm nun aber in der Gegenwart selbst, seit der Mitte unsere» Jahrhundert», zu erblicken: die alten Formen de» Verhältnisse» von Staat und Kirche haben sich, so meint er, «»»gelebt; weder werde noch der Staat durch die Kirchv noch die Kirche durch den Staat beherrscht; ans dem Grunde der korporativen Verbände und ihrer Einordnung unter die Suveränität de» Staate», der Verbindung individueller. In der Cor­ poration gesicherter Freiheit und der höchsten rechtlichen Autorität.könne der Ausgleich erfolgen. Hier scheine sich ein Weg aufzuthun, der au» der Verwirrung der Gegenwart herau-führt, in dem sich ihre Gegensätze in einer höheren Harmonie vielleicht dereinst verbinden können: in der kon­ servativen Bewegung, in dem Realismus der Gegenwart, der positiven, organisatorischen Art der Glaubensparteien, in der Betonung der geist­ lichen Kräfte im kirchlichen Leben kündigt sich vielleicht eine Neublürhe de» Evangelium» an. Wird sie wachsen und gedeihen? Oder wird die Flamme gottvergessender WeltwelSheit sie verzehren? Werden wir vereint den Weg nach oben wallen oder von den Dämonen der Verneinung In den Abgrund de» Nicht» gerissen werden? Wir stehen am Wendepunkt: da» Berhängntß schwebt un» zu Häupten, unter unsern Füßen wühlt und lohet die Hölle, in unsern Händen liegt da» Gericht, Leben oder Tod, liegt die Zukunft der Welt. Ueberblicken wir diese beiden dialektisch so wohl gegliederten Ent­ wickelung-reihen, so müssen wir anerkennen, daß in ihrem Grundbegriff die Widersprüche, die wir zu Anfang dem Verfasser nachwiesen, aufge­ hoben werden. Alle jene Gegensätze vereinigen sich in Sohm» Idee von der „Kirche", in der Gemeinschaft derer, welche zu irgend einer Zeit da» Geheimniß von Christi Person und Werk al» die Weihe und Kraft de» Christenthum» unentwegt behauptet haben: so haben sie da» Evangelium gerettet. „Die Kirche trägt da- Evangelium unter dem Herzen" — wie die Bildung die Revolution. Vor dem höchsten der Zwecke verschwindet

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Eine neue Auffassung der Kirchengeschichte.

jede Feindschaft, verwischen sich alle Flecken. Heuchelei und Lüge, Neid und Ehrgeiz, Verleugnung und Verrath entwürdigten die alte Kirche, ihr Glaube selbst ward durch die Ausbildung der Hierarchie gefälscht — ben« noch siegte sie, nicht durch die Christen, sondern trotz der Christen, und rettete die Freiheit deS Evangelium-. So blieb diese- lebendig unter »er Herrschaft de- Papstthum- und erwachte zu neuem Leben unter der Für­ sorge der Jesuiten. Und wenn heute ein Janffen und seine Gesinnungs­ genossen mit ihren Verdrehungen die Weltgeschichte zu betrügen suchen, wie einst die mittelalterlichen Fälscher — al- Bundesgenossen gegen die zerstörende Gewalt moderner Bildung sind sie immer noch willkommen. Freilich entsprechen ihre Anschauungen nicht den Wünschen SohmS. Ihm ist die Kirche nach Ursprung und Ideal die Gemeinschaft der Gläubigen „al» solche", durch freie Ordnung, allgemeine Theilnahme an Verwaltung und Predigt zu immer reineren Formen sich erhebend; so wie die reformirte Kirche sie erstrebt, die lutherische jetzt aufnimmt: aber immerhin dringt er auf eine Gemeinschaft; mindesten- die Tendenz zur Korporation setzt er voraus; in der Erfüllung dieser Tendenz sieht er'die Bedingung zur Freiheit de» göttlichen Worte»: nur so erscheint ihm ein Wach-thum de» Evangelium- möglich: ein heiliger Bezirk muß sein in dem Bereich .der Sünde und de- Tode-, ein Reich de- Friedens in der Unruhe, ein Eden inmitten der Weltwüste. Nicht daß diese in alle Ewigkeit ausge­ schlossen wäre: da» Thor ist wieder aufgethan und öffnet sich weit jedem, der da kommen will; ja aus dem heiligen Garten ergießen sich Ströme ewigen Leben-, welche die Wildniß in reiches Fruchtland, in einen Garten Gottes verwandeln wollen. Da- ist die Heiligung des Irdischen, zu der Luther alle Schleusen wieder aufgethan, alle Dämme hinweggerissen hat. Aber wehe, wenn die Welt es versuchen sollte, ihren Zielen ohne' Ehr­ furcht vor diesem Allerhetltgsten nachzujagen, ohne Anlehnung an dieZion ihre Gesellschaft zu ordnen, die höchsten Dinge zu ergründen! Dann wird der Widerstand heilige Pflicht, Gebot der Nothwehr, Vertheidigung Gotte- gegen die Mächte der Zerstörung, gegen den Tod, da» Nicht». Wer möchte behaupten, daß da» kirchliche Verfassung-ideal unsere» Autor» mit der römisch-katholischen Ausgestaltung de» „Evangeliums" übereinstimme? Er selbst spricht ja von seiner grundsätzlichen Feindschaft gegen die Jesuiten, von der Verkehrung deS Dogma» im Papstthum, von dem Rechte de» Individuum» gegen die hierarchische Organisation. Luther ist sein Held, al» der Wiedererwecker des „schon vergessenen wahren, vollen Evangeliums". Was aber hat der Reformator wiedererweckt? „Den apostolischen Begriff der Ekklesia und da- allgemeine Priesterthum der Gläubigen, um ein nunmehr mannbar gewordene- Christenthum und eine

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geläuterte Kirche zu erzeugen, deren Macht nicht äußere Gewalt ist, son­ dern allein die Kraft der göttlichen Wahrheit." Also ein Verfassung»ideal ist da» „allgemeine Priesterthum der Gläubigen", war da» Werk de» Manne», der nicht einmal den Namen „Kirche" liebte? E» ist wahr, der Autor legt an der Stelle, wo er Luther» Kampf und Sieg erzählt, den Ton nicht auf die Gemeinschaft, sondern auf den Glauben und den Durchbruch der Gnade. Und wenn er diese hohen Begriffe so verstehen will, wie der Reformator, so wird er leicht mit ihm-, und ich denke auch mit un» zur Verständigung kommen über den Begriff der Kirche und ihr Verhältniß zur Welt, schwerlich aber zur Eintracht zwischen Rom und Wittenberg. Die» Verständniß Luther» zu erschließen, nachzuweisen, wie seine Seele jene Gedanken in sich ausgenommen, verarbeitet, au» sich heran» neu.geboren hat, da» vor Allem ist die Aufgabe de» Historiker»: Alle­ hängt davon ab. Nun schildert Sohm ja allerdings da» sehnsucht»« und martervolle Ringen de» Mönche», den Moment, in dem da» Licht von oben in seine Klosternacht hineingefallen, und den Geist, der ihn fortan in der Welt geleitet und die Welt durch ihn umgestaltet habe: „Welche Aengste", ruft er aü», „welche Kämpfe, und dann — welcher Sieg!" „Himmlische Wonneschauer" erfüllen fortan de» Getrösteten Seele. „Hell, friedebringend, entzückend leuchtet ihm die Gnade und Wahrheit, welche in Jesu Christo erschienen ist, auf den Pfad seine» Leben»." Nun wird er satt nach seinem Hungern und Dürsten; die Seligkeit der Kinder Gotte» ist ihm zugefallen; in aller Unruhe der Welt und ihrer Art, de» Staate», der Gesellschaft, der Arbeit, der Familie besitzt er doch „die innere Ruhe, in all dem Weltlichen doch da» Göttliche, Ewige, nach oben Führende". War da» wirklich alle» so bei Martin Luther? Gab e» zwei solche Hälfte»» in seinem Leben? Entsprach den Zweifel-qualen der einen die selige Gewißheit der andern? War diese friedevolle Gelaffenheit auf dem Leben-wege überhaupt der Friede, den er auf Erden suchte?" Wie leicht wird dann der Glaube! Wie bald sind wir da gerechtfertigt! Unterwirf dich: „glaube an den Herrn Jesum Christum" — „so wirst Du und Dein ganze» Hai»» selig!"' Wer möchte da nicht eilen wollen, einzutreten in den heiligen Bezirk, und wie bald würde da Methode in die Heiligung kommen! Oeffne dich dem Himmel, und seine Wonnen strömen in dich ein! Umfasse da» Geheimniß, und du bist frei von der Angst de» Le­ ben», von der Verzweiflung de» Suchen» und Grübeln», de» Irren» und de» Streben», und den geweihten Boden umschweben Gotte» Engel und die leuchtende Liebe seine» Sohne». Soweit ich aber Luther kenne, finde ich nicht» von dieser Kluft in seinem Leben; den Moment de» Durchbruch» hat man, glaube ich, noch

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immer nicht entdeckt. Kein Tag in seinem Dasein, wo er selbst so friedevoll-gelassen gewesen wäre oder auch nur HLtte sein wollen. Ihn um­ schattete allezeit die unnahbare Majestät Gotte», da» Gefühl der Sünde, die Angst vor dem Gericht. Der Gott de» alten Bunde» war ihm nicht gestorben, seine Nähe nimmer zu ertragen, jede» Wörtlein au» seinem Munde ein verzehrend Feuer für die bloße Creatur. Da» waren die Stürme,^ welche Luther fürchtete und doch aufsuchte, die tiefe Noth, au» der er zu Gott aufschrie, die Angst, in welche er trotz Allem jede Seele au» ihrer Sicherheit hineinreißen wollte — und nicht etwa die Unruhe der Welt in Staat und Bildung, Arbeit und Familie, Dinge, die an sich selbst und nur in Bezug zum Menschen dem Reformator weder gut noch böse waren, aber Schöpfung Gotte» und darum gut und ihm zu Ehren zu gebrauchen; oder selbst die Blitze der Gegner, die ihn gerade jene» „unvergleichlich Schlimmere" zwang für nicht» zu achten. Und in der Noth nun doch Gott, der erhört, in dem Sturm da» himmlische Licht — unendlich fern und doch unmittelbar zu ergreifen; nicht mehr Geheimniß, nicht Gefühl noch Phantasie, sondern da» „lichte, klare Wort Gotte»" und ein „steinern Ufer" an dem Wogen und Blitze zerschellen. Diesen Weg muß immer wieder mit ihm durchmesien, wer da» Werk und Wesen unsere» Reformator» verstehen will; c» ist die Summe seine» mit Worten nicht auSzuschöpfenden Leben». Auf dem Glauben liegt der Ton, nicht auf der Gemeinschaft; aber auf die Ausmessung der Glauben-tiefen kommt e» an, nicht auf die formelle Anerkennung de» Geheimnisse», die bloße „fides historica", welche auch die katholische Kirche hat und jede Confessio» — auf die Freiheit, nicht die Unter­ werfung, die jenseitige, nicht die irdische „Seligkeit der Kinder Gotte»". E» würde nun wohl nicht schwer sein, von diesem 'Grunde -au» die Grenzverwirrung zu entdecken, die in der Aehnlichmachung der pro­ testantischen und katholischen Kirchenbegriffe liegt, wie auch die krasse Un­ gerechtigkeit, welche Sohm mit der Geringschätzung der dogmatischen Ideen Zwingli» und der Reformirten sich zu Schulden kommen läßt. Doch will ich ihm auf diesen Wegen spekulativer Kritik nicht weiter nachgehen, son­ dern seinem Vorgang folgend mich darauf beschränken, die Weltvorstellung, welche ihm seine Begriffe geben, vom Standpunkt der Historie au» zu würdigen. Hier ist nun, wie bemerkt, Sohm» Auffassung, daß die Idee der Kirche, von deren Freiheit, deren Existenz er die Rettung der Welt er­ wartet, nicht blo» Realität gewinnen werde, sondern so oder so bereit­ besessen habe und immerdar zum Heil der Welt besitzen müsse, ja daß sie al» da» Leben alle» Leben» sogar die wirkende, forttreibende Ursache in der

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Weltentwickelung fei. Mithin bilden die Gegensätze, die er al» die Be­ griffe de» Leben» und de» Tode», de» Etwa» und de» Nicht», de» Heil» und de» Verderben» construirt, genau ft die Derkettimg und Gliederung der Weltgeschichte selbst. Wer da» behauptet, muß freilich beweisen, wa» er glaubt. Denn bewiesen hat Sohm — da» wird er zugeben — in seinem .Grundriß" nicht», sondern nur die Resultate erzählt und die Congruenz seiner kirchen­ historischen Linien und Schnittpunkte mit denen der allgemeinen Ent­ wickelung, sowie die Abhängigkeit dieser von seinen „Ideen" beansprucht. Zunächst entsteht also die Frage, ob er überhaupt mit un» eine freie Er­ kenntniß der Vergangenheit für möglich hält. Meint er, daß wir aller Anstrengungen ungeachtet über den Horizont der Gegenwart in die Ver­ gangenheit nicht hinausblicken, Alle» lediglich unter dem Gesichtswinkel der un» überlieferten Begriffe beurtheilen können, ft wird e». schon schwierig sein, ein Verständniß mit ihm anzubahnen. Glaubt er aber gar, daß die Theorie, die geschichtlich gegebenen, au» dem Vergangenen abge­ schöpften Begriffe den Historiker geradezu führen, ja daß die Ideale der Gegenwart selbst seinem Urtheil nicht etwa bloß Maßstab und Hebel, sondern Ursprung und Zwang sein sollen, so sind wir von Anfang an geschieden. Denn Forschen heißt suchen. Erkennen finden. Wozu aber suchen, waS wir besitzen, bestätigen, wa» wir erkannt haben! Weshalb noch den Staub der Vergangenheit aufwühlen, wenn da» blühende Leben un» umgiebt! Wa- soll e», au» einem Satz de» Glaubens, einer be­ sonderen Forderung des Willen» heraus das Gewesene dialektisch zu zer­ gliedern, um eS so dem Dogma zu unterwerfen! Oder ist etwa bet Glaube, der Wille so beschränkt und schwach, daß man solcher Krücken bedürfte? Eine bekannte Wahrheit, wird man sagen. Ja wollte Gott, sie wäre so bekannt, daß sie als Trivialität gelten müßte! Alle Einzelforschung beruht darauf, aller Eifer (möge er niemals ermatten!), womit wir au» Büchern und Akten die Quellen herschaffen und sichten, Stein an Steinchen zu dem großen Bilde der Vergangenheit legen, findet hier seine Rechtfertigung. Aber immer von neuem drängt sich anspruchsvoll und vielgestaltig die Scholastik heran, um über da» Ewig-Fließende, stündlich sich Wandelnde da» Netz ihrer Begriffe zu werfen, den Strom von Geist und Feuer einzufangen in den Spinneweben ihrer Dialektik. Jedoch „der Weg der leitenden Ideen in bedingten Forschungen ist eben ft gefährlich al» reizend: wenn man einmal irrt, irrt man doppelt und dreifach: selbst da» Wahre wird durch die Unterordnung unter einen Irrthum zur Unwahrheit." So da» Wort, mit dem Ranke.seine Studien eingeleitet Preußische Jahrbücher. Bd. LXI. Heft 4.

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Eine neue Auffassung 'bet Kirchengeschichte.

hat; man liest eS in der Vorrede der Abhandlung „zur Kritik neuerer Geschichtschreiber". Niemals ist er ihm untreu geworden: seine Forschung (Grundanschauung, Methode und Ergebniß) beruht darauf. Und wenn er denn unser Meister sein soll, wenn wir nicht blo- nach dem Goethe'schen Wort ihn so nennen, übrigen- aber der Nase nach laufen wollen, so müssen wir vor Allem diesen Satz und was er positiv fordert aner­ kennen. Gewiß, bei der Geschichte ist da- ein wenig schwerer al- in andern Disciplinen (der Naturforschung etwa oder der Sprachwiffenschafl), weil die Institutionen und Begebenheiten, da- persönliche und da- all­ gemeine Leben, das wir durchdringen wollen, uns selbst umfangen hält und befangen macht, unsere Interessen und Lesdenschaften, unsern Willen, unsern Glauben fesselt; mit tausend Wurzeln haften wir in ihm. Aber wa- hilft'-! Wenn wir da» Ziel erreichen wollen, müssen wir auf dem Wege bleiben. Hindernisse dürfe»» un- nicht schrecken. Und mögen wir selbst irren, wenn wir nur streben! Die Kraft mag erlahmen, aber der Wille muß frei bleiben. Denn nach Rom führen viele Wege, zur Wahr­ heit aber im Bereiche de- Erkennen- nur einer. Wer denkt daran, den Theorien ihren Werth zu nehmen! Da- All­ gemeine wird immer seine Wesenheit behaupten, als Vorstellung und Kraft, Wunsch und Wille, Hoffnung und Glaube. , Auch war eS niemals außer der Welt, ist zu allen Zetten wie auch immer gedacht, geglaubt, erstrebt worden: nicht ein müßige- Spiel der Phantasie, sondern als eine Reihe dem Leben nothwendiger Formen, sei eS als Schranken der Existenz oder als Antriebe der Seele; dem Etnzelleben wie dem Strom der Geschichte geben sie erst die Farbe. Man wird sie auch an sich selbst darstellen können, ihre Entstehung und Entwickelung, Zusammenhang und Verzwei­ gung ihrer Systeme; und wohl mag man glauben, daß das Licht, in dem der Strom erglänzt und leuchtet, von oben stamme. Aber immer sind die Formen doch in der Welt, ein Theil des allgemeinen Leben», mit dem sie sich wandeln, und da-, da e» durch sie gleichsam hindurchströmt, sie in tausendfacher Abstufung mit seiner Individualität erfüllt und sichtbar macht, ihnen erst „ihre bestimmende Modifikation, die Erfüllung der Realität" verleiht. Nur so, In ihrer menschlichen Gebundenheit, sind auch die Ideen historisch zu begreifen.. Und wer immer ein Stück Geschichte (und sei eS nur eine Seele) anschauen will, muß in den vollen Strom hineinlangen: nur da» Wasser können wir abschöpfen, nicht seine Farbe. Die Geschichte also ist da- Objekt unserer Forschung, da- greifbare, sinnenfällige Leben der Völker, soviel davon eben sichtbar wird, au- den Quellen hervorströmt, soweit die lückenvolle Ueberlieferung reicht. Be­ schränkt durch Raum unb Zeit: ein paar tausend.Jahre müssen un- ge«

Eine neue Auffassung der Lirchengeschichte.

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nügen — wie könnten wir also ihren Inhalt au- dem Höchsten, vor dem tausend Jahre wie ein Tag sind, ahleiten wollen! Ueber den ring-um­ schriebenen, wohlbekannten Boden gingen zahllose Geschlechter hin, aber in wenigen Nationen faßt sich der Fortgang, der Sieg, die Macht zu­ sammen. Wir folgen ihnen durch die Jahrhunderte, wie sie sich bilden, erheben, au-breiten, mit einander kämpfen und verbinden, untergehen oder völlig verwandelt zu neuem Leben erstarken: in rastlosem Ringen bethätigt sich der innere und äußere Fortschritt. Wir erkennen ihre Ideale. Sie schweben gleichsam über ihnen und sinken in sie hinein, um mit ihnen zu wachsen und zu sterben; oder lösen sich wieder von ihnen ab; sie können sie retten und vernichten: in tausend Abwandlungen theilen sie sich dem nationalen Leben mit; in Familie, Staat und Kirche, in Religion, Recht und Sitte, in Wisienschafl und Kunst, in Wirthschaft und Verfassung prägen sie sich au-, bald zu selbstbewußten Systemen durchgebildet, bald au- dem Verborgenen aufblitzend; dem altgewordenen Boden entsteigen sie wieder, in schwankender Gestaltung, ein oft seltsam verzerrte-, phan­ tastische- Gedankenbild de- da unten Lebenden, und au- dem wogenden Nebel, den schwebenden Wolken ballen sich Kräfte zusammen, welche wie Blitze zerstörend niederfahren: wa« aber zunächst wohl al» Ruin der Macht, al- Vernichtung der Nationalität erscheinen will, kann sich doch al» eine Neusammlung de- nationalen Leben- offenbaren zu verstärkter Kraft, unter neuen Formen und zielbewußten Idealen. Denn auf dem Grunde diese» Wachsens und Weben- ruht die Nationalität, der Geniu» der Nationen selbst, der alle Geister durchdringt, alle Formen erfüllt und beseelt. Auch die Nationen aber wiederum der Zeit unterworfen: in der unbezwinglichen Tendenz nach Ausbildung ihre- Wesen» wie im Kampf um den Besitz und Vorrang in der Welt wandelt sich ihr Dasein, und mit ihnen, von Nation zu Nation, von einem Bölkerkret- zum andern sich bewegend, Religion und Politik, Glauben und Bildung umschließend da» Gemein­ same, Fortschreitende, Beherrschende — der Geniu» der Weltgeschichte. Wer mag die Summe fasten und die Zukunft ahnen! Da» Christenthum ist eine Theilerscheinung der Geschichte, die größte von allen, die Kirchen besonder- mächtige Leben-kreise. Mögen wir e» denn hoffen, daß die Völker der Erde unter dem Baum, der dem Senfkorn de» Evangeliumentwuchs, sich sammeln werden, daß einmal in dieser oder jener Kirche oder in einem neuen Bekenntniß der Friede Gotte- erscheinen und der Kampf, die Geschichte aufhören wird. Aber wa- vor Augen liegt, da» wa- war und ist, läßt sich nicht mit den historischen Namen unserer Reli­ gion umschreiben: der Genius der Antike, der Genius de» Islam» sprechen laut dagegen. Nicht einmal unsere Gegenwart hat da» Rechts ihre Blüthe 24*

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Eia« neu« Auffassung bet Airchengeschichte.

au* so beschränktem Ursprung abzuleiten: treten doch in Kirche und Staat, in Religion und Kunst und Recht und Bildung die reichsten Ströme au* anderen Regionen voll sichtbar und immer neu befruchtend an da* Licht! Wohl lebt heute in der vielgestaltigen Einheit der romanisch-germanischen Nationen eine Macht, welche den Erdball beherrscht. Eine Entwickelung mündet in ihren Schoß, die wir von jenen Flußthälcrn de* Orient* her um die Küsten de* Mittelmeer*, durch Europa hin und nun ring* um die Oceane begleiten. Bor ihnen ist ihre Gegenmacht, der Islam an sich selber irre geworden; seine Farbe verbleicht; von dem christlichen Wesen wird er übermannt. Aber — um in Ranke'* eigensten WoÜen weiter fortzufahren — „sagen wir: da* christliche Wesen, so verstehen wir darunter freilich nicht ausschließend die Religion; auch mit den Worten: Kultur, Civilisation würde man e* nur unvollkommen bezeichnen. E* ist der Geniu* de* Occident*. E* ist der Geist, der die Völker zu geordneten Armeen umschafft, der die Straßen zieht, die Kanäle gräbt, alle Meere mit Flotten bedeckt und in sein Eigenthum verwandelt, die entfernten Kolonien erfüllt, der die Tiefen der Natur mit exacter Forschung ergründet und alle Gebiete de* Wissen* eingenommen und sie mit immer frischer Arbeit erneuert, ohne darum die ewige Wahrheit au* den Augen zu verlieren, der unter den Menschen trotz der Mannigfaltigkeit ihrer Leidenschaften Ordnung und Gesetz handhabt. In ungeheurem Fortschritt sehen wir diesen Geist begriffen. Er hat Amerika den rohen Kräften der Natur und un­ bildsamen Nationen abgewonnen und durchaus umgewandelt; auf verschie­ denen Wegen dringt er in da* entfernteste Asien vor, und kaum China verschließt sich ihm noch; er umspannt Afrika an allen Küsten; unaufhalt­ sam, vielgestaltig, unnahbar, mit Waffen und Wissenschaft unwiderstehlich ausgerüstet, bemeistert er sich der Welt." Suchen wir so die Flucht der Erscheinungen zu begreifen. Dringen wir hindurch. Scheiden wir wa* zu scheiden, verbinden wir wa* zu ver­ binden ist. Fassen wir die Persönlichkeiten auf und ihr Schicksal, die Staaten und die Principien ihre* Dasein*. Schauen wir da* Leben an, „die Menschheit wie sie ist", „die Begebenheit In ihrer Fülle". Erheben wir un* zum Bewußtsein de* Ursprünglichen und zur Ahnung de* Höchsten. Aber lassen wir ab, die Schatten zu beschwören und die Wolke zu um­ armen. Wir selbst sind da* Maß aller Änge, und Alle* ist unser —

so lange wir leben. Unser Leben ist zwar kurz und unser Wissen Stück­ werk, unsere Erkenntniß wird sich wandeln, zur Geschichte werden — aber den Moment wenigsten*, in dem wir stehen, wollen wir behaupten. Die* ist, wenn ich ihn recht verstehe, da* Centrum der Ideen Ranke'* und die Summe seiner Auffaffung; und ich fürchte eher etwa* auSgelaffen

Eine neue Auffassung der Kirchrngeschicht«.

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al- hinzugethan zu haben. Au» dem einfachstm Grundsatz de» WillenS zur Erkenntniß und dem Glauben an ihre zwar beschrankte Möglichkeit leitet, e» sich ab; wa» Ranke nur immer gedacht und erarbeitet hat, ist davon die Entfaltung. Die Objektivität, welche man an ihm rühmt, nur eine besondere Bezeichnung der vorwaltenden Idee, seine Universalität ihre Anwendung: nicht Vorzüge seiner Persönlichkeit sind t», welche man annrhmen oder verwerfen dürfte, sondern Forderungen, die dem Wesen der Forschung entspringen: Grundsätze, welche da» individuelle Empfinden und die politischen, die nationalen, die sittlichen, die religiösen Ideale niemals aufheben wollen, freilich aber läutern, ja verklären werden, und von denen der Deutsche, der protestantische Deutsche ja wohl behaupten darf, daß er dem Geniu» seiner Nation huldige, wenn er ihnen dient. Wahrhaftigkeit ist der Ursprung, da» Ziel die Wahrheit.

Nun brauchen wir nur die volle Prägnanz dieser Vorstellungen und die Wucht dieser Thatsachen auf die Gedankenreihe Sohm» zu über­ tragen, um da» Schematische seiner Anordnung und Darstellung vor Augen zu haben. Wenn er, sagen wir etwa vier Fünftel der Kirchen­ geschichte übersehen hat und fast allein von Deutschland handelt, so kommt da- von seiner Tendenz, die ihn allerwärt- an seine deutschen Leser, an die Parteien im neuen Reiche denken läßt, sei e», daß er sie trösten oder erschrecken will. Doch ist e» für seine Kategorien in der That ziemlich werthlo», ob er ihnen einen Theil oder da» Ganze unterwirft, und ich zweifle sogar nicht daran, daß er die» Versehen leicht nachholen und auch die andern Nationen und Staaten in da» gewählte Schema eingliedern könnte. Die Wesenheit der romanisch-germanischen Nationen, der Wettstreit gegen den J-lam, die Beziehungen der feindlichen und ver­ wandten Culturkreise unter einander, die besonderen Tendenzen der Na­ tionen in Politik, Wirthschaft und soviel andern Lebensformen — Alle­ ist Nebensache: man kann eS von der Klrchengeschichte fern halten und muß eS ihr doch wieder unterördnen, denn in deren Grundbegriffen, deren Formeln liegen ja die Angelpunkte der Weltgeschichte. Wollte.man diesen Gegensatz durch das Buch hindurch verfolgen, so müßte man auf jeder Seite widersprechen, nicht sowohl den That­ sachen an sich als dem Zusammenhang, in den sie gezogen, dem Bor­ urtheil, dem sie unterworfen sind: „selbst da- Wahre wird durch die Unterordnung unter einen Irrthum zur Unwahrheit". In der Epoche der alten Kirche scheinen die Abstraktionen, In denen der Autor da- Wesen der Entwickelung erblickt, größere Probabilität zu haben, da hier ja in der

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Einr neue Auffassung der Kirchengeschichle.

That Staat und Kirche einheitlich geordnet waren, die Nationalitäten innerhalb de» Imperium», ihre» Selbst beraubt, sich vermischten wie -ihre Religionen, und der Gegensatz gegen die umgebende Welt den der Cultur gegen die Barbarei wirklich zum Ausdruck brachte. Sobald aber diese vorübergehende Einheit der alten Nationen sich auflöst, neue Völker in ihren Culturkret» eindringen, neue Centren der Religion und Politik in der Welt sich bilden, muß natürlich der aufgestellte Rahmen an allen Ecken und Enden zu eng werden. Nur ein paar besonder» offenkundige und starke Irrthümer will ich hier herausheben, solche, welche unumstöß­ lichen Thatsachen, nicht schwankenden Theorien in'» Gesicht schlagen. Auch da» Mittelalter giebt der Anschauung unsere» Autor» noch immer einen Schein von Berechtigung, da ja in der That die phantasie­ reiche» Theoretiker de» hierarchischen Staat»- und Kirchenrechte» ihre Vor­ stellungen von den beiden höchsten Gewalten der Christenheit abzogen, und deren Repräsentanten selbst an ihren nur wenig sich wandelnden Ideen festhtelten. Ein Andere» ist freilich die Theorie, ein Andere» die Wirk­ lichkeit. Wie wenig aber die Entwickelung der mittleren Jahrhunderte von dem Schema, da» Sohm gewählt hat, zusammengehalten wird, wie vollkräftig da» Leben gerade in den nichtdeutschen Nationen pulsirte, ward vorhin angedeutet. In allen Hervorbringungen de» hierarchischen Geiste», z. B. in den Mönchsorden bi» zu den Jesuiten hin, in den Kreuzzügen, dem Ritterwesen, in Theologie, Recht und allen Künsten, haben die romanischen Nationen, vorzüglich die französische, den Vortritt und geben den Ton an. Und obschon damit gewiß nicht geleugnet werden soll, daß diese geistlich­ kriegerische Cultur sowohl den romanisch-germanischen und den ihnen assimtltrten Nationen gemeinsam war al» sich auch allenthalben je nach den Ländern und Landschaften modificirte, steht e» doch fest, daß sich vor allem der romanische Geist in ihr ausgelebt hat. Steg und Herrschaft de» Papstthum» beruhten aber darauf, daß e» den besonderen wie den gleichen Tendenzen der Völker, ihren „Principien der Kultur, Macht und Religion, au» denen e» selbst, wie auch da» Kaiserthum, erwachsen war", so viel besseren Ausdruck, Würde und Einheit gewährte al» die deutschen Kaiser e» vermochten. Sohm freilich erklärt sich Alle» au» der Wechsel­ wirkung seiner drei Begriffe. Zugleich mit der nationalen Entwickelung, mehr und mehr aber sie durchbrechend und verwirrend, geht die Ausbildung der Territorialitäten. Wie stark erheben sie sich bet un» in Deutschland doch schon im zehnten Jahrhundert, innerhalb der Stämme sowie in Reich und Kirche! Und wie mächtig fluthet die Bewegung in der folgenden Epoche durch da» Abendland hin, um sich in den ersten Kreuzfahrten zu entladen und dapn, von

Sine neue Auffassung der Airchengeschichte.

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Generation zu Generation fortschreitend, ihre so vielfach abgestuften For­ men zu finden: geistliche- und weltliche» Fürstentum, Ritterschaft und Orden-wesen zeigen un- in immer neuen Bildungen denselben Zug zur Lokalisirung; in der Entwickelung der Städte findet er einen besonder­ kräftigen Au-druck. Weil sich aber damit eine Nichtachtung de» nationalen und gesammtstaatlichen Charakter-, die Tendenz zu großen, die Landes­ grenzen überschreitenden Organisationen verbinden mußte, so konnte die römische Theokratie sich jetzt erst recht al- eine diese Individualitäten har­ monisch verknüpfende, allbeherrschende Einheit-macht herau-bilden. Sohm gruppirt auch diese Vielheit historischer Realitäten unter seinen Abstraktionen von Staat, Kirche, Bildung. In der Ausbildung der Dom­ kapitel (um ein paar Beispiele herau-zugreifen) sieht er da» Auftreten einer „rein kirchlichen Körperschaft, die den Interessen der staatlichen Ge­ walt weit weniger zugänglich war". Die städtische Entwickelung ist ihm nicht sowohl eine Concentrirung lokaler Interessen, wobei die verschiedensten Kreise vom Kaiser und König abwärts mitzuwirken, d. h. für sich zu sorgen pflegten, al- da- Ausleben eine- neuen, de» „dritten" Stande», den er vom 14. Jahrhundert ab al» den Träger der welthistorischen Entwickelung hinstelltr im 12. und 13. Jahrhundert, da die „Bürgerschaft" sich dem Einflüsse de- Adel» entzogen habe, seien ihre Jnteresien nur wirthschaft, lich bedingt, von dem Horizont ihrer Kirchthürme umschlossen gewesen, während der Horizont von Adel und Geistlichkeit die abendländische Welt gewesen sei; erst mit dem 14. Jahrhundert beginne die aufsteigende Be­ wegung de- dritten Standes. Unter solchen Umständen wird dem Ver­ fasser der Kampf der italienischen Städte gegen die Hohenstaufen, die Geschichte Pisa'- und Amalfi'-, Genua'» und Venedig'», der Antheil der englischen und französischen Kommunen an den Kriegen ihrer Könige und an allen Erschütterungen de» nationalen Leben» (man denke nur an die Albigenserkriege, an Bouvine», an die Magna Charta, sowie an parallele Ereigniffe in Deutschland) von geringer Bedeutung erscheinen. Wie man sieht, verwechselt er da» Aufkommen der Städte, in denen doch wahrlich die verschiedensten Stände ihre Jnteresien vereinigten, mit der populären Erregung, von der ja Deutschland» Städte allerdings erst seit dem 14. Jahrhundert besonder» stark dnrchzittert wurden, und auf welche Sohm dann den modernen, sogar heute höchst schematischen Begriff de» dritten Stande» überträgt. Aber ebenso bekannt ist e», daß ander»wo, z. B. in Italien die analoge Agitation einer früheren Epoche angehört — und wie kann man überhaupt sagen, daß die niederen Klaffen an den großen Im» pulsen de» früheren Mittelalter» nicht Theil genommen hätten! Haben denn die sächsischen Splelleute, deren Lieder un» noch au» Widukind» Mönch-latein

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Ein« neue Auffassung der Kirchengeschichte.

anklingen, die Thaten König Heinrich'- nur auf den Burgen und an den Höfen vorgetragen, und nicht auch vor ihren Volksgenossen in den Dörfern, die mit dem königlichen Herrn gegen die Heiden an der Saale und Elbe oder gegen die fränkischen Nachbaren In da- Feld zogen? Bestanden jene zügellosen Rotten, die einem Peter v. Amien- und Walther v. Habenichts in die nebelnde Ferne de- Osten- folgten, und diejenigen, welche ein Ritter Emicho und antisemitische Geistliche auf die Juden hetzten, nur au- Clerikern und Rittern? Wandte sich Arnold von BreScta mit seinen demokratischen Idealen nur an die Vornehmen? Wer will denn da- Maß der Kraft abschätzen, womit die geistige Erregung die verschiedenen Schichten der mittelalterlichen Gesellschaft ergriff? Nur daß die Empfänglichkeit aller Klassen, und damit auch der unteren für die Ideen de- «Weltalters mit der Zelt größer wurden, da- geistige Leben der abendländischen Nationen von Generation zu Generation sich vertieft hat, ist da- Wahre an jener Behauptung. Nach Sohm ward diese aufsteigende Bewegung durch die Bettelorden hervorgebracht. In denen der dritte Stand zuerst zu Wort gekommen sei, seine Macht geäußert habe. Indem ditse Mönche mit ihrer breiten Dolk-thümlichkeit den aristokratischen Orden alten Stil­ gegenübergetreten wären, die Masse der Nation zum Eintritt In da» Kloster aufgefordert, Gelehrsamkeit und geistliche Art vulgarisirt hätten, wäre da­ adlige höfische Wesen de- Ritterthum- mit seinem Minnedtenst, seiner Poesie, seiner Leidenschaft für Turniere, Kampf und Abenteuer verdrängt, nach kaum hundertjähriger Blüthe gebrochen worden; da- Ideal de- edlen Weltgenufie» habe dem mönchischen Ideal der Weltflucht, die Bildung-ideale der geistlichen, die Welt der Kirche weichen müssen. Hier brauche ich nur eine Stelle au» Ranke'- Weltgeschichte, im achten Bande, au» dem letzten Colleg, da- er gelesen hat, cltiren, um die Verwechselung von Ereignissen und Zeiten, die in solcher Ansicht liegt, so deutlich zu machen, al- es nur immer möglich ist. „Man zieht selten in Betracht", so lesen wir da, „welche reiche Fülle de» Leben» die letzten Jahrhunderte de- Mittelalters in sich schließen, wie viele» von dem ihnen angehört, wa» als da- allgemein Charakteristische jene- ganzen Weltalter- betrachtet wird. Noch war da» Ritterthum — die ideale Genossenschaft der bewaffneten Christenheit — in seiner vollen Entwickelung und Stärke. E» betrachtete sich al- eine Einheit in dem gesammten Europa, al- einen allgemeinen großen Orden. ES führte noch bedeutmde Handlungen au». Die Colonisation der nordgermanischen Länder, vor allem Preußen», ist ein Werk der Ritter, wie sie im Süden da» meiste dazu beigetragen, die Mauren bi- nach Granada zurückzu­ weisen; die Nöbili der italienischen Städte bevölkerten die grlechisch-orien-

Eine neue Auffassung der Kirchengeschichte.

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taltschm Gebiete, der englische Adel Irland, der schwedische und dänische Finnland und Esthland. Auf dem Kampfe de» englisch-französischen Adel» beruht die Geschichte de» Westen», der Adel Frankreich» hat die Selbständigkeit der französischen Nation gerettet." Da» sind alle» wesent­ lich Ereignisse de» 14. und 15. Jahrhundert», ein gute» Stück der europäischen Geschichte — und wie leicht ließen sie sich vermehren! Sohm hat seine Abstraktion offenbar von der Armseligkeit de» deutschen Raubritterthum» und Landadel» gemacht. In der territorialen Entwickelung, welche den Vasallen Luft und Licht beschränkte, ihnen die großen nationalen Ziele, den Zusammenhang mit der allgemeinen Entwickelung verbaute, liegt gewiß da» Hauptmoment für den frühen Untergang de» höfisch­ ritterlichen Wesen» in unserer Nation. So trat auch Italien, deffen Ge­ schicke denen Deutschlands immer analog waren, seit dem Interregnum au» der hierarchischen Cultur mehr zurück; auch seine Bildung territorialisirte sich, freilich um au» sich herau» an den Musensitzen der Re« naiffance eine unvergleichlich edlere und vollere Blüthe zu treiben. Wo aber, wie in dem preußischen Ordenslande, der deutsche Adel in politisch­ starker Genossenschaft großen Aufgaben nachging, da blieben auch in dieser Zeit noch die alten Formen der Bildung lebendig und prägten sich, wenn nicht in der Poesie, so doch in der Historie eigenartig und kraftvoll au». Vollends im Westen Europa» — wie leuchten dort diese Zeiten noch in dem vollen Farbenglanze ritterlicher Lebenslust und Thatenfreude! Wie athmen sie noch in Poesie und Wirklichkeit den Geist, der die Sagenkreise von dem großen-Kaiser Karl und der Tafelrunde des König» Artu» durch­ zieht! Welche Lust am Erzählen in den Geschichten eine» Froiffard, Waurin, Monstrelet und der ganzen Kette ritterlicher Chronisten durch zwei Jahr­ hunderte hin, die seit Joinvtlle mit ihrem Griffel den Abenteuern ihrer fürstlichen Herren von Schlacht zu Schlacht, von Turnier zu Turnier, und von Dame zu Dame folgten! Und welche Pracht de» Schildern»! „Eine Historiographie", bemerkt Ranke, „die an Anschaulichkeit und Anmuth alle» übertrifft, wa» da» Alterthum hervorgebracht hat". Trotz der Grenzverwirrung und Auflösung nun, welche damit die Nationalstaaten ergriff, blieb in ihnen doch die Idee einer Gcsammt« Vertretung lebendig. Gerade in den Ländern, welche abseits von dem Conflikt zwischen der kaiserlichen und päpstlichen Gewalt lagen, in Eng­ land und Frankreich, so auch in Spanien und In den Reichen de» Osten» und des Norden», gelang e» nicht blos der Krone dem Zerfall und der Zerrüttung der Nation zu begegnen — sondern im Wettstreit mit ihr faßten sich die territorialen Kräfte selbst al» ständische Vertretung der Nation zu­ sammen. Etwa» Analoge» vollzog sich, wie bekannt, in Deutschland so-

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Ein« neue Auffassung der Kirchengeschichte.

wohl für den Gesammtumfang de» Reiche» al» für die Territorien, wo Landesherr und Vasallen, konkurrirrnd und oft in heftiger Reibung, dennoch gemeinsam den neuen Staat erbauten. E» geschah überall zum Theil im Einvernehmen mit der Kurie, öfter jedoch im heftigen Gegensatz zu ihr, da sie die alten Ansprüche und Theorien zäh festhielt und noch immer zu erweitern suchte, sowie natürlich unter vielen Schwankungen. Erst wenn wir die» Moment hinzunehmen, gewinnen wir einen vollen Eindruck von der kirchlich-politischen Bewegung de» 14. und 15. Jahrhundert», und von dem Zusammenhang, ja der Einheitlichkeit, die sie trotz der Elemente der Auflösung und der wechselvollen Konflikte behauptet. Denn (um ein Bei­ spiel zu wählen) dieselben Kräfte und Tendenzen de» französischen Staate», welche Bonifaz und Clemens so furchtbar demüthigten und der Kurie da» Exil von Avignon bereiteten, halfen dazu, die Kirche tot Schisma aus­ einander zu treiben und sie in den Concilien von Pisa und Constanz wieder zu einigen und zu organisiren, drängten in Basel zu neuen Reformen und Gewaltschritten gegen Eugen imb sicherten sich endlich im Separat­ vertrag die Vortheile, welche von Anfang an ihr Ziel gewesen waren. Unter dem Zwange der Sohm'schen Kategorien ist freilich von solcher Kontinuität nicht» zu bemerken, zumal er ja, wa» hier besonder» auf­ fetten muß, neben der einseitigen Betonung de» deutschen Antheil» an der Entwickelung, an allen antikirchlichen Erschütterungen der Epoche vor­ übergeht: sie zerreißen vielmehr den Zusammenhang der Ereignisse völlig. So faßt er die conciltare Bewegung Im Gegensatz zu den sie ablösenden Concordatrn al» einen innerkirchlichen Reformversuch auf: „Da» Abend­ land erhob sich zum ReformalionSwerk wie ein Mann, geführt zuerst durch seine geistliche, dann durch seine weltliche Fürstenschaft." Nachdem die Bischöfe, die geistlichen Fürsten in ihrer löblichen Absicht gescheitert wären, hätten die weltlichen in direkter Verständigung mit dem Papst die Heilung der geistlichen Schäden in die Hand genommen, damit freilich den bösen Staat in den Bereich der Kirche hineingebracht und so eine Entwickelung angebahnt, von der sich erst seit der Mitte unsere» Jahr­ hundert» da» rechte Verhältniß zwischen beiden Gewalten und die Wieder­ geburt der Kirche „au» ihren geistlichen Kräften heraus" scheine ablösen zu wollen. Man gewinnt von den großen Parlamenten der abendlän­ dischen Hierarchie im 15. Jahrhundert eine Vorstellung, al» wenn sie so eine Art von Pastorenconferenzen oder auch Generalsynoden gewesen wären. Nun waren da ja aber keineswegs bloß die Diöcesen vertreten, wie auf dem Vaticanum von 1870, sondern ebensowohl da» Collegium der Cardinäle, die großen geistlichen Corporationen der Universitäten (die man freilich nicht nach ihrer heutigen Bedeutung bemessen darf), und vor

Eine neue Auffassung der Airchengeschichte.

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Allem die Regierungen selbst. Man lese nur einmal da» Dacher'sche Fremdenverzeichniß von Constanz, diese Hunderte Namen von Laien und Klerikern, Herzoge, Grafen, Ritter, Professoren, Bischöfe, Patriarchen und Cardinijlc, und die besonderen Titel, unter denen sie da al» Theilnehmer am Concil aufgeführt werden, an der Spitze al» Bogt und Schutzherr der Kirche und ihre» Glauben» der Kaiser selbst; man vergegenwärtige sich Männer wie Gerson, d'Ailly, Zabarella, und die nationalen Gruppen zu Constanz, die Deputationen von Basel. Nicht sowohl die Diöcesen al» die Obedienzbezirke de» römischen Stuhl» sandten ihre Abgeordneten, die Provinzen de» „christlichen Staate»", die national gegliederten Theile der allgemeinen Kirche. Dieselben Bestrebungen, welche daheim in der Zusammenfassung der Territorialitäten zur nationalen Gemeinschaft gipfelten, führten dahin, die Einheit der römischen Hierarchie wieder herzustellen oder zu behaupten; die Bischöfe, die Professoren, auch die Cardinäle beanspruchten meist weniger da» wa» ihr Titel sagte, al» die Rechte und Forderungen der Regierung, der Partei, welcher sie ergeben und verpflichtet waren; alle» war Faktion; sogar die Päpste richteten sich, wie zu allen Zeiten, nach den Machtgruppen ein. Und so spiegelt sich in diesen großen Congressen der abendländischen Christenheit ganz die Un­ ruhe und Verwirrung, welche ihr geistlich-weltliche» Wesen ergriffen hatte. Ein Unternehmen war e» von großer Energie und den Forderungen de» Momente» durchaus entsprechend, aber voll unbezwinglicher Widersprüche, da e» auf universalem Wege erreichen und zugleich conserviren wollte, wa» nur in partikularer Form, durch Schisma und Zerstörung durchzu­ setzen war. E» waren die Jahrhunderte, in denen die Renaissance wuchs und blühte, die Wiederbelebung der antiken Ideale in Kunst und Bildung au» dem Geiste der italienischen Nation. Für Sohm hat, wie wir sahen, diese Bewegung so wenig zu sagen, daß er sie in der deutschen Refor« mationöepoche unterbringt. Trotzdem aber macht er diese Aufklärung für alle Gräuel, welche da» Rom der Borjia» schändeten, verantwortlich: al» ob etwa ein Ezzelino da Romano, der Thpu» aller italienischen Tyrannen, oder die beiden Meffalinen von Neapel, Johanna die ältere und die jüngere, sich au» dem Boden der antlkisirenden Bildung erhoben hätten. Da» Symptom wird mit der Ursache verwechselt, die Thatsachen auf den Kopf gestellt, damit da» Schema bleibe. Brauche ich nun noch zu sagen, wa» die politisch-nationalen Con« stellationen für da» Schisma de» 16. Jahrhundert», die Ausbildung de» neukatholischen und der protestantischen Weltsysteme bedeuten? Die reli­ giösen Ideen, welche die alte Kirche durchbrachen, haben nicht bloß

346

Eine neue Auffassung der Kirchengeschichte.

Staaten, sondern Nationen geschaffen: Holland und Nordamerika beruhen auf ihnen. Da- Bekenntniß prägte die Völker völlig um, tilgte da» angeborne nationale Bewußtsein au» und lehrte seine Anhänger dort Freunde und Vaterland suchen, wo ihr Glaube blühte oder doch ge­ duldet wurde. E» durchdrang die Staaten bi» in da» innerste Mark, trennte und verband, schuf und vernichtete, fesselte die äußere und innere Politik, Sitte und Erziehung, Wirthschaft, Recht und Gerechtigkeit, da» Persönliche wie da» Allgemeine — und ward selbst wiederum nach Zeit und Lage, dem Geniu» der Nation und der großen Nothwendigkeit ge­ mäß tausendfach bestimmt, umgewandelt, fortgebildet. Selbst die hohen Ideale der Kunst und der Wissenschaft wurden von der Confession auf» Neue gebändigt und erhoben sich erst allmählich au» ihren Fesseln zu reineren Formen, ohne doch jemals bi» auf heute dieser ihrer Durch gangSstufe zu vergessen. Unser Autor weiß nach wie vor Alle» auf seine Formeln al» die Wurzeln alle» Dasein» zurückzuführen. Auf zwei Seiten stellt er dar, wie die protestantische, d. h. die deutsch-lutherische Kirche von 1521 bi» 1648 ihr Dasein erkämpft, da» „Reformationswerk" gesichert habe: in dem „pari­ tätischen" Staat de» Westfälischen Frieden» sieht er da» Ziel und die Grund­ lage aller ferneren Gestaltung. Oder auf katholischer Seite: Die Jesuiten (sagt er) brachten durch Predigt und Annahme der humanistischen Bildung den deutschen Katholizismus wieder in die Höhe; da ihnen da» aber nicht rasch genug ging, nahmen sie ihre Zuflucht zur Gewalt und brachten so die Gegenreformation zu Stande, welche im Reich, und ebenso in England, Frankreich und den Niederlanden die hundertjährigen Reli­ gionskriege heraufführte. Daß hier die umfassendsten und tiefstgreifcnden Complicationen der europäischen Politik, eine Unzahl innerer und äußerer, ganz Europa umspannender Gegensätze und Jntereffen mit in'».Spiel kamen, wird dem Leser garnicht zum Bewußtsein gebracht. Daß Sohm der Cultur de» 18. Jahrhundert» nicht wohl will, ist erklärlich; aber daß er Voltaire und Lessing, Kaiser Joseph und unsern großen Friedrich auf eine Seite werfen konnte, war doch kaum zu er­ warten. Da aber diese Männer die Bildung de» Zeitalter», in dem sie lebten, vertraten, mußten sie nach seiner Grundauffaflung ja wohl zusammengebracht werden. Nun darf man allerdings fragen, oh die» Jahr­ hundert wirklich so einheitlich war, wie der Verfasser sich vorstellt, ob die Aufklärung Staat, Gesellschaft, Sitte und Anschauung so durchweg be­ herrscht, die protestantische imb die katholische Kirche gleichmäßig beseelt, Regierungen und Bevölkerungen infictrt und durchdrungen hat. Soviel ich weiß, waren unsere Väter, die sich an Gellert» Kirchenliedern erbauten

Sine neue Auffassung der ikirchengeschichte.

347

oder mit Zinzendorf für den süßen Seelenfreund. 3tfu6 schwärmten, welche Klopstock» Messiade hingebende Andacht und rührenden Leseeifer widmeten (und da» geschah auch nach 1750), garnicht so irreligiös, wenn auch nicht eben durchaus Feinde humaner Bildungsideale: da- Jahrhundert, welche» von den Klängen Bachs und Händel- durchhallt wird, scheint mir den Borwurf trockener Berstande-klarheit, andachtsloser Vernünftigkeit nicht so ohne Weitere- zu verdienen. ES. ist übrigen» dieselbe Zeit, wo noch hin und wieder eine Hexe verbrannt wurde, wo in Thorn polnische Jesuiten deutsche Bürger und Protestanten um ihre- deutschen Glauben» willen auf da- Blutgerüst brachten, wo noch in katholischen und selbst in pro­ testantischen Ländern im Namen der Religion, wie vor Alter-, cassirt und confiScirt, eingekerkert und gar noch geköpft wurde. Zu Abb-ville, in der Heimath Calvin», wurde 1766 ein Jüngling hingerichtet, weil er vor einer Prozession nicht den Hut gezogen und anstößige Lieder gesungen hatte; ein paar Jahre vorher war in Toulouse, in dem alten Hugenottenlande, Jean Cala» in einem gräßlichen Justizmorde dem Religion-haß der von ihren Pfaffen verhetzten Menge geopfert worden. ES geschah in derselben Zeit, wo die Jesuitenhetze eben in den katholischen Staaten in schönster Blüthe stand. Aber erst nach Jahren konnte Voltaire eine Cassation de» Urtheils gegen Cala» durchsetzen; und in Abböville erreichte er mit all seinen Bittgängen und Anklagen, seiner Satire und Rhetorik, und mit dem besten Willen (er, der an allen Höfen geliebte, angebetete Patriarch der Aufklärung!) nicht»; denn wa» dort geschehen, war Rechten». Er selbst hatte vor nicht langer Zeit fliehen oder sich verbergen müssen, seine Schriften waren auf öffentlichem Platz vom Henker zerrissen und ver­ brannt worden. So ward auch Rousseau von Land zu Land gejagt. Diderot mußte al» Materialist und Gottesleugner mit Vinrenne» Bekannt­ schaft machen, Helvetiu» trotz vornehmster Beziehungen widerrufen. In Deutschland ward da» fürstliche Reformation-recht bi» etwa 1750 noch allerwegen auSgeübt; erst seitdem sind unsere confessionellen Jnnengrenzen fest geblieben und haben sich bisher kaum verändert, so daß die ultra­ montane Partei von heute genau den katholischen Landesgrenzen im lieben heiligen römischen Reich entspricht. Denn wenn.auch seit den letzten großen CoalitionSkriegen gegen Ludwig XIV. die europäischen Constellationen sich nicht mehr nach den Confessionen gruppirten, war da- Innere der Staaten doch fast durchweg noch von ihrem Geist zusammengehalten, die Verfassungen, ja da» Recht der Unterthanen selbst an den Ehren und Vortheilen de» Staate», ihr Antheil an seiner Macht durch da» Bekenntniß gefesselt. Auch sahen wir ja, wie furchtbar die Gluth düsterster Leiden­ schaften noch au» den vom Staat gebändigten Massen emporschlagen konnte:

348

Eine neue Auffassung der Kirchengeschichte.

so waren die Nationen in ihrem Grunde noch ganz von dem Geiste deS reformatorischen Zeitalter- getragen, und Millionen fanden in den engen Kreisen ihre- Glauben- Alle- was sie an Innigkeit und Idealität deS Leben- begehrten. Darüber hin nun freilich mehr und sich auSdehnend die großen Wahr­ heiten de- Naturerkennens, die philosophischen Welterklärungen, der Drang nach edleren Formen in der Sphäre de- Schönen — geweckt/ genährt, fortgetrieben durch die immerhin sichtbare Abschwächung de- konfessionellen Eifer-, durch die zahllosen Widersprüche und Unvollkommenheiten deS geistigen und sozialen Leben-, den vordrängenden Ehrgeiz der unteren ihrer Kraft - und ihre- Werthe- bewußten Schichten: und so entsteht jene Richtung der Geister auf Reinigung der überlieferten Borstel­ lungen und Zustände, auf Ausbildung ihrer natürlichen, allgemein­ menschlichen Kräfte und Ziele, welche sich selbst al- die Aufklärung be­ zeichnet hat. Aus den verschiedensten Säften gemischt, war sie von der verschiedensten Wirkung: hier zersetzend wie Gift und dort eine Kraft, welche die edelsten Früchte zeitigte. Wer nur den Blick au- der Enge allgemeiner Begriffe auf die Einzelerscheinungen zu richten vermag, wird sogleich wieder die Fülle der Modifikationen bemerken. Wa» Sohm von den Bemühungen der durch die Aufklärung er­ zeugten Omnipotenz de- Staate- vorbringt, da- wa- man al- den auf­ geklärten Absolutismus bezeichnet, ist überhaupt nur — sehen wir recht zu — eine kleine Theilerscheinung der Politik jene- Zeitalter»: die Re­ formen sind e-, welche in den Jahren seit dem siebenjährigen Kriege in der Mehrzahl der alten Staaten versucht wurden; die Bestrebungen dieser Regierungen, ihre auf nationale Einheit gerichteten Tendenzen gegen die in Kirche und Gesellschaft sie einengenden prtvilegirten Kreise durchzudrücken; also ein neuer Schritt auf. dem Wege, der sie von An­ fang an zur Macht und an die Spitze ihrer Nationen geführt hatte. E- geschah allerdings durchweg mit Hülfe jener geistigen Strebungen, in kecker Zuversicht und hohem Machlbewußtsein, aber zugleich auf dem Grunde unabweisbarer Bedürfnisse und im Angesicht der sonst unvermeid­ lichen Ohnmacht. Joseph II., den Sohm neben Friedrich dem Großen allein nennt, und desien Reformen den Geist der Aufklärung besonder- athmen (obschon selbst sie nur wieder die überlieferten Traditionen de» habsburgischen Ehrgeize- modtfictrten), war doch nur Einer unter Bielen. Wir können neben ihm Choiseul, Turgot und Recker, Tanucci und Aranda, Struensee und Gustav III. nennen: in katholischen und protestantischen, romanischen wie germanischen Staaten de- Conlinent- tauchen diese Absichten auf.

Eine neue Auffassung der Airchengeschichte.

349

Hier und da auch in Deutschland, sowie in Polen; und selbst Katharina von Rußland, deren Politik sonst wahrlich

anderen Zielen

zum Siege

half, konnte es sich nicht versagen, in glänzenden Demonstrationen diesem

Den Vortritt- aber hatten die katholischen

Geist der Epoche zu huldigen.

unter ihnen die bourbonischen Höfe, welche, von dem pro­

Mächte, und

testantischen England eingeengt und im Innern

durch

die privilegirten

Klassen hundertfach gehemmt, sich auf die lockende, gefährliche Bahn drängen ließen.

ZersetzungSerschetnungen

der alten zumeist

katholischen Staäten

waren eS, tief begründete Nothwendigkeiten ihrer Geschicke.

Ihre Voll­

endung fanden sie jedoch zunächst nur an einem Orte, in Frankreich, wo

die Macht der Aufklärung au» dem Schooße der geistvollsten Nation her­ vorgegangen, eine Schöpfung ihre- Genius war.

Da schlugen die Re­

formen in die Revolution um, und in einem Meer von Blut versank der

alte Staat sammt Krone und Privilegien.

Da hatten jene Geister, jene

idyllisch-friedfertigen Ideale Form gewonnen, welche lange wie Luftgestalten

über der gährenden Welt geschwebt hatten: Entsetzen und Verwüstung hatten

sie verbreitet. Aber waS bei dem Anblick der Zerstörung Niemand glauben konnte: aus der Vernichtung erhoben sich gewaltigere Kräfte, und hinein­

gezogen in den allumfassenden Wirbel erfüllte sich Nation auf Nation aus

der Tiefe ihres Daseins mit neuem, machtvollem Leben: da» Antlitz Europa» wandelte sich um, und eine neue Welt, unser Jahrhundert trat an» Licht. Sohm,

der die Revolutionszeit so gut wie überspringt, rühmt —

tolerant wie

er ist — der Aufklärung doch einen großen Erfolg nach,

der

sie mit den haltbarsten

Zeit verbinde:

unserer

und zukunftsreichsten Schöpfungen

eben den Begriff der Toleranz

habe sie hervorgebracht.

Die katholische Kirche sei grundsätzlich intolerant, die protestantische habe

Anwandlungen dahin gehabt; mit der Aufklärung aber habe die Idee der Toleranz gleichen Schritt gehalten:

in der zweiten Hälfte de» 18. Jahr­

hunderts sei sie in Deutschland durch Friedrich den Großen und Joseph II.,

in Frankreich durch die Revolution inscenirt; die Erklärung der Menschen­ rechte habe die Freiheit des Cultus verkündigt und somit den Hugenotten

für die Aufhebung des Ediktes

von Nantes Genugthuung

gegeben; und

heute feien nun das Recht unserer Culturstaaten und die Ueberzeugungen der

gebildeten Menschheit ganz von dem großen Gedanken getragen. War denn aber jene

die Aufklärung

Schiffsladungen voll

Meere und allen Elementen Preisgaben, den Orden von so

wirklich

so

duldsam?

Zeugen

Jesuiten, welche Pombal und Aranda dem

und alle die Maßregeln gegen

großer Schonung gegentheiltger Meinungen?

War

Joseph tolerant, wenn er Hunderte von Klöstern aufhob und alle Priester

seiner Staaten

zwang, sich

in Lehre und Leben der Idee seiner Politik

350

Eine neue Auffassung der Kirchengeschichte.

zu conformiren? WaS bedeutet überhaupt die- vielgepriesene Wort in der Geschichte? Ein confession-loser Staat war für Luther der Gegen­ stand deS Abscheues, schlimmer fast als der der Türken und des Papstes. ES ist wahr, er betrachtete die Landeskirche als Nothdach für daS freie Evangelium (wie schließlich jede kirchliche oder staatliche Form), als Er­ ziehungsanstalt zur seligen Freiheit deS Christenmenschen. Aber die erste Pflicht der Obrigkeit war ihm die Freimachung der Predigt und die Auf­ richtung der Sakramente, im Sinne seiner und keiner anderen Confession, nicht einmal der Sakramentirer, geschweige denn der Papisten: nimmer­ mehr kann man. aus seinem Ideal heutige Bestrebungen gegen die Landes­ kirche Herletten. „Gott hat", so erklärten die Presbyterianer in der eng­ lischen Revolution, „im alten Testament keine Duldung gestattet, und da­ neue verlangt von un- Christen dieselbe Einheit wie da- alte von den Juden". „Hätte der Teufel die Macht zwischen den Cäremonien und der Liturgie oder der Toleranz, er hätte sich für diese erklärt": „Lieber wollen wir im Grabe sein al- diese nicht zu tolerirende Toleranz haben". Der alte Gothenkönig Theoderich war tolerant: wie hätte er e- wagen dürfen, mit seinen wenigen Tausenden germanischer Krieger die Intoleranz der Vandalen nachzuahmen! Georg Podiebrad duldete (in späteren Jahren wenigsten-) die Katholiken: denn er bettelte bei den alten und constituirten Mächten um Zulassung in den Verband der Hierarchie. John Milwn und John Locke predigten die Toleranz und ein Ideal freier Glaubens­ formen: die Papisten aber schlossen sie auS. John Toland verkündete mit der Miene des Propheten ein neues Reich der Denkfreiheit: doch gab er ihm alsbald die beengende Form deS Cultus. Hobbe» aber gründete sein Staat-ideal deS Materialismus auf da- strikte Gegentheil der Toleranz. Wir selbst im neuen Deutschen Reiche waren tolerant gegen die Sozialisten, bis • sie aus unsern Kaiser schoflen: da machten wir Gesetze gegen sie und ihre Lehre. So lange der Staat da- Ver­ trauen hat, daß die Strömungen, in denen seine Fundamente stehen, ihn nicht erschüttern werden, ist er tolerant: auch die katholische Kirche kann tolerant fein; immer hat sie von Amt-wegen die Juden tolerirt; doch pflegt sie bald zu fürchten, daß die Geister, welche ihre Göttlichkeit ver­ neinen, die Mauern der GotteSstadt unterwühlen möchten. Toleranz kann Kraftgefühl sein und Kraftbethätigung, doch auch daS Gegentheil. Da­ ist die echte Toleranz des Staate-: den Geistern allen, der Einzelseele im gläubigen Vertrauen auf die Ewigkeit seiner Fundamente so die Bahn zu öffnen und zu sichern, daß sie in den friedeschirmenden Ordnungen ihres Vaterlandes freien Zugang gewinnen möge zu den höchsten, reinsten, von aller Erdenschwere lo-gelösten Hoffnungen.

Eine neue Auffassung der Kirchengeschichte. Sonderbar, daß

351

unter den reformirenden Monarchen der Epoche

nach dem Hubert-burger Frieden da« glänzendste Gestirn der Aufklärung,

auf dem Throne, daß Friedrich der Große unter ihnen fehlt.

Während

die Andern rüstig vorwärts schritten, niederrissen und aufzimmerten, war er, der bewundernde Freund Voltaire'-, der skrupelloseste Philosoph, nur darauf bedacht den durch furchtbare Stürme hin mühsam geretteten Staat

gegen Außen wie im Innern in Ruhe zu erhalten, so wie sein Vater ihn gebaut

Aengstlich

hatte.

suchte

er die kastenartlge Gestaltung der po­

litisch ohmächtigen Stände zu konserviren, die Vorrechte de- Adel- in der Armee und an den Landgütern (selbst die Frohnden ließ er ihm, wenn auch

ungern), die Hinwendung der Bürger Bauern auf

ihren Acker, auch

aus Handel und Gewerbe, der

die innere Verfassung

der Landschaften,

und besonder- die Eigenart der kirchlichen Corporationen.

So war seine

Toleranz: mochten sie Alle nach ihrer Fa-on selig werden, wenn sie ihm

nur da- Recht gaben, e- nach der seinen zu versuchen.

Ihm bot sich dazu

die Philosophie, und mehr noch die Poesie und da- ganz Persönliche Vol­

taire'- — al- der Genuß arbeitsfreier Stunden und der Schmuck seine- der

Pflicht gewidmeten Leben-, und nicht- außerdem.

Denn an sein Innerste-,

geschweige denn an seinen Staat, kam auch der Vielbewunderte und wa-

er lehrte nicht heran.

Und die Philosophie, die Preußen» Friedrich in

den dunkelsten Stunden tröstete, hatte wohl mehr mit dem Glauben seiner Kindheit gemeinsam al- seine hohen Worte zu lauten schienen. Merkwürdigste Erscheinung: einer der größten Deutschen aller Zeiten,

der Begründer unsere- Staate», ein Mann, der dem Namen Preußen in der Welt den hellsten Klang verschafft hat; in einer Epoche, wo Deutsch­ land- Genius die Schwingen regte, auf dem Gebiete gerade der Literatur,

ästhetischer und philosophischer Gedankenarbeit, und ohne Frage unter dem Einfluß der preußischen Siege; ein Heros anstürmender wie duldender Kraft;

befreit von den Schranken der Tradition, doch in der Aetherhöhe der Philo­

sophie voll Gefühl und Weichheit, deutsch in den Geboten der Pflicht, der Arbeit, der Ergebung — und während da- deutsche Leben um ihn, sa unter

seinen Händen ring- in die Saaten schießt, bleibt er einsam und verständnlßlo» für die in den confessionellen Schranken noch so lebensvolle und innige Frömmigkeit, für die'eben sich emporringende granitene Kraft deutscher

Philosophie, für den zur Sonnenhöhe der Schönheit emporstrebenden Adler­

flug der deutschen Dichtung: mit harten, wegwerfenden Worten tritt er den Versuchen,

die Muttersprache zu formen, zum Organ der Schönheit

und de- nationalen Empfinden- zu machen, bi- an- Ende entgegen; einem

Mose- gleich meint er au» der Ferne da- gelobte Land zu ichauen, wäh­ rend ring- die goldnen Früchte schwer herniederhangen. Preußische Jahrbücher. Bd. LXI. Heft 4.

25

352

@hte neue Auffassung der Kirchengeschichte.

Doch ich halte inne. Denn wollte ich noch weiter gehen und zeigen, wie der Berfasser auch in unserem Jahrhundert überall die Farben ab­ schöpfen und für da» strömende Leben halten möchte, da» Symptom für die Ursache, den Theil für da» Ganze, und wie er immer an dem Aus­ schlaggebenden, den politisch sich formenden Kraftverhältnissen der Nationen und ihren Kämpfen achtlos vorübergeht — ich müßte ihm jede Zeile zerpflücken. Seiner Tendenz zu Liebe spaltet er die Ereignisse, die Persönlichkeiten der Geschichte selbst wie seine juristischen Begriffe. Wo giebt e» eine Natur, trotz aller selischen Verwirrung einheitlicher im letzten Grunde ihre» Wesen» und Wollen» al» Jean Jacque» Rousseau I So schildert er sich selbst: in tausend Widersprüchen, Bedürfnissen, Fehlern, Wünschen immer der Eine: Mensch, Natur, er selbst, Geschöpf Gotte», ursprünglich gut und zum guten, natürlichen, brüderlichen, freien Leben im Lichte der Vernunft mit guten, natürlichen, geliebten Menschen ge­ schaffen. Sohm aber reißt auch ihn auseinander: mit seinem religiösen Ideal setzt er ihn in die französische Revolution, mit seinem Naturevangelium (wer sollte e» glauben!) in da» 19. Jahrhundert, al» den Vater der deutschen Romantik. Hier findet auch Goethe seinen Platz — al» Ver­ fasser de» Götz und Werther; sonst wird er nicht erwähnt, und von Schiller ist überall keine Rede. Und so kommt der Autor zu dem aben­ teuerlichen Schluß, den Materialismus al» die Weltanschauung von heute, al» eine Schöpfung unserer Generation, der Generation de» neuen deut­ schen Reiche», al» da» Ergebniß der „glaubenslosen" Bildung und al» den Feuerpfuhl herzurichten, in dem sie und mit ihr die Menschheit rettungslos versinken wird, wenn wir nicht alle zu den „positiven" Formen de» Evan­ gelium» zurückkehren. E» liegt mir wahrlich fern, Sohm jenen Kämpfern für „Wahrheit, Freiheit und Recht" zuzurechnen, welche er selbst sich al» Mitstreiter gegen die Bildung unserer Zeit gesellen möchte. Aber dennoch zeigen sein Ziel und seine Wege eine bedenkliche Verwandtschaft mit den modernen Ver­ tretern pseudoisidorischer Beweisführung. Der Wahrheit werden sie nicht» schaden. Auch die Geschichte wird sich schwerlich durch sie aufhalten lassen. „Die Weltgeschichte", sagt Sohm ebenso schön wie wahr, „läßt sich nicht betrügen." Dennoch aber müssen wir darauf achten, daß man die doch so sichtbaren Grenzsteine zwischen Wissen und Glauben nicht verrücke, »nd darum hielt ich e» für meine Pflicht, diesen Grenzgang anzustellen.

Ueber die Dichtersprache. Bon

K. Bruchmanu in Berlin.

Wollen wir wissen, wodurch sich ein Dichter von einem profanen Menschen unterscheidet, so müssen wir, -da doch die Dichter allein daDichten verstehen, sie selbst fragen, wenn wir ihnen nicht Unrecht thun wollen. Denn weder hören gewöhnliche Menschen den lastaltschen Quell rauschen, noch erfreuen sie sich der näheren Bekanntschaft der Musen, mit welchen Dingen hingegen der Dichter trefflich Bescheid weiß. Der Busen deS gewöhnlichen Menschen wird nicht von jener genialischen Begeisterung geschwellt, welche zuweilen so wild am Herzen deS Dichters reißt und un» ist die Witterung deS bereit» für uns entsproßten apollinischen Lorbeer­ versagt, welchen der Dichter ahnungsvoll für sein Haupt bereit sieht. Nuu haben sie un» von ihren Freuden und Leiden oft genug erzählt; e» kommt blos darauf an, diese Geständnisse zu verwerthen, in der Voraus­ setzung, daß dadurch kein ungünstige» Licht auf die Dichter fällt. • Wenn uns daher einer belehrt, daß Poesie tiefe» Schmerzen sei (denn e» kommt da- wahre Lied einzig au» dem Menschenherzen, da» ein tiefe» Leid durchzieht), so lasten wir da- bei Seite; e- ist zu traurig. Ein anderer dagegen, welcher von der Poesie und von sich selbst al- einem ihrer Vertreter mit gebührender Hochschätzung zu reden weiß, versichert un-, daß die Lampen de- Himmel» mit dem letzten Dichter auslöschen. Die- ist schon mehr und bester; allein seine Meinung wird erst erschöpft, wenn wir andere, weniger orakelhafte Aeußerungen in Betracht ziehen. Da hören wir denn, daß die Hand deS Dichter- Alle- in den Ocean der Schönheit taucht. Er besitzt also die Fähigkeit, Alle», wa- er darstellt, schön darzustellen. In der That, eine ebenso bezeichnende, wie seltene Fähigkeit. Aber wie, wenn alle» da», wa- er darstellen kann, nur wenig wäre, nur eine kleine Auswahl besten, wa- in unserem Geiste lebt? So ist c» nicht; vielmehr:

354

Utter die Dichtersprache.

wen die Natur yim Dichter schuf, den lehrt sie auch zu paaren da» Schöne mit dem Ätiftigen, da« Neue mit dem Wahren; dem- leiht sie Phantasie und Witz in üppiger Verbindung und einen quellenreichen Strom unendlicher Empfindung; ihm dient, wa» hoch und niedrig isi, da« Nächste wie da- Fernste, im leichten Spiel ergötzt er un« und reißt un« hi» im Ernste: sein Geist, de» Proteu« Ebenbild, ist tausendfach gelaunet, er lockt der Sprache Zierden ab, daß alle Welt erstaunet! Er weiß, daß nach Leonen noch, wa« sein Gemüth erstrebet, im Mund verliebter Jünglinge, geliebter Mädchen lebet; indeß der Zeit Pedanten längst, verwahrt in Bibliotheken, vor Staub und Schmutz vermoderten, al» wurmige Scharteken. Mit dieser Charakteristik de- Dichtergeistes dürften alle Dichter zu­

frieden sein, wenn sie auch wissen, daß die stumpfe Welt von der gedul­ digen

der Bibliotheken,

Eigenschaft

Bücher

Im Staube zu Scharteken

werden zu lassen, einen frevelhaft au-gedehnten Gebrauch zu machen liebt. Im Bauch der Nimmersatten Bibliotheken ruhen dann die Brillanten (wie

jener artige Journalist in Frehtag- Lustspiel die Funken seine» Geiste»

nennt) gleich den Krystallen im verschwiegenen Schoße der Erde, bi» ein Finder und

Forscher sie

au-gräbt, damit ihr reinliche»

Funkeln die

Menschen erfreue.

Also neu und wahr, phantasievoll und witzig, unendlich empsindnngS-

er benutzt da» Hohe und Niedere, von der Ceder

voll ist der Dichter;

bi» zum Isop, Nahe» und Ferne», macht un» froh und ernst und über-

rascht unser Ohr durch den Klang, die Fülle und Mannichfaltigkeit seiner Wer könnte die Wahrheit verkennen, daß die sprachliche Form

Sprache.

Er hat den Rhythmus, den

ein wichtige» Mittel für den Dichter ist?

Reim, er sucht sich klangvolle Wörter au» und taucht die gemeine Wirklichkelt der Dinge

in den Ocean der Schönheit.

Oder wäre e» uns

gleich, wenn wir manchen theuren Bestand unserer Erinnerung in Prosa

besäßen, statt in anmuthigen Versen?

Wenn un» jene große Wassers­

noth in der alten Seestadt Leipzig (al» Mensch und Thiere feste schliefen)

in hausbackener Prosa überliefert wäre,

oder jene grausige That de»

Frtedrich Wilhelm Schulze an seinem Weib Marie? Chronist von den Hussiten vor Naumburg,

Römern In Kunigunde

glauben

Deutschland» Norden nur

in Prosa geseufzt

können, daß

berichtet hätte?

hätten?

Wenn un» nur ein

ein anderer von den frechen

Wenn Eduard und

Wir werden e» also wohl

die Dichter (wie auch andere Künstler z. B. die

Maler*) besonder» empfindung-voll sind und daß die», noch von Reim

*) Die ihre Eichenkraft zuweilen mit duftigen Rosen bekränzen.

Ueber die Dichtersprache.

355

und Rhythmus abgesehen, auf ihre Sprache Einfluß hat, ja daß eben diese sprachliche Form Bedingung ihre» Wesen- und ihrer Wirksamkeit ist, wie denn Goethe einmal behauptete, daß alle» Poetische rhythmisch behandelt werden sollte (Brtefw. m. Schiller I S. 391 vom 25. Nov. 1797), daß Poesie erst durch Rhythmus und Reim zur Poesie wird (Leben III, 11; Band IV S. 181 der Werke In 6 Bänden) und daß e- beinahe magisch ist, daß etwa», da» In dem einen Sylbenmaße noch ganz gut und charakteristisch ist, in einem andern leer und unerträglich scheint (Werke IV, 591, 6. Juni 1797 au» einer Reise in die Schweiz). Allein da» gehört zur äußeren Form. Mit ihr vereinigt sich zur poetischen Wirkung die innere Form, für welche wir, soviel Bücher wir auch aufschlagen mögen, keine ausreichende Definition angeben können. Vielmehr begegnen wir dem Geständniß von der Unmöglichkeit Poesie und Prosa durch eine scharfe Definition zu trennen, schon in der Ausstellung. solche» Zwitter­ dinge», wie der poetischen Prosa, sodaß sich hier wiederholt, wa» auch sonst vor Augen liegt, daß e» nämlich Mittelgebiete giebt, welche sich der Einordnung in benachbarte Kreise widersetzen. In der Natur gehen Pflanze und Thier in einander über, sodaß wir noch keine scharfe Defi­ nition für beide haben. In den Wiffenschaften gibt e» Grenzgebiete zu gemeinsamer Bethätigung mehrerer; im praktischen Leben gehen Hand­ werk und Kunst in einander über und die politischen Parteien lassen sich durch gedruckte Programme nie scharf von einander absondern. Da nun alle Sprache Ueberlieferung ist, so ist auch die Dichter­ sprache an die Ueberlieferung gebunden, obgleich wir grade von ihr ver­ langen, daß sie un» durch ihre Zierden In Erstaunen setzt. Ist sie daher einerseits schöpferisch und neu, so zeigt sie andererseits eine erstaunliche Pietät in der Erhaltung alter Brillanten (um unsern Ausdruck beizube­ halten), deren Gebrauch in der gewöhnlichen Rede au» doppeltem Grunde wunderlich erscheinen würde. Ersten» weil e» nicht Mode ist, in Prosa so zu reden, zweiten» aber, weil jene Redewendungen un», genau ge­ nommen, unverständlich sind. Sie besitzen nämlich für un» nicht mehr den ursprünglichen Sinn und Werth, werden aber trotzdem gern gebraucht und gehört. Darin spricht sich eine doppelte Neigung de» menschlichen Geiste» au». Wir wollen -ar zu gern gewisse Ueberlieferungen, welche bequeme Formen und Formeln geworden sind, beibehalten und lassen un- an­ dererseits gern vorübergehend blenden von einer Sprachzlerde, deren Sinn wir kaum verstandesmäßig aufnehmen, sondern vielmehr al» ein schnell aber angenehm verpuffende» Feuerwerk genießen, wenn nur der Dichter versteht, e» bet der richtigen Gelegenheit lo-zubrennen.

356

Ueber die Dichtersprache.

Die Ueberlieferung ist nun eine doppelte; entweder innerhalb eines

Volkes z. B. innerhalb der deutschen

Literatur,

oder innerhalb eines

ganzen geschichtlichen Stromes z. B. der asiatisch-europäischen Geschichts­ entwicklung.

Die Abhängigkeit der Dichtersprache von der Ueberlieferung

besteht sowohl darin,' daß eS überhaupt Sprache ist, als auch darin, daß einzelne Wendungen ihr sie gegen die Prosa unterscheidendes

bestimmte,

Merkmal sind.

Da die Dichter mit Liebe darstellen,

dabei allen Glanz und alle Pracht dessen,

erscheint aus Natur und Leben.

so verwenden sie

was ihnen am werthvollsten

Die Natur ist sich nun so ziemlich gleich

geblieben; nicht so dasjenige, was wir im Leben zu schätzen geneigt sind. Aber trotzdem bricht sich die Natur auch gar verschieden im Dichtergeist,

sodaß ihre Schönheit keineswegs, gleichmäßig für die dichterische Sprache verwerthet wird.

Da alle Poesie zur Befriedigung des Gefühls da ist, einem Bedürfniß des Menschen entspringt, so Menschen

lehrt auch

also offenbar sie, daß

die

ihre Bedürfnisse in sehr verschiedener Weise befriedigen und

daß bei aller sonstigen Gleichheit (z. B. des Hungers und der Liebe) doch der Antheil

des Gemüths

an den Dingen als

ein räthselhafter Rest

übrig bleibt*), welcher den Völkern das Ansehen von Individuen verleiht.

Hieraus folgt, daß sie, analog wie der Einzelne, sich sowohl von einander durch ihre Empfindungsweise überhaupt als auch innerhalb ihrer eigenen Entwicklung nach der Zeit unterscheiden.

Freilich werden wir dabei das

leere Schema von Kindes-, Jünglings-, Mannes- und Greisenalter des

Menschengeschlechts nicht anwenden; vielmehr behaupten, daß die Geschichte allemal sowohl alt als jung gewesen ist und daß sie, die unabsehbare, nur durch Glaube und Ahnung begrenzt werden kann, wie durch jenes ästhetisch anregende und sittlich werthvolle Bild, wonach sie vom Paradiese

ausging und durch daS Paradies abgeschlossen wird.

Der allgemeine Charakter aller Poesie ist Steigerung.

AuS gestei­

gerter Lebensempfindung ist sie entstanden und Hal immer den Zweck unser LebenSgefühl nach irgendeiner Richtung zu steigern.

wir darum bei Gelegenheiten auf,

Lebens steigernd unterbrachen.

Ihre Anfänge suchen

welche den gewöhnlichen Verlauf des

Sie sind entweder innerhalb der Familie

zu finden, indem die Empfindungen rein menschlichen Dingen zugewendet waren, oder innerhalb der Gemeinde, wenn sie ihr wichtige, weltliche oder

religiöse Vorkommnisse

und Bedürfnisse zu behandeln hatte.

Zu jener

Zeit dichteten die Menschen ohne Papier und Tinte und der Liederdichter *) S. darüber z. B. Pesch el, Völkerkunde S. 516 der dritten Aufl. Lotze, Mikrokos­ mus III 98 f. der zweiten Aufl. Th. Waitz, Anthropologie I S. 384, 409 und 428 der zweiten Aufl.

Ueber die Dichtersprache.

357

tomftete nicht auf den Komponisten, der ein Buch von Liedern in Musik setzen sollte.

Vielmehr halte auch die poetische Befriedigung jenen Zug

primitiver Verhältnisse an werden.

sich,

schnell erzeugt und schnell genossen zu

Bei unS lagert Poesie mitunter gleichsam zu Steinkohlen ab,

die manche Leute konservirte Sonnenstrahlen nennen; dort wärmte sie un­ mittelbar beim Entstehen und verrauchte mit der festlichen Stunde, welche

sie geboren hatte.

Dort also zeigte Poesie einen verständlicheren Werth,

insofern sie ungesucht entsprang und sofort genossen wurde.

Daß sie bei

unS in Büchern aufgespeichert wird, hat natürlich auch seinen Grund; doch ist eS schwieriger ihren national-ökonomischen Werth (für den Geist)

hier festzustellen.

Dichtete und sang man ehemals beim häuslichen Fest,

bei der Vermehrung der Familienfreude durch einen Sprößling, bei einer

hoffnungsvollen Eheschließung,

nach Besiegung der Feinde,

zum Preise

der Götter, so schließt sich jetzt der Dichter in seine Korhkische Grotte ein, als welche sich durch

eine angenehme, dionysisch

erregende Atmosphäre

empfiehlt. Indessen Poesie bleibt Poesie und wie sich unter neuen Formen in

der Geschichte oft

alte Bedürfnisse verstecken,

dürfnisse der Poesie

im Grunde

so bleiben auch

die Be­

alt, wenngleich die Formen wechseln.

Und ihr Bedürfniß ist Steigerung.

Diese Steigerung der Natur und

deS menschlichen Lebens ist mit

erfinderischer Betriebsamkeit auf Alles gerichtet, was

stand der Darstellung werden kann.

überhaupt Gegen­

Der Mensch, welchem manche natür­

lichen Eigenschaften abgehen,,wird gesteigert durch die.Natur; die Natur, welche nichts Menschliches hat, wird gesteigert durch Menschlichkeit.

So wird der Mensch, in der gewöhnlichen Erfahrung ohne diese

Zierden, auSstaffirt durch Farbe und Glanz der Natur,

durch die Kraft

der Thiere, durch den wirkungsvollen Wuchs oder den herrlichen Duft

einiger Pflanzen.

Seine Leistungen werden erhöht,

verblüffenden Wundern.

seine Erlebnisse zu

Die Natur dagegen, nicht gut und nicht schlecht,

nicht fromm und nicht gottlos, überhaupt ohne Empfindung,

belebt sich

unter den Händen deS Dichters mit einem verwandtschaftlich anheimelnden Funken des menschlichen Gemüths, welches ihre stille und unveränderliche Zuverlässigkeit so gern durch die köstliche Eigenschaft der Sympaihie für

sich werthvoller machen möchte, um hier im reichen Strome zu genießen, was sonst nur in kärglichen Rinnsalen zuzufließen pflegt.

Herz ist erst befriedigt,

Des Menschen

wenn sie mit ihm trauert und fröhlich ist und

wenn auch in ihr mächtig die Flamme lodert, welche seinen Busen wohl­ thätig erwärmt oder marternd verzehrt.

So befriedigt sich der Mensch

durch ein Tauschgeschäft, indem er die Natur menschlich, den Menschen

358

Ueber die Dichtersprache.

natürlich anmatt; um so die häßliche Nothdurft der kahlen Wände, zwischen denen er Hausen muß, wohnlicher zu machen. Freilich würde die Dichtersprache sowohl wunderlicher al» auch schwerer genießbar erscheinen, wenn sie nicht an einige Gewohnheiten der alltäg­ lichen Rede anknüpfen könnte. Die von unS gar nicht so selten in der Prosa de» Umgang» beliebten Uebertreibungen sind eine Eigenheit, deren höhere» Gegenstück in der Poesie dem nämlichen Zuge menschlicher Mit­ theilung seinen Ursprung verdankt. Nur daß einmal diese« Kind unsere» Geiste» in wochentägltcher Arbeitskleidung erscheint, da» andere Mal durch ein festliche» Gewand verschönert wird. Die Ergebnisse jene» Tauschgeschäfte» haben wir un» nun an einer kleinen Auswahl von Beispielen vor Augen zu führen. Wir durchstreifen da» Gebiet zu diesem Zweck nach sechs Richtungen, welche sich wie die Radien de» Kreises im Mittelpunkt vereinigen. Dieser Mittelpunkt ist jene Werthveränderung durch Tausch, jene Steigerung durch entlehnte Eigen­ schaften, jene Umformung verstandesmäßiger Wirklichkeit in poetische Wahrheit. I. Gretchen- Erfahrung, daß die Welt am Golde hängt und nach ihm drängt, Wallensteins Bemerkung über das allgeschätzte Gold (Wallen­ steins Tod II, 2) empfinden wir ohne weiteres als herbe Wahrheit. Wir wtffen ferner, daß Gold ein TypuS deS Werthvollen ist und auch in der gewöhnlichen Rede hören wir z. B. ein Kind von feiner Mutter al» gol­ denes Kind bezeichnen oder wir lesen, daß Jemand goldene Worte gesagt hat. Der Dichter dagegen braucht den Glanz dieses Beiwortes verschwen­ derischer. Pindar z. B. bezeichnet den natürlichen Oelzweig, welcher zum Siegeskranze gewunden wird, als golden; er spricht von goldenen Kindern der Themis, welche» Recht und Friede sind; er nennt den zum Haar­ schmuck verwendeten Lorbeer golden; die Nereiden, die Siegesgöttin, die Musen sind golden. Goethe nennt da» Thal golden, in welches die Quelle von Parnaß herabsprudelt (Iphigenie III, 1). Platen (III 64) sieht hoch. In ungeheurer Ferne, den lieblichsten, den goldensten der Sterne funkeln. Goldene Mädchen, goldene Thäler finden wir im Volksliede (Herder, Volkslieder, Werke bet Weidmann XXV, S. 410 und 605). Th. Storm versichert un» (Im Walde), daß ein liebe- Mädchen die goldenen Augen der Waldeskönigin hat. Vergil (wie der gewissenhafte Deutsche jetzt statt Virgil sagt) nennt den Saturn golden (Georg. II, 538), weil man ihm das goldene Zeitalter verdankt, Lucian (III S. 403) ver­ mittelt un» einen DtchterauSdruck, daß e» einst sogar „goldene Menschen" gegeben hat, welche von Armuth nicht» wußten. Noch reichlicher offenbart sich diese» Attribut dem dichterischen Blick

359

Ueber die Dichtersprache. int Rtg-Brda.

Die Atzvinen (so beginnt e» bescheiden) haben einen gol­

denen Wagen (Der Rig-Beda, übersetzt von Alfred Ludwig, Prag Bd. 1

und 2, 1876, Nr. 42, 5; 53,1; 59, 35); Axe, Sitze, Deichsel und Räder

ihre Pfade

sind goldig (59, 29), die Zügel sind golden (59, 28), goldig (60, 1).

Baruna hat

einen goldenen Panzer (82,13);

sind

Savitar

nicht nur einen goldenen Wagen (131, 2), sondern er ist auch goldauglg (131, 8), goldhändig (130, 10. 138, 2. 200,11. 217, 8. züngig (137,3), goldarmig (137,5. 139, 2).

denem Ansehen

ist der Wasser Kind wie in goldiger Hülle (184,10),

nachdem e» entstanden au» goldenem Mutterleibe.

denen Bart (346, 7), Kiefern (295, 5).

220,4), gold-

Goldfarbig und von gol­

Agni hat einen gol­

ist goldhaarlg (304,13) und hat

goldstrahlende

Indra hat einen Donnerkeil von Gold (631, 3), einen

gelben (goldigen) Bart (631, 4), einen goldfarbenen Wohnort (645, 2).

Bereinigt sich hier Werth und farbiger Glanz in dem zur Aus­

schmückung verwendeten Naturgegenstand, so ist e» zuweilen auch die Farbe allein welche «»»schmücken soll oder deren natürliche Beschaffenheit eine Steigerung erfährt, welche niemals in der Erfahrung beobachtet wurde. Kudrun (1372) sieht eine Fahne, welche weißer ist al» ein Schwan.

Gilt nnS gewöhnlich der Schnee als Beispiel des reinsten Weiß, so sind die Dichter doch nicht einmal damit zufrieden. beim Preise deS

schönen Geschlechts

Ist eS schon Uebertreibung

von den schneeweißen Händen der

schönen Frauen zu reden („kam der Teufel zum Fenster hinein und nahm

sie bei ihrer schneeweißen Hand, thut mit ihr den Ehrentanz" Wunderh.

S. 432), oder ihnen überhaupt

diese- Prädikat

S. 63, 30 ein Mädchen da- schneeweiße heißt, werden wir den Komparativ finden.

belzulegen

(wie Edda

Simrock, 7. Aufl.),

weißer al» Schnee erst

so

recht übertrieben

Aber die Sonne und der Tag ist weißer al» Schnee (Uhland

Vollst. I S. 4 und 11).

Ohne poetisch zu sein sagte man früher: mein

Herz wird grün (mln herze daz wirt grüene), gute Werke sind grün vor Gott.

Grüne Fische sind noch nicht eingesalzene Fische, rohe» Fleisch ist

grün (grüne als rohes fleisch). in Luthers Sprache.

Davon verschieden sind einige Au-drücke

Da werden Dinge

grünend genannt, welche mit

diesem Attribut zu verbinden un» schwer fällt.

Hiob 30, 12: zur Rechten

da ich grünete, haben sie sich wider mich gesetzt; 33, 25: sein Fleisch grüne

wieder, wie in der Jugend.

Jesat. 66, 14: euer Gebein soll grünen wie

Gra»; Jes. Sir. 46, 14: ihre Gebeine grünen noch immer, da sie liegen;

Jes. Sir. 49, 12: und der zwölf Propheten Gebeine grünen noch, da sie

liegen; Wunderhorn S. 767: hier grünen die Gebeine, die dort der £ob erschlagen, hier schenkt man Frendenwein.

Grüner al» Gra» ist mancherlei, z. B. der Ja-pi» (Nibel. Lachm.

360

Ueter die Dichtersprache.

1721), der au« dem Knaufe von Siegfried« Schwert schimmert.

Wa« ist

grüner äl« der Klee? da« MLrzenlaub (Uhl. Bolk«l. 1,11,5, 6).

Sogar

ein Mosenkränzelein ist grüner al« der Klee (Uhl. Volk«!. 183, 3, 4 =

Wunderh. S. 624), freilich ist die« ein dem Buhlen vom Liebchen gegebener

Lohn.

Albrecht von Halberstadt (XXXII, 231 der Ausgabe von Bartsch)

redet ein Mägdlein an: grüner al« der Klee, klarer al« der wilde See,

lichter al« ein Spiegelglas...

Die grünste Wirklichkeit finden wir in

einem Reisebericht (Fr. Dernburg, de« deutschen Kronprinzen Reise nach Spanien und Rom, Berlin 1884 S. 126), indem der anbrechende Morgen

die Reisenden au« der grauen Theorie in die grünste, goldene Wirklichkeit Ein Dichter de« XIX. Jahrhundert« endlich (Geistliche Lieder

versetzte.

im XIX. Jahrh, herausgegeben von Otto Krau«, zweite Ausl. 1879 S. 578)

ruft au«: o wie grünt« in unsern Herzen! Reden wir Im gewöhnlichen Leben davon, daß Einer sein blaue«

Wunder sieht (Rochholz, deutscher Glaube und Brauch im Spiegel der heidnischen Vorzeit, II 1867 S. 275 — Roth und Blau, -die deutschen Leibfarben —), so ist die« eine erlaubte, weil übliche Formel.

Darüber

hinaus geht Wieland (Hempel XI, 83).... in eine Art von Märchen zu verfassen, wobei, wie blau sie auch dem ersten Anblick sind, der beste

Kopf zum Denken Stoff gewinnt.

Eine ästhetische Steigerung erfährt aber

diese Farbe, welche den Malern al« kalte Farbe gilt, bei den Dichtern auch über da« beliebte Vergißmeinnicht hinaus.

Den Romantikern war

Blau schon eine gar liebe Farbe, weil jene berühmte, nur ihnen bekannte,

Blume blau war. auch sehr.

Eichendorff, ihr herlichster Sänger, liebt diese Farbe

Daß er von blauen Tagen spricht (Gedichte S. 85, 219 u. s.),

ist der noch unauffällige Anfang davon, wie jene Vorliebe sich äußert;

ander« wird schon die Sache, wenn er von blauen wehenden Lüften redet

(S. 227), die hellblauen, schönen vergangenen Zeiten preist (S. 306), oder endlich (S. 67) fühlt, daß von innen blaue Schwingen ringen.

Denn

hier find die blauen Schwingen nicht« andere« al« Schwingen, so herrlich und schön, wie etwa ein Frühlingstag mit blauem Himmel.

II.

Daß die Schwingen, auch wenn sie nicht blau sind, von den

Dichtern gar gern verwendet werden, sehen wir au« einer zweiten Art, die

Körperlichkeit darzustellen.

Wir wählen die Morgenröthe und den Wind.

Obgleich der Morgenröthe (Hiob 3, 9 und 41, 9) Augenwimpern beige­

legt worden, so haben wir sie doch nicht für eine Personifikation, für ein mythologische« Wesen zu halten.

So sind auch ihre Flügel (Psalm 139, 9)

nichtz so zu deuten, al« hätte man sie sich al« ein geflügelte« Wesen vor­

gestellt.

Vielmehr verglich der Dichter de« wunderbaren und wundervollen

Buche« Hiob die breiten, sich über dem Himmel au«dehnenden Lichtmaffen

361

Ueber die Dichtersprache.

der Morgenröthe mit Flügeln.

Wie der Adler etwa seine Fittige au»-

breitend vorwärts dringt*), so das Licht der Morgenröthe, wenn es sich über den Himmel, von einer Stelle aus, ergießt.

Jener Ausdruck, vor

dessen Schönheit sich nicht leicht stumpfsinnig Jemand verschließen kann, ist nun al- beliebte Formel weiter gegangen, sodaß er sogar in etwa-

wunderlicher Verbindung erscheint.

Weckherlin nämlich (Bibliothek deutscher

Dichter de- 17. Jahrh. Leipzig 1822, S. 105) will uns folgende- glauben

machen: hiermit der Morgenröth gelb« und rothsarbne Flügel

entdeckten die Mastbäum' und nahen Lande» Hügel.

Ein geistlicher Dichter deS 19. Jahrhundert- (bet Krau- S. 10) ruft

Jemandem zu: nimm der Morgenröthe Flügel,

eil hinan» auf ihrem Strahl ....

Beide Dichter sind Nachahmer und e- ist sehr fraglich, ob sie beim Gebrauch der überlieferten Formel die einfache natürliche Anschauung ge­

habt haben, wie der Dichter de- Hiob.

Aber von der Morgenröthe ohne

ihre Flügel zu reden hätte ihnen wohl die Verhüllung eine» von der Ver­

gangenheit bereit» schön geschliffenen Brillanten bedeutet. An der Morgenröthe sieht man nun doch wenigsten» noch etwa- und

warum sollte der Blick de» Dichter» nicht ein paar Flügel an ihr ent­ decken, welche dem gewöhnlichen Auge verborgen bleiben?

Dagegen der

Wind, den keiner sieht, wird noch viel hartnäckiger mit Flügeln au-ge-

stattet.

So auch im alten Testament: II. Samu. 22,11: und er schwebete

auf den Fittigen de» Winde»; ähnlich Psalm 18, 11 und 104, 3.

Prophet Hosea 4, 19 sagt: der Wind bunden treiben u. s. w. späterer Zett

(Berl.

Der

mit seinen Flügeln wird sie ge­

'So denn auch in einem geistlichen Liede au-

Gesangbuch 397 ,

2) hätt' ich

Flügel

gleich den

Winden... Bei Goethe schwingen die Winde leise Flügel, bei Eichendorff heißen

die Winde Gotte» Flügel.

Bürger (Gedichte von Hempel S. 185) ruft

ihnen zu: Winde, laßt die Flügel fallen und bei Osstan ist nicht» gewöhn­ licher, al» die Flügel der Winde**), zuweilen sogar mit feinerer Benutzung

dieser Vorstellung, wie III S. 197 (Ahlw.)... vergleichbar den Stößen

de» Winde», der zu Zeiten die Flügel noch zuckt,

wann erbrauste da» leben de» Sturme».

*) Bei Wolfram v. E. schlügt der Tag seine Klauen durch die Wolken (Lachm. 4, 8).

♦•) II 123. 300. III 402. 463. 476. 485 Ahlward«.

lieber die Dichtersprache.

362

Auch Spee (f 1635) braucht öfter dieses Bild

wem will grausen vor den Windqi, fürchten ihre Flügel naß, der nur Seelen denlt zu finden, Seelen schön ohn alle Maß? An anderer Stelle heißt eS: auch die Wind sich kunnten legen, ban­

den ihre Flügel ab; kalter Wind, halt ein die Flügel, rühre nicht das kranke Blm. Hat man einmal vor Zeiten geschlossen, daß der Wind, weil er durch

die Lust fliegt, Flügel haben muß oder ihn als großen Bogel gedacht,

so fehlt unS doch längst dieser Glaube al» Rechtfertigung dieser Rede­

weise.

Wir behalten sie vielmehr bei, weil sie überliefert ist und weil sie

eine Steigerung der Körperlichkeit und Wesenheit eine» Naturvorganges enthält, wodurch dieser zu einem ästhetischen Individuum wird, da» mit

seinen Flügeln durch die Welt rauscht. III.

Eine weitere Annäherung der Natur an die Menschlichkeit, wo­

bei sie aber noch

ohne eigentliche Theilnahme an menschlichen Dingen

bleibt, ist ihr Lachen.

Nun wissen wir ja, daß diese» Lachen nicht» andere» bedeuten kann, al» Glänzen; e» ist jedoch ein Unterschied, ob wir z. B. sagen der silberne

Löffel lacht oder er glänzt.

Bei Homer (Ilia» 19, 362) lacht die ganze

Erde vom Gefunkel de» Erze»; da» glitzernde Meer lacht bei Äschylu» (Prometh. 89); bei einem anderen griechischen Dichter (hymn. Cer. V, 14) lacht Erde und Meer.

Daß e» un» Deutschen nicht an dieser lieblichen

Naturanschauung fehlen wird, läßt sich erwarten.

Von der rehten tninne grnoz wart dem ritter Borgen bnoz, vil rsisen üz dem grase gienc do liep mit armen liep enphienc. d6 das spil ergangen was d6 lachten bluomen unde gras. Oder die»:

bö die bluomen üz dem grase dringens same sie

lachen gegen der spilnden sunnen.

Auch die Saat lachet für Freuden

(Paul ^Prestel, die getstl. Dichtung von Luther bi» Klopstock, erster Halb­

band, Stuttgart 1863 S. 429), die Sonne blickt mit freundlichem Ge­ lächter herab (ebenda S. 459).

Bei Spee (Trutz-Nachtigall, Cöllen 1654)

gehen die Bächlein kühl in Wäldern lächelnd umb, wie SchlängleiN krumb (S. 26).

Die liebe Haide lacht (Wunderhorn S. 318), so oft einer, der

ein Mäßlein Wein getrunken hat, beim Mondschein singend über sie hin-

schreitet.

Bei Platen (III, 32) lacht der

Aether.

Auch

G. Freytag

(Ahnen III S. 4 der fünften Ausl.) läßt die Sonne In Heller Freude ihre

Ueber die Dichtersprache.

363

Fahrt am Himmel beginnen, ihr runde» Antlitz strahlt in den Hof und

sie sieht lachend zu, wie sich der Hof zu glänzender Au-fahrt rüstet. sehr häufig finden wir e» im Rtg-Beda.

Nicht

Doch lächelt die aufleuchtende

Morgenröthe beim Erscheinen, wie Freude zum Glücke'(Ludwig I Nr. 4, 6).

Die Marut- sind au» dem lachenden Blitze geboren (244," 12);

Blitze

lächeln auf die Erde herab (683, 8).

Dyäu», halb Himmel, halb Person,

lächelt durch die Wolken (296, 6).

Der ordnung-volle. Agni (334, 3),

schauend wie der Himmel mit seinen Sternen, bewirkt aller Opfer Strahlen­ lächeln Hau» für Hau».

Ergiebiger ist eine andere Quelle (A. Knapp,

Evangelischer Liederschatz für Kirche und Hau- u. s. w. 2 Bände, Stutt­ gart und Tübingen 1837).

Da lesen wir z. B. (II, 542 Nr. 2854):

scyd gegrüßt ihr schönen Lichter, deren Gold am Himmel lacht, seyd gegrüßt ihr Angesichter, die da» höchste Licht gemacht. Heiter glänzet Land und See nach dem langen Frost und Schnee (II 404). Die Sonne hat einen goldenen Freudenschein (II, 431); oder II, 474:

wenn sich in stiller Majestät die Sonn am Firmament erhöht, dann glänzt in vollem Licht die Erde, die sich um sie dreht, mit heiterem Angesichte. Auch die Sterne funkeln in Freudenpracht herunter (II, 496). Schiller» Tell lächelt der zum Bade einladende See.

In

In Stadt und Land

lacht Ruh und Segen, die Zwietracht schweigt und muß entfliehn (F. W.

v. Ditfurth, Einhundert historische Volkslieder, Berlin 1869, S. 27), da»

Abendroth lacht (F. W. v. D., die histor. Volkslieder der Freiheitskriege,

Berlin 1871 S. 18), die Sonne sieht e» und lacht (Gottfr. Keller, Ge­ sammelte Gedichte, Berlin, 1883, S. 387), Theodor Fontane (Einzug in

Berlin): der Himmel strömt lachende Lichter au» und der Lichtball selber

lächelt in Wonne.

(Vgl. Uhland, Schriften III, 420 f. 511 f., Mhlholog.

Forschungen au» dem Nachlaß von Wilhelm Mannhardt, Straßburg 1884 S. 212). IV.

VerstandeSmaßig viel auffälliger, aber desto begieriger vom Ge­

fühl genossen,.ist dagegen die ungeheure Fülle der Beispiele, in welchen un» die Dichter eine wirkliche Belebung oder Theilnahme der Natur an Freud und Leid der Menschen, an ihren vergänglichsten, wie an

tiefsten Erregungen schildern.

ihren

Wie lange Zeit mag verflossen sein, ehe

unser Geschlecht anfing den Traum jene» Widerhalls menschlicher Empfin-

birng in der Natur zu träumen?

Man denke doch an eine Zeit wie die,

toe der Höhlenmensch mit dem Bären al» Mitbewerber um diese Wohn­

stätte zu kämpfen hatte, wo er, vermuthlich nicht gefräßiger al» heut, aber stellenweise ebenso auf Sparsamkeit angewiesen,

die Jagdbeute abnagte

und mit der Hartnäckigkeit de» Hunger» sogar die Knochen zertrümmerte,

364

Ueber die Dichtersprache.

um ihren dürftigen Inhalt nicht zu verlierend Und heute vergleiche man in Gedanken die religiöse Empfindung einiger Australier mit der Inbrunst deS Psalmisten, welcher die Starrheit der Natur in religiöse Ergriffenheit umschmilzt. Daß Rohheit und Innerlichkeit, Unvernunft und Weisheit so nebeneinander entstehen und fortleben, getrennt durch die gleichgiltigen Weiten deS Erdball-, ist ein- von den Räthseln, welche- erst gelöst sein müßte, wenn wir von einem planvollen Hau-Halt, von einer un- verständlichen Benutzung geistiger Kraft in der Geschichte, reden wollten. Un­ fähig eS zu lösen, unfähig die allmähliche Entwickelung dieser Gefühle an der Hand geschichtlicher Denkmäler zu verfolgen, find wir darauf ange­ wiesen, die Ergebnisse langer Entwickelung zu überschauen, von denen hier eine möglichst charakteristische Auslese vorzuführen ist. Wir beginnen mit profanen Beispielen um mit religiösen zu endigen. Ein Gedicht, mit der bezeichnenden Ueberschrift „Liebe-augen" (Wun. verhorn S. 623), lautet so: Sobald du hebst die llaren Aeugelein freut sich Gestirn und auch der Sonnenschein, also gar sehr du Liebe-zier sind sie genüget dir. Sobald du auch die Erde blickest an, ist sie erhitzt, schickt Blümelein heran; wie sollt dann ich nicht herziglich, Jungfrau, auch lieben dich? Und schließest du, o Herz, die Aeugelein, da giebt der Stern der Venu- großen Schein, wie ihrem Kind, wenn sie offen sind, die Fackel heftig brinnt. Und hüllst du ein die hellen Aeugelein, der Himmel traurig zieht die Sterne ein, die Erd ist kalt, Frau Venu- alt, ohn Feuer Amor bald.

Noch hitziger geht e- zu in dem Hochzeitlied auf Kaiser Leopold»und Claudia Felix (a. a. O. S. 275). Da fühlen die Steine Liebe-kraft, Luft und Erde schreien Glück zu. Flora stickt ein Purpurkleid mit Veilchen und Narciffen, selbsten die Götter (!) sind erfreut, Vieh und Wild ist au-geriffen. Auch Gra- und Kräuter sind verliebt, die stummen Wafferschaaren, schauet! Wie alle- sich noch giebt und in Lieb weiß zu paaren. Nur allein in deinem Lob Ruhm, (Klaudia noch in Jungfranstand) schau, wie die Walder grünen,

Ueber die Dichtersprach«.

365

wa» mehr- zu deinem Eigenthum, Alle» wünschet dir zu dienen; dn bist der Tugend Heller Schein, vor dir sich Himmel neiget. Ein anderer Dichters«, a. O. S. 259) versichert, daß mit ihm Sonne,

Mond und die Hellen Sterne trauern, oder (S. 442) daß Sonne, Mond, dazu da- Firmament schauen, wie sein junge- Herz vor Liebe brennt.

Sieht einer seinen Schatz zum letzten Mal, so. sollen (S. 59) eben die«

selben mit ihm traurig sein bi- an fein Cnd.

Schließlich hört einer

(S. 443) Berg und Hügel, auch diese- Thal schreien über mich auch hun­

derttausendmal. Spee (a. a. O. S. 46) fordert Laub, Gra»,

auf, seiner Frage Antwort zu geben.

Bäume und Wälder

Ein andermal (S. 63 u. 65):

o schöne Stern, nit laufet fern, hört an, was euch wil klagen; du schöner Mon auch bleibe stehn, hör an mein Leid und Zagen. O Sternen still, o stiller Mon, bt» Elend»'laßt euch bauten, mein Leid euch laßt zu Herzen gähn, mit mir tut kläglich trawren, ach haltet ein den halben Schein, euch halber tut zerspaltea... Der Mond ist denn auch nicht unempfindlich, wenigsten- versichert lin­

der redliche Spee an einer anderen Stelle

und der Mond hört, wa» ich sagte, nahm ein lind gestimmte» Rohr: da» er blasend , zärtlich nagte, spielte seinen Sternen vor. Bei Herder (Volkslieder S. 210) vergißt der brausende Strom sein

Fließen und horcht den süßen Tönen.

Wellen, Felsen und Winde ächzen

in die Klage de» Liebenden (S. 432, 430, 582). Büsche, du stille Felderruh und

Ihr Auen, Bäch und

auch ihr stummen Fische hört meiner

Klage zu (S. 583).

Die grüne Heide, die Bögel, der Wald werden aufgefordert sich zu freuen (Bartsch, Deutsche Liederdichter de- zwölften bi- vierzehnten Jahrh. 1864 S. 213); ein Verliebter klagt dem Mai, der Sommerwonne, der breiten lichten Haide, dem Klee, dem Wald, der Sonne (ib. 253).

Albrecht

von Halberstadt fordert die Waldvögel auf, ihm klagen zu helfen; er hat

auch Erfolg:

die trüregen waltvogelln ir aüzen ßanc dö liezen ain, in begunden weine tier unde steine, der walt weinde einen töt, der ö ein Ören dicke böt Orphöüsee harphen dar. daz wazzer mirte eine z&r u. s. w.

Ueber die Dichtersprachr.

366

Bei Weckherlin (a. a. O. S. 102) enthielt sich der Wind von allem erfreuend sich allein die Segel aufzublasen.

Sturm und Rasen,

Auch

Simon Dach (f 1659) traut der Sonne einige Folgsamkeit zu, denn er

ruft (S. 126 der Ausgabe von Oestcrleh): Sonne, wa- verzeuchst du viel? Fleuch mit deinem Wagen!

Bei Uhland (Bolk-l. S. 67, 2, 1) haben

wir ein Gespräch mit dem Haselstrauch und die Linde will trauern helfen

(S. 68, 1, 3) „daß ich kein buken hab".

Bei Hebel (Allemann. Ged.

S. 146) sagt der Januar von sich: i bi ne blicbte Ma

der Stern am Himmel lacht mi al Er glitzeret vor Lust und Freud

und mueß er furt, fen isch« em Leid; er luegt mi a und cha» nit lo und würd bizite wieder cho.

Bei Lenau (Hempel S. 42) verhüllt sich der Himmel, um sein Leid zu verhehlen; der Berg sehnt sich nach der Wolke (S. 40), will sie mit seinen Felsenarmen umfangen und schließlich in seinen heißen Busen hinab­ trinken.

Die Wogen de» Meeres sind berauscht,

wenn sie den Sturm

hören, sie taumeln entzückt sich in die Arme und singen.

der Durance jauchzt (S. 186).

Auch die Welle

Die einsame Blume zittert froh, daß de:

Himmel ihrer gedenkt, indem er den Thau herabschickt (S. 39).

Ein

Pfad schließt trauernd seine grünen Lippen zu (S. 58), weil er nicht­ mehr von Liebe zu künden weiß.

Bet G. Keller S. 16).

Die

träumen

die Blumen von

Sonne kann rufen (S. 23).

— von der höllischen Pracht (S. 344).

Kränzen

(Ges. Ged.

Der Himmel ist trunken

Stein und Eiche führen

ein

lange- Gespräch (S. 159), auch ein Gespräch mit den Wellen findet statt

(S. 382). Ossian ist zu bekannt, als daß e- nöthig wäre, Proben au- ihm an.

zuführen.

Der Wunsch Sympathie zu finden, die angenehme, schnell ver­

fliegende Selbsttäuschung sie zu genießen, hat den Blick unserer Dichter

geschärft, sodaß nicht leicht in der ganzen Natur ihnen etwas entgangen ist, wa- zu ihrem Zwecke sich verwerthen ließ.

Die Natur hat nämlich

ein unerschöpfliche- Talent geduldig zuzuhören, wa- man ihr auch mit­ theilen mag, während sie oft mit den Antworten zögert, die man ihr ab­

dringen will.

Der Himmel mit seinen Lichtern, der Wald mit seinen

Bäumen, welche geduldig die Buchstaben jede- beliebigen Namens in sich

einritzen lasten, die Wiese mit ihren Blumen, der murmelnde Bach sind gar paffende Genosten de» Menschen.

Unter den Thieren steht ihm ohne

Zweifel der Bogel bei dieser Gelegenheit am nächsten, der so oft aufge-

Ueber die Dichtersprache. fordert wird

367

seine Flüglein zur Geliebten htnzuschwingen*).

Auch

die

Fische, wie wir sahen, sind nicht ohne Gemüthlichkeit und da» Wild, un­

menschlich behandelt, ist doch selbst nicht unmenschlich.

Zwei harte Dinge

endlich lassen sich gelegentlich, waS erstaunlich genug-ist, noch erweichen. Stein und Erz, insofern allerdings nur, als sie eine ihnen für gewöhn­

lich versagte Empfindung haben. . mag, ist hier natürlich.

Daß e- dabei etwa- wunderlich zugehen

So lesen wir (bei W. Dönnlge-, allschottische und

altenglische Volk-balladen, München 1852 S. 219): der wilde Fel» erstarret und höret den Tönen zu seit hunderttausend Jahren schläft er beim Lied in Ruh;

in Schiller» Tell 1,4

mich treibt bei höchsten Jammer» schmerzliche Gewalt, wa» auch den Stein de»-Felsen muß erbarmen. Eine Annäherung an diese Anschauung ist wenigsten- die- (v. Liliencron**), die historischen Volkslieder der Deutschen vom 13.—16. Jahrh.,

4 Bände, 1865—69, III, 112 u. IV, 137): e- möcht einen harten statn

erschröcken, e» möcht ein stein erbarmen.

Macbeth II, 2 spricht zuversicht­

licher: vor Furcht würden die Steine selbst vor mir umherschreien. Prophezeiung wird eS ausgesprochen, Habak. 2 (3) 11:

Al-

Denn auch die

Steine in der Mauer werden schreien und die Balken am Gespärre wer­ den ihnen antworten, womit Luca- XIX, 40 in Zusammenhang zu stehen

scheint: wo diese schweigen, werden die Steine schreien.

Endlich sagt Ovid

Metam. IX, 303 moturaque duros verba queror silices. Daß da- Erz mit Empfindung ausgestattet wird, wird un- darum

begreiflicher Vorkommen, weil e- als Gegenstand menschlicher Benutzung

nicht als Naturmasse, dem Menschen nahesteht.

Dadurch ist eS, meist al»

werthvoller Besitz, namentlich al- Waffe, individuell umgeprägt und hat daher oft sogar Eigennamen erhalten, so Schwerter, Kanonen und Glocken (W. Wackernagel, Kl. Schr. III, 65 f.).

Dennoch finden

wir-e» kühn

gtnug, wenn e- Macb. I, 6 heißt: daß nicht mein Dolch die Wunde sehe, die er gräbt (und durch den dunklen Vorhang selbst der Himmel hindurch­

schreie „ab, laß ab").

So dürstet denn auch da- breite Schwert'Blut

und der lange Spieß trinkt Blut (Schlacht bei Murten von Beit Weber,

Wunderh. S. 43). Wiederum nur eine Annäherung zeigm die Worte (Heldensagen von Firdusi ü. s. w. von Ad. Fr. v. Schack, Berlin 1851, S. 267):

laut scholl, al» ob sogar da» Gr- sich freute, die Ehmdel und der Glöckchen Festgeläute.

*) D. Wackernagel, Kl. Schriften III, 192. **) Ein zu wenig benutzte», ausgezeichnete» Werk. Pkbichisch« Jahrbuch«!. Sb. LXL H-st4.

Ueber die Tochtersprache.

368

Daß die Natur an den religiösen Empfindungen der Menschen

theilninnnt, werden wir nur bei hochstehenden Völkern erwarten können. Selbständig entwickelt jedoch ist diese Richtung des Gefühls überhaupt oder nennenSwerth (meine- Wissens) nur zwei Mal, oberflächlicher bei den

Indern, tiefer Im alten Testament.

AuS dem alten Testament aber sind

die Redewendungen dieses Inhalt- zu un» gekommen; zuerst im lateinischen Kirchenlied (Daniel, Thesaurus hymnologicus, 5 Bände, 1841 f.), aus

diesem und auS der wieder allgemein zugänglich gemachten Bibel in da­

deutsche Kirchenlied und in die religiöse Dichtung überhaupt.

Den Stimmung-kreis der Rig-Deda mögen folgende Beispiele an­

schaulich machen. Nr. 173, 4).

Schützt un- Himmel und Erde vor Gewalt (Ludwig

Die beiden großen, Himmel und Erde, sollen merken auf

da- Werk (235, 1).

In dieses Freundschaft frohlockten Götter,

Himmel, Wasser und Kräuter (431, 2).

Erde,

Die Erde zittert au- Furcht vor

dem Zorn ihre» eigenen Sohne-, de- Indra, in Erregung geriethen die starken Berge (518, 2).

Sogar der Himmel ist ehemals gewichen vor

deinem Keile, als den Drachen Indra ntederschlug (541, 9).

Zu dir,

Indra, hatten geklagt die beiden Welthälften (614, 11). ( Die Monde,

die Bäume, die Kräuter, die Berge, die lauten beiden Welthälften kamen Indra nach, al- er geboren ward (644, 13). bewegenden Bäumen gepriesen (454, 4). sogar die Kräuter.

Indra wird von den sich

Einmal (1026, 17) sprechen

Auch klagen einmal die Bäume um die von der Kälte

geraubten Blätter (972, 10).

Nieder gehen euch, o Maruta-, die Wälder,

au- Furcht vor eurer Fahrt (691, 3). dir, Indra, au- Furcht, wie'Staub.

Sogar die Berge erzitterten vor

Berge selber sinken nieder, glauben

Abgründe zu sein, Gebirg sogar hat sich gebeugt vor den Marut- (701,

34).

Die Wasser singen dem Baruna zu, wie Kühe, die Junge haben,

dem Kalbe (612, 11).

Relativ kürzer haben wir un- zu fassen, wenn wir dem Strome der Ueberlieferung folgen, welcher au- dem alten Testament in die geistliche Poesie de- Abendlandes sich ergossen hat.

Denn die Psalmen und Pro­

pheten sind Jedem zur Hand, sodaß sie hier nicht al- Original, sondern nur al» Belegstellen angeführt zu werden brauchen.

Einzelne Beispiele

der Ueberlieferung erinnern aber einigermaßen an ein kleine» schöne- Ge­

dicht von G. Keller, worin er die Erinnerung an einstmals genossene Liebe mit dem Gefunkel eine» Sterne» vergleicht, dessen Strahlen uns jetzt erst

leuchten, nachdem er seinen Platz am Himmel längst verlassen hat.

Wir

erfreuen un» nämlich jener schwungvollen Gedanken de» alten Testaments noch immer, obgleich nicht zu bezweifeln scheint, daß sie mit andern Em­ pfindungen von un» begleitet werden, al- die waren, welchen sie ent-

Ueber die Dichtersprache.

369

sprangen und mit welchen sie ehemals. ausgesprochen wurden.

Sie sind

viel formelhafter geworden.

Der Kleriker, dem in

der Einsamkeit seiner Zelle, in dem abge­

schloffenen Bezirk seine- Kloster- kein anderer Gegenstand dichterischer In­ brunst beifallen konnte al- Gott oder Thatsachen und Personen der Heils­ geschichte, versenkte seinen beschaulichen Blick andauernder in den uner­ schöpflichen Reichthum der heiligen Schrift al- unsere meisten Dichter zu thun

pflegen.

Da la- er denn auch Jesai. 55, 12 montes et volles cantabunt

coram vobis laudem et omnia ligna regionia plaudent manu.

Al-

leidlicher Kenner de- Hebräischen hätte er feststellen können, daß in der That (wie Luther übersetzt) die Bäume

in die Hände

klappen sollen.

Hätte sich sein Denken zu einer kritischen Betrachtung diese- Au-drucke» bequemt, so müßte er wohl empfunden haben, daß jener Dichter nicht

übel da- Schlagen und Rauschen der Zweige in diesen Ausdruck einkleiden konnte.

Schon ander- aber müßte ihn die Stelle Ps. 97, 8 (bei Luther

98, 8) angemuthet haben: flumina plaudent manu, sirnnl montes exiiltabunt a conspectu Domini; denn wie kommt da- Bild eine- Flusse-

der Anschauung entgegen, welche in manu plaudere enthalten ist? innerhalb de- Originals erlaubt war, wucherte in der Nachahmung.

Was

Daher

lesen wir (Daniel I, 258) 8ol luna caelum sidera, mons vallis alta concava, fons etagna flamen aeqaora, quidquid volat repit natat,

qua voce quieque praevalet, in lande Christi plaudite.

Hier wird also Sonne, Mond, Himmel, Sterne, Berg und Thal,

Quell, Teich, Fluß und Meer, Alle» wa- fliegt, kriecht und schwimmt, aufgefordert zum Preise Christi laut zu werden.

Aehnlich ist Dan. H,

365, 366 plaudant tnaria, applaudant Fontes flumina, caelorum plaudant agmina--------plaudite caeli, rideat aether, 8ummu8 et imus gaudeat orbis,

plaudite montes, ludite fontes.

Nach bekannten Wendungen de- Originals lautet ein syrische- Kirchen­

lied (Dan. III, 161): dir jubeln sollen alle Winde mit staunendem erregten Wehn; des'Himmel- Zierden sollen prangen -um Preise deiner Wesenheit;

die Höhn sich freun weil du herabkamst, die Tiefen tanzend preisen dich;

das Meer erfreu sich deiner Schritte und deiner Tritt da- feste Land. Unsre Natur frohlocke, dich lobend, weil deine Gottheit wohnt in ihr...

heut sollen alle Waffer oben laut preisend Hostannah schrein,

heut sollen alle Waffer unten de- Lobe- Gaben opfern dir. Da- Firmament frohlocke heute; heut freue sich.die Sonne; heller

Ueber die Dichtersprache.

370

soll schimmern ihrer Strahlen Glanz; heut glanze in den schönsten Strahlen der Himmel-leuchten hell der Mond, anbetend in der Höh den Höchsten. Heut sollen auch die Sterne alle, geschmückt in ihrer Lichtgestalt der Iubellieder Gaben' senden dem Schöpfer. Heut hüpfe freudig auf die Erde; wie Lämmer tanze da- Gebirg, heut soll da- Meer stch freun, die Inseln in ihm verklaren sich vor Lust, beut solln frohlocken auch die Wälder und. Hain mit ihren Baumen all, heut soll auch daS Gewild frohlocken, die ganze Thierwelt sich erfreun — denn seht, auf einem Esel reitend, zog bei uns ein der Himmlische. „Wie Lämmer tanze das Gebirg" ist hier nur eine Aufforderung,

wenn man will, eine Prophezeiung, die nach der protestantischen Bibel

auch auf Ps. 68, 17 zurückgeht, dessen Worte Luther übersetzt „wa- hüpfet

ihr großen Gebirge"

und 114, 4 (113, 4) montes exultaverunt ut

arietes et volles sicut agni ovium; als Eretgniß aber wird es erzählt (v. Liliencron, die histor. Volkslieder IV, 380):

die berg Jtalie (Italiae) haben gesprungen wie die Widder. Au- dem deutschen Kirchenlied sei dies erwähnt (PH. Wackernagel,

da- deutsche Kirchenlied von der ältesten Zeit bi- zu Anfang de- 17. Jahrh. 5 Bände, 1864—1877, Band II, S. 389): wald, laub, die säte, ktihe, gras.und Humen die wollen sich zu lieben dir, in freuben groß sieht man sie heut tunten, christ, auf dein lob steht ihr begir, auf da-, wen sie fönten sprechen, an in würde e- nicht gebrechen sie lobeten dich, her, al zugleich.

Preffel (a. a. O. S. 387): ihr Gestirn, ihr hohen Lüfte und du lichte- Firmament, tiefe- Rund, ihr dunllen Klüfte, die der Widerhall zertrennt, jauchzet fröhlich, laßt da- Singen jetzt bis durch die Wolken dringen!

Etwa- ausführlicher ist Spee (a. a. O. S. 107):

auch lobet Gott von Erden ouff ihr Drachen aus den Klüfften, ihr Walfisch tief auß saltzem Lauff, Wind, Sauß und Brauß in Lüfften, auch Hagel weiß und Flocken greiß von Schnee und Eyß entzogen, auch Dampfs und Fewer, Blitz ungehewer -usampt dem Regenbogen. Auch lobet ihr ihn poltze Berg, ihr hoch und starcke Risen, auch kleine Bühlein, kleine Zwerg, auch flache- Feld und Wiesen, auch grüne Stauden, Bäum und Zweig,

ja (S. 118) werden die Fische, alle Gewächse der Erde, sogar Gold,

Silber, Stahl und Eisen, in diese Aufforderung eingeschloffen. Zinzendorf (Geistl. Lieder von Knapp, 1845 S. 5) ruft auS: brecht ihr Hügel, kracht ihr Mauern, schmettert Lucifer- Pallast! Aus EocythuS, speie Flammen, wenn du Flammen übrig hast.

371

Ueber die Dichtersprache. Ihr Elementen (so), Sonne, Mond, ihr Rachtgestirne, Himmel und du Erdenplan ... winselt, ächzet, heulet, schreiet,

fangt die'Zeterkage an.

Daß die Nachdichter manchmal da- Original nicht recht verstanden, zeigt sich auch; ein lehrreiche- Beispiel ist die-.

Ps. 136, 2: in salioibus

in medio eins suspendimus .organa nostra (Luther 137 , 2 unsere

Harfen hingen wir an die Weiden, die darinnen sind); aber in einer

Nachahmung lesen wir (Ph. Wackernagel, a. a. O. UI, 135, Presse! S. 82, Mützell,

Geist!. Lieder der Evangelischen Kirche au- dem 16. Jahrh.,

3 Bände, Berlin 1855, I, 71, Geistliche Lieder, mit einer newen Vorrede,

von D. M. Luther, Lxipz. 1555, fol. CXXXVII); wir hingen aus mit schwerem Mut die Orgleu und die Harpffea gut an ihre Baum der Weiden,

sodaß e- scheint, al- sei der Nachdichter über organa gestolpert.

Elemen- Brentano (bei Krau- S. 74) wird mystisch: heran heran ihr Blüthen, Nun öffnet euren Schoß, neu bricht nun ohn' Ermüden der Strom der Gnade Io*.

Mit reinen Kelchen trinken sollt bald ihr Jesu Blut, Wenn er sein Haupt läßt sinken,

dann dann ist alle» gnt.

An die der religiösen Dichtung geläufigen Anschauungen wird man erinnert, wenn e- sich auch nur um rein menschliche Dinge handelt bei einem profanen Dichter (F. W. v. Ditfurth, die histor. Volkslieder vom Ende de» 30jährigen Kriege» bi- zum Beginn de» 7 jährigen, Heilbronn

1877, S. 30).

Berg und Thäler, Büsch und Felder... ihr Wasserflüß

und Wälder helft mir klagen solche- Leid.

Heult ihr Tannen, heult zu«

sammen, weil gefalln der Cederbaum, der Kaiser, vor dem der Mond er­

bleichet.

Wenn du stößest den zu Haufen, der da stößt an Himmel an

(d. h. der König), alle», was auf Erden lebet, was sich in dem Waffer

rührt, ja wa- in den Lüften schwebet, was nur immer Odem führt, alle» wa» belebt in Summen, muß erzittern und «stummen, da» du den haft

todt gemacht, welcher war der höchst geacht. Wenn es Ps. 148, 3 heißt: laudate eum sol et Inna, landate eum

omnes stellae et innren (luminis), laudate eum caeli caelorum et aquae omnes quae super caelum sunt landen! nomen Dei, so bei Dan. I, 78,

hunc coelum terra mare hunc omne quod in iis est

auctorem adventus tui landaus exultat cantico, bei PH. Wackernagel,

II, 1121, den Erde, Meer und Himmel- Thron ehren, anbeten und singen

schön, bei Hoffmann v. Fall«»leben (Gesch. d. deutschen Kirchenlied» bi»

Ueber die Dichtersprache.

372

auf Luther- Zeit, Hannover 1861, S» 269): Den erde, wer und Himmelall,

eren anbeten, verkünden, der die drei beu regiert mit schall-. Auch diese kleine Auswahl, wie sie die bekannte Nachahmung -der Psalmen bestätigt, dürste uns zum Bewußtsein bringen, daß sich unsere

Empfindung einigermaßen an orientalischem Feuer wärmt, daß unsere reli­ giöse Stimmung sich überlieferter Ausdrucksformen bedient, welche vielfach

unserer einheimischen Anschauung fernstehen. V.

Menschliche Bethätigung könnte von den Dichtern nicht so leicht

gesteigert werden, wenn wir nicht sogar in der Umgangssprache an Hy­ perbeln durchaus gewöhnt wären.

Weil wir die» sind,

dem hyperbolischen Schwünge des Dichters.

folgen wir gern

Bei Liliencron (a. a. O.

I, 248) hören wir, daß ir klar glenzend antliz rein noch liechter wann der futtnen schein Ist; die Bosheit einiger Menschen leucht vor da» lasur (I, 365, d. h. ist Heller als da» Azurblau de» Himmels).

Das Blut­

weinen ist (meine- WtffenS) noch nicht beobachtet; dennoch wissen eS die

Dichter bester.

Bartsch (a. a. O. S. 303, 696): weine herze, weinent ongen weinent blaotes trehen röt.

Im

persischen

Heldenepos

wird

oft

Blut

geweint

(bet

Schack

S. 373, 376 u. s. w.), einmal regnet sogar die Sonne vor Angst Blut

(S. 299); auch Bürger berichtet uns von einem blutigen Tyränenquell

(Ged. Hemp. S. 92).

Die Irischen Mannen (in Jmmermann» Tristan

und Isolde) sind breit wie Aegyptens Flußpferd und hoch wie die Tannen

des Fichtelbergs.

Der treffliche Sancho Pansa will eine solche Ohrfeige

geben, daß seine Faust in dem Kinnbacken des Geohrfeigten stecken bleiben soll (Don Quixote übers, v. Tteck, II, 292 der dritten Aust.).

Da hören

wir auch, daß die Thränen einer betrübten Schönheit die Steine in Seide, die Tiger in Lämmer verwandeln (II, 317).

DaS leidvollste Leid der

Duenna Schmerzenreich ist von der Art, daß e» im Stande ist. Marmor­

steine zu rühren, Diamanten zu erweichen und den Stahl der härtesten

Herzen auf der ganzen Welt zu schmelzen ...

Da thut denn Sancho nur

recht, wenn er erwidert: sprecht, was ihr am meistesten wünscht, denn der Don Quixoteste ist zugegen, wir alle sind begierig und bereitest un- zu zeigen als eure gehorsamsten Knechteste (II, 333).

Dulctnea ist (1,480)

Ausbund aller Schönheit, Blüte jedes Verstände», Archiv alles Witze», Niederlage jeder Tugend, Ideal aller Vollkommenheiten und alle» Schönen

und Edlen, da» nur in der Welt ist; ihre Jungfrauen und sie sind alle ein einziger Brand von Gold, lauter Bündel von Perlen, lauter Dia­

manten, lauter Rubinen, lauter Brokat von mehr als zehnfachem Gewirke (II, 83).

Dulcinea» Größe

endlich (I, 315) schmückt sie mit tausend

Ueber die Dichterische. Millionen Annehmlichkeiten der Seele.

373

Verlassen Pir diese hohen Gefilde,

schweigen wir von den wunderbaren Eigenschaften und Thaten der Götter

im Rig-Beda, so können wir auch auf profanem Gebiet einige poetische

Blumen pflücken.

Stoßt an, ruft ein Soldat, daß die Heide wackelt

(v. Ditf., Einh. hist. Volk»!. S. 12).

Ein anderer (v. D., Die histor.

Vollöl, d. Freiheitökr. S. 11) sagt unö:

Sturm überfährt die weite Welt, von Grund auf Allel schüttelnd, die Schläfer selbst auf dem Totenfeld zum Rachekauipfe rüttelnd, denn sie merken, daß eö sich um die Befreiung de» Vaterlandes handelt. Da» gute Gehör eine» Anderen ersehen wir darau» (v. D., historische

Volk»- und

volkSthümliche Lieder de» Kriege» von 1870—71,

Berlin

1871 S. 160):

der großen Nation ihr Gloire-Darm der schreit vor Hunger, daß Gott erbarm. Bei Gottfr. Keller (Ges. Ged. S. 266) graut sogar im Mutterleib dem Kind, denn die Jesuiten kommen („da reiten sie auf Schlängeleln

und hinterdrein auf Drach und Schwein; wa» da» für muntre Burschen, sind").

Etwa» geringere Anforderungen an die Kinder werden gestellt in

den Versen (v. D. an letztgen. Stelle S. 100):

hört» ihr in der Wiege, ihr Kindlein, trinkt sie an der Mntterbrnst die SiegeSsreude, trinkt die Siegeslust. Daß ein Held einen Baum auSreißt (Firdusi v. Schack, S. 253) ist

schon nicht gewöhnlich; wa» sagen wir aber dazu (S. 354):

meine Lanzenfpitze holt selbst vom Himmel-dach herab die Blitze. Sehn meine Feinde meine Stirn in Falten, so wird vor Angst ihr Schuppenpanzer spalten? VI.

Eine allgemein? Neigung der Dichter endlich, ästhetisch zu stei­

gern, zeigt sich sowohl ohne die bi» zu einem gewissen Grade entschul­

digende Macht der Ueberlieferung, al» namentlich in der Benutzung fest

ausgeprägter,

überlieferter

Vorstellungen.

So

schildert Wieland

au-

eigenen Kräften, wenn er (Oberon IV, 30) da» arme Maulthier durch­ sichtiger al» Gla» nennt, welche- kaum belebt genug schien, bi» Bagdad au»zureichen; ebenso, wenn er (Oberon III, 15) die Schläge der Thor­

wächter so hageldicht fallen läßt, daß zwischen Schlag und Schlag sich un­ zerknickt kein Lichtstrahl drängen mag.. Dagegen sollen wir un» gemäß

der Ueberlieferung (oder der dichterisch?!» Consequenz?) denken, daß Aurora

(Aurora und Cephalu»,

Wieland,

Stuten und Rosenhaar hat.

Hempel XI, 56 u. 72). rosenfarbene

Ebenso liegt er in den Banden der Ueber­

lieferung, wenn er den Himmel Olymp nennt, ja sogar (ist die» ge-

Ueber die Dichtersprache.

374

schmackvoll?) von mehreren Olympen redet (Werke, Hemp. VI, 91): auf,

Engelsharfen, tönt da- Loh der ewigen Huld, da» Lob de» ewigen Sohne»,

durch jeden Olymp!

Oder (VI, 97): vierzig Tag' entbehrt der Olymp

sein neue» Haupt, noch wandelt der Menschenfreund bei seinen Geliebten;

(VI, 81) Jtzo sah von der Zinne der Sonne der erste der Tage wundernd herab In die Tiefen de» Aether».

Da drehten Olympe andere Olympe,

da eiferten Welten mit schöneren Welten.

Herbst und Frühling werden

ein olympische» Paar genannt; ihnen sahen die Olympier (S. 82) nach,

d. h. die Bewohner de» Himmel».

Indessen wir treffen den Olymp auch

in der lateinischen Kirchenpoesie; so bei Daniel I, 152, wo der Chor der Sterne am Olymp, d. h. am Himmel emporsteigt.

Cin Bore kommt vom

hohen Olymp (— Himmel) I, 209, vom hohen Gipfel de» Olymp» steigt der Sohn zur Erde herab (I, 240), die Thore des Olymps werden den Gläubigen geöffnet (I, 243), der Olymp wird errungen (IV, 329). Dante,

welcher so wunderlich die Fabeln des Alterthums zu verdauen sucht, sagt uns zwar nichts vom Olymp, wohl aber von Jupiter und zwar so, daß

er Purg. VI, 118 Jesu- sommo Giove nennt;

ähnlich Petrarca Gott

son. 207 vivo Giove und son. 132 etemo Giove (s. Piper, Mythologie der christlichen Kunst u. s. w., Weimar, 1, 1847, II, 1851; 1,140).

Auch

die unvermeidliche Anrufung der Muse oder der Musen ist nur durch den

ästhetischen Reiz und die bequeme Formel der Ueberlieferung zu erklären; .so bei Dante Inferno II, 7, o Muse o alto ingegno or m’aiutate und

XXXII, 10, ma quelle Donne aiutin il mio verso. Die Sonne behält ihre Roffe (bet Spee S. 27, 40), sie hat einen Köcher mit Pfeilen (ib. 27), Phöbus erklimmt mit seinen Strahlen den

höchsten Gipfel (S. 111), die Jägerin Diana stoltz auch Wald» und Wasser-

nymfen nun wieder frisch

im grünen Holtz gähn spielen (S. 27), die

Sonne hat ihren Wagen (Simon Dach, S. 401) und Simon Dach seinen

Helikon (S. 735). Nach Amor brauchen wir kaum zu suchen, da er, nach Goethe, sich überall findet:

Sorge sie steiget mit dir zu Roß sie steiget zu Schiffe, viel zudringlicher noch packet sich Amor uns ans.

Auch Weckherlin (f 1651; a. a. O. S. 17) ist noch fest durchdrungen von Amor- Macht: was? soll ein Fürst mehr Macht und Bortheil haben denn Amor selbst, der größten Götter Gott?

GryphtuS (t 1664) fordert die Vesta auf, die Felsen einzuwerfen u. s. w.

MarS ist noch nicht todt, denn, wir hören (bei Ditfurth) deS

Marti» sein Mahlzeit beginnt; bei de» Marti- Spiel und Tanzen soll

Ueber die Dichtersprache.

375

man resolute sehn, MarS ruft mit der Kriegsposaune. Gelegentlich wird -auch eine Nymphe wieder lebendig (bei Dttf.) die Nymphe der Elbe soll Schutz verleihn, halloh! Wenn nicht Alle» täuscht, hat noch kein Mensch die Harmpnle der Sphären gehört; aber das thut nichts, die Dichter warten uns damit auf. Nur ein kleines Borspiel davon, ist Keller- „klingender Morgen" (Ges. Ged. S. 22); er hält'nicht zurück mit der ganzen Herrlichkeit (S. 334): dort im donnernden Weltgesang wirst du ein leise- Lied erkennen, da- dir, wie fernster Glockenklang, diesen Sommertag wird nennen.

In Herders Volksliedern (S. 347) ist die Sache nicht so deutlich: laßt un» tanzen, laßt un» spriagenl Denn die Sterne gleich bett Freier» prangen in den lichten Schleiern. Wa» die lauten Zirkel klingen» darnach tanzen sie am Himmel mit unsäglichem Getümmel.

. In Shakespeare» Kaufmann von Venedig, V, 1, sagt Lorenzo .... „und nicht der kleinste Stern, den du siehst, der nicht in seinem Um­ schwung wie ein Engel mitstinge in dem Chor der Cherubim. Solche Harmonie ist in den Seelen Unsterblicher! Nur wir, so lange unsere Seele noch da- irdische Kleid umschließt, können sie nicht hören". Ja, könnte hier eine stallmeisterliche Einfalt (wie Sancho») fragen, woher wir denn nun wissen, daß e» da Musik giebt? Gerade an ihn erinnert sich Wieland (Werke, Hempel IV, 19, Musarion), um un- auch etwa- von der Sphärenmusik mitzutheilen: der Weise, der so kühn sich zum Olymp erhebt der schon so hoch emporgestiegen, daß er, wie Sancho dort auf Magellouen« Pferd, die purpurnen und himmelblauen Ziegen de» Himmel» grasen fleht, die Sphären singen hört.

Ueber da- gewöhnliche hinan» ist dieser „Gesang" nun noch gestei­ gert (VI, 96): der Kreise Gesang erschallt im höhern Ton, die Welten sehen sich erstaunt mit festlichem Glanze bekrönt. Mancher überlieferte Redeschmuck scheint un» denn auch gelegentlich zu schwer und werthvoll für die Stelle, an welcher wir ihn heute erblicken. Die Sonne läuft ihren Weg wie ein Held (Ps. 18, 7 exultavit ut gigas ad currendam viam), bei Schiller (Räuber III, 2), bet Offion (I, 302 und 339) wird sie mit einem Helden verglichen, unser Kirchenlied (Berl. Gesangbuch 71, 4) bewahrt den Ausdruck de- Psalm»; aber wenn auch im Kinderlieb (Wunderh. S. 818) die Formel gebraucht wird, so scheint sie mehr gedächtnißmäßig und mechanisch benutzt, al» gefühlsmäßig geschätzt:

376

Ueber die Dichtersprache. steht auf ihr lieben Kinderlein, der Morgenstern mit Hellem Schein läßt sich sehn frei gleich wie «in Held und leuchtet in die ganze Welt,

wenigsten» scheint hier der Morgenstern die Sonne zu bedeuten.

Auch die Kürze dieser Ueberschau wird die Behauptungen de» Ein­ gang» bestätigen. Poesie ist Steigerung und die Dichter haben Neigung, bet gewissen Gelegenheiten von der Vergangenheit fest ausgeprägte Typen zu benutzen. Gewohnheit und Pietät haben gleichen Antheil an diesem Verfahren. Um sich selbst genug zu thun und um auf den Leser zu wir­ ken, gehen die Dichter in Scherz und Ernst über die Erfahrung hinaus, von der richtigen Empfindung geleitet, daß die Menschen mitunter etwa» andere» al» Erfahrung haben wollen. Gesetzt, daß die Empfindung de­ alten und neuen Dichter» gleich ist, so ist damit nicht nothwendig derselbe Au-druck in der Sprache verbunden. Vielleicht waren die Worte lugete caeli sidera ventique suspirate (Dan. II, 351) trauert ihr Sterne de» Himmel» (oder ihr Himmel, ihr Gestirne), seufzet ihr Winde, schon für jenen Dichter Formel, d. h. ein gewohnheitsmäßiger Ausdruck, ein Typus für die Empfindungen bet einer gewissen Gelegenheit, sodaß er. also nicht im mindesten geglaubt hätte, daß seine Aufforderung einen Erfolg haben könnte. Ebenso glaubt kein Mensch (Wunderh. S. 583): im Sthnützelputz-Häusel da geht eS sehr toll, da saufen flch Tisch und Blinke voll, Pantoffeln unter dem Bette,

aber wir lesen eS ganz gern, denn wir haben das Bedürfniß, un» am schönen Schein zu erfreuen. Von Wissen und Erfahrung flüchten wir gern in andere Gebiete. Die Kunst, kann man sagen, giebt un» etwa», was wir nicht glauben, die Religion etwa», wa» wir glauben: beide ergänzen unsere geistigen Bedürfnisse. Wie kein einzelner Mensch, auch Goethe und Shakespeare nicht, den ganzen Begriff der Menschlichkeit auSfüllt, so verlangt auch der Geist eine mannigfaltige Speise. Die Heiligen (wie wir kurz sagen können), deren Geist in die göttlichen Geheimnisse ein« zudringen suchte, bilden die Ergänzung der Weltlichkeit. Diese selbst jedoch wünschen wir, außer durch hausbackene Erfahrung, auch so kennen zu lernen, wie sie sich im Auge de» Dichter» spiegelt; und ein», wa» jenen durch­ weg fehlt, genießen wir begierig bei diesen, nämlich alle Blüten de» Humor». Wir wünschen mitunter etwa» Weltverneinung, aber nicht nur die religiöse sondern auch die poetische. Die Romantiker nannten die letztere „Ironie"; der Au-druck kann un» gleich sein. Jedenfalls war da» Verhältniß der Romantiker zur Religion, ihnen wohl unbewußt, sehr

Ueber die Dichtersprache.

377

wesentlich mttbestlmmt durch ihr Verhältniß zur Welt, denn beide Sphären, Religion und Poesie, haben in gewissem Sinne al- gemeinsamen Nerv die Verneinung der profanen Handgreiflichkeit der Erfahrung und de» WeltlaufS. Diejenigen Dichter werden un» als die größten erscheinen, welche mit dem Ernst den Humor vereinigen, wie Shakespeare, Schiller, Goethe, ArlstophaneS, Möllere. Daß jene» Tauschgeschäft nicht überall gleich betrieben wurde, erklärt sich hauptsächlich au» den geschichtlichen DerhLltntsien, d. h. au» der Ver­ schiedenheit der LebenSverhältniffe und der geläufigen Gedanken, welche ein Dichter vorfand. Wir wissen, daß die Griechen die Natur mit anderen Augen ansahen, al» wir d. h. nicht sentimal; daß die Römer, welche für landschaftliche Schönheit nicht blind waren, dennoch die heutzutage so be­ triebsam abgesuchten Alpen weit weniger schätzten al» wir (L. Friedländer, Darstellungen au» der Sittengeschichte Rom» u. s. w., II, 113 f. 1864): die» hat auch seine geschichtlichen Ursachen. In anderen Dingen sehen wir eine subjektive Verschiedenheit. Wenn bei un» da» Mädgen (wie Goethe schrieb) mit allen nur möglichen Herr.ltchkeiten auSgestattet wird und Sonne, Mond und Sterne gerade gut genug sind, tun e» auszuzieren, so findet sich darunter z. B. nicht da», wa» vermuthlich dem indischen Dichter ein sehr feine» und wirksame» Kompliment deuchte, daß nämlich der Gang der Zarten mit dem de» Schwane» verglichen wird. Und warum die»? Weil sie so schwere Hüften hat. Urvasi von Kalidasa, deutsch v. L. Fritze: ei, ei, warum verhehlst du mir» o Schwant Wenn du die Schöne mit gebognen Brauen nicht sahst am Ufer diese» See», wie konntest du ihre ganze Art zu gehen, Dieb, der Liehe TLndelschritt, ihr rauben? spricht Sie hat dich diesen Tändelschritt gelehrt, du sahst sie, die der Hüften Last beschwert. Schautest du die Götterschöne, die vor ihrer Hüften Wucht langsam gehn muß, sie, die nimmer sieht der Jugendblüte Flucht, sie mit vollem, hohem Busen, mit dem Gang de» Schwan», die Zarte?

Jndeflen können wir, denke ich, zufrieden fein, daß der. Schwan, der ja ein so geschätzte» und mitunter so liebenswürdige» Thier ist, hier zu seinem Rechte kommt. Wie wir un» mit einer poetischen Butterblume absinden, welche gleichfalls auf indischem Boden gewachsen ist, mag zwei­ felhafter sein (H. Zimmer, altindische» Leben, Berlin 1879 S. 227): Agni» Haar trieft. von Butter, fein Gewand ist in Butter gehüllt, fein Antlitz glänzt von Butter, in Butter sitzt er, Butter ist seine Speise. Untersuchungen der Art, wie sie oben durch einige Beispiele erläutert

378

Ueber die Dichtersprache.

wurden, erhalten jedoch Berechtigung und mehr objektive Bedeutung erst dann,, wenn sie unter einen allgemeineren Gesichtspunkt untergeordnet werden. Die» ist die Frage nach dem Wesen der 'Ueberlieferung deS geistigen Besitze» überhaupt, nach der Art seiner Benutzung und Umfor­ mung. Auch auf anderen Gebieten sehen wir Form jur Formel werden, wie in der Sitte und im Recht. Formen werden weiter gebraucht, ob­ gleich ihr ursprünglicher Sinn, ihre wirkliche Bedeutung kaum mehr em­ pfunden wird, Einrichtungen werden beibehalten, obwohl man sich ihre Sinnlosigkeit kaum verschweigen kann, sie werden geduldet, weil sie Erbe der Vergangenheit sind. In der Sprache giebt e» eine Menge von Bei­ spielen dieser Art. Sogar die Zahlen, zu denen man viel Vertrauen haben müßte, erscheinen theil- al» symbolische Formeln, welche nicht ge­ zählt zu werden verlangen, theil» al» scheinbar positive Angaben geschicht­ licher Ereignisse, denen man jedoch bald die poetische Abrundung anmerken kann. Wir reden ferner heute z. B. ohne Arg davon, daß Jepand mit „Kind und Kegel" abgezogen ist. Nähme un» der kundige Germanist beim Wort, so müßten wir (meist) den Ausdruck ändern. Denn da» harmlose Wort Kegel bedeutet uneheliche» Kind, wovon wir, an die Formel gewöhnt, un» nicht» träumen lassen. Wir wissen doch, wa» die liebe lange Nacht ist und sie ist un» lieb, wenn wir sie nach Wunsch, z. B. schlafend hin­ bringen können. Auch dann kann man sie so nennen, wenn sie ihren „Mantel" über ein Zechgelage breitet (Wunderh. S. 252): so trinken wir die liebe lange Nacht, bi- daß der liebe lichte Morgen wacht.

Eine andere Situation führt uns das Lied vor „der Pilger und die fromme Dame" (Wunderh. S. 274): der PilgerSmänn war von Herzen froh, sein Mantel er sogleich auSzog, sie schlafen bei einander die liebe lange Nacht, bis daß daS Hammerlein sechs Uhr schlagt.

Auch der heut so oft angezweifelte Student schreibt (S. 687) die liebe lange Nacht. Dagegen glauben wir nicht, daß jenes „frisch jung weib" (Uhland, VolkSl. 181, 4, 2) korrekt spricht: vil lenger und je öfter sie den Hellen tag anrief: ei, ist eS Tag und wil es schier her tagen? oder wil die liebe lange nacht nimmermehr kein end nicht haben?

Dietrich von Nieheim. Don

Bruno Gebhardt. Dietrich von Nieheim.

Sein Leben und feine Schriften von Georg Trier.

Leipzig 1887 (Alphon». Dürr).

An der Scheide des vierzehnten Jahrhundert» befand sich die abend­ ländische Welt in einer gewaltigen Krisis. Je mächtiger sich während der letzten Jahrhunderte da» kirchliche Leben entwickelt hatte, je enger seine Fesseln da» ganze Dasein de» damaligen Menschen umschlossen hielten, je stolzer der gewaltige Bau der Kirche aufgethürmt worden war, um so gefährlicher mußte jetzt der Riß, um so einschneidender in alle Verhältnisse die Spaltung, um so niederschmetternder der Sturz wirken. Die jahr­ hundertelangen Kämpfe für da» römische Primat, die blutbefleckten Streitig­ keiten für die Einheit der Kirche, sie schienen alle vergeblich gewesen zu sein, seitdem da» Schisma «»»gebrochen war. Mit der zwiespältigen Wahl de» Jahre» 1378 begann eine neue und verhängnißvolle Epoche in der Geschichte de» Papstthum», Gegenpäpste gab e» im eigentlichen Mittel­ alter auch, aber sie waren fast immer ohnmächtige Kreaturen einzelner Herrscher und verschwanden thatenlos vom Schauplatze oder unterwarfen sich dem rechtmäßigen Pontifex; in jedem Falle war in der Welt kaum ein Zweifel vorhanden, daß nicht Clemens III., sondern Gregor VII., oder daß nicht Nicolau» V., sondern Johann XXII. der legitime Nachfolger Petri sei. Ganz ander» war die Sachlage jetzt. Der vorgeschriebene Wahlapparat hat ebenso bei der Cretrung Urban» VI. wie bei der seine» Gegner- Klemen» VII. funktionier, wer konnte entscheiden, wem dle Obedienz gebühre? Ja wenn noch da» deutsche Reich einig und sein Kaiser mächtig und energisch gewesen wäre, so hätte wohl dessen Ansehen die Wagschale für.den einen oder den anderen der Päpste endgültig belasten können. Aber auch diese Möglichkeit eine Entscheidung herbeizuführen fehlte bei den zerfahrenen und unseligen Zuständen de» Reiche»; dabei stieg mit jeder

neuen, rasch aufeinanderfolgenden Papstwahl die Bedrängniß weiter, die Gewissen-noth gläubiger Seelen suchte vergeblich einen Ausweg; der kirch­ liche Organismus, der ja Dank der mittelalterlichen römischen Praxis all­ mählich so jugeschnitten worden war, daß er in der Kurie seine Spitze hatte, daß alle- von ihr au-ging und zu ihr zurückströmte, der kirchliche Organismus schien lahmgelegt und erstarren zu müssen. Aber indem solchen Verhältnissen gegenüber die hervorragendsten Männer jener Zeit nach einem Ausweg suchten, erstanden Gedanken, Pläne, Theorien, die eine ganze Zukunft in sich schlossen. Es begann jener Kampf gegen die päpstliche Suprematie und für eine Verfassung, jener Kampf gegen die Korruption der Kurie und für eine Erneuerung altchristlicher Institutionen, der schließlich in seinen letzten Ausläufern zu den kirchlichen Neubildungen führte. Für die Geschichte jener bewegten Zelt de- Schisma- hat man schon früh auf btc Werke des Dietrich von Nieheim die Aufmerksamkeit gerichtet. Die ersten Ausgaben derselben erschienen im sechzehnten Jahrhundert, wurden von protestantischer Sette besorgt und boten der protestantischen Polemik sehr wirksame Wassens Von katholischer Seite zögerte man nicht, den heftigen und gravirenden Aeußerungen de- Historikers gegenüber, den Borwurf von Fälschungen zu erheben, der neuerdings von der rührigen ultramontanen Geschichtsschreibung erneuert wurde. ES konnte die- um so leichter geschehen, als die Forschung über Dietrich- Leben und Schriften ganz daniederlag; das Wenige, was bekannt war, erheblichen Anlaß zu Zweifeln und Bedenken bot. Den Anstoß zu einer erneuten, .eindringenden und fruchtbaren Beschäftigung gab Sauerland, als er im Jahre 1875 seine kleine Schrift „Das Leben des Dietrich von Nieheim nebst einer Uebersicht über dessen Schriften" herausgab. Sauerland hat seitdem mehrfach Beiträge zu den angeregten Fragen geliefert, ihm schloffen sich vor allem Theodor Lindner und Max Lenz mit wichtigen Studienergebnissen an, und nun hat Georg Erler alles bisherige zusammen­ gefaßt und außerordentlich viel Neue- hinzugefügt und alle- das zu einem vortrefflichen Buche verarbeitet, dessen Werth und dessen Ergebnisse auch einem weiteren Publikum bekannt zu werden verdienen. Wird auch Dietrich von Nieheim immer in erster Reihe um seiner Schriften willen die Aufmerksamkeit auf sich ziehen, so. sind doch auch die Schicksale seine- Leben-, soweit sie durch die Forschung sicher gestellt sind, von größtem Interesse, denn sie gewähren einen Einblick in die kirchlichen Zustände jener Zeit, die in ihrer Korruption der ultramontanen Historio­ graphie gegenüber nicht oft genug betont werden können. Dietrich ist nach mancher Richtung hin typisch für jene Menschenklaffe, die mit dem Namen

Kurtisanen gebrandmarkt wurde und in der satirischen Litteratur de» Reformation-zeitalter- und auch schon der ihm vorhergehenden Epoche eine Rolle spielte. Wann und wo er geboren ist, bleibt unbekannt; die Ansicht, daß er dem adligen Geschlechte von Niem angehört habe, wird sich wohl kaum halten lassen, dagegen ist sicher, daß sein Name Nieheim von dem west­ fälischen Städtchen herstammt. Ueber seine Jugend und seine Ausbildung beruhen alle Angaben nur auf Vermuthungen und Rückschlüssen; da» ein« zige, wa» er selbst mittheilt, ist die Bemerkung, daß er die Rechte studirt hat; einen akademischen Titel führte er nicht. In Avignon, wohl schon in den Zeiten Urban» V., sicher aber unter Gregor XI. (1370—1378) finden wir ihn al» kurialen Beamten; zuerst al» notarius eacri palatii, der bei den Amtshandlungen de» Auditor» al» Gehilfe fungirte. Mit großer Klarheit und auf Grund eine» reichlichen Material- hat e» Erlerverstanden, den sehr komplizirten Mechanismus der kurialen Aemter klarjulegen. Ein solcher Notar hatte bei den Prozessen, die vor seinem Auditor geführt wurden, die Protokolle zu führen» die Akten zu beglaubigen, den Parteien auf Wunsch Abschriften zuzustellen u. d. m. Er war nur indirekt kurialer Beamter, da er zwar unter der Jurisdiktion des Vizekanzler­ stand, aber sonst gänzlich von dem Auditor, der ihn in Dienst genommen hatte, abhing. Im Jahre 1376 verlegte der Papst seine Residenz endlich wieder nach Rom und mit den übrigen Kurialen folgte auch Dietrich dorthin. In diesen Zeiten gewann er die Gunst des Erzbischöfe- Bartholomäus Prlgnano, der nach dem Tode Gregor- als Urban VI. den päpstlichen Thron bestieg. Unter diesem Gönner erlangte er die einträglichen Aemter eine- AbbveviatorS und Skriptor- der Breven. Die Abbreviatoren hatten den Ent­ wurf der Schriftstücke anzufertigen, die Skriptoren die Ausfertigung zu besorgen. Neben mancherlei Ehrenrechten — so durften die letzteren al» solche den Titel Magister führen — hatten sie, was für Leute vom Schlage unsere- Dietrich gewiß wichtiger war, ein sehr ansehnliche- Einkommen, theils fest fundirt, theil- durch allerlei Sporteln, die zu erlangen e- an Mitteln und Wegen nicht fehlte. Noch existirt eine ganze Reihe von Bullen, die den Namen unsere- Skriptor- tragen; auch zwei seiner Schriften, deren Herausgabe von Erler versprochen ist, ein über cancellariae und ein Stilus abbreviatus, beide Handbücher für den Geschäfts­ brauch der kurialen Behörden, verdanken dieser Stellung ihren Ursprung. Mit der Wahl Urban- VI. war das Schisma entstanden; schien er zuerst auch der französischen Partei genehm, so verdarb sein schroffe- Auf­ treten bald genug da- Verhältniß zu jener und Robert von Genf trat ihm

al- Clemens VII. gegenüber. Nun begannen jene unheilvollen Kämpfe, deren beste Kenntniß wir den Schriften. zweier Deutschen verdanken, un­ serem Dietrich und seinem allerdings weit bedeutenderen Land-manne Gobelinn» Persona, dessen er merkwürdiger Weise iüemal- gedenkt. Die persönlichen Schicksale untere- Schriftsteller- wurden natürlich durch die Entwickelung der öffentlichen Berhältniffe mannigfach beeinflußt. Unter Noth und Mühsal folgte er seinem Herrn auf dessen Zügen in Italien, wo ja im Königreiche Neapel sich die Waffenkämpfe abspielten. Al» eine Kardinal-verschwörung entdeckt wurde, gehörte Dietrich zu der Unter­ suchung-kommission und will, nach seiner späteren Darstellung, dem Papste gegenüber mit großem Freimuth aufgetreten sein, nach bestem Können zur Rettung der Angeklagten beigetragen und sich schließlich unter einem Vor­ wande von der ferneren Theilnahme zurückgezogen haben, weil er die Torturen, die der hart gewordene Sinn de» Papste- gegen die abtrünnigen Kirchenfürsten anwandte, auf- äußerste mißbilligte. Al- übrigen- die Ge­ fahr eine- ferneren Au-Harren- beim Papste größer wurde, zog e- Dietrich vor, nach dem Beispiele vieler anderer, sich zu entfernen und seinen Gönner in Stich zu lassen. Sein ganze- Verhalten in dieser Zeit, da- sein Bio­ graph auch durchaus nicht verschleiert, zeigt zur Genüge, daß skrupulöse Ehrenhaftigkeit und dankbare Treue durchaus nicht gerade in seinen Charakterzügen hervorleuchten, Tugenden, die übrigen- wohl nirgend- so selten gefunden wurden, wie bei der zusammengewürfelten Schaar der nur auf da- eigene Wohl bedachten Kurialen. Klug scheint sein Verhalten übrigen» gewesen zu sein, denn er hatte sich den Weg zur Rückkehr jeden­ falls offen gehalten: Im Mai 1387 treffen wir ihn wieder in seiner amt­ lichen- Stellung. Al- zwei Jahre darauf der Papst starb, folgte BonifaziuS IX. (—1404), über den Dietrichs Urtheil außerordentlich bitter und scharf lautet. In der That hatte der Ablaßhandel und der Pfründen­ schacher unter dessen Pontifikat eine wahrhaft erschreckende Ausdehnung gewonnen, obwohl mehr die Verhältnisse als die Personen Schuld daran sind. Die steten Kämpfe, die durch da- Schisma bedingt waren, erfor­ derten Geld und die Scham, e- auf simonistlfche Weife zu erlangen, war längst verloren gegangen. Aber mit vollem Recht weist Erler darauf hin, daß Dietrich eigentlich am wenigsten der Mann war, über diese Mißbräuche klagen zu dürfen, und daß wenn er e» thut, sein Standpunkt nicht der sittlich-religiöse eine» Nicolau- de Clemange- und Matthäus von Krakau oder eine- Albertus Engelschalk (da- ist der Erler unbekannte Verfasser de- Speculum aureum*)) war, sondern der eine- Pfründenjägers, der ♦) S. EugelhuS Chronica nova, bei Leibniz Scriptor. II. 1139.

persönlich unter den Zuständen litt. Denn einerseits ist die Zahl der nachweisbar in seinem Besitze befindlichen Pfründen durchaus nicht klein, wie er überhaupt ein recht vermögender Mann war, andererseits zeigt er bei den Prozessen, die er um strittige Pfründen führte, daß er seine Lehrjähre im Dienste der kirchlichen Verwaltung zur gründlichen Kenntnißnahme der dabei nöthigen Schritte verwendet hatte. Mit der Hauptsache aller­ dings. hatte er kein Glück, nämlich mit der Erlangung des BiSthumS Verden. Die ganze, ziemlich verwickelte Angelegenheit lag lange im Dunkeln; soviel aber steht jetzt fest, daß Bonifaz IX., 1395 Dietrich das BiSthum Verden kraft apostolischer Autorität verlieh. Nach seinem eigenen Geständniß hat ihn diese Verleihung Geld genug gekostet, aber als er nun nach Verden kam, thürmten sich die größten Schwierigkeiten auf. Sein Vorgänger Otto von Braunschweig, damals Erzbischof von Bremen, hatte Amt und Stadt Rothenburg, den besten Theil, behalten, die Stadt Verden selbst war in seinen Dienst getreten, und Dietrich besaß weder Macht noch Geld sich gegen ihn zu behaupten, denn kaum war er mit Berden providirt, hatte auch der Papst über seine bisherigen Pfründen anderweitig verfügt. Alle seine Schritte, die» rückgängig zu machen, wobei er mit Recht darauf htnwieS, daß er noch nicht in den vollen Besitz de» BiSthum» gelangt sei, waren vergeblich; in Verden selbst aber konnte er sich nicht halten, die Regalien empfing er wohl auch nicht, kurz, er kehrte nach Rom zurück, wahrscheinlich um zu retten, wa» er retten konnte, aber der Erfolg blieb gänzlich au». Seine Pfründen hatte er verloren, da» BiSthum nicht erlangt, wa» Wunder, wenn er auf Papst BonifaziuS wenig gut zu sprechen war? In seinen Schriften erwähnt er diese ganze Episode mit keinem Worte; schämte sich der geriebene Kuriale, daß er mit aller seiner Schlau­ heit so abgefallen war? So lebte er denn wieder in Rom; zwar machte er unter dem Pontifikat Jnnocenz VII. noch einmal einen Versuch da» BiSthum zu erlangen und begab sich zu diesem Zwecke nach Deutschland, aber auch dieser letzte Schritt war nutzlos. Trotzdem aber scheinen seine Verhältniffe sich in günstigem Zustande befunden zu haben; urkundlich sind au» jener Zeit mehrere Häuserkäufe nachgewlesen und ebenso gehört die bedeutende und wichtige Stiftung für das deutsche Hospiz bei S. Maria dell' Anima hierher. Er trat diesem einen Theil seine» liegenden Be­ sitze» mit dem Vorbehalt der Nutznießung während Lebzelten ab. Sein Skriptoramt erlangte rr nicht wieder, wohl aber wird er noch ofsiciell al». Abbrevtator bezeichnet. Jnnocenz VH. saß nur zwei Jahre auf dem Stuhle Petri; al» er 1406 starb, wurde die Neuwahl mit besonderer Rücksicht auf die immer dringender verlangte Union vorgrnommen, und Angelo Corraro, der wie Preußische Jahrbücher. Bd. LXI. Heft 4. 27

alle anderen Kardinäle im Konklave dahinzielende Versprechungen abge­ geben hatte, al» Gregor XII. gewählt. Wir wollen die Ereignisse der nächsten Zeit bi» zum Abfall der Kardinäle und der durch sie erfolgten Berufung de» Konzil- nach Pisa nicht im einzelnen verfolgen; Dietrich stand den handelnden Persönlichkeiten nahe und hatte ein aufmerksame» Auge für alle», wa» geschah. Er blieb für» erste an der Kurie, und c» zeugt für seine angesehene Stellung, daß er einen allerdings mißglückten Vermittelung-versuch: zwischen Papst und Kardinälen machen konnte. Aber bald neigte er der Partei der letzteren zu, und al» Gregor Lucca, den bisherigen. Aufenthaltsort, verließ, folgte er ihm nicht. In jenen Tagen schloß er seine Sammlung von Aktenstücken zur Geschichte der Zeit, der er den Titel Nemus unionis gab, ab und fügte Bemerkungen hinzu, welche die bitterste Feindschaft gegen den Papst verrathen. Der Versamm­ lung zu Pisa wohnte er nicht bei, sondern weilte währenddessen in seiner deutschen Heimath, ohne daß eine etwaige Wirksamkeit sich erforschen ließe. Kaum war der Konzil-papst Alexander V. gewählt, da begab sich Dietrich an dessen Kurie, wo er wohl wieder als Abbreviator, wenig zufrieden, beschäftigt war. Bald trat durch da- Ableben Alexanders eine neue Sedts. vacanz ein, und während dieses ConclaveS finden wir unfern Kurialen publicistifch thätig. Er richtet ein Sendschreiben an die Kardinäle, das hier von Erler au» einer Wiener Handschrift zum ersten Male veröffent­ licht ist. Die Gedanken, die er darin entwickelt, ja einzelne Erwähnungen und Wendungen kehren in seinen sonstigen Schriften ebenfalls wieder. Er fordert von demjenigen, der das Pontifikat erhält, fernbleiben von Simonie und Nepotismus, er schildert die Finanzkünste Bonifaz'- IX., die er ja zu seinem eigenen Schaden gründlich kennen gelernt hatte, und warnt da- zukünftige Oberhaupt der Kirche vor dergleichen Machinationen. Au- dem Konklave.ging am 17. Mai 1410 Johann XXIII. hervor; atn gleichen Tage schloß Dietrich sein hervorragendstes Werk De Scbismate ab. Unter dem neuen Papst glückte es ihm wieder da- einträgliche Skrlptoramt zu erlangen, daneben hat er gewiß als Prokurator auswärtiger Parteien bet Prozefien vor der Kurie mancherlei Einkünfte genossen, wie e» In einem Streite zwischen Dortmund und dem Erzbischof von Köln nachgewiesen ist. Aber noch einmal wurde er im friedlichen Besitz seineAmte» und Vermögen» gestört, al- Ladislaus von Neapel Rom etnnahm und den Papst'zur Flucht zwang (1413). Die Güter der Kurialen, die der Aufforderung zur Rückkehr nicht Folge leisteten, wurden eingezogen und auch über Dietrichs Güter wurde verfügt. Jetzt aber bot ihm die fromme Stiftung, die er gemacht, die Handhabe, um diese Maßregel ab­ zuwenden. Die Vorstände de» Hospize- erklärten seinen ganzen Besitz für

Dietrich von Nieheim.

385

seine Schenkung unter Lebenden; zwar konnten sie natürlich diese Behaup­

tung nicht

dokumentarisch nachweisen,

ein Zeuge wußte wohl von der

Schenkung, aber nicht- über deren Umfang, da erklärte Dietrich selbst von Florenz au-, er habe seine ganze bewegliche und unbewegliche Habe dem

die letztere

Hospiz geschenkt;

bestand

au» fünf Häusern

in der Regio

Parlonl», ein Grundstück in der Regio St. Eustachii, da» früher seine Konkubine bewohnt hatte, und einen Weinberg.

Trotzdem da» Spiel de»

Kurialen, jetzt seinen ganzen Besitz al- Schenkung zu bezeichnen, woran er früher nicht gedacht hat, durchschaut wurde, fand sich neben dieser Er­

klärung noch da» wundersame Zeugniß de» Kaplan» de» Hospize», der

ebrnfall» wisien wollte, daß jene» Legat alle Häuser betraf, und Dietrich nahm auch keinen Anstand, an den von ihm heiß gehaßten Ladi»lau» eine

Bittschrift zu richten. So wurde der sür den Charakter unsere» Kurialen höchst merkwürdige Prozeß zu Gunsten de» Hospize» entschieden. Der Tod

de» König» führte die Kurie nach Rom zurück, und natürlich trat jetzt

Dietrich wieder in den vollen Genuß seiner Besitzthümer.

Nachdem diese Gefahr für den Papst vorbeigegangen war, konnte er dem

allseitigen Drängen

mehr widerstehen und berief ein allge­

nicht

Unter den zahlreichen, von allen Seiten

meine» Konzil nach Konstanz.

die der Kirchenversammlung Richtung und

her einlaufenden Schriften,

Ziel weisen wollten, traten,

für Tendenzen der einen oder andern Partei ein­

gehört auch unsere» Autor» oft genannte» Werk Privileg!» aut

iura imperii, dessen Kern die gefälschten Privilegien Hadrian» I. und

Leo- VIII. bilden. in Florenz fand,

Dietrich zweifelte nicht an ihrer Echtheit, al» er sie und veröffentlichte sie gewiß gern, da sie mit seinen

sonstigen Ansichten übereinstimmten.

Wohl war er in Konstanz anwesend,

aber von einer bedeutsamen Wirksamkeit, die er dort entfaltet haben soll,

kann keine Rede sein, Versammlung,

soweit jetzt unsere Quellen für die Geschichte der

deren Umfang und Zustand allerdings viel zu wünschen

übrig läßt, un» belehren.

Al» Johann floh, blieb Dietrich beim Konzil

und hat höchstwahrscheinlich dem Flüchtigen jene leidenschaftliche Schmäh­ schrift

auf den Weg

nachgesandt, die unter

dem Titel Invectiva in

diffugientem e Constanciensi concilio Joannem XXIII längst bekannt ist.

In reger schriftstellerischer Thätigkeit blieb er in Konstanz,

schrieb

al» Fortsetzung zu seinem Werke über da» Schisma ein Leben Johann», dem er noch tagebuchartlge Aufzeichnungen anfügte,

zählung bi» zum 3. Juni 1416. 1418 macht

er

zu Maastricht sein Testament,

frommen Stiftungen verlieh.

und führte die Er«

Noch zwei Jahre lebte, er; am 15. März

in dem er seinen Besitz

Bald darauf muß er gestorben sein.

E» ist noch nicht allzulange her, daß man alle die Männer, die auf

27*

Dietrich een Nieheim-

386

den Konzilien und in der folgenden Epoche als Gegner des Papstthum­

sich gezeigt haben, mit dem Namen „Reformatoren vor der Reformation"

beehrte.

Beffere Kenntniß und tieferes Verständniß

haben diesen Miß­

brauch abgeschafft, wenn man auch zugestehen muß,

daß.die Werke und

daS Wirken von Persönlichkeiten wie Gerson und Langenstein, ClSmangeS

und Krakovia, Döring und Toke, Johanne- Goch und Jakob von Jüter-

bock und wie sie alle heißen al- vorbereitende Momente für die große Abrechnung von höchster Wichtigkeit sind.

Man nannte sie in Konstanz

und Basel Reformfreunde und gewiß mit vollstem Rechte, da da- hohe

Ziel, dem sie nachstrebten, die Reform der Kirche an Haupt und Gliedern war.

DaS Dogma wurde ja mit keinem Worte gestreift, die Union war

in Konstanz erreicht, eS blieb also in der That nur von dem Programm

der Punkt reformatio über. Moment,

Und daS ist nun gerade aber auch dasjenige

in dem sich der früher vielfach al- Reformfreund gepriesene

Dietrich von Nieheim von allen jenen genannten Männern unterscheidet. Für ihn war Stern und Kern die Wiederherstellung der kirchlichen Ein­

heit, einer BerfaffungSänderung innerhalb der Hierarchie,

bedingten' Schwächung deS päpstlichen Absolutismus,

einer dadurch

einer prinzipiellen

Umgestaltung des päpstlichen CollationSrechtS, deS päpstlichen SteuerrrchtS,

einer Prozeßreform, kurz allen jenen einschneidenden Veränderungen, wie

sie die Reformschriften und gravamina

forderten

und daS Konstanzer

Konkordat und die Baseler Dekrete nachher sormulirten,

Wort geredet,

Verständniß.

hat er nie daS

dafür hat der eingefleischte Kuriale weder Neigung noch Gegen da- simonistische Treiben an der Kurie seine laute

Stimme zu erheben, dazu haben ihn wohl blos die bitteren persönlichen Sein Ideal liegt in einer fernen Vergangenheit,

Erfahrungen geführt.

in der Zett, al» Otto I. und Heinrich III. Päpste ab- und

einsetzten,

al» die gewaltige Macht deS Kaiser» hell über der Welt leuchtete.

Mit

vielen unsympathischen Zügen seiner geistigen Richtung und seiner Cha­

rakterentwickelung kann diese» außerordentlich starke Nationalgefühl, in der Fremde mehr wuch» al» schwächer wurde, versöhnen.

den Wirren jener

da»

Rettung au»

zerfahrenen und unseligen Zeit versprach er sich nur

vom Eingreifen eine»

starken Kaiser».

Durchzieht auch diese Idee alle

seine Schriften, so tritt sie wohl am stärksten in der Einleitung zu den

Privilegia et Jura hervor: der bittern Schilderung von der Ohnmacht

de» Reiche» stellt er die glänzenden Bilder der Vergangenheit gegenüber; jene heute al- gefälscht anerkannten Privilegien, und Leo VIII.

den

nach denen Hadrian I.

Kaisern die Wahl der Päpste,

die Besetzung der

Bischof-stühle, die Bestimmung de- Thronfolger- zugesprochen haben, sind

ihm äußerst willkommen, denn gerade auf Grund dieser sollte nun der

Kaiser da- Schisma au- der Welt schaffen. Dann würde Frieden und Eintracht herrschen, dann könne unter der Führung de» Herrn der Welt der Kreuzzug gegen die Ungläubigen begonnen werden, alle» Heil, aller Segen hängt davon ab, daß ein energischer Mann die Krone de» Reiche» trage. Bon solchen politischen Idealen war Dietrich' erfüllt, ihre Verwirk« lichung suchte und fand er in der Vergangenheit, mit der er sich in einem eigenen, verlorenen Werke, einer Chronik, beschäftigte. Ihre Existenz ist durch die Citate, die Engelhu», ein jüngerer Zeitgenoffe, darau» seiner Chronica nova einverleibt hat, verbürgt. In seinen Untersuchungen darüber kam Erker zu denselben Resultaten, zu denen ich unabhängig von ihm gekommen war*), und die im allgemeinen auch schon Sauerland fest­ gestellt hatte. Danach wird da» Werk wohl die Geschichte der deutschen Katserzeit bi» zum Untergange der Hohenstaufen geführt haben mit be­ sonderer, vielleicht ausschließlicher Berücksichtigung der Kämpfe zwischen Kaisern und Päpsten, wobei der Standpunkt de- Berfaffers getreu seinen sonstigen Anschauungen auf der Seite der ersteren war. Kirchenpolitische und kirchenrechtliche Betrachtungen überwiegen die historische Darstellung; diese mag auf guten, theilweise italienischen Quellen beruht haben und ihr Verlust ist gewiß sehr zu bedauern; daß die von Eccard im Corpus historicum unter Dietrich- Namen veröffentlichte Chronik nicht von diesem sei, hat Lindner längst überzeugend dargethan. Ob die von Sauerland in einem Wiener Codex gefundenen Fragmente zu der Chronik gehört haben, erscheint denn doch sehr zweifelhaft. Die Hauptwerke de- westfälischen Geschichtschreiber» sind aber die schon genanten Schriften „Hain der Union“ und „Geschichte de» Schis­ ma-". Es sind nicht Geschichtswerke im eigentlichen Sinne, sondern sie halten die Mitte zwischen der Urkundensammlung und dem Memoire. Der Verfasser hat seine Stellung benützt, um Abschriften von allen zu­ gänglichen Aktenstücken, welche die Geschichte seiner Zeit erleuchten können, zu sammeln und ihnen fügt er Erinnerungen an eigene Erlebnisse bei. Seine Urtheile über die leitenden Persönlichkeiten sind stark subjektiv ge­ färbt und vielfach läßt sich der Grund eine- harten und bitteren Worte» in sehr persönlichen Erfahrungen und Anschauungen erkennen. Aber wa» thut da»? Wir wollen ja von ihm keine sittlichen Beurtheilungen, son­ dern Thatsachen kennen lernen und schließlich dienen wie bei allen Me­ moiren die persönlichen Glossen zugleich dazu kennen zu lernen, wie man über den und jenen in den Kreisen, denen der Verfasser angehörte, ge«

388

Dietrich von Nieheim.

WaS da- urkundliche Material betrifft,

dacht und gesprochen habe.

so

Ist, trotzdem heute selbst der Batikan feine Schätze spendet, fein Werth

ein sehr hoher, und wir würden eine Neuherau-gabe der Geschichte de» Schi-ma- auf Grund vor allem de- Codex Gothanus, der reichlicher ist

al- die alten Drucke,

mit Freuden begrüßen.

Ein recht intereffante-

Beifpiel dafür, wie leicht ein historische- Urtheil beeinflußt werden kann, bietet Dietrich» Aeußerung über Papst Urban VI.

In den Drucken de»

Werke- De schismate ist eine Stelle weggelaffen worden,

in der der

Derfaffer feinem einstigen Gönner da- Lob spendet, feine Hände nie mit Simonie befleckt zu haben, und andere Lichtseiten feine- Charakter» her­

vorhebt.

Da diese Worte der Anerkennung den späteren Geschichtschrei­

bern unbekannt blieben,

ist da» Urtheil über den Papst viel härter, als

er e» verdiente, ausgefallen.

Daß aber derartige Versehen oder Nach­

lässigkeiten de- ersten Herausgeber- durchaus nun nicht den Vorwurf von

Fälschungen berechtigt erscheinen lasten, hat Erker durch eine eingehende Vergleichung zwischen Drucken und Handschriften zur Genüge festgestellt, wie überhaupt feine Untersuchungen ebenso so sorgfältig wie lichtvoll sind

und

die meisten aufgeworfenen Fragen zur Lösung bringen.

Daß die

beiden äußerst freimüthigen Schriften auf den Index kamen, ist nicht ver­

wunderlich; die Mottvirung fetten- der Index-Congregation hat darin propositiones hereticae, sapientes haeresim, erroneae et temerariae,

scandalosae piarum aurium offensivae den ersteren gehören Stellen,

et iniuriosae gefunden.

Zu

in denen er Karl von Neapel wegen der

Einkerkerung de- Papste» Urban zu entschuldigen sucht,

ferner sage der

Autor einmal, er habe nicht gelesen, daß der Papst eine irregularitatis

nota einen tödten lasten dürfe, weil er zu leugnen scheint, daß der Papst die Fülle der Macht besitze und über allem Rechte stehe.

Er behaupte,

ein sündigender Papst könne durch den Kaiser korrigtrt werden; da- fei

die Ketzerei de» MarsiltuS von Padua.

Zu den ketzerischen Behauptungen

gehört weiter die Aeußerung, e» fei nicht Christi BtcariuS,

wer Christi

Befehlen nicht folgt und sie nicht beobachtet, er dürfe nicht Papa, sondern

bestia genannt werden*),

ein schlechter Papst müsse

eher Thränn al»

Diener Gotte- heißen.

Zu den Propositionee sapientes haeresim wird

feine Klage gerechnet,

daß die Stadt Rom nicht unter der Gewalt de-

Kaiser» stehe; irrig ist die Ansicht, daß der Kaiser unmittelbar von Gott und nicht vom Papst abhänge.

Urtheile

über Alexander V.,

Für fromme Ohren beleidigend sind feine auch die Mittheilung

schriften, die in jenen Zeiten entstanden sind.

*) Bezieht sich auf De schismate III. 11.

beleidigender Flug­

Man ersieht au- dieser Blumenlese zugleich auch, welchen Stand­ punkt der Autor vertritt, von welchem Geiste seine Bücher erfüllt sind. Waren an sich die einander bannenden und verfluchenden Päpste, die in stete Verschwörungen verstrickten Kardinäle nicht übermäßig geeignet Re­ spekt einzuflössen, so war der Kuriale, der oft genug hinter die Koultssen geblickt hatte, der letzte, der ihn empfinden konnte. E- sind wahrlich nie protestantische Federn gewesen, welche die Skandalgeschichte der Kurie ge­ schrieben haben; unsere Kenntniß verdanken wir immer — man denke nur an die Tagebücher eine- Burcard und anderer päpstlicher Ceremonienmeister — Kurialen, die ja auch die beste Gelegenheit hatten sie gründlich kennen zu lernen. Wenn in den beiden Geschicht-werken eine Tendenz gesucht werden soll, so könnte sie nur darin gefunden werden, daß der mitgetheilte faktische Verhalt da- Recht und die damals nothwendige Anwendung de- Rechte» der Absetzbarkeit de- Papstes erläutern und erweisen sollte. Dietrich hat sich nicht wie andere Zettgenoffen eingehend mit den Fragen beschäftigt, wie die Stellung de- Konzils zum Papst, der Hierarchie zu ihrem Ober­ haupt, der weltlichen Gewalt zur geistlichen sei, fest steht ihm, daß der Kaiser den Papst absetzen und die Einheit Herstellen müffe. Die Materialiensammlung, deren Titel Nemus unionia auS der allegorischen Einthcilung herstammt, schloß der Verfasser am 25. Juli 1408, die Geschichte deS Schisma- am am 25. Mai 1410 ab; in Konstanz be­ gann er eine Fortsetzung, deren von den Herausgebern gewählter Titel de vita Johannis XXIII pontificis Romani nicht ganz deckend ist. Nach der Flucht und Berurtheilung des Papste», dem er eine schon früher er­ wähnte Schmähschrift nachsandte, schrieb er jetzt eine Biographie des­ selben und schildert erbarmungslos dessen Sünden und Schandthaten, indem er auch auf Balthasar Coffa'S vorpäpstliche Zeiten zurückgreift. Er malt das Leben und den Charakter des Pontifex in den schwärzesten Farben und jedes auch unverbürgte Gerücht, sofern eS dem Gefallenen nur eine Schandthat oder Abscheulichkeit nachsagt, nimmt er mit Ver­ gnügen auf, wobei er übrigen- ganz vergessen zu haben schien, daß er wenige Jahre vorher dem Neugewählten einen kleinen Traktat de bono Romani Pontificis regimine mit Ausdrücken der Verehrung und Dank­ barkeit überreicht habe. Allerdings ist diese» scheinbar zweideutige Ver­ halten nicht unerklärlich; wie einer hatte Dietrich die unseligen kirchlichen Zustände erkannt, wie einer strebte und rang er nach der Union und hoffte von ihr und nur von ihr alle» — und nun da man so nahe an der Erreichung de» Ziele» angelangt war, machte jener, treulo» und wort­ brüchig, einen Strich durch die ganze, sorgsam vorbereitete Rechnung.

Da mußte wohl der Zorn entbrennen und die Leidenschaft aufflammen, und ein Erzeugniß derselben ist die kleine Schrift, ein werthvolle» Dokument der Stimmung. Steht auch die Geschichte de? Papstes im Mittel­ punkt, so richtet sich die Aufmerksamkeit de» Autors doch auch auf andere Verhältnisse und Erelgnlffe, besonders auf die Berurthetlung der Böhmen, deren grimmiger Feind er auch schon au» nationalen Rücksichten' ist. ES kann sich in dieser Skizze nicht darum handeln, alle Schriften Dietrich» zu erwähnen und zu besprechen, zumal eine ganze Reihe ihm mit Unrecht zugeschrteben worden sind. Zahlreiche Flugschriften zeugen von der tiefgehenden Aufregung der öffentlichen Meinung in jenen be­ wegten Tagen, die überwiegende Menge erschien anonym und die späteren Herausgeber, Hardt, Goldast, Walch, haben oft Berfaffernamen darüber gesetzt, wenn nicht au» Willkür, so doch au» wenig triftigen Gründen. So kommt t»; daß die moderne Forschung erst Ordnung in diese Flugschriften-Literatur zu bringen hat, aber, wie e» in der Natur der Sache liegt, vielfach unlösbaren Problemm gegenübersteht. Selbst wenn auf den Handschriften der Name de» Verfassers angegeben ist, kann der Angabe nicht immer getraut werden, da sie entweder erst später und von unkundiger Seite gemacht worden ist, oder selbst gleichzeitige Abschreiber mit Vorliebe die Namen bekannt gewordener Männer wählten. Man denke blo», wa» alles unter der Flagge detz großen Pariser Kanz­ ler» Johanne» Gerson segelte, ehe Schwab Ordnung in da» Chao» brachte; waö alles Heinrich von Langenstein zugeschrieben wurde, bis Hartwig'» treffliche Untersuchungen erschienen! Derartigen Schriftstücken gegenüber ist oft die äußere Kritik machtlos und viel eher die größere oder geringere Uebereinstimmung de» Ideengehaltes mit demjenigen der anerkannten Schriften beweiskräftig. Mit bestem Erfolge wird dieses Verfahren auch Nieheim gegenüber angewendet. Da er als Anhänger der Konzilspartei und als Gegner der Päpste au» seinen historischen Schriften bekannt war, nahm man in alter und neuer Zeit keinen An­ stand ihm die Verfasserschaft einer Reihe konzlliarer Flugschriften zuzu­ schreiben. Der sogenannte Teufelsbrtef an Johanne» Domintci, Kardinal von Ragusa, den Berfaffer der Begola del govemo di cura familiäre, der außerordentlich weit verbreitet war, und den Dietrich selbst schon in sein NemuB uniouis aufnahm, ist nach Inhalt und Stil sicher nicht von ihm. Die Satire, in die Form eine» anerkennenden Schreiben» des Satan» an jenen seinen geliebtesten Sohn, ist übrigen» eine ebenso heftige und schneidige wie wohl gelungene, und findet ein würdige» Seitenstück in dem Schreiben de» Quarkemboldu», de» Bicekanzler» der Armen, in dem Gregor und Benedikt und ihre nächste Umgebung unter unerhörten

Schmähungen der denkbar schlimmsten Sünden angeklagt werden. Ein dritte» Schriftstück, da» angeblich an die Thüre de- bischöflichen Palastes zu Konstanz geheftet worden, ist gegen Papst Johann gerichtet. Lindner war e» vor allem, der die Autorschaft dieser Schriften Dietrich zuwie-, aber mit so wenig zureichenden Gründen, daß man dem nicht beistimmen kann. So schwer e- überhaupt sein wird die etwaigen Verfasser zu ent« decken, eine Sammlung und Neuherau-gabe dieser und zahlreicher in den Bibliotheken ruhenden ähnlicher Satiren wäre höchst wünschen-werth und verdienstvoll. E- ist außerordentlich charakteristisch und für die Anhänger der päpstlichen Unfehlbarkeit wahrscheinlich höchst erschreckend zu erfahren, wie man damals über die Häupter der Christenheit, über die doch auch schon unfehlbaren Päpste dachte und sprach, wie die Stimmung in den Zelten de- Pisanischen und Konstanzer Konzils lautete. Man findet in den Tagen der reformatorischen Bewegung, sn den Pasquillen, wie sie Schade gesammelt hat, kaum eine-, da- an blutigem Hohn und ver­ nichtendem Spott jenen genannten gleichkommt. Bon ganz anderer Art sind die drei Traktate „Ermahnungen über die Nothwendigkeit der Kirchenreformation", „Ueber die Wege die Kirche zu einigen und zu reformiren" und „Ueber die Schwierigkeit der Reformation auf einem allgemeinen Concil". Sie sind rein sachlich gehalten und be­ wegen sich in den Formen wiffenschaftlicher Darstellung. Die Forschung hat sich sehr viel mit ihnen beschäftigt, Max Lenz ihnen sogar eine monographische Behandlung angedethen lassen, in der er jene Schriftstücke für unsere westfälischen Historiker in Anspruch nimmt. Diese Ansicht blieb nicht unwidersprochen, und in der That, trotzdem zwischen den histori­ schen Schriften Dietrichs und diesen Abhandlungen viele Berührungs­ punkte vorhanden sind, trotzdem ein jüngst aufgefundene» Manuskript deerst genannten Traktat- den Namen Dietrich- trägt, stimmen wir dem Resultat der Erlerschen Untersuchung bei, daß sie nicht au- der Feder jene- geflosien sind. Es sprechen soviele äußere und innere Gründe da­ gegen, vor allem ist die Auffassung der damaligen Lage in diesen Schriften eine von der un- bekannten Nieheim- so verschiedene, daß man In ihm nicht den Verfasser sehen kann. Ob Andrea- von Randuph oder wer sonst auf da- Verdienst der Abfassung Anspruch erheben darf, bleibt vorläufig noch eine'offene Frage. Fassen wir da- gesammte Bild vom Sein und Wirken Dietrlchvon Nieheim zusammen, so müssen wir gestehen, er war kein Mann von hochragender geistiger Bedeutung oder von erprobten, sittlich-getragenen Charaktereigenschaften, aber eine interessante Persönlichkeit lernen wir in ihm kennen. Er ist in der Welt — und deren Mittelpunkt war damal-

die Kurie — gründlich erfahren und weiß Geld und Gut zu schätzen und zu erwerben, er ist kein Gelehrter, aber besitzt mancherlei Kenntnisse und seine Schilderungen von Land und Leuten beweisen ein hervorragende» Anschauung»- und Darstellung-vermögen, vom Nutzen und Werthe histori­ scher Kenntnisse ist er tief durchdrungen, obgleich seine eigenen nicht sehr bedeutend sind, durch den Eifer, mit dem er historische Aktenstücke sammelte, hat er sich große Verdienste um die Nachwelt erworben, größere al- durch seine eigentliche Geschichtschreibung Für religiöse Fragen hat er kein Verständniß und in Erscheinungen, welche au» religiöser Begeisterung und tiefer Glauben-noth und Sehnsucht geboren waren, wie die damaligen Züge der Weißen in Italien, sieht der Mann im Dienste de- heiligen Stuhl- nur Betrug. Dennoch war er nicht aller Ideale bar: ein kräftigeNattonalgefühl, eine starke Liebe insbesondere zu seiner engeren Heimath Westfalen, der oft freudig kundgethane Stolz auf die Vergangenheit seine» Volke- und der Schmer; über dessen Zustand in seiner Zeit sind wohlthuende Züge in dem Bilde de» weltgewandten, vielthätigen Manne».

Goethe und Diderot über die Malerei. Bon

Oskar Döring.

I. Die reiche Thätigkeit Goethe- in den Jahren 1796—1798 ist auch für die Wirkung de» Dichter» auf die bildende Kunst In hervorragender Weise wichtig geworden. In'dieser Zeit entstanden die Schriften: Ueber Laokoon; über Wahrheit und Wahrscheinlichkeit der Kunstwerke; der Sammler und die Seinigen; die berühmte Einleitung zu den Propyläen und zwei Uebersetzungen: die der Selbstbiographie Benvenuto Cellini» und im Jahre 1798 die Uebersetzung und die Anmerkungen zu Diderot» Essai sur la peintiire. Jeder kennt die zuerst genannten Schriften, Wenige die beiden letzten. Nicht» kann verschiedener sein al» der Cha­ rakter derselben. Cellini» Lebensbeschreibung ist von Goethe nur eben übersetzt; die 1798 hinzugcfügten Noten haben vorzugsweise den Zweck, kunstgeschichtliche Erläuterungen zu geben. Diderot» Essai übersetzte Goethe, al» er im Begriffe stand eine Einleitung in die bildende Kunst zu schrei­ ben, und al» er gleichzeitig mit der Farbenlehre lebhaft beschäftigt war. So wurden die Anmerkungen, welche er zu der Schrift Diderot» machte, zu Erwiderungen in zustimmendem oder ablehnendem Sinne, und e» bildete sich eine Art von Gespräch zwischen dem Autor und dem Uebersetzer, wie zwischen zwei Personen, welche beide denselben Gegenstand von verschiedenen Gesichtspunkten aus bearbeiten. Diderot» Essai beeinflußte hierdurch Goethe» Anschauungen, und zwar in seinem ersten Kapitel die­ jenigen über da» Verhältniß zwischen Natur und Kunst, während da» zweite für Goethe» Farbenlehre wichtig wurde. Die folgenden Abschnitte de» Essai» behandeln gleichfalls specielle Gegenstände, und vielleicht hat Goethe die Uebersetzung deshalb nach dem zweiten Kapitel abgebrochen, weil sich an das erste bereit» hinreichende Erläuterungen über da» Wich­ tigste der Kunst und deren Verhältniß zur Natur knüpfen ließen, und weil er die Absicht hegte, auf die Farbenlehre ausführlich einzugehen.

394

Goethe und Diderot über die Malerei.

Diderot» Bemerkungen in letzterer Richtung über waren allzu unzulänglich, al» daß erschöpfende Berichtigungen dieser schwierigen Dinge ohne Wei­ tere» möglich gewesen wären. Zum zweiten blieb die Arbeit wohl auch deshalb Fragment, weil die Propyläen nicht der geeignete Ort sein konnten, um eine raisonnirende Uebersetzung von der Ausdehnung, welche diese Schrift nothwendig hätte erlangen müssen, darin unterzubringen. Goethe begann die Arbeit vielleicht schon 1796; sicher ist, daß er da- Original in diesem Jahre in Händen hatte und auch Schillern mit» theilte. „Diderot- Werk wird Sie gewiß unterhalten." Mit diesen Worten schickte er e» am 10. Dezember de» genannten Jahre» dem Freunde zu, und dieser erwiderte ihm baldigst mit dem AuSdrucke leb­ haftester Bewunderung. Die Schrift habe ihn recht entzückt und seine innersten Gedanken bewegt. „Fast jede» Dictum ist ein Lichtfunke, der die Geheimnisse der Kunst beleuchtet, und seine Bemerkungen sind so sehr au» dem Höchsten und Innersten der Kunst, daß sie auch alle», wa» nur damit verwandt ist, beherrschen und ebensowohl Fingerzeige für den Dichter al» für den Maler sind. Gehört die Schrift nicht Ihnen selbst zu, daß ich sie länger behalten und wieder bekommen kann, so werde ich sie mir verschreiben." Diese letzten Worte de» Schillerschen Briefe» be­ weisen, daß e» sich nicht um da» Manuskript der Goetheschen Bearbei­ tung, sondern um da» Original handelte. Uebrigen» wurde SchillerWunsch erfüllt. Goethe antwortete: „Diderot können Sie länger be­ halten." Und er fügte hinzu: „E» ist ein herrliche» Buch und spricht fast noch mehr an den Dichter al» an den bildenden Künstler, ob e» gleich auch diesem oft mit gewaltiger- Fackel vorleuchtet." Diderot» Essai war seit dreißig Jahren geschrieben, al» Goethe die Uebersetzung unternahm. Zweck der Schrift war damal» gewesen, gegen die Maniertsten der französischen Schule aufzutreten. Sie hatte da» Ihrige dazu beigetragen, dem Verfall nach dieser Richtung hin Einhalt zu thun, die in der Akademie und der Luft de» Hofe» nach dem Tode Ludwig» XIV. verkommende Kunst zu erheben. In ihrer Eigenart aber führte sie dieselbe einer neuen Gefahr zu. Schiller charakterisirt Diderot in einem an Goethe gerichteten Briefe vom 7. August 1797: „Er sieht mir bet ästhetischen Werken noch viel zu sehr auf fremde und moralische Zwecke, er sucht diese nicht ganz in dem Gegenstände und in seiner Dar­ stellung. Immer muß ihm da» schöne Kunstwerk zu etwa» anderm dienen. Und da da» wahrhaftig Schöne und Vollkommene in der Kunst den Menschen nothwendig verbessert, so sucht er diesen Effect der Kunst in ihrem Inhalt und in einem bestimmten Resultat für den Verstand ober für die moralische Empfindung. Ich glaube, e» ist einer von den Bor-

theilen unserer neueren Philosophie, daß wir eine reine Formel haben, um die subjektive Wirkung deS Aesthetischen au-zusprechen, ohne seinen Charakter zu zerstören." Auch Wilhelm von Humboldt betont in einem Briefe an Goethe vom 18. März 1799 die auffallende Erscheinung, daß Diderot oft so künstlerisch gebildet erscheine und dann doch zum Künstler sich in jeder Beziehung untauglich erweise. -Nie sei ihm Jemand vorge­ kommen, an dem sich da- wahre Wesen einer echt künstlerischen Einbil­ dungskraft bester durch die Darstellung des Gegentheil- zeigen laste alDiderot, der an keiner Stelle da- sei, wa- er gerade an dieser sein sollte. „Aber", fährt Humboldt fort, „auf die Wahrheit, die man al- Natur der Künstelei und al- Wirklichkeit den Zeichen entgegensetzen kann, ist sein ganzer Sinn, seine Phantasie, sein Geist gerichtet. Darum ist er wohl­ thätig für die Kunst, da er, wenn er gleich ihrer Gesetzmäßigkeit schadet, doch ihre Freiheit rettet." Doch vermißt Humboldt bei Diderot die höhere Anschauung-gabe, die bildende Einbildungskraft. Er gehe nicht auf die Natur an sich und in ihrer positiven Gestalt, so sehr er e- zu thun scheine, sondern auf ihren Contrast mit der Unnatur, sowie ihm die Wirk­ lichkeit immer nur im Contrast mit ihren Zeichen erscheine. Immerhin aber müsse man zugeben, daß die wirklich anarchistischen Kunstideen Di­ derot-, gegen welche sich Goethe in seiner Uebersetzung mit Recht erhebe, jenem näher gelegen hätten al- andere, wenn man da» jetzige französische Publikum betrachte, welche- noch immer keinerlei Verständniß für die Fort­ schritte der Aesthetik besäße, und wenn man dabei bedenke, wie e- in solcher Beziehung vor dreißig Jahren noch ärger gewesen sei. Die Recensionen, welche Diderot in Menge über Gegenstände der bildenden Kunst geschrieben hat, bestätigen die über ihn ausgesprochenen Ansichten vollauf. ES erinnert auf da» Lebhafteste an die Worte deSchillerschey Briefe», wenn man in Diderot» Salon von 1763 bei Ge­ legenheit eine» Bilde- von De-hahe» liest: „ES ist etwa» schöne» um da- Verbrechen in der Geschichte wie in der Poesie, auf der Leinwand wie im Marmor." Oder über ein Gemälde von Greuze: „Zuerst gefällt mir die Art; e» ist die moralische Malerei. Müssen wir nicht zufrieden sein, seinen Pinsel endlich im Wetteifer mit der dramatischen Dichtung zu sehen, um un» zu rühren, zu belehren, um un- zu bessern, um un» zur Tugend einzuladen? Muthtg, Freund Greuze l Bilde die Moral in der Malerei und bilde sie immer wie du die- da gebildet hast." Man weiß, daß die Werke von Greuze, welcher 1805 starb, vielfach von den politischen und moralischen Tendenzen der Zeit beeinflußt waren, und die­ selben zu bewußtem bildnerischem Ausdruck brachten. Vergegenwärtigt man sich, wie tendenzlos die damaligen deutschen Philosophen die Kunst

396

Goethe unb Diderot über die Malerei.

wirksam wissen wollten, so begreift man, daß gegen die Consequenzen der Diderotschen Lehren nach dieser Seite hin Protest erhoben werden mußte. Zugleich aber noch nach einer andern Richtung, der technischen. Diderot» Essai hatte, wie erwähnt, zur Zeit seine» Erscheinen- Nutzen gestiftet, am Ende de» Jahrhundert» aber war er zum Deckmantel für einen unfrucht­ baren künstlerischen DtlettantiSmu» geworden. Gegen diesen vorzugsweise richtete sich die Goethesche Uebersetzung mit ihren Anmerkungen, und die­ selbe steht daher im Zusammenhänge mit der Arbeit „'über den soge­ nannten DtlettantiSmu» oder die praktische Liebhaberei in den Künsten", welche Goethe 1799 mit Schiller gemeinsam schematisirte. Der Nebersetzer drückt sich in der Vorrede über diese Polemik folgendermaßen au»: „Werde ich gewahr, daß seine Gesinnungen, die nur zu einem Uebergang vom Maniertrten, Conventtonellen, Habituellen, Pedantischen zum Ge­ fühlten, Begründeten, Wohlgeübten und Liberalen einladen sollten, in der neueren Zeit al» theoretische Grundmaxtmen fortspuken und sehr will­ kommen sind, indem sie eine leichtsinnige Praktik begünstigen: dann finde ich meinen Eifer wieder am Platz, ich habe nicht mehr mit dem abge­ schiedenen Diderot, sondern mit denen zu thun, die jene' Revolution der Künste, welche er hauptsächlich mit bewirken half, an ihrem wahren Fort­ gänge hindern, indem sie sich auf der breiten Fläche de» Dilettantismus und der Pfuscherei, zwischen Kunst und Natur, hinschleifen und ebenso­ wenig geneigt sind, eine gründliche Kenntniß der Natur al» eine gegrün­ dete Thätigkeit der Kunst zu befördern." Diese» Programm zeigt bereit», daß der Bearbeiter und Erklärer der Schrift, wenn er sie nicht ganz behandeln wollte oder konnte, sich mit einer gewisienhaften Prüfung der dem Verhältniß zwischen Kunst und Natur gewidmeten Betrachtungen de» ersten Kapitel» begnügen konnte. Und wirklich sind auch nur in diesem Kapitel die zu Kunstmaximen ge­ wordenen Ansichten de» Verfasser» vorzugsweise angegriffen; da» zweite Kapitel ist mit mehr Zustimmung und überwiegend in erläuternder, leicht corrigirender, wenig abweisender Art behandelt. Daß e» überhaupt mit betrachtet wurde, geschah zweifellos ersten» darum, weil e» verschiedene Punkte in demselben zu betonen galt, welche der Dilettantismus zum Schaden der Kunst wenden konnte; zum zweiten deshalb, weil e» In einer von der Schreibart de» ersten Kapitels völlig verschiedenen Manier ver­ faßt ist, und der Leser der Uebersetzung nur unter Hinzunahme von Stücken au» diesem Abschnitt eine deutliche Anschauung von dem Charakter de» ganzen Werke» bekommen konnte. Denn während da» erste Kapitel eine zusammenhängende Gedankenfolge aufweist, ist da» zweite und die folgenden in die Form lose an tüianber gereihter Bemerkungen über

einzelne Gegenstände de- künstlerisch Wichtigen gekleidet, ziemlich di»po.sitionSloS durcheinander geworfener Sätze, welche, um zu einer klaren Auseinandersetzung über einen der bezüglichen Punkte Verwendung finden zu können, erst der ordnenden Hand eines UeberarbeiterS bedurften. Diese Ordnung herzustellen, hat Goethe den Versuch gemacht. Eine so große Freiheit in der Behandlung verhindert aber, daß wir diesen Theil der Goetheschen Arbeit noch als Uebersetzung behandeln; eS ist eine freie und geniale Bearbeitung eines vorhandenen Werke». Ganz anders da» erste Kapitel. Hier ließ der geordnete, zweckbewußte Gedankengang Diderot» keine Aenderung, keine Umstellung, keine Auslassung zu. Natürlich ist eine Goethesche Uebersetzung keine sklavische, aber sie erstreckt In diesem Falle ihre Freiheiten nur auf die Herstellung eine» ungezwungenen deutschen Ausdruckes. Eine erhebliche Veränderung findet sich nur einmal, wovon noch zu reden sein wird. Der Inhalt de» ersten Kapitels ist bei Diderot kurz folgender: Die Natur bildet nichts JncorrecteS; jede Erscheinung an einem Körper ist durch bestimmte Bedingungen hervorgerufen und verursacht ihrerseits wieder andere Erscheinungen. Da wir die Schaffensgesetze der Natur nicht ausreichend kennen und nicht im Stande sind, die Wirkungen dieser Gesetze in der Unfehlbarkeit der Natur nachzuahmen, wa» freilich der höchste Grad der Kunst wäre, so sind Regeln für das künstlerische Schaffen eingeführt worden. Dieselben aber müssen je nach dem Alter und den Lebensbedingungen der dargestellten Person beständig übertreten werden. Weder da- Kindes- noch das Greisenalter, sondern nur da» blühende Alter de» Manne» ist geeignet, in einer den Kunstregeln entsprechenden Weise dargestellt zu werden. Um nun die Verhältnisse von Körpern kennen zu lernen, welche den Regeln nicht entsprechen, ist da» Studium der Anatomie nothwendig. Weil aber hierbei die Gefahr nahe liegt, daß der Künstler versuchen könnte, diese Gelehrsamkeit auch am unrechten Orte zur Schau zu stellen, da ferner da» Modell, wie man e» gegenwärtig behandelt, immer erkünstelte Stellungen einnimmt, und beide Dinge statt zur Kunsthöhe zur Manier führen, so muß der Künstler da» wirkliche Leben.studiren und dort lernen, wie physische und psychische Bewegungen sich am Ganzen de» Körper» natürlich darstellen. Hier sieht er die immer schöne und wahre Handlung, in der Akademie die jederzeit falsche und kleinliche Attitüde. E» sollte daher eine Zetchenschule errichtet werden, in welcher da» Studium der Anatomie und de» Modell» auf da» unentbehr­ lichste Maß beschränkt wäre, und besonder» auch die Aufstellung de» Modell» diesem selbst überlaffen bliebe. So würde die Manier sich durch gewissenhafte Nachahmung der Natur vermeiden lassen..

398

Goethe und Diderot über die Malerei.

Die Manier,

d. h.

die Annahme einer

unfruchtbaren

vereinzelten

Kunstweise ohne weiteren Blick auf das Ganze der Kunst, ist es/wie man Er faßt sie schlechthin

sieht, welche von Diderot lebhaft bekämpft wird.

als Begriff,

unter welchen

er die verschiedenen Arten der Einseitigkeit,

welche der junge Künstler sich anzueignen in Gefahr ist, summirt.

Und

hier liegt die vorhin erwähnte Aenderung, welche Goethe sich gestattet hat, und die doch für die Uebersetzung an sich merkwürdig und unzulässig

ist, weil sie den Sinn ändert.

Goethe übersetzt nämlich: eine Manier.

Diderot aber kennt nur la maniöre, keine Mehrzahl von Manieren. Goethe erläutert die Diderotschen Aussprüche Satz für Satz.

Aber

schon der Anfang giebt Veranlassung an seiner Kritik eine Gegenkritik zu üben.

Diderot sagt nämlich: „Die Natur macht nichts Jncorrectes.

Jede

Gestalt, sie mag schön oder häßlich sein, hat ihre Ursache, und unter allen

existirenden Wesen ist keins, das nicht wäre, wie es sein soll." antwortet Goethe:

„Die Natur macht nichts JnconsequenteS.

stalt, sie sei schön oder häßlich,

Darauf

Jede Ge­

hat ihre Ursache von der sie bestimmt

wird, und unter allen organischen Naturen, die wir kennen, ist keine, die nicht wäre, wie sie sein kann.

Paragraphen ändern,

So müßte man allenfalls den ersten

wenn er etwas

heißen sollte."

Goethe übersieht

dabei, daß in seiner Veränderung der Schluß des Satzes vielleicht noch

weniger heißt,

als im

Original.

Um

eine scharfe Veränderung und

Verbesserung zu geben, hätte er sagen müssen: „Unter allen organischen Naturen ist keine,

die nicht wäre,

wie sie ihren Lebensverhältnissen ent­

sprechend, und wenn diese anormal werden, unter den neuen Verhältnissen

sein muß."

Mit Recht weist Goethe das „soll" DiderotS, welches ver­

standesmäßig festgesetzte Regeln voraussetzt, zurück; er macht klar, daß die

Naturgesetze den strengsten innern Zusammenhang fordern,

daß durch

Verletzung irgend eines Theiles einer Gestalt deren Entwicklung unfehlbar

gestört werden muß — und so ist eS wunderbar, daß er dieses

„muß"

nicht in die Uebersetzung genommen hat statt des unklaren „kann", welches

eine Mehrzahl von Möglichkeiten für den einzelnen Fall vermuthen läßt. WaS seine Umwandlung des Ausdruckes „incorrect" betrifft,

so läßt sich

nicht

Grade gerechtfertigt ist.

zu „inconsequent"

läugnen, daß dieselbe bis zu einem gewissen

Denn jener läßt die falsche Folgerung zu, daß

es für den Künstler nichts CorrectereS geben könne, als die stets correcten Naturschöpfungen auf daS Genaueste nachzuahmen.

der Ausdruck „incorrect"

Andererseits aber ist

an sich nicht falsch, denn man würde zu viel

thun, wenn man mit Goethe annehmen wollte,

daß

hierin die Voraus­

setzung der Betrachtung der Natur vom Standpunkte menschlicher Satzungen

her läge.

DaS Wort bedeutet vielmehr nur, daß die Natur nichts hervor-

399

Goethe und Diderot über die Malerei.

bringt, was nach ihren eignen Gesetzen internet wäre, mit den physischen Regeln nicht harmonirte.

DaS wird auch durch die selgenden Beispiele

hinlänglich bestätigt, mit deren Ausführung Goethe einverstanden ist. Diderot fährt sodann fort: „Wenn die Ursachen und Wirkungen unS

völlig anschaulich wären, Geschöpfe darzustellen

so hätten wir nichts besseres zu thun,

wie sie sind; je vollkommener

als die

die Nachahmung

wäre, je gemäßer den Ursachen, desto zufriedener würden wir sein."

ES

ist der einseitig gewordene Kultus der Natur, welcher Diderot diese Worte

eingegeben hat, und mit vollem Recht wendet sich Goethe gegen den Ge­ danken des übermäßigen Naturalismus in der Kunst, welcher von hier an einen beträchtlichen Theil des

Kapitels

geht er zu weit, wenn er in der Absicht,

erfüllt.

Aber in seinem Eifer

hierbei zwischen dem Künstler

und dem Naturbetrachter, dem Bildner des Scheins und dem Zergliederer der Wirklichkeit genau zu unterscheiden, Diderot die Worte zuruft: „Eine

vollkommene Nachahmung der Natur ist in keinem Sinne möglich; der Künstler ist nur zur Darstellung der Oberfläche einer Erscheinung berufen."

Das hat auch Diderot nicht gemeint, daß

der Künstler

etwas Anderes

nachahmen könne; er verlangt nur die Wirkungen verborgener Ursachen an der dargestellten Oberfläche naturgetreu wiedergegeben zu sehen, und

schreckt nicht vor der Forderung zurück, daß auch dem Auge widerwärtige Dinge vom Künstler nachgebildet werden müßten, wofern die Natur Bei­

spiele der Art aufweise.

Wie schon gesagt:

Diderots Absicht war,

der

Herstellung kalter, glatter, manierirter, naturfremder Kunstwerke ein Ziel zu setzen.

Vielleicht,

daß er in seinen Gegenforderungen absichtlich zu

weit ging, um seinen Zweck desto gewisser zu erreichen; vielleicht, daß der Drang nach Rückkehr zur Natur,

der die Zeit durchwehte, ihn verleitet

hat, die von der Aesthetik gesteckte Grenze zu überschreiten.

Goethe schilt

ihn einen Sophisten, aber Goethen selbst kann der Vorwurf nicht erspart bleiben, daß er in seiner Polemik gegen die Kunststümper seiner Zeit sich von Sophistik nicht immer ganz frei gehalten hat.

Die vorstehend be­

sprochene Stelle seines Commentars giebt den Beweis dafür.

II.

In schönem Gegensatze gegen jene weniger bedeutenden Stellen des Goetheschen Commentars stehen seine folgenden Ausführungen, in welchen

er Weg und Ziel der höchsten Kunst darstellt. setzung,

Zunächst die Auseinander^

wie die Kunstregeln kein Produkt eines Uebereinkommens sind,

sondern sich auS der Empirie und den freien Schöpfungen des Genies gebildet haben.

andersetzung,

Die Künstler, das ist der Inhalt von Goethes Ausein­ lernten der Natur ab, was schöne Proportionen, Bd. LXI. Heft 4. 28

Preußische Jahrbücher.

Formen

400

Goethe und Diderot über die Malerei.

und Gestalten seien; aus diesen Beobachtungen konnte man dazu schreiten,

schöne Kunstwerke zu bilden, welche keine Ansprüche mehr auf / lebendige produktive oder reproduktive Realität machten und so die Natur übertrafen

ohne mit

ihr zu wetteifern.

Und wo die Empirie nicht genügte oder

nicht vorhanden war, da bildete das Genie die Kunstgesetze aus sich selbst und schrieb sie der Natur vor.

Wofern nur jeder Theil zum Charakter

des künstlerischen Ganzen paßt,

ist eS gleichgiltig, ob diese Zusammen­

stellung physisch möglich ist oder nicht:

den Wunsch

Wir müssen sagen, daß wir nicht

hätten, diesen Gedanken Goethes in allen seinen Conse-

qucnzen wirksam werden zu sehen; beispielsweise würde es keine» Gewinn

bedeuten, wenn etwa die Landschaftsmalerei zu jenen Principien sich wie­

der zu bekennen anfinge, nach welchen durch die von Goethe bewunderten Künstler, wie Philipp Hackert, und auch wohl von Goethe selbst in seinen

malerischen Bersuchen Landschaften componirt wurden. seine Grenzen gehenden Naturalismus, gefunden hat,

Aber für den über

auch

für

denjenigen

in

der Panoramenaufstellung seinen letzten Aus­

ist

von hoher Bedeutung der Satz: „Kein echter

unserer Tage, welcher

läufer

besonders

Künstler verlangt sein Werk neben ein Naturprodukt oder gar an dessen

Stelle zu setzen; der eS thäte, wäre wie ein Mittelgeschöpf aus dem Reich der Kunst zu

verstoßen

und

im Reiche der Natur nicht aufzunehmen."

Neben der Darstellung des Schönen gestattet Goethe dem Künstler auch die des Charakteristischen, welches die Zeichen an sich trägt, die das täg­ liche Leben ihm aufgedrückt hat, und er befindet sich in diesem Punkte in

Uebereinstimmung mit dem bisher beständig von ihm bekämpften Diderot.

So

auch

anscheinend

in dem sonderbaren Gedanken,

daß Kinder und

Greise kein geeignetes Objekt für denjenigen seien, der Schönes bilden

wolle, sondern nur für den Darsteller des Charakteristischen. kehrt Goethe hier

etwas den Sinn

der Diderotschen Worte.

Indeß ver­ Denn in

diesen wird der naturalistische Künstler darauf hingewiesen, daß

er bei

Greisen- und Kinderkörpern nicht den nach Diderots Ansicht conventionellen Regeln der

Kunst folgen könne,

welche

nur auf den Körper des Er­

wachsenen Anwendung fänden, sondern daß er, um jene richtig darstelle»

zu können, zum Studium der Anatomie Zweifel darüber entstehen,

ob

greifen

Es kann wohl alle Maler, welche

müsse.

Goethe Recht hatte,

Kinder- und Greisengestalten gebildet haben, zu den Charakteristikern zu rechnen.

Wenn man dies aber zugiebt, so entsteht die weitere Frage, ob

Goethe sich einen bestimmten Punkt gedacht habe und habe denken können,

an welchem das Individuelle

oder wie

er und Diderot sich ausdrücken,

das Charakteristische aufhört und das Reich des Schönen, also das völlig

aller Individualität Entkleideten beginnt, und man ist wohl zu der Be-

401

Goethe und Diderot über die Malerei.

hauptung berechtigt, daß Goethes antikisirende Richtung in der bildenden

Kunst ihn zu einer zu engen Begrenzung des Begriffes des Schönen ver­ Man denke an die unsagbar schönen Gestalten von Kindern

anlaßt hat.

und

Greisen auf Raphaels

Diderot sagt zwar: „Nur im

Gemälden.

Mannesalter ist c6, wo das poco piü und poco mono, eine Abweichung hinein oder heraus, Fehler oder Schönheiten hervorbringen."

darf mit Recht,. auch gegen herrlichen

Goethe, fragen,

Gebilden der Kunst

ob

Aber man

bei den angedeutetcn

das poco piü und poco mono nicht

gleichfalls Störungen verursachen würden.

Wer

könnte

wünschen, jene,

wenn sie auch immer nach Diderots und Goethes Ansicht unvollkommene

Organismen abspiegeln, auch nvr um einen Zug geändert zu sehen?

In der oben angegebenen Gedankenverbindung geht Diderot nunmehr auf die Nothwendigkeit deö Studiums der Anatomie ein und warnt vor

Mißbrauch der hieraus gewonnenen Kenntnisse.

Goethe darauf erwidernd

warnt den Leser Diderots vor dem durch dessen Worte ermöglichten Miß-

verständnisse, als wenn das Studium der Anatomie in den Kunstwerken möglichst unbeachtet

Diderot Recht,

In

bleiben solle.

ebenso

wie

auch

der Hauptsache aber

giebt

er

gleich danach bezüglich der Pedanterie,

welche durch ungeschicktes Studium des Nackten hervorgerusen wird.

Da­

gegen irrt er, wenn er auf Diderots Verlangen, der Kunstschüler solle

das Leben des Volkes studiren,

antwortet:

unbedingt, wie dieser Rath

gegeben werde, könne derselbe keinen Nutzen stiften.

Der Lehrling müsse

erst wissen, was er zu suchen habe, was er als Künstler auS der Natur

brauchen könne, und wie er es zu seinen Zwecken brauchen solle.

Unbe­

dingt stellt Diderot die Forderung der Lebensbeobachtung nicht; sein spä­

für die Einrichtung

terer Vorschlag

der Zeichenschule

beweist dies zur

Genüge, wo das Zeichnen nach dem todten wie nach dem lebenden Modell ausdrücklich

mit eingeschlossen ist, und nur eine heilsame Verminderung

dieser Studien

zu Gunsten der Beobachtung des Lebens verlangt wird.

Auch hier hat sich Goethe durch seinen Eifer etwas zu weit führen lassen

— ein Eifer, welcher wohl gegenüber den Künstlern seiner Zeit angebracht

war, zu

dem aber Diderot selbst keine Veranlassung gab, außer etwa

durch undeutliche Worte, die zum Schaden der Kunst falsche Auslegung zuließcn.

Dagegen ist Diderots Auseinandersetzung über

entschieden unrichtig, weil allzu oberflächlich.

den

Contrast

Ihm ist der wahrhaft künst­

lerische Contrast jener matte, wenig bemerkbare, welchen etwa zwei Reihen von Mönchen zu

punkte einer

einander

bilden.

Diderot steht hier auf dem Stand­

eigenthümlichen Einseitigkeit.

Gerade er, der so gern mo-

ralisirt, dramatische Wirkungen der Kunstwerke liebt, auf daS Leben des

Volkes als hauptsächlichsten Beobachtungsgegenstand hinweist, durfte nicht ' 28*

Goethe und Diderot über die Malerei.

402

übersehen,

starke Contraste daS tägliche Leben bietet und in wie

welch

hervorragend dramatischer

Weise dieselben

verwerthet

toerbert

können.

Mit Recht nennt Goethe ihn in Bezug auf diese Stelle: „zu wegwerfend

gegen die Kunstmittel und empirisch dilettantisch in seinem Rath." er ihm gleichwohl im Ganzen Recht giebt,

kommt

Daß

daher, daß Göthen

daran lag, das Ueberwuchern des Naturalismus zu ersticken und die Kunst in der Reinheit der Antike, so wie er und seine Zeit'sich das Wesen der­

selben dachten, wieder hergestellt zu sehen. ES folgen Bemerkungen

Vorschläge

über die Unzulänglichkeit der Diderotschen

für die Errichtung einer Zeichenschule und zuletzt eine wohl­

begründete Polemik gegen den Schlußsatz Diderots: „Die Manier kommt

von der Akademie, von der Schule, ja von der Antike."

vom Meister,

DaS würde soviel heißen,

als daß das Genie ohne jede Anleitung im

Stande wäre mustergiltige Werke zu schaffen.

Ein solches Genie aber ist,

wie auch Goethe bekräftigt, ein leeres Traumbild. Hiermit schließt dieses wichtige Kapitel. Diderot hat eS betitelt: „Meine wunderlichen Gedanken

über die Zeichnung."

erscheinen nicht selten

Goethes Erwiderungen,

beider Männer

erklärt

Nicht weniger wunderlich aber die Wunderlichkeit

aus der Polemik deS Einen gegen die Ma­

sich

nieristen, des Andern gegen die Naturalisten.

WaS aber dieses Kapitel

des Götheschen Commentars wichtig macht, ist die darin vollzogene Fest­ stellung des Verhältnisses der Kunst zur Natur, ein Gegenstand der auch für Schiller damals vom größten Interesse war.

Der Natur die schönen

Züge ablauschen, aus ihnen formenschöne, tendenzfreie Kunstwerke zu bilden, wenn dieselben auch fast gar keine Natur mehr zeigen — dieser Gedanke

allein könnte nach Goethes Ansicht, wenn er verwirklicht würde, der Kunst zum Heil gedeihen.

Indem wir ihn kennen lernen, finden wir den Schlüssel

zu Goethes gesammten Anschauungen über bildende Kunst in jener Periode.

Von geringer Wichtigkeit, in Bezug

zweite Kapitel.

Schon

daß seine Stellung merkungen

angemessen;

über die

auf ästhetische Fragen ist daS

der Vorrede zu

in

sich hier verändere. Farbe

demselben giebt Goethe an,

Er charakterisirt Diderots Be­

als meistentheilö richtig, den Gegenständen

aber der Autor stehe

in einem engen Kreise beschränkt, er

kenne ihn nicht vollkommen, blicke nicht weit genug, und selbst das Nahe­

liegende sei ihm nicht durchaus deutlich. merkungen Erweiterungen

und

In Folge dessen hätten die An­

Ergänzungen

geben

müssen,

ohne doch

wegen des ihnen zugemessenen Raumes im Stande zu sein. Erschöpfendes

zu bieten.

Um gleichwohl etwas zu geben, griff Goethe zu dem Mittel,

die etwas wirr durcheinander liegenden Sätze Diderots anders zu grup«

piren und sechs Abschnitte herzustellen, welche einen geregelten Gedanken-

Goethe und Diderot über die Malerei.

403

Diese Abschnitte sind betitelt: Einiges Allgemeine; Eigen­

gang aufweisen.

schaften eines echten Eöloristen;

Farben der Gegenstände;

von der Har­

monie der Farben; Irrthümer und Mängel; rechte und reinliche Behand­ lung der Farben.

letzten

sind

Innerhalb jedes dieser Abschnitte mit Ausnahme deS

wieder

mehrere Theile unterschieden, so daß nunmehr das

Kapitel zu einem systematischen Ganzen umgewandelt ist.

In. seinen Er­

läuterungen bestreitet Goethe zunächst, wohl unzweifelhaft mit Recht, daß

eS mehr gute Zeichner als gute Coloristen gebe, und benutzt die Gelegen­

heit, einen Tadel über die praktische Unzulänglichkeit von SulzerS Theorie der schönen Künste auszusprechen, was öfters bei ihm vorkommt und älterer

Herkunft sein muß, da Goethe späterhin auch die abfällige Beurtheilung

jenes Buches in den Frankfurter gelehrten Anzeigen für die feinige er­ klärte.

er hierin

Wenn

dieses Irrthums

halber

irrte,

auch

eine Schrift,

so

ist jene Recension doch gerade

welche

für die Beurtheilung von

Goethes Kunstanschauungen nicht wird umgangen werden dürfen.

Weiterhin- berichtigt Goethe den Irrthum, daß Jeder im Stande sei,

über die Farbe eines Gemäldes zu ertheilen, und stellt fest, daß eS nur Kenner und Nichtkenner, dagegen keine Halbkenner gebe.

Von da an ver­

tieft er sich immer mehr in farbentheoretische Auseinandersetzungen, frei­ lich beständig mit Rücksicht auf die Brauchbarkeit derselben für den bil­

Aber

denden Künstler.

er neigt dabei einer starken Einseitigkeit zu, so

daß seine Lehre in dem Abschnitt „Farben der Gegenstände" etwa in die Worte zusammengefaßt werden könnte: „Das höchste Wesen ist der Mensch;

unter dieser Gattung

der

höchste der Weiße.

Seine Hautfarbe ist die

schönste, das schönste Object der Malerei ist also der nackte Körper deS

Weißen."

UebrigenS enthält das Kapitel noch Goethesche Ansichten über

den Unterschied von Stil und Manier, über die Gründe der verschieden­ artigen Beliebtheit

starker und

schwacher Farben,

über konventionelles

Colorit, über falsche Genialität und über den Unterschied zwischen reden­

den

und bildenden Künste».

Im Ganzen befindet sich Goethe mit dem

Manne, welchen er im ersten Kapitel so scharf angegriffen, hier in so

durchgängiger Goethes

Uebereinstimmung,

daß

wir, da uns daran lag, gerade

abweichende Ansichten zu betrachten,

genauer auf dieses zweite

Kapitel nicht einzugehen brauchen.

Am 15. März 1799 Worten:

wie

sandte

„Du findest wieder

Goethe dasselbe an

ein Kapitel Diderot.

Knebel

mit den

Man glaubt nicht,

leicht und lose ein übrigens so trefflicher Mann solche Gegenstände

behandelt; aber

freilich niemand fühlt eS leicht,

als wer beim eignen

Hervorbringen Rath und Trost in solchen Schriften sucht; allen denen die

nur beschauen, ist eine theoretische Leerheit gewissermaßen recht willkommen."

Goethe und Diderot über die Malerei.

404

Darauf antwortete Knebel vier Tage später: „Deine Art die Diderotschen

Kuiistvisionen zu berichtigen, genialisch."

Wenn

ist bestimmt,

streng, scharf und doch dabei bei Gelegenheit des zweiten

beide Briefstellen nicht

Kapitels geschrieben wären, könnte man versucht sein sie auf das erste zu

daß

sie dies nebenbei wirklich thun, bezweifle ich nicht.

Goethes Hinweisung

auf daS eigne Hervorbringen bezieht sich jedenfalls

beziehen.

Und

ebensosehr auf die zu schreibende Kunstlehre wie auf seine Farbenstudien, und Knebels Worte

weisen ziemlich

sicher

auf das erste Kapitel.

Die

Ungewißheit, in welcher wir immerhin über diesen Punkt bleiben,, ist mit eine Folge der merkwürdigen Erscheinung, daß diese Arbeit in den Goethe-

schen Briefwechseln fast ganz unerwähnt bleibt.

Ueber den für die Theorie

viel weniger wichtigen Cellini wird sehr häufig gesprochen, der Sammler

und

die ©einigen

bildet

ein oft wiederkehrendes Thema, Laokoon wird

hoch gepriesen, von Diderots Essai schweigt man.

Briefe desselben vom 16. Februar 1799:

auS einem

Worte, ein Satz

Knebels eben erwähnte

„Was über Diderot gesagt wird, ist mit vieler Schärfe und Richtigkeit"

ganz

— endlich Humboldts

sprochenen Briefe:

allgemeine Worte in dem am Anfänge be­

„Sie erheben sich mit Recht gegen DiderotS wirklich

anarchistische Grundsätze in der Kunst" sind die einzigen, kärglich genug

ausgefallenen Beurtheilungen der Schrift.

Niemand fühlt sich veranlaßt

irgend näher darauf einzugehen, besonders auch Schiller nicht, welcher sich sonst eine derartige Gelegenheit nicht entgehen läßt, der der Diderotschen Kunstreflexionen

vember 1798)

gerade damals

einmal (in einem Briefe vom 24. No­

ihres „verwegen oratorischen Tones" halber gedenkt,

und

dessen Schweigen über Goethes Commentar mir besonders bemerkenswerth erscheint.

Fast macht es den Eindruck, als ob die Arbeit den Lesern nicht

sehr bedeutend

vorgekommen wäre, doch fehlt eö für diese Annahme an

directen Beweisen.

Wenn

es

uns

gestattet

ist, eine eigene Ansicht zu

äußern, so meinen wir, daß man es kaum zu bedauern hat, daß Goethe seine Bearbeitung von Diderots Essai nicht über das zweite Kapitel hinaus

führte.

Sie hat wohl ihm selbst dazu verhelfen, über viele Punkte der

Kunstlheorie wie der Coloristik sich klar zu werden,

reichern, schon

seine Ideen zu be­

gefaßten Anschauungen neue Seiten abzugewinnen;

aber

für denjenigen, welcher das Werk wie eine selbständige theoretische Schrift betrachten möchte, hat

es nicht viel Anziehendes.

In ihrer vorwiegend

aphoristischen Anlage erschöpft die Arbeit nach keiner Seite hin die behan­

delten Gegenstände.

Aber als Zeugniß für Goethes Art Größeres vorzu­

bereiten und zu vertiefen, hat sie Interesse und für Jemand, der auf ver­ wandtem und gleichem Gebiete arbeitet, somit auch einen methodischen Werth.

Politische Correspondenz Kaiser Wilhelms Heimgang. — Der Thronwechsel. — Frankreich.

—- Rußland. — England. Berlin, Ende März 1888.

Das deutsche Volk hat ein tief bewegendes Erlebniß und eine Zeit hinter sich, die sich wie eine Epoche ausdehnt und sich wie eine Epoche einprägt, ob­

wohl sie gerade zwei Wochen umfaßt. Bericht, aus dem hervorging,

Am 7. März erschien der erste ärztliche

daß Kaiser Wilhelm ernstlich krank war; doch

bestand das Leiden nur in einem merklichen Schwächezustand, da die Ursache,

welche den Kräfteverbrauch veranlaßt, bereits vorübergegangen schien.

Am Nach­

mittag des 7. März fand der Kaiser einigen Schlaf, konnte auch in den Pausen

des Schlafes leichte Nahrungsmittel zu sich nehmen.

Am Morgen des 8. März

las man an den Anschlagsäulen noch die Vorstellungen der königlichen Theater angekündigt und schöpfte daraus die Beruhigung der Abwesenheit unmittelbarer

Gefahr.

Als aber am Nachmittag neue Zettel mit den Worten angeschlagen

wurden: die

königlichen

Theater sind heute geschloffen,

ganzen Hauptstadt große Unruhe.

Trotz

ungünstig

bemächtigte sich der

regnerischer Witterung

drängte sich am Abend unter den Linden und auf den anstoßenden Plätzen eine

aus . allen Ständen zusammengesetzte Volksmenge, die man auf Hunderitausende schätzen mußte.

Eines jener Blätter, die aus der Zeitungsindustrie ein gemein­

gefährliches Gewerbe machen, hatte schon nach fünf Uhr ein Extrablatt mit der Todesnachricht verbreitet.

Als der Ungrund dieser Nachricht bekannt geworden,

wurde die Hoffnung allgemein und die Maffen verminderten sich. blätter des 9. konnten noch Berichte

bringen.

Die Morgen­

über eine verhältmßmäßig gute Nacht

Aber um 9 Uhr eilten die Boten zu den Sitzen der Behörden und

der Zeitungen mir der Nachricht, daß der Kaiser 8V2 Uhr verschieden sei.

Um

1 Uhr wurde die Bekanntmachung des Staatsministeriums, welche dem Volk das Ableben anzeigte, angeschlagen.

Wer den Eindruck dieser einfachen Vorgänge erlebt hat, der wird ihn bis an sein Lebensende bewahren.

eines Herrschers

das

fange berührt worden.

Selten, vielleicht niemals ist von dem Hingang

eigene Volk so tief und die Menschheit in solchem Um­

Wohl ist dies zum Theil durch die ungemeine Ausbil­

dung der Verkehrsmittel bedingt, welche mit der Gleichzeitigkeit ihrer Nachrichten

Politische Correspondeuz.

406

bei großen Ereignissen die gebildete Menschheit in der That zu Einer Familie Es gehört aber doch auch dazu, daß die Nachricht, von verfalle Seelen

macht.

schwingen, eine

gleichzeitig

ergreifende

sei, daß der Gegenstand durch Liebe,

Furcht oder Neugier den Seelen der Menschen verbunden und vertraut sei. war dies bei Kaiser Wilhelm der Fall.

In nur einmal dagewesenem Maße hat bei dem

Freilich

Abscheiden

gewaltiger Menschen ein großer Theil der

Menschheit von jeher zusammengezuckt.

Aber die großen Namen, deren Thaten

uns die Geschichte aufbewahrt, ließen bei ihrem Tode noch einmal

und Ende

die Flammen der Liebe, aber auch die der Feindschaft aufschlagen.

bei Luther

und

mußte

gerade

bei ihm so sein.

So war es

So war es bei den Kaiser­

gestalten des Mittelalters, die als Führer im Kampf ihrer Zeit hervorleuchteten.

Nur einmal, so viel uns gegenwärtig, ist am Grabe der Haß vollständig durch die Bewunderung entwaffnet worden.

Friedrich dem

Großen.

Auch ihm

Es war bei Kaiser Wilhelms Vorfahr,

zollte gleichmäßig

die Anerkennung

der

Staatslenker wie das Staunen der fremden Nationen über seine in dieser Zeit sonst ungekannte Gerechtigkeit gegen den niedrigsten Mann den höchsten Tribut, und das eigene Volk erquickte sich an dem Anekdotenkreis, der sein persönliches

Thun ausschmückte.

Aber nicht wenige seufzten auch ob der Härte seines Re­

Ein anderes war Kaiser Wilhelms Verhältniß zu dem eignen Volk

giments.

und zu der großen Gesellschaft der gesitteten Völker. Regierung umgaben

um dieses Kranzes

Die großen Thaten seiner

das greise Haupt mit einer reichen Glorie.

Allein nicht

willen liebte, ehrte, bewunderte man den Herrscher.

Es

war um der blühenden Majestät seines Alters willen, es war um der uner­ müdlichen Berufserfüllung willen, es war um der Bescheidenheit und Freund­ lichkeit

eines

schlichten,

ungekünstelten und herzlichen Menschen willen, dessen

Persönlichkeit jedem vertraulich wurde und der doch bei keiner Gelegenheit seiner Würde

etwas vergab.

längst das

Das

Volk betrachtete

den wunderbaren Greis,

der

höchste Alter des Psalmisten überschritten hatte und immer wieder

klar, frisch und rüstig erschien, als ein unter ihm wandelndes Wunder, deshalb drängte sich in den letzten Jahren eine täglich wachsende Volksmasse vor seinem Fenster, um den Kindern die nie .dagewesene und vielleicht nie wiederkehrende

Erscheinung zu zeigen,

schien, wenn

um selbst immer wiederzusehen, was nur glaublich er­

es mit eignen Augen gesehen wurde.

Aber während es schien,

als müsse man sich täglich von der Fortdauer des. Wunders überzeugen, schien



andrerseits, als

könne sich niemand denken, daß es jemals anders werde.

Aus manchem Munde konnte man die Versicherung hören, der Kaiser müsse und werde hundert Jahr alt werden.

völlige

Nach seinem Tode haben die Aerzte die

Gesundheit aller Organe festgesteÜI.

Die

Steinkrankheit mit ihren

periodisch heftigen Schmerzen ist es gewesen, die in wenigen Tagen einen Kräfte­ verbrauch herbeiführte, der in diesem Alter so rasch,

Lebens forderte, nicht ersetzt werden konnte. gewesen.

als es die Erhaltung des

Die Krankheit des Kaisers ist kurz

Die Trauer langsamen, unaufhaltsamen Verfalls

gnädig erspart worden.

ist ihm und uns

Politische Correspondenz. Als

er nun gestorben war,

407

wirkte die Nachricht mit der ganzen UeberEinen Augenblick verbreitete sich eine

raschung eines unerwarteten Ereignisses.

Empfindung, als wäre dem gewaltigen Staaatsgewölbe,

unter dem wir seit

Kaiser Wilhelms Regierung so sicher und stolz wohnen, der Schlußstein entzogen, bald aber erfuhr man, daß der kategorische Imperativ dem kranken Thronfolger das

Szepter des Sterbenden in die Hand gedrückt und dem Schwerleidenden nach der winterlichen Heimat zu eilen geboten.

So beruhigt richteten sich alle Ge­

danken erst nur auf die letzte Huldigung der würdigen Trauerfeier.

wie sie sich vollzogen hat mit dem Gefolge

Man weiß,

hochfürstlicher Abgesandtem oder

höchster Würdenträger fast aller Staaten der Welt, die Gesandten der asiatischen Herrscher, des Sultans, des Schahs und des Kaisers von China nicht ausge­ schlossen. In dem Trauerschmuck, den die Stadt Berlin binnen wenigen Tagen

angelegt und auf dem letzten Wege des Todten zur ausdrucksvollen Kunstgestalt gesteigert hatte, zeigte sich die deutsche Hauptstadt der kriegerischen und wissen­ schaftlichen Intelligenz als eine ebenbürtige Hauptstadt der Kunst. So liegen denn diese hocherregten Tage hinter uns, deren Trauer durch

das Gefühl eines großen unentreißbaren Besitzes, lebendiger als je hervorge­ rufen, gehoben wurde.

Was uns geblieben, ist nicht nur die Erinnerung einer

ebenso vertraulichen als ehrwürdigen Herrschergestalt, sondern das große Werk,

an dem er an erster Stelle mitgeschaffen, dessen ganzen Kranz das Gefühl auf das Haupt des Todten drückte, weil der Lebende nie der Ehre begehrt für alles

Große, was unter ihm geschehen, sondern den ihm gebührenden Antheil in auf­ richtiger Bescheidenheit zu mindern suchte. Nach den zahllosen Worten des Preises, welche in diesen Tagen die Be­

geisterung der Trauer auf die Zungen so vieler Redner gelegt, ist es zu spät, diese Zahl zu vermehren.

Aber es ist auch zu früh, die historische Würdigung

Kaiser Wilhelms zu versuchen.

Vielleicht geschieht

dies zu einem geeigneten

Zeitpunkt in diesen Jahrbüchern von berufener Hand.

Unsere Korrespondenz

wendet sich nun den Folgen des Thronwechsels zu.

* Tragisch

fürwahr

*

*

erschien den gebildeten Völkern der Erde, mochten sie

dem deutschen Volk wohlwollend oder mißgünstig sein, das Geschick, welches in

Kaiser Wilhelms letztem Lebensjahr über das erlauchte, seit zwei Jahrhunderten so hoch begnadete Haus der-Hohenzollern kam.

Ein hochbetagter Greis, von

Glück und dauernden Erfolgen wunderbar gekrönt,

Hand

eines

edlen Sohnes zu legen,

muß

bereit

das Szepter in die

nach der großartigen Feier des

neunzigsten Geburtstages diesen Sohn von einer schleichenden Krankheit ergriffen sehen, von der es bei den zur Stunde erreichten Mitteln der Wissenschaft keine

Rettung giebt.

Daß die Heilkundigen über die Behandlung in Zwiespalt ge­

rathen, bleibt auch in diesem Fall nicht aus, und auch das andere bleibt nicht

aus, daß die Parteiung sich den weitesten Kreisen des Volkes mittheilt, wo man, über den Stand der Frage mangelhaft unterrichtet,

um

so leichter geneigt ist,

Politische Correspondenz.

408

hinter dem Gegensatz der Ansichten andere als nur ärztliche Beweggründe zu suchen. Es ist nicht zu verwundern, wohl aber in hohem Grade zu bedauern, daß an diesem tieftraurigen Fall nicht nur die nationale Eifersucht der Deutschen

und Engländer, sondern auch der Gegensatz der politischen Parteien in Deutsch­

land sich entzündet hat.

Die Fortschrittspartei hatte aus den Konfliktszeiten

der sechziger Jahre her auf den Thronfolger große Hoffnungen gesetzt, als

würde er die Verwirklichung der politischen Ideale des Fortschritts zur Aufgabe

seiner Regierung machen.

Mit einer unreifen Hartnäckigkeit hat die Partei

diese Hoffnung bis zum Augenblick der Thronbesteigung und zum Theil über diesen Augenblick hinaus festgehalten.

Die Partei

hat sich gänzlich dem Ge­

danken verschloffen, als könne eine Zeit wie die zwanzig Jahre von 1866 bis

1886 in einem begabten und bildsamen Geist eine Umgestaltung der politischen Ideen bewirken.

Es ist ja nicht die Rede von einer Veränderung der schönen

und freien Charakteranlage, es ist auch nicht die Rede von einer Umkehr zu

sonst bekämpften Anschauungen,

aber das mußte sich eigentlich für jedes un­

befangene Urtheil von selbst verstehen, daß die selbständig verarbeitete Erfah­ rung einer großen Epoche, daß die Reife des Mannesalters in dem jugendlichen Thronfolger von 1862 eine eingreifende Veränderung der politischen Denkungs­ art hervorgebracht

haben

mußte.

So

hat

aber die Fortschrittspartei das

Märchen geglaubt, daß der schwere Ernst der Krankheit des Thronfolgers eine

Erfindung der Parteitendenz sei, welche den Liberalismus -des künftigen Kaisers fürchte.

Eine solche Parteitendenz wird von den Fortschrittsblättern heutzutage

ungeschent den verhaßten „Kartellbrüdern"

liberalen Partei.

Wenn

beigelegt,

also

auch der national­

aber alle edlen Gemüther des deutschen Volkes das

harte Loos ihres jetzigen Kaisers beweinen,

so hat keine Partei mehr Ursache

dazu, als die nationalliberale, nicht nur aus menschlichen, sondern auch aus po­

litischen Gründen. Kaiser Friedrich ist

ein anderer Politiker, als der Kronprinz von 1862

war, aber ein Mann der Reaktion, vollends der gedankenlosen, wie sie in ge­

wissen Köpfen spukt, ist er nicht-geworden.

Wenn es eine Persönlichkeit giebt,

von der man die Fortführung, vielleicht die vollendende Lösung des schwierigen Werkes erwarten durfte, eine Monarchie von schöpferischer Kraft und von einer,

alle letzten Entscheidungen mit freiem Rathschluß treffenden Autorität ausrechtzuhalten inmitten einer ungehemmten Bewegung des öffentlichen Geistes, die nicht fruchtlos bleibt, sondern ihre Anstrengungen zu Früchten in den Institu­ tionen und Gesetzen reifen sieht, so ist Kaiser Friedrich eine solche Persönlichkeit.

Die vieljährige Bewunderung

des englischen Parlamentarismus macht unauf­

haltsam der Einsicht Platz, daß diese Institution nur in einer aristokratisch ver­

faßten Gesellschaft, deren Sitz überdies eine unangreifbare Insel war, zur Blüthe gelangen konnte.

Das regierende Parlament auf demokratischer Basis

muß jedes Reich zerstören, wenn es nicht durch die Diktatur, wie einst Frank­

reich von dem Konvent,

von den Thorheiten und Verbrechen der Demokratie

Politische Correspondenz. gerettet wird.

409

Neugierig sehen wir dem Schauspiel zu, wie das englische Par­

lament durch die Demokratie verdorben und heruntergebracht wird, und weiter,

ob, wann und in welcher Gestalt wieder ein englischer Nationalstaat aufgebaut werden wird.

Minder fesselt das Schauspiel des demokratischen Parlamentaris­

mus in Frankreich unsere Neugier, wo wir bereits wieder einmal das hippo­ kratische Gesicht dieses Parlamentarismus und die Meldung des Erben sehen, dessen Vorgänger schon mehr als

einmal

die

Erbschaft

angetreten.

Das

19. Jahrhundert, indem es in dem regierenden Parlamentarismus die haltbare

Verwirklichung der politischen Freiheit nicht mehr erblickt, indem es noch weniger den unverhüllten oder den verhüllten Absolutismus, wie ihn Napoleon III. ver­

suchte, für möglich und erträglich hält, sieht sich vor die Aufgabe gestellt, neue Institutionen zur Verbindung der Autorität mit der Freiheit aufzusuchen. Den Beruf, zu diesem Ziel ein Pfadfinder zu sein, hat Kaiser Friedrich

bei seinem Regierungsantritt in einer Weise bekundet, die bei allen gebildeten Völkern einen tiefey Eindruck gemacht,

uns Deutsche aber erhoben und be­

glückt hat.

Die ersten Kundgebungen des neuen Kaisers waren ein Telegramm aus

San Remo unmittelbar nach Empfang der Todesnachricht mit dem Ausdruck

des Dankes für die bisherigen Dienste an das Staatsministerium und mit der Anzeige, daß

er am folgenden Tage die Reise nach Berlin antreten werde;

sodann ein zweites Telegramm an das Staatsministerium, worin der Kaiser­ kund that, daß er die sonst in Preußen nach dem Todesfall des regierenden

Königs übliche erste Handlung,

nämlich die Regelung der Trauer, unterlassen

und vielmehr dem Herzen des Volkes die Art und Ausdehnung dieser Trauer

überlassen wolle.

Die Telegramme waren gezeichnet: Friedrich.

Am 10. März 9 Uhr Vormittag verließ der kaiserliche Remo.

Sonderzug San

Am 11. März Nachmittag 6 Uhr empfing der Kaiser auf dem Bahn­

hof zu Leipzig das Staatsministerium, welches er dorthin befohlen -hatte, um bei der späten Ankunftsstunde in Charlottenburg, der zunächst gewählten Resi­ denz, die unaufschieblichsten Staatsgeschäfte bereits erledigt zu haben.

Das

Staatsministerium hatte einen Aufruf des Kaisers an das Volk vorbereitet,

welchen der Reichskanzler,

dem Kaiser übergab.

der im kaiserlichen Wagen nach Berlin zurückreiste,

Jedoch der Kaiser übergab dem Kanzler zwei von ihm

in San Remo verfaßte Schriftstücke: einen Aufruf „An mein Volk", und einen

„Erlaß an den Reichskanzler und Präsidenten des Staatsministeriums".

Am

folgenden Tag, den 1*2. März, hielt dem Kaiser wiederum der Kanzler Vortrag

und überbrachte die Schriftstücke ohne Erinnerung.

Noch an demselben Abend

wurden sie durch den Reichs- und Staatsanzeiger veröffentlicht.

Privattele­

gramme aus San Remo vom 9. März hatten verschiedenen Zeitungen gemel­ det, daß der Kaiser nach Empfang der Todesnachricht sich den ganzen Tag über

schriftlich beschäftigt habe. Es ist sonst in Preußen Sitte gewesen, daß erst nach der Bestattung des

abgeschiedenen Herrschers der

Nachfolger zu dem Volke

sprach.

In diesem

Politische Correspondenz.

410

Fall ist es anders gehalten worden und mußte anders gehalten werden.

da die Krankheit des

Thronfolgers

Kundmachungen bekannt war,

Denn

seit Monaten dem Volke durch amtliche

durfte keine Ungewißheit bestehen, in welchem

Umfange die schon am 9. März den politischen Körperschaften angezeigte Ueber­

nahme der Regierung durch Kaiser und König Friedrich möglich und beabsichtigt sei.

Es kam hinzu, daß die Bestattung bei dem großartigen Charakter, den

sie nach dem allgemeinen Gefühl Deutschlands und nach der Erwartung aller Nationen tragen mußte,

erst am siebenten Tage

nach dem Tod stattfinden

konnte.

Den beiden ersten allgemeinen Kundgebungen Kaiser Friedrichs wenden wir nun unsere Aufmerksamkeit zu.

Sie sollten keine Gegenzeichnung tragen;

schon damit bekundete der König, über dessen Stellung zur Verfassung kein

Zweifel bestand und der seinen Willen einer gewissenhaften Befolgung derselben

sogleich bestätigte, daß er den Grundsatz der deutschen Monarchie aufstellt, wo­ nach der Monarch zwar für alle dispositiven Regierungsakte der verantwort­

lichen Gegenzeichnung bedarf,

aber nicht

für die öffentliche Aussprache seiner

Urtheile und Gefühle. Was nun der Kaiser in diesen rein persönlichen Kundgebungen niederlegte,

das konnte nur Bewunderung und Freude wecken.

Längst hatten alle verstän­

digen Männer sich gesagt, daß die thörichte Hoffnung der Fortschrittspartei,

der Kaiser werde sogleich den Fürsten Bismarck entlassen, das parlamentarische System einführen und jedes persönliche Hervortreten nach englischem Grundsatz unterlassen, fern sei von jeder Aussicht auf Erfüllung.

Wenn diese Erwartung

eintraf,".so fühlte man sich doch erhebend berührt und überrascht vom dem voll­ endeten Herrscheriakt, womit der Kaiser seinen Willen, daß er den „langjährigen, vielbewährten Diener" des kaiserlichen Vaters auch an seiner Seite und nach

wie vor an der Spitze der Geschäfte zu sehen wünsche, bekundete. und

Eine zartere

ehrenvollere Form dieser Kundgebung konnte nicht gewählt werden,

als

daß der Kaiser die Regierungsgrundsätze, die er in seinem Geist gebildet, öffent­ lich an den Kanzler richtete mit der Erwartung, die Unterstützung desselben zur

Verwirklichung seiner Absichten zu finden.

Dadurch, daß der Kaiser die Dar­

legung der Absichten von dem Aufruf an das Volk trennte, konnte die Dar­ legung ausführlicher sein, und der Aufruf konnte dem Andenken an den glor­

reichen Vater gewidmet werden, an welches nur. der Ausdruck des rückhaltlosen Vertrauens zu einem Volke

sich schloß,

dessen untrennbare Verbindung mit

seinem Fürstenhaus, unabhängig von jeglicher Veränderung im Staatenleben,

eine einzig bewährte und einzig dastehende ist. Welche Sprache reden diese Schriftstücke!

Welche Wärme des Gefühls

und welches Gewicht der Gedanken! Wie spricht der Kaiser zu dem „treuen und muthvollen Rathgeber" des glorreichen Vaters, der „den Zielen seiner Politik die Form gegeben und ihre

erfolgreiche Durchführung gesichert hat"? Nicht wie ein bedürftiger Mann lehnt

er sich an den festen Stamm, sondern mit der Sicherheit des Herrschers tritt

Politische Correspondenz. er auf.

411

Mit der höchsten Anerkennung verbindet er das volle Selbstgefühl des

Mannes, der dem fürstlichen Beruf gewachsen ist.

Er spricht den großen Grundsatz der erhaltenden Politik aus,

„daß die

Verfassungs- und Rechtsordnungen des Reiches und Preußens vor allem in der Ehrfurcht und in den Sitten der Nation sich befestigen müssen, daß daher die Erschütterungen möglichst zu vermeiden sind, welche häufiger Wechsel der Staatseinrichtungen und Gesetze veranlaßt".

Warum wird dieser Satz gerade jetzt betont? einiger Blätter ging dahin,

Die thörichte Meinung

er sei gegen die eben beschlossene Verlängerung

der Legislaturperiode gerichtet.

Er ist in Wahrheit gegen die Erwartung ge­

richtet, daß der Kaiser das parlamentarische System einführen und den ganzen

mühsam errichteten Bestand der Reichseinrichtungen wie der historischen Grund­ lagen des preußischen Staates dem Belieben der in Deutschland mehr

als

irgendwo zufälligen Majoritäten preisgeben werde. Nachdem die volle Rechtsachtung zur Richtschnur Aller, zur Richtschnur

auch der kaiserlichen Regierung gemacht worden, folgt der große Satz: „Dabei ist im Auge zu behalten, daß diese gegenseitigen Rechte nur zur Hebung der

öffentlichen Wohlfahrt dienen sollen, welche das oberste Gesetz bleibt, und daß neu hervortretenden, unzweifelhaften nationalen Bedürfnissen stets in vollem

Maße Genüge geleistet werden

muß."

Der Kaiser verwirft

den Satz der

reaktionären Romantik,' daß der Inhalt der irgendwo abgebrochenen Rechts­

entwicklung die unabänderliche Schranke der Völkerentwicklung sei.

logenen Sophisten jener Romantik verspotteten den

Wohles,

Begriff des

dem sie willkürlich nur einen materiellen Inhalt

Die ver­ öffentlichen

beilkgten.

Ver­

wahre'Begriff enthält aber die vollkommnere Befriedigung der geistigen und

sittlichen Bedürfnisse. Wir folgen dem Erlaß nicht weiter. rakter freier Bildung und durch

Er trägt in allen Theilen den Cha­

ernstliches Nachdenken

erworbener Einsicht.

Wenn der Kaiser unter anderem auch den Willen ausspricht,

„daß der

seit

Jahrhunderten in Meinem Hause heilig gehaltene Grundsatz religiöser Duldung auch

ferner allen Meinen Unterthanen,

welcher Religionsgemeinschaft und

welchem Bekenntnisse sie auch angehören, zum Schutze gereiche", so haben die

ultramontanen Organe die weise gezogene Schranke in diesem Ausspruch wohl gewittert.

Sie sagen: das ist nur der protestantische Grundsatz der Gewissens­

freiheit, es ist nicht die Anerkennung des Rechts der römischen Kirche,

die

Schranke, die sie dem Staat gegenüber bald enger, bald weiter zu beobachten für gut finden mag, lediglich sich selbst zu ziehen. —

Diesen Monarchen von solchem Adel der Gesinnung, von solcher Freiheit und Höhe der Bildung, sehen wir in dem hohen Amt, zu dem er wie kein an­

derer berufen, von schwerer Krankheit gehemmt.

Mit banger Erwartung sieht

die deutsche Nation der Entwicklung des unheimlichen Leidens zu. welche,

mit der Krone seines Hauses verbunden,

Die Pflichten,

auf Kaiser Friedrich über­

gegangen sind und die er in der Zeit, die „nach Gottes Willen Meiner Re-

Politische Correspondenz.

412

gierung beschieden sein mag" getreulich wahrzunehmen versprochen, Hal er im

Kampf mit einem quälenden Leiden in einer Weise ergriffen, welche /der deut­ schen Nation und allen ihren künftigen Herrschern ein unvergängliches Beispiel

sein wird.

*

*

*

Die französischen Dinge wurden in unserer letzten Korrespondenz bis zum

23. Februar verfolgt, einem Tage, an welchem über die Bewilligung der ge­ Die Radikalen hatten bei dieser Gelegenheit

heimen Fonds abgestimmt wurde.

das Ministerium Tirard stürzen wollen, aber die Absicht gelang nickt, denn für

das Ministerium stimmte auf Floquets Geheiß mit den Opportunisten der min­ der radikale Theil des Radikalismus, der sich in der französischen Kammer-

sonderbarer Weise radikale Linke nennt, während der größte Theil der monar­ chischen Rechten und sogar ein Theil der äußersten Linken au der Abstimmung

nicht theilnahm.

Die 220 Stimmen, welche gegen das Ministerium abgegeben

wurden, zeigten die gewohnte ckarakteristische Zusammensetzung aus chauvinisti­ schen Radikalen und aus Monarchisten, denen es nur um die Verwirrung zu

thun ist.

Drei Tage später waren in sieben Departements Nackwahlen für-

erledigte Deputirtensitze zu vollziehen.

Dabei wurden in verschiedenen Depar­

tements für den General Boulanger, der nach der Verfassung als aktiver Of­ fizier unwählbar ist, 55000 Stimmen abgegeben.

Die Wahlagitation war von

einem gewissen Thiebaud besorgt worden, der sich zu diesem Zweck mit einem Wahlausschuß umgeben hatte. bonapartistischer Agent.

Wer ist Thiebaud?

Andere sagen:

Die meisten sagen: ein

er ist alles, was derjenige will, der

ihn bezahlt, und der ihn bezahlt, ist augenblicklich Herr v. Mohrenheim oder

ein anderer Disponent über den reisenden Rubel.

Wir haben schott öfter ausgeführt, daß für die Kriegspartei in Petersburg

sehr viel darauf ankommt, den General Boulanger baldigst an die Spitze des französischen Staates zu

bringen.

Er würde

sofort Deutschland den Krieg

machen und die Panslawisten würden dann, wahrscheinlich mit Erfolg, alles

aufbieten, den Zaren in den Krieg zu stoßen. Allein es wird auch dies Mal so sein, wie es in Frankreich immer bei den Umwälzungen gewesen ist, ob sie glückten oder mißglückten: die Fäden meh­ rerer Intriguen laufen bei einem solchen Ereigniß zusammen.

Die augenblick­

lichen Parteigänger des Generals Boulanger, dürften aus vier Elementen zu­

sammengesetzt sein. Davon haben wir die russischen Söldlinge bereits erwähnt. Ein anderes Element ist der Haufe der Unzufriedenen, die sich nach einer Ver­

änderung sehnen, sei es, welche es sei.

Ein drittes Element sind die wüthen­

den Chauvinisten und diejenigen Radikalen, welche durch den Chauvinismus zum Siege zu gelangen hoffen.

Das vierte Element aber sollen, wenn man

einer Beobachtung trauen darf,

die jetzt häufiger auftritt, die Bonapartisten

sein.

Welche Rechnung mag diese Partei bei der Unterstützung Boulapgers

ansteüen?

Man kann nur darauf kommen, daß, wenn Boulanger wirklich mit

Politische Correspondenz.

413

einem Straßenhaufen oder mit einigen ihm zufallenden Regimentern die Re­ publik umwerfen sollte, der' bonapartistische Prätendent auftreten würde, etwa

mit der Erklärung:

ein beliebiger Usurpator habe kein Recht, die bestehende

Verfassung umzuwerfen;

Napoleon IV. werde zunächst die Ordnung herstellen

und dann das Volk über die Verfassung entscheiden lassen. — Unmöglich ist es

nicht, daß so etwas gelänge.

Das Gelingen wäre sogar wahrscheinlich, wenn

die sogenannten Elemente der Ordnung aus Furcht vor dem durch die Nadi-

kaille emporgehobenen Beulanger sich

um Napoleon IV. schaarten, vollends

wenn dieser erklärte, sich für den Frieden verbürgen zu wollen, während Frank­ reich unter Boulanger sogleich in den Krieg ziehen müßte.

Wir spekuliren hier mit dem Unbekannten, aber wir thun es nur theore­

tisch, und das kann man nicht vermeiden, wenn man die Parteiaktionen eines Landes verstehen will, wo jedermann praktisch mit dem Unbekannten spekulirt.

Deshalb erwähnen wir noch eine dieser vorausgesetzten Spekulationen, obwohl

sie uns unwahrscheinlich vorkommt.

Es giebt nämlich Leute, welche der Mei­

nung sind, Boulanger sei von den Orleanisten gekauft, um den Grafen von Paris auf den Thron zu setzen.

Verfolgen wir aber jetzt den General auf

dem Stück seiner Laufbahn als Usurpator, das er seit dem 26. Februar zurück­ gelegt hat.

Die ungesetzlichen Wahlstimmen und das

Auftreten des Thiebaudschen

Ausschusses veranlaßten daö Ministerium Tirard zu einem kräftigen Versuch

gegen den General-Usurpator.

Der Kriegsminister, General Logerot, bean­

tragte bei dem Präsidenten der Republik Boulangers Versetzung in den Stand

der Nichtaktivität in einem Bericht, welcher der Oeffentlichkeit übergeben wurde. Darnach hatte der General durch mehrmalige Entfernung aus seiner Garnison

ohne Urlaub, um in Paris seine Wahlangelegenheit zu betreiben, die Disciplin verletzt; noch stärker war der Verstoß, daß, nachdem -er das eine Mal um Ur­

laub eingekommen und dieser verweigert worden, der General dennoch nach Paris

gegangen war.

Der Antrag des Kriegsministers wurde vom Präsidenten der Re­

publik genehmigt und Boulanger in Nichtaktivität versetzt. Dieser Stand bedeutet für den französischen Offizier, daß er kein Kommando oder andern Posten be­

kleidet, daß er nur 2/s des Gehaltes bezieht, im übrigen aber wie ein aktiver Of­

fizier dem Befehl des Kriegsministers untersteht, also auch in Betreff der Aufent­ haltswahl.

Als diese Maßregel über den General verhängt worden war, bildeten

seine Anhänger einen sogenannten Ausschuß des nationalen Protestes — comite de la protestation nationale —.

Boulanger seinerseits richtete einen unziem­

lichen Beschwerdebrief an den Kriegsminister, den er der Zeitung Figaro ein­

sendete. Damit aber wuchs die Energie des Ministeriums, so wie es die Sache

erforderte.

Der Kriegsminister beantragte bereits am 20. März bei dem Prä­

sidenten der Republik, den General Boulanger wegen schwerer Vergehen gegen die Disciplin vor einen Untersuchungsrath — im Deutschen würden wir ein­

fach sagen, vor ein Kriegsgericht — zu stellen. Am 26. März trat dieser Rath zusammen, nachdem der General vorgeladen und erschienen war, und entschied

41.4

Politische Correspondenz.

mit Einstimmigkeit-, daß

Der Kriegsminister

der Angeklagte abzusetzen sei.

konnte indeß nicht die einfache Bestätigung dieses Spruches bei dem Präsidenten der Republik beantragen, weil ein kassirter Offizier das Recht auf Pension ver­

liert und überhanpt nicht mehr zum Dienst berufen werden kann.

Da nun

Boulanger eine Dienstzeit von mehr als dreißig Jahren hinter sich hat, kann

ihm die Pension nach dem französischen Gesetz nur in Verbindung mit schwereren

Strafen, als die Kassation, entzogen werden.

Daher ist der General auf den

Antrag des Kriegsministers nicht kassirt, sondern pensionirt worden und kann in dem Pensionsstande bis zu einem gewissen Lebensalter nach dem Ermessen

des Kriegsministers wieder zum Dienst berufen werden.

Sonst ist er aber-

aller Rechte und Schranken des Offizierstandes ledig, kann also ein Deputirteu-

mandat annehmen und sich aufhallen, wo er will, solange er nicht wieder zum Dienst berufen ist.

Am 25. März fanden wieder zwei Deputirtennachwahlen statt.

In Mar­

seille wurde der halbverrückte Felix Pyat gewählt; im Aisnedepartement erhielt Boulanger 45000 Stimmen, aber nicht die Majorität, sodaß er in eine Stich­ wahl gekommen wäre, wenn er wählbar gewesen wäre.

nach dem Gesetz noch nicht, da

Dies war

er jedoch

er erst am folgenden Tag pensionirt wurde.

In Frankreich aber sind die Wahlvorstände keineswegs befugt, die gesetzwidrig abgegebenen Wahlstimmen zurückzuweisen,

müssen dieselben gleich

sondern sie

den'gesetzlichen zählen und die Entscheidung der Kammer überlassen.

Boulanger

hat sich indeß beeilt, nach seiner Pensionirung die Wähler des Aisnedepartements zu bitten, bei der Stichwahl ihre Stimmen seinem radikalen Mitbewerber zu geben.

Dagegen will er im Departement Nord für eine am 15. April dort

zu vollziehende Wahl kandidiren.

Diese Vorgänge haben in Frankreich einen tiefen Eindruck gemacht.

Man

erblickt in den Wahlen vom 25. März, sowohl in der zu Marseille, welche auf den ganz radikalen Felix Pyat fiel,

als in der des Aisnedepartements, welche

dem damaligen Kandidaten für die Rolle des Usurpator-General 45000 Stim­ men zuführte, sehr bedenkliche Symptome.

Wohl oder übel können sich auch

die Republikaner nicht verhehlen, daß die Maffen sich

immer mehr von der

Ob man einen Radikalen oder einen Usurpator­

jetzigen Republik abwenden.

kandidaten wählt, immer will man damit zeigen, daß man die parlamentarische

Republik nicht mehr mag.

Und diese Abneigung hat wahrlich nicht Unrecht,

denn diese Republik ist der Kampf aller Mittelmäßigkeiten gegen einander, die Impotenz jeder Regierung, wie sie zusammengesetzt werde, und der zunehmende

Verderb des Staatsorganismus in allen Funktionen.

Lage schafft man

aber mit

solchen Wahlen

gegen das Bestehende bedeuten und

die Einladung

werfen den Muth hat: die Bahn ist frei.

für jeden,

der es umzu­

Kein Wunder, daß bei einer solchen

Lage selbst den Herren Deputirten nicht. wohl

schließen sie, die Gefahr abzuwenden?

Eine Berbesierung der

nicht, die höchstens den Protest

zu Muthe

ist.

Und wie be­

Sie erwägen, ob sie nicht noch vor den

Osterferien eine große parlamentarische Erörterung der Lage veranstalten und

Politische Lorrespondenz. das Ministerium Tirard stürzen sollen.

415

Köstlich, echt französisch!

Das Mini­

sterium hat eben ganz zweckmäßig gehandelt und die nächste Gefahr dadurch abgewendet, daß es einem Usurpatorkandidaten wenigstens die Möglichkeit nahm,

einen Theil der Armee um sich zu sammeln, die Deputirten aber beschließen, das Ministerium zu stürzen, nachdem ihre eigene Elendigkeit das Gefühl einer

unhaltbaren Lage verbreitet hat, das nur zu bannen wäre, wenn von ihnen

irgend einer Regierung der Athem gegönnt würde, etwas zu thun. Während diese Zeilen in den Druck gehen, erfahren wir, daß am 30. März

eine Majorität aus Radikalen und Monarchisten das Ministerium Tirard ge­

stürzt hat. *

* *

Rußland verließen wir, als es an die Unterzeichner des Berliner Vertrags von 1878 das Verlangen stellte, die Pforte aufzufordern, daß sie in Sofia die

Entfernung des Prinzen Ferdinand von Koburg verlange.

Deutschland und

Frankreich erklärten sich sogleich bereit, den russischen Wunsch zu erfüllen; Eng­

land, Oesterreich, Italien aber wünschten erst zu wissen, wie Rußland die in Bulgarien durch den eventuell erzwungenen Weggang des Prinzen Ferdinand entstehende Lücke auszufüllen gedenke.

In Rußland war man durch diese Ant­

wort bereits wieder bei dem Sprüchwort hic haeret aqua angelangt, das im Deutschen einen deutlicheren Ausdruck gewinnt; aber Fürst Bismarck kam der

erschöpften russischen Weisheit zu Hülfe.

Er ließ in der Norddeutschen Allge­

meinen Zeitung ausführen: jeder Unterzeichner des Berliner Vertrags

habe

das Recht, die Innehaltung des Vertrags zu verlangen und zwar von dem­

jenigen Betheiligten, in dessen Kompetenzgebiet sich eine Verletzung vorbereite oder ins Werk gesetzt werde; der in Bulgarien kompetente Betheiligte sei die Pforte,

und wenn sie den ihr obliegenden Schutz des Vertrags nicht über­

nehmen wolle, so sei dies eine Rechtsverweigerung, deni de justice.

Mit diesem

Argument, dessen Erfindung weit über russische Geisteskraft ging, machte sich

nun Herr von Nelidoff zur Pforte auf den Weg. ausgerichtet,

Er hätte dennoch nichts

wenn er nicht die nachdrückliche Unterstützung der Botschafter

Deutschlands^und Frankreichs gefunden hätte. schnell zu handeln.

Da beschloß die Pforte, einmal

Sie ließ in Sofia sagen: sie habe schon erklärt und erkläre

nun noch einmal, daß die Regierung des Prinzen Ferdinand in Bulgarien un­

gesetzlich sei.

Damit ist aber auch die Pfortenaktion wieder einmal zu Ende

und die europäische Aktion, wie es scheint, nicht minder,

kommt nicht zustande.

oder vielmehr,

sie

Rußland hatte auf das englisch-österreichisch-italienische

Verlangen, seine weiteren Ziele nach der Entfernung des Prinzen Ferdinand bekannt zu geben, eine Art Antwort gegeben, aber freilich nicht in diplomatischer

Form, sondern durch einen halbamtlichen Artikel im Regierungsanzeiger.

war gesagt:

Da

Rußland verlange eine Abbitte durch die jetzige Sobranje und

dann die Wahl eines Fürsten durch dieselbe, welche auf einen von den Groß­

mächten zu vereinbarenden Kandidaten zu fallen habe. Preußische Jahrbücher.

Bd. LXI. Heft 4.

Diese Forderung hätte 29

Politische Korrespondenz.

416

Rußland sehr gut durchsetzen können, wenn es ihm damit ernst gewesen wäre. Allein es machte keine Miene, einen Kandidaten vertraulich zu bezeichnen, den es später in Vorschlag zu bringen gedächte.

ruhig weiter in Bulgarien.

So regiert denn Prinz Ferdinand

Die russischen Zeitungen aber setzen immer die

lächerliche Prahlerei fort, daß Rußland in der stummen Rolle verharre, den

thatsächlichen Zustand in Bulgarien nicht anzuerkennen, aber auch nicht ihm zu Leibe zu gehen, sondern sich alles vorzubehalten und damit allen Schuldigen

— schuldig ist jeder, der nicht die russische Schleppe trägt — die Angst des bösen Gewissens einzuflößen.

Das Geheimniß dieser Prahlerei ist, daß man

warten will bis zum Abschluß der russischen Rüstungen.

Was man dann thun

wird, kann man um so leichter verbergen, als darüber die in der Regierung

mächtigen Parteien sich in den Haaren liegen.

Die Einen wirken dafür, daß

in Frankreich die Kriegspariei ans Ruder kommt und der russischen Regierung die Nothwendigkeit abnimmt,

den Krieg

mit Deutschland

anzufangen.

Der

Rath einer andern Partei geht dahin, die Pforte an der Kehle zu packen und zu versuchen, ob man nicht endlich die türkische Erbschaft liquidiren kann.

Der

Rath einer dritten Partei geht dahin, Rumänien und Bulgarien mit Hülfe

angezettelter Putsche zu besetzen und zu erwarten, ob hiergegen Oesterreich den Handschuh anfnimmt.

In Bukarest hat der russische Gesandte Herr Hitrowo

bereits einen ganz ansehnlichen Putschversuch gegen das Ministerium Bratiano

und den König Carol in Scene gesetzt.

Wer mag wissen, was diesem Koloß, in dessen Regierung die Anarchie

herrscht, dessen Schwere von verschiedenen Parteien nach verschiedenen Rich­ tungen gestoßen wird, in der nächsten Zeit bevorstehl?

Wie regierungslos das klassische Land des Despotismus ist, entnehme man folgenden Vorgängen.

Der Minister des Innern, Graf Tolstoi, ein Doktrinär

der Reaktion, wie wir sie in Preußen unter Friedrich Wilhelm IV. kannten,

bringt einen tollen Gesetzvorschlag nach dem andern ein.

Wir erwähnten schon

den wegen Einrichtung von absoluten Bezirkschefs, wodurch die Bauern wieder Leibeigene in der Hand des Adels werden sollen.

verzögert alle solche Vorschläge.

Der Senat verwirft oder­

Jetzt hat der Minister wieder einen Vorschlag

eingebracht, den Semstwos — Kreis- und Provinzialversammlungen — welche

Alexander II. eingeführt, eine andere Zusammensetzung zu geben und zwar nach

dem ständischen Prinzip

und mit erdrückendem Uebergewicht des Adels.

Von

der Unterdrückung des Deutschthums und der evangelischen Kirche in den Ost­ seeprovinzen schweigen wir im allgemeinen.

So sei nur der kürzlich eingebrachte

Vorschlag erwähnt, wonach der Minister des Innern jeden lutherischen Pfarrer

seinem Konsistorium wie dem bürgerlichen Richter nach Belieben entziehen, ihn absetzen und

nach

Sibirien verschicken

kann.

Naturgemäß erreicht bei den

Rüstungen, bei den Ausgaben für auswärtige Revolutionen, die Entwerthung der Papiervaluta immer höhere Grade.

Die Panslawisten empfehlen als Gegen­

mittel den Staatsbankerott und die Erhebung des Papierrubels zum einzigen Zahlungsmittel, da man das Gold ja nur für das Ausland brauche, aber nicht

Politische Correspondenz.

417

mehr brauchen werde, wenn man den ausländischen Gläubigern ihre Zinsen gar nicht mehr oder ebenfalls nur in Papier zahle.

In die Verhandlungen und Streitigkeiten dieser weisen Aerzte fiel der Tod

des deutschen Kaisers.

Sollte man

es für möglich halten, daß die russische

Presse ansing, für den Kaiser Friedrich zu jubeln, welcher den Fürsten Bismarck, Rußlands Todfeind, ohne Zweifel entlassen werde?

Diese Zeitungslenker,

deren jeder eine Hintertreppe zu einem hohen Arbeiter des auswärtigen Amtes

in Petersburg hat, wußten also nicht einmal, daß Fürst Bismarck derjenige ist,

der mit seiner ganzen Energie und Kunst den bei der beständigen Heraus­ forderung

von russischer Seite so

schwer zu vermeidenden Konflikt bis zur

äußersten Möglichkeit am Ausbruch hindert, trotz der besorgten Warnungen im Innern,

trotz der ungeduldigen Mahnungen der Bundesgenossen!

Allein auch

im auswärtigen Amt zu Petersburg ist man schlecht unterrichtet, weil man die

Dinge zu sehen liebt, wie es die Laune verlangt, nicht wie sie sind.

Uebrigens

liegt dem Jubel über den erhofften Sturz des Fürsten Bismarck immerhin die Wahrheit zu Grunde, daß auf seiner Weisheit und Kraft die Stärke Deutsch­

lands beruht, daß ein Nachfolger

desselben, selbst wenn er eifriger Gegner

Rußlands wäre, die Dinge so verwirren möchte, daß die russische Diplomatie

wieder gegen die deutsche aufkommen könnte.

Der Staatssekretär, Graf Herbert Bismarck, ist kürzlich mit einem hohen russischen Orden

bedacht worden.

Dies zeigt an, daß in Petersburg augen­

blicklich eine Richtung die Oberhand hat, welche die nächste russische Aktion gern

mit

deutscher Unterstützung, mindestens aber mit Deutschlands wohlwollender

Neutralität durchführen möchte.

nur die russische Aktion nicht

Diese Neutralität ließe gegen Deutschlands

sich gewähren, wenn

Bundesgenossen

gerichtet

würde, und wenn sie nicht den für Deutschland höchst bedenklichen Dienst ein­

schließen sollte, das deutsche Kapital wieder zum willigen Abnehmer der russischen Anleihen, der alten, wie der bald aufzunehmenden zu machen.

*

*

*

Das große Ereigniß der englischen Politik in diesem Monat gehört der innern Politik an und ist die am Montag, dem 19. März, im Unterhaus von

dem Toryministerium eingebrachte „Local Government Bill", d. h. ein Gesetz*

Vorschlag zur Reform der englischen Selbstverwaltung.

Der Vorschlag über­

weist die bisher durch kreisangesessene Grundbesitzer, welche von der Krone er­ nannt wurden, ausgeübte Gerichtsbarkeit und Polizei gewählten Körperschaften,

deren Mitglieder das allgemeine Stimmrecht beruft, und weist diesen Körper­

schaften außerdem die zahlreichen Verwaltungsfunctionen zu, welche in England bis zum ersten Drittel dieses Jahrhunderts überhaupt vernachlässigt wurden,

welche dann durch immer neue Boards, die man bald als Centralbehörden in London, bald in den Grafschaften einsetzte, wahrgenommen wurden. Der Plan

enthält die radikalste Maßregel, von welcher Englands Gesellschaft und Stagt,

die miteinander so innig verwachsen waren, je betroffen worden sind.

Was

Chamberlain und Gladstone je zu fordern wagten, ist nach allgemeiner Stimme

Politische Correspondenz.

418

durch diesen Vorschlag des Toryministeriums, der zunächst nur für England und Wales gilt, bei weitem übertroffen worden.

Während man

in England selbst von dem Erstaunen nur langsam sich

erholt, wird man es einer deutschen Zeitschrift nicht verübeln, wenn sie das Urtheil noch zurückhalten will.

punkte

genommen

werden.

Für die Bildung desfelben müssen zwei Gesichts­

Erstlich

müssen

die Bestimmungen des

Gesetz­

vorschlags in sich selbst nach ihrer Wirkung auf das englische Staatswesen ge­ prüft werden.

Dann aber ist es wichtig, die Gründe zu erkennen, welche das

Tory Ministerium zu diesem Schritt getrieben haben, Gründe, die aus der all­ gemeinen Lage Englands, der äußeren, wie der inneren, geschöpft sein müssen.

Denn ein kopfloses Verhalten, einen verzweifelten Sprung ins Dunkle dürfen wir dem jetzigen Ministerium nicht zutrauen, auch wenn in dem Vorschlag allerlei Mißgriffe enthalten sein sollten.

Vor allem muß die englische Presse

und später das Parlament zu Wort kommen.

72

Und doch ist eS von Werth,

noch keine gebührende Würdigung erfahren.

zu hören, was einer der Begrünter des wissenschaftlichen Socialismus,

der jenseits

sich frei

des Canals

den agitatorischen Rücksichten der

von

inländischen Parteiführer fühlt, über das Wesen, über den AuSgang seiner

Bewegung denkt, was er den Hunderttausenden seiner Anhänger zu glauben, zu hoffen und zu erstreben lehrt. Indem Engels in der genannten Broschüre die gesammte Entwickelung

der Volkswirthschafi

kurz beleuchtet,

kommt er auf jenen CollektivismuS

zu sprechen, den man bisher gemeinhin als daS Ideal der Socialdemo­ betrachtete,

kratie

wir

meinen den Staatsbesitz

an allen Mitteln

Das Wichtigste sei hier wörtlich wiedergegeben.

Produktion.

der

Er schreibt*):

„Aber weder die Verwandclung in Aktiengesellschaften noch die in Staats­ eigenthum, hebt die Kapitalcigenschaft der Produktivkräfte auf. Aktiengesellschaften liegt dies auf der Hand.

Bei den

Und der moderne Staat ist

wieder nur die Organisation, welche sich die bürgerliche Gesellschaft gibt, um die allgemeinen äußeren Bedingungen der kapitalistischen Produktions­

weise aufrecht zu erhalten gegen Uebergriffe sowohl der Arbeiter, wie der einzelnen Kapitalisten.

ist

eine wesentlich

Der moderne Staat, was auch seine Form,

kapitalistische Maschine,

ideale Gesammtkapitalist.

übernimmt, destomehr wird

Staatsbürger beutet er aus. tarier.

auf die

Staat der Kapitalisten,

der

Jemehr Produktivkräfte er in sein Eigenthum

er wirklicher

Gesammtkapitalist,

destomehr

Die Arbeiter bleiben Lohnarbeiter, Prole­

DaS Kapitalverhältniß wird nicht aufgehoben, es wird vielmehr Spitze getrieben.

Aber

auf der Spitze schlägt

eS um.

DaS

StaatSeigenthum an den Produktivkräften ist nicht die Lösung

des Konflikts, aber eS birgt in sich das formelle Mittel, die Handhabe der Lösung." „Diese Lösung

kann nur darin liegen,

daß die

gesellschaftliche

Natur der modernen Produktivkräfte thatsächlich anerkannt, daß also die

ProduklionSaneignungS- und Austauschweise in Einklang gesetzt wird mit dem gesellschaftlich en Charakter der Produktionsmittel.

Und dies kann

nur dadurch geschehen, daß die Gesellschaft offen und ohne Umwege Besitz ergreift von den,

wachsenen

jeder anderen Leitung

Produktivkräften.

Indem

die

außer

der ihrigen,

ent­

kapitalistische Produktionsweise

mehr und mehr die große Mehrzahl der Bevölkerung in Proletarier ver­

wandelt,

schafft

sie die

Macht, die

diese Umwälzung,

Untergangs, zu vollziehen genöthigt ist.

bei Strafe des

Indem sie mehr und mehr auf

Verwandlung der großen, vergesellschafteten Produktionsmittel in Staats-

*) ..Entwickelung des Socialismus von der Utopie zur Wissenschaft" S. 40. (III. Ausl.)

573

Die Entwickelung des SecialdemokeatismuS zum Anarchismus.

eigenthum drängt, Umwälzung.

zeigt sie selbst

den Weg

an znr Vollziehung

die Produktionsmittel zunächst in Staatseigenthum.

sich

selbst

dieser

Das Proletariat ergreift die Staatsgewalt und verwandelt

als Proletarier, damit hebt

Klassengegensätze auf

es

und damit auch

Aber damit hebt eS

alle Klassenunterschiede und

den Staat

Die

als Staat.

bisherige sich in Klassengegensätze bewegende Gesellschaft hatte den Staat

nöthig, d. h. eine Organisation der jedesmaligen auSbeulenden Klasse zur Aufrechterhaltung ihrer äußeren Produktionsbedingungen, also namentlich

zur gewaltsamen Niederhaltung der auSgebeuteten Klasse in den durch die

gegebenen

bestehende Produktionsweise

Bedingungen

(Sklaverei, Leibeigenschaft oder Hörigkeit, Lohnarbeit).

der Unterdrückung Der Staat war

der officielle Repräsentant der ganzen Gesellschaft, ihre Zusammenfassung in einer sichtbaren Körperschaft, aber er war dies nur, insofern er der

Staat derjenigen Klasse war, welche selbst für ihre Zeit die ganze Gesell­

schaft vertrat, im Alterthum Staat der sklavenhaltenden Staatsbürger, im

Mittelalter des Feudaladels, in unserer Zeit der Bourgeoisie. endlich

thatsächlich Repräsentant der

sich selbst

Sobald

überflüssig.

Indem er

ganzen Gesellschaft wird,

macht er

keine Gesellschaftsklasse mehr in der

eS

sobald mit der Klassenherrschaft und dem

Unterdrückung zu halten gibt,

in der bisherigen Anarchie der Produktion begründeten Kampf umS Einzel­

dasein auch die daraus

entspringenden Kollisionen und Excesse beseitigt

sind, gibt eS nichts mehr zu reprimiren, das eine besondere RepressionS-

gewalt,

einen Staat

nöthig

machte.

Der erste Akt, worin der

Staat

wirklich als Repräsentant der ganzen Gesellschaft auftritt, — die Besitz­

ergreifung

der Produktionsmittel im Namen der Gesellschaft — ist zu­

gleich sein letzter selbstständiger Akt als Staat.

Das Eingreifen

einer Staatsgewalt in gesellschaftliche Verhältnisse wird auf einem Gebiete nach dem anderen überflüssig und schläft dann von selbst ein.

An

die Stelle der Regierung über Personen tritt die Verwaltung von Sachen

und

die

Leitung

von

Produktionsprozessen.

wird nicht „abgeschafft", er stirbt ab.

Der Staat

Hieran ist die Phrase vom

„freien Volksstaat" zu messen, also sowohl nach ihrer zeitweiligen agitatorischen Berechtigung, wie nach ihrer endgültigen wissen­ schaftlichen

Unzulänglichkeit;

hieran

ebenfalls die Forderung der

sogenannten Anarchisten, der Staat solle von heute auf morgen abgeschafft

werden". Diese Ausführungen werden ergänzt durch einige, leider nur zu all-

gemein^gehaltene^Zeilen, in denen derselbe socialdemokratische Schriftsteller von'dem Leben in jener staatenlosen Zukunft, in jener wunderbaren, „ver­ gesellschafteten" Menschheit prophezeiht: „Die Anarchie innerhalb der ge-

Die Entwickelung des SocialdemokratismnS znm Anarchismus.

574

sellfchaftlichen Produktion wird ersetzt durch planmäßige, bewußte Organi­

sation.

Der Kampf ums Einzeldasein hört auf.

Der Umkreis der die

Menschen umgebenden Lebensbedingungen, der die Menschen bis jetzt be­

herrschte, tritt jetzt unter die Herrschaft und Controlle der Menschen, die nun zum ersten Male bewußte wirkliche Herren der Natur, weil und in­

dem sie Herren ihrer eigenen Vergesellschaftung werden.

Die Gesetze

ihres eigenen, gesellschaftlichen ThunS, die ihnen bisher als fremde, sie

beherrschende Naturgesetze gegenüberstanden, werden dann von den Menschen mit

voller Sachkenntniß

Vergesellschaftung

damit

angewandt und

der Menschen,

Die eigene

beherrscht.

die ihnen bisher als

von Natur und

Geschichte aufgenöthigt gegenüberstand, wird jetzt ihre eigene, freie That.

Die

objektivem, fremden Mächte,

die

bisher die Geschichte beherrschten,

treten unter die Controle der Menschen

die Menschen

Erst von da an werden

selbst.

mit vollem Bewußtsein

ihre Geschichte

selbst machen, erst

von da an werden die von ihnen in Bewegung gesetzten gesellschaftlichen Ursachen vorwiegend und in stets gewollten Wirkungen haben.

steigendem Maße auch die von ihnen

Es ist der Sprung der Menschheit aus dem

Reiche der Nothwendigkeit in das Reich der Freiheit." — Und am Schluffe

der Broschüre lesen wir in einem Resüme noch einmal zur Bestätigung

des obigen: „In dem Maße, wie die Anarchie der gesellschaftlichen Pro­ duktion schwindet, schläft auch

die

politische Autorität des Staates ein.

Die Menschen, endlich Herren ihrer eigenen Arl der Vergesellschaftung, werden damit zugleich Herren der Natur, Herren ihrer selbst — frei."

Das Streben nach ökonomischer Gleichheit tritt in der EngelS'schcn

Abhandlung

fast noch zurück hinter das nach

individualistische

politischer Freiheit.

Charakter der socialdemokratischen Bewegung

nicht von dem collektivistischen verschlingen lassen.

Der

hat

sich

Bisher war man be­

rechtigt, Socialdemokratismus und Anarchismus in der Weise zu definiren,

daß beider Streben politische Freiheit und ökonomische Gleichheit (sc. beides

im Extrem) sei, indessen ersteren,

bei

bei dem AnarchiSMlis mit Akcentuirung

dem SocialdemokratiSmuS

mit Akcentuirung

der

der

letzteren.

Jetzt sind ihre Theorien geeinigt, ihre Unterschiede liegen nunmehr ledig­

lich auf dem Gebiete der Taktik. dem Begriff des Staates festhielt,

Civilisation

Solang die Socialdemokratie noch an

solang sie sich noch auf die für jede

erforderlichen Grundlagen

stützte,

beging sie wohl eine Jn-

consequenz, aber sie berechtigte doch zu der Hoffnung, daß sie eines Tages, den Widersinn ihrer Lehre erkennend, d. h. zur alten Ordnung.

consequenter Ausbildung

zurückkehren würde zur Vernunft,

Das Gegentheil ist ihrer Prinzipien,

eingetreten.

In

aber unter Aufgebung

streng jeder

575

Die Entwickelung des SocialdemekratismuS .;iim Anarchismus.

Aussicht auf praktische Ausführbarkeit dersetben

ist die Socialdemokratie

zum Anarchismus fortgeschritten.

Werden nun die anarchistischen Ansichten des Herrn Engels in der Thal von der Socialdemokratie, von seinen Schülern getheilt?

Engels

selbst stellt seine Lehren und Behauptungen ohne jede Einschränkung und mit der größten Sicherheit das

den

als

theoretische Glaubensbekenntniß

wissenschaftlichen Socialismus, als

der

Socialdemokratie hin.

Da er

nun neben Marx selbst der Begründer des wissenschaftlichen Socialismus ist, hat er dazu rufen,

ein unbestreitbares Recht,

er ist

wie kein anderer be­

die Prinzipien der Socialdemokratie klarzulegen

auszubilden.

und

sie weiter

berufener Interpret der social­

Er ist sogar ein ungleich

demokratischen Forderungen, als es etwa Herr Windthorst in Bezug auf

die ultramontanen oder Herr Eugen Richter in Bezug auf die freisinnigen s ein würde, denn beide sind nicht die Väter ihrer Lehre.

Aber gesetzt den

Fall, Herr E. Richter habe ein Glaubensbekenntniß deS Deutschfreisinns

verfaßt.

Der Fraktionsausschuß der deutschfreisinnigen Partei erbäte sich um dem Mangel

dasselbe nun,

an

abzu-

geeigneten Agitationsschriften

helfen, und ließe cS auf Parteikosten drucken und verbreiten.

So dürfte

doch wohl niemand Bedenken tragen, das Richter'sche Glaubensbekenntniß

für das deS Deutschfreisinns überhaupt zu erklären, wenn auch kein ver­

nünftiger Mensch verlangen wird, daß nunmehr jeder freisinnige Wähler dieselbe Meinung bis zum Tüpfelchen über dem i theilen müsse.

Nun

liegen die Verhältnisse betreffs der Engels'schen Broschüre, wie der Ver­ fasser selbst

in der Vorrede mittheilt, thatsächlich genau so, wie in dem

angenommenen

Die Redaktion des

Fall.

officiellen Parteiorgans,

deS

„Züricher Socialdemokrat", hat Herrn Engels ersucht, die bereits in fran­

zösischer Sprache erschienene Broschüre „Die Entwickelung des Socialis­ mus" ihr als Agitationsschrift zu überlassen, „da innerhalb der deutschen

socialdemokratischen

Partei

allgemein

neuer Propaganda-Broschüren würde

allein schon

das Verlangen

erhoben worden

hinlänglich genügen,

um

sei."

zu

nach Herausgabe Diese Thatsache

beweisen, daß daS in

dieser Broschüre niedergelegte GlanbenSbekenntniß von der Partei über­

nommen worden ist. Im Widerspruch hiermit

der

steht nun,

socialdemokratischen Partei den

daß die neuesten Publikationen

„freien Volksstaat" keineswegs ver­

neinen, sondern ihn vielmehr als das zu erstrebende Ziel hinstellen.

ES

kommt hier in erster Linie die seit 1885 bestehende „Socialdemokratische Bibliothek" in Betracht, welche den Zweck hat, den Arbeiter in populärer Form mit der neuen Lehre bekannt zu machen.

achtenswertheste

Heft,

denn

sein

Inhalt

Nr. 5 ist wohl daS be-

entstammt der Feder

August

Die Entwickelung des GocialdenwkockiSmn» zum Anarchismus.

57G

Bebel's und betitelt sich „Unsere Ziele".

Als wir dies Heft das erste

Mal in die Hände bekamen, schlugen wir eS mit hoher Erwartung auf,

wir glaubten nichts anderes, als daß es uns mit den Ideen und Zielen

deS

einflußreichsten

daS

Agitators

der

socialdemokratischen Partei

bekannt

Was wir zn lesen bekamen,

Aber welche Enttäuschung!

machen würde.

waren die Ideen des Bebels der sechziger Jahre, es war nur eine

neue Auflage der schon im ersten Theil erwähnten Broschüre, deren In­ halt zuerst anno 1870 in den Spalten des längst entschlafenen „VolkS-

0 quae mutatio rerum!

staates" erschienen war.

WaS heut von einem

Engels in einer Propagandaschrift als „Phrase" lächerlich gemacht wird,

gab

den

Abfassung

Namen!

Bei der

„Unsere Ziele" erstrebte Bebel noch

anfrichtig

den „freien Bolksstaat";

von dem Staat,

von dem

damals

Parteiorgan

dem

wenn

auch

nicht

Einrichtung der genossenschaftlichen Produktion.

erwartete er die

Freilich war er sich schon

daß die Revolution allein ihm zu seinen Zielen

damals dessen bewußt,

verhelfen könne.

unseren,

von

Einen gewissen RadicaliSmuS kann man auch „Unseren

Zielen" nicht absprechen.

Doch um wieviel radicaler ist er, seinem eigenen

Geständniß nach, seitdem geworden!

In der Vorrede zu der erwähnten,

vor 2 Jahren erschienenen, neuen Auflage von „Unsere Ziele" sagt Bebel,

daß

er

bei

„seinen

mit

der

geschrittenen Anschauungen

sich

Entwicklung der Bewegung weiter vor­

mit dem eigentlich

Ausführungen in der Schrift nicht klären konnte".

Es

ändern, „ohne

den

mehr

gewesen,

etwas daran zu

stellen, sodaß

jetzt nur als „Zeugin keinem Zweifel

der

ganzen Inhalt in Frage zu

sei indeß

nicht

möglich

nichts als der Titel übrig geblieben wäre".

für den Nachwuchs

positiven Theile

allenthalben einverstanden er­

einer Phase

der Partei

unterliegen,

in

Die Schrift erscheine

der Bewegung",

die auch

ihr Interesse besitze. — ES kann wohl

daß Bebel auf diese Weise ohne viel Auf­

hebens auch den „freien Bolksstaat" zum alten Eisen schleudern wollte. Wie Bebel heut zur Anarchie steht, beweisen uns daneben einige Stellen in seinem Buch über die „Frau in der Vergangenheit rc."

In

dem Kapitel über die Socialisirung der Gesellschaft (S. 149 in der Auf­

lage vom Jahr 1883) sagt er:

„Die staatliche Organisation als solche

verliert allmählich ihren Boden.

Der Staat

ist

nur die Organisation

der Macht zur Aufrechterhaltung der jeweiligen Eigenthums- und socialen Herrschastsverhältnisse. Da Herrschafts- und Knechtschaftsverhältnisse durch die Aufhebung der bisherigen Eigenthumzustände untergeben, hat auch der

poliiische Ausdruck dafür keinen Sinn mehr.

Der Staat hört

mit dem

Herrschaftsverhältniß auf, wie die Religion aufhört, wenn der Glaube an übernatürliche Wesen oder

an vernunftbegabte übersinnliche Kräfte nicht

ü77

Die Entwickelung des SocialdenwkratiSniuS zum Anarchismus.

mehr vorhanden ist."

daß

Und an anderer Stelle hebt er nochmals hervor,

mit dem Staat auch

Minister, Parlamente,

seine

Repräsentanten verschwinden,

nämlich

stehendes Heer, Polizei und Gensdarmen,

Gerichte, Rechts- und Staatsanwälte, Gefängnißwesen u. s. w. Auch die anderen Hefte der „Socialdemokratischen Bibliothek" wagen

es

nicht,

offen

und ehrlich

dem „Bolksstaat" den Laufpaß

zu

geben.

Nr. 3 ist eine neue Auflage, der schon 1878 herausgegebenen „Zukunft

der Socialdemokratie" von Dietzgen, in der noch viel vom „demokratischen

Staatsprinzipal" die Rede ist und jener undesinirbare Begriff, den später Johann Most die „freie Gesellschaft" getauft hat, als eine „verschwommene Jvee" verworfen wird.

Beide Schriftsteller vermeiden es sorgfältig, ihren,

aus dem vorigen Jahrzehnt stammenden Ausführungen etwas Neues hin­

zuzufügen.

Und

doch

haben

sie beide,

der

erste ganz ausgesprochener

Weise, die Unhaltbarkeit ihrer damaligen Ansichten erkannt.

Bebel in der That nicht so viel Zeit haben,

starke Broschüre umzugestalten?

eine

nur

Sollte Herr

drei Druckbogen

Eine Aufgabe, die ihm doch sicher leicht

werden muß, da es die Früchte seines Denkens, das Ziel seines Strebens darzustellen gilt.

Oder ist er aufrichtig genug,

da zu schweigen,

wo er

die Wahrheit nicht sagen darf, ohne für einen Anarchisten zu gelten? Noch deutlicher wird die Absicht der Täuschung bei dem ersten Heft der „Soc. Mbl." betitelt „Gesellschaftliches und Privateigenthum",

ein

Beitrag zur Erläuterung des socialistischen Programms, welches 3 Jahre nach der EngelS'schen „Entwickelung des Socialismus von der Utopie zur

Wissenschaft" erschienen

dennoch

und

in enger Anlehnung

ununterschiedlich von Nationalisirung

an dieselbe

verfaßt,

neben Socialisirung

oder

Vergesellschaftung, vom Zukunftsstaat neben der Gesellschaft spricht. Man

merkt nur zu gut, daß der Verfasser die Phrase vom „Volksstaat" lediglich wegen ihrer „zeitweiligen agitatorischen Berechtigung" benutzte, im Innern

aber vollständig von ihrer „endgültigen, wissenschaftlichen Unzulänglichkeit" fest überzeugt war.

Der „freie Volksstaat" hat heut in der socialistischen

Bewegung nur noch Bedeutung als das vornehmste jener Irrlichter, mit

denen die Demagogie die Arbeitermassen in den Sumpf des Anarchismus locken möchte.

In seiner „Quintessenz des Socialismus" (III. Auflage S. 28) ver­ theidigt Schäffle auf das entschiedenste den Socialismus (und darunter versteht er den Marx-Engels'schen Socialismus) gegen den Vorwurf, daß

er grundsätzlich den Staat und die Commune negire. die Literatur kennt, wird davon ablassen,

„ Wer einigermaßen

den Socialisten mit dem Vor­

wurf oder mit dem Grunde, daß er staatswidrig antisocial sei, zu schrecken oder eines Anderen zu überzeugen;

denn

das eben wirft der Collectivist

578

Die Entwickelung del Socialdemokratismu» zum Anarchismus

seinem liberalen Gegner vor."

Die vamalige Literatur der Socialdemo­

kratie konnte ihn zu dieser Annahme berechtigen.

In seiner 10 Jahre

später erschienenen „Aussichtslosigkeit der Socialdemokratie" hatte er mit einer neuen Erscheinung, dem Anarchismus, zu rechnen, und er erkennt

richtig, daß derselbe nur die Consequenz deS demokratischen Socialismus

sei.

In beiden Richtungen findet er ganz denselben CollectiviSmnS, nur

wolle ihn der Anarchismus „ohne Regierung", „da diese immer wieder Ausbeutung sein werde*)". Wir sind überzeugt, daß Schäffle bei der Ab­ fassung seines trefflichen Buche-, die „Entwickelung der Socialdemokratie noch nicht gelesen hatte.

von der Utopie zur Wissenschaft"

und muß er

Heut wird

uns Recht geben, wen» wir erklären, daß die Lehren deS

Socialdemokratismus und deS Anarchismus sich bereits völlig identificiren

lassen.

Der osficielle Parteicongreß in St. Gallen hat im Gegensatz hierzu jede Verwandtschaft zwischen SocialdemokratiömuS und Anarchismus in einer

Diese Abläugnung werden wir unten

feierlichen Resolution abgeläugnet. noch näher untersuchen.

Ueber die concrete Lehre deS Anarchismus giebt die ausführlichste

Information

die

„Internationale Bibliothek"

Johann

Most'S.

Sein

eigenstes Zukunftsprogramm hat unS Most in seiner „Freien Gesellschaft", dem fünften Heft dieser „Internationalen Bibliothek" dargelegt.

Die

Socialdemokratie, ein Kind deS KriticiSmuS, beschränkte sich ja bis in die

neueste Zeit fast ganz auf die Negation des Bestehenden, indem Bakunin

und Most sich damit nicht zufrieden gaben, sondern ein entsprechendes po­ sitives Programm zu form ulken versuchten, schufen sie den Anarchismus;

sobald Engels sich an die gleiche Arbeit begab, mußte er zu den gleichen

Resultaten gelangen, denn die socialistische Anarchie ist eben nichts anderes,

als

der

positive

Gehalt

der

socialdemokratischen

Weltanschauung. Treten wir jenem wunderbaren Ideale einer herrschaftslosen Collectiv­

wirthschaft

etwas

näher.

DaS höchste Glück, welches der Mensch er­

reichen kann, findet Most in einem Zustand, wo Jeder mit möglichst ge­ ringfügiger Anstrengung

die denkbar vollkommenste Befriedigung

seiner Bedürfnisse bewerkstelligt.

aller

„Je mehr man sich diesem Verhältniß

annähert — so argumentirt er —,

individuelle Freiheit gewahrt finden.

desto entschiedener wird

man seine

Denn je kürzer jener Zeitabschnitt

ist, innerhalb welchem der Mensch die Mittel zu seinen höchsten LebenS-

*) „Aussichtslosigkeit der Socialdemokratie" (IIL Aust. S. 5).

Di« Entwickelung de« Socialdrmokratltmu« zum AnarLi-mu«.

579

zwecken erzeugt, ein desto längerer Zeitabschnitt ist ihm zum Genuß be­ lassen."

Da- Prinzip schreckenloser, individueller Freiheit wird hier zum

alleinigen Ausgangspunkt gewählt, die Gleichheit erscheint nur als Mittel, um die Freiheit zu verwirklichen.

In ganz analoger Weise nennt Engel-

in seiner „Entwickelung des Socialismus" die Besitzergreifung der Pro­

duktionsmittel durch die Gesellschaft den „Sprung der Menschheit auS dem Reiche der Nothwendigkeit in das Reich der Freiheit" und stellt daS Frei­

werden der Menschheit gleichsam alS die Krone der ganzen socialistischen

Revolution dar.

Weder Most noch Engels will natürlich die Gleichheit

der Freiheit geopfert wissen.

DaS wirthschaftliche System, in dem Most

sein Ideal verwirklicht sieht,

ist die „Waarenerzeugung durch organisirte

Arbeitskräfte und mit gemeinsamen Arbeitsmitteln — mit anderen Worten:

die kommunistische Produktionsweise".

Alle Anarchisten erstreben ebenso­

sehr wie die Socialdemokratie die Aufhebung des Privatbesitzes an den Produktionsmitteln und die Einführung des gesammtheitlichen Eigenthums

an den Mitteln der Produktion, und ebensowenig wie die Socialdemokratie

sind sie Gegner der Großindustrie. dem

Most meint vielmehr, daß man an

bestmöglichen Ausbau der bereits vorhandenen Organisationen der

Industrie und Landwirthschaft wird denken müssen. „Je riesiger dieselben sich gestalten, desto leistungsfähiger sind sie nach unwiderleglicher Erfahrung.

DaS ist eine mathematische Wahrheit, und eS kann der zukünftigen Mensch­ heit nicht einfallen wollen, sich der Vortheile, welche sich ganz von selbst daraus ergeben, zu entschlagen." Er meint, daß ein neues, freie-Arbeits­

und Genußsystem sehr wohl etablirt werden könne, ohne daß sich die pro­ duktive Organisationökraft zu zersplittern und aufzulösen brauche, aber auch ohne daß über allen diesen tausendfältigen organischen Produktions­

gebilden

sich

ein

neues Herrschaft-gebäude (eine Archie) erhebe.

„Der

Anarchismus ist nicht ein Feind harmonischer, zweckmäßiger Organisation,

sondern

ein Feind der

tyrannisch gegliederten Verwaltung."

DaS hier

auS Most'S Programm mitgetheilte wird genügen, um zu zeigen, daß die Anarchisten ebensowenig als die Socialdemokraten unsere Wirthschaft in Atome aufzulösen beabsichtigen.

Eine ganz andere Frage ist selbst­

redend die, wie sich die Verhältnisse in der Praxis gestalten werden. So­ viel indeß ist sicher, daß die Durchführung des Most'schen Systems ganz

dieselben Wirkungen auf die Volkswirthschaft, auf Handel und Wandel auSüben wird, wie die Durchführung des EngelS'schen Systems.

Denn

beide collectivistischen Systeme entbehren jeglicher staatlicher Autorität. Wenn Most in der collectivistischen oder kommunistischen Produktions­

weise daS Mittel zur Verwirklichung der schrankenlosesten individuellen Freiheit und der Aufhebung des Staate- und der Regierung erblickt, steht

580

Die Entwickelung be8 ®ocialbemofrati8mu8 311111 An>iichi8mn8.

er auf dem Boden der Marx-Engels'schen Lehre.

Die Stifter der So­

cialdemokratie behaupten ja auch, daß unser Klassenshstem auf/ unserem Produktionssystem

beruhe.

Solang

die

gesellschaftliche

Gesammtarbeit

nur einen Ertrag liefere, ter das zur nothdürftigen Existenz Aller Erfor­

derliche nur um wenig übersteige,

solang also die Arbeit alle

oder fast

alle Zeit der großen Mehrzahl der Gesellschaftsglieder in Anspruch nehme,

solang theile sich diese Gesellschaft nothwendig in Klassen,

da sich neben

der ausschließlich der Arbeit fröhnenden Mehrheit eine kleine, von „direct-

produktiver" Arbeit befreite Minderheit bilde, die die gemeinsamen Ange­

legenheiten der Gesellschaft besorge,

nämlich die Arbeitsleitung, Staats­

geschäfte, Justiz, Wissenschaften, Künste rc.

Diese Minderheit verfehle nie,

ihre Herrschaft auf Kosten der arbeitenden Klassen zu befestigen und die gesellschaftliche Leitung umzuwandeln in gesteigerte Ausbeutung der Men­

schen.

Sobald nun die nach Ansicht der Socialisten durch die Entwicklung

der modernen Industrie,

Landwirthschaft und Verkehrsverhältnisse noth­

wendig gewordene Collectivproduktion alle Menschen gleichmäßig zur „direct produktiven" Arbeit heranziehen und ihnen die gleiche Erziehung an­

gedeihen lassen werde,

würden alle Klassenunterschiede verschwinden und

nicht nur ökonomische Gleichheit, sondern auch ein viel höheres Maß in­

dividueller Freiheit für alle Menschen hergestellt werden, als es der radi­

kalste Liberalismus, die freieste bürgerliche Republik gewähren könne. Und zwar soll die Collectivproduktion dem Einzelnen Verkürzung der Arbeits­

zeit und dadurch Vermehrung der persönlichen Freiheit nicht nur in dem

Maße verleihen, wie sie bisherige „Müßiggänger" zur Arbeit heranzieht, sondern auch in dem Maße, wie sie die Folgen der freien Konkurrenz, die

Krisen aus planloser Ueberproduktion aufhebt.

Mit der Einführung der

Collectivwirthschaft schläft nach den Worten Engels' die politische Autorität des Staates ein.

Dieser Gedankengang, der dem ganzen wissenschaftlichen

Systeme des Zweigestirns Marx-EngelS

zu Grunde

liegt, ist auch die

Grundlage des Anarchismus geworden.

Wie die Anarchisten aus den Schriften des Karl Marx und Friedrich Engels die feste Ueberzeugung von der Naturnothwendigkeit der Entwick­

lung unserer Oekonomie zu einem staats- und regierungslosen Collectivis­

mus geschöpft haben, so kritisiren sie auch die Staatsidee überhaupt fast mit denselben Worten wie Engels.

Der Staat ist auch in ihren Augen

nur eine Repressivgewalt, d. h. das Werkzeug einer bestimmten Klasse zur

Unterdrückung anderer Klassen oder eine „Organisation der jedesmaligen ausbeutenden Klasse zur Aufrechterhaltung ihrer äußeren Produktionsbe­

dingungen".

Krapotkin

Von diesem Standpunkt aus hat der Anarchist Fürst Peter

in einer „Gesetz und Autorität" betitelten Broschüre die Ab-

Die Entwickelung M SocialdemokratiSuuis znin Anarchismus.

schaffung aller Gesetze, Gerichte und Strafen verlangt. dere anarchistische Schriftsteller sagen,

581

Dieser, wie an­

daß in einer Gesellschaft, wie der

gegenwärtigen, wo ein wilder Kampf ums Dasein herrsche, und ein kleiner

Prozentsatz der Menschen aus Bergen von Reichthümern thronen, während

die Massen in Elend schmachten, sich die Richter, Polizisten und Gefäng­ nisse ganz von selbst verstünden,

in

einer Gesellschaft aber,

wo jeder

Mensch unbehindert all' seine Bedürfnisse befriedigen könne, wo ein gleichheitliches

und

hochentwickeltes

Erziehungswesen

jedem Individuum

die

Möglichkeit darbiete, von den Ergebnissen einer frei entfalteten Wissen­

zu zehren und wo die Gegensätze zwischen Arm

schaft nach Herzenslust und Reich

unbekannt

gänzlich

seien,

Verbrechen diese selbst verschwinden

du würden mit den Ursachen der Natürlich verwerfen die Anarchisten

auch jede parlamentarische Vertretung, die ja mit dem Aufhören des Staates und

der Regierung von selbst in Fortfall kommen muß.

Der

vorsichtige Engels vermeidet es sorgfältig, sich darüber zu äußern, was an

Stelle des

Staates

ergänzt ihn.

Most

lösende Wort.

und

der „Regierung

über Personen"

treten

soll.

„Die Entscheidung von Fall zu Fall" lautet das

Jeder einzelne Mensch kann in jedem einzelnen Fall thun,

was ihm beliebt.

Und in der That, wenn es keinen Staat giebt, bleibt Engels befindet sich zweifelsohne in vollster Ueber­

kein anderer Ausweg.

einstimmung mit Most's und Krapotkin's Anarchie.

Indessen, sind

thun?

wir nicht schon auf dem Punkt,

Engels Unrecht zu

Will er doch an Stelle des Staates und der Regierung über

Personen eine „Verwaltung

duktionsprozessen".

von Sachen"

Nun wohl,

und eine „Leitung von Pro­

genau dasselbe will Johann Most.

Ist

die Staatsgewalt in der collectivistischen Gesellschaft glücklich eingeschlafen, so giebt eS natürlich keine Macht,

welche

irgend

ein Produktionsmittel

einer oder mehreren Personen zur Benutzung und Erzeugung von Pro­

duktion überweisen oder stellen könnte.

welche eine Organisation von Produzenten her­

Wohl giebt eS kein Besitzrecht an den Mitteln der Pro­

duktion mehr zu reguliren, aber um so mehr ein Gebrauchsrecht; denn jedem gehört Alles und alle Menschen können Neigung haben, von

und demselben Ding Gebrauch

zu machen,

wenig oder gar keine Menschen werden Lust

oder auch Niemand.

haben,

in

ein

Sehr

den Bergwerken

zu arbeiten, sehr viele werden sich bereit finden, in dem fruchtbaren Sizilien Ackerbau zu treiben,

wenn cs einmal erforderlich ist,

duktiven" Arbeit Theil

zu

nehmen.

an der „directpro-

Das einzige Kanoe einer Eskimo­

familie, durch welches das Familienoberhaupt im Kampf mit den Wellen

den Seinen die Nahrung erwirbt, gehört der ganzen Menschheit und kann seinem Inhaber jeder Zeit von jedem anderen Menschen entrissen werden.

582

Die Entwickelung des SvcialdemotraliSmu« zum Anarchismus.

Die wichtigsten Produktionsmittel, die Gasanstalt, die eine Weltstadt mit Licht versorgt, die Wasserleitung, die ihr das Wasser zuführt, die Eisen­

bahnen, die die Lebensmittel herbeischaffen,

können zu jeder Stunde von

einer Rotte fremder, des Betriebs gänzlich unkundiger Menschen mit Ge­ walt, aber mit Fug und Recht in Beschlag genommen werden,

können

bisherigen Produktionsleiter

zu

oder die

jeder Stunde ihren Posten ver­

lassen und ihrerseits andere Produktionsmittel ergreifen, wenn jene „Lei­

tung von Produktionsprozessen" nicht von einer Behörde ausgeübt wird, welche die weitgehendste Macht über Personen inne hat.

Was nützt denn

eine „Verwaltung von Sachen", die denjenigen nicht bestrafen kann,

der

die Sache muthwillig verdirbt, die denjenigen nicht sortjagen kann, der sie

aus Unkenntniß vernachlässigt?

Eine „Leitung von Produktionsprozessen"

ohne Regierung über Personen ist eine inhaltlose Phrase. Leblosen Sachen kann man

und keine Verantwortung auferlegen,

keine Befehle ertheilen

den Menschen aber, die sie benutzen, kann man Pflichten auferlegen und Wenn Engels von einer Verwaltung und

sie zur Verantwortung ziehen.

Leitung von Produktionsmitteln in einer kommunistischen, staats- und re­

gierungslosen Gesellschaft spricht, so kann

er

darunter nur eine völlig

zwanglose, auf freier Vereinbarung mehrerer oder weniger Individuen be­ ruhende Organisation verstehen, wie sie Johann Most erstrebt. Der Gesichtspunkt der Zweckmäßigkeit wird nach Most's Auffassung

die Personen zusammenführen und zu gemeinsamem, planmäßigen Handeln vereinigen.

Weil sie sehen, daß die Industrie und Landwirthschaft um so

leistungsfähiger sind, je großartiger sie betrieben werden, erscheint eö Most selbstverständlich, daß sie ihre Arbeitskräfte einheitlich organisiren werden.

Niemand darf indessen gezwungen werden, gegen seine Neigung zu handeln. Erscheint es zweckmäßig, die Post oder das Eisenbahnwesen über die ganze

Erde hin einheitlich zu verwalten, so werden diejenigen Menschen, die sich

diesen Fächern zugewandt haben, sich spontan zu einer großen Organisation

zusammenschließen. munale

Andere Produktionszweige werden vielleicht nur kom­

Organisationen haben.

Allenthalben

bilden

sich kleinere

oder

größere Gruppen gleichartiger Produzenten, die ihre Angelegenheiten nach

Jeder sucht sich eine solche Gruppirung von

gemeinsamem Plan besorgen.

Individuen aus, welche in ihren Neigungen den seinigen am nächsten steht. Aendert sich seine Neigung, so kann natürlich jeder sich eine andere Gruppe oder einen anderen Beruf erwählen.

Keine Organisation, also auch nicht

die Post oder Eisenbahn, darf centralistisch gestaltet sein, denn jede Centrali­ sation erfordert eine Spitze,

eine Herrschaft.

auch die socialdemokratische Theorie angelangt. demokratischen Broschüren,

die

aus

Bei dieser Absurdität ist Selbst diejenigen social-

agitatorischen Rücksichten

noch

den

Die Entwickelung des SocialdemokrntiSmnS ziim Anarchismus.

583

Staatzum Leiter des Produktionsprozesses machen wollen, lassen es un­ entschieden, ob die Produktion centralistisch oder föderalistisch geordnet sein

wird.

ankomme,

es

Worauf

das sei zunächst die einheitliche Regelung

der Produktion. Fassen wir zusammen: Socialdemokraten wie Anarchisten,

Engels

wie Most

eine einheitliche Produktion

wollen

mit organisirten

Arbeitskräften und gemeinsamen Produktionsmitteln, aber beide ohne Staat

und ohne Regierung über Personen, beide werden demnach in Wirklichkeit die „Planlosigkeit" der

heutigen Konkurrenz

nicht

nur

nicht beseitigen,

sondern in unserer Wirthschaft das wildeste Chaos anrichten und unsere

gesammte Cultur vernichten. Nehmen

wir zur Illustration

der socialdemokratisch-anarchistischen

Zukunftspläne einmal den Fall an, daß die Menschen sich nicht durch den

lassen, daß

Zweckmäßigkeit"

der

„Augenschein

einzelne Individuen

zu

Organisationen

besonders

wie sehr fruchtbare Landgüter oder sehr Beschlag nehmen

zusammcnführen

werthvolle Produktionsmittel,

treffliche Maschinen für sich in

und den reichlichen Ertrag

allein verzehren, ohne den

Mitmenschen ihren Theil, für dessen Festsetzung es ja gar keine Gesetze

geben kann, abzutreten, daß selbst die einzelnen Ortsgruppen, die die Ver­ kehrsmittel, wie die Post in Händen haben, auf eigene Rechnung wirth­ schaften und sich mit den fremden Gruppen entzweien, so tritt wohl nicht

ein Verfassungsbruch,

denn eine Verfassung kann es ja gar nicht geben,

aber doch ein für die Menschheit sehr peinlicher Zustand ein, zu dessen Beseitigung Engels

kein Heilmittel

eines bei der Hand hat.

zu wissen scheint, Most aber sofort

„In einer freien (staatslosen) Gesellschaft — so

schreibt Most — scheitern

solche Raubversuche

schon

ersten Auf­

beim

tauchen einer diesbezüglichen, böswilligen Absicht an dem allgemeinen Un­

willen, steigern

welcher nöthigenfalls

vermöchte."

sich zu

einem thatkräftigen Handeln zu

Was Most vorschwebt, ist also

Krieges Aller gegen Alle.

Praktisch

aber

die Freiheit des

würde diese Consequcnz nach

seiner Vorstellung nicht gezogen werden.

Die Frage, wer in einer staats- und regierungsloscn Gesellschaft die Uebergriffe

und Verbrechen

der Menschen strafe, ist überflüssig, weil in

einer solchen Gesellschaft die Menschen

ohne jeden Fehler

Menschen der Gegenwart nicht vergleichbar sein würden.

und mit den Als Anhänger

des extremsten Naturalismus und Materialismus betrachtet die Social­ demokratie den Verbrecher äußeren Verhältnisse.

mus in Bezug

als

willenloses Opfer der

ihn

umgebenden

Indem sie von einem Berge versetzenden Optimis­

auf die Zukunft erfüllt ist,

hat sie das Mittel an der

Hand, um mit einer unaufhaltsamen Kühnheit bis zu dem Nicht-Regierungs-

shstem deS Socialismus, der socialistischen Anarchie sortzuschreiten. Preußische Jahrbücher. Bd. LXI. Heft 6.

40

Denn

584

Die Entwickelung de» Socialdemokratllmns zum Anarchilmu».

vor dem Glauben an die Gottgleichheit des zukünftigen Menschengeschlechte­ finken alle gegnerischen Argumente in den Staub. Sehr treffend be­ merkt Wilhelm Roscher, daß unter Engeln die Gütergemeinschaft vielleicht ohne Schaden bestehen könnte. Da die Sozialisten aller Schattirungen dem „nachrevolutionären Menschen" reinweg überirdische Eigenschaften bei­ legen, so sind sie auch der Mühe überhoben, überhaupt ein positive- Zu­ kunft-programm au-zuarbeiten. Sie können sich darauf beschränken, zu sagen: „Wenn keine Herrschaft und kein Besitz mehr existirt, wird von selbst Alle- in schönster Harmonie leben und gedeihen." In vollem Widerspruch mit unseren Ausführungen und der von der Parteileitung als Propagandaschrift acceptirte Broschüre Friedrich Engel­ hat nun die deutsche Socialdemokratie auf dem jüngsten osficiellen Partei­ tage zu St. Gallen folgende Resolution*) beschlossen: „Der Parteitag erklärt die anarchistische Gesellschaft-theorie, soweit dieselbe die absolute Autonomie de- Individuum- erstrebt, für antisocialistisch, für nichtandere-, al- eine einseitige Ausgestaltung der Grundgedanken de- bürger­ lichen Liberalismus, wenn sie auch in ihrer Kritik der heutigen Gefellschaft-ordnung von socialistischen Gesichtspunkten auSgeht. Sie ist vor Allem mit der socialistischen Forderung der Vergesellschaftung der Pro­ duktionsmittel und der gesellschaftlichen Regelung der Produktion unverein­ bar und läuft, wenn nicht die Produktion auf den Zwergmaßstab deS kleinen Handwerks zurückgeführt werden soll, auf einen unlösbaren Wider­ spruch hinaus." Unsere vorangehenden Ausführungen haben diese Reso­ lution bereit- widerlegt. Wir haben unS davon überzeugt, daß die socialdemokratische Gesellschaftstheorie in demselben Maße, wie die anar­ chistische die „absolute Autonomie deS Individuums" erstrebt, denn beide verwerfen den Staat und die Regierung über Personen. Ist nun die anarchistische Gesellschaft-theorie, soweit sie die absolute Autonomie deS Individuum- erstrebt „antisocialistisch" und eine „einseitige Ausgestaltung der Grundgedanken deS bürgerlichen Liberalismus", so gilt die- auch von der socialdemokratischen. Indem die Socialdemokratie die Unvereinbarkeit der anarchistischen Gesellschaft-theorie mit der socialistischen Forderung der Vergesellschaftung der Produktionsmittel und der gesellschaftlichen Regelung der Produktion constatirt, spricht sie ihr eigene- Urtheil. Die Resolution sucht absichtlich den Eindruck zu erwecken, al- halte die Socialdemokratie an dem Begriff des Staate- und der Regierung fest. ES ist die- sehr erklärlich, wenn man erwägt, daß politische Motive die Beschlüsie deS im Gegensatz zu früheren, öffentlich abgehaltenen CongresseS zu St. Gallen *) Einstimmig mit zwei Stimmenthaltungen engenoniroen den 5. Lclober 1887.

Dir Sntwickelnng bet 6ocia(bemefratlemii< ;um Anarchlsmu».

585

in erster Linie bestimmen mußten und daß Friedrich Engel- ja selbst dem „freien DolkSstaat" eine „zeitweilige agitatorische Berechtigung" zugestanden hat. Daß die Resolution de- 5. October 1887 eine Wohl berechnete Täuschung ist, die socialdemokratischen Parteiführer aber ganz und gar den anarchistischen Standpunkt Engel- theilen, beweist die folgende Aeußerung Wilhelm Liebknecht'-, die er in derselben Rede fallen ließ, in der er die Resolution einbrachte: „Die theoretische Auffassung, der Staat werde auf­ hören, sobald die socialistische Gesellschaft verwirklicht sei, hat mit dem Anarchismus, der seinem Wesen nach antisocialistisch ist, nicht- gemein. Ob die socialistisch organisirte Gesellschaft Staat genannt wird oder nicht, die- ist eine bloße Wortfrage*)." Liebknecht fühlte da- Bedürfniß, mit diesen Worten seinen Lehrer Engel-, sich selbst und seine Freunde zu salviren, daher wollen wir den Widerspruch dieser Worte mit der Reso­ lution seinem gesunden Verstände nicht zu hoch anrechnen. Seine zuletzt citirten Worte geben zu, daß der Socialdemokrat die anarchistischen Theorien theilen dürfe, ohne seiner Lehre untreu zu werden. Ist der Anarchismus in den Augen Liebknecht'- nunmehr noch „antisocialistisch", so kann er e- höchsten- in Bezug auf die Taktik sein. Der Most'sche Anarchismus hat sich, wie wir sahen, durchaus folgen richtig au- dem Marx-Engel-'schen Socialismus entwickelt, letzterer hat sodann seinerseits nicht umhin gekonnt, dieselben Consequenzen zu ziehen, wie Johann Most. Am Ziele ihrer Entwickelung sind aber beide noch nicht angelangt, die Marxisten wie Mostianer haben nothgedrungen noch einen letzten wichtigen Schritt zu thun. Während sie nämlich die Pro­ duktionsmittel zum Eigenthum der gesammten menschlichen Gesellschaft machen wollen, kennen sie doch noch ein EigenthumSrecht an den Genuß­ mitteln. Wenn an nichts Anderem, so würde dieses Prinzip jedoch daran scheitern, daß fast jede- Produktionsmittel auch als Genußmittel dienen und fast jede- Genußmittel als Produktionsmittel verwerthet werden kann. Die Kohlen, die in den Backofen deS Bäcker- wandern, dienen zur Pro­ duktion, in dem Ofen seine- Wohnzimmer- müssen sie alö Genußmittel betrachtet werden. Dieselben Feldfrüchte sind al- Nahrung der Thiere Produktionsmittel, als Nahrung der Menschen Genußmittel. Sobald der Bauer mit seinen Ackerpferden deS Sonntag- spazieren fährt, verwendet er sie zu seinem Genusse. Eine Droschke ist für ihren Besitzer Produktiv­ kapital, für da- Publikum zumeist Gebrauch-kapital. Da- Holz eineParkeS wird unter den Händen des Tischler- zum Produktionsmittel. *i Beritt über die Verhandlungen de» Parteitage» der deutschen Socialdemokratie zu St. Gallen. S. 60.

Die Entwickelung des EocialbeniokratlSmnS zum Anarchismus.

580

Vielleicht könnte ein cäsaristisch-absolutistifcher Collektivstaat einen Gemein«

besitz an den Produktionsmitteln im Gegensatz zu den Genußmitteln durch fortwährende, mehr willkürliche als prinzipgemäße Decrete zur Noth auf­ recht erhalten, eine regicrungslose Gesellschaft, die nicht einmal Parlamente

und Gesetze

kennt, ist

völlig

außer Stande,

eine solche Unterscheidung

durchzusühren, selbst wenn alle ihre Mitglieder den besten Willen hätten.

Da Most den Produktionsorganisationen als Bezahlung für ihre Arbeit

die von ihnen verfertigten Genußmittel zum eigenen Verbrauche sowol als

zum Zwecke des Austausches gegen andere Genußmittel überläßt, scheint er die Genußmittel mit den Produkten zu identifiziren und nicht zu wissen,

daß auch alle Produktivkapitalien Produkte sind.

Die Produktionsorgani­

sationen der Maschinenbauer beispielsweise werden unter dem Most'schen System von der Luft leben müssen, denn die von ihnen verfertigten Pro­ dukte werden als Mittel der Produktion sofort in das Gemeineigentum

der Menschheit übergehen und ihnen keine Einnahme gewähren. Schon früh hat sich eine Richtung innerhalb der socialistischen Be­ wegung erhoben, die diese doppelsinnige Theorie verwarf.

französischer Anarchisten zu

La

folgende

wollen

Resolution: „Wir

Beschlagnahme

den Kollektivismus

nicht allein

logischen Consequenzen,

Der Kongreß

im Jahre

Chaux-de-Fonds

1870 faßte

mit allen seinen

in Hinsicht auf die gemeinschaftliche

der Mittel der Produktion, sondern auch in Hinsicht auf

den Genuß und gemeinschaftlichen Verbrauch der Produkte".

Diesen reinen

Anarchismus vertritt auch der gebildetste Anarchist Fürst Peter Krapotkin. seinen Kräften

jeder Mensch solle nach

Er meint,

Lebensmittel beitragen,

er habe dann auch das Recht, von allem zu ge­

Wie man nicht angeben könne,

nießen, was ein anderer producirt hat.

welchen

Antheil

zur Produktion der

jedes Individuum

an der

Produktion des Reichthums

habe, so könne man auch nicht bestimmen, waö ein jeder zu fordern habe; vielmehr gehöre jedes Ding allen Menschen und alle Dinge jedem Menschen.

Das Organ*) einer deutschen, Most feindlichen Anarchistengruppe erklärt geradezu: Wer ein Vergnügen daran

finde,

nicht zu

arbeiten und den

ganzen Tag dem Genusse zu leben, Champagner zu trinken und Austern

zu

essen,

dürfe von

Niemand

gehindert

wünschenswerthen Gegenstände einfach

Most

noch

kennt

eine

„freiwillig

aus

werden

und

könne

die

ihm

den Niederlagen entnehmen.

eingegangene" Arbeitspflicht.

Jeder

Mensch bekommt als Lohn seiner Arbeit von der betreffenden Gruppe von Produzenten,

Arbeitszeit

der er sich angeschlossen,

entsprechenden

Antheil

einen der von ihm aufgewendeten

am Ertrage

*) Der „Rebell", später die „Autonomie".

der Arbeit der

ganzen

587

Die Entwickelung des SocialdemokrutiSmnS znm Anarchismus.

Gruppe.

Ohne

Mensch leben.

also

Arbeit kann

in

seiner

„freien Gesellschaft" kein

erwähnten consequenteren Anarchisten hingegen ver­

Die

werfen das Most'sche System.

Sie meinen, es widerstreite dem Prinzipe

der vollen individuellen Freiheit, das Einkommen des Einzelnen nach seiner

Alle rorhandenen Dinge sollten einfach Jedem

Arbeitsleistung festzusetzen.

zur unbeschränkten Verfügung stehen. Jeder würde dann schon ganz von selbst

das ©einige

zur Genußmittelerzeugung

beitragen.

Johann Most

weist diese Ideen übrigens keineswegs rundweg von der Hand; er tadelt an ihnen nur, daß sie in

weiteren Kreisen

sehr schwach einleuchten und

mithin als Agitationsfaktor keine besonders große überzeugende Kraft be­

sitzen dürften.

sich solang entfernen

Ganz

scheute,

dasselbe Motiv, aus welchem die Socialdemokratie

den Begriff

deö Staates

auö ihrem Programm zu

und die Anarchie als das zu erstrebende Ziel zu proklamiren.

Da in Most'S Jdcalgesellschaft jedes Genußmittel seinem Produzenten

oder der Gruppe seiner Produzenten zu eigen ist,

unfähige

aller Lebensmittel.

entbehrt der Arbeits­

Solang der Socialdemokratismus

noch an

dem Begriff des Staates festhielt, konnte er diesem die Verpflichtung auf­

erlegen, für den Arbeitsunfähigen zu sorgen. auö den öffentlichen Magazinen

Der Staat könnte denselben

ihren Bedarf unentgeltlich liefern;

auch

wäre er die einzige Instanz, um über die Arbeitsfähigkeit resp. Unfähig­ keit eines Menschen zu entscheiden.

Kennt der Socialdemokratismus den

Staat nicht mehr, so verweist er die Kranken und Greise auf die Mild­ thätigkeit

ihrer Mitmenschen oder

auf das Verhungern.

Und doch sagt

Most in Uebereinstimmung mit allen Socialdemokraten, daß jeder Arbeits­

unfähige in der „freien Gesellschaft" das nämliche Recht auf's Leben

haben werde, wie der Arbeitsfähige. Wenn in der anarchistischen Gesell­ schaft derjenige, der sich zu krank oder 'zu alt zur Arbeit fühlt, seinen Unterhalt in ebenso reichlichem Maße erhalten soll, wie derjenige, welcher arbeitet, so ist dies

nur denkbar,

wenn

alle Genußmittel Gemeineigen-

thum sind und Jedermann — gleichviel, ob er arbeitet oder nicht arbeitet — zur freien Verfügung stehen.

der Fortentwickelung

Ein weiterer Beleg für die Nothwendigkeit

des Engels-Most'schen Anarchismus zu

dem rohen

Kommunismus eines Kropotkin.

Wir haben

schon mehrfach betont,

daß der einzige Unterschied, der

noch zwischen Socialdemokraten und Anarchisten besteht, auf dem Gebiet der revolutionären Taktik liegt.

Die Anarchisten

wollen die bestehende

Gesellschaft mit jedem Mittel, Dynamit und Petroleum, Mord und Raub vernichten, die Socialdemokraten

erhebung, einen

durch

allgemeinen Volkskrieg.

eine wohl

vorbereitete Massen­

Die Anarchisten

greifen

schon

588

Die Entwickelung des Socialdemokratismus zum Anarchismus.

zur Zeit je nach dem Geschmack des Einzelnen zur Gewalt, die Social-

demokraten

erklären diesen Einzelkampf für unpraktisch

Kräfte für spätere Zeiten auf.

und

und sparen ihre

Da bisher die Theorien der Anarchisten

Socialdemokraten für von

einander

abweichend

gehalten

wurden,

meinte man, daß die Verschiedenheit in der Taktik der Verschiedenheit in der

Theorie

entspreche.

Die

Radikalen,

welche den

und

Staat

jede

Autorität vernichten wollten, müßten auch zu radikaleren Mitteln greifen, als diejenigen, welche nur innerhalb des Staates politische und ökonomische Veränderungen vornehmen wollten.

Wir halten die anarchistische Taktik

der

für

individuellen Gewaltanwendung

ganz

übereinstimmend mit dem

von Engels wie Most vertretenen Prinzip der schrankenlosen Freiheit und Selbstherrschaft des

Individuums.

Der Mensch, welcher

für sein

es

Recht hält, in jedem Falle nach eigener, souveräner Willkür zu handeln,

welcher kein Gesetz

und keine Autorität, weder göttliche noch menschliche,

kennt, muß sich auch berechtigt fühlen, jeden Menschen, der ihm im Wege ist,

zu tobten,

Menschen

zu

und wenn vernichten.

es

ihm Vortheilhaft

Die anarchistische

erscheint,

tausende von

Dhnamiterei

ist



wie

Schäffle sagt*) — die Spitze der Ueberhebung des Individuums, welche nicht weiter getrieben werden kann.

Die Consequenzen, welche Engels in seiner „Entwicklung des Socialis­ mus" gezogen hat, sind zum Glück noch nicht Gemeineigenthum der social­ demokratischen Proletarier geworden, sonst dürften sie in Verbindung mit

der Lehre von der Nothwendigkeit einer gewaltsamen Revolution dieselben

Früchte tragen, wie wir sie bei den sogenannten Anarchisten finden.

dem Friedrich Engels

seinen Anhängern gelehrt hat,

Nach­

daß alle Autorität,

jede Regierung über Personen sich überlebt hat, kann er von ihnen nicht

erwarten, daß sie die „gewaltsame Besitzergreifung der Produktionsmittel", d. h. die Revolution aus den Tag verschieben, wo die socialdemokratische

Reichstagsfraktion oder sonst ein beliebiger Parteiführer daö Zeichen gibt.

Jeder

Anhänger von Engels

muß

vielmehr sich

selbst als

die höchste

Autorität ansehen. Mag Engels in seinen, vor mehr als einem Jahrzehnt geschriebenen

und gegen Bakunin gerichteten Schriften auch noch so sehr daS Treiben der Anarchisten verdammen,

heut ist sein Urtheil um vieles milder.

Er

hat an den Anarchisten nur wenig zu tadeln, nämlich einmal, daß sie von einer „Abschaffung" des Staates reden — was seiner Ansicht nach über­ flüssig

ist, da der Staat von

selbst nach der Revolution „absterben"

werde — und dann, daß die Anarchisten diese Abschaffung „mit *) Die Aussichtslosigkeit der Socialdemokratie.

S. 22.

soviel

Die Entwickelung des SocialdemokratiSnmS zum Anarchismus.

Lärm breittreten" und sie „von heut auf morgen erwarten".

589

Engels, der

ja im Jahr 1848 im Verein mit Marx die bedeutendste aller Aufruhr­ predigten, das „Kommunistische Manifest" herausgegeben hat, will keines­

wegs, daß das Proletariat die Hände in den Schooß lege, im Gegentheil,

da er fest davon überzeugt ist, daß bereits jetzt der Zeitpunkt gekommen sei, wo die Produktionsmittel in den gesellschaftlichen Besitz

übergehen

müssen; und da er einsieht, daß unsere besitzenden Klassen seine Auffassung nicht theilen, so hält er die schleunige, gewaltsame „Expropriirung" der­

selben für eine dringende Nothwendigkeit.

Indem das Proletariat sich der

Staatsgewalt bemächtigt und die Produktionsmittel in Staatseigenthum verwandelt, hebt eö nach Engels' Ansicht sich selbst als Proletariat und

alle Klassenunterschiede und Klassengegensätze auf Staat als Staat.

und

damit auch den

Mit dem gleichen Recht wie Engels vom Staat, kann

jeder Mörder von seinem Opfer sagen, er habe dasselbe ja gar nicht ge-

tödtet, es

sei ja nach Ausführung des tödtlichen Dolchstoßes von selbst

gestorben.

Die Frage läuft ganz ersichtlich auf eine Silbenstecherei hin­

aus, ist aber von Seiten der Socialdemokraten wie Anarchisten vielfach

erörtert worden.

Sehr bezeichnend für das Verhältniß des Socialdemo­

kratismus zum Anarchismus

ist

es

sicher, daß der erstere anfangs mit

allem Nachdruck gegenüber dem letzteren betont hat, lichen

Expropriirung

der besitzenden

Klassen

daß der wirthschaft-

die politische vorhergehen in die Gewalt be­

müsse, d. h. daß das Proletariat das Staatsruder

kommen müsse, bevor an eine gesellschaftliche Regelung der Produktions­

und Austauschweise gedacht werden könne, während der Anarchismus dieses

System als eine „neue Klassenherrschaft" verwarf und forderte, daß jede Regierung verschwinden müsse.

Engels vermittelte,

indem er nachwies,

daß man durch Befolgung des socialdemokratischen Revolutionsprogramms die anarchistische Jdealgesellschaft herbeiführe. Auch darin sind Socialdemokraten und Anarchisten jetzt einig, daß

der Expropriirte keine Entschädigung erhalten darf.

Albert Schäffle hat

in seiner „Quintessenz des Socialismus" darzulegen versucht, daß der Socialismus

es

gar nicht nothwendig habe,

die Besitzenden gewaltsam

ihres Eigenthums zu berauben, sondern ihnen eine Entschädigung in Ge­

nußmittelraten, die bei

den reichsten Finanzbaronen vielleicht 99 Jahre

hindurch dauern würden, zu Theil werden lassen könne.

Er glaubt sogar,

wahrscheinlich gestützt auf die eine oder andere Stelle in älteren socialde­

mokratischen

Schriften, daß die Socialdemokraten

würden, diesen friedlichen Weg zu beschreiten.

nicht

abgeneigt

sein

Die Socialdemokratie von

heut — das geht auf das deutlichste aus ihrer Literatur hervor — denkt gar nicht an eine solche Ablösung, die an Stelle alter, neue Privilegien

Die Entwickelung des SocialdemokratismnS 311111 Anarchismus.

590

setzen würde.

Die von ihr geplante „Expropriation" soll Niemandem ein

Sie wird

Privileg lassen.

Klassen

sein.

eine- gewaltsame Beraubung der besitzenden

einzige Entschädigung,

Die

Theil werden soll, ist die,

zu

daß ihnen in der zu bildenden freien Gesell­

schaft dieselben Lebensbedingungen

gewährt werden,

Die Socialdemokraten

Menschen.

den Expropriirten

welche

haben

es

nicht

wie jedem anderen unversucht

diese eigenthümliche Art der Expropriirung zu rechtfertigen.

gelassen,

Einmal ist

nach ihrer Meinung jeder Besitz oder wenigstens der an den Produktions­ mitteln Diebstahl und dann sind sie fest davon überzeugt,

daß selbst der

reichste Schlemmer ein Bürgerrecht in der „freien Gesellschaft" all seinem

gegenwärtigen Reichthum vorziehen müsse. lich,

sei

es

Der Reichthum sei vergäng­

durch vie Schuld des Besitzers, sei es durch fremde,

rechenbare Einflüsse,

wie Produktionskrisen u. s. w.

Ueberdies

unbe­

sei heut

weder die politische Freiheit der Reichen vor der Macht der Krone, noch ihre Gesundheit vor den aus dem Elend der arbeitenden Klassen erzeugten Epidemien gesichert.

Ferner sei unsere ganze wirthschaftliche Entwicklung

ein ununterbrochener- Expropriationsprozeß, bei

dem

der Fabrikant den

Handwerker, der Großgrundbesitzer den Bauern, der Kaufmann den Händler und

der größere Kapitalist

schädigung.

den kleineren aufsauge — aber ohne Ent­

Der Socialdemokratismus bietet den Expropriirten nicht mehr Auch über den Zeit­

und nicht weniger als Ersatz, wie der Anarchismus. punkt der Revolution

sind

sie

einig.

August Bebel wie Johann Most

haben in ihren Schriften mehr als einmal geäußert,

daß sie die große

sociale Revolution noch in diesem Jahrhundert zu erleben hoffen.

In den Grundfragen

der Taktik bestehen

also keine Differenzen

und Anarchisten.

Auch die letzteren sind

zwischen den Socialdemokraten

davon

überzeugt,

daß der Sieg erst errungen werden kann, wenn die

Massen der Proletarier sich gleichzeitig erheben;

den vorläufigen Einzel­

kampf können sie natürlich den Mitgliedern ihrer Partei nicht untersagen.

Wenn diese individuelle Gewaltanwendung sich bis jetzt ausschließlich bei

den Anarchisten findet,

so ist dies daraus zu erklären,

radikaleren Charaktere besitzen,

daß dieselben die

die, wie sie zuerst die Consequenzen der

socialdemokratischen Theorien erfaßt haben, so auch zuerst dieselben in der

Praxis zur Anwendung bringen.

Die Gefahr ist nicht wegzuleugnen, daß

die Socialdemokraten, wie sie schon bisher die Rekruten für den Anarchis­ mus lieferten, so auch in absehbarer Zeit in ofsicieller Weise sich zu der individuellen Anwendung der Gewalt bekennen.

Es steht dem indessen vor

allem der Umstand entgegen, daß die schrankenlose Freiheit des Indivi­ duums, sobald sie sich in der Praxis zeigt, von den Massen der Menschen

stets als ein Wahn erkannt werden wird.

Die Entwickelung des Socialdemokratismuö zum Anarchismus.

591

Die Marxisten haben sich längst das Recht verscherzt, sich Socialde­ zu

mokraten

nennen.

Ihnen gebührt mit dem gleichen Recht,

wie

den

Mostianern der Titel „Anarchisten", „Herrschaftslose". Der Anarchismus

umfaßt

zwei Begriffe, die Regierungslosigkeit und

Zu beiden

hat sich

den Kommunismus.

die sogenannte Socialdemokratie bekannt.

Socialdemokraten noch für den „Bolksstaat" eintreten,

thun sie

Wo die

es aus

agitatorischen Rücksichten oder aus Unklarheit über die Consequenzen ihres Strebens.

Solang

sich

der

demokratische Socialismus zeigt,

wird der

Anarchismus auch nicht verschwinden, denn jener wird sich stets zu diesem fortentwickeln.

Der Dresdener Faustfund und die Entstehung des Faust. Goethes Faust in ursprünglicher Gestalt nach der Göchhausenscheii Abschrift heraus­ gegeben von Erich Schmidt, Weimar H. Böhlau 1887.

Goethe- Werke. Herausgegeben im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen 14. Band, Weimar H. Böhlau 1887.

Faust.

Erster Theil.

In seiner Schrift „Goethes Faust in seiner ursprünglichen Gestalt" erzählt uns Erich Schmidt die glücklichen Umstände, denen er die Auf­ findung einer Abschrift einer Reihe von Scenen verdankt, welche den ur­

sprünglichen Faust bilden, wie ihn Goethe im November 1775 von Frank­ furt mit nach Weimar gebracht hat. daß diese Abschrift,

gefertigt von

Denn das ist Erich Schmidts Ansicht, dem

aus Karl Augusts

und Goethes

Jugend so bekannten Fräulein Luise von Göchhausen, alles enthalte, was Goethe bis zu seiner Ankunft in Weimar am Faust gedichtet hatte.

Ob

diese Ansicht sich festhalten läßt, das ist eine für die Entstehung des Faust wichtige Frage.

Zu welcher Antwort die Untersuchung

auch

gelangen

möge, die Entdeckung des „Urfaust", wie ihn der glückliche und auch ver­

diente Finder nennt, ist von entscheidendem Werth für die Geschichte der Faustdichtung, wenn auch bei weitem nicht alle Fragen an ihrer Hand zu lösen sind. Aus Goethes Aeußerungen in den Briefen aus Italien, so wie aus

den viel späteren Aeußerungen gegen Eckermann war man längst zu der festen Annahme gelangt, daß die des Faust, bezüglich

machend

gewesen sei.

italienische Reise für die Fortbildung

für die Umbildung des

Allein

scene berichtet hatte, die er

da Goethe

zum Erscheinen

epoche­

in Rom niedergeschrieben habe, da wir gar

keine Spuren besaßen, daß nach der Rückkehr bis

vorhandenen Faust

nur von einer einzigen Faust­

aus Italien, Juni 1788,

des Fragmentes von 1790 die Faustdichtung erheb­

liche Fortschritte gemacht, so drängte sich der Schluß auf, daß das Frag­ ment von 1790 mit gewissen stilistischen Ucberarbeitungen den ursprüng-

Der Dresdener Faustsund und die Entstehung deS Faust.

593

lichen, den Frankfurter Faust enthalte, mit Weglassung gewisser Scenen,

die in den, nach des Dichters Zeugniß neugefaßten Faustplan nicht mehr paßten,

mit Hinzunahme jedoch der nach der Aeußerung bei Eckermann

in Rom gedichteten Scene der Hexenküche.

Auf Grund dieser Annahme suchte ich in vier Aufsätzen, die ich im

November und Dezember 1883 in den Grenzboten veröffentlichte, die ur­ sprüngliche Gestalt des Faust, d. h. die Folge und den Inhalt der Scenen zu rekonstruiren. der

Ich ging dabei noch von der weiteren Annahme aus, daß

ursprüngliche Faust ein Ganzes gebildet habe, und glaubte den ur­

sprünglichen Faust zu erhalten,

wenn ich

das Fragment von 1790 mit

Hinweglassung der urkundlich erst später gedichteten Scene der Hexenküche,

mit Hinzunahme einiger Scenen des jetzigen ersten Theiles, mit Hinzu­

nahme zweier vielleicht für den ursprünglichen Faust nur skizzirten oder nur in der Phantasie componirten Scenen zu einem dramatischen Ganze»

vervollständigte.

Der jetzt aufgefundene Ursaust liefert nun den Beweis,

daß, wenn wir Goethes Aeußerung glauben, daß er seit der Ankunft in

Weimar bis zur italienischen Reise nicht mehr an den Faust gerührt, in den Jahren von 1788 bis 1790 eine sehr intensive Arbeit am Faust statt­ gefunden haben muß.

Gedicht stets

Der Adel der Form und der Gedanken, der das

auf die Höhe der Poesie hebt,

auch wenn

es die kleinsten,

die niedrigsten Gegenstände des Lebens zum Vorwurf nimmt, ist erst im Fragment von 1790 erreicht.

gilt von den

Dies

noch mehr, als von der ursprünglich

andern Scenen

in Prosa geschriebenen

fast

und nicht

vor dem Abschluß deS ersten Theils in das Metrum gegossenen Kerkerscene. Wenden wir uns nun zu

dem Inhalt des Urfaust, von dessen Be­

trachtung wir uns die wichtigere Ausbeute versprechen können.

Der Ur­

faust deckt sich, was Inhalt und Folge der Scenen betrifft, bis zur Scene

im Dom, mit welcher das Fragment von 1790 abbricht, mit diesem Frag­ ment,

ausgenommen

folgende Abweichungen.

Auf die Anfangsscene im

Studirzimmer, auf die Geistererscheinungen und das Gespräch mit Wagner

folgt sogleich als zweite Scene das Gespräch des Mephistopheles mit dem

Schüler, der im Urfaust als Student bezeichnet wird.

Es fehlt also die

Unterredung zwischen Faust und Mephistopheles, welche im Fragment von

1790 der Schülerscene vorangeschickt ist, welche aber hier, wie man weiß, nicht mit dem Anfang anfängt, sondern als abgebrochenes Stück aus einem

Zusammenhang heraus mit den Worten: „Und was der ganzen Mensch­

heit zugetheilt ist, will ich in meinem innern Selbst genießen." hier

nicht wieder

auf die Gründe

ein,

welche

Ich gehe

die Annahme unmöglich

machen, daß der Anfang dieser Unterredung, wie er sich im jetzigen ersten

Theil des Faust findet,

vor dem Schluß

gedichtet worden, wie wir ihn

594

Der Dresdener Faustfund und die Entstehung dcS Faust.

im Fragment von 1790 vor uns haben und wie er ja unverändert in den 18 Jahre später abgeschlossenen ersten Theil des Faust übergegvngen ist. Vielmehr

nunmehr

bilden

die

beiden Theile der Unterredung Boni An­

klopfen des Mephistopheles bis einschließlich der Worte „Mein Busen, der

vom Wissensdrang schließen;" und

geheilt

von den

ist,

soll keinen Schmerzen künftig sich ver­

unmittelbar folgenden Worten bis zum Schluß

zwei auseinanderklaffende Stücke von so unvereinbarem, sich schroff wider­

sprechendem Inhalt, daß Goethe kein zweites Wagniß so verwegen auf die Gedankenlosigkeit des Lesers vertrauender Redaktion weder vorher noch nach­

her begangen hat.

Den Nachweis habe ich mit hinlänglicher Deutlichkeit

gegeben in dem vierten meiner Aufsätze über „die Entstehung des Faust"

Grenzboten 1883 Nr. 52.

Hu meiner

großen Freude ist Kuno Fischer

in seiner Schrift über „Goethes Faust", Cotta 1887, ganz derselben An­ Als ich meine Aussätze im Jahre 1883 schrieb, kannte ich die erste

sicht.

Auflage der Schrift Kuno Fischers nicht und kenne die Schrift überhaupt nur auS der zweiten Auflage.

Ich weiß daher nicht, wie weit er mir in

der Entwicklung dieser Ansicht vorangegangen ist; jedenfalls wird man sich leicht überzeugen, daß meine Ausführung bei aller Uebereinstimmung ganz unabhängig ist. Es folgt nun die Scene „Auerbachs Keller" in beiden Bearbeitungen

als Nr. 3, nur im Fragment weit schöner durchgebildet.

Als vierte Scene

enthält der Urfaust die kurze Scene am Kreuz auf der Landstraße, während

Nun folgen bis

das Fragment hier die große Scene der Hexenküche hat.

Scene 14 einschließlich in beiden Bearbeitungen dieselben Scenen, d. h.

dem Inhalt nach übereinstimmend.

Ms Scene 15 kommt aber im Frag­

ment die Scene „Wald und Höhle", bestehend aus dem schönen Monolog des Faust: „Erhabener Geist" und aus der darauffolgenden, hochdrama­

tischen

Unterredung

des Faust

mit

Mephistopheles.

Scene 16

ist im

Fragment das „Ach neige, du Schmerzensreiche", und mit der Scene im Dom als Nr. 17 bricht das Fragment bekanntlich ab.

Der Urfaust aber

reicht weiter.

Weil

er die Scene „Wald

und

Höhle" noch nicht hat, so gelangt er mit der Scene im Dom erst zu

Nr. 16. Dann,aber folgen noch fünf Scenen: als Nr. 17 „Monolog Valentins

in der Nacht, vor Gretchens Haus"; als Nr. 18 das Gespräch zwischen

Faust und Mephistopheles ebendaselbst, aber ohne das Ständchen, welches

zum Streit mit Valentin und zu seiner Ermordung führt.

Dagegen folgt

die Selbstanklage Fausts, welche jetzt den Schluß der Scene „Wald und Höhle" bildet.

20 „Faust

Dann kommt als 19 die Scene „Feld, trüber Tag", als

und Mephistopheles

Kerkerscene in Prosa.

durch die Lüste

brausend";

als 21 die

595

Der Dresdener Faiistfuud und die Entstehung des Faust.

Dies ist der Urfaust, wobei wir auf die kleineren Abweichungen der Scenen von der übereinstimmt,

wenn der Inhalt im allgemeinen

späteren Redaktion,

vorläufig nicht

Wir müsse» nun zunächst zwei

cingehen.

Fragen untersuchen. Erstlich: läßt sich erkennen, daß der Urfaust nach einem so bestimmten Plane gearbeitet ist, daß man die offenbaren Lücken inhaltlich mit Sicherheit ergänzen kann?

Zweitens:

liegen Gründe vor,

die es wahrscheinlich machen, daß eine oder die andere der in der Göch-

hausenschen Abschrift fehlenden Scenen dennoch einen ausgearbeiteten Be­ standtheil des Urfaust

so daß wir also die Göchhausensche

gebildet hat,

Abschrift für unvollständig zu erklären gezwungen wären?

Was die erste Frage betrifft, ob der Urfaust nach einem bestimmten Plane gearbeitet worden, so glaube ich, dieselbe bejahen zu müssen. findet

sich eine große Lücke

Zwar

der Anfangsscene mit ihren

zwischen

ver­

schiedenen Auftritten und zwischen der zweiten Scene, wo sogleich Mephisto­

und der Unterweisung

pheles als Professor

aber es ist unwidersprechlich,

suchende Student auftreten,

daß der Dichter

beim Niederschreiben der

zweiten und aller folgenden Scenen eine Vorstellung gehabt haben muß,

wo Mephistopheles herkommt, wie seine Annäherung an Faust erst motivirt

und dann

ins Werk gesetzt werden soll

Dichter mit der Ausgestaltung zögert hat,

ist leicht

u. s. w. u. s. w.

Warum

der

dieser Scenen wenigstens zum Theil ge­

erklärlich.

Sie flössen

ihm nicht von

der Feder, drangen ihm nicht von selbst in die Phantasie.

selbst auö

So ist es bei

allen Scenen dramatischer Gedichte, die nicht in ihrem Selbstverlauf durch

eine mächtige Anregung

der Anschauung

oder des Gemüthes

für die

Phantasie aufgegangen sind, sondern die zuerst durch die Idee des Ganzen gefordert werden.

Eine heutige Schule der Kritik und Aesthetik schaudert

zwar vor dem Worte Idee, dessen Inhalt sie nicht zu fassen vermag.

dessen

In­

ohne Idee ist nie ein Drama entstanden und wird nie eins ent­

stehen, eS sei denn,

eS sei danach.

Das kommt einfach daher, weil sich

die Theile eines poetischen Werkes, welche aus verschiedenen Anlässen ent­

standen sein mögen, nie von selbst zu einem Ganzen zusammcnfügen.

So

lange daher die altkluge Aesthetik der „Jetztzeit" — denn diese Aesthetik

gehört nicht in die Gegenwart, sondern in die „Jetztzeit" — den Begriff des

Drama nicht auf den

des Potpourri herabgebracht hat, so lange wird

kein Drama ohne Idee entstehen, d. h. ohne VorauSnahme des logischen

Zusammenhangs vor dem sinnlichen.

Die logischen Glieder, durch welche

die Verbindung des Mephistopheles mit dem Schicksal Fausts hergestellt werden sollte, waren an sich schwer zu finden, noch schwerer mit der Farbe

der sinnlichen Erscheinung auszustatten.

Aber schon der Urfaust zeigt die

deutlichen Spuren, daß diese Glieder vor der Phantasie des Dichters ge-

Der Dresdener Fauftsund und die Entstehung de» Faust.

596

haben, wenn

schwebt

nicht zu ihrer Ausgestaltung gelangt ist.

er auch

Ich bleibe dabei, daß in dieser Frage bereits CH. H. Weiße in fcqr Schrift „Kritik und Erläuterung des Goethischen Faust", welche 1837 zu Leipzig

erschien, das Richtige gesehen hat. an' einen Urfaust dachte,

Für Weiße, zu dessen Zeit niemand

war die Frage

füllung der Lücke zu denken ist, mit der

natürlich nicht, wie die Aus­

wir uns beschäftigen,

sondern,

wie die Stellen in den ersten Theil des Faust gekommen sind, welche auf

eine ganz andere Beglaubigung des Mephistopheles als die Vollmacht der Hölle

deuten.

Richtig

Blinder sehen muß,

Erdgeistes

gewesen

erkannte

Weiße als der Erste,

daß Mephistopheles

ursprünglich ein Gesandter des

Aus dieser Thatsache

ist.

was heute ein

habe

ich in der mehr­

erwähnten Abhandlung über „die Entstehung des Faust" Grenzboten 1883,

auf eine nochmalige Beschwörung des Erdgeistes

durch Faust geschlossen,

welcher der Erdgeist nachgiebt und in Folge deren er gleichsam eine Wette mit Faust eingeht — das Vorbild der späteren, völlig umgestalteten, aber leider auch, wenigstens meiner Ueberzeugung nach, begrifflich wie poetisch

völlig verfehlten Wette zwischen Faust und Mephistopheles — daß dieser

ihm doch

nicht gleiche,

in seiner Höhe nicht auszuhalten vermöge.

verspricht ihm daS Werkzeug,

das ihn

Er

mit den Flügeln zu dieser Höhe

bedienen soll, unter einer räthselhaften Warnung vor dem Wagniß.

Aus

Fausts Wüthen gegen Mephistopheles in der Scene „Feld, trüber Tag", wie aus deS Mephistopheles Antworten geht dies deutlich genug hervor.

Ich glaube also, daß eine solche Scene vor der Phantasie des Dichters

gestanden hat.

Ihre Ausgestaltung aber mußte ihm Schwierigkeit machen.

Es galt die Schwierigkeit

der Wiederholung

zu überwinden, welche den

ersten Eindruck überbieten, durch neue originelle Züge bereichern soll, aber

ihn nicht bloß variiren darf. Aber mit dem Ergebniß, welches durch eine zweite Beschwörung deS

Erdgeistes hervorgebracht worden, ausgefüüt.

Weit mehr der poetische Pragmatismus als der logische for­

dert eine plastische,

pheles.

wäre die Lücke im Urfaust noch nicht

nachhaltig eindrucksvolle

Einführung deS Mephisto­

Diesem Zweck hat in unvergleichlicher Weise schon im Urfaust,

wie ich noch immer fest glaube, die Scene des Osterspaziergangs gedient.

Natürlich nicht die Scene, so wie sie jetzt ist, verbunden aus verschiedenen

Auftritten, welche zeitlich getrennten Produktionsantrieben zugehören. mit ist der Einwand erledigt,

Da­

daß in der jugendlichsten Schaffensperiode

dem Dichter die Hinstellung von Typen fremd gewesen sei, wie sie in den

Spaziergängern auftreten.

Welche Gestalt der Dichter ursprünglich dieser

Scene gegeben, darüber bilde ich mir ein, vor 22 Jahren in einer nord­

deutschen Zeitung eine urkundliche Zpur vor Augen gehabt zu haben, die

Der Dresdener Faustfund und die Entstehung de« Faust.

ich damals

und

nicht beachtete

jener Notiz

welche nun verloren gegangen ist.

war gesagt, daß in

braunschweigischen

einem

In

Pfarrhause

einen seiner Genossen aus den 70 er Jahren von

Briefe von Boie an

oder Verwandten des Genossen

einem Nachkommen

597

In einem dieser Briefe soll Boie mitgethcilt

aufbewahrt würden.

haben,

daß

er bei einem

in Frankfurt der Vorlesung von einzelnen Scenen aus

Besuch Goethes

dessen Faust beigewohnt habe,

unter andern

einer Osterscene, bei der

Faust und Wagner an eine Studentengruppe herantreten, die sich an den Als die Spaziergänger weiter gehen,

Kunststücken eines Pudels ergötzt.

schließt sich ihnen der Pudel an.

Anspielungen auf diesen Vorgang finden

sich unverkennbar in der Scene „Feld,

„Wandle ihn, du

trüber Tag":

unendlicher Geist! Wandle den Wurm wieder in seine Hundsgestalt, wie

er sich oft nächtlicher Weile gefiel,

vor mir herzutrotten, dem harmlosen

Wandrer vor

die Füße zu kollern und sich dem niederstürzenden auf die

Schultern zu

hängen".

Indessen kommt weniger

Spaziergangsscene ursprünglich gestaltet gewesen,

darauf an, wie die

als darauf, daß sie in

im Urfaust vorhanden gewesen.

irgend einer

Gestalt schon

natürlich

lange zweifelhaft bleiben, als jener Brief Boies nicht auf­

so

Das muß

Ich habe leider spät und nicht sehr emsig danach ge­

gefunden worden.

forscht, gedenke aber, die Nachforschungen fortzusetzen, und hege noch einige bescheidenen Fund, der den Urfaust soweit vervoll­

Hoffnung auf einen

ständigen würde,

selben

daß wir in den Besitz aller ausgeführten Scenen des­

gelangen würden.

Denn von den andern noch fehlenden Scenen

glaube ich selbst nicht, daß sie aus der Phantasie auf das Papier gelangt sind.

Es handelt sich zunächst noch um eine Scene, worin der Kavalier,

welcher sich

aus

dem

Pudel entpuppt hat,

sich mit Faust über dessen

Wünsche und über seine eigenen Dienste verständigt. 1790 haben

wir diese

Unterredung

als

Einleitung

Aber im Urfaust ist jedenfalls eine Lücke gewesen,

Im Fragment von

der

Schülerscene.

weil die Unterredung

nicht ausgestaltet werden konnte, solange nicht das Verhältniß zum Erd­

geist

ausgestaltet war.

redung daher

auch

Im Fragment von 1790 wird uns die Unter­

nicht als Ganzes, sondern als das Schlußstück nach

einer fehlenden Einleitung gegeben. Von da an läuft der Urfaust aber in rasch vordringendem und doch

stetigem Gange bis zur Katastrophe.

Eine Lücke befindet sich nur sofern

die Ermordung Valentins nicht ausgeführt, ja nicht einmal angedeutet ist,

während doch sowohl in der späteren Scene „Feld, trüber Tag "als in der Kerkerscene der deutlichste Bezug darauf genommen wird.

Durch den Be­

zug wird diese Lücke zum Beweis, daß Goethe allerdings nach einem Plan

gearbeitet hat

und

daß wir berechtigt

sind

bei

anderen Lücken einen

Der Dresdener Faustfnnd und die Entstehung de« Faust.

598

Die Frage ist dann, ob wir

gleichwohl vorhandenen Plan anzunehmen.

in der Kerkerscene, wie sie im Urfaust schließt, ohne das „ist,gerettet"

Es scheint, daß der Dichter sich

die Katastrophe selbst zn sehen haben.

dem Versuch entschlagcn konnte, Fausts Verzweiflung und Strafe auszu­

malen.

In

der

Selbstmord

von 1883

Abhandlung

phirendes Erscheinen

als Schluß

wir

genöthigt,

in Raserei begangenen

Aber so wenig wir eine Spur be­

vermuthet.

sitzen, daß eine solche Scene

hatte ich allerdings ein trium-

und Fausts

des Erdgeistes

jemals ausgeführt worden, so wenig sind

auch

ihre Konzeption

in der Phantasie vorauSzn-

nur

setzen.

Sonach darf ich sagen, daß der entdeckte Urfaust zwar mir wie allen Andern durch die Form eine große Ueberraschung bereitet hat, daß aber

der Inhalt meine Vermuthung

über die ursprüngliche Gestalt im allge­

Die Hauptlücke freilich, die wir bisher empfanden, die

meinen bestätigt.

Motivirung der Verbindung Fausts mit Mephistopheles,

Damit läßt

Urfaust nicht aus.

er

füllt auch der

aber den Vermuthungen über die

Beschaffenheit der fehlenden Glieder denselben Spielraum, den ihnen bis­ her das Fragment von 1790 gewährte.

Nun aber

muß ich auch den Einen wesentlichen Irrthum bekennen,

den ich in der Abhandlung von 1883 begangen habe. geglaubt und diese Ansicht zu begründen Höhle" habe bereits

dem

Urfaust

gesucht,

angehört.

Ich habe damals

die Scene „Wald und

Gerade diese Scene war

vor fünf Jahren durch Scherer mit ihrer Entstehung in die ita­

schon

lienische

Reise verlegt worden.

In der Einleitung zu

seinem Urfaust

schließt Erich Schmidt sich dieser Ansicht an und will wie Scherer den Zeitpunkt bis auf das Datum bestimmen.

Einer

späteren Zeit im all­

gemeinen als der Frankfurter Zeit war wenigstens ver Monolog bereits von Düntzer und von Julian Schmidt zugewiesen worden. tiker

entnahmen

Diese Kri­

ihre Argumente theils dem Stil, theils der Naturauf­

fassung des Monologs, welche von der Art seien, wie sie Goethe in der

Frankfurter Zeit nicht gehabt haben Ueberarbeitung zugab,

könne.

Indem ich eine stilistische

wies ich das Argument auS der Naturauffassung

zurück, weil dergleichen Epochen innerer Anschauung

Kalender trennen bewog,

lassen.

WaS

mich

sich nicht durch den

jedoch eigentlich zu dem Glauben

daß die Scene schon der ursprünglichen Gestalt angehört haben

müsse, das ist die wundervolle Stellung, welche sie in dem dramatischen

Gang des Gedichts gewinnt,

wenn

man

sich dasselbe so konstruirt,

wie

ich es versuchte, wodurch die Scene die Bedeutung der Peripetie erhält. Nun ich habe einen Irrthum begangen, einen starken, wenn man den

Stil des nun vorliegenden Urfaust mit dem gereinigten, hoch idealen Stil

Der Dresdener Faustfuiid und die Entstehung des Faust.

599

des Monologs vergleicht und nicht gelten lassen will, daß ja eine stilistische Ueberarbeitung von mir nicht in Abrede gestellt worden war. Jetzt aber hat eine höchst anziehende Untersuchung zu beginnen.

stoßen auf folgende

von 1790

Fragment

und

später in den ersten Theil gekommen.

ist die Scene Wald

Zweck

Wir

wie ist die Scene der Hexenküche in das

zu welchem Zweck ist sie gedichtet worden?

andern Worten:

welchem

Fragen:

und

Ferner:

Höhle gedichtet worden?

Mit

zu

Auf

beide Fragen lautet die Antwort: weil in Rom ein neuer Faustplan ge­

macht wurde mit der Hoffnung alsbaldiger Ausführung.

Die Hoffnung

und weil die Ausführung sich bald als ein Werk von

erfüllte sich nicht,

unabsehbarer Dauer herausstellte,

wurde das Fragment von 1790 ver­

öffentlicht, um endlich dem allgemeinen Verlangen nach der Bekanntschaft

des

Faust

Aber die Veröffentlichung

stattzugeben.

Hinsicht Fragment,

sofern die Lücke

in

blieb

hinter dem Anfang

doppelter

auch jetzt noch

nicht ausgefüllt werden konnte und sofern für die Weiterführung des Ge­

dichts, nachdem die Katastrophe Gretchens bis zur Scene im Dom vor­

bereitet worden, zwar ein neuer Plan vorhanden war, seine Ausführung aber sich der Hand

des Dichters

nicht fügen wollte.

noch

Es gehören

aber die beiden in das Fragment aufgenommenen Scenen „Hexenküche"

und „Wald und Höhle" dem neuen Plane an, die „Hexenküche" schon

durch Eckermann

wie wir in Bezug

auf

in Bezug auf „Wald

wußten,

und Höhle" durch die Auffindung des Urfaust versichert sind.

Denn diese

Scene fehlt nicht nur im Urfaust, sondern ein Theil von ihr ist an einer andern Stelle des Urfaust enthalten, so

daß

über die späte Konzeption

der jetzigen Gestalt gar kein Zweifel sein kann. Unsere Untersuchung richtet sich also jetzt auf den in Rom gemachten Faustplan,

dessen Thatsache der bekannte Brief Goethes aus Rom

von

vom 1. März 1788 uns- längst unterrichtet hat.

zu

weshalb

untersuchen,

vollendet und

Vorher wäre die Frage

der Faust nicht nach dem ursprünglichen Plan

ist.

veröffentlicht worden

Die Antwort auf diese Frage

liegt in der großen Umbildung, welche die ersten zehn Jahre in Weimar

in Goethes Wesen bewirkt haben. dem ursprünglichen Faust, gewährt, möchte

sei die

welches

Das Verhältniß dieser Umbildung zu eine anziehende Betrachtung für sich

ich bei einer anderen Gelegenheit behandeln.

Erkenntniß des

römischen

Faustplans das

genug, daß er heute, gerade hundert

Jahre, nachdem er im Kopfe des

Dichters entsprungen, der Welt noch eine Hieroglyphe ist.

aber daher,

Zunächst

Merkwürdig

Ziel.

Das kommt

weil Goethe die Ausführung erst auf ein Jahrzehnt unter­

brochen, dann zwar ausgenommen,

Plan abermals

unter der Hand aber den römischen

mit einem neuen vertauscht hat.

Preußische Jahrbücher. 8b. LXI. Heft U.

Da suchen wir uns

41

600

Der Dresdener Faustfund nnd die Entstehung des Faust.

freilich

eine schwere Aufgabe,

wenn

wir

diesen Plan errathen wollen.

Aber nur das Schwere reizt, nur die Ueberwindung des Schweres ist dank­ Also ans Werk!

bar.

vernehmen, wie Scherer und Erich Schmidt

Zunächst möchten wir

die beiden Scenen deuten, deren Datum sie, allerdings für die Hexenküche

jeder abweichend, mit Sicherheit bestimmen zu können glauben.

lich

Bekannt­

er habe es aus Goethes Munde, daß die zu

berichtet Eckermann,

Rom am Faust gedichtete Scene die Hexenküche sei, und wir wissen ur­

kundlich nur von Einer solchen Scene.

Aus Goethes Brief vom I.März

1788 konnte man dies bereits mit solcher Sicherheit entnehmen, der mündlichen Bestätigung

stelle noch

kaum bedurft hätte.

daß es

Wir setzen die Brief­

„Es war eine reichhaltige Woche — die vom

einmal her:

22. Februar bis 1. März 1788 — die mir in der Erinnerung wie ein Monat vorkommt.

Zuerst ward der Plan zu Faust gemacht, und ich hoffe,

diese Operation soll mir geglückt sein.

Natürlich ist es ein ander Ding,

das Stück jetzt oder vor fünfzehn Jahren ausschreiben; ich denke, es soll

nichts dabei verlieren, besonders da ich jetzt glaube, den Faden wiederge­ Auch was den Ton des Ganzen betrifft, bin ich ge­

funden zu haben. tröstet;

ich habe schon eine neue Scene ausgeführt,

und wenn ich daS

Papier räuchere, so dächte ich, sollte sie mir niemand aus den alten her­ Gleichwohl setzt sich Scherer in seiner Schrift „ Aus Goethes

ausfinden. "

Frühzeit" in der Abhandlung über den ersten Theil des Faust Nr. 3 „ In nach Italien" mit

nnd

souveräner Leichtigkeit über

das

unumstößliche

Zeugniß Eckermanns und vor allem der Briefstelle hinweg. Scene ist es,

sic

Und welche

von der nach Scherers Ansicht Goethe gesagt hat, daß er

zwischen dem 22. Februar

und 1. März

ausgeführt habe

darin der Ton des alten Manuskripts so wohl getroffen sei,

und daß

daß,

wenn

er den Unterschied des Papiers durch Räucherung beseitigen wollte, sie niemand heraussinden sollte.

Diese Scene ist nach Scherer — die Scene

„Wald und Höhle"! Nun da bin ich glänzend gerechtfertigt, wenn ich diese

Scene — aber doch nicht in der jetzigen überarbeiteten Gestalt — dem

Urfaust zugeschrieben hatte.

zu Nutze machen.

Ich kann mir aber diese Rechtfertigung nicht

Ich muß anerkennen, daß Düntzer und Julian Schmidt

mit viel besserem Recht wenigstens den Stil des Monologs unvereinbar fanden

mit

allem,

was

Frankfurter Faust wußten. einer

eben

Manuskript.

wir vor dem jetzt entdeckten Urfaust von dem

Freilich, es ist ja nur Goethe, der den Ton

geschriebenen Scene übereinstimmend

findet mit dem alten

Und Goethe — das ist das eigentliche Haupt- und Grund­

axiom der sogenannten Goethephilologie — irrt sich stets, wenn er von

sich selbst spricht,

sei

es Bericht oder Urtheil.

Wenn der Mann doch

Der Dresdener Fanstfund und die Entstehnng des Faust.

nur halb so viel über sich gewußt hätte, als seine Philologen!

601 Wenn er

deren Weisheit anhören könnte, wir wurden eine glänzende Variation er­

halten auf das „Du weißt wohl nicht mein Freund u. s. w." denn Scherer nicht, daß die in Rom vor dem

erlaubt es

Warum

ersten März gedichtete Faustscene die Hexenküche sei?

Hören wir seinen

„Denn die Hexenküche ist es schwerlich: sollte

höchst schlagenden Grund:

sie Goethe im Februar im Garten Borghese geschrieben haben?" Die ganze Kunst dieser Art Philologie besteht darin, die Dichtungen

in Molekülen aufzulösen und zwischen diesen Molekülen allerlei wunderliche Attraktionsverhältnisse, Aehnlichkeiten, Zusammenstellungen, Entlehnungen zu behaupten.

Nie wird ein Ganzes empfunden, nie, wenn es dem innern

Zusammenhang der Kunstwerke gilt, die organische Beziehung-der Glieder

verstanden. Hören

eine

wir noch

Prachtleistung

des

souveränen

Philologen:

„Goethe täuschte sich, wenn er den Faden wiedergefunden zu haben glaubte;

unsere Scene — er meint „Wald Gegentheil.

Sie kann

und Höhle" — gerade beweist

nirgends eine recht passende Stelle finden.

das

Im

Fragmente steht sie nach der Brunnenscene vor der Anbetung der Mater dolorosa.

Aber da paßt sie nicht hin u. s. w."

Nun, ich glaube, daß die kurz vor dem 1. März gedichtete Scene die

He'xenküche war, daß Faust

durch diese Scene der Faden des ursprünglichsten

zum Weiterspinnen fähig geworden,

daß die Scene „Wald und

Höhle" in Ausführung des neugemachten oder auch des wiedergefundenen

Planes, für welchen die Hexenküche den neuen Grund legte, erst nach der Rückkunft von Italien in Weimar gedichtet worden. Diese Sätze will ich nun begründen. Ich nehme an, was übrigens auch die Philologen nicht bezweifeln, daß die ersten Keime zu einer Faustdichtung im Sommer 1770 in Straß­

burg aufgegangen sind, während des Verkehrs mit Herder, vor dem diese Gedanken,' wie

uns Dichtung und Wahrheit erzählt, verborgen wurden.

Ich nehme ferner an, was heute ebenfalls die Ansicht der meisten Goethe­ forscher ist,

waren.

daß Faust

und Helena die Figuren

des

ersten Entwurfs

Faust, der aus Verzweiflung an jeglicher Frucht des traditionellen

Wissens zum Magier wird, auch hier die Frucht nicht findet und dieselbe endlich aus der Hand der Helena empfängt.

das Idyll zu Sesenheim,

das

Im Oktober 1770 beginnt

der Dichter im August 1771 beendigte,

vorwurfsfrei vor jedem menschlichen Urtheil, welches anerkennen muß, daß nicht jede halb unwillkürliche Annäherung eines jungen Mannes an ein

aufblühendes weibliches Wesen nicht darf.

zum Lebensbund führen kann und selbst

Aber der Dichterjüngling empfand in seiner hohen und zarten

41*

Der Dresdener Faustfund und die Entstehung des Faust.

602

Seele sein Betragen als ein Unrecht.

den seine

Er ahnte den Zauber,

Persönlichkeit ausüben mußte, und ahnte, daß die Blüthe eines jungfräu­

lichen Herzens, von diesem Zauber

getroffen

nur noch

und verlassen,

So trieb ihn sein Genius dieses Erlebniß, das ein vor­

welken könne.

übereilender Schatten gewesen, in seiner Phantasie bis zu allen furcht­ baren Möglichkeiten auszumalen, die

es

in

Denn jedes

sich getragen.

Erlebniß ist ein Schicksalskeim, nur daß unzählige dieser Keime verweht So entstand seit 1772 der Frankfurter Faust, dessen Held am

werden.

Wissen verzweifelt, es mit der Magie versucht, vom Erdgeist einen Diener erhält, der Fausts hin und her schweifende Wünsche durch magische Künste

erfüllt, damit aber auch den Helden halb wider dessen Willen zum Ver­

derber macht

und

ihn

Dieser Faust war eine

in Verzweiflung stürzt.

Tragödie mit trostlosem Ausgang, nicht wie der erste Faust ein Läute-

rungöstück mit beglückendem Ausgang. Die Tragödie Faust brachte Goethe nach Weimar,

Jahr

des

dortigen Aufenthaltes

diese Tragödie zu

werden,

aber mit jedem

und Wirkens mußte die Scheu größer

veröffentlichen.

In den Themen,

Figuren lag eine bei weitem nicht entfaltete Lebensfähigkeit.

in den

Unmöglich

konnte der Dichter mit dieser Tragödie, mit Fausts Verzweiflung das letzte

Urtheil

sprechen

über

den göttlichen Drang des Menschengeistes

nach

Durchdringung der Welt, nach Versöhnung mit der Welt die seine, dieses

Geistes Welt ist, die ihn erdrückt,

wenn sie eine fremde,

unverstandene

Macht bleibt.

Aber die tragische Schuld hatte Faust in der Dichtung, die aus des Dichters Jugenderlebnissen entstanden war, auf sich geladen.

war mit

solcher Wahrheit aus

geschöpft, daß

den Tiefen der

diese Tragödie nicht verworfen

Ihre Genesis

Menschenseele heraus­

werden durfte,

ohne ein

ewiges Gesicht der Seherin Poesie dem Auge der Menschheit zu entziehen.

Zwischen

diesen

widersprechenden Forderungen: den Genius des Helden

weiter zu entfalten,

und ihn

andererseits durch eine unsühnbare Schuld

zu vernichten, suchte der Dichter zwölf Jahre vergeblich die Vermittelung.

Unter den beseligenden Eindrücken der Kunst des Alterthums, die er in Rom einsog, erwachte der Glaube wieder, daß die Kunst jedes Werk der

Befreiung vollbringen könne.

Helena, der Inbegriff der antiken Hoheit und

Schönheit, sollte auch den zerschmetterten Faust seinem Genius zurückgeben.

Aber damit dies möglich sei, treten.

mußte noch eine zweite Voraussetzung ein­

Der Genius Fausts durfte nicht nur durch die Schuld verdunkelt

sein, die er auf sich geladen, die Verdunklung mußte vielmehr schon vor­ her eingetreten sein, Faust durfte die Schuld nur in der Verdunklung auf

sich laden.

Der Dresdener Faustfund und die Entstehung des Faust.

603

Hier bot sich das Sagenmotiv des Zaubertranks, das uralte Symbol ahnenden Berständnisses der Menschenseele.

Dieses Motiv ist neuerdings

von Richard Wagner wiederum benutzt morden und das hat für die Klug­

heit der „Jetztzeit" eine schöne Gelegenheit gegeben, ihre Bildung leuchten

der Mensch nur verantwortlich

zu lassen, daß

Bewußtsein

und Willen

Strafrechtspflege

thue.

und durchdringt sie immer mehr,

Schuld überhaupt eliminirt haben wird. dessen sich die russischen Mörder

brecher,

schworenen bereits haufenweise erfreuen. Die Seher

deren Erklärung Leidenschaft,

sei für das,

was er mit

Der Satz beherrscht schon lange unsere bis er schließlich die

Ein schöner Tag für die Ver­

durch die Weisheit ihrer Ge­ Doch dal segno!

der alten Zeit hatten eine psychische Thatsache erkannt,

sie im Zaubertrank zu finden glaubten.

die den Menschen

überwältigt,

Es giebt eine

indem sie wie eine fremde

Macht in die Seele eindringt und das harmonische Zusammenwirken der Kräfte zerstört.

Es ist dies nicht die Natur jeder Leidenschaft, nicht die

Natur der Leidenschaft überhaupt.

Es giebt eine Leidenschaft, in welcher

sich der Kern der Seele entfaltet, eine Leidenschaft, in welcher die Seele erst zu ihrem

wahren Selbst kommt,

jede Qual zu lieben,

eine Leidenschaft,

mit der sie uns peinigt.

die uns zwingt,

Die andere Leidenschaft,

eine fremde Gewalt im eigenen Selbst, dringt aus der Peripherie in das

Centrum.

Sie erscheint unerklärlich, nicht sowohl dadurch, daß sie in der

Seele lebendig

wird, als dadurch,

daß sie dem Centrum

der Seele sich

nicht unterwirft, sondern dasselbe unterjocht, verdunkelt, gleichsam an der Kette schleppt.

Diese fremde Gewalt in der Seele haben die Seher einst

durch den Zaubertrank erklärt, den übermenschliche, feindliche Gewalten

menschlichen Persönlichkeiten eingeflößt haben sollten.

Wir erkennen den

symbolischen Charakter dieser Vorstellung,

indem wir als ihre

ahnenden

Wahrheit festhalten, daß es unter den mannigfaltigen Kräften der Seele Empörungen gegen die einigende Macht giebt, Empörungen, deren Schuld­

maß kein menschliches Auge feststellt,

deren Folgen die menschliche Ge­

rechtigkeit ahnden muß, deren Wirkung auf die innere Gestalt der Seele

ein göttliches Geheimniß ist. Zu dem Motiv des Zaubertranks greift Goethe, um Fausts Wider­

standslosigkeit

klären.

gegen die Entartung

einer

natürlichen Leidenschaft zu er­

Fausts Seele ist eingehüllt, als sie unter den Bann dieser Leiden­

schaft geräth, die fremde Macht ist schon in ihm, als er den Gegenstand erblickt,

der die Flamme entzündet, das Gewissen regt sich kräftig gegen

die Leidenschaft, aber die freyide Macht hüllt die Seele immer mehr bis zur Dämmerung des Traumlebens ein.

Das Motiv des Zaubertranks einmal gefunden, war die Anknüpfung

Der Dresdener Faustslind nnd die Entstehung des Faust.

604

an das vorhandene Drama ungemein leicht.

ja unvermeidlich, daß der

in langen Jahren

Es erschien ganz natürlich,

um dgs Wissen

vergeblich

Selbstqual verfallene Faust des Verjüngungstrankes be­

ringende, der

durfte, um mit der Flut des Lebens kämpfen zu können.

dankenglieder zur Fortsetzung waren,

ergriff ihn

Als diese Ge­

der Dichtung dem Reisenden aufgegangen

unwiderstehlich

der

Enthusiasmus der Arbeit,

und

gleichzeitig mit der Erfassung des neuen FaustplaneS oder auf ihrem Fuße schrieb er in wenig Tagen die Hexenküche.

Die poetische Gewalt der

Scene hat am lebhaftesten Friedrich Vischer nachempfunden und am besten

ausgedrückt.

Manchen Leser hat es befremdet, daß diese durch und durch

nordische Scene unter des Alterthums

italienischem Himmel in

einer von den Gestalten

Aber Vischer

entstanden sein soll.

trunkenen Phantasie

hat gezeigt, daß wenn die Elemente nordisch sind,

die scharfe Plastik der

Herausarbeitung südlich ist, und was die schönheitstrunkene Phantasie be­

trifft, die sich plötzlich am Abstoßenden letzt, so empfand diese Phantasie, gereinigt und gestählt wie sie war,

den Uebermuth des Spiels mit miß­

geschaffenen und doch folgerichtig gebildeten Gespenstern als ein köstliches

Vergnügen. Ein neues Motiv also bringt die Hexenküche in den Faustplan: die

Verzauberung Fausts.

Aber nicht bloß dies Eine.

Aus dem Diener des

Erdgeistes, dem schadenfrohen, humoristischen Gesellen, der sich an dem

negativen Schicksal der Lebenserscheinungen

Höllensohn. noch nicht.

Ganz

wird nun ein freier

ergötzt,

emanzipirt vom Erdgeist wird Mephistopheles damit

Wahrscheinlich hat der Dichter noch die Vorstellung festhalten

wollen, daß die Hölle mit ihren Geistern zur Gesammtheit des Irdischen gehöre, also dem Erdgeist Unterthan sei, der folglich einem Geist der Hölle

seine Aufträge geben

kann.

Offenbar ist diese Vorstellung

noch

fest­

gehalten in der Scene Wald und Höhle, von der wir bald zeigen werden, daß sie durch

die Scene der Hexenküche bedingt ist.

Ausführung der

Faustdichtung

aber

verschwindet

Mit der weiteren

die Abhängigkeit des

Höllengeistes vom Erdgeist, die Hölle arbeitet für ihre eigene Rechnung

und hat ihr Absehen nicht, wie der Erdgeist, auf die Wiederlegung Fausts gerichtet,

daß er mit den Geistern

sondern auf den Besitz seiner

gleichen Schritt zu

unsterblichen Seele.

halten vermöge,

„Allein die Seel ist

unsere rechte Speise" heißt es in einem der Paralipomena.

Angelegt ist

dies schon in der Hexenküche, wie wir noch sehen werden. Jetzt wird auch der Ausdruck verständlich, den Goethe in jenem Brief vom 1. März 1788 gebraucht,

wiedergefunden zu haben.

daß er glaube,

Der Faden

den Faden des Gedichts

der allerersten Konzeption ist ge­

meint, welcher schon zur Befreiung durch die Helena führen sollte.

Wir

Der Dresdener Faustfund und die Entstehung des Faust.

dem ersten, ganz keimartigen, der

können von vier Faustplänen sprechen:

im Sommer 1770 entstand; Gretchentragödie

dem

605

zweiten, der das Faustpathos in der

sich zerstören ließ;

dem dritten,

der in Rom entstand

und den der Dichter selbst als die Wiederaufnahme des ersten betrachtete; dem vierten, der sich nach

Jahr 1797

bildete und

der Wiederaufnahme

der Faustdichtung

im

der eigentlich in dem Verzicht auf jeden Plan

bestand. Jetzt müssen wir uns zu der Frage wenden, wie aus dem römischen

Plan,

nachdem durch

die Hexenküche der Grund zu seiner Ausführung

gelegt war, die Scene Wald und Höhle entstand.

Nachdem der Dichter das Mittel gefunden, die Seele Fausts in eine

Art von Traumleben einzuhüllen, durch welches die regelrechte Ordnung und Verknüpfung der Eindrücke nicht aufgehoben, durch welches aber die

höheren Willenskräfte beschränkt werden, ergab sich weiter die Nothwen­

digkeit, diesen Zustand, der sich in der gewöhnlichen Handlungsweise des Tages keineswegs kundgiebt, in einem für das Willensleben entscheidenden

Moment mit kraftvoller Deutlichkeit Dichter

zur Anschauung zu bringen.

Der

schuf zu diesem Zweck eine Scene jener Gattung, welche in der

Kunstlehre der Tragödie nach dem Vorgang

nannt worden ist.

der Alten die Peripetie ge­

Wir werden diesen Ausdruck bald erläutern.

Mit Hülfe des Fläschchens, von dem drei Tropfen mit tiefem Schlaf gefällig die Natur von Gretchens Mutter umhüllten, ist Faust ein einzig Mal zum Besitz

von Gretchens süßem Leib gelangt.

in der Scene am Brunnen ihre Schuld

keine Folgen zu

fürchten.

als Sünde,

Margarethe fühlt

aber sie hat noch

Faust aber entflieht dem Geschick, das er zu

seinem eigenen Entsetzen im Begriff ist, auf Gretchen herabzuziehen, und

vergräbt sich in die Einsamkeit der Natur. nung nicht als eine kurze denken.

Wir dürfen unö diese Tren­

Faust muß ein Stück Welt durchstreift

haben, das Geschäft des Mephistopheles aber muß sein, ihm den Genuß der Betrachtung zu verleiden.

Denn der Mephistopheles der Hexenküche,

dem es um Fausts Seele zu thun ist, zur Verzweiflung treiben.

muß Faust zum Verbrechen und

Dieses sein Bedürfniß zu verrathen, hütet er

sich wohl, allein er sucht Faust auf jede Weise, die er finden kann, zu

reizen und zu hemmen, nur zu dem Zweck, ihn zu Gretchen zurückzuführen. Einen solchen Moment giebt die Scene Wald und Höhle wieder.

Faust

hat in der erschaffenden Anschauung, deren Kraft im eigenen Innern er erlangt hat, deren in die Welt führende Pforten sich ihm aufgethan haben, erreicht, was als Sehnsucht in ihm lebte, wofür der Dichter in dem viel

später als Wald und Höhle gedichteten deutlichsten Ausdruck

gefunden:

Schluß

der

Anfangsscene den

„durch die Adern der Natur zu fließen

606

Der Dresdener Faustfund und die Entstehung des Faust.

und schaffend Götterleben zu genießen".

Quellen der

reinen Anschauung

Es

der in Italien zu

ist

den

vorgedrungene Dichter, der,aus dem

Monolog spricht, mit welchem die Scene Wald und Höhle sich eröffnet.

Auch der Dichter war, wie sein Faust, beengenden Verhältnissen und einer

beängstigenden Leidenschaft entflohen.

Er kehrte als ein Befreiter zurück

und behauptete in der alten Umgebung seine Freiheit.

Faust aber unter­

liegt dem Zauber deö Trankes, den er in der Hexenküche

sich

einflößen

Mephistopheles gebraucht die wirksamsten Mittel, einen Mann zu

lassen.

stacheln, in dessen Adern die sinnliche Leidenschaft der Liebe brennt. ihm

führt

mit

Er

ironischen Worten die Geliebte vor Augen, wie auch sie

durch die einmal zum äußersten entfachte Leidenschaft zur Willenlosigkeit

gebracht ist, die sich nur noch in Sehnsucht verzehren kann.

Faust weiß,

daß jetzt der fortgesetzte Umgang mit Gretchen das Mädchen in Schande stürzen muß, aber er ist nicht imstande, die Gluth auszulöschen, die sein Blut durchtobt und die Mephistopheles

als Meister nährt und steigert.

So läßt er sich denn von Mephistopheles zurückführen und sein Nachgeben findet in den Wollen Ausdruck, die im Urfaust aus seinem Munde kamen,

er in der Nacht mit Mephistopheles vor Gretchens Haus jenes Ge­

als

spräch hatte,

an das

sich schon damals die im Urfaust allerdings nicht Es sind die Worte:

ausgeführte Ermordung Valentins schließen sollte.

„WaS ist die Himmelsfreud in ihren Armen — zu Grunde gehen". Man sieht,

die Scene, die Scherer an dem Ort, wo sie im Frag­

ment von 1790 steht, unpassend findet, steht dort nur zu sehr am rechten Nur zu sehr, weil die Natürlichkeit der sinnlichsten Vorgänge selbst

Ort.

zu einem Hebel der tragischen Fortbewegung gemacht ist. geben

die Paraligomena

wildesten

Geberden

Goethe, davon

des Faust genugsam Zeugniß, scheute nicht die

der Natürlichkeit,

Schimmer von Humor zu

indem

er sie überall mit einem

übergießen wußte.

Aber die tragische Figur

von solcher Natürlichkeit abhängig zu'machen, scheint gegen jene Scham­ haftigkeit zu verstoßen, welche Pascal

in der Natur zuschreibt.

später

im

Er konnte dies

matismus der Handlung

mit

über ihr Gebundensein

ersten Theil die Scene Wald und Höhle vor die erste Ver­

führung gestellt. er

der Seele

Dieser Schamhaftigkeit gehorchend, hat Goethe freilich erst thun, als ihm der Prag­

im Faust ganz gleichgültig geworden war, als

andern Worten dahin gelangt war, daß die Faustdichtung „nur

eine Idee",

eine Joee ohne Organismus, mit herrlichen aber zerstückten

Gliedern darstellen könne. Die Scene ist da, wo sie im Fragment von 1790 steht, die Peripetie der Tragödie. Peripetie ist nach Aristoteles

ek

t6

ivavnov t5>v

p.evwv pisTapoXT), der Sturz des Helden in das, was er nicht will.

Ari-

Der Dresdener Faustfund und die Entstehung des Faust.

607

stoteles denkt an den unbewußten Sturz, weil dem Helden die Macht, die

er anfaßt, durch das Schicksal verhüllt ist. gödie versteht unter Peripetie

Die spätere Theorie der Tra­

eine von dem geistigen Organismus der

wo der Held sich zum letzten Mal aufrafft,

Tragödie geforderte Scene,

um dem Schicksal zu widerstehen, obne es zu vermögen.

Er kann dabei getäuscht werden durch eine scheinbare Hoffnung des Widerstandes, wie

Macbeth durch die Visionen getäuscht wird, die ihm die Hexen vorführen. Dies nähert sich der antiken Peripetie. ein sittliches Unterliegen, das

int

Aber es giebt auch eine Peripetie,

vollen Bewußtsein sich vollzieht,

dieses Unterliegen ist Fausts Geschick.

Der prachtvolle, die edelste

der ergreifendsten, die je gedichtet worden.

Freiheit athmende Monolog, Kette der Leidenschaft.

und

dann der Held fortgeschleppt an der

Es ist sehr in der Ordnung, eine vom Dichter

mit voller Absicht hervorgebrachte Schönheit, Scene, der Monolog

und

Die Peripetie des Faust ist eine

und

das Gespräch

daß die beiden Theile der

mit Mephistopheles,

stärksten Kontrast der Tonart und des Tempo sich bewegen.

in dem

Ein feierlich

erhabenes Largo der Solostimme, und dann ein humoristisches, dämonisch bewegtes

Duo mit wild tragischem Ausklang.

Die klugen Philologen

haben natürlich herausgefunden, daß das auf einen ganz verschiedenen Ur­ sprung der beiden Stücke zu schließen zwinge.

nach dieser Methode Beethoven behandeln.

Nächstens werden sie wohl

Einstweilen hat Scherer nach

seiner Art auö dem Gespräch ein paar Molekülen losgelöst, und gefunden,

daß

diese nicht

zu den übrigen Molekülen passen.

Es lohnt nicht der

Mühe, darauf weiter einzugehen. Wir kommen noch einmal auf den Grund, aus welchem der römische

Faustplan, anstatt rasch ausgeführt zu werden, stockte und in dem Fragment

von 1790 zwar durch die beiden eben besprochenen und wahrscheinlich eine

dritte Scene repräsentirt war, aber nirgend zu einer Andeutung über den Organismus des Dramas führte.

derte

Der Organismus des Dramas erfor­

die nachdem

die Motivirung der Erscheinung deö Mephistopheles,

Mephistopheles zum freien Höllensohn geworden, nur noch schwieriger war.

Die SpaziergangSscene, soweit sie vorhanden war, theilte Goethe auch nicht mit, wahrscheinlich,

weil ihm der springende Pudel als Einführung der

bereits zum mächtigen Dämon angewachsenen Gestalt nicht genügte.

Das

Auftreten des Pudels ist später, wie wir wissen, so verändert worden, daß

er sich zur Einführung des mächtigen Höllensohnes eignete, Entpuppung nun noch eine eigene Scene gedichtet wurde.

für

dessen

Dagegen ent­

hält das Fragment die sehr wichtige Scene der Verständigung des Me­ phistopheles

Dienste.

mit Faust

über

Fausts

Begehr und

des

Mephistopheles

Diese Scene, vor 1790 gedichtet und Bruchstück,

wie

sie

ist.

Der Dresdener Faustfund und die Entstehung des Faust.

608

gehört in den römischen Faustplan.

der Scene Wald

Man sieht auch auS ihr,

und Höhle, daß der Erdgeist

wie aus

als eingreifenpe Macht

durch den römischen Plan noch keineswegs auS der Faustdichtung verbannt

war,

obwohl

die

spätere Verbannung sich aus diesem Plan entwickelte.

Daß der Diener dcS Erdgeistes sich überhaupt in einen so ausgeprägten Sohn der Hölle verwandelte — er redet zuweilen, als ob er der einzige

Herr wäre;

schwerlich

der Walpurgisnacht aber erscheinen seine Oberen,

in

was

andern Plan zu erklären ist; man muß vielmehr

durch einen

annehmen, daß das Reich der Hölle seine Provinzen und Vizefürsten hat

— geschah

zuerst

nur,

um des

bekannten deutlicheren Costüms willen.

Der Mephistopheles in der Unterredung

vor der Schülerscene ist immer

noch der Diener des Erdgeistes, obwohl er sagt: „Und hätt' er sich auch

nicht dem Teufel übergeben, er müßte doch zu Grunde gehn." Das Fragment endet mit der Scene im Dom.

dem römischen Plan

die Scenen,

Ich zweifle, ob nach

welche im Urfaust auf die Domscene

folgen, in das vollendete Gedicht ausgenommen werden sollten.

Ich ver­

muthe, daß durch diesen Plan eine ganz andere Handlung und, wie aus

dem

früher Gesagten

erhellt,

Dichters präformirt war.

ein

ganz

anderer Schluß im Geiste des

Aber der Dichter fühlte seine Absicht zur reinen

Durchführung dieses Planes schwanken.

Weitere Glieder, die zu diesem

Plan gehörten, mochten in der Ausführung schon begonnen oder doch der

Phantasie mit deutlichen Zügen sich aufgedrängt haben.

Wir stoßen im

späteren Faust, im ersten wie im zweiten Theil, auf solche Glieder. über die Art,

Aber

zu vollenden sei, ob das, was im Urfaust

wie das Ganze

auf die Domscene folgte, bleibend zu verwerfen sei, konnte der Dichter im Innern nicht einig werden und sah ein erneutes längeres Tasten, vielleicht Er beschloß, das Gedicht nur in

eine „neue Idee" des Ganzen voraus.

den Theilen zu veröffentlichen, unveränderliche

die er als nicht mehr aufzugebende und erkannte.

Bestandtheile

So

entstand

das

Fragment

von 1790.

Es wäre nun zunächst

meine Aufgabe,

Planes weiter zu verfolgen.

Allein

spätere Abhandlung, weil man eine Zeitschrift führungen

über

ein

die Spuren des römischen

ich verschiebe

diese Arbeit auf eine

nicht mit zu langen Aus­

einzelnes Thema belasten darf, da die Verfolgung

jener Spuren sehr weit führt. Ich bin dem Entdecker, dem wir die Bekanntschaft des Urfaust ver­ danken, noch ein Wort schuldig.

Erich Schmidt ist Scherers talentvollster Schüler.

Mir erscheint in

Scherers Verfahren vieles befremdlich und verfehlt: seine Stilmikroskopie,

seine

Reminiscenzenjägerei, seine Rückschlüsse

auS

dem

unterbrochenen

Der Dresdener Faustfund und die Entstehung des Faust.

609

prosaischen Pragmatismus auf innerlich disparate Elemente der Dichtung,

seine gelegentliche Blindheit gegenüber einem echten Schwung der Poesie. Aber ich

habe laute Bewunderung für die Spürkraft,

womit er in dem

Aufsatz über die Helena den geistigen Motiven des Dichters nachgegangen ist,

d. h. also

einer

seinen Jeeen.

edlen Regung

Cyniker betheuert,

einem fanfaron de vice,

Gleich

ertappt worden

sich

ist und

schleunigst

der auf als einen

macht Scherer in jenem Aufsatz gegen die Leute, die

nach Ideen suchen, geringschätzige Bemerkungen, ja er versteigt sich zu der

thörichten Behauptung, Goethe habe in

der

bekannten Aeußerung gegen

Schiller, daß der Plan des Faust eigentlich nur eine Idee sei, dieses „nur"

im verächtlichen Sinne gemeint. Es waren auch in diesem Mann zwei Seelen. Er prahlte bis zuletzt mit seinem Alogismus, aber er war doch zu­

geistig angelegt,

als daß

er hätte

unter den Alogern verharren können,

wenn ihm ein längeres Leben und damit die steigende Klarheit über die

wahre Beschaffenheit seines Strebens wäre verliehen worden. Solche Widersprüche, wie wir sie bei Scherer finden, sind unvermeid­ lich bei dem Ueberreichthum

leben wollen

unserer Zeit

an geistigen Gestalten, welche

und sich durcheinanderdrängen.

Es ist eine Riesenaufgabe,

sich nicht bloß mit vorgehaltenen Ellbogen hindurchzudrängen, sondern das

Gewühl zum harmonischen Reigen zu zwingen. Was die Goethephilologie betrifft, so habe ich mich schon im Januar­ heft dieses Jahrgangs der Jahrbücher bei einer Besprechung der Sophien-

ausgabe von Goethes Werken dahin

geäußert,

daß

die Grundsätze der

Textkritik für die Herausgabe der Schriftsteller des Alterthums nicht an­

wendbar sind Sie sind

für die Herstellung des Kanons der Goetheschen Werke.

noch viel weniger

anwendbar für die Ermittlung des innern

Sinnes der Goetheschen Dichtung.

Die Werke des Alterthums sind uns

nicht nur meist in entstellter Form überliefert, sie sind für uns auch int

günstigsten

Falle nur Bruchstücke

eines längst

entschwundenen Lebens.

Da uns der lebendige Ooem des Ganzen fehlt, aus dem sie geboren, in

dem sie gewachsen sind,

so müssen

wir

nach äußerlichen Kennzeichen die

sichere Form der Einzelheiten zu gewinnen suchen, um dann zu lauschen, ob jener Odem sich wieder regt.

hoffentlich

noch

vielen

Goethes Dichtungen aber sind uns und

Geschlechtern noch so lebendig, daß wir erst das

Ganze aufnehmen und dann aus der Empfindung des Ganzen heraus die

Entstellungen, die sich auf Einzelnes gelegt haben, berichtigen können.

Erich Schmidt, bei

seiner

reichen

Begabung,

wird sicherlich nicht

auf den Weg der mikrologischen Textanalyse gebannt bleiben. diesem Weg sich finden läßt, wird er finden.

Was auf

Aber er wird daneben nicht

Der Dresdener Faustfund und die Entstehung des Faust,

610

verschmähen, einladendere, an echten Früchten verheißungsvollere-Wege zu

betreten

und

gute Ernte zu halten.

Wie Scherer in seiner letzten und

reifsten Arbeit, ich meine den Aufsatz über die Helena, sich weit über die Mikrologie erhebt,

so

hat sich Erich Schmidt gerade in Bezug auf den

Faust von den angeblich wichtigsten Funden der Schererschen Mikrologie

unabhängig

artige,

gemacht.

Niemand

kann zweifeln, daß

bedeutende Individualität,

er als eine eigen­

in der nächsten Epoche der deutschen

Wissenschaft, deren Stern nicht der trübe, das Licht der Wahrheit brechende Stern des Alogismus sein kann, seinen Platz einnehmen wird.

Für die Art, wie er den Urfaust und, in der Sophienausgabe, den Faust, Erster Theil, herausgegeben, gebührt ihm die höchste Anerkennung. Constantin Rößler.

Der Uebergang vom glatten zum gezogenen Geschützsystem in Preußen. Nach dem Vorgänge des Zündnadclgewehrs, welches die erste kriegS-

brauchbare Hintcrladnngswaffe darstellte,

wurden

in Preußen im Jahre

1859 die ersten gezogenen Kanonen, ebenfalls als Hinterlader construirt, eingeführt.

Die Initiative dazu hatte der damalige Prinz-Regent, der hochseligc

Kaiser Wilhelm ergriffen. Von entscheidender Bedeutung war es,

daß

man bei Construction

beider Waffen von vorn herein den Kernpunkt der Frage richtig erkannt hatte, nämlich die gepreßte Geschoßführung in Verbindung mit der'Lade­ weise von hinten,

und daß man unerschütterlich daran festgehalten, trotz

der sehr großen Schwierigkeiten, die der Lösung standen.

Nur auf diesem Wege

dieser Frage entgegen­

war die Möglichkeit gegeben, die voll­

ständige Ausnutzung des Princips der gezogenen Waffen zu erreichen. Wenn der Einfluß, den das Zündnadelgewehr auf die Form, Füh­

rung

und

äußern mußte, nur von wenigen

Entscheidung des Gefechts

scharfsehenden

Geistern erkannt wurde,

und

selbst nach dem dänischen

Kriege von 1864, in welchem das Gewehr seine Ueberlegenheit über die

Vorderlader überzeugend bewiesen hatte, in allen nichtpreußischen Staaten noch keine Erkenntniß des Werthes des Hinterladungsgewehres eintrat, so

war eine

ähnliche Verkennung des Werthes der gezogenen Kanonen zur

Zeit ihrer Einführung nicht vorhanden.

Wohl fehlte

nicht an Stimmen, welche in den gezogenen Ge­

es

schützen nur Mängel sahen und ihnen auch nach erfolgter Einführung noch heftigen Widerstand

bereiteten.

Es

sei hier nur auf die maßlosen An­

griffe hingewiesen, welche der früher Sächsische Artillerie-Offizier Streubel in den 60er Jahren fortgesetzt gegen die gezogenen Geschütze und nament­ lich gegen die Hinterlader richtete, welche er u. A. „jämmerliche Geschütze"

nannte und

als

das

Product „unfähiger Stümper" bezeichnete.

Aber

Der Uebergang vom glatten zum gezogene» Geschützsystem in Preußen,

612

durch einen großen Theil der einsichtigen Artilleristen ging doch die An­

sicht, daß die ersten gezogenen Kanonen bedeutende Vorzüge voL den be­ Ueber den Umfang, in welchem die

treffenden glatten Kalibern besäßen.

letzteren durch gezogene zu ersetzen sein würden, waren die Ansichten noch sehr getheilt.

Die zu

lösende Aufgabe war allerdings in ihrem ganzen Umfange

schwer zu übersehen. Während es sich bei Annahme des gezogenen Gewehrs um die Con-

eines einzigen Modells handelte, verlangte der volle Ersatz der

struction

glatten Geschütze, die Herstellung der

eines

Artillerie-Shstems d. h.

ganzen

im Feld- oder im Festungs- oder im Küsten-

für die Verwendung

bezw. Seekriege bestimmten Geschützkategorien und innerhalb der letzteren

die Construction der verschiedenen Geschützarten:

wieder

kurze

Bombenkanonen, Haubitzen

bezw.

Geschützarten

war in den

und

Mörser.

bestehenden Systemen der

lange Kanonen,

dieser

— Jede

glatten Geschütze

wieder durch mehrere Kaliber vertreten, so daß die Zahl der neu zu ent­ werfenden

Geschütz-Constructionen

war, von

denen

die

meisten

die

12—15 anzunehmen

mindestens auf

Construction

mehrerer

Geschoßarten

(Granaten, Schrapnels, Kartätschen) forderten. soll eine kurze Darstellung

Nachstehend

der Entwickelung

werden, welche der Ersatz der glatten Festungsgeschütze

gegeben

und Belagerungs­

gezogene in Preußen bis heute genommen hat. — Die

durch

hauptsächlichsten Daten

über

das

zu Ende der

50er Jahre bestehende

System der glatten Festungs- und Belagerungsgeschütze,

sind in der fol­

genden Zusammenstellung (oben S. 613) enthalten:

Aus dieser Zusammenstellung läßt sich der verschiedene Charakter der glatten Geschütze deutlich herauslesen. Die langen Kanonen (6pfünder, 12pfünder, lange 24pfünder) schossen

ihre Vollkugeln großer

Schrapnels mit relativ

und

lebendiger

Kraft

in

gestreckter

starker Ladung,

Bahn

gegen

aufrecht

also mit stehende

Ziele. Die 3 Mörser waren

von

verhältnißmäßig

großem

Kaliber

und

trieben ihre Bomben mit sehr geringen Ladungen, also kleinen Geschwin­

digkeiten, in starkgekrümmten Bahnen gegen wagerechte Ziele. Die zwischen beiden Geschützarten liegenden

kurzen Kanonen, bezw.

Bombenkanonen und Haubitzen hatten mittlere Rohrlängen und größeres

Kaliber.

und

Sie sollten zwischen der Leistungsfähigkeit der langen Kanonen

der sehr kurzen

Geschosse

mit sehr

Mörser

bestehende weite Lücke ausfüllen und ihre

biegsamen Flugbahnkrümmungen gegen stehende, wie

gegen wagerechte Ziele verwenden.

Der Uebergang vom glatten zum gezogenen Geschützsystem in Preußen.

Schwere 12pfündige KaHone. Lange 24 pfünd. Kanone

119 149

Kurze 24 pfünd. Kanone

149

Eiserne 25pfünd. Bom­ benkanone.

227

Eiserne 50 pfünd. Bom­ benkanone.

284

7 pfünd. Haubitze.

.

.

148

10 pfünd. Haubitze

.

.

171

25 pfünd. Haubitze

.

.

227

50 Pfünd. eiserne Haubitze.

284

7 pfünd. Mörser . 25 pfünd. Mörser 50 pfünd. Mörser

. . .

. . .

148 226 284

2,8 2,35 5,7 4,7 11 11 7,3 11,5 28 40 46 41 56 79 7,3 8,9 12,7 15 28 40 46 56 79 93 7,3 28 56 1

0,95 0,6 1,85 0,95 3,75 1,85 1,4 1,4 3,75 3,75 3,75 2,85 7 7 0,7 0,7 0,95 0,95 1,35 2,35 2,35 3,5 3,5 3,5 0,66 1,7 1,87

in Theilen

kg

des Geschoß­ gewichtes

r . Gewicht

Bollkugel . Schrapnel. Bollkugel . Schrapnel.' Bollkugel . Bollkugel . Granate. . Schrapnel. Granate. . Bollkugel . Bleibombe Schrapnel. Bombe . . Vollkugel . Grauate. . Schrapnel. Granate. . Schrapnel. Granate. . Bollkngel . Bleibombe Granate. . Vollkugel . Bleibombe Bombe. . . Bombe. . . Bombe . . .

94

fertig

.

Schußweite

j

Durchmesser der Seele .

§ 5

p 6pfündige Kanone

Art.

B

S

Geschütz.

Größte La­ dung

Geschoß:

613

1/3 1/4 1/3 1/5 1/3 1/8 1/5 1/75

1/8 1/U 1/12 1/8 1/8,5 1/11 1/10 1/13 1/13 1/16 1/13 1/17 1/19 1/19 1/23 1/26 1/46 1/26 1/32

in 1200 900 1325 900 1500 1500 1575 900 3600 825 825 1350 3750 1875 2175 900 1575 900 3150 825 825 3200 825 825 860 1725 2075

1 , | ! I |

900 900 1125 960 1325 1325 1300 900 1500 825 825 1350 1600 1875 900 900 900 900 1500 825 825 1500 825 825 450 600 800

Für diese weitgedehnte Aufgabe hatten sie außer den angegebenen größten

Ladungen

noch

schwächere

für

besondere

Gebrauchsfälle.

Namentlich war dies der Fall bei den schweren Haubitzen und Bomben­

kanonen zum Beschießen verdeckter Ziele mittelst des sogenannten „in­ direkten" Schusses, dessen Wesen darin besteht, daß zum Treffen eines

bestimmten Punktes des Zielobjekts

Deckung

ein

von der Höhe der vorliegenden

abhängiger bestimmter Fallwinkel erforderlich ist, welcher dann

wieder für jede Schußentfernung eine bestimmte Ladung erfordert.

Die schweren Haubitzen

und

Bombenkanonen benutzten zum Be­

schießen von Mauerwerk mittelst des

indirekten Schusses die erwähnten

Vollkugeln und Bleibomben.

Im Uebrigen wurden verwendet: die Vollkugeln zum Beschießen fester Ziele und für den eigentlichen Geschützkampf (Demontiren), die Granaten

614

Der Uebergang vom glatten zum gezogenen Geschützsystem in Preußen.

gegen lebende Wesen, wühlen

sowie

zum Zerstören von Erdarbeiten, zum Auf­

der Höfe der Werke u. s. w.; die Bockben der

Wallgänge,

der

Mörser fast ausschließlich für letztere Zwecke, sowie zum Zerschlagen leichter Deckungen.

Gemauerte Gewölbe von der üblichen Stärke vermochten die

Mörserbomben nicht zu durchschlagen.

Die Schrapnels wurden nur gegen

lebende Ziele verwendet.

Die angegebenen größten Schußweiten waren nur für Bombarde­

ments anwendbar. Als

Gebrauchsschußweiten sind die

tafeln verzeichneten angegeben; sie

in den damaligen Schuß­

müssen für den eigentlichen Geschütz­

herabgesetzt und im Allgemeinen als zwischen 300—900 m

kampf noch

liegend angenommen werden. —

Die Wirkungen, welche die

glatten Geschütze gegen

feste Ziele zu

äußern vermochten, gehen aus folgenden Angaben hervor: In Erdbrustwehren drangen auf 500—600 m ein:

die Kugeln des kurzen 24Pfünders etwa 1,3 m, die deS langen 24Pfünders 1,5 m. Die scharfgeladenen Bomben

Lehmboden

einen Trichter von

des 50pfündigen Mörsers warfen in und 2 m oberem Durch­

1,3 m Tiefe

messer aus. In gutem

Ziegelstein-Mauerwerk bildeten

auf etwa 50 m Entfernung

24Pfünders

Tiefe und 75 cm

mittlerem Durchmesser,

einen

die Kugeln

des kurzen

Trichter von ca. ’/2 m

die des langen 24Pfänders

einen solchen von % m Tiefe und 105 cm Durchmesser.

Die Vollkugel der

Entfernung

in

25pfündigen Bombenkanonen bildete auf 50 m

Bruchstein-Mauerwerk

einen Trichter

von 65 cm Tiefe

und 63 cm Durchmesser. Man könnte nun glauben, daß von vorn herein für den Uebergang zu dem System der gezogenen Geschütze ein vollständiger Plan aufgestellt und systematisch durchgeführt worden sei.

Dem ist nicht so. — Erst

nachdem

die zuerst eingeführten 3 ge­

zogenen Kanonenkaliber in ihren Eigenschaften näher geprüft waren und nach

genauer

Feststellung

ihrer

überlegenen

Leistungsfähigkeit den be­

treffenden 3 glatten Geschützkalibern gegenüber, war eine Grundlage ge­

wonnen für die Erwägungen inwieweit eine ähnliche Ueberlegenheit über

die übrigen glatten Geschütze durch Herstellung

entsprechender gezogener

Constructionen anzustreben und zu erreichen sein würde. Diese Erwägungen fanden denn auch thatsächlich statt, wurden aber

nicht sogleich auf das ganze Geschützsystem ausgedehnt, sondern traten, so

zu sagen, von Fall zu Fall ein, je nachdem

im Laufe der Entwickelung

615

Der Uebergang vom glatten zum gezogenen Geschützsystem in Preußen.

daS

Bedürfniß

nach

einer

neuen

Construction

schärfer

sich

fühlbar

machte. Hierdurch wird

es

die Herstellung eines gezogenen

erklärlich, daß

Geschützshstems spät zu einem gewissen Abschluß gekommen ist.

Es ist

ferner begreiflich, daß jedes

später

construirte Geschütz mit

Benutzung aller bei den früheren Constructionen gemachten Erfahrungen

entworfen, und mit den vollkommneren Mitteln der stetig höher entwickelten Technik hergestellt worden ist, so daß das spätere Geschütz constructiv dem

früheren überlegen ist. Umgekehrt wurde stets versucht, die Vortheile der jüngeren Construction

den schon bestehenden älteren Geschützen durch nachträgliche Aenderung zu Theil werden zu lassen, so daß

eine stetige Bewegung auf dem ganzen

Gebiete herrschte. Betrachten wir jetzt die Stadien der Entwickelung:

1. Die Zeit bis zum Jahre 1865. Die Versuche zur Herstellung gezogener Geschützröhre begannen da­ mit, daß

glatte 6pfündige,

12pfündige

und

24pfündige Kanonenröhre

nachträglich mit einem Verschluß und mit Zügen versehen wurden.

Nach fast lOjähriger Dauer gingen aus diesen Versuchen im Jahre

1859 die ersten brauchbaren Geschütze

und zwar die 9 cm, 12 cm und

15 cm Kanonen hervor, welche die oben genannten glatten ersetzen sollten

und für den Angriff und die Vertheidigung der Festungen bestimmt waren. Der erste Bedarf an diesen Röhren wurde theils theils durch Aptirung

gestellt,

glatter Röhre in der

aus Eisen her­

oben angedeuteten

Weise gedeckt.

Bei diesen Röhren konnten, mit Bezug auf Haltbarkeit, nur relativ

schwache Ladungen angewendet werden, so daß sich bald die Nothwendig­ keit

einer haltbareren und

zweckmäßigeren Construction

geltend machte,

welche denn auch schon im Jahre 1864 unter der Bezeichnung 0/64 zur

Einführung kam. Bronze.

mehr

als

Die Röhre bestanden

theils aus Gußstahl, theils aus

Die cylindro-ogivalen Granaten dieser gezogenen Kanonen hatten

daS

doppelte Gewicht der Vollkugeln der

genannten glatten

Kanonen und faßten eine nicht unbedeutende Sprengladung

aus Pulver,

welche beim Auf- oder Anschläge durch einen Perkussionszünder zur Ex­

plosion gebracht wurde; die Sprengwirkung der Granate äußerte sich dem­

nächst zerstörend gegen feste Ziele oder gegen Menschen. Den glatten Kanonen gegenüber hatten die gezogenen erheblich größere

Maximal- und Gebrauchsschußweiten, viel bessere Treffsähigkeit und wesent­ lich höhere Durchschlagskraft der Geschosse gegen feste Ziele. Preußische Jahrbücher. Bd. LXI. Heft 6. 42

Der Uebergang vom glatten zum gezogenen Geschütztstem in Preußen.

616

Zur Beurtheilung

der Leistungsfähigkeit der genannten 3 Kanonen

und der ncdi zu besprechenden später construirten bezw. heute vorhandenen Geschütze gezogenen Systems

ist die am Schluß des Aufsatzes befindliche

Tabelle aufgestellt, welche die bezüglichen Daten enthält. Bevor

eine

klare Anschauung

von den Veränderungen

gewonnen

welche die Leistungsfähigkeit der ersten drei gezogenen Kanonen -

wurde,

kaliber für ihre Verwendungsweise im Kampfe um Festungen herbeiführen

mußte, wurde im Jahre 1854 eine beschränkte Zahl von 12 und 15 cm Kanonen zur Belagerung von Düppel herangezogen. Da

die Artilleristen

noch in den durch Vauban gegebenen Formen

des Artillerieangriffs steckten, bedurfte es einiger Ueberlegung, bevor man die zweckmäßigste Art der Anwendung jener Geschütze sank.

Die Wirkung

derselben

gegen

die dänische Vertheidigungsartillerie,

welche nur einige gezogene Borderladungsvicrpfünder und achtzehnpfünder,

sonst glatte Geschütze inö Feuer brachte, ferner gegen die Schanzen selber, gegen

die hölzernen Blockhäuser in

denselben

und gegen das Gelände

zwischen und hinter ihnen, war eine überraschende und in gewissem Grade

überwältigende. Die Vertheidigungsartillerie wurde in kürzester Zeit vernichtet,

die

Schanzen wurden schnell verwüstet und nahezu vertheidigungsunfähig ge­ macht, die Wände der Blockhäuser wurden fast von jeder Granate durch­

und Kreuzfeuer

schlagen, das Gelände wurde durch Frontal-

weithin in

vernichtender Weise bestrichen und selbst Sonderburg auf eine bis dahin

nicht gekannte, von den Dänen nicht geahnte, Entfernung — 3700 bis

3800 m — nachdrücklich beschossen. Von dem Zustand des Kampffeldcs

unmittelbar nach dem Sturme

giebt folgende Beschreibung eine Anschauung:

„Die Brustwehren der Schanzen waren abgekämmt, aufgewühlt und nur

durch Anwendung

erhalten.

zahlloser Sandsäcke

Die Sohle und

einigermaßen in ihrer Form

die Böschungen der Gräben waren von Ge­

schoßlöchern zerrissen; die Pallisaden

in den Gräben

an

vielen Stellen

zerschmettert.

Der Hof der Werke und die Wallgänge waren so gut wie ungang­

bar und gestatteten keine Bewegung der Geschütze; die meisten der in den

Werken befindlichen Geschütze waren entweder demontirt, oder doch nicht in der Lage, noch zu feuer».

Hinter einigen Schanzen, namentlich hinter Nr. II und Nr. IV, lagen große Haufen demontirten Geschützmaterials.

Bei mehreren Blockhäusern waren die Balkendecken durchschlagen und

in das Innere gesunken, bei anderen waren die Wände durch die Granaten

Der Uebergang vom glatten zum gezogenen Geschützsyftem in Preußen.

617

der gezogenen Kanonen vollständig eingeschossen; das Blockhaus in Schanze II

war verbrannt. Der Boden unmittelbar

löchern

hinter den Schanzen war so von Geschoß­

daß der Zugang

zerrissen,

zu jenen mehrfach kaum noch Mög­

lich war.

In

steilen Böschungen des Retranchements

den

zwischen

und den

hinter den Schanzen waren tiefe Nischen eingegraben,

Communikationen

eben groß genug, einen Mann sitzend zu bergen.

In vielen Hunderten solcher Nischen hatten die dänischen Infanteristen Schutz gegen

der Granaten

die Sprengstücke

liegende Gelände war aber auch

Das ganze um­

gesucht.

mit Geschoßsplittern im wahren Sinne

des Wortes besät." Durch

die erste,

diese Leistungen

wenn

und Erfolge

der gezogenen Kanonen wurde

beschränkte Grundlage gewonnen, auf welcher ihr

auch

Werth und der der damals üblichen Befestigungsweise annähernd gegen ein­ ander abgewogen werden konnte.

die Weiterbildung

des

die in der Anordnung

Es wurden ferner neue Anregungen für

Geschützshstems

gegeben und

der Befestigungen

Anhaltspunkte

für

zu treffenden Aenderungen ge­

wonnen.

2.

Die Zeit von 1865 bis 1870.

Obwohl die bei

dringend

der Belagerung von Düppel

dazu aufforderten, das Princip

auszubilden

und auszunutzen,

nicht allgemein zugestanden.

Verschiedenheit der Ansichten,

erreichten Resultate

der gezogenen Geschütze weiter

wurde die Nothwendigkeit dieses Schrittes

Grade über diesen Punkt herrschte eine große welche

zu heftigen Meinungskämpfen Ver­

anlassung gab.

Bon vielen Seiten wurden die bestehenden drei Kanonen für befähigt

erachtet, mit Anwendung kleiner Ladungen bezw. gekrümmter Flugbahnen der Geschosse auch die glatten Haubitzen und Mörser zu ersetzen. Von anderen Seiten wurde der Ersatz der schweren Haubitzen und

Bombenkanonen durch gleichartige Constructionen gezogener Geschütze über­ haupt nicht für ausführbar gehalten; daneben aber erhob sich eine Rich­

tung, welche verlangte, daß wenigstens der Versuch zur Ausführung dieser letztgenannten Constructionen gemacht werden müsse.

Innerhalb der Artillerie-Prüfungs-Kommission hatte

sich schon

im

Jahre 1864 der bestimmte Entschluß entwickelt, einige dieser Constructionen

in Angriff zu nehmen. Der Entschluß wurde zunächst in der Herstellung einer kurzen 15 cm

Kanone verwirklicht,

welche vornehmlich zur Ausführung des indirekten 42*

Der Uebergang vom glatten zum gezogenen Geschlitztstem in Preußen.

618

Schusses, sollte.

namentlich

Man

gegen aufrecht

stehende Mauerziele bestimmt sein

war der Ansicht, diese Schußart

werde in Zukunft große

Bedeutung erlangen, eine Ansicht, deren Richtigkeit im weitesten Umfange bestätigt worden ist. Daneben wurde 1865 auch die Construction eineö Mörsers in Aus­

sicht genommen..

Die Construction der kurzen 15 cm Kanone kam nach ausgedehnten

Versuchen Anfang 1870 zum Abschluß, so daß eine größere Zahl dieses Geschützes noch an den Belagerungen und Beschießungen des französischen

Krieges Theil nehmen konnte.

Der Mörser, von 21 cm Kaliber, war 1870 noch nicht fertig; nur

wenige Versuchsexemplare desselben nahmen am Kriege Theil.

Beide Geschütze erhielten verbesserte, d. h. verlängerte Granaten von 27% bezw. 80 kg Gewicht mit 1,9 bezw. 4,75 kg Sprengladung.

Beide sanden reichliche Gelegenheit, die Richtigkeit ihrer Construc-

tionS-Grundsätze durch eigenartige, gelungene Wirkungen zu beweisen.

Durch die kurzen 15 cm Kanonen wurden nach und nach die glatten 7pfündigen, lOpfündigen und 25pfündigen Haubitzen, sowie die kurzen 24pfündigen Kanonen und 25pfündigen Bombenkanonen ersetzt.

Die preußischen Belagerungstrains gingen also 1870 in den Krieg

mit 3 langen Kanonen von 15 cm, 12 cm und 9 cm Kaliber; mit einer kurzen Kanone von

15 cm Kaliber

von 21 cm Kaliber, welche

theils

und

für

mit einigen Versuchsmörsern

eine stärkere,

theils

für

eine

schwächere Ladung construirt waren.

Daneben kamen noch glatte 23 cm Mörser zur beschränkten Ver­ wendung, die mitgenommenen 23 cm Bombenkanonen aber gar nicht. Die mit den gezogenen Geschützen angegriffenen Objecte waren zum

großen Theil kleine, nach dem Vauban'schen Systeme befestigte Plätze. Größere

schießung

Plätze dieser Art waren Straßburg, welches

nicht gesichert war, Belfort, welches

Kette vorgeschobener Werke versehen wurde

nachträglich

gegen Be­ mit

einer

und Paris, welches den ge­

zogenen Geschützen gegenüber genügend weit vorgeschobene Forts hatte. Die kleinen Plätze waren bei ihrer geringen Größe und nach ihrer

ganzen Einrichtung — Mangel an Traversen und Kasematten — gegen

die Beschießung schütz- und wehrlos.

Sie wurden meist durch einen be­

schleunigten Artillerie-Angriff verbunden mit Bombardement, in kürzester Zeit bezwungen.

Bei Straßburg war das Bombardement ohne Erfolg. Der darauf folgende Angriff führte schnell zur artilleristischen Ueber-

legenheit deS Belagerers und wurde beschleunigt vorgetrieben.

Mit der

Der Uebergang vom glatten zum gezogenen Geschütztstem in Preußen.

619

kurze» 15 cm Kanone wurden, zum ersten Male in der Kriegsgeschichte,

drei Breschen auf indirekte Weise aus der Ferne regelrecht geschossen, von denen

die beiden

den Hauptwall gelegten

in

zur Beschleunigung

der

Einschließungstruppen

und

Kapitulation beitrugen. Bor Belfort kam

wegen Mangel

Artillerie-Material der Angriff erst

an

spät zu genügender Kraftentfaltung

und durch den Vormarsch der Bourbaki'schen Armee zeitweise wieder in's Stocken, ging dann

aber gegen eine energische Artillerie-Vertheidigung

doch schnell vorwärts. Gegen Paris kam anfangs eine dreimonatliche einfache passive Ein­

schließung zur Anwendung, an welche sich dann eine Beschießung der Forts und

ein mehr

offensives Vorgehen gegen die in der Linie derselben er­

richteten Zwischenbatterien anschloß.

Trotz der oft bedeutenden Entfernung

(3000—4000 m und darüber) war der Erfolg namentlich gegen die ge­

schlossenen Forts ein schneller und vernichtender. Die kurze 15 cm Kanone erlangte im indirekten Schusse gegen die Schildmauern der Kasematten des Forts d'Jssy gute Resultate. Die 21 cm Mörser erzielten überall, wo sie auftraten, sowohl beim

Bombardement, wie auch beim Beschießen der einzelnen Werke, bedeutende

mechanische

und

moralische Wirkungen

durch

die Sprengwirkung ihrer

Granaten. Einige Angaben über bemerkenswerthe Leistungen der gezogenen Ge­ schütze mögen hier Platz finden: Vor Straßburg wurde durch die kurze 15 cm Kanone mit ca. 600

Schüssen, welche in 18 Stunden, abgegeben wurden, in Bastion XI das Mauerwerk in einer Breite von 32,5 m regelrecht breschirt; das herab­

gestürzte Mauerstück war, wie erwähnt 32,5 m

lang, 5 7, m hoch und

unten ca. 2 m stark. Vor Paris drangen die 15 cm Granaten in aufgeschütteten schweren

Boden bis zu 3 m, in Sandboden bis zu 1,8 m Tiefe ein.

Festes freistehendes Mauerwerk wurde von den 15 cm Granaten

auf Entfernungen über 1800 m, bei einer Stärke von 1—1,2 m, durch­ schlagen.

In anliegendes Mauerwerk drangen auf Entfernungen über

1800 m die 15 cm Granaten 0,8 m tief ein und bildeten Trichter von 1,5 m Durchmesser.

Hohltraversen mit 0,6 m

starkem Gewölbe und 2,5 m dicker Erd­

decke wurden mehrfach durchschlagen.

Dasselbe geschah mit Unterkunfts­

räumen mit horizontaler Decke aus Eisenbahnschienen, Bohlen und mit Erddecken von 2,5 m Stärke.

Der Uebergang vom glatten zum gezogenen Äeschützsystein in Preußen.

620

Die Zeit seit 1870.

3.

Wenn

die

im Kriege

Weiterbildung des

von

1870 gemachten Erfahrungen für

gezogenen Geschützshstems richtig

die

verwerthet werden

sollten, mußte vor Allem genau festgestellt werden, unter welchen Umstän­

den die Erfahrungen gemacht worden waren. Die Umstände konnten die Leistungen des Geschützes theils begünstigt, theils erschwert haben.

Die hierbei zu berücksichtigenden wichtigsten Thatsachen waren fol­ gende: Die Festungen waren

gegen

die Beschießung aus der Ferne nicht

geschützt, ihre Fronten wurden umfaßt und flankirt; die veraltete Anord­

und Einrichtung der Werke gestattete gegen'den neuen Artillerie-

nung

Angriff aus

größerer Ferne keine zweckmäßige Artillerie-Vertheidigung;

daS Geschützmaterial stand in der Leistungsfähigkeit hinter dem des An­

greifers zurück.

Die gesammte Ausdehnung der Plätze war in vielen Fällen unzu­ reichend, die Besatzung unzuverlässig.

Die Vertheidigung wurde, mit wenigen Ausnahmen, im Detail un­ geschickt und ohne Thatkraft geführt und die Leitung im Großen entbehrte

der richtigen Gesichtspunkte und Grundsätze. — Eine rühmliche Ausnahme

machte die Vertheidigung von Belfort.

Alle diese Umstände begünstigten in verschiedenem Maße die Leistun­ gen der Angriffs-Artillerie. Erschwerend

für dieselbe

war meist nur die entfernte Lage der oft

schwachen Einschließungslinie, welche zu größeren Schußweiten zwang und damit die Wirkungen entsprechend herabdrückte. Mit Berücksichtigung dieser Gesichtspunkte wurden die Urtheile über

die gezogenen Geschütze und die daraus zu ziehenden Folgerungen für die Weiterbildung des Systems in folgender Weise festgestellt: Die 15 cm und 12 cm Kanonen hatten sich im Allgemeinen als zu wenig leistungsfähig

erwiesen.

Die ersteren hatten, namentlich auch

für große Schußweiten zu Bombardementszwecken nicht genügt.

Neucon-

struktionen dieser Geschütze für stärkere Ladungen wurden für nöthig er­ achtet.

Die Herstellung der neuen 15 cm Kanone wurde schon im Frühjahr 1871 eingeleitet und im September 1872 wurde das neue Geschütz (Stahl­

rohr) unter der Bezeichnung „ 15 cm Ringkanone" angenommen. Für das 12 cm Geschütz wurde zunächst eine wenig verstärkte Construktion versucht, welche im Jahre 1873 unter der Bezeichnung „12 cm

621

Der Uebergang vom glatten jiim gezogenen GeschUtzsystem in Preußen.

Kanone C/73"

eingeführt wurde.

rungen noch nicht

Da

sie indeß den gestellten Anforde­

entsprach, wurde bald darauf die Herstellung

einer

wirksameren 12 cm Kanone in Angriff genommen, welche im Jahre 1880

unter der Bezeichnung „schwere 12 cm Kanone" zur Einführung kam.

In ähnlicher Weise wurde die 9 cm Kanone durch die neue Feld­ kanone von 8,8 cm Kaliber ersetzt, so daß an Stelle der drei ersten Ka­ nonen (9, 12 und 15 cm) drei neue, bedeutend wirksamere getreten waren,

bei denen

die Anfangsgeschwindigkeit der Granaten um 120 bezw. 145

bezw. 180 m gegen die der älteren Geschütze gesteigert war. Was die kurze 15 cm Kanone betrifft, so hatte sie, wie schon er­

wähnt, die ihr zugetheilten Aufgaben des indirekten Schusses gegen Mauer­

werk befriedigend gelöst, aber doch mit einem Zeitaufwande, den man als zu

groß bezeichnen

mußte.

Es

erschien

daher nöthig, ein wirksameres

Geschütz zu entwerfen, welches die gleichen Zwecke in wesentlich kürzerer

Zeit zu erreichen ermöglichte.

Die Anregung dazu erfolgte auch schon im

Frühjahr 1871; es wurde eine kurze 21 cm Kanone in Arbeit genommen,

deren zweckmäßige Durchconstruction große Schwierigkeiten machte und sehr ausgedehnte Versuche erforderte,

so daß

die Annahme dieses Ge­

schützes erst im Jahre 1881 erfolgen konnte.

Die im Kriege verordneten 21 cm Versuchsmörser waren theils zu schwer, theils zu leicht und zu wenig leistungsfähig gewesen;

eine Umconstruction derselben statt,

es fand

welche im Jahre 1873 zur Einfüh­

rung kam. Es schieden dafür die glatten 50pfündigen Mörser aus.

Für alle diese Geschütze kamen verlängerte Granaten, nach Art der für die kurze 15 cm Kanone entworfenen, zur Annahme.

Die vorstehend genannten langen, sehr wirksamen Kanonen, mit sehr

guter Trefffähigkeit führten bald zu der Nothwendigkeit, für Geschütze und Mannschaften die Deckung gegen den direkten Schuß möglichst zu erhöhen.

Dies galt namentlich

für den eigentlichen Geschützkampf behufs Deckung

der Geschütze gegen das Demontiren. Nachdem dieses Bestreben durch Anordnung der Brustwehren in ge­

nügender Weise erreicht worden, flachen Bahnen

mußte zum Vernichten der

der Kanonengeschosse

gedeckten

gegen die

feindlichen Geschütze und

Mannschaften zu dem Vertical- d. h. zu dem Mörserfeuer gegriffen werden. Der bestehende 21 cm Mörser mit seinen schweren Granaten war

gegen diese Ziele zu kostbar und zu schwer, er hatte auch keinen Schrap­ nelschuß.

Der Uebergang vom glatten zum gezogenen Geschützsystem in Preußen.

622

Somit drängte sich

die Nothwendigkeit

zur Construction mittlerer

und leichter Mörser auf. Es wurden ein 9cm und ein 15cm Mörser entworfen;

langten zu Anfang der 80er Jahre mit Granaten

sie ge­

und Schrapnels

zur

Einführung und ersetzten die glatten 7 pfundigen und 25pfündigen Mörser. Der 15cm Mörser scheint durch seine gute Leistungsfähigkeit berufen,

ein Hauptgeschütz zur Führung des eigentlichen Artilleriekampfes zu werden. Mit Einstellung dieser Mörser kam das System der gezogenen Ge­

schütze zu einem gewissen Abschlüsse.

Alle Geschütze des glatten Systems

hatten einen entsprechenden Ersatz durch gezogene gefunden.

Die letzteren genügen im Allgemeinen den Anforderungen in Bezug

auf Vernichtung

todter Ziele;

lebender und Zerstörung

wünschenöwerth

blieb aber eine Steigerung der Wirkung gegen die letzteren und ein ent­ schiedener Mangel war es, daß auch die 21 cm Mörser die Gewölbe von

der üblichen Stärke

nicht zu

durchschlagen

vermochten.

Zur Annahme

eines noch schwereren Mörsers konnte man sich mit Rücksicht auf die er­

forderliche Beweglichkeit und Handhabung deö Geschützes nicht entschließen. Inzwischen war aber seit Ende der 70er Jahre ein neuer Weg angebahnt

worden,

auf welchem es

gelingen sollte,

die Wirksamkeit der bestehenden

Kaliber ohne weitgehende Aenderungen erheblich zu steigern, nämlich durch

Anwendung brisanter Stosse als Sprengladung für die Granaten. Aus Zeitschriften ist über die Wirkung der Melinit- und Schießwoll­

granaten genug bekannt geworden, um erkennen zu lassen, daß die Wir­

kungen

gegen Erdbauten

sehr bedeutend

gesteigert worden und daß auch

die üblichen Gewölbestärken durchbrochen werden.

Die Folge davon sind umfassende Umbauten und Verstärkungen der bestehenden Festungsanlagen geworden.

Zu erwähnen bleibt noch, daß seit

einigen Jahren die Construktion

von Schnellfeuerkanonen kleinen Kalibers in den Vordergrund getreten ist, welche

mehrere den

leichten Kanonen bisher überwiesene Aufgaben über­

nehmen sollen, namentlich die Beherrschung des näheren Vorterrains gegen Sturmangriffe.

Schlußbetrachtung.

Eine etwa 40jährige angestrengte Arbeit, in Verbindung mit einem

großen Aufwande geistiger Kräfte und materieller Mittel, hat eö ermög­

licht, an Stelle des glatten Geschützsystems ein gezogenes zu setzen. Die einzelnen Glieder desselben schießen, bei etwa gleichem Gewicht, 272—23/4 Mal so

schwere Granaten, als die Geschosse der korrespondi-

renden glatten Geschütze,

auf erheblich größere, mindestens doppelte Ent-

Der Uebergang

vom glatten zum gezogenen Geschützsystem in Preußen.

623

wesentlich höherer Zer­

fernungen mit viel größerer Trefffähigkeit und

störungskraft gegen lebende wie todte Ziele.

Dadurch ist es möglich geworden, drei bis vier mal so große Flächen­ räume unter Feuer zu nehmen, als früher.

oder Kampfentfernungen sind ebenfalls

Die eigentlichen Gebrauchs-

in den meisten Fällen 4 bis 5 Mal so groß, als früher, während die zur Erreichung der gleichen mechanischen Leistungen erforderliche Zeit erheblich abgekürzt wird.

Der erreichte Fortschritt stellt sich demnach dar als eine Steigerung

der Kraftleistung bewirkt durch eine bessere Verwerthung der Kraft innerhalb des Geschützrohres und durch eine bessere Erhaltung der Kraft

während des Fluges der Geschosse,

günstigeren Gestalt der

infolge der

Hierzu treten, als neuer

letzteren zur Ueberwindung des Luftwiderstandes.

Faktor der Wirkungssteigerung, die brisanten Sprengstoffe.

In

welcher Weise

und in welchem Umfange die ausgedehntere An­

wendung derselben auf die Weiterbildung bezw. Umbildung des Geschütz­ systems von Einfluß sein wird, ist augenblicklich nicht zu übersehen. Es

läßt sich

daß die mit diesen Stoffen zu erreichende

annehmen,

Wirkungssteigerung wahrscheinlich eine weitere Steigerung der Größe des Kalibers entbehrlich machen wird.

Die tiefgehenden Aenderungen, welche die erwähnte Wirkungssteigerung

auf dem Gebiete

des Festungsbaues

und des Festungskampfes

herbei­

geführt hat und noch herbeiführt, sind ihrem Abschlüsse noch nicht nahe. Die

Erörterung aller einschlägigen Fragen ist eine lebhafte, wenn nicht erregte. Das Endergebniß der ganzen Bewegung wird sein: einfachere Formen

für den Bau der Festungen und den Kampf um dieselben.

Ueber die Leistungen der Geschosse

(Siehe S. G24.)

gegen feste Ziele liegen folgende

Angaben vor:

In Erdbrustwehren dringt auf 1000 m Entfernung die Granate der kurzen 15 cm Kanone bis 3,40 m, die der langen bis 4,7 m ein. In gewachsenem Haide-(Sand-) boden haben

die scharf geladenen

21 cm Granaten Trichter auSgeworfen bis zu 2 m Tiefe und 2,8 m Weite.

Die Wirkung der scharfgeladenen Granaten bei voller Geschützladung

gegen Ziegelstein-Mauerwerk geht aus folgenden Zahlen hervor:

kurze 15 cm Kanone

.

.

.

.

....

Tiefe

Mittlere Weite des Trichters

rn 1

m 1,5

15 cm Kanone.............................

.... 1,1 15 cm Ringkanone....................... ....................... 1,1

1,75

kurze 21 cm Kanone....................... ....................... 1,1

1,6

1,1

Sprengladung

tu to

'm'm

Jm_O3

£5

DaS Material der Geschützröhre ist, sofern nicht besonders Stahl angegeben, Bronce. Die Schußweiten der Schrapnels sind durch die Brennzeiten der Zünder bedingte und vielfachen Aenderungen unterworfen, weil fortwährend Neuconstructionen der Zünder im Gange sind. Die angegebenen Gebrauchsschußweiten bezeichnen die Grenzen der eigentlichen Kampfschußweiten.

Gewicht

in Theilen des Geschoß­ gewichts 5

größte

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3800 2600

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