Preußische Jahrbücher: Band 62 Juli bis December 1888 [Reprint 2022 ed.]
 9783112393949, 9783112393932

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Preußische Jahrbücher. •per aus gegeben

von

H. von Treitschke uitb H. Delbrück.

Zweiundsechzigster Band.

Juli bis December 1888.

Berlin, 1888.

Druck und Verlag von Georg Reimer.

Erstes Heft. Die Beme.

(Conrad Bornhak.)........................................................................... Seite

Der Kampf um die Seligkeit. (Wilhelm Bender.)........................................ — Anselm Feuerbach. (Dr. Carl Neumann.).......................................................... —

1

20 57

Eine Culturskizze aus Ostpreußen............................................................................. Zwei Kaiser. 15. Juni 1888. (Heinrich von Treitschke.)...............................



77

Politische Correspondenz: Der Thronwechsel und die ihn begleitenden Akte, (w.)

-

87

Notizen: Filippo Mariotti, Die politische Weisheit des Fürsten von Bismarck

und des Grafen Camillo von Cavour. M. Bernardi.

Autorisirte Ueberfetzung von

2 Bde........................................................................................



93

Zweites Heft. Persönliche Erinnerungen an den Kaiser Friedrich und sein HauS. (Hans Delbrück.)..........................................................................................................

-

97

Eine Geschichte der römischen Dichtung.



117

(Ivo Bruns.)....................................

Die Geldstrafe. (Amtsrichter Schmölder.)..........................................................— Wieland'S „Goldener Spiegel". (Gustav Breucker.)........................................ —

129 149

Politische Correspondenz: Die Besuchsreisen des Kaisers. — Rußland. — Frankreich. — England, (cd.) — Der Nationalitäten-Hader in Oesterreich.



175

Notizen...........................................................................................................................



191

— —

193 213 233

Drittes Heft. Ein Ausweg aus der Fremdwörternoth. (Dr. Rob. Hessen.)........................... Ueber den ländlichen Wucher int Saar- und Mosel-Gebiet. (Ernst Barre.) . Naturforschung und Schule. (A. Matthias.)..................................................... Von moderner Malerei. Betrachtungen über die Münchener Kunstausstellung von 1888. (Carl Neumann.)........................................................... — Der Ursprung der Tell-Sage. (I. Mähly.)............................................ —

259 280

Viertes Heft. Prinz Adalbert und die Anfänge unserer Flotte. (Bätsch.).................. — Neue Schriften zur Poetik und zur Lehre vom Schönen überhaupt. (A.Döring.) Die Reformbedürftigkeit der Preußischen Gewerbesteuer. (Dr. jur. Strutz.)

— —

297 339 368

IV

Inhalt.

DaS „Tagebuch" Kaiser Friedrichs. (Hans Delbrück.)................................... Seite 406 Politische Correspondenz: Rußland. — Frankreich. — Italien. — England. — Tie deutsche Politik. (, das auf einer

Inschrift von Tegea sich für ßaXXa» findet, herbeigezogen worden

ist.

Simrock (deutsche Myth. 2. Aufl. p. 267) läßt Tell aus Erenthelle oder Ernthelle — der späteren Form für Orendel — entstanden sein! — Das

alles ist Spiel und Tand, der Name Tell ist etymologisch nicht zu erklären und steht in keinem begrifflichen Zusammenhang mit der Bedeutung des

welcher Namen und Wesen einem Zufall d. h. einem Mißvcr-

Helden,

ständniß verdankt. Hier

mögen nur in Kürze die Jnzichten zusammengestellt werden,

welche sich von Seiten der Geschichte gegen die landläufige Gestalt der

Tellsage erheben, wenn überhaupt von einer solchen Gestalt gesprochen werden kann, denn auch die Ueberlieferung der Sage ist keine einheitliche, sondern

sie differirt in wichtigen

und wichtigsten Punkten.

Es kann

doch kaum Zufall sein, daß im „weißen Buche" der notorisch ältesten bis jetzt bekannten Quelle der Tellsage (im Archiv zu Sarnen) der Held noch nicht Wilhelm Tell, sondern kurzweg „der Tall" heißt, erst der Chronist

Rueß (1482) und

Eidgenossenschaft"

fünf Jahre vor ihm daS „Lied vom Ursprung der

kennen den

Vornamen.

Und hierbei

ist wiederum

merkwürdig und kaum zufällig, daß dieser Vorname unter ähnlichen Um­

ständen sich

wiederfindet.

Daß der reisige Knecht deS Grafen Niclas

v. Zollern, der die drei Zauberschüsse thut, Wilhelm heißt, (s. Rocholz,

Tell und Geßler, p. 105, Anm.) mag hingehen,

aber jener William

Cloudesly, der „Wolkenschütze", der mit Adam Bell und Clym of the Clough (d. i. Clemens von der Klippe) die Schützentrias bildet und vor seinem

Tode noch den Meisterschuß thun darf, d. h. seinem siebenjährigen Knäblein auf 120 Schritte einen Apfel vom Haupt schießt, wodurch er sich

und seinen Mitgesellen Absolution verschafft, — der kann nicht so ohne Weiteres auf die Seite geschoben werden, ja, auch wer der vergleichenden

Sagengeschichte nüchtern gegenübersteht, wird anerkennen müssen, daß in den

283

Der Ursprung der Tell-Sage.

Personell - (Geschlechts) nameii, der genannten, die auf Klippen und Wolken deuten, zum mindesten ein neckischer Zufall spukt, der vernemlich genug an die Tellsage anklingt —; das Wolkenmeer und der See könnten wohl

identisch sein, so gut sie es in anderen aus nebelgrauer Urzeit stammen­ den Sagen wirklich sind.

Wie aber solche Reflexe in ein northumbrisches

(altenglisches) Volkslied sich haben verirren können, darf man wohl fragen,

nicht aber zu beantworten sich erkühnen. Dergleichen gehört, wie die Figur des. Wilhelm Tell und ihre Umgebung, zu den Geheimnissen der Mytho­

logie, die sich weder dem grübelnden Verstände noch dem lauschenden Ohre des gelehrten Forschers jemals ganz erschließen werden*). Dagegen muß

von vornherein eine weitergehende Combination

I. Grimms

abgelehnt

werden, diejenige nämlich, welche auS dem Vornamen William und dem Geschlechtsnamen Bell die beiden Namen deS schweizerischen Helden zu­ sammengeschweißt sein läßt.

und Thor geöffnet.

Mit solchen Beispielen wird der Willkür Thür

Nicht als ob die Mythologie gelegentlich nicht auch

mit der Etymologie unbewußt ihr Spiel triebe, — ein Beispiel dafür

liefert der Dulder Prometheus — ja wohl der Dulder, denn die Kobolde der Mythologie haben seinen ursprünglichen Körper noch viel grausamer zerstückelt und zerfleischt als der Adler des ZeuS seine Leber

— aber

dazu gehören doch etwas complicirtere Gebilde als Bell und Tell! Um aber wieder auf die Seltsamkeiten der sagengeschichtlichen und

die Wahrheiten der geschichtlichen Ueberlieferung zurückzukommen, so ge­ schieht weder in „Lied" noch bei Rueß deS aufgesteckten Hutes Erwäh­

nung;

der Hut fällt also vielleicht für die ursprüngliche Fassung der

Sage (denn daS weiße Buch kennt ihn), jedenfalls aber für die mytho­

logische Deutung außer Betracht.

Ferner: Rueß läßt den Tell erst dann

gefangen setzen, als er die Gemeinde aufwiegelt, und Tell

erschießt bei

ihm — eine Hauptabweichung — den Vogt gleich von der TellSplatte

auS, nicht in der hohlen Gaffe.

Der Weg sodann, den die gewöhn­

liche Ueberlieferung Tell nach seinem Sprung bei der TellSplatte über

den Axenberg bis zur hohlen Gasse bei Küßnach zurücklegen läßt, ist

*) Ein Vorname Wilhelm ist zwar für jene Zeiten nicht gewöhnlich, doch ist er schon 1266 für Lucern nachweisbar. Ob der Name etymologisch mit Heimdallr, dem deutschen Gott Zusammenhänge — vgl. Pfeiffer Germ. VIII, p. 208ff. — mögen die Germanisten entscheiden. Völlig verfehlt ist aus jeden Fall der Versuch, den Wilhelm Teil mit Vornamen und GeschlechtSnamen, ja mit Leib und Seele zum Gott Heimdallr zu stempeln, der auch keinen Zug mit dem Schüyen und Steuer­ mann Tell gemein hat. Auch die Erkürung Wilhelm — Wildhelm, ein Prädicat des KriegSgotts Odhin, das ihn als einen „schrecklichen" charakterisire, ist, aus Wilhelm Tell angewandt, mythologisches Gefasel, um gar nicht zu reden von der durch A. Kuhn behaupteten „Identität" Wilhelm Tell'S mit dem be­ kannten Balladenhelden Robin Hood.

284

Der Ursprung der Tell-Sage.

eine Leistung, die innerhalb der gegebenen Zeit einem heutigen Touristen

unmöglich ist.

i

Kein Schriftsteller und keine Urkunde des XIV. Jahrhunderts weiß

von einer Erhebung der Waldstädte, dagegen zeiht ein Breve deö PabstcS Jnnocenz IV. die Bewohner von Schwyz und Sarnen des Ungehorsams gegen den Grafen von Habsburg.

Diesen Vorfall, der im Jahre 1247

geschah, erwähnt der zürchersche (d. h. anlischwyzerische) Chorherr Felix Hemmerlin.

Die geschichtliche Veranlassung zu der Bewegung in den Waldstädten und dem daraus entstehenden kleinen Krieg mit Habsburg war der im Jahre 1291 geschlossene ewige Bund.

Eine Sendung von Vögten Oesterreichs war zu der Zeit, in welcher die Sage sie verlegt, unmöglich, und ist auch durch keine geschichtliche Quelle bezeugt.

Die

älteste dramatische Bearbeitung der TellSthat verlegt dieselbe

ins Jahr 1296, Tschudy ins Jahr 1307, Stumpf nimmt 1314, Schilling

1334 an, während

Justinger und Andere sich einer Zeitangabe ent­

halten.

Der sogenannte Landvogt Geßler gehört mit Landenberg,

da, wo

sie auftreten, ins Gebiet der Sage. Wohl giebt es Persönlichkeiten Namens Geßler und Landenberg, aber sie sind österreichische Vasallen im Aargau

und Thurgau und zu Altdorf im Zürcherland gewesen (Rochholz p. 450).

Von den letzteren, den Rittern Geßler'S, ist dann einer in Folge geogra­ phischer Verwechslung nach dem urnerischen Altdorf versetzt worden, er

ist der sogenannte Landvogt Hermann G., der Peiniger W. Tells. Alle Stellen, wo der Name Tell als Personenname im Bereich der Waldstätte vorkommt, sind gefälscht, so im Schochdorfer-JahreSzeitbuch (auS Trullo), im Attinghauser-Pfarrbuch (statt Näll), Fälschung ist auch

der Landgemeindebeschluß einer Betfahrt von 1307, wo Tell als Land­ amman erwählt wird, Fälschung die fernere Landesgemeinde von 1388, wo

hundert Personen sollen gezeugt haben, daß sie den Tell noch persönlich

gekannt hätten.

Indessen muß sofort beigefügt werden: AuS dem Nicht­

vorkommen des Namens Tell innerhalb der besagten Gebiete*) darf die Kritik noch nicht auf die Nichtexistenz einer Person dieses Namens schließen.

Die CivilstandSregister von damals haben ähnliche Lücken in Hülle und Fülle auf dem Gewissen, vor allem die, daß sie nicht existirt haben. Die Anschauungen vom Kampf

deS Winters

mit dem Frühling

haben in irgend welcher concreten sinnlichen, d. h. ächt mythologischen ’) Für das XVI. Jahrhundert ist in Sempach — vgl. Arch. d. histor. Der. d. Cant. Bern V. p. 12 — ein Jacob Dell uachgewiesen.

Der Ursprung der Tell-Sage.

285

Gestalt vom Ganges bis zur Rhone*) und von unvordenklichen Zeiten

an bis auf unsere Tage ihren Reflex gefunden.

Tyrann

oder

als Drache,

Ob der Winter als wilder Mann erscheint

oder als

als Bär

und der Lenz als Maikönig, der die Burg des Winterriescn bricht, oder als Schütze dessen Sonnenpfeilen jener erliegt — überall liegt, natür­

lich nicht

mehr

bewußt, die Spiegelung

desselben Naturvorgangeö

zu

Grunde, aber, weil nicht mehr bewußt, von verschiedenem Geflecht um­

sponnen,

überwuchert,

entstellt.

Im Bogenschütze» Odysseus und dem

Armbrustschützen Tell wird ein nicht forschender Blick zwar wenig Aehnlichkeit entdecken,

sie sind aber,

näher

besehen,

gleichen Gepräges und

höchst wahrscheinlich auch gleicher Herkunft, und ebenso ist der wilde Mann der in Basel alljährlich vor der Fastnacht in Gesellschaft des Greifen und

deS Löwen den Rhein heruntergefahren kommt, kaum ein anderer als der

böse Tyrann und Landvogt Geßler, und kein anderer als Geßler wieder der Uli, der in den Brunnen geworfen wird.

recht: er hal's mit seinem

Es

geschieht

ihm ganz

bösen Treiben wohl verdient, wie auch

der

Geßler, wie die Freier deS Odysseus ihr Schicksal wohl verdient haben. Und der Tod, der bei Slavischen Völkern im Frühjahr (Mittfasten) in

Gestalt eines alten Weibes

herausgetragen und

in's Wasser geworfen

wird, ist wiederum kein anderer als der grimme Winter (altes Weib —

Todesgötlin, Winter — Tod); und

wenn der Tod anderswo als alter

Jude oder als Strohpuppe erscheint und diese, statt ersäuft, verbrannt wird,

wenn anderswo eine solche Figur begraben, oder

eine scheußliche Puppe

mittendurchgesägt wird — eS ist überall derselbe Vorgang, durch verschie­

dene Symbole veranschaulicht. Die Leiche des Prinzen Carneval, die verbrannt wird, und die römische Anna Perenna (d. h. das „durchgejahrte Jahr"), die im Fluß versinkt, d. h.

in den Fluß geworfen wird, ursprünglich dasselbe — eS scheint unmöglich,

aber eS ist so (vgl. Usener Rhein. Mus. XXX. p. 182 ff.)

Auch Odhin ist

bekanntlich Pfcilschütze und hat mit den Dämonen deS Winters wie deS Gewitters zu schaffen, ebenso im fernen Asien Indra; fast schon besiegt

erlegt dieser mit sicher treffendem Geschoß im Sturmgebraus den Wolken-

und Gewitterdämon Vritra — und

so

auch Wilhelm Tell;

er

also

ein menschgewordener Gott, so gut, wie seine Gegenbilder auf scandinavischem und anderem Boden, wo nur immer der Gewitter- oder Winter-

mythuS — beide scheinen allerdings zusammenzufließen — seinen Nieder­

schlag gefunden hat.

Die Pfeile sind die Sonnenstrahlen, und wie Tell

neben dem Schützen auch SchiffSmann, so ist Odhin auch himmlischer *) Selbst bei Lappen und Finnen, vgl. Hamburger Lit. Krit. Blätter 1856 Nr. 52 Pfeiffer's German. IX p. 224ff. n. Bensey, (Sott. Gel. Anz. 1861 p. 677ff.

286

Der Ursprung der Tell-Sage.

Wolkenschiffer

auch

der

nordische

Palna-Toki,

Schlittschuhläufer

das

entsprechendste und jeweilen herbeigezogene Gegenbild zu Wilhelm Tell, ist nur ein seiner Heimat angepaßter menschgewordener Wolkenschiffer:

die Schneefelder sind die Wolken, und,

in

gleicher Anbequemung

an

die localen Verhältnisse, ist in der Sage von Wilhelm Tell dem Wolken­ meer der Vierwaldstättersee wiederum,

der ihm

substituirt worden*);

der

Seesturm

hin­

zu Hilfe kommt, entspricht den helfenden MarutS

JndraS, der im Sturmgebraus seinen Feind erlegt. sicht der vergleichenden Mhthologen.

Dies nach der An­

Aber wie es nun für absolut sicher

gelten darf, daß man mit der Deutung von Wilhelm Tell sammt Zu­ behör ohne mythologische Symbolik nicht auskommt, so gewiß ist eS auch,

daß

man nach dieser Seite hin, im Drang,

allem und Jeden seine

symbolische Bedeutung zuzuweisen, viel Scharfsinn verschwendet und des

Guten zu viel gethan hat, uneingedenk der Thatsache, daß der Mythus, weil er wie jeder ächte Poet auch zur Phantasie spricht, auch aus anderem

als blos symbolischem Holze schnitzt.

Die Parforcejagd nach dem Sym­

bol scheint mir die Achillesferse des sonst trefflichen Buches von Rocholz zu sein.

Was da z. B. alles aus dem „Hut auf der Stange" heraus-

oder in ihn hinein symbolisirt wird, während er doch gewiß nichts anderes ist, als das sehr einfache Zeichen der Verehrung heischenden Macht, ist

Wahn und Dunst. Ferner: ES liegt ja recht nahe, vom Apfel, dem Sym­

bol des „frischen Lebens" oder auch vom Apfelbaum,

als „dem Baum

des Lebens" zu sprechen — die Hesperidenäpfel, und wenn sie auch wirklich das „Symbol der Sonne" oder „ihrer Lebensquelle" (im Westen!) wären,

und der Drache Ladon, als „Sinnbild der längsten Nacht" haben in und

mit der Sage von Wilhelm Tell kaum

etwas zu schaffen.

Immerhin

läßt man sich einen Ueberschuß nach dieser Seite hin noch eher gefallen als die zwar einfache und klare,

aber prosaisch-geschmacklose, magenerkäl­

tende Deutung: Mit dem Apfel in der W. Tellsage sei nichts anderes ge­ sagt, als daß er eben — reif zum Falle sei, d. h. Herunterfalle, wenn er von der Sonne (den Sonnenpfeilen)

getroffen werde!!

Er ist verfüh­

rerisch, dieser Apfel in Wilhelm Tell, wie der im Paradiese — für den Forscher nämlich: man ist versucht ihm nachzugehen, weil er im mytholo­ gischen Haushalt wirklich eine ausgiebige Rolle spielt.

im Wilhelm Tell hat er

Aber ich fürchte,

seine symbolische Hülle vollständig abgestreift

und liegt vor als ein ganz gewöhnlicher kleiner, rundlicher, weicher Ge*) Der indische (arische) Varuna ist einer der wenigen sicheren Gestalten, die bis ans die Wortform im Griechischen sich erhalten haben (Uranos); er ist Meergott, ist aber jedenfalls auch Himmelsgott gewesen (wie er es noch war bei den Griechen) und zwar darum, weil in der mythologischen Sprache da« Wolkenmeer und das Wassermeer znsammengeflossen sind.

Der Ursprung der Tell-Sage.

stand, der ganz gewiß gegessen worden wäre,

287

wenn er sich nicht so vor­

trefflich als Zielscheibe und Prüfungsmittel für einen Fernschuß geeignet

hätte.

Man hätte ihn auch an eine gewöhnliche Schnur hängen können,

aber die Hauptsache ist ja nicht er, sondern das Haupt, worauf er ruht,

und der mit der Treffgefahr für dieses Haupt verbundene, zur Strafe anbefohlene Schuß.

Der Apfel hat in der Mhthol. der arischen (auch der

semitischen) Völkerfamilie eine erotische Bedeutung:

er ist das Symbol

der Liebe, aber auch der Liebesfrucht, er konnte also, in unserem Fall,

den Knaben des Tell bezeichnen.

Aber was soll dann der Knabe selber?

Wollen wir, in einem mythologischen Gebilde,

stand neben einander stehen lassen?

Symbol und Gegen­

Aber so arbeitet die mythologische

Phantasie nicht, daß sie dem Symbol die Erklärung in effigie bei­

fügt*). Wohl löst sich etwa einmal ein symbolisches Attribut von einem Gotte

ab und verwandelt sich in eine von ihm getrennte Persönlichkeit — wie

z. B. der Stachel des Odhin, der ihn ursprünglich als Todesschützen be­ zeichnet,

später in Hagen (dem

christianisirten „Freund" Hain) zur

Person hypostasirt erscheint — aber das ist ein ganz anderer Prozeß, ist

mythologische Weiterbildung, während jenes mythologische Selbstzersetzung wäre.

Gegen die Bedeutung des Apfels spricht aber noch deutlicher ein

anderer Umstand: nämlich der, daß an seine Stelle auch noch andere Ge­

genstände treten, die Nuß, die Birne, der Ring, die Münze, von denen nur der erstgenannte

darf. — Wie nun?

gleichfalls eine erotische Bedeutung beanspruchen Antwort: wenn eine mythol. Operation nicht hilft,

so versucht man es mit einer andern, d. h. man stempelt die genannten

Gegenstände sammt und sonders zu Sonnensymbolen, denn rund sind sie alle, und auch die Sonne hat ja diese Eigenschaft!

dabei zweierlei, und zwar

sind

Nur vergißt man

dies keineswegs Kleinigkeiten:

1) wäre

trotz den Hesperidenäpfeln zu beweisen, daß der Apfel (von Birne, Nuß, Ring und Münze zu geschweigen) jemals eine solare Bedeutung gehabt habe und 2) wenn es auch bewiesen werden könnte (was nicht der Fall)

so kämen wir mit unserem Mythus erst recht inS Gehege, denn wir hätten

jetzt zwei Sonnenmythen — den vom Apfelschützen und den vom Tyran­

nenschützen, ein Ueberschwang, oder wenn man lieber will, eine Combina*) Wenigstens thut sie es höchst selten — wenn es überhaupt geschieht. Der Mythus von Eva und der Schlange scheint allerdings hieher zu gehören, denn Eva und Schlange sind begrifflich dasselbe; Eva heißt „Schlange". Und doch ist diese Ausnahme nur ein Schein. Denn der Mythus ist kein ursprünglich hebräischer, er ist, wie der ganze Paradiesesapparat, importirt aus dem Persischen und von dem fremden Bolksstamm mißverstanden worden; überdies tritt uns, wie gewöhn­ lich bei de» Hebräern, der Mythus nicht mehr in seiner naiven Gestalt entgegen, sondern stark gefärbt und alterirt durch Zusätze von Moral und Priesterweisheit, ist also schon darum nicht als Beweis zu gebrauchen.

Der Ursprung der Tell-Sage.

288

tion, die kein nüchterner Forscher annehmen und noch weniger erklären

Denn was bedarf es

wird.

denn noch

der Apfelsymbolik/ wenn der

Schluß auf den Tyrannen dasselbe besagen soll?

Eine solche Verschwen­

dung liegt sonst nicht in den Satzungen der Mythenbildung.

Aber diese

motivirt, und hierin, scheint mir, liegt einfach und offen der Schlüssel

zu der Apfelgeschichte.

Insofern nämlich die mythol. Sprache Naturvor­

gänge in Geschichte, d. h. in menschliche That Handlungen umsetzt,

muß

sie diese Handlungen, wie dies der Geschichtschreiber und der Dramatiker auch thun, durch Motivirung anschaulich und plausibel machen.

Es

muß ein greifbarer Grund vorhanden sein, warum der Tyrann erschossen wird, und dem Tyrannen muß ein Anlaß geschaffen werden, bei welchem

er seine Grausamkeit zur höchsten Potenz steigern kann.

Dieser Anlaß

war im gewöhnlichen Menschenleben leicht und wohlfeil zu haben,

man

brauchte ihn nicht von der Sonne herunter zu holen. —

Hiermil wären wir des Apfels ledig und haben nur eine einfache,

keine Doppelhandlung: der Apselschuß ist nur eine interessante motivirende oder

Episode

das Vorspiel zur entscheidenden und

legung deö Tyrannen.

folgenschweren Er­

Es ist ja so natürlich! Waren einmal die Glieder

jener mythologischen Sippe als unfehlbare Schützen anerkannt, so setzte

man ihnen auch das schwerste Ziel, d. h. nicht nur den kleinen Gegen­ stand auf weite Entfernung, Liebste«,

sondern noch obendrein auf das Haupt des

wo die größte Erregung auch nicht den kleinsten Einfluß auf

die Nerven der Hand äußern darf, ober es ist um jenes Leben geschehen. Wer aber unter solchen Umständen daS Ziel zu treffen weiß, wird noch sicherer daS Herz des Todfeindes treffen.

Skizziren wir hier mit einigen Strichen diejenigen Sagen,

welche

auf demselben Untergründe, wie die Tellsage, ruhen oder dem und jenen Forscher zu ruhen scheinen. — Die persische lautet: Ein König hatte einen

Lieblingssclaven, dem er auf den Kopf einen Apfel legte um diesen hcrunterzuschießen:

Jedesmal traf er den Apfel mitten durch.

Hier wird

ein nüchterner Forscher die mythologische Sonde ruhig bei Seite legen,

denn es wird nichts als eine potenzirte und raffinirte Schützenkunst zum

Ausdruck gebracht.

— Aus dem griechischen Sagenstoff wird eine Er­

zählung angeführt, welche der Bischof Eustachius zu Hom. Jl. XII, 102

aufbewahrt hat (p. 384, 894, 39 d. röm. Ausg.): Die Söhne deS Bellerophon

beanspruchten

beide die Nachfolge und forderten einander zum

entscheidenden Wettkampf mit dem Bogen heraus:

es sollte durch einen

Ring geschossen werden, welcher auf der Brust eines liegenden Kindes ruhte.

und

Ihre Schwester Laodamia wollte ihr eigenes Kind dazu hergebcn,

in Folge dieses heroischen Entschlusses wurde ihr das Reich zuer-

289

Der Ursprung der Tell-Sage.

sannt. — Auch hier ist wenig mehr zu entdecken als in der vorigen Er­ zählung. — Ganz anders schon, d. h. in ähnlichem Ton mit der Tellsage lautet die deutsche von Wieland und seinem Bruder Eigil, welch letzterer

auf Befehl des grausamen,

auch

gegen Wieland gewalthätigen Königs

seinem dreijährigen Sohn einen Apfel vom Haupt schießt —

einen Sonnenapfel.

schwerlich

Er nimmt drei Pfeile heraus, und vom König be­

fragt, giebt er ihm dieselbe Antwort wie Tell seinem Landvogt, doch wird dem Schützen

seine Rede verziehen.

Schützenkunst so

deutlich

als möglich

Dieser

Eigil

trägt

nun

auf der Stirn geschrieben,

seine und

zwar durch seinen Namen: Eigil, Aigil, Agilo (die ursprüngliche NamenSform) ist eine Bildung auS der Wurzel ag — vgl. acuo, acies, acus,

dxk — Spitze, hier also Pfeilspitze. — Bon William Cloudesly und Consorten ist oben die Rede gewesen. — In der bekannten Erzählung

des Saxo Grammaticus (welche Tschudy allein wahrscheinlich auS einer schon 1431 erschienenen Uebersetzung kannte) erscheint nun der isländische

Eigil als dänischer Toko (Palna-Toko) dieser aber nun, Zug für Zug, nur mit klimatischen Nebenzügen, kann man sagen, behaftet in Wilhelm Tell wieder: dort ist der Tyrann Harald Blauzahn, hier Geßler, dort

leitet der Held seine Schlittschuhe über schauererregende abschüssige Eis­

und Schneefelder, hier das Schiff durch Sturm

und Wellen.

Merk­

würdig ist hierbei, daß Saxo diesen Schlittschuhlauf mit Ausdrücken be­ zeichnet, die ebenso gut auf Schiff und Schifffahrt passen: illiso cautibus

vehiculo

egit —

— vehiculo

cui insistebat excussus — vehiculum

ejus regimen intrepida manu continere suffecit u. s. w.

Harald Blauzahn lebte nun im 10., Saxo Grammat. int 12. Jahrhundert,

also früher als derjenige Tell, den die naive Geschichtschreibung reclamirt, und früher als die erste Kunde vom sagengeschichtlichen Tell hinaufreicht. Man kann unter solchen und

andern gleich

zu erwägenden Umständen

nicht laugnen, daß es gerade so nahe lag, die Gefahren des Eisfeldes auf die des sturmbewegten Wassers zu übertragen, als der Urnersee der Heimat Wilhelm Tells lag.

Oder will man die Uebereinstimmung

auf einen

bloßen Zufall, auf eine Laune der Geschichte oder der Sage zurückführen?

Es giebt Zufälle, die entweder durch Zeugen oder durch begleitende That­ sachen beglaubigt sind, man muß sie anerkennen; hier aber fehlt beides,

und der Zufall an sich betrachtet wäre geradezu wunderbar, die Kritik darf ihn nicht anerkennen.

Es bleibt nichts übrig als:

entweder Ent­

lehnung (wobei der Gläubiger entschieden der Scandinavische Norden, der Schuldner dagegen der Canton Uri wäre)

oder Identität des Mythus,

der sich in der Heimat der arischen Völkerfamilie als deren gemeinsames

Eigenthum gebildet, dann, nach der Trennung, bei den einzelnen zur Sage Preußische Jahrbücher. Sb. LXII. Heft 3. 19

Der Ursprung der Tell-Sage.

290

herabgestimmt und in mehr oder weniger verschiedenen Modulationen fort­ getönt hätte — verschieden, wie es etwa dort die Gefahren deS Eisfeldes

und die des Seesturms in unserer Sage wären, woraus zugleich resultiren würde, daß beides nicht etwa bloß ausschmückende Zuthaten zum Schützen, sondern wesentliche Sagenelemente sind.

Dergleichen kommt in der ver­

gleichenden Mythologie wenigstens häufig, ja nur zu häufig vor; ich meine damit allerdings weniger häufig als in der wirklichen. Sei nun aber die Tellsage entlehntes oder gemeinsames Gut — ich

beneide den nicht um seinen Muth, der es entscheiden möchte — jeden­ falls haben wir darin ein mythologisches Licht, das vom Spiegel der

schweizerischen Natur aufgefangen und gebrochen wurde, und es handelt

sich nur noch darum,

ob und wie viele Reflexe der Spiegel der realen

Geschichte in das Bild der Sagengeschichte hineinwarf.

Ich will mich

und den Leser nicht länger aufhalten mit Aufzählung sämmtlicher Analoga

zur Tellsage, am allerwenigsten mit solchen, die später fallen, wie die Ge­

schichte jenes holsteinischen Henning Wulf, der unter denselben Um­ ständen wie Wilh. Tell seinen Meisterschuß that, bloß daß er eine Birne

statt eines Apfels zu treffen.und keinen Tyrannenmord zu begehen hatte (vgl. Rocholz, Tell und Geßler S. 38), oder die des norwegischen Heming,

der lange vor W. Tell seinem Bruder Biörn eine Haselnuß — hof­

fentlich doch so wenig wie jene Birne ein Sonnensymbol — vom Haupt zu schießen gezwungen wurde;

auch darf ja höchstens um der Curiosität

willen jener Indianer angeführt werden, von dem in Pfeiffers Germ. IX. S. 25 als von einem modernen Tell gesprochen wird, oder jener aller­

modernste, der Leineweber (vgl. Kölner Zeitung vom 24. Jan. 1859), der freiwillig

höchst unbekümmert um

beim Laternenschein seinem Knaben,

die Symbolik, eine Kartoffel vom Kopfe schoß. meisten entsprechende Sage von Palnatoko, die,

Aber gerade die am

wenn gleich

alle Züge

einer solchen an sich tragend, dennoch auch die einer wirklichen historischen

Phhsiognomie, des Harald Blatand, mit jenen Zügen verwoben hat, proclamirt laut und deutlich die Möglichkeit, daß auch bei Wilh. Tell die Geschichte am Webstuhl der Sage könnte mitgeholfen haben.

eine äußere Veranlassung

diese Combination

Wenn dort

hervorrief, so auch hier.

Die meisten Forscher haben, so viel ich sehe, diese „Gleichung" anerkannt

und

jene Veranlassung in der Abstammungsfrage gefunden; diese also

habe die Einführung des Toko auf Schweizerboden, respective die Er­ findung des Wilh. Tell bewirkt.

Die Abstammung der Schwyzer aus

Schweden nämlich sei der Trumpf gewesen, den der Schwyzer Fründ

im Zürcher-Schwhzerkrieg ausgespielt habe gegen den

antischwyzerischen

Chorherrn Felix Hemmerlin in Zürich, der aus politischem Haß die Schwyzer

Der Ursprung der Tell-Sage.

von den Sachsen, d. h abstammen ließ.

kennen gelernt

verstockten depossedirten

291

und deportirten Heiden

Man habe, angeregt durch Fründ, die nordische Sage

und Vorliebe dafür gefaßt.

Warum Fründ's Stamm­

theorie durchgedrungen sei und nicht die des Zürcher Chorherrn, davon

sei der Grund einfach in dem Umstande zu suchen, daß Zürich im Krieg unterlag. Das ist recht scharfsinnig ausgedacht, aber beim Einrenken dieser Gc-

schichtstafel zeigt sich eine und zwar eine große Fläche hartnäckig

und

widerhaarig, das heißt, unser kritischer Verstand will sich diesem Versuch

nicht fügen, er kann nicht glauben, daß eine Sage, die doch mit der Ab­

stammung gar nicht oder höchst lose durch den Faden der Jdeenverbindung zusammenhängt, von Gelehrten einfach in ein anderes Local ver­

pflanzt worden sei mit der erstaunlichen Wirkung, daß sie dort, mit einigen

Localfarben retouchirt, im Bolksbewußtsein Wurzel gefaßt habe.

Es

giebt freilich gelehrte Sagen, die römischen Antiquare z. B. wissen davon

zu erzählen, aber das Volk hat sie nicht geglaubt.

Eine Sagenerklärung,

die Glauben verdient, darf sich nicht auf das Unwahrscheinliche, auf den Ausnahmefall stützen.

Rocholz hat das gefühlt und bringt darum nach­

träglich ein anderes Moment hinein, ein geschichtliches, wodurch der Sage

doch wenigstens ein ätiologisches Mäntelchen umgehängt wird, aber doch nur ein Mäntelchen.

Der schlimme Landvogt Peter von Hagenbach

nämlich (enthauptet in Breisach 1474) und sein nicht besserer Hauptmann

Friedrich Vögeli seien das Vorbild gewesen zur Nachschöpfung Geßler's

und seines beim bekannten Hut aufgestellten Knechtes.

Nun reiten die

Todten zwar schnell, aber zuerst müssen sie wirklich todt sein; wenn nun

aber unsere älteste Urkunde über W. Tell drei Jahre vor Hagenbach's

Tod bereits vorhanden d. h. ausgeschrieben war, so werden wohl Hagenbach

und sein Knecht ihre Hände puncto W. Tell in Unschuld waschen dürfen. Aber auch abgesehen davon — warum sollte Hagenbach's Gestalt oder

die des grausamen Abteö von St. Gallen, den ein anderer Forscher an Hagenbach's Stelle auf die Bildfläche gesetzt hat, sich gerade im Urner­ see abspiegeln? Nein, sondern im Volk war die Tellsage schon früher,

nicht erst seit jenen gelehrten Untersuchungen über die Abstammung leben­ dig.

Die Forschung hat gefunden, daß jene in Scandinavien uns be­

gegnenden Sagen ursprünglich zuerst in Westphalen Wurzel geschlagen und von dort, schon im VI. Jahrhundert, mit den auswandernden Stämmen ihre Reise nach dem Norden über Jütland gemacht haben.

Aber auch

nach dem Süden, will sagen, nach der Schweiz, wurden sie getragen und zwar durch daS Wandervolk der Alemannen.

denn der schweizerische (speciell

Und sie gediehen hier weiter,

gerade der urnerische) Boden

ist für

Der Ursprung der Tell-Sage.

292

Sagencultur nicht unergiebig. Hausen) erinnern,

Man darf an die Drachensage (bei Atting-

an die Paradiessagen

auf der Blümlisalp, an die

Königin Agnes als Wasserfrau im Canton Aargau, an die Sage vom

Unthier auf den Surenen, an die (bloß aus dem Heidnischen ins Christ­

liche um gedeuteten) Ueberlieferungen, die sich an die Tcufelsbrücke und

den Teufelstein knüpfen, an die Frau Saelde in der Urnersage, an die drei auf den Rigi geflüchteten Schwestern, an die Schloßsage von Schwanau im Lowerzersee;

auch die „Geschichte" Arnolds von Melchthal und der

„Vorfall" auf dem Schloß Roßberg in der Neujahrsnacht und die Scene mit Bogt Landenberg sind Sagengewächs.

So ist die sagenbildende Phan­

tasie — das zeigen auf's deutlichste die Fäden des Gewebes — auch bei Wilh. Teil geschäftig gewesen und zwar ebenso unverkennbar auf geschicht­ lichem Untergrund.

Die mitspielenden Personen brauchen deswegen keine

streng historischen zu sein, sie sind Typen — und das genügt — für ge­

schichtliche Zustände, sie repräsentiren eine geschichtliche Stimmung, Tell die Freiheitsliebe des Volkes, Gesler die schwüle Atmosphäre des Druckes,

der Abhängigkeit und Rechtlosigkeit, die jahrelang auf dem Volke lastete.

In den Einzelereignissen und Einzelthatsachen der Tellsage concentrirt sich das Empfinden und Leiden von so und so viel Jahrzehnten, sie geschahen

nicht im bestimmten Jahre so und so.

Möglich, aber durchaus nicht

nothwendig, daß ein hervorragendes geschichtliches Begebniß — man denke an das Jahr 1230 oder 1247 — von der vorhandenen Sage um­ sponnen wurde und daß dann dieses Gebilde auf das Hauptereigniß, auf

die Haupt- und Staatsaction, die Befreiung des Landes von den Vög­

ten, d. h. von irgend einer unbequemen Oberhoheit, so gut oder schlecht eö ging, übertragen oder mit ihr combinirt wurde.

Mir aber kommt es

darauf an, den Punkt zu finden, von welchem aus visirt wurde, um der Sage gerade diese Gestalt zu geben, und irre ich nicht, so kann man

ihn finden, es

ist ein wirklich springender Punkt,

nämlich — der

sogenannte und schon lange vor der Tellsage sogenannte Tellensprung.

Hier haben wir, wenn ich nicht irre, den Schlüssel zu dem Namen Tell: nicht der Held hat der Localität, sondern die Localität des „Sprungs"

dem Helden den Namen gegeben.

Wenn sich schon der Urnersee so präch­

tig und wie von selbst als Pendant zu jener nordischen Eisbahn bot, um

den Helden noch

von Seiten einer anderen Kunst im vollen Glanz zu

zeigen, so mußte sich für ihn auch ein Rettungsport aufthun, und auch er

bot sich

von selber — die Tellsplatte;

dort

aber

eben erhebt sich

der Tellensprung, d. h. die mit Föhren bestandene oder der von der

Bucht ansetzende Aufstieg.

bucht.

Tell (Tall) heißt beides, Föhre und Thal­

Composita mit Tell, Ortsnamen bezeichnend, giebt es in Uri und

Der Ursprung der Tell-Sage.

293

anderswo, genug: Tellenrütti, Tellenberg, Tellepfad, Telliboden, Telleren,

Telligen, Tellenbach, Tellenmoos, Tellenmatte u. s. w. — die Hauptsache

aber ist: „Sprung" bedeutet, damals und jetzt noch, einen steileren Auf­ stieg, einen Berg, einen Hügel, eine Schlucht hinan. Das Volk, oder wenn man lieber will, die sagenbildende Volksseele hat aber das Wort „Tellen­

sprung" mißverstanden (wie dies

in der Mythologie oft nachweisbar,

vgl. Prometheus, Apollo Delius, Herakles, letzterer = Her-akel, „HoruS

der Starke", also ägyptischen Gepräges) und auS ihm den Helden hervor­

gehen lassen, der dort den rettenden „Sprung" that.

Auch die Tells-

platte trug höchst wahrscheinlich bereits vor der Bildung des persönlichen

Tell diesen Namen.

Im „weißen Buch" nämlich heißt es:

du der Tall

kam untz (bis) an die ze Tellen blatten, da ruft er sy (die Schiffs­

genossen) an u. s. w. — was, aufmerksam gelesen und lautirt, gewiß nicht dafür spricht, daß diese Platte erst nach dem Sprung des Tell und in

Folge desselben ihren Namen erhalten habe. sich

(Auch später noch dürfte

in Ausdrücken „beim Tellen" oder „wenn man heimkommt vom

Tallen" — „da fart man zum Tell" der Nachklang der ursprünglichen Localität erhalten haben, vgl. Rocholz 163, ferner 176; die Bevölkerung

von Sisikon am Axenberg leitet den Namen der Tellenplatte nicht vom Tellensprung ab, sondern nennt dieselbe „an der Tellen".)

„Was kann

der Tellensprung anders sein als der Sprung, den der Tell gethan hat?

und hier gerade muß er gesprungen sein!" So combinirte der Volksver-

stand, und es brauchte dann, bei den oben berührten Umständen, kein un­ gewöhnliches Maß von Phantasie, um die schwankenden flatternden Sagen­ gestalten an die feste und stäte Oertlichkeit zu knüpfen.

Was

nun das Wort Sprung betrifft, so können wir durch drei

baSlerische Beispiele gerade jene Bedeutung nachweisen, welche wir für

den

Tellensprung in Anspruch nehmen.

Der Rheinsprung, eine

Straße, die von der Rheinbrücke einen ziemlich steilen Hügel hinaufführt

(schon in alten Urkunden so genannt, vgl. Basl. Urk. 1248 „duas domos

sitas dem Sprunge Rheno contiguas“ und von Leo Jud heißt es: als er im Collegio zu Basel am Sprung (Rhysprung) war u. s. w.) — ferner: der

Spitalsprung (jetzt Münsterberg) vgl. Wurstisen, Basl. Chron. 15,1: „Vom Münsterplatz den Sprung nider bis zum Kaufhaus", ibid. 77. „ES haben die Römer an gesagtem Ort ein Burg und Besatzung

ge­

habt, den Fahr unten am Sprung zu verwahren", s. Fechter „Basel im

XV. Jahrh." p. 5. 21 und 53.

„Die Straße genannt an den Schwellen

oder der Sprung" — drittens: der Schlüsselsprung (jetzt Schlüsselberg), der von der Zunft zum Schlüssel anhebende Hügel.

Basler Professor I. I. Spreng

in seinem

Nichtig erklärt der

handschriftlichen Idioticum

Der Ursprung der Dell-Sage.

294

Rauracum Cod. Basil. A. 8t. I. 3: „Spring, ein etwas gäher Hügel."

Im XIV. Jahrh, brauchte man die oben genannten Composita, nicht, son­

dern man begnügte sich einfach mit „Sprung".

Eine andere Frage ist

warum man im selben Basel nicht auch von einem Spalen-

es wieder,

sprung (— Spalenberg), einem Lindensprung, Peterssprung und Herberg­ sprung gesprochen hat oder noch spricht. Aber nicht nur Basel liefert Beispiele, sondern unter anderem, merk­

würdig genug, weisen wird,

auch Wallis,

wie das „neue schweiz. Jdicticon" nach­

und im gleichen Sinn findet sich (vgl. Stalder, Jrioticon,

alte AuSgabe Bd.il, p. 387) „Sprenge" femin. „ein kurzer, doch sehr

jäher Abschuß an einer Straße .... Luzerner Gau .... und Zürich".

(In etwas anderer Bedeutung in Bayern, vgl. Schmeller, bahr. Wörterb. 2. Aufl. v. Fromann,

Bd. 2, Sp. 702, wo es in der Bedeutung „das

Aeußerste, der Rand", z. B. eines Abgrundes, aufgeführt ist mit den Re­ densarten: Es steht auf der Spreng.

die Spreng.)*)

Stell das Glas nicht gleich auf

Ein Berglein bei Einsiedeln, mit Namen Wasser­

sprung will ich nicht zu den beweisenden Beispielen zählen, so wenig wie

den Emmensprung (einen von der Emme gebildeten Wasserfall) im Canton Lucern eher die „Sprüngen" eine Stelle am Weg auf den Säntis,

oder den „Hirschensprung" im St. Gallischen Rheinthale,

die Biegung an einer steilen Landstraße (derselbe Name mit gleicher Be­ deutung in der thurgauischen Gemeinde Escherz).

Völlig entsprechend aber

heißt bei den heutigen Jtaliänern ein steiler Weg auf eine Anhöhe und

die Anhöhe selber „una salita“.

Wackernagel (altd. Wörterb. 5. Aufl.

p. 276) giebt dem Wort „springen" u. a. die Bedeutung

und

von heraus-

„aufwärts sich bewegen" (ein Quell, eine Pflanze), dem ent­

sprechend also Sprung als „jäher Aufstieg".Es ist wohl möglich, auch das lateinische Saltus zu

beim Fischerdorf Anthedon Glaukos" hieß,

und zwar,

daß

dieser Sippe gehört. Wenn in Böotien Stelle am Meere der „Sprung

des

wie der Mythus wollte, vom Sprunge

des

eine

Genannten in's Meer, -so kann vielleicht auch dort ein Absturz ge­ meint sein und der mißverstandene Name Veranlassung zu der Fabel des Glaukos Pontios gegeben haben. Wenn unsere Erklärung der Tellsage richtig ist, so muß sie durch

analoge Beispiele unterstützt werden können, d. h. in vorliegendem Fall solche, wo der Name einer Localität den Kern hergab, um welchen die Sage sich

crystallisirte,

emporrankte.

den Grundstock,

an welchem sie ansetzte und

Und deren finden sich genug.

Ist eS denn mit RomuluS

■*) Ich verdanke diese lexical. Nachweise den Herren Pros. L. Todter und Dr. C. Sieber.

Der Ursprung der Dell-Sage.

295

und RemuS und mit sonstigen Slädtegründern anders? Nicht sie haben der Stadt, sondern die Stadt ihnen den Ursprung gegeben.

aus dem

großen Gebiet der

Manches

sogenannten ätiologischen Mythen gehört

hier her, der Mythen also „die Ereignisse oder Vorgänge erzählen, welche ersonnen oder erklügelt worden sind um ein gegebenes Factische, um das

Vorhandensein oder die Benennung eines Gebrauchs, einer Sitte, eines CultS, einer Einrichtung, einer Oertlichkeit, eines MonumentS, eines

HeiligthumS u. f. w. genetisch zu erklären" (Schwegler röm. Gesetz. I. p. 69) — also auf römischem Boden die Sage vom Evander und seinem Sohne Pallas zur Erklärung des PallanteumS (PalatiumS), von der weißen

Sau, und was drum und dran hängt, um den Namen Albalonga zu

erklären, der seinen Ursprung in einem ganz anderen Etymon als dem lateinischen albus hat, die Sage ferner vom LacuS CurtiuS oder die Auf griechischem Boden gehört beispielsweise hierher

von der Tarpeja.

der Mythus von den Quellen Arethusa auf Sicilien und Dirke bei

Theben, hierher ferner der vom argivischen König JnachoS (ursprünglich einem Fluß).

An den Namen von ArgoS, beziehungsweise an den Bei­

namen deS trockenen, Savotov "App; knüpfte sich dann — denn C. O. Müller wird in seinen Prolegg. z. e. wiss. Myth. p. 185 wohl Recht haben, — die Gestalten des DanaoS und der Danaiden, die uns sofort

an den Aegyptos und dessen Söhne, die Aegyptiaden erinnern; der Name der Stadt Tarsos hat im Mythus von Perseus den Zug veranlaßt, daß

sein Pferd Pegasus

hier das

Fußblatt (töv itapaiv) gebrochen habe.

Und nicht bloß im Nebel der Urgeschichte eines Volkes bilden sich solche Mythen,

sondern

mitten

im Sonnenschein des geschichtlichen Lebens.

Die Stadt Kyrene auf libyschem Boden,

ihrerseits benannt nach der

Quelle Kyre, hat den Mythus von der Kyrene und ihrem Verhältniß zu

Apollo erzeugt.

Ja, unser Jahrhundert und unser nüchternes Blut ist

solcher Production noch etwa einmal fähig.

Beweis ist der Mythus von

der Loreley, keineswegs einem „Märchen aus alten Zeiten!"

Ich bin zu Ende. Mancher wird finden, auch ich habe einen „Sprung"

gethan, und zwar nicht einmal auf eine feste Platte, sondern ins Blaue hinein — aber beweisen wird er mir'S schwerlich.

Die Person deS Helden

ist allerdings in der Retorte zerflossen, aber die Bestandtheile, aus denen

er gebraut war, haben sich nicht als Erfindung und gelehrten Hokuspokus,

sondern alS gegenständliche, daS heißt geschichtliche, volksthümliche Stim­ mungen, also doch als poetische Wahrheiten im aristotelischen Sinne er­

wiesen.

Und daS ist ein Trost.

Verantwortlicher Redacteur: Professor Dr. H. Delbrück Berlins. Wichmann-Str. 21. Druck und-Verlag von Georg Reimer in Berlin.

Prinz Adalbert und die Anfänge unserer Flotte. Vom Vice-Admiral Bätsch.

Die Geschichte der ehemals Preußischen, dann Norddeutschen, dann Deutschen Marine stützt sich noch bis auf den heutigen Tag auf die Lebens­ geschichte deS Prinzen Adalbert von Preußen. Der dänische Krieg von 1848 hatte zuerst die Nothwendigkeit einer

deutschen Seerüstung dargethan.

Schon im Mai 1848 hat Prinz Aval­

bert über vie Schaffung einer Flotte eine vortreffliche Denkschrift ausgearbeilet, aber noch vielfachen Widerstand gefunden.

Wir haben keine Häfen,

so hieß es, denn Kiel ist dänisch,

wir

können Kriegsschiffe nicht bauen, und selbst wenn wir sie im Auslande bauen ließen, hätten wir zwar Matrosen, aber keine Officiere, um sie

auszubilden, und um die Schiffe zu führen.

Der erste Punkt fiel, so wie

vie Verhältnisse lagen, nicht so schwer ins Gewicht, denn Danzig mit

seiner gar nicht unrühmlichen seekriegsgeschichtlichen Vergangenheit,

bot

für den Anfang mit Corvetlen Unterkunft genug; auch Swinemünde war

in beschränktem Maße brauchbar; für Schaluppen genügte der Dänholm

bei Stralsund; auch der zweite Punkt, der sich auf den Schiffbau bezog, konnte leicht überwunden werden, wenn nichts Anderes, so bewies es das

Geschwader in Bremerhaven; am schwierigsten stand es mit dem dritten

Punkt; noch war der Krieg nicht zu Ende, und für ihn bedurfte man der

Seerüstung.

ES ist nicht Jedermanns Sache, zu Gunsten einer krieg­

führenden Nation der eigenen Volksangehörigkeit zu entsagen; auch trifft man das Condottieren-Gewerbe selten vereint mit Organisations-Talent; und des letzteren bedurfte man doch vor Allem. Während das Handelsministerium sich früher zur Ausbildung junger

Steuerleute Dänischer Officiere bedient hatte (Dirkink-Holmfeld, Froelich)

befand sich dasselbe Amt seit einigen Jahren in der Hand eines Hollän­ dischen Seeofficiers, des Commodore Schröder. Dieser erwarb sich das unPreußische Jahrbücher, ißb. LXII. Heft4. 20

Prinz Adalbert und die Anfänge unserer Flotte.

298

bestrittene und unschätzbare Verdienst, an der Küste in Ausführung zu bringen was — damals von einer Abtheilung des Kriegsminifleriums — unter der Aegide und auf Eingebung des Prinzen geplant wurde.

Die

lange Reihe von Jahren des Zusammenwirkens der beiden Männer ist

den Zeitgenossen unvergeßlich; es war die Zeit jenes Siechthums, dem die beste Seile abzugewinnen eines seltenen Aufwandes von moralischer Kraft

bedurfte. Dem Eintritt Schröder's folgten die ersten freilich noch bescheidenen Lorbeeren.

Ihm war es beschieden, den Postdampfer „Adler"

in

ein

Kriegsschiff zu verwandeln und ihn mit Officieren und Matrosen frisch aus der Kauffahrlei gegen die Dänischen Kreuzer zu führen.

Der ruhm­

reiche Kriegslärm des Jahrhunderts ist über das kleine Gefecht von Brüster­

ort längst zur Tagesordnung übergegangen, und doch hat es seinen ge­

schichtlichen Werth.

Man mag seine Ebenbürtigkeit mit den Waffenthaten

altpreußischer Tradition bestreiten; immerhin war eS der Anfang preu­ ßischer Kriegstüchtigkeit auf einem Gebiet, bis zu dem selbst die bewährte

Schule des großen Friedrich noch nicht vorgedrungen war; ein Minimum

von Kriegsmitteln in primitivem Zuschnitt,

gehandhabt von Menschen,

denen die Grundlage kriegerischer Tugend nicht fehlte, denen ihr wohlge­ pflegter Besitz und Gebrauch aber doch noch ein Mysterium war.

1852 traten drei Stabsofficiere der Preußischen Dienst.

Schwedischen Flotte in den

Einer derselben, Hylten-Cavallius übte auf das Or­

ganisatorische nicht geringen Einfluß und mit seiner Hülfe gelang

dem

Prinzen die Errichtung einer eigenen, vom Kriegsministerium völlig ge­

trennten Admiralität.

Die

Nothwendigkeit dieser Emancipation möge daö

Geschichtliche

erläutern, daß als der erste Kiel zu dem Preußischen Kriegsschiff, (nach­

maligen Corvette „Danzig") gelegt wurde, der Preußische Kriegsminister allen Ernstes vorschlug,

das Schiff erst bei

Krieges von Stapel laufen zu lassen.

etwaigem Ausbruch eines

Es bedarf nur einer ganz geringen

Kenntniß nautischer Verhältnisse, um das Monströse des Gedankens zu begreifen.

Die unter den Hammer gebrachte deutsche Flotte hinterließ Preußen als Erbschaft zwei Schiffe und die Idee

der Jade.

Wer jene Zeiten

nicht mit durchlebt, von den sic begleitenden Zeitumständen keine Kenntniß

hat, sieht heute nur das fertige Werk, den deutschen KriegShafen an der Nordsee, und ahnt nicht,

auf welchen Widerstand die Gewinnung dieses

Gebietes für Preuße», nicht nur bei den Machtfaktoren, sondern auch in

einem großen Theil der öffentlichen Meinung stieß.

Gemeinhin sah man

eS an als eine» dürftigen Nothbehelf, weil Jedermann wußte,

was eS

299

Prinz Adalbert und die Anfänge unserer Flotte.

mit den Häfen der Preußischen und Pommerschen Küsten auf sich habe.

Der Gedanke, der den Prinzen in der Hauptsache leitete, den er wieder­ holt aussprach, daß es sich nicht um eine Zuflucht, sondern um die Eman­

cipation künftiger Preußischer und Deutscher Seegeltung von der einge­ schlossenen Ostsee handele, wurde von Wenigen getheilt und von Wenigen verstanden.

Daß schon der erste Napoleon dort einen Kriegshafen ein­

richten wollte, galt Manchen als eine Legende, die heute keine Bedeutung

mehr habe, örtliche Sonderinteressen hatten auch damals ihre Bedeutung,

Bremen war für die Weser, Oldenburg anfänglich für Brake, Hannover für Geestemünde, Hamburg für Cuxhaven, und der Commodore des in

Bremerhaven noch immer ein kümmerliches Dasein fristenden Geschwa­ ders keinenfalls für die Jade.

Die Trennung

von Admiralität und Kriegsministerium hat etwa

ein halbes Jahrzehnt vorgehalten.

wurde nur scheinbar erreicht.

Der Zweck, den man damit erstrebte,

Was der Prinz wollte, war die Möglich­

keit selbstständiger und einheitlicher Entwickelung; die Abhängigkeit vom Kriegsministerium war beseitigt, die einheitliche Leitung aber nicht er­

reicht,

denn die Begriffsunterschcidung zwischen genereller und specieller

Leitung öffnete allen Einflüssen

unberufener Elemente Thür und Thor.

Die erstere war dem Ministerpräsidenten, die letztere dem Prinzen zuge­ wiesen, waren auch die drei Abtheilungen von Commando, Technik und

Verwaltung in des Prinzen Hand, so waren doch die eigentlichen Ver­

waltungssachen

durch

eine besondere Clausel

dem

Abtheilungsvorstand

unter der Aegide des Ministerpräsidenten persönlich überwiesen.

Zu per­

sönlichem Zwist innerhalb der Zentralbehörde, schon damals Admiralität genannt, lieferte das reichlichen Anlaß; dazu kamen die Anfeindungen,

denen das fremde Element ausgesetzt war, und die Vortheile der neuen Organisation kamen nicht voll zur Geltung.

Trotzdem hat die einmal hergestellte Selbständigkeit segensreich ge­ wirkt.

Besonders ist ihr der erste Anfang einer von der Landarmee ab­

gesonderten Wehrpflicht der

danken.

seemännischen Bevölkerung deS Landes zu

Auch die Regelung der Chargen- und Beförderungsverhältnisse

deS Officier-CorpS datirt auS jener Zeit, das noch mit Hülfe des Kriegs­ ministers

vom Prinzen Adalbert geschaffene Seebataillon, und das auf

die Initiative des Commodore Schröder

geschaffene Schiffsjungeninstitut

blieben bestehen und haben sich — mit nicht ganz gleichem Werth — bis

auf den heutigen Tag erhalten.

Die errungene Selbstständigkeit machte so

manche dem Seewesen

eigene Einrichtung möglich; der Vorwurf, man habe sich damals zu sehr

an fremde Muster gehalten, war nicht berechtigt; die zu jener Zeit ge20*

300

Prinz Adalbert und die Anfänge unserer Flotte.

schaffenen Einrichtungen haben die

mannichfachen Sturm- und Drang­

perioden der Marine überdauert; von den meisten kann man folgen, daß sie den Anforderungen des Seewesens eigenthümlich und nicht nach lan­ desüblichen Vorbildern geschaffen waren,

und nur die eine Anstalt,

sich an Preußische Grundsätze und Muster anlehnte,

die

hat nicht ein Jahr­

zehnt überdauert; das war das zu Berlin errichtete Seekadetteninstitut. Die Klage, daß man sich zu wenig an landesübliche Muster halte, ging lange Zeit wie ein rother Faden durch die ganze organisatorische Bewe­

gung; und dennoch hat es einem aufmerksamen Beobachter nicht entgehen können, wie gerade diejenigen Organisatoren, die der Armee angehörten,

dem Landesüblichen häufig entsagten.

Dahin gehörte die Beseitigung des Sekadetteninstituts.

Ueber die

Vorzüge der, Corps-Erziehung hört man in militärischen Kreisen kaum je

ein ungünstiges Urtheil, so

Betrachtet zwischen

man

die

daß

Unterschiede

Kritik

zwischen

wie

ein Wagniß erscheint.

Armee-

und

Flottenwesen,

dem Dienst der Garnison und dem des Schiffs,

so stellt der

Seedienst im Punkte der Schmiegsamkeit der menschlichen Natur bar höhere Forderungen.

offen­

Körperlich und geistig soll sie schärfer disci-

plinirt, und deshalb früher gelernt, die Natur früher in Entsagung ge­

Dazu, meinte man, bedürfe es früher Einstellung, und in

übt werden. Folge

dessen

wieder berufsseitig

neben dem Unterricht im Fach.

eines Ersatzes für die Bildungsschule

Merkwürdig genug, für den Landdienst

erkennt man das heute noch an, für den Seedienst nicht mehr seit fünf­ undzwanzig Jahren. einen Grundsatz,

Einem General der Armee war es beschieden durch

soweit er den Seedienst anbetraf, einen Federstrich zu

machen; und das geschah zu einer Zeit, wo im Preußischen Abgeordneten­

hause die Corps-Erziehung lebhaft vertheidigt wurde.

Dazu trat die Aner­

kennung des Kauffahrerdienstes als berechtigte Vorstufe für den Beruf deS

Officiers.

In einer Zeit, die auf fast allen Gebieten mit heftigen For­

derungen hervortrat, schien die Marine ganz geeignet für Maßregeln ähn­ licher Art.

Dies geschah aber, als die Vortheile der Emancipation zum

Theil schon wieder beseitigt waren. Zu jenen Vortheilen gehörte, und gewiß

nicht in letzter Linie, — die Einsetzung eines selbstständigen, vom MilitärCabinet vollkommen unabhängigen Jmmediat-Vortrages, zuerst in der Hand Niebuhr's,

dann Jllaire's.

Das Militär-Cabinet Manteuffel blieS das

Lebenslicht dieses in seiner Art auch militärischen Sprößlings aus;

Marinestandpunkte war der Gedanke schön, dacht;

er verging

vom

aber doch etwas zu frei ge­

auf lange Zeit, wurde erst unter der Aera Stosch

wieder zur Wahrheit, um dann abermals beseitigt zu werden. Trotz Olmütz war der Kaiser Nikolaus in Preußen ein militärisches

Prinz Adalbert und die Anfänge unserer Flotte.

301

Idol geblieben, und seine regelmäßigen Besuche in Berlin schienen auch für die Zukunft der Marine von Bedeutung werden zu sollen.

Denn daS

Geschwader, welches den Czar zu fahren und zu begleiten pflegte, machte

in Swinemünde Station.

Die Namen der Schiffe Kamtschatka, Smerleji,

Grarialschi sind den Zeitgenossen noch frisch in der Erinnerung; cs war

die Garde, und ein Theil der Garde-Equipage der Flotte, die da erschien,

und von dem aufstrebenden Seeofficier des jungen Preußischen Instituts angestaunt wurde.

Für den aufmerksamen Beobachter war ein gewisser

Einfluß nicht zu verkennen.

Bei der Behandlung der Uniformsfrage war

nicht wenig Meinung für daS Russische Grün, da siegten aber deS Prinzen Adalbert Atlantische Erinnerungen, im Russischen Kielwasser zu

segeln war ihm gegen daS Gefühl, und die blaue Farbe gewann den Preis. Noch entschiedener wurde der

jungen Marine der Stempel

ihrer

ferneren Richtung ausgeprägt, als es dem Prinzen gelang, die Britischen Geschwader im Schwarzen Meer und in der Ostsee als praktische Schule für Preußische Seekadetten zu benutzen.

Dies erschien ihm ein Gewinn,

den man, wie er sich oft ausdrückte, gar nicht hoch genug schätzen könne.

Selbst innerhalb der Marine hat er in dieser Meinung nicht immer Zu­

stimmung und Unterstützung gefunden; demungeachtet hat sich der Prinz in der Beibehaltung und Ausbildung dieser Praxis nicht beirren lassen;

er lebte der vollen Ueberzeugung, das großartige Treiben deS Britischen FlotteudiensteS könne auf die jungen Officiere einer so neuen Schöpfung

nicht anders als günstig wirken, und wo nicht Mißgriffe in den Personen

stattgefunden haben, hat er sich nicht getäuscht.

Die Einrichtung hat fort­

gedauert bis mit dem Eintritt der neueren Kriegs-Aera daS Vaterland aller Kräfte selbst bedurfte.

Sie später wieder fortzusetzen wurde noch

ein neuer Versuch gemacht, der indeß auf Englischer Seite nicht mehr auf die alte Bereitwilligkeit stieß, sodaß es damit ein Ende nahm.

War es dem Prinzen auch gelungen, die Personenfrage langsam in

ein erträgliches Geleise zu bringen, so blieb doch immer noch die Calamität der Häfen und der zu bauenden Schiffe.

Für die ersteren waren

mit Oldenburg schon die lebhaftesten Verhandlungen im Gange, und, weil dort daö regste Interesse war, versprachen sie Erfolg; schwieriger stand

die Sache mit dem Schiffbau.

Weder an der Ostsee, noch an der Nord­

see fand sich ein Architekt, der den neueren Anforderungen an den Bau

eines Kriegsschiffes hätte genügen können; da stellte der Engländer John Scott Russell dem Prinzen seine Dienste zur Verfügung; er machte den Entwurf zu einem größeren Raddampfer mit mächtiger Armirung,

der

nachmaligen Corvette „Danzig", die dem Schiffbauer Klawitter in Bau gegeben wurde; dann aber entwarf er eine für flache Gewässer sich eig-

Prinz Adalbert und die Anfänge unserer Flotte.

302

«ende Schiffsart, Raddampfer mit einer Bewaffnung

von 4 schweren

68-pfündigen sogenannten Bombenkanonen, die auf den Radkasteis-Platt-

formen stehend in der Kielrichtung und querab feuern konnten. Die Schiffe waren, — damals eine Neuheit für Kriegsschiffe — von Eisen und halten nur 7 Fuß Tiefgang; dazu waren sie an jedem Ende mit Steuerapparat

versehen, liefen 11—12 Knoten und hatten vermöge der beiden Steuer

eine für ihre Länge sehr günstige Manöverirfähigkeit.

Sie hielten die

See und konnten sich mit großer Freiheit in allen Flußmündungen der

Pommerschen und Preußischen Küsten und namentlich auch in den Binnen­ gewässern von Rügen bewegen.

Nur ein Jahr früher gebaut, und sie

wären den Dänischen Fregatten ein gefährlicher Dorn im Fleisch gewor­

den.

Jetzt waren sie zwar ein Material-Gewinn für die Zukunft, aber

für den Friedensdienst, der nun in Frage kam, wenig geeignet. Während deö Krimkrieges füllte sich die Englische Presse mit immer

lauter werdenden Klagen der Englischen Admirale im Schwarzen Meer nicht minder, wie im Finnischen Golf über den Mangel an flachen Fahr­ zeugen.

Mit neidischem Blick hatte der Britische Seeofficier die beiden

vorhererwähnten Fahrzeuge aus der Themse auslaufen sehen; aber daS war zu einer Zeit, wo von der Kronstädter Verlegenheit noch keine Rede

war; indeß hatte man sie nicht vergessen und der erste Lord der Admira­

lität zur Zeil des Krimkrieges Sir James Graham machte ein Angebot mit der schönsten Fregatte,

wenn man ihm die beiden Fahrzeuge über­

lassen wolle. Es hat einige Ueberwindung gekostet, ehe man sich von diesem schwer errungenen Anfang einer wirklichen — und für Kriegszwecke in der That

vortrefflichen — Seestreitkraft trennte; in deö Prinzen Hand lag die Ent­ scheidung; er wußte wo uns der Schuh drückte; an eine Seekriegs-Aera

war in Preußen fürs Erste nicht zu denken, und er ging auf das Ange­ bot Sir JameS Graham's ein.

Es war eine eigenthümliche Schickung,

daß dieselben Fahrzeuge auf ihrer Ueberfahrt nach England im Decem­ ber 1854 noch den Akt der Weihe bei Besitzergreifung des Jadegebietes

zu vollziehen hatten.

Es war ein Wendepunkt in mehrfacher Richtung,

eine Zeit, in der für so manches Neuere die Wege sich zu ebnen begannen. Für „Nix" und „Salamander" — so hießen die beiden kleinen Dampfer, die wir in Tausch gaben, — erhielten wir die „Thetis", damals eine der besten 36-Kanonenfregatten

der

Britischen Flotte.

Das

war

ein nützliches

Fahrzeug, hat gute Dienste gethan, und wurde zu früh „beseitigt".

Dieses Schiff und die „Gefion"

sind die eigentliche Uebungsschule

des älteren Theiles des Seeofficier-Corps gewesen.

den man mit „Gefion"

von dem

Der „Babaroffa",

aufgelösten Bremerhaven-Geschwader

303

Prinz Adalbert und die Anfänge unserer Flotte.

übernommen hatte, an sich ein vorzügliches Schiff, fand vor dem damals obwaltenden Schwedischen Einfluß keine Gnade, und wurde als Kriegsschiff aus der Liste gestrichen.

Mit der Nachahmung der rein militärischen, der Preußischen Armee

entlehnten Pragmatik dem

ist

Material, d. h.

zulegcu.

In der

also

man

mehr

und

den Schiffen

mehr

davon

abgekommen,

selbst historischen Werth

Armee verfolgt und pflegt

bei-

man die Geschichte der

Truppenlheile, insbesondere des Regimentes, obgleich das allein Greifbare dabei nur das geschriebene Geschichtsbuch ist.

Das Herkommen entspricht

den spirituellen Zwecken der Armee, aber nicht denen der Marine.

Man

hat dem Prinzen Adalbert mit Zähigkeit den Vorwurf gemacht, daß Her­

kömmlichkeiten der Armee in seiner maritimen Pragmatik zu wenig Be­

achtung fänden.

Aber der Vorwurf ist ungerecht.

Er hat eS vermeiden

wollen, daß eine verknöcherte Nachahmungssucht Raum gewinne; denn er

fürchteie, daß sie der Naturwüchsigkeit deS neuen Instituts schaden müsse.

Wer heute nach den Geschichtsaufzeichnungen der Schiffe fragt, findet ein leeres Blatt.

Wer in der Litteratur, wer im Buchhandel forscht, wird

nichts finden, als die „Geschichte des Seebataillons", denn nur von den Truppentheilen schreibt man Geschichte. „Amazone", „Thetis", „Danzig",

„Barbarossa", „Arcona",

„Nymphe" u. s. w. sie alle haben eine kleine

Geschichte, aber Niemand erfährt sie, es ist nicht herkömmlich, die trockene Biographie der Schiffskörper wird der Controlle der Reparaturen halber

nur im Schiffbaubureau gehalten; das andere vergeht und wird vergessen, und da die Marinetheile mit ihrem Personal nur Ersatz-Depots sind für

die Schiffe, so entbehren sie alles dessen,

was Werth wäre,

geschichtlich

ausgezeichnet zu werden. In der heutigen Aera der Schießbaumwolle nimmt die Beseitigung

des alten Flotten-Materials raschen Fortgang, und es wird nicht allzu­

lange dauern, so wird es schwer halten, über dasselbe geschichtliche Aufzeich­

nungen zu finden.

Wer im Dienst des Vaterlandes seinen Tod findet,

dessen Name pflegt an geweihter Stelle, — gewöhnlich in der Garnisonkirche

deS Orts — dem Gedächtniß ausbewahrt zu werden. zu Kiel würde man

vergeblich

„Amazone" mit „Frauenlob",

In der Marinekirche

die Namen derer suchen, mit dem

die mit der

„Großen Kurfürst"

im Dienst

ihres Königs ein nasses Grab fanden, und wenn man sagt, daß die Ge­

pflogenheit nur auf solche Bezug hat, die ihren Tod vor dem Feind ge­ funden, so würde man ganz ebenso vergeblich die Namen der im Dänischen

Krieg auf „Arcona" und „Nymphe" Gefallenen suchen.

Daß man dem —

auf Zeit — in Kiel garnisonirenden Infanterie-Bataillon in der Marinekirche

eine schöne marmorne Botivtafel gewidmet hat, ist würdig und in der Ord-

Prinz Adalbert und die Anfänge unserer Flotte.

304

nung.

Man soll sich aber nicht zum Fremdling

Ehre dem Ehre gebührt!

im eigenen Hause machen, weil die „Herkömmlichkeit" nicht ga^iz zutrifft. Aus dem Streben nach selbstständiger Entwickelung ist dem Prinzen

Adalbert mancher bittere Borwurf erwachsen; Mangel an Achtung vor den

ruhmreichen Ueberlieferungen der Preußischen Armee, vor ihrer bewährten Pragmatik in Rüstung und Uebung des Volkes zum Kampf für König und Hcerd, wird bei einem Prinzen des Königshauses nie zu finden sein.

Der Gedanke aber,

daß

die kriegerischen

Tugenden,

deren

der See­

krieg bedarf, am Lande und an irgend welchen Einrichtungen des Landes nicht zu erlernen seien, ist nicht ganz zu verwerfen, und wenn der Prinz

einem solchen Gedanken Raum gegeben hat, so verdient er nicht die Kritik,

die man geglaubt hat, ihm dafür zumesscn zu sollen.

Man mag ein­

wenden, Todcsmuth sei eine Tugend, die zu Land und zu Wasser an den

Mann die gleiche Forderung stellt, daher mit gleichem Maße gemessen und gewürdigt werden muß.

Das ist richtig, soweit es die Person be­

trifft, von der man solche Tugend fordert.

ES ist aber nicht zu leugnen,

daß die Forderung selbst in ganz anderer Gestalt und unter ganz anderen

Man braucht nur zu berücksichtigen, wie

Umständen zur Geltung kommt.

verschieden die Forderung auftritt, jenachdem eS sich um die Personen der Führer oder der Geführten handelt.

Kein Mensch, sei er Führer, oder

geführt, hat mehr als ein Leben daranzusetzen, und Jeder der dem KriegS-

beruf folgt, sei es auS Passion oder aus Pflicht, hat sich mit dem Ent­

schluß dazu abzufinden. Man hat die Behauptung aufstellen hören,

die Forderung an krie­

gerische Tugend sei zur See eine höhere, als am Lande; denn dort gelte

es nicht allein den Muth gegen die todtbringende feindliche Waffe,

son­

dern einen Muth, der im Kampf mit dem Element, mit dem dauernden Ungemach des Seelebens noch höherer Anspannung bedürfe, höherem Werthe sei.

Das ist ein Trugschluß.

darum von

Der Muth, die Tapfer­

keit, die Entsagung, der hingebende todesmuthige Entschluß des Kriegers, sie stehen bei dem Soldaten, wie beim Seemann auf gleicher Stufe, und verdienen die gleiche Würdigung.

Ihre Keime entsprießen dem gleichen

Boden, derselben theils ererbten, theils gepflegten Hingebung für Fürst

und Vaterland,

demselben in

einem

gesunden

Gemeingeist wachsenden

Streben, in die Fußtapfen der Väter zu treten, und nur zünftiger Eng­

herzigkeit möchte es gelingen, zwischen beiden einen Unterschied zu finden. Ist also auch das Maß der Forderung gleich in dem Augenblicke, in wel­ chem sie an das Individuum herantritt, so ist doch ein Unterschied in der

Gestalt ihres Auftretens, wenn man die Lage in Betracht zieht, in welcher Führer und Geführte sich befinden.

305

Prinz Adalbert und die Anfänge unserer Flotte.

Als der Wohlfahrtsausschuß in Frankreich es für unerläßlich hielt,

auf Generale

und Admirale persönlichen Druck auszuüben,

ihnen Convents-Deputirte

zur Seite.

stellte

man

Die Verschiedenheit, die in der

Gestalt ihrer Einwirkung nicht minder, wie in dem Ergebniß zur Geltung kam, ist bezeichnend.

Dem Deputirtcn Jean Bon St. Andre genügte die

Theilnahme an der Seeschlacht vom l.Juni 1794, um beim Convent darauf hinzuwirken, daß man den Admiralen aufgab, sich künftig

auf

einer Fregatte einzuschiffen und hinter der Schlachtlinie zu halten; denn

warum sollte nicht auch ihm der Grundsatz zu Gute kommen,

nach wel­

chem die bei der Kriegführung am Lande betheiligten Conventsgenossen

sich den kaltblütigen,

wahrten?

gesammelteren Ueberblick außerhalb des Feuers be­

Die Maßregel kam zur Ausführung und man gab sich eine

Zeit lang der irrigen Auffassung hin. Französische Admirale könnten nur

auf diesem

Weg Erfolge haben.

Bei Fleurus,

diesem ersten großen

Erfolg der Republikanischen Waffen hatte ja der Oberbefehlshaber, — wie

das überhaupt im Landkrieg üblich, — auch nur hinter der Front gestan­ den.

Man bedachte nicht, daß der Seekrieg in diesem Punkte der Aus­

übung des

Handwerkes

andere Forderungen stellt,

daß die geführten

Massen sich räumlich nicht ausdehnen, daß es für die Gefechtsbewegungen

nothwendig ist, dem obersten Führer selbst, und nicht bloß seinen durch Zeichen gegebenen Befehlen zu folgen, und daß die Einwirkung des per­ sönlichen Beispiels hier ein niemals zu entbehrender Faktor ist.

Batail­

lon und Schiff sind nur in wenigen Punkten mit einander zu vergleichen;

die Gesammtwirkung der Individuen,

auf denen ihre Gefechtstüchtigkeit

beruht, kommt auf verschiedenem Wege zur Geltung;

statt daß man zu

Erfolgen kam, wurden die Mißerfolge immer bedenklicher,

und man ist

bald zu der alten im Seekrieg bewährten Art zurückgekehrt.

Solche und ähnliche. Erwägungen hatten nicht geringen Antheil an

der Richtung, welcher der Prinz sich hingab, als ein im Lande ganz neues Institut geschaffen wurde.

Annahme auch

Er meinte,

neuer Lehrsätze

mit der neuen Schöpfung sei die

ganz unvermeidlich.

Wenn

man einen

neuen Baum pflanze, dürfe man ihn nicht mit dem äußeren Blätter- und Blüthcnschmuck eines andersgearteten Baumes versehen wollen; die Nah­

rung aus eigenem Boden müsse seinem Ertrag nicht minder,

äußeren Ansehen den Stempel geben. eine Eigenart,

wie rem

Daraus entstand in vielen Dingen

die im Lande selbst in manchen Kreisen Befremden und

Mißtrauen erregte.

Heute,

wo dies geschrieben wirr, hat die Marine

eine Lebenszeit von vierzig Jahren, und noch kann man nicht sagen, daß manche ihrer Eigenheiten, so z. B. die absonderliche, von den militärischen

Ueberlieferungen so abweichende Uniform in Fleisch und Blut der Nation

306

Prinz Abalbert und die Anfänge unserer Flotte.

übergegangen wären.

Daß die Marine eine Anstalt sei, in welcher die

„Licenz", das „Gehenlassen" der tonangebende Faktor wäre, ist,eine in

der Armee noch heute vielgeglaubte Legende.

Dem Verfasser ist es

un­

vergeßlich, wie er von einem Officier des großen Generalstabes gefragt wurde, ob der auf dem Aermel der Admirals-Uniform befindliche goldene Stern „Licenz" sei.

übelzunehmen;

Es wäre

unrecht gewesen, dem Mann die Frage

er hatte die „Licenz" für eine

unerläßliche Zugabe des

Dienstes auf dem schwankenden Element gehalten, und die Klagen der in

Berlin sich aufhaltcnden Seeofficiere, daß ihre Uniform von den Schild­

wachen nicht beachtet würden, sind noch heute an der Tagesordnung. Merkwürdig war es, daß der Prinz für solche Klagen nur ein hal­

bes Gehör hatte; aber die Einbürgerung der Marine-Uniform im Binnen­ lande vermochte er als etwas Erstrebenöwerthes erst in zweiter Linie zu

würdigen;

„draußen" sollte sie sich geltend machen,

und wenn sie das

that, dann — so meint er, — könne auch die Geltung im Binnenlande

nicht fehlen, und der Kummer um die Schildwachen würde sich dann wohl

finden. Fand sich aber zu der von ihm so heiß erstrebten Geltendmachung keine Gelegenheit, dann, — und so meinte er mit Recht, — wäre jener kleinere Kummer mit dem unendlich viel größeren wohl zu verschmerzen.

Wo einem menschlichen Körper die Luft, die er zum Athmen braucht, versagt und nur ein falsches Ersatzmittel geboten wird, da sind die Merk­

zeichen beginnender Krankheit unausbleiblich.

Zum eigenen nicht minder,

wie zum Unbehagen anderer dehnt und reckt er die Glieder, deren unarti-

kulirten Trieben zur Thätigkeit er nicht zu genügen vermag.

Am deut­

lichsten, unartikulirtesten und lästigsten stellen solche Merkzeichen sich ein

bei dem Körper eines jungen Wesens, Beobachter am wenigsten geneigt, gleich

paßt einigermaßen auf das,

und bei ihm ist der urtheilende

Mitgefühl zu empfinden.

Der Ver­

was man im Anfang der fünfziger

Jahre dieses Jahrhunderts die Preußische Marine nannte.

Bei einem

höchst geringen Bestand an Material war an Seegeltung nicht zu den­

ken.

Rach der langen, nur durch die 48er Unruhen unterbrochenen Frie­

densperiode wucherte die Armee noch mit den Lorbeeren der Befreiungs­

kriege, ihr Ruhmestitel und ihre Rangstellung im Lande fußte auf selbst errungener

und

eroberter Grundlage, deren Pflege und Erhaltung mit

nicht weniger Recht, wie mit einer gewissen Eifersucht bewacht und ge­

hütet wurde.

Daß ein neuer ganz junger Sprößling mit dem Anspruch

auf Ebenbürtigkeit auftrat, fand nicht ungetheilte Zustimmung.

Hier trat

der Sprößling nicht nur mit dem Anspruch auf, sondern, und das war

ein großes Unglück, — es fehlte ihm der Rechtstitel einer eroberten See­ geltung als nothwendige Unterlage.

Man nahm keinen Anstand, seine

307

Prinz Adalbert und die Anfänge unserer Flotte.

Nervosität auf Schritt und Tritt zu reizen, das leistete dem Krankheits­

proceß Vorschub, der innere Organismus wurde zumeist mit untergeord­

neten, trivialen Fragen beschäftigt,

Rang- und Etikettenfragen spielten

eine hervorragende Rolle, denn man war fest entschlossen, eine Ebenbür­ tigkeit sich nicht verkümmern zu lassen, zu deren Selbsterwerb noch nir­ gends Gelegenheit war.

Die erste Hauptgarnison der Marine, — von einer Flotte konnte man mit dem besten Willen nicht sprechen — war Stettin.

in den Jahren 1849—1852 ein

im Wesentlichen

Da lebte

den Kauffahrerkreisen

entnommenes Corps von Seeofficieren, die vorbehaltlich eines abzulegen­ den Examens den Namen „ Auxiliar-Officiere" trugen.

noch nicht fest eingestellt angesehen,

Sie wurden als

wie denn in der That die größere

Zahl derer, die man 1848 in dieser Weise eingestellt hatte, bereits wieder

Zu dem Rest dieser Officiere, einige zwanzig,

entlassen waren.

sich eine kleine Zahl sogenannter Seekadetten I. Klasse,

gesellte

die den gleichen

Rang, d. i. den des Sekondelieutenants der Armee hatten,

und deren

vom König verliehener Officierrang gar keinem Zweifel unterlag.

Dem-

ungeachtet fühlte man sich in gewissen Armee-Kreisen — am Sitz eines

General-Commandos kann man es wohl so bezeichnen — nicht

das anzuerkennen;

und da in einer Zeit,

geneigt,

wo von Kriegsthätigkeit wenig

die Rede ist, Etikettenfragen eine Wichtigkeit beanspruchen, die man ihnen bildeten hier die militärischen „Hon­

sonst nicht einräumen würde, so neurs" der Schildwachen

einen Apfel der Zwietracht,

und entgegen der

Königlichen Willensmeinung nahm der Commandant von Stettin es auf sich, jenen jungen Officieren das

zusprechen.

Anrecht auf solche „Honneurs" ab­

Der Sturm im Glas Wasser wurde bald gedämpft, das ge­

kränkte Officierbewußtsein in sein Recht eingesetzt, und die Sache an sich

hat kaum den Werth einer geschichtlichen Erwähnung. das

deutliche Merkzeichen

eines Zwiespaltes,

Und doch war sie

in welchem der Keim der

damals so nothwendigen Kameradschaft zwischen ArmeeKreisen erstickt,

Neulinge

und Marine-

oder doch wenigstens nicht gefördert wurde.

Anstatt die

an sich heranzuziehen und sie in der Luft eines militärischen

Gemeinwesens, welches unter großen Traditionen aufgewachsen war, ge­

deihen zu lassen, lehnte man die Gemeinschaft ab. Garnisonwechsel, der Uebergang

Erst ein

späterer

nach Danzig, hat darin Wandel

ge­

schaffen; und da war es eigentlich schon zu spät, deun als Danzig Gar­

nison wurde, fing das Corps der Seeofficiere an, den Schwerpunkt seiner Thätigkeit auf dem Salzwasser zu finden.

Mit dem Eintritt der Regentschaft in Preußen hatte man es für gut befunden, sich der Grundlage der Armee-Friedens-Verwaltung, —

308

Prinz Adalbert und die Anfänge unserer Flotte.

d. i. der vollständigen Trennung der Administration und inneren Oeko-

nomie vom Commando, — insoweit zu nähern, daß man für,jeden der

beiden Dienstzweige eine Spitze schuf,

die selbstständig arbeiten,

in ge­

meinschaftlichen Dingen aber gemeinschaftlich unterzeichnen sollten.

Nach

Aeußerungen des Prinzen Adalbert ist die Idee auf den späteren ViccAdmiral Jachmann zurückzuführen, aber die thatsächliche Unausführbarkeit, die sich bald herausstellte, gereicht ihm nicht zum Vorwurf, weil man ja nach gegebenen Armeemustern zu arbeiten glaubte, und der Meinung war,

das „gemeinschaftliche Zeichnen" trüge dem

Marinedienstes vollkommen Rechnung.

besonderen Erforderniß

des

Chef der Verwaltung wurde der

Admiral Schröder und an die Spitze des Ober-Commandos, — so wurde

cs

genannt — blieb

der Admiral Prinz Adalbert.

Neu

war nur die

Trennung und Schaffung zweier nebeneinander stehender Behörden; voll­ ständige Einheit war auch vorher nicht gewesen, denn für alle Verwal­

tungssachen hatte es der Unterschrift und Mitzeichnung des wirklichen Chefs

der Admiralität, des damaligen Minister-Präsidenten, bedurft, der sich von dem Berwaltungsvorstand der Admiralität, damals dem Geheimen-Rath Gäbler Vortrag halten ließ.

Als mit dem Eintritt der Regentschaft ein

neues Ministerium kam, und der Fürst Anton von Hohenzollern-Sigmaringen den Vorsitz hatte, war für die Admiralität eine Aenderung nöthig,

denn man rechnete nunmehr

auf

eine umfassendere Verwirklichung der

Flottenidee, für die Spitzen der großen Verwaltungskörper stand erweiterte Verantwortlichkeit in Aussicht,

schwerem Herzen,

und der Prinz ließ sich bewegen, — mit

wie er später

oft ausgesprochen hat, — den Prinz­

regenten um eine Abzweigung der Verwaltung zu ersuchen.

Dem Gesuch

folgte die obenerwähnte Zweitheilung, — eine Maßregel von verhängniß-

voller Tragweite für das ganze Leben und Gedeihen der Marine.

Von

den Einrichtungen und Ueberlieferungen deS Armeewesens getäuscht, glaubte man, daß eine ähnliche Trennung, — denn nur um eine Aehnlichkeit,

nicht um eine Gleichheit war es jetzt zu thun — auch für das Marine­ wesen

ganz gute Früchte trage» müsse.

Hätte es sich einfach um eine

Fortführung des bisherigen verschwindend kleinen Betriebes

Jahresbudget von einer halben Million Thaler gehandelt, Sache vielleicht

geraume Zeit ganz gut gegangen.

lagen die Dinge aber wesentlich anders.

mit einem

so wäre die

In dem Augenblick

Zum Abschluß eines Handels­

vertrages mit den Ostasiatischen Kaiserreichen sollte eine Expedition von nicht geringem Umfang ins Werk gesetzt werden.

Zwei größere und ein

kleineres Kriegschiff bildeten daS Geschwader und zum Nachschub von Vorräthen nicht minder, wie zur Aufnahme von Industrie- und Handelsarti­

keln wurde ein Kauffahrteischiff als Transportschiff der Expedition gemie-

309

Prinz Adalbert und die Anfänge unserer Flotte.

thet.

An der Spitze derselben, soweit eS die nautische Führung anbetraf,

stand der allein noch vorhandene schwedische Seeofficier; da der Winter vor der Thür stand, das hauptsächlichste Schiff (Arcona) noch ganz neu

in seiner Art, man in der Uebersicht des Bedarfs auch noch nicht recht klar war, so haperte die ganze Ausrüstung; man hat behaupten wollen,

bei den Ausführenden sei nicht überall der nöthige gute Wille vorhanden

gewesen; dem mag sein wie ihm wolle: der Reibungs-Faktor machte sich bei den zwei nebeneinander wirkenden Behörden stark geltend,

sodaß der

Commodore nichts Besseres zu thun wußte, als sich diesem verschleppen­ den System

der Friktion zu entziehen, und die ganze Ausrüstung

eigene Hand in England zu vollenden.

den

einmal entfesselten Dämon des

Ruhe zu bringen.

auf

Das war freilich nicht geeignet, Dualismus in der Heimath zur

Schärfer und schärfer gestaltete sich die Reibung der

Autoritäten, und jene zur Zeit soviel besprochene Expedition war in die Heimathshäfen noch nicht wieder zurückgekehrt, als man die Unmöglichkeit

der Sachlage erkannt, und, ohne zu wissen, was man Besseres eintauschen würde, mit einem Federstrich der ganzen Organisation ein Ende gemacht.

An dieser war nichts, an rem würdigen Admiral Schröter, der sich ins

Privatleben zurückzog,

war viel verloren.

An der Spitze des damaligen

Militär-Cabinets stand der Oberst von Manteuffel, nachmaliger Feldwar-

schall und Statthalter von Elsaß-Lothringen.

In der Hauptsache war es

sein Einfluß, der eine Verschmelzung der Marine mit dem Kriegsministe­

rium herbeiführte; das Ober-Commando verblieb dem Prinzen Atalbert,

die Verwaltung aber sollte der Kriegsminister unter dem Titel „MarineMinister" führen.

Darin

fand

der Dualismus

einen noch

schärferen

Ausdruck, als es vorher der Fall war. Damals glaubte man in dieser Zweitheilung von Commando und Verwaltung die Lösung eines Räthsels zu erblicken.

Daß die Marine so

wie sie war, weder wachsen noch gedeihen konnte, lag an der Spärlichkeit der Mittel, — „Beiräthigkeit der Fonds" war das damals geläufige Wort;

man suchte aber nach anderen Gründen; und weil die der Marine von Anbeginn

innewohnenden Eigenheiten soviel Absonderliches hatten, von

der Uniform, die immer ein Stein des Anstoßes blieb, gar nicht zu reden,

so unterlag cs nun gar keinem Zweifel mehr, daß man sich den „exotischen

Allüren" abwenden und endlich eine wirklich Preußische Pragmatik an­ nehmen müsse.

Der Gedanke war richtig, wenn es sich nur um die Pragmatik, die altbewährte Preußische Präcision in der Führung der Geschäfte, die Pflege des- Corps-Geistes in den Osficieren und Mannschaften, vor Allem um

die Pflege und Förderung der Disciplin gehandelt hätte; das war es aber

Prinz Adalbert und die Anfänge unserer Flotte.

310

nicht allein; es handelt sich vielmehr

um die Uebertragung jener Prag­

matik auch auf den gesammten Betrieb.

1

Schon die ersten äußerlich hervortretenden Folgen der Aenderung waren nicht sehr ermuthigend.

Nicht genug, daß nunmehr in einem General die

Personal-Union der beiden Verwaltungsbehörden sich vereinigte, es mußte eine für die höheren Officiere der Flotte empfindliche Maßregel hinzutreten,

daß nämlich unter dem Kriegsminister selbst noch ein zweiter der Armee entnommener General die Ausführung der Berwaltungsgeschäfte übernahm. Daß das Prinzip einer absoluten Zweitheilung wie in der Armee nicht ganz durchführbar sein werde, fühlte man wohl, und versuchte ein

Einigungsmittel zu schaffen.

In der vorhergehenden Organisation hatte

man ein solches in der gemeinschaftlichen Vollziehung wichtiger Schrift­

stücke zu finden geglaubt.

Aber statt zu einer Einigung beizutragen, hatte

gerade dieses Mittel den Zwiespalt verschärft; vielleicht war es sogar der

Grund des Zusammenbruchs, denn die Gegensätze hatten

sich zuletzt so

zugespitzt, daß selbst Formalitäten der Unterzeichnung Zwiespalt verursachten.

Ein Marine-Ministerium, an dessen Spitze der preußische Kriegsminister

stand, war daran nicht gebunden.

Auch innerhalb der Marine fand die

Sache ziemlich allgemeinen Beifall, derselbe bezog sich aber nicht sowohl

auf die Eigenheit der Organisation, sondern darauf, daß der Einverlei­

bung der Personalunion

und Zusammengehörigkeit nun auch gewiß die

immer noch angezweifelte „Ebenbürtigkeit" folgen müsse.

Daß eine solche

aber nur durch sauer erworbene, auf Thaten beruhende geschichtliche Ueber­

lieferung zu schaffen ist, daran dachten Wenige. Was die Organisation anbetraf, so meinte man, daß ein System,

unter welchem ein großes militärisches Gemeinwesen, wie die Preußische

Armee gedeihen und blühen könne, auch für den maritimen Sprößling gut sein müsse. Der Prinz-Admiral hatte sich zu fügen,

oder zu verzichten.

Das

Letztere wäre vielleicht das Bessere gewesen, denn wenn er sich auch darüber trösten konnte, daß das Heft seiner Hand fortan entwunden sei, so erschien ihm doch auch die Aussicht einer gedeihlichen Mitwirkung nur gering;

das wünschte man aber nicht, und baute eine Brücke, von der er wohl

glaubte, daß sich damit leben lasse. Was bei der vorhergehenden Organisation die „gemeinschaftliche Voll­ ziehung" gewesen war, und als Einigungs- oder Einheits-Mittel fallirt

hatte, das sollte jetzt der „Admiralitätsrath" sein.

Nur schade, daß beide

Theile sich darunter etwas ganz Verschiedenes dachten.

bald heraus,

Das stellte sich

und die Institution kam, — einige wenige Ausnahmsfälle

abgerechnet, — wenig zur Geltung.

Prinz Adalbert und die Anfänge unserer Flotte.

311

Die Sache hat unter der Firma „Marine-Ministerium und Ober-

Commando" etwa zehn Jahre lang gearbeitet, mit viel Arbeit, viel Reibung, vor Allem aber mit vielem, vielem Briefschreiben zwischen zwei Dienst­ gebäuden, die noch nicht eine Büchsenschußweite voneinander lagen.

Eine Art von Theilung besteht zwar auch heute noch; denn der Reichs­

kanzler ist der verantwortliche Minister auch für die Marine und der Ches der Admiralität sein ausführender Staatssekretär;

aber der letztere hat

doch die Ausführung ganz allein in der Hand, plant und übersieht Alles

und ist frei von dem auf Schritt und Tritt ihm an den Schößen hängen­ den Bleigewicht eines außerhalb stehenden, anders denkenden, anders rech­

nenden und anders wollenden Verwaltungsmannes.

Auch heute hört man zwar hie und da Stimmen, daß es eigentlich anders sein müßte; namentlich macht man geltend, es sei zuviel Macht­

fülle in einer Hand vereinigt, und eine ähnliche Centralisation fände sich in keinem anderen Betrieb des Deutschen Reiches; ohnehin stehe es im

Widerspruch mit konstitutionellen Formen, daß ein stellvertretender Minister, der der Volksvertretung Rechenschaft schuldig wäre, mit dem Amte eines

Oberbefehlshabers betraut sei.

Es tritt der weitere Einwand hinzu, das

allmähliche Aufrücken eines Prinzen des Hauses erfordere eine neue Thei­

lung der Gewalten, wie sie zur Zeit des Prinzen Adalbert und des Mi­ nisters von Roon so ersprießlich gewirkt habe.

Ueber das ersprießliche Wirken sind einige Zweifel erlaubt; die Stifter

jener Einrichtung waren von ihrer Vorzüglichkeit sicher überzeugt, dagegen besteht die Thatsache, daß der erste größere Kriegssturm sie beseitigt hat,

daß die heutige einheitliche Admiralität seit mehr als anderthalb Jahr­

zehnten besteht, und daß noch kein neu hineintretender Chef daran ge­ dacht hat, sich der ihm gebotenen ungetheilten Autorität zu entäußern.

In dem Streben, die altbewährten Armee-Einrichtungen nachzuahmen, hatte man die Grundverschiedenheit übersehen, die dem Betrieb unv Wesen

Beider ihren Stempel giebt.

Eine Theilung von Verwaltung und Com-

mando kann und wird nützlich sein in einem Betrieb, der jahraus jahrein

sich bis in Einzelheiten immer in ein und demselben Geleise bewegt. Feste CadreS in festem örtlichen Zusammenhang,

eine Verwaltung, deren Ge-

sammtresultat nur die Multiplikation so und sovieler tausendfältigen Ein-

zelnheiten ist, sind die Grundlage des Armee-Betriebes im Frieden wie

im Kriege, namentlich im Geldpunkt; der letztere tritt zurück, sobald Krieg ausbricht.

Der Betrieb nimmt einen Umfang an, der jede Rücksicht auf

die Geldfrage zurückbrängt, ein großer Theil des wirthschaftlichen Treibens der Nation kommt in Mitwirkung und in Mitleidenschaft, das ganze Land

wird zu einem Schauplatz von Truppen-Anhäufungen und Aufmärschen,

Prinz Adalbert und die Anfänge unserer Flotte.

312

und — was vor Allem wichtig ist: die ganze Sorge für den wirthschaftlichen Betrieb der Armee kommt von dem Augenblick an in militärische Hand.

Man könnte einwenden, daß das ja im Frieden auch der Fall sei,

da ja in der Person des Kriegsministers sowohl, wie in der des Chefs des Oekonomie-Departements die militärische Hand auch in der Verwaltung

gesichert sei; ganz so liegt die Sache aber nicht, denn eine Freiheit des Handelns in Verwaltungs- und Verpflegungssachen

erhält ein Armee-

Befehlshaber erst mit der Mobilmachung und mit dem Ausrücken aus dem

Bereich seines Friedensquartiers; bis dahin waren die Grenzen des Etats bindend, und zwar in so einschränkender Weise, daß bis auf die Selbst-

bewirthschaftungsfonds der Truppentheile auch nicht über die kleinste Summe frei verfügt werden konnte.

Ganz anders verhält sich

die Sache mit dem Betrieb der Flotte.

Zunächst vollzieht sich der Haupttheil desselben immer außerhalb Landes,

und weil dies der Fall ist, deshalb ist er von Verhältnissen und Begeben­ heiten abhängig, die man nicht in der Hand hat, die aber von Tag zu

Tag auf den Betrieb einwirken, für ihn maßgebend sind, und ihn deshalb einer ewigen Veränderlichkeit preisgeben.

Diese Veränderlichkeit ist des­

halb die Grundlage des täglichen Lebens der Flotte; ihr muß in Allem,

was auf den Betrieb einwirkt, Rechnung getragen werden, und namentlich ist eine so vollkommene Trennung von Verwaltung und Commando wie

im Armeebetriebe nicht durchführbar.

als der bei der Armee so

Es ist das umsoweniger der Fall,

wichtige Unterschied

zwischen Friedens

und

Kriegszustand bei der Flotte fast ganz wegfällt, oder doch mindestens sehr

zurücktritt.

Ein

Bataillon

auf Kriegs- oder Friedensstärke sind

zwei

außerordentlich verschiedene Dinge; das Schiff ist im Krieg genau dasselbe, wie im Frieden; aber nicht allein seine Stärke und Ausrüstung sind die­

selben, sondern bis auf den durch den Krieg bedingten Gefechts-Akt ist auch seine Bewegung, Thätigkeit, täglicher Betrieb von ganz gleicher Art,

wie im Frieden.

Zieht man ferner in Betracht, daß das ganze Leben der

Flotte, vom Hafendienst abgesehen, außerhalb der Grenzen des Heimath-

landes seinen Schauplatz hat, so liegt auf der Hand, daß die Friedens-

Formen des Betriebes der Landarmee nicht passen,

und daß etwas in

diesem Fall allerdings „Fremdartiges" an die Stelle gesetzt werden muß.

Es scheint auch, daß man das Eigenartige nicht ganz verkannte, denn man

billigte die Schaffung eines Mittelgliedes, welches dazu dienen sollte, Rei­ bungen und Gegensätze auszugleichen, des Admiralitätsrathes.

Man hatte

aber entweder übersehen, vaß ein solches Mittelglied, selbst wenn es aus

unabhängigen, unbefangenen, und unparteiischen Räthen besteht, keine Macht

der Entscheidung hat, oder man hat dem Prinzen, der sich in seiner Noth-

Prinz Adalbert und die Anfänge unserer Flotte.

313

läge an den Strohhalm klammerte, pro forma ein Zugeständniß machen wollen.

Zu den Geschäften, die dem Admiralitätsrath zur „Berathung"

überwiesen wurden, gehörte auch die „Dislokation".

Vom Armeestand­

punkte ist die „Dislokation" im Frieden ein wichtiger Akt, der selbst für kleinere Truppentheile nur durch Allerhöchste Cabinetsordre unter Gegen­ zeichnung des Ministers verordnet werden kann.

Vielleicht ist es nicht

zuviel behauptet, wenn man sagt: es ist ein Akt, der wenn er im Frieden

zur Ausführung kommt, alle Faktoren der Staatsverwaltung in Mitleiden­ schaft setzt.

Unzweifelhaft ist die

örtliche Verschiebung

einer Division,

einer Brigade, eines Regimentes oder eines Bataillons eine im Frieden

nur unter außerordentlichen Umständen vorkommende Sache.

Daß das

Commando der in Dienst gestellten Schiffe und des gesammten Militär­

personals Sache des Oberbefehlshabers sei, erschien selbstverständlich; nach­ dem man aber zu einer grundsätzlichen Zweitheilung in allen Sachen ge­ schritten war, fühlte man, wie dem Verwaltungs-Chef das Heft aus der

Hand genommen werde, wenn „ Segelordres" dem Capitel der CommandoSachen einverleibt würden.

Und doch schien es auch nicht ganz richtig,

sie dem Commando zu entziehen, denn man fühlte durch, daß ein Flotten-

Commando

ohne Ertheilung

mando sei.

Doch da bot sich der vortreffliche Ausweg der Cabinetsordre,

der nothwendigen Segelordres kein Com­

und auf diesem Wege konnte ja die Mitwirkung, — weil Gegenzeichnung

— des VerwaltungS-Chefs nicht fehlen.

Aber eine Segelordre ist nun eben „Dislokation" und bedurfte einer vom Minister gegengezeichneten Cabinetsordre, und da jedes für sich gehende Schiff eine Segelordre erhielt, so wuchs mit der Vermehrung der Indienst­

stellungen die Zahl der Cabinetsordres, deren jede die Verständigung der beiden Behörden, Verwaltung und Commando, Ministerium und Ober-

Commando zur Vorbedingung hatte, und eö ist leicht zu ermessen, wie­ viel zu dem Ende geschrieben werden mußte, und geschrieben wurde.

Im

Lauf der Zeit gab es keine Anordnung irgend welcher Art, sei es aus persönlichem, sei es auf sachlichem Gebiet, die nicht der Vereinbarung be­

durfte, und wer es nicht erlebte, hält es für unglaublich, welche Briefmassen tagtäglich von dem in der Wilhelmsstraße belegenen Marine-Ministerium nach dem Leipziger Platz, dem Palais des Prinzen und vice versa beför­ dert wurden.

Es ist klar, daß Reibungen dabei nicht zu vermeiden waren;

mit solchen Reibungen wuchs auch die Abneigung gegen jede persönliche Verständigung, Meinungsverschiedenheiten mußte durch Cabinetsordres die Spitze abgebrochen, in allen Fällen aber dafür gesorgt werden, daß wenig­

stens der Jmmediatvortrag

nur ein einseitiger war,

weil

persönlicher

Widerstreit doch unmöglich in das Cabinet des Königs getragen werden Preußische Jahrbücher. 93b. LXIL Heft 4.

21

Prinz Adalbert und die Anfänge unserer Flotte.

314

durfte.

Dabei kam der Umstand zur Geltung, daß das Militär-Cabinet

ein unzweifelhaftes Organ des Kriegsministers, — bei der obwaltenden

Personal-Union also des Marine-Ministers ist, daß hier also unverkenn­ bar die spirituelle Oberbefehlshaberschaft in der Verwaltungsspitze ruhte, und daß sie von dieser ausgeübt wurde, ohne ihr nominell zu gehören, und

daß, was noch schlimmer war, die meisten Entscheidungen und Ausflüsse dieser Oberbefehlshaberschaft mit den Willensmeinungen des wirklichen Oberbe­ fehlshabers nicht übereinstimmten.

Noch immer klammerte sich der Prinz

an den Strohhalm des nie zusammenberufenen Admiralitätsraths, aber je mehr Werth er diesem vermeintlichen Aushülfemittel beizulegen suchte, desto geringere Neigung war auf der anderen Seite vorhanden.

Schließlich kam es

dahin, daß Wünsche der einen Seite ganz sicher waren, den Widerstand der

anderen zu finden, daß alle Anordnungen wichtigerer Art außerordentlich

langer schriftlicher Einleitungen und Besprechungen bedurften, daß dem thatsächlichen Obercommando jede Initiative verleidet wurde, und daß der an

der Küste befindliche Marine-Apparat, der den Geschäftsbereich einer mäßigen Armee-Division damals nicht überschritt, in ihrem nothwendigsten

Betrieb, persönlich und sachlich, von der Hand in den Mund lebte. Alle Anordnungen

auf dem Gebiet

des Materials,

wie In- und

Außerdienststellungen der Schiffe stehen mit denen des Personals in so

enger Wechselbeziehung, daß sie nicht zu trennen sind; sie sind das auch in

Friedenszeit, — ja, man kann sagen: gerade in Friedenszeit, — der sich

fortgesetzt geltend machende MobilmachungSakt.

Im Gefühl, daß eine In­

dienststellung eine Art Mobilmachung sei, die selbst im kleinsten Umfang von Rücksichten deS Staatshaushaltes abhing, daß man die Verfügung

darüber also nicht einer ganz außerhalb des Verwaltungsapparats stehen­ den Commandobehörde überlassen könne,

Jmmediatvorlrag

deS

wurden Indienststellungen auf

Verwaltungs-Chefs durch Cabinetsordre verfügt.

Zuweilen pflegte man vor dem Jmmediatvortrag die Commandobehörde

zu verständigen, d. h. man setzte sie in Kenntniß, zuweilen auch nicht. Vom Avmiralitätsrath war dabei in keinem Fall die Rede, und seltsamer Weise glaubte man für die Außerdienststellung eines Schiffes nicht ein­

mal der Königlichen Unterschrift zu bedürfen, denn man verfügte dieselbe

in der überwiegenden Mehrzahl der Falle Kraft eigenen Amtes.

Daß

auch dafür der Verwaltungs-Chef sich deS Allerhöchsten Einverständnisses

versichert hatte, unterliegt ja keinem Zweifel, aber eS war nicht konsequent

in der Form. Waren unter solchen Verhältnissen die Reibungen an der Tagesord­ nung, so kam auf die Dauer noch der weitere Uebelstand hinzu, daß dem immer

mächtiger werdenden Verwaltungsapparat die selbstständig— oder dem Namen

Prinz Adalbert und die Anfänge unserer Flotte.

315

nach selbstständig dastehende Commandobehörde unbequem und hinderlich

werden mußte.

Die Verschiedenheit der Anschauungen wurde von Jahr

zu Jahr größer, die Gegensätze schroffer.

Wer in der Ausführung seiner

Pläne nicht behindert sein will, muß den Anderen über Richtung

und

Ausdehnung derselben im Dunkeln lassen, denn daS macht ihn unfähig, sie zu stören; nur fehlte dazu die Berechtigung, und der zum wenigsten

auf dem Papier vorhandene und vorgeschriebene AdmiralitätSrath wirkte als stille Mahnung.

Zur Behandlung der JndienststellungSfrage trat noch

Schwierigkeit, die Betheiligung deS Auswärtigen Amts.

eine andere

Die allmähliche

Vergrößerung der Marine konnte sich natürlich nicht ganz im Stillen voll­ ziehen.

Jedes Schiss mehr, daS sich auf dem Ocean zeigte, vergrößerte

die Ansprüche und HülfSrufe der Consuln, denen man anfangs möglichst

Zähigkeit gegenübersetzte, die man aber doch nicht ganz uuberücksichtigt lassen konnte.

Der Deutsche im AuSlande begann, an daS „Civis Ro­

manus sum“ zu glauben, und auf die Dauer hielt man eS doch für nöthig, dieser wachsenden Zuversicht Nahrung zu geben.

Auf diesem Ge­

biet nun entdeckte man, daß man sich da mit ganz plötzlich und vereinzel: auftretcndcn Ansprüchen abzufinden habe.

Die südamerikanischen Repu­

bliken wollten sich in ihren Parteikämpfen nicht kontrolliren lassen, ihre Programme sind unberechenbar, mithin auch die etwa nothwendige Hülfe,

die man seinen Staatsangehörigen dort angedeihen läßt.

Solche Ver­

hältnisse erforderten nicht selten Indienststellungen aus dem Stegreif.

Es

war zuweilen schwer, ihre Kosten aus dem gewöhnlichen Indienststellungs­ fonds zu decken, und ebenso schwer war eS mitunter, den persönlichen

Anforderungen unbeschadet des gewöhnlichen Betriebes gerecht zu werden. Es liegt dem Verfasser dieser Schrift fern, auS den hier gegebenen Schilderungen bestimmten Personen einen Vorwurf zu machen, oder deren

Beweggründe in Zweifel zu stellen.

Derselbe glaubt vielmehr, daß Alle,

insbesondere die höchst- und höher stehenden nur ihrer aufrichtigen Ueber­

zeugung gefolgt sind.

Ein nicht zu leugnender Borwurf erwächst nur

dem falschen, ja, man kann sagen dem verderblichen System.

Zwischen

einem System, welches den Oberbefehl der Armee in die Hand des Königs,

ihrer Theile

in die der Corpsführer die Verwaltung derselben in die

Hand eines mit den Faktoren der Staatsverwaltung zusammenhängenden Ministers legt und einem System, welches zwei untrennbare Lebensadern

deS Flottcnbetriebes der getrennten Handhabung zweier Behörden über­ antwortet, ist ein gewaltiger Unterschied. so sehr im Geldsäckel,

Nirgend liegt der Schwerpunkt

als wenn ein Betrieb unregelmäßig auftretenden

überseeischen Bedürfnissen gerecht werden muß; und wo der Schwerpunkt 21*

Prinz Adalbert und die Anfänge unserer Flotte.

BIG

liegt, da wächst das Machlbedürfniß, und muß dahin streben, Hindernissen, die sich ihm entzegenstellen, zu beseitigen, mögen Rücksichten der Etikette das erschweren oder nicht.

Aber ganz abgesehen von den Rücksichten auf die Person des Ober­

befehlshabers, waren die Hindernisse in der That nicht geringer Art.

In

der Hand des Oberbefehlshabers, mochte dies nur ein Name sein, oder nicht, lag auch daS Amt eines General-Inspekteurs. In welcher Art es sich machte, daß dem Ober-Commando eine selbst­ ständige, jeder Zeit vernehmbare Stimme im Cabinet entzogen war, ist oben geschildert.

spekteurs".

Nicht so leicht zu beseitigen war die Stimme des „In­

Denn als solcher ist er berufen das unmittelbare Organ des

Monarchen zu sein,

und er hat die Pflicht,

seine Beobachtungen und

Eingedenk dieser

Meinungen auf direktem Weg zur Sprache zu bringen.

Thatsache hat man dann auch später, als der Prinz, des Kampfes müde, daS Ober-Commando dahin abgab, wo es nach seiner Meinung hingehörte,

eine Aenderung gemacht, und ihm das Amt der General-Inspektion mit der

Clausel belassen,

daß seine Beobachtungen sich

nur

darüber

zu

äußern hätten, ob der Betrieb in Einklang mit den „Bestimmungen" sei.

So wie die Sache damals lag, bildeten die Jnspektionsberichte den Ablagerungsort aller entgegenstehenden Meinungen, die man an Aller­

höchster Stelle zur Sprache bringen wollte.

Es wurde nicht viel damit

gewonnen, denn die Berichte gingen an den Minister zur Aeußerung und

die endgültige Wirkung und Entscheidung waren fast immer abweisend; kein Wunder, da das Concept der bezüglichen Cabinets-Ordre nicht im Cabinet, sondern im Marine-Ministerium verfaßt wurde.

Daß die zwischen den beiden Behörden obwaltende Spannung zu­ weilen Bemängelungen zu Tage brachte, die als solche besser unterblieben

wären, unterliegt keinem Zweifel.

Damit steigerte sich die Spannung,

und das hatte wiederum die Folge, daß Dinge, die wohl Berücksichtigung verdienten, grundsätzlich abgewiesen wurden.

Um ein Beispiel zu erwähnen, spielte in dieser Beziehung eine her­

vorragende Rolle das damals sogenannte Swinemünder Trockendock. Zu einer Zeit, wo Kiel der Flotte noch nicht zur Verfügung stand, hatte man Einleitung getroffen, unter Berücksichtigung der Stettiner Rhe­

derei,

in Swinemünde einen

Dockbetrieb herzurichten.

Als Kiel aber

Kriegshafen wurde, hielt der Prinz es für eine dringende Nothwendigkeit, die Verlegung des Dockes an diesen Ort in Aussicht zu nehmen. Immer von Neuem und in jedem Jahr wurde die Sache in den Jnspicirungs-

berichten zur Sprache gebracht, wiesen.

aber

mit derselben Consequenz

abge­

Wie wenig die Abweisung begründet war, geht daraus hervor.

Prinz Adalbert und die Ansänge unserer Flotte.

317

daß die Verlegung später doch, und zwar noch zu einer Zeit erfolgte, wo die steinernen Docks im neuen Hafenbassin zu Kiel schon zur Verfügung

standen.

Als sie in Gebrauch kamen wurden Stimmen laut, man möge

nunmehr das Schwimmdock wieder nach Swinemünde nehmen,

aber bis

zum heutigen Tag hat eine entschiedene Meinung dafür nicht zur Geltung

kommen können, ungeachtet des Umstandes, daß das Bassin, in welches

das Dock gebracht werden muß, wenn es einen neuen Anstrich erhalten

soll, sich in Swinemünde befindet.

Wiederholt ist das Dock behufs neuen

Bodenanstrichs dorthin genommen, niemals aber in Swinemünde belassen,

sondern immer nach Kiel zurückgenommen worden.

Nachdem

der Zustand der Reibung. zwischen den beiden Behörden

einmal dauernd geworden war und der nothwendige Einfluß auf Commandosachen dadurch zu schleppend und schwerfällig wurde, half man sich,

ohne es gerade auszusprechen,

dadurch, daß man sich im Schooße des

Ministeriums eine eigene Commandobehörde schuf.

Das geschah durch

eine Abzweigung der bereits vorhandenen Central-Abtheilung.

Es läßt

sich nicht anders sagen, als daß diese neuentstehende Unterbehörde, was

das Nautische anbelangt, von einer tüchtigen Kraft geleitet wurde.

Die

rein militärischen Sachen fanden nicht so gute Vertretung, denn es wur­

den Personen dazu herangezogen, denen die volle Kenntniß des Grund und

Bodens, auf dem sie sich befanden, abging.

Daß an der Spitze der Ab­

theilung eine so tüchtige Kraft stand, war aber nicht einmal als ein Vor­

theil anzusehen, denn es wurden dadurch sowohl die Initiative des Mi­ nisters, der sich

ohnehin

mit den Einzelnheiten

nicht viel beschäftigen

konnte, wie die des Direktors in den Hintergrund gedrängt; der Letztere war ohnehin immer nur halb orientirt, weil ja die Berichte und Eingaben der Commandos an den Küstenorten und von den Schiffen nicht an ihn,

sondern an den Oberbefehlshaber gingen.

Daraus erwuchs als weiterer

Uebelstand, daß ein den wirklichen militärischen Jnstanzenzug umgehender

Schriftverkehr hervorgerufen wurde, der keineswegs dazu angethan war,

der Spannung zwischen den oberen Behörden Abbruch zu thun. Wie daö System im Krieg arbeitete, darauf wird man zurückkom­ men müssen; wie es im Frieden wirkte, ist wohl genügend angedeutet,

und wenn man in Betracht zieht, daß für Armee und Flotte die Friedens­ arbeit immer nur die Vorbereitung zum Kriege ist, so liegt eine Schluß­ folgerung nahe. Die Entwickelung jener Friedensthätigkeit lag hier klar am Tage;

sie konnte Niemandem entgehen, der sie sehen wollte.

Bon allen Wir­

kungen die schlimmste bestand darin, daß die Maxime, wonach in einem dem Schutz und Trutz deö Landes bestimmten Gemeinwesen der Oberste

Prinz Adalbert und die Anfänge unserer Flotte.

318

befehlen und leiten, der Untergebene gehorchen und willig folgen soll, all­

mählich, wenn auch unwissentlich,

gefährdet wurde.

Es komzte auf die

Dauer nicht fehlen, daß die Spannung in den oberen Sphären der Flotte

einzelnen Angehörigen derselben bemerkbar wurden; die

jedem

zwischen

Wilhelmstraße und Leipziger Platz obwaltenden Meinungsverschiedenheiten wurden in den Schiffsmessen bei den Antipoden und in den Casinos der

heimischen Häfen besprochen; daß die Mehrzahl das Marine-Ministerium

als die im letzten Ende obsiegende und jedenfalls an Macht überlegene Partei ansah, war kein Wunder, und mochten die militärischen Autoritäten

den Satz:

„die Disciplin der Offtciere sei die der Flotte", auch noch so die geschilderten Verhältnisse rüttelten daran.

sehr betonen,

Man ge­

wöhnte sich von jeder Maßregel, jeder Reform, jeder Anordnung das Pro und das Contra zu erwägen, denn daß an dem Thun und Lassen des

Oberbefehlshabers in Berlin vom BerwaltungSressort scharfe Kritik geübt wurde,

wußte man und fühlte das Bedürfniß, den eigenen Standpunkt

festzustellen.

Es ist nicht zuviel behauptet, daß dadurch in dem Jahr­

zehnt 60/70 — wohlverstanden unwillkürlich — der Keim einer „Fronde"

großgezogen wurde, der auf die Leistungen der Flotte nicht anders als übel einwirken konnte. Wo das Leben, der Betrieb, die Verwaltung einer Flotte von täglich wechselnden Anforderungen abhängt, dürfen Verwaltung und Commando

in der Spitze nicht getrennt sein.

Sind sie eS, so entsteht trotz besten

Willens auf beiden Seiten, ein gewisses Mißtrauen einseitigen Interesses.

Wo immer sich Mängel zeigen,

werden sie einseitig beurtheilt.

einem Unglücksfall mangelnde Seetüchtigkeit des Schiffes

Führung schuld sei, wird nie entschieden.

oder

Ob bei schlechte

Ob ein Dampfschiff schnell oder

langsam fährt, ist ein Problem, dessen Lösung naturgemäß in der Hand

der Commandobehörde liegen sollte, aber nicht liegt,

vierfache Aufwand Ranges.

denn der drei- bis

an Brennmaterial ist eine Verwaltungsfrage ersten

Nur wo sich in diesen Dingen ein drittes maßgebendes Element

einstellt, wie im Oberrechnungshof, da ist Gelegenheit zur Einmüthigkeit,

die sich dabei

auch manchmal

geltend macht.

Wer zeitweise über das

Ganze verfügt, aber nur für einen Theil die dauernde Verantwortlichkeit

hat, kommt leicht in den Verdacht, den Theil des Anderen leicht zu nehmen,

und wo er ihn nicht leicht nimmt, tigter Einmischung.

kommt er in den Verdacht, unberech­

Verfolgt man alle die Stadien, die ein Schiff durch­

zumachen hat, von der Kiellegung bis zum Gefechtsakt, so ist es schwer,

die beiderseitigen Interessen der Thätigkeit scharf getrennt zu halten. Ver­

einbarung, namentlich schriftliche,

führt selten zu

einem befriedigenden

Ziel; in vielen Fällen ist Jeder geneigt, nachzugeben, fühlt aber die Un-

Prinz Adalbert und die Anfänge unserer Flotte.

319

zuträglichkeit des Kompromisses, der nirgends übeler angebracht ist, als in militärischen Dingen.

Mancher Leser

wird es

seltsam finden, daß diese Dinge hier mit

solcher Breite behandelt werden, denn sie gehören ja einer längst vergan­

genen Zeit an,

und seit Jahren besitzt die Marine eine Einrichtung,

mittelst deren alle jene Uebelstände beseitigt sind; das

ist richtig;

man

irrt aber, wenn man glaubt, daß es nicht doch noch Befürworter des Alten gäbe.

Sie vergessen, daß der Schöpfer jener alten Einrichtung,

jener Zweitheilung in Marine-Ministerium

und Ober-Cvmmandv, der

Minister von Roon, von der Unhaltbarkeit derselben Ueberzeugung ge­ wann und mittelst des bekannten Regulativs vom 15. Juni 1871 selbst Jenes Regulativ legte den Grund zu der

die Axt an die Wurzel legte.

Einrichtung, wie sie in der Admiralität noch heute besteht, nur in anderer

Form, weil mit den damals vorhandenen Personen gerechnet werden mußte. Als der Minister die lagen die

Erfahrungen

hinter ihm.

des

verhängnißvolle Zweitheilung beseitigte, da

Französisch-Deutschen Krieges

unmittelbar

Nach Allem, was schon erwähnt ist, darf man wohl fragen,

wie das System sich im Kriege gestaltet und bewährt hatte.

Zu seinen Gunsten läßt sich von vornherein sagen,

daß es für das

Kriegsverhältniß wenigstens eine vorzügliche Eigenschaft besaß, das soge­

nannte „unbeschränkte Requisitionsrecht" des Oberbefehlshabers gegenüber

den Werften.

Weil aber das mangelnde Einvernehmen in den Spitzen

damit nicht beseitigt, zuweilen sogar verschärft wurde, so war damit nicht allzuviel gewonnen.

Im Dänischen Krieg wurde die ganze Organisation

zum erstenmal auf die Probe gestellt.

einseitiger Interessen gesagt wurde,

Was vorher von dem Ueberwiegen

fand seine

erste Illustration in der

Mission einer kleinen Flottille, die im Herbst des Jahres 1863 nach dem Mittelmeer ging.

Als Commandofahrzeug diente das von der Marine

übernommene frühere Postdampfschiff „Preußischer Adler".

Dasselbe hatte

alte Dampfkessel, die aber — bei der nöthigen Schonung — noch einige

Dienstdaner versprachen.

Die Cvmmandvbehörde fand

eö nicht ange­

messen, ein Dampfschiff mit nur bedingt kriegstüchtigen Kesseln auf eine so weite Expedition zu

schicken; die Verwaltungsbehörde meinte, man

könne, da ein Krieg nicht bevorstände, die Rücksicht der Wirthschaftlichkeit

doch

nicht ganz außer Augen setzen,

meer mit alten Kesseln.

und der „Adler" ging ins Mittel­

Wie er während des mittlerweile ausgebrochenen

Krieges im Frühjahr zurückkam, und am Gefecht bei Helgoland theilnahm,

ist den Zeitgenossen bekannt.

War man mit den Leistungen des Schiffes

zufrieden, so war das sicherlich Dampfkessel.

nicht die Schuld oder das Verdienst der

Prinz Adalbert und die Anfänge unserer Flotte.

320

Der Fall ist nicht ohne Interesse,

weil er zeigt, wie

eng

und

in

welcher Form Friedens- und Kriegsthätigkeit mit einander in Verbindung

stehen.

Selbst das für den Krieg vorgesehene „unbeschränkte Requisitions­

recht" hatte für einen Fall dieser Art gar keinen Nutzen. Noch deutlicher kam die Einseitigkeit der Richtungen zum Ausdruck,

als es sich um die Vorbereitungen für den wirklich bevorstehenden Krieg

handelte.

Schon in der ersten Hälfte des December 1863 zeigten sich

Dänische Corvetten vor Swinemünde.

Nach den Aeußerungen des Ma­

rine-Ministers glaubte man den ersten Kanonenschuß an der Schley oder Eider etwa den

21. desselben Monats erwarten zu sollen.

Der einzige

damalige Kriegshafen war Danzig, und die wesentliche Vorbereitung für

den Schutz der Küste bestand darin,

daß man zwei Schiffe von Danzig

nach Swinemünde „dislocirte" — man bediente sich

damals schon gern

militärischer Ausdrücke, — und daß man diese nicht etwa in Dienst stellte,

sondern daß man ad hoc ein sogenanntes Verhältniß der Kriegsbereit­

schaft herstellte, d. h. also ein Verhältniß, bei dem ein Theil der Mann­ schaft des Präsenzstandes wohl zur Stelle war, aber ohne Schiffsverpfle­ gung und — was die Hauptsache war — ohne wirklichen Kriegsschiffs­

betrieb.

Die zur Vervollständigung der Besatzungen nöthigen Reserven

wurden erst im

darauf folgende Februar eingezogen, weil eine Blokade

voraussichtlich doch nicht

vor dieser Zeit eintreten könne.

Daß man eS

in jener Zeit mit Reserven zu thun hatte, die überhaupt noch keine Dienst­

zeit durchgemacht, kam nicht in Betracht, und man verließ sich darauf, daß die dem

Deutschen

Seemann innewohnende Gelehrigkeit das

ä tempo ersetzen würde.

Fehlende

Dabei waltete als Präses des Marine-Ministerii

ein erfahrener in den Gepflogenheiten der alten Preußischen Armee ausge­ wachsener hoher

Officier.

Als Jachmann den

17. März 1864 seine

Schiffe gegen die Dänische Eskadre des Admiral van Dokkum führte, da bestanden seine Besatzungen zum großen Theil aus solchen vor etwas mehr

als Monatsfrist neu eingezogenen Reserven, die in Folge des damaligen

Ersatzsystems noch keinerlei militärische geschweige denn artilleristische Vor­ bildung genossen hatten. Ganz ähnlich lag die Sache mit der Indienststellung einer gar nicht unbedeutenden Flottille von Dampfkanonenbooten

und

einer ebensolchen

von Kanonenschaluppen, welche letztere noch aus der 48er Zeit vorhanden

waren; sie sollten in den Binnengewässern von Rügen Verwendnng finden. Um alle die Fahrzeuge zu besetzen brauchte man eine große Menge von

Matrosen und Maschinen-Personal.

Die Dampfkanonenboote waren mit

gezogenen Kanonen bewaffnet, deren Bedienung, Geschick, Sachkenntniß und Uebung forderte.

Die Commandobehörde drang

auf baldige Jndienst-

Prinz Adalbert und die Anfänge unserer Flotte.

321

stellung; eine solche wurde aber von der Verwaltung auS wirthschaftlichen Gründen beanstandet; die Taselgelder der Officiere und die volle Schiffs­ verpflegung der Mannschaften mit dem Aufgehen der Schiffahrt eintreten

zu lassen,

schien zeitig genug; bis dahin legte man diese neueingezogene

Masse von Kauffahrtei-Matrosen zu Stralsund in Bürgerquartiere; man

behalf sich bis zur Einschiffung mit einer ad hoc hergestellten CompagnieEinheilung,

und

mit einer Art von militärischer Vorbildung oder Be­

schäftigung; das hatte nicht geringe Schwierigkeit, denn die Mehrzahl der

Officiere bestand aus ebenso neueingezogenen jungen Schiffern und Steuer­ leuten, denen Militärverhältnisse und Kriegschiffsdienst vollkommen fremd war.

Es dauerte nicht lange, so remonstrirte der Magistrat von Stral­

sund beim Marine-Ministerium

Matrosen.

über das lärmende Betragen der vielen

Die Verwaltungsbehörde hielt das für eine wesentliche Com-

mandosache und übersandte die Klage dem Oberkommando, als zukünftigen

Hauptquartier der noch in Dienst zu stellenden Seestreitkräfte, und diese

Behörde hatte natürlich nichts weiter zu thun, als die Klage für voll be­ rechtigt zu halten, und von Neuem auf baldige Indienststellung der See­ streitkräfte zu dringen.

Das war zu einer Zeit, wo Dänische Kriegschiffe

schon seit zwei Monaten die Küste unsicher machten, wo der Uebergang

bei Missunde die Räumung des Dannewerks und die Gefechte um Oeversee schon weit zurückliegende Ereignisse waren.

Die Dänen waren uns zur See weit überlegen, und es mußte dar­ auf gesonnen werden. Alles zu bewaffnen, was sich irgend bewaffnen ließ;

als Commandofahrzeug des Oberbefehlshabers sollte die „Grille" dienen, der jede Bewaffnung fehlte; eine solche wurde beantragt)

aber von der

Verwaltungsbehörde aus technischen Rücksichten Einspruch erhoben.

Man

behalf sich damit, auf die Indienststellung und daS „unbeschränkte Requi­

sitionsrecht" zu warten; unter der Hand erfuhr man, daß auf der Dan­ ziger Werft noch gezogene 12-Pfündcr vorhanden seien; man „requirirt"

sie, dazu auch noch einen Schiffbautechniker (Hildebrandt) und die Armirung

ging von

statten.

So

wenig

Bedeutung den „Gefechten"

der

„Grille" beizulegen war, machten sie doch viel Redens zu einer Zeit, wo man vom Widerstand gegen die Dünnen zur See so wenig zu erwar­

ten hatte.

Ein Charakterzug der damaligen Marine-Verwaltung war nothwen­ diger Weise auch der,

daß man sich nicht leicht entschloß, zu außerge­

wöhnlichen Maßregeln zu greifen.

So war die Dampfcorvette „Danzig"

im vorangehenden Herbst meistbietend verkauft worden, weil sie einer Grundreparatur bedurfte,

die einem Neu-Aufbau fast gleichkam.

Käufer war ein Schotte,

der nach

nunmehr eingetretenem Krieg,

Der

das

322

Prinz Adalbert und die Anfänge unserer Flotte.

Schiff, welches noch in Danzig lag, der Marine wieder zum Rückkauf anbot.

Bom rein militärischen Standpunkt schien die Sache troß mancher

Verwaltungs-Bedenken annehmbar; man scheute sich aber vor einer Maß­

regel, können,

die der Verwaltung später unliebsame Rückfrage hätte verursachen

und der Kauf unterblieb.

Das Schiff ging noch während des

Krieges unter Englischer Flagge in See, wurde von der Japanischen Rerung angekauft, dort als Kriegschiff verwandt und ging nach einer Reihe von Jahren durch eine Pulver-Explosion zu Grunde.

Es ist mindestens

zweifelhaft, ob die Dänen sich erlauben durften, wie geschehen, die Weich­

selmündung mit so geringen Kräften zu blokiren, wenn eine Corvette von

der Armirung der „Danzig" von Neufahrwasser aus in Verbindung mit der „Bineta" gedroht hätte. So machte der gewohnte Zwiespalt der Meinungen sich bis in den

Krieg hinein geltend.

sich

Das unlängst erschienene Generalstabswerk befleißigt

einer sehr wahrheitsgetreuen und objektiv gehaltenen Erzählung der

Thatsachen auch auf maritimem Gebiet; daß die Preußen unter Jachmann am 17. März mit Bravour bei Jasmund, die Oestreicher unter Tegethoff

den 9. Mai bei Helgoland schlugen, daß der vielverschrieene Hammer ge­ fangen wurde, daß in der Ostsee noch einige kleine Scharmützel vorfielen,

wird sachgemäß berichtet; wer aber fragen würde, welche strategische Com­ binationen dem Verhalten der verbündeten Mächte zur See denn eigent­ lich zu Grunde lagen, erhält keine Auskunft; eine Cooperation der Flottille

wurde ungeachtet der Warnungen des General von Moltke bez. der Ver­

wendung der ihm ungenügend scheinenden Seestreitkraft für den bei Ballegaard beabsichtigten Uebergang nach Alsen gefordert.

Da es nicht an­

gängig schien, die beiden Befehlshaber zur See und zu Lande in direkte Beziehung zu setzen, so schrieb der Prinz Friedrich Carl dringende Briefe

an den Marine-Minister und dieser konnte von Berlin aus, dem Befehls­

haber der Seestreitkräfte nur Vorschläge machen.

Daö that nichts zur

Sache, kennzeichnet aber den Charakter des Geschäftsganges. Merkwürdiger Weise war auch

dem Hauptquartier in Schleswig nicht ein

mit dem

Scebefehlshaber in Beziehung stehender Seeofficier, sondern ein der Ver­

waltung, dem Marine-Ministcrio angehöriger, beigeordnet worden.

Da

der Armee-Befehlshaber seinen Briefverkehr an den Kriegsminister richtete, der ja auch Marineminister war,

Stabes

mit

so mußte ein direkter Verkehr seines

dem Seebefehlshaber natürlich

seine Schwierigkeit haben,

was sich im Falle Ballegaard auch geltend machte. Dem Seebefehlshaber wurde das Verlangen gestellt, mit der Dampf­ kanonenboot-Flottille nach den Gewässern von Alsen zu kommen, um beim Uebergang von Ballegaard behülflich zu sein.

Dabei waren, was in der

323

Prinz Adalbert und die Anfänge unserer Flotte.

Armee-Pragmatik sonst nicht zu geschehen pflegt, zwei vor allem Anderen

wichtige Dinge übersehen.

Entweder sprach man es nicht aus, oder man

hatte es sich nicht klar gemacht, welcher Art denn eigentlich die Hülfcleistung

sein solle, ob sie im Truppentransport bestand, oder ob sie als Deckung

gegen feindliche Seestreitkräfte dienen Standpunkt

des Seebefehlshabers zu

solle, und sodann ließ man den

sehr

außer Acht

und

betrachtete

die Hülfeleistung bei der Armee-Expedition als Hauptaufgabe der Flottille. Für den Seebefehlshaber lag aber der Hauptgesichtspunkt wesentlich an­ ders.

Der ihn

bewachenden

feindlichen

Streitmacht

lag nicht außer dem Bereich der Möglichkeit; dem

heutigen Dampfbetrieb und

nicht naheliegend,

entschlüpfen,

in so engen räumlichen Verhältnissen

und es wäre ein Fehler gewesen, sie als bestimmten

Faktor in Rechnung zu ziehen. lich sein,

zu

eine solche ist aber bei

Die ungünstige Jahreszeit konnte förder­

und daraufhin wurden dann auch alle Dispositionen getroffen,

man verhehlte sich aber nicht, daß die Ueberwältigung überlegenen feind­

lichen

Widerstandes beim

Auge zu fassen blieb.

Auslaufen

immerhin

als Hauptaufgabe

ins

Daß unsere Haupteskadre — wenn man die bei­

den Schiffe „Arcona" und „Nymphe" mit einem so hochklingenden Namen

belegen dürfte, in Swinemünde auf Wache blieb, war wichtig.

Ein Theil

des Dänischen Geschwaders war damit gebunden, und daß „Vineta" sich noch in Danzig befand,

denn

war für den Augenblick auch

nicht ungünstig,

ihre Bewachung beanspruchte ebenfalls einen Theil der Dänischen

Seestreitkraft. Dampf-Flottille

Unter Benutzung der Peene versammelte man daher die bei Wittow-PosthauS im Westen Rügens,

um von da

via Fehmarn die Gewässer von Alfen zu erreichen.

Heute klingt es fast unverständlich, und doch ist es nicht in Abrede zu stellen, daß man bei der Flottille und im Stabe derselben lediglich von

der Absicht eines Ueberganges nach Alfen informirt war, denn darüber

lag ein diskret gehaltener Brief des Marine-Ministers vor. Einzelheiten der Rolle,

Ueber die

die man der Flottille dabei zugedacht hatte, lag

nicht daö Mindeste vor, ein neuer Beleg, welche Schwierigkeit man darin

fand, die exakte Pragmatik auch auf das Seewesen zu übertragen.

„Da

bekanntlich das Waffer nicht

unser Element ist rc. rc.", so

lautete der Eingang der Denkschrift, welcher eine Anzahl berufener Officiere dem König Friedrich Wilhelm IV.

Denkschrift hat sicher nicht daran gedacht,

vorlegte.

Der Verfasser jener

welch' tiefe Wahrheit das un­

bedachte Wort enthalten sollte; und doch hat es sich bei der ersten KriegSprobe bestätigt. Der Drahtruf des Prinzen Friedrich Carl kam, als die Kanonen­ boote mit ihren gebrechlichen Maschinen sich kaum vor ihren Ankern hiel-

Prinz Adalbert und die Anfänge unserer Flotte.

324

ten, eine Frist von 24 Stunden war als unumgängliche Bedingung gestellt, und damit war die Fahrt außer aller Frage,' und zwar in verneinendem

Sinne. Ueber das Unterbleiben der im Hauptquartier der Armee so heiß

e. sehnten Hülfeleistung sind mancherlei Betrachtungen angestellt worden; sic - waren

dem Prinzen Adalbert nicht

immer

günstig,

und doch

lag

seinerseits vielleicht nur darin ein Fehler, daß er des zu bethätigenden

guten Willens halber den Gedanken jener Hülfeleistung nicht von vorn­ herein von der Hand wies.

Inwieweit man

berechtigt ist,

in

den

Kriegsläuften

auf „gutes

Glück" contra geschäftsmäßiger Berechnung zu bauen, zeigt das Verfahren der Armeeleitung,

als man den Verdacht schöpfte,

dem Plan unterrichtet.

Plan auf;

die Dänen seien von

Trotz der umfassenden Vorbereitung gab man den

und für die Armee war der Versuch eines Ueberganges bei

Ballegaard nur ein Unternehmen, welches,-wenn es in seinen Anfängen gelang, ganz gelingen konnte; gelang es in seinen Anfängen nicht, so

waren diese mit einigen Verlusten abgethan und von der Hauptsache Ab­

stand zu nehmen.

Nicht so bei der Flotte; dort war der Beginn des

Unternehmens ein Wagstück, das entweder ganz glücken,

nichtung führen mußte.

im Osten der Insel Rügen nicht beachten würden, Insel vorging,

oder zur Ver­

Die Hoffnung, daß die Dänen schlafen und was im Westen der

wäre allenfalls gerechtfertigt gewesen, wenn man Fahr­

zeuge hatte, die den Dänischen Schiffen an Schnelligkeit überlegen waren. Das waren sie nicht allein nicht,

sondern — Dank der wirthschaftlichen

späten Indienststellung — waren die Maschinisten noch kaum auf eine

sichere Behandlung jener gebrechlichen Hochdruckmaschinen eingeübt.

die Dänen ihre Flotte im November mobil machten werk) geschah das unsererseits im Februar.

Wo

(cfr. Generalstabs­

Dem Geschwader in Swine-

münde war es nicht möglich, die in Danzig liegende Vineta an sich heran­ zuziehen,

und doch waren dafür immer noch mehr Aussichten, als für

eine unbemerkte Ueberführung der Flottille nach der Alsener Föhrde, und in der That ist das auch vom General von Moltke dem Marine-Minister gegenüber sehr deutlich ausgesprochen worden. Was in der officiellen Berichterstattung trotz aller WahrheitStreue nicht deutlich zum Ausdruck kommt, ist der Umstand, der allein und vor

Allein die Schuld trug, jede sachgemäße Seeunternehmung gegen Däne­ mark von vornherein brach zu legen.

Das war der — wahrscheinlich

durch die drohende Haltung Englands herbeigeführte — Mangel des Zu­ sammenwirkens der beiderseitigen Secstreitkräfte der Verbündeten. Die Ge­

fangennahme Hammer's und die Wegnahme einiger Ruderschaluppen sollen

325

Prinz Adalbert und die Anfänge unserer Flotte.

nicht unterschätzt werden; indeß: wenn von Seeunternehmungen die Rede

ist, so machte Tegethoff's Kampf bei Helgoland im Wesentlichen den Ab­

schluß Oesterreichischer Seeunternehmungen in der Nordsee. Die Dänischen Schiffe räumten ihnen dort das Feld, und brachten den Dänischen Streit­

kräften in der Ostsee so starken Zuwachs, daß dem Preußischen Geschwader jede Aussicht auf glückliche Unternehmungen schwinden mußte.

Es wurde damals geltend gemacht, daß

die Nordsee erst bei den

eigentlichen Dänischen Inseln Fünen und Seeland ihre Grenze habe und

daß das Kattegat noch mit zur Nordsee zu rechnen sei; vom Oesterreichischen Admiral wurde das — soweit der Verfasser dieser Schrift unterrichtet ist

auch anerkannt, und in Folge dessen im Hauptquartier zu Swinemünde die Hoffnung wachgerufen, daß man auf ein Erscheinen des Oesterreichischen

Geschwaders im Kattegat rechnen könne.

Da eine gegentheilige Absicht

nicht ausgesprochen wurde, so war die Hoffnung nicht allein berechtigt,

sondern es mußte nach

allen Grundsätzen

einiger

der Kriegskunst mit

Bestimmtheit darauf gerechnet werden. So wollte es der Zufall, daß der Prinz sich mit dem Swinemünder

Geschwader zu einer Rekognoscirungsfahrt in See befand, als ein Schrei­ ben des Oesterreichischen Admirals eintraf des Inhaltes, er sei im Be­

griff, von Cuxhaven Nordwärts in See zu gehen. halte sich

Die Dänische Eskadre

in jenem Augenblick verhältnißmäßig weit

von Swinemünde

entfernt, und das gerade vorherrschende böige Wetter ließ einen Vorstoß

auf die Blokadeschiffe vor Danzig nicht ganz aussichtslos erscheinen.

Ob­

gleich wenig wahrscheinlich, war es doch möglich, daß der Oesterreichische

Admiral Wüllerstorf in demselben Augenblicke die ernstliche Absicht hatte auf

die über die äußerste Nordseegrenze stattgehabten Erörterungen eine Probe zu machen, und bis das festgestellt sei, hielt der Prinz sich gebunden, am

Orte zu bleiben.

Es stellte sich aber heraus, daß der Brief des Oester­

reichischen Admirals keinen andern Zweck hatte, als den der Erfüllung eines Versprechens,

welches er bald nach

seiner Ankunft gegeben,

deS

Versprechens nämlich, den Befehlshaber in der Ostsee über die von ihm vorzunehmenden Bewegungen auf dem Laufenden zu erhalten.

Da eine

solche Versprechung nur Werth haben konnte im Sinne des Zusammen­

wirkens, da ein solches im vorliegenden Falle aber gar nicht beabsichtigt war, so wäre es unter den Umständen, wie sie sich gerade gestaltet hatten, besser gewesen den Brief nicht zu schreiben.

Eine Betrachtung, ob daS

vom Prinzen geplante Unternehmen in der Richtung von Danzig zweck­ mäßig oder rathsam war, ist gleichgültig; die Aussicht auf ein glückliches

Gelingen war nur gering, aber doch nicht ganz ausgeschlossen, und wo

einer Streitmacht ein so geringes Maß von Aussichten vergönnt war, da

Prinz Adalbert und die Anfänge unserer Flotte.

326

konnte es um so weniger erwünscht fein, Unternehmungs-Gedanken der be­

scheidensten Art durch überflüssigen Briesverkehr im Keime zu ersticken. Dem Verfasser dieser Schrift liegt es fern, gegen die Oesterreichische Befehlsführung einen Vorwurf erheben zu wollen.

Die Mittheilung war

lediglich Erfüllung eines Versprechens, wohl aber ist die Frage am Platz,

ob denn nicht die eigene Behörde verpflichte« war mittelst der dazu beru­ fenen Organe den Seebefehlshaber in der Ostsee über das, was er vom Österreichischen Zusammenwirken zu erwarten habe, ins Klare zu setzen.

Der Feldzug von 1864 war der erste, in welchem die junge Marine eine

ernstliche Probe bestehen sollte.

Wir haben dem Generalstabswerk die ge­

rechte Anerkennung wahrheitsgetreuer Schilderung der Thatsache nicht ver­

sagt, dürfen aber bei dieser Gelegenheit auch nicht versäumen, auf Unge­ nauigkeiten aufmerksam zu machen, die nicht geeignet sind, daö ungünstige Streiflicht, welches vom Gesichtspunkt Uebelwollender auf den vergleichs­

weise rühmlosen Gang der Seeereignisse fällt, zu verwischen. Dazu rechnen wir vor Allem die Art der Aufführung der Seestreit­

kräfte.

Auf Seite 96 heißt es: „Preußen besaß damals: 4 gedeckte Cor-

vetten, 4 Glattdecks- Corvetten, 1 Panzerkuppelschiff (Panzerfahrzeug) ic. rc. Wenn auch bald darauf gesagt wird, daß „ein Theil" dieser Schiffe noch

im Bau begriffen war, oder sich „auswärts" befand rc., so muß die Art der Aufzählung doch irre führen.

WaS das hier aufgezählte Panzerkuppel-

schiff betrifft, so wurde es thatsächlich erst mehr als ein

ganzes Jahr

später von der Preußischen Regierung auf der Themse übernommen.

Die

„Anlage 16", auf welche der Leser verwiesen wird, giebt die Aufführung

der Seestreitkräfte richtig, und da findet man, daß der Oberbefehlshaber in der Ostsee den Krieg thatsächlich nicht mit 4 gedeckten Corvetten und

4 GlattdeckS-Corvetten, sondern mit „einer" gedeckten und „einer" Glattdecks-Corvette begann, und daß die zweite gedeckte Corvette sich erst am 21. Mai beim Geschwader in Swinemünde einfand.

So

ist

es

ferner buchstäblich zwar richtig, daß den 27 Dänischen

23 Preußische Kriegsdampfer gegenüberstanden, zieht man aber den Ein­ druck des Wortlautes in Betracht, so muß dieser Eindruck für jeden der Sache ferner Stehenden ein falscher sein.

Um ihn zu verwischen und

durch einen richtigen zu ersetzen, genügt es nicht, daß hinter den ange­ führten Ziffern auf Dänischer Seite die Geschützzahl 363, auf Preußischer

die Geschützzahl 117 steht, denn erst ein näherer und sachkundiger Ver­ gleich der Anlagen 15 und 16 ergiebt, daß in anderen Worten und in

Wirklichkeit beim Beginn des Krieges

18 Dänischen, worunter

gegenüberstanden.

an Hochsee-Kriegsdampfern den

1 Linienschiff und 4 Fregatten,

3 Preußische

Davon war die eine gedeckte Corvette (Vineta) unter

327

Prinz Adalbert und die Anfänge unserer Flotte.

sehr schwierigen Verhältnissen auf der Danziger Rhede in Ausrüstung,

ein Umstand, der von den Dänen merkwürdiger Weise ganz unbeachtet blieb.

Der Hafen von Neufahrwasser, der seit jener Zeit eine Vertie­

fung erfahren hat, war 1864 nicht tief genug, um den gedeckten Sorbetten ein Auslaufen in voller Kriegsausrüstung zu gestatten.

Bestückung und

Ausrüstung mit Schießbedarf mußten daher auf offener Rhede erfolgen,

was zu verhindern einem einzigen, selbst schwächeren feindlichen Kriegsschiff

ein Leichtes gewesen wäre.

Das Schiff konnte unter solchen Umständen

in den Hafen erst einlaufen, wenn der Nordwind das Wasser anstaute,

und war unter diesen Verhältnissen in seinen Bewegungen sehr behindert. Auf die Dänische Kriegführung

Licht, daß sie die hier

zur See wirft es

kein günstiges

geschilderten Umstände nicht besser benutzt hat;

dagegen ist es anzuerkennen, daß unsere eigenen Officiere sich durch die beschriebenen ungünstigen Umstände in der sachgemäßen Ausrüstung des

ganz neuen Schiffes nicht haben beirren lassen. Buchstäblich

läßt das Generalstabswerk von 1864

den Leistungen

der Flotte Anerkennung widerfahren, mittelbar übt eS durch die Art des

Vergleichs der gegenseitigen Streitkräfte eine Kritik, die nicht durchweg

einen günstigen Eindruck macht.

Erinnert man sich der zugespitzten Ur­

theile, deren das militärische Schriftwesen des Tages sich befleißigte, so

fragt man, ob ein größeres Maß von Unkenntniß oder Mangel an Wohl­ wollen einer noch neuen Waffe gegenüber, dem zu Grunde lag.

Nament­

lich scharf waren die bald nach dem Kriege erscheinenden Urtheile artille­ ristischer Fachschriftsteller.

Damals waren die Wirkungen der gezogenen

Kanonen im Kriege noch neu und die Begeisterung, die nach den Leistun­ gen von Broacker und Gammelmark das Gemüth des Artillerie-Officiers

erfüllte, wohl berechtigt.

Wenn man sich aber gemüßigt sah, auf derselben

Grundlage auch auf die Leistungen der Flotte zu folgern und deren Thä­

tigkeit abfällig zu beurtheilen, so war das zu weit gegangen. sichtslos

wurde hervorgehoben,

Nicht ab­

wie die meisten der „23" Preußischen

Kriegsdampfer mit gezogenem, sämmtliche Dänischen in Zahl von 26 nur

mit glattem Geschütz bewaffnet gewesen seien*). Es ist weder die Absicht dieser Schrift, die Seeleistungen deö Krieges

von 1864 noch das Generalstabswerk einer Beurtheilung zu unterziehen, wohl aber soll die Verantwortlichkeit des Seebefehlshabers ins rechte Licht gestellt werden. *) In einer Bemerkung unter dem Text spricht sich das Generalitabswerk über diesen Punkt zwar aus, aber nicht exakt. Dort heißt es, die Dänischen Schiffe hätten lauter Borderlader gehabt, — sowie 18- und 24psündige Hinterlader; in welchem Zahlenverhältniß, bleibt ungewiß.

Prinz Adalbert mid die Anfänge unserer Flotte.

328

Es ist unverkennbar, daß die Offensive, deren die Preußische Armee­

leitung sich schon in jenem Krieg befleißigte," zurücktreten mußte/ und nicht

zur Geltung kam, weil es an dem nöthigen Eingreifen der Flotte fehlte, so bei Ballegaard, so bei der beabsichtigten Landung auf Fünen und der

in Betracht gezogenen Expedition nach Seeland. Kriege Betrachtungen laut geworden,

Es sind bald nach dem

die namentlich die ausgezeichnete

Bewaffnung der Kanonenboote mit Hinterladern betonten und mit Rück­ sicht darauf eine ausgeprägtere Initiative seitens der Marineleitung ver­ mißten.

Solche Klagen waren

Begründung entbehrten.

ebenso leicht ausgesprochen, als

sie der

Die Seekriegskunst fordert offensives Verhalten

in viel höherem Grade als die zu Lande; gerade deshalb aber fördert sie in ebensoviel höherem Grade einen danach bemessenen Zuschnitt und eine

darauf hinzielende Vorbereitung.

Leides hat gefehlt, wie es schon im

ersten Dänischen Krieg gefehlt hatte, und auch in diesem Fall ist die Er­ kenntniß erst nach dem Kriege oder aber beim AuSbruch desselben, d. h.

zu einer Zeit gekommen, wo es zu spät war. War der Feldzug von 1864 reich an glänzenden Erfolgen, so fehlte

es doch auch nicht am Gegentheil, sofern man aufgegebene Unternehmun­

gen dahin rechnen darf.

Und aufgegeben mußten sie werden aus dem ein­

fachen Grunde, weil es abermals, — wie schon im ersten Krieg, — an einer den Anforderungen gewachsenen Flotte fehlte.

An erneuten Anstren­

gungen, eine solche zu schaffen, hat es denn auch nach jedem Kriege nicht

gefehlt; dieselben haben aber niemals angedauert, es ist vielmehr unver­ kennbar, daß neue Kriegsdrohungen die allgemeine Aufmerksamkeit und das

Interesse der Nation auf die Verstärkung der Landmacht und nicht auf die der Seemacht lenkten.

Und so wird es wohl auch noch weiterer ähnlicher

Erfahrungen bedürfen, um die Erkenntniß zu völligem Durchbruch gelan­

gen zu lassen.

Daß eine solche Erkenntniß nöthig ist, scheint unzweifel­

haft, denn das Reich bedarf einer Flotte, die im Verhältniß steht zu seinem überseeischen Besitz, zu seinem schwimmenden Eigenthum, und zu seinem

überseeischen Ein- und Ausfuhrbedarf; einer Flotte sodann, die im rich­ tigen Verhältniß steht zu den strategischen Erfordernissen seiner Küsten­ bildung, zu der damit verbundenen Landesgefährdung und der Seestellung

drohender Nachbarn. Dazu bedarf es aber selbstständiger Entwickelung und vor Allem der

Fernhaltung und Widerlegung von Anschauungen, die in der Flotte nichts

anderes erblicken können, als ein kostspieliges, der Nation zur Liebhaberei gewordenes Schaustück, deren letzte Wirkung doch nur auf eine Schädigung der Landmacht Hinauslaufe.

„Kameraden von der Flotte zu haben, ist eine schöne Sache" äußerte

Prinz Adalbert und die Anfänge unserer Flotte.

329

ein Preußischer, im Oesterreichischen Feldzug nachmals berühmt gewordener hoher Osficier gegen den Verfasser dieser Schrift nicht lange vor dem

Ausbruch des Dänischen Krieges „aber nichts für ungut Herr Kamerad, Sie müssen mir zugeben, die Flotte hat noch nichts genützt, und ich sage

Ihnen, glauben Sie es mir, sie wird auch nichts nützen!" Daß sie nöthig war, zeigten schon die Ereignisse um Rügen, Alsen;

Fünen und Seeland, daß sie nur wenig genützt hat, war die Folge der vorher geschilderten Ansichten; und solche Ansichten waren keineswegs ver­ einzelt; hätte es sich dabei um die Meinung einzelner, noch so bedeuten­ der Personen gehandelt, so wäre das nicht von Belang gewesen; aber es

waren die Anschauungen einer ganzen Klasse, sofern man nicht sagen will, mehrerer Klassen, des einflußreichsten Theiles der militärischen Umgebung des Hofes.

Das Erstere war das bei Weitem Schlimmere, weil in einem

Staate, wie dem Preußischen die militärischen Vertreter einer ruhmvollen

Ueberlieferung in erster Reihe den Beruf haben, einem Kriegswerkzeug, welches neu ersteht, und welches so hervorragend des Geistes der Offen­

sive bedarf, diesen Geist mitzutheilen.

Das geschieht nicht durch vornehme

Zurückhaltung, sondern durch aufrichtiges enges Anschließen, Anerkennung der Waffengemeinschaft und Erkenntniß der gemeinsamen patriotischen Ziele.

So wenig die Flotte im Krieg von 1864 zur Geltung gekommen war, einen Hauptgewinn davon, denn der Wiener Frieden

so trug sie doch

machte Kiel zum Bundeskriegshafen, und als die Gasteiner Convention eine Besitztheilung der Herzogthümer herbeisührte und Holstein inOester-

rcichische Obhut genommen wurde, behielt es diesen Charakter unter ge­ meinschaftlicher Besetzung.

An die Anlage eines wirklichen Kriegshafcns

mit den dazu nöthigen Einrichtungen konnte erst der Norddeutsche Bund,

das Ergebniß des Oesterreichischen Feldzuges, denken, und auch dann be­ durfte es der Beseitigung noch so mancher Zweifel, ehe zur Ausführung geschritten werden konnte.

Was den Oesterreichischen Feldzug selbst betrifft, so folgte er zu rasch

auf den Dänischen, als daß in dem Bestand und, — was hier in Frage kam, — in der Bündnißfähigkeit der Marine sich ein erheblicher Wechsel

hätte vollziehen können.

Daß die mittelbare Vertheidigung von Kiel und

Wilhelmshaven

noch

(damals

Heppens)

unseren

südlichen Verbündeten

überlassen blieb, hat uns damals wenig Sorge gemacht.

Die Kürze des

Feldzuges verhinderte auch, daß die Wirkung des Mißerfolges von Lissa

mit auf unsere Rechnung kam, und daß Tegethoff keine Gelegenheit hatte, sich vor Helgoland auch einmal gegen die alten Verbündeten zu versuchen.

Auf dem Ocean befanden sich „Vineta" und„Dandolo" in unmittel­ barer Nähe, was auch zu Zeitungsgerüchten Anlaß gab. Preußische Jahrbücher.

93b. LXIL Heft 4.

Nur schade, daß 22

330

Prinz Adalbert und die Anfänge unserer Flotte.

die Landenge von Panama sie zwischen ihnen ausschloß.

trennte

und

jede feindliche Begegnung

Der Glanz beV Erfolge auf den böhmischen

Schlachtfeldern zog jede Aufmerksamkeit von der Küste ab; der Prinz-Ad­ miral begnügte sich mit der Theilnahme an den Thaten der zweiten Armee

und Niemand dachte daran, daß die See-Ereignisse uns selbst berühren,

und in Ost- und Nordsee eine Fortsetzung haben könnten; und doch war eine solche Möglichkeit nicht ausgeschlossen, auch wenn der Krieg auf die

drei Mächte beschränkt blieb, die ihn begonnen hatten. So endete abermals ein Krieg, der in seinen Wirkungen der Marine

und ihren Freunden zwar großen Gewinn brachte, ihren Gegnern aber zu

der Bemerkung Anlaß bot, daß man sich abermals ohne die Mitwirkung

von Seestreitkräften beholfen habe. Thatsächlich war nichts dagegen einzuwenden; aber wie das so leicht

und so oft geschieht: man beging auch hier den Fehler, von der zufälligen Gestaltung der Thatsachen im gegebenen Fall auf allgemeine Grundsätze

Für keine Sache ist die Verwechslung von „weil" und „ob­

zu folgern.

gleich" so folgenschwer gewesen, wie für die Bestrebungen zur Errichtung

einer Deutschen Flotte.

Der Frieden,

in dem der siebenjährige Kampf

des großen Friedrich seinen Abschluß fand, die Errungenschaften des Wiener Congresses, der nachmalige Wiener (1864) und der Prager Friede (1866),

sie alle waren das Ergebniß von Kämpfen,

Seetüchtigkeit hatte entbehren können.

in denen man der eigenen

Wie uns in dieser Beziehung der

Schuh drückte, war in den beiden Dänischen Kriegen zwar ziemlich deut­ lich zum Ausdruck gekommen; zuletzt gaben aber doch die größeren Ereig­

nisse den Ton,

und die spätere Berührung mit einer Seemacht ersten

Ranges sollte die kümmerlich ausgewachsene Flotte manchs scharfes Urtheil ernten lassen.

Daß der Oberbefehlshaber der Marine sich bei jedem Kriegsausbruch in ein Hauptquartier der Armee begab, kennzeichnet die Art^ihres Wachs­

thums trotz des Aufschwunges, den die öffentliche Meinung nach jedem

Friedensschluß genommen hat.

Von nicht zu unterschätzendem Einfluß auf

diese öffentliche Meinung war die Schriftstellerei.

Von ihr kann man

wohl sagen, daß sie das Möglichste zu leisten suchte; es ist aber ebenso unverkennbar, daß sie zuweilen über das Ziel hinausschoß, und in manchen

Fällen Erwartungen hervorrief, die wohl dazu dienten, die Gemüther zu erregen und zu entzünden, deren Nichterfüllung aber niederschlagend wir­ ken mußte.

Es ist hier nicht die Stelle, den Anerkennungen, welche der Armee

nach dem Französischen Feldzuge zu Theil geworden sind, noch neue hin­ zuzufügen.

Dem Verfasser dieser Schrift ist es beschieden gewesen, als

Prinz Adalbert und die Anfänge unserer Flotte.

331

Seeofficier mit verschränkten Armen jenen Ruhmesthaten zuschauen zu

müssen, die Thatenlosigkeit der Flotte erörtern und in nicht seltenen Fällen Sonderbar genug, daß die schärfste Beurtheilung

verurtheilen zu hören.

in der Regel da laut wurde, wo man zur Friedenszeit für eine Flotten­

entwickelung am wenigsten Ernst und nur laue Fürsprache hatte.

So ist

es noch heute und es ist zu befürchten, daß der nächste Krieg die gleichen Erscheinungen zeigt.

Eine Vertheidigung, die in allen ihren vorbereiten­

den Schritten jedem Uebergang in den Angriff von vornherein entsagt,

öffnet dem Mangel an Selbstvertrauen Thür und Thor; und wenn ihr

Personal aus lauter Helden und Haudegen bestände, würde der Instinkt des „DraufgehenS", den man heute „Schneid" nennt, schon in der Wurzel

verkümmert sein.

Das Großmachtsgefühl verschlimmert die Sache wesent­

lich, weil es dem Auftreten einer ungenügenden Streitmacht den Stempel der Anmaßung verleiht, und weil Anmaßung ohne genügenden Hinterhalt

von Mitteln der Lächerlichkeit verfällt. Der Friedensbetrieb einer Flotte hat Eigenheiten, deren Pflege dem Kriegshandwerk nicht in jeder Beziehung förderlich ist.

Der Erhaltung

des Materials muß in der Marine ein viel größeres Maß von Sorgfalt, Zeit, Kräften und Denkarbeit gewidmet werden, als das im Kriegswesen

zu Lande der Fall ist.

Man darf hiebei nicht an die aufreibende Arbeit

der geistigen, wie der körperlichen, des Compagnieführers denken; sie ist

in beiden Zweigen des Kriegswesens so ziemlich dieselbe, und nur unähn­

lich in Aeußerlichkeiten.

Sehr erheblich im Vordergrund steht dagegen int

Seewesen die Schiffs- und Geschwaderführung.

Sie nimmt vom ganzen

Friedensbelrieb im Punkte der Erhaltung des Materials den Löwenantheil

in Anspruch.

Wer sich

der Anfänge unseres verhältnißmäßig jungen

Kriegsseewesens erinnert, weiß, in welchem Maße der Schwerpunkt alles

Denkens und Handelns weit weniger im eigentlichen Kriegshandwerk, als

in der Navigation lag.

Weil sie eine Wissenschaft ist, die auch dem Un­

gelehrten Gelegenheit giebt, aus den Hauptgesetzen der Mathematik und Astronomie unmittelbaren praktischen Nutzen zu ziehen, weil aber zu ihrer

nützlichen Ausübung doch eine Fertigkeit gehört, die von Talent abhängt, so kann sie leicht als Selbstzweck angesehen werden.

In der Kaufsahrtei

ist denn eine solche Anschauung auch ganz gerechtfertigt.

Wem die Fer­

tigkeit abgeht, für den ist dort kein Platz, es sei denn in den untergeord­

netsten Handleistungen.

Anders

liegt die Sache beim

Kriegsseewesen.

Hier steht die der Person eigene kriegerische Tugend im Vordergrund. Das in draufgängerischen Neigungen zu Tage tretende zerstörende Element drängt den so sorgsam gepflegten Erhaltungstrieb zurück; die mühsam er­

worbene,

mit Liebe gepflegte Kunst

der gefahrmeidenden sicheren Fahrt

22*

Prinz Adalbert und die Anfänge unserer Flotte.

332

kann zum Laster werden, weil sie der freien Eytfaltung kriegerischer Tugend zum Hemmschuh wird.

/

In dieser Beziehung war es günstig, daß

eine

ganze Reihe

für

von Jahren

einer Mehrzahl von Personen ausging,

Kriegsandwerk fremd

war.

So

die Anfänge der

der Marine

nicht

maßgebende Ton von

deren ganze Vergangenheit dem

vortrefflich

niglich Preußischen Navigationsschulen sich

der Ruf,

dessen

die Kö­

erfreuten, ebenso mißlich war

es, die abgelegte Prüfung auf solcher Schule zum fast alleinigen Maßstab des Könnens

bei

Dies ist in den

einer für Kriegszwecke bestimmten Anstalt zu machen.

ersten Jahren aus den schon erwähnten Gründen un­

leugbar geschehen, und der Umstand, daß ein Navigationsdirektor — wenn

auch früher Seeofficier, — die unmittelbare Führung an der Küste er­

hielt, trug nicht wenig dazu bei. Es

war

unter den

eine unausbleibliche Folge

gerade dieses Umstandes,

daß

das Marine-Officier-Corps bildenden Elementen eine stellen­

weis ganz verkehrte Berufsauffassung Platz griff. der Marine-Infanterie fast

ausschließlich

So waren die Officiere

der Armee

entnommen; ihre

einzige Berufskenntniß war das Waffenhandwerk, wenn auch nur ein sehr einseitiges;

demgegenüber suchte und erkannte der damalige Seeofficier,

— vielleicht umsomehr, weil er nur Hülfsofsicier war — seinen Stolz in nautischer Ueberlegenheit,

namentlich

im Punkte

der geliebten Naviga­

tion, der Besitz eines Sextanten galt für hoch erhaben über dem „Plempe",

und der Trugschluß,

einer

daß Jene die eigentlichen Kämpfer und

berufenen Helden der Seeschlacht, diese nur die verdienstvollen und nütz­

lichen Schiffsführer seien,

ist in der That ganz geraume Zeit behauptet

und geglaubt worden. Und dies war möglich, obgleich die Schaffung eines Infanterie-Ba­ taillons in der Marine von ganz entgegengesetzten Gesichtspunkten erfolgte. Es ist dies der Punkt, um den, wie man wohl sagen kann, das innere

Seelenleben der Marine sich lange hindurch gedreht hat, und der, aus

inzwischen eingetretenen anderen Gründen noch heute zu einer festen Gestaltung nicht gelangt ist.

Daß eS noch immer nicht der Fall ist, hat man nicht

zum Wenigsten jenen irrthümlichen Anschauungen zuzuschreiben, die in den

ersten Entstehungsjahren den Geist des größeren Theiles des SeeofficierCorpS beherrschten.

Hier mußte es erwähnt werden, weil es ein Punkt

ist, der dem Leben und Wirken der Flotte in Kriegs- unb Friedenszeiten

seinen Stempel aufgedrückt hat.

ES wird wohl von keiner Seite bestrittet! werden, wie das, was man „militärische Initiative" nennt, so ziemlich auch die Grundlage jedweden kriegerischen Erfolges ist.

Sie allein schafft den Standpunkt, von welchem

Prinz Adalbert und die Anfänge unserer Flotte.

man dem Gegner das Gesetz giebt.

333

Wer sie aus der Hand giebt, oder

— was dasselbe sagen will, — wer sich in die Lage bringt, sie nie in

die Hand zu bekommen, begiebt sich von vornherein jeden Erfolges, denn er rechnet fortwährend mit dem Gedanken einer schon Sache.

So ist es im Kriege,

halb

verlorenen

wo vas wirkliche Machtverhältniß

sein

Recht fordert, und wo die sogenannten „Imponderabilien" d. h. die dem Personal innewohnenden Kräfte der Moral und kriegerischen Tugend vor

Namentlich ge­

einem zu ungleichen Machtverhältniß doch zurücktreten.

schieht dies, wenn ihre Friedenspflege sich nur auf Theorie, und nicht auf wirkliche Macht stützt.

Daß die Flotte im letzten Französischen Krieg bedeutunglos blieb, ist

eine Thatsache, und wenn nach dem Friedensschluß und der Rückkehr der Truppen von der Flotte überhaupt gesprochen wurde, dann war ein all­

gemeines Achselzucken an der Tagesordnung.

Dabei kann man nicht be­

haupten, daß die öffentliche Meinung es an Wohlwollen hätte fehlen

lassen; es waren nur die „Feuerbrände", die ihre Entrüstung äußerten, daß

die Flotte kein Sedan aufzuweisen hatte; sonst war man für die

kleinen Scharmützel, die hie und da vorgefallen waren, sehr dankbar; mit einer Genugthuung und Wärme, die seinem Herzen Ehre machte, erwirkte

der Prinz an Allerhöchster Stelle Auszeichnungen für die Betheiligten; daß Großes und Kleines dabei über einen Kamm geschoren wurde, war

nicht seine Schuld, denn auch für Waffenthaten gab eS eine Schablone, die der unbefangenen Würdigung Schranken setzte. Aufmerksamen Anfang

des

Beobachtern

konnte

Französischen Krieges

„Siegesvertrauen"

nennt,

eine

es

das,

nicht

waS

entgehen,

man

verhältnißmäßig

bei

besten

wohl

Pflanze

war.

am

zarte

wie

Trotz der vorangegangenen glücklichen Feldzüge, war man in den Erwar­ tungen noch ziemlich bescheiden.

Die den

ersten Waffengängen voran­

gehenden Armeebefehle athmeten noch eine gewisse Vorsicht.

DaS Ver­

trauen mit dem sich Deutsche Truppentheile einer selbst fünf- bis sechs­

fachen Ueberlegenheit gegenüberstellten, kam erst, nachdem die feindliche Hauptarmee niedergeworsen war.

Und wer wollte behaupten, daß das

anders sein kann? Blickt man zurück auf die Ueberlegenheit, welche die

Britische Flotte sich in den Revolutionskriegen auf dem Meer erorbert

hat, so trifft man auf dieselbe Erscheinung.

Erst Abukir und Trafalgar

mußten vorangehen, ehe eS dahin kam, daß ein einziges Englisches Linien­ schiff einem zehnfach überlegenen Russischen Geschwader in der Ostsee die

Stirn bot.

Das unbegrenzte Siegesvertrauen ist eben eine Pflanze, der

nicht blos papiernes Bewußtsein

und

haranguirende Ueberredung

des

Paradeplatzes, sondern wirklich brauchbare Macht zu Grunde liegen muß.

Prinz Adalbert und die Anfänge unserer Flotte.

334

Hausbackene Kraft ist in diesem Punkte der beredteste und überzeugendste Faktor; die Pflanze deS Siegesvertrauens gedeiht nicht auf einem b^oß mit

den Feinheiten der Kriegskunst oder der Explosivmittel gedüngten Boden; daran zu glauben, ist ein verderblicher Irrthum und eine Neigung der heut­

zutage leider hier und da gehuldigt wird.



Wer wollte behaupten, daß die seemännische Bevölkerung kriegerischer

Tugend weniger zugänglich sei, als die deS Landes, aber ebensowenig kann man behaupten, daß die dem Menschen innewohnende kriegerische

Tugend allein genüge, einer Armee das Selbstbewußtsein unfehlbaren Er­

folges, einer Flotte daS unbeschränkte Siegesvertrauen zu geben.

Die

starken nicht minder wie die schwachen Seiten in der Lebenskraft einer

Nation werden sich in gleichem Verhältniß auch in jedem ihrer Theile finden; immer sind die Menschen, aus denen die Wehrkräfte sich zusam­ mensetzen, dieselben, und Sache der Staatsleiter ist es, durch geschickte Eintheilung

und Führung,

durch Gewährung

guten und

ausreichenden

Werkzeugs die starken Seiten nutzbar, die schwachen aber verschwinden zu machen.

Es ist unbillig, Vorkommnisse irgend welcher Art anders, als unter diesem Gesichtspunkt zu beurtheilen.

Wo eine weise Art der Verleihung

von Anerkennung und Auszeichnung so vortrefflich geordnet ist, wie in den

Ländern Deutscher Zunge, wo also auch dieses Hülfsmittel noch als Hebel wirkt, da kann bei guter natürlicher Grundlage die Entfaltung kriegerischer

Tugend nicht so schwer sein, nur darf in der Zahl kein zu bedeutender

Rechenfehler gemacht werden.

Eine kleine Dänische Armee kann

gegen

zwei Deutsche Großmächte wohl eine Zeit lang Düppel vertheidigen, sie weiß aber, daß ihre Tage gezählt sind, wenn nicht Hülfe kommt. günstige Zufälle spielen eine Rolle,

Auch

heute wie früher; nur wird man

finden, daß auch sie dem Starken immer mehr Gunst erweisen, wie dem Schwachen.

Es ist dies ein Grund, jeder auch der geringsten Auszeichnung deö

Schwachen doppelte Anerkennung zu Theil werden zu lassen, und seine Zurückhaltung

mit

größerer

Nachsicht

zu beurtheilen.

Der Dänische

Cemmodore hatte bei Helgoland über Tegethoff nicht gesiegt; er war aber auch nicht geschlagen worden, und doch verließ das Dänische Geschwader

die Nordsee, weil die Oesterreicher Zuzug bekamen, und es vortheilhafter

schien, sich in der Ostsee auf die sechsmal schwächeren Preußischen See­ streitkräfte zu werfen. Geht man auf den ersten Dänischen Krieg zurück und betrachtet das

kleine Gefecht von Brüsterort, so kann man schwanken zwischen den Ge­ fühlen der Nachsicht und der Anerkennung.

Wer in der Sache bloß einen

335

Prinz Adalbert und die Anfänge unserer Flotte.

Kampf sieht zwischen einem mit Dampfkraft versehenen Preußischen Krieg­

schiff und

einer Dänischen,

auf Segelkraft beschränkten „Kutterbrigg"

glaubt seine Nachsicht zu sehr in Anspruch genommen.

Wer aber weiß,

daß es sich auf Preußischer Seite um ein Schiff handelte, von dessen Be­ mannung noch keiner einen scharfen Schuß gethan, auf dem die Rapperten der wenigen Geschütze schon bei den ersten Schüssen ihren Dienst ver­

sagten, wird die dem Commandanten zu Theil gewordene Anerkennung

voll gerechtfertigt finden. Wunderbar genug, daß dasselbe Dampfschiff, nur etwas anders be­

waffnet, noch fünfzehn Jahre später der Hauptvertreter Preußischer See­ streitkraft in der Nordsee war.

DaS Hauptergebniß des Schaffens wäh­

rend jener Zeit waren eben nur die schon erwähnten drei gedeckten und eine Glattdecks-Corvette gewesen,

und es ist wohl erklärlich, daß bei so

geringer Schöpfung in den Kriegsmitteln auch die Kriegskunst der Men­ schen keine Riesenschritte machte. Als der König 1864 die Drahtmeldung erhielt von dem Gefecht bei

Jasmund und dem Rückzug seiner Schiffe nach Swinemünde, die Bemerkung darauf: „also eine rückgängige Bewegung"?

schrieb er

Eine solche

war es unzweifelhaft, konnte unter den obwaltenden Umständen auch nichts

anderes sein, denn es hatten, streng genommen, nur zwei und ein halbes gegen sieben feindliche Schiffe gestanden; deshalb hatten alle Theilnehmer die ihnen gewordene Anerkennung in vollem Maße verdient.

Eine rück­

gängige Bewegung war eben das, wozu man sich mit dem besten Willen

aufzuschwingen vermochte.

Das Siegesvertrauen war ein Ding, welches

der Flotte auch im zweiten Dänischen Krieg noch

nicht beschieden sein

sollte; dieselbe Art von Bewegungen widerholte sich noch öfter,

und in

kleinerem Maßstabe, aber der Preußischen Wehrkraft zur See hatte der

ganze Ernst des Wollens bis dahin noch gefehlt, das Können blieb weit hinter der Forderung zurück, und der Mehlthau der Ohnmacht verhinderte jeden Aufschwung zu irgend einem Gefühl, welches dem Siegesvertrauen

auch nur ähnlich gewesen wäre.

Die öffentliche Meinung, amtlich wie

nichtamtlich begnügte sich mit einer verschämten Zufriedenheit über das,

was geschehen war. Läßt man den Blick vom ersten zum zweiten Dänischen Krieg schwei­

fen, so übergeht man einen Vorgang, der für das Leben und Wirken des Prinzen Adalbert bezeichnend, für das innere Leben der Flotte von nicht zu unterschätzender Wichtigkeit war; das Landungsgefecht von Tres Forcas.

Es ist hier nicht die Stelle, um sich über die näheren Umstände zu verbreiten, die zu jenem Hergang den Anlaß boten.

angeführt werden als eine der Staffeln,

Hier soll es nur

auf denen das junge Marine-

Prinz Adalbert und die Anfänge unserer Flotte.

336

wesen seine Kriegskunst zur Geltung zu bringen, die Sprößlinge kümmer­

licher Macht an eine Feuertaufe irgend welcher Art heranzubringxn suchte. Alle Ehre dem Andenken damaliger Zeitgenossen, aber man kann nicht behaupten, daß der Veranstalter jenes kleinen Kampfes an Afrikanischer Küste vielen Dank davon geerntet hätte.

Es war das eine Zeit, wo nach

,'ft vierzigjährigem Frieden das einzelne Menschenleben höher wog als später, wo das Streben der „Erhaltung" dem Führer einer kleinen Schaar

mehr zu gelten hatte als das des rücksichtslosen Opferns, noch dazu für kleinen Einsatz.

Von 66 gelandeten Personen zählte man nach der Rück­

25 Todte

und Verwundete, unter Ersteren des Prinzen Adalbert

kehr

eigenen Adjutanten und unter Letzteren den Prinzen selbst.

deres

Etwas An­

einen Rückzug konnte auch der günstigste Verlauf der Sache

als

nicht bringen, danach wurde ihr allgemeiner Werth bemessen.

Es waren

nicht die heitersten Mienen, deren der „unternehmende Detter" sich bei der

Rückkehr in die Hauptstadt zu versehen hatte;

und doch: wer wollte es

leugnen, in einer Marine, die sich nach Kriegsruhm zu sehnen anfing, wie nach dem Wasser,

der Hirsch

Thau nach langer Dürre.

wirkte die kleine Affaire wie erfrischender

Im Feuer tiraillirende Matrosen waren eine

neue Erscheinung; warum solch' Handwerk das ausschließliche Recht der

Landsoldaten sein müsse, das hatte sich Niemand recht klar gemacht, und doch Jedermann geglaubt; an die Verbreiterung des Dogmas zu glauben, wollte nur Wenigen in den Sinn,

Lapsus calami,

und vielleicht ist es doch nicht nur

wenn noch militärische Schriftsteller der neuesten Zeit

den Löwenantheil jenes Gefechts den Infanteristen des Seebataillons zu­ schreiben, die doch nur in ganz geringer Zahl daran betheiligt waren. Kriegsläufte waren vom zweiten Dänischen bis zum Französischen für die Flotte

nicht

zu

verzeichnen, große Fortschritte der Entfaltung auch

nicht, wenngleich die Zahl der Corvetten gewachsen war,

und sich auch

Schlachtschiffe neuer Art in Gestalt von drei ganz beachtenswerthen Panzer­

schiffen eingefunden hatten. Hatte der so plötzlich ausbrechende Krieg von 1870 die ganze Welt überrascht,

so war das in noch höherem Grade der Fall für die Flotte.

Was sich gegen Dänemark zu schwach erwiesen hatte, waö als Hülfsmacht

gegen Oesterreich zu gering befunden war, sah sich jetzt einer Flotten macht ersten Ranges gegenüber.

Merkwürdiger Weise sollte eS sich so fügen,

daß der Kern der kleinen Preußischen Seestreitkraft ein Panzergeschwader von drei Schiffen unter Führung des Prinzen Adalbert sich dem gewaltigen

Feind gegenüber

in einer streng genommen gar nicht

griffsstellung befand.

Vortheil

daraus

ungünstigen An­

Es ist hier kein Anlaß zu Betrachtungen, ob man

hätte ziehen können, da man

dem Geschwader, über

Prinz Adalbert und die Anfänge unserer Flotte.

337

welches der Admiral Dieudonn^ damals zu verfügen hatte, nicht so ganz unebenbürtig war, und wenn Lcrd Granville warnte, weil jener „something violent“ im Schilde führe,

man dem beimessen wollte. weiteren Folgen

entzogen,

so hatte das nur gerade soviel Werth, als Genug, daß unser Geschwader allen etwaigen

seiner vorgeschobenen Stellung auf Befehl des Königs

und zur Vertheidigung Wilhelmshavens

zurückberufen wurde:

eine rückgängige Bewegung, die nicht geeignet war,

Angriffsneigungen,

die im Geist der Flotte keimten, zu frischer Entfaltung zu bringe». Aehnlich wie daheim lagen die Machtverhältnisse natürlich auch auf

den auswärtigen, überseeischen Stationen.

Die zweifelhafteste Beurthei­

lung erfuhren im Auge der öffentlichen Meinung, namentlich vom mili­ tärischen Standpunkt die Vorgänge in Ost-Asien.

Das dortige Macht­

verhältniß war keineswegs günstig; es war ein Verhältniß, wie seiner Zeit Preußen zu Dänemark im zweiten Dänischen Krieg.

Rechnet man

Alles zusammen, was Frankreich in dortigen Gewässern an größeren und kleineren Fahrzeugen musterte, so standen Hertha und Medusa gegen etwa

26 Fahrzeuge Französischer Flagge.

Daß ein

solches

Machtverhältniß

sich nicht auch auf jeden einzelnen Ort deö Zusammentreffens erstreckte,

liegt auf der Hand.

In diesem Punkt war man über die Dinge, wie

sie sich in so entfernt liegenden Orten gestalteten, bei uns nie ganz genau

orientirt.

Sei dem, wie ihm wolle, man vereinbarte eine Art dauernden

Waffenstillstand, der an maßgebender Stelle genehmigt wurde; daß derselbe

für Rhederei und Handel einige Vortheile gehabt, ist wohl nicht zu leugnen; für die Streitkräfte bedingte er eine Thatenlosigkeit, die nicht geeignet war,

einer Kriegsheiterkeit Nahrung zu geben, die vielmehr so manche düstere Er­ scheinung zu Tage brachte.

Daß Französische Geschichtschreibung sich der

Sache nicht gerade in freundlichem Sinn bemächtigt hat, ist kein Wunder.

Noch vor wenigen Jahren erschien eine Schilderung aus der Feder eines Französischen Diplomaten, die von Unwahrscheinlichkeiten strotzte.

Indeß

nahmen auch deutsche Zeitungen Notiz davon und brachten Auszüge, die in den Augen des guten Patrioten entweder der Flagge einen Makel anhefteten

oder von maßgebender amtlicher Stelle der Berichtigung bedurften.

Das

Letztere hat man damals nicht für gut befunden, so bleibt der Makel.

Un­

widersprochene Behauptungen sind

so gut wie bejaht.

Eine Bejahung

in diesem Fall schließt eine Beurtheilung der Vergangenheit in sich, und ein Urtheil über Personen, die für jene Vergangenheit ganze oder ge­

theilte Verantwortung tragen. sonen und nicht die Verhältnisse.

Der Nichteingeweihte sieht nur die Per­

Wenn ein Heer so ungemessenen Ruhm

erntet wie das Deutsche in jenem Feldzug, wie konnte da die Flotte so

thatenlos zurückstehen? Das Gefecht Metcor-Bouvet vor Havana der ein-

Prinz Adalbert und die Anfänge unserer Flotte.

338

zige Glanzpunkt! Aber der Nichteingeweihte übersieht in seiner Beurthei­

lung, wie in jener ganzen Vergangenheit den Personen niemals? Willen und Kraft, sondern den Verhältnissen immer der Haupt-Hebel gefehlt hat. Da, wo die Keime kriegerischer Tugend in den Personen sich zeigten, da ,anden sie in den Verhältnissen keine Hinterlage.

Will man Ruhm der

Ueberlieferungen schaffen, so erziehe man das innere und äußere Bewußt­

sein der Ueberlegenheit;

sendet man Männer hinaus in

die Welt,

so

lasse man das Siegesvertrauen ein bevorzugtes Stück ihrer Ausrüstung

sein.

Die Macht der Rede kann von Wirkung sein, das heutige Geschlecht

ist ihr vielleicht zugänglicher als das alte; ihr Erzeugniß bleibt aber nichts mehr und nichts weniger als eine Treibhaus-Pflanze, unfähig zu nach­

haltigem Druck und dem ernsten Anprall kräftig und verständig geführter Kraft nun und nimmer gewachsen.

Unbegrenzter TodeSmuth war eine Eigenschaft, die der Prinz Adal­ bert von Preußen

und

zu

gewesen

nicht allein zu besitzen, sondern auch an jedem Ort

jeder Zeit zu gebrauchen auch

die Personen,

theilhaftig zu machen.

verstand.

Unausgesetzt ist er bemüht

über die er gesetzt war, jener Eigenschaft

Dem hohen Herrn ist die Erfahrung nicht erspart

geblieben, daß Verhältnisse mächtiger sind

als Menschen und daß das

innere Bewußtsein der Ueberlegenheit, welches den Britischen Seemann der Zeiten Lord Hawke's zu

denen der Nelson und Collingwood führte,

jenes Siegesvertrauen, welches

schließlich

jeder zeitlichen

und

örtlichen

Ueberlegenheit des Feindes spottete, auch dem Deutschen Seemann anzu­

erziehen ist, aber nicht durch Worte, sondern durch wirkliche Macht, auch nicht durch abgefeimte Sprengmittel, sondern durch einfaches Werkzeug in

Stahl und Eisen und für offenen, ritterlichen Kampf.

Weimar den 2. August 1888.

Neue Schriften zur Poetik und zur Lehre vom

Schönen überhaupt. Bon

A. Döring. Eduard von Hartmann, Philosophie deö Schönen. Zweiter systematischer Theil der Aesthetik. Berlin, C. Duncker 1887. XV u. 836 S. Herm. Baumgart, Professor an der Universität Königsberg, Handbuch der Poetik. Eine kritisch-historische Darstellung der Theorie der Dichtkunst.

Stuttgart, Cotta 1857.

XII u. 735 S. Wilh. Scherer, Poetik. Berlin, Weidmann 1888.

XII u. 303 S.

Das Schöne tritt uns theils in der Wirklichkeit, in Natur, Leben und Geschichte, theils als Erzeugniß absichtsvoll auf seine Produktion ge­ richteter Kunstthätigkeit

und auf beiden Gebieten wieder theils als an­

hängendes, nur neben der sonstigen Bedeutung des schönen Objekts be­ stehendes,

theils als selbständiges für

die ästhetische Anschauung,

Wesen des Objekts selbst ausmachendes entgegen.

das

Daß es in allen diesen

Fällen in eigenartiger Weise lustvoll ist, darüber sind wir alle einver­ standen.

Auch darüber sollte billigerweise eine Meinungsverschiedenheit

nicht bestehen, daß zwischen dieser eigenartigen Lustwirkung und dem Wesen

des Schönen derjenige ursächliche Zusammenhang

besteht,

der

zwischen

Wesen und Wirkung überhaupt vorhanden ist und der es ermöglicht, durch

den Rückschluß von der Wirkung auf das Wesen als seine Ursache letzteres zu bestimmen.

Die Wirkung ist der Erkenntnißgrund des Wesens, weil

das Wesen der Realgrund der Wirkung ist. Hiernach ist die Grundfrage jeder mit Aussicht auf Erfolg zu unter­

nehmenden Theorie sowohl deS Schönen überhaupt, als auch irgend einer besondern Art und Form des Schönen, z. B. des poetischen, die nach der eigentümlichen Art dieser Lustwirkung, nach den besonderen Bedürfnissen

der Menschennatur, denen das Schöne entgegenkommt.

Denn auf Be­

friedigung eines Bedürfnisses muß doch wohl jede Art von Lust beruhen.

Neue Schriften zur Poetik und zur Lehre vom Schönen überhaupt.

340

Leider sind wir über diese Grundfrage, von der alles weitere Verständniß abhängt und aus deren Lösung alle Bestimmungen der Aesthetsk sich ab­

leiten, noch immer im Unklaren, und auch die drei neuen Arbeiten, über

die hier zu berichten ist, von denen die von Hartmann'sche das ganze Ge-

bidt des Schönen umspannt, die beiden andern sich auf ein einzelnes Ge­ biet des Kunstschöncn, die Poesie, beschränken, haben die Lösung des Räthsels zwar auf sehr verschiedenen Wegen gesucht, aber nicht gefunden. Die von Hartmann'sche Philosophie des Schönen bildet den

zweiten,

systematischen Theil eines zweibändigen Werkes über Aesthetik,

dessen erster historisch-kritischer Theil eine Geschichte der deutschen Aesthetik seit Kant brachte.

Diese Philosophie des Schönen ist zunächst quantitativ

betrachtet ein Werk von monumentaler Größe.

Der eigentliche Text umfaßt

827 Seiten von riesigem Umfange, auf deren jeder doppelt so viel steht, wie auf einer Seite des leichtgeschürzten Scherer'schen Buches.

Und da

der eigentliche Text des Letzteren nur 276 Seiten umfaßt, so übertrifft das von Hartmann'sche Buch dasselbe an Ausdehnung ungefähr um das

Sechsfache.

Ich will diesem Thatbestände gegenüber nicht gerade an das

altklasstsche

ßtßXtov pieya 7nj|ia erinnern, aber zu leugnen ist nicht,

daß diese dicken Bücher eine Beschwerde für den Leser bilden, daß manche Partieen sich hätten kürzer fassen lassen und daß die erste Fassung nicht immer weder die glücklichste, noch die kürzeste ist.

Der Verfasser freilich

versichert uns im Vorwort, daß er bei einer einigermaßen erschöpfenden Behandlung keine Mühe gehabt haben würde, den Raum von sechs solchen

Bänden zu füllen und daß er daher eine ausführliche Darstellung nur

für die grundlegenden Theile gegeben habe.

Es ist gut, daß er diese Be­

schränkung hat eintreten lassen,

wäre wohl heute der einer

denn

wo

ästhetischen Belehrung bedürftige Leser, dessen Wissensdurst mit einer so

ausgiebigen Lehrhaftigkeit Schritt gehalten hätte? Jedenfalls muß sich die

Berichterstattung darauf beschränken, die allgemeine Grundrichtung zu be­ zeichnen,

in

der die Lösung der ästhetischen Grundfrage unternommen

wird und in großen Zügen ein Bild des Inhalts und Gedankenganges zu entwerfen. Dem Grundcharakter

nach entspricht diese Aesthetik ganz dem all­

gemeinen philosophischen Standpunkte von Hartmanns und ist aus demselben

hervorgewachsen. Zwar setzt sie anscheinend voraussetzungslos ein, aber bald befinden wir uns in bekannten Regionen und es tritt im Verlaufe immer­

deutlicher diejenige Richtung hervor, die sich schon aus dem in Band LX d. Ztschr. besprochenen historisch-kritischen Theile genügend erkennen ließ.

Von Hartmann Epigone der

ist seiner philosophischen Grundrichtung

nach ein

deutschen metaphysischen Schule der ersten Hälfte unsres

Neue Schriften zur Poetik und zur Lehre vom Schönen überhaupt.

341

Jahrhunderts, wenn es erlaubt ist, Gegensätze wie Hegel und Schopen­

hauer unter

den gemeinsamen Begriff einer Schule zusammenzufassen.

Er selbst liebt es, den Entwicklungsgang dieser Schule so zu construire»,

daß der ursprüngliche Schelling als Vorläufer und Hegel als Vollender der einen von zwei gegensätzlichen Richtungen, des Panlogismus oder der

Vernunflmetaphysik, Schopenhauer, der Antipode Hegels, als klassischer Vertreter der

entgegengesetzten Richtung,

deö

Panthelismus

oder

der

Willensmetaphhsik und der spätere Schelling als unentwickelter Vorläufer einer höheren Einheit dieses Gegensatzes dasteht, worauf dann seiner eigenen

Metaphysik, in der Wille wie logisches Princip Attribute der absoluten

Substanz sind, wie von selbst die Stellung der abschließenden Vereinigung

des Gegensatzes und damit des Abschlusses dieser Entwickelung überhaupt zufällt.

Selbstverständlich wird sich von einem andern Standpunkte aus

diese Entwicklungsreihe ganz anders ausnehmen, worüber aber hier nicht

zu reden ist. Gemäß dieser Stellung seines Systems überhaupt steht dann auch

seine Aesthetik ganz in der Entwicklungsreihe jener speculativen Aesthetik auf metaphysischer Grundlage, mit der die deutsche Philosophie bis weit

in die zweite Hälfte unseres Jahrhunderts hinein heimgesucht war und deren congenialer Geschichtschreiber von Hartmann im ersten Bande ge­

worden ist.

Für die Aesthetik freilich kommt der Gegensatz des PanlogiSmuS und

PantheliSmuS nur in ganz untergeordnetem Sinne in Betracht.

Die

ganze Aesthetik dieser Schule ist Idealismus auf metaphysischer Grund­ lage.

Für Schelling und Hegel war dies selbstverständlich,

aber auch

Schopenhauer läßt in einer freilich nicht recht verständlichen Weise aus seinem absoluten Urwillen eine platonische Ideenwelt hervorgehen, deren

Abglanz in der Erscheinungswelt das Naturschöne oder das Schöne der Wirklichkeit ausmacht und vom Künstler im Scheinbilde des Kunstwerkes

in seiner ganzen Reinheit wiedergespiegelt wird.

Von Hartmann selbst

aber brauchte, um einen ästhetischen Idealismus zu entwickeln, nicht in die Schopenhaucrsche Inkonsequenz zu verfallen, da ihm ja bei der Doppel­ heit der Attribute seiner Ursubstanz ein logisches Princip

im Urwescn

als Hintergrund eines metaphysischen Idealismus ohne Zwang zur Ver­ fügung stand. Da sind wir denn nun glücklich bei dem vieldeutigen, unfaßbaren

Schlagworte des ästhetischen Idealismus angelangt. gegriffene Münze des Idealismus

Man sollte die ab­

auf keinem Gebiete passiren

lassen,

ohne zu fragen: Wes ist das Bild und die Ueberschrift? Beschränken wir

uns hier auf den ästhetischen Terminus!

Neue Schriften zur Poetik und zur Lehre vom Schönen überhaupt.

342

Um aber den ästhetischen Idealismus-, wie er uns hier entgegentritt, sicher in das begriffliche Netz einzufangen, muß etwas weites ausgeholt

werden.

Da ist zunächst

der fundamentale Hauptgegensatz klarzustellen.

Derselbe wird gebildet durch den ästhetischen Formalismus, der die Lust­

wirkung ausschließlich von Formen und Verhältnissen ganz abgesehen von Vorstellungsinhalt, Sinn und Bedeutung ableitet und der wohl nachgerade

als abgethan gelten könnte, einerseits und die als eine vielgestaltige, die verschiedenartigsten Richtungen

unter sich befassende Gruppe ihm gegen­

überstehende Gehaltsästhetik andrerseits, der die wohlgefällige Wirkung des

Schönen in irgend einem Sinne von Inhalt und Bedeutung des Dargestellten abhängig ist.

Innerhalb der Gehaltsästhetik lassen sich fünf Richtungen

unterscheiden.

Erstens der Realismus oder Naturalismus, der mehr oder weniger von

der

stillschweigenden

Voraussetzung

ausgeht,

daß

alles Wirkliche

Auf dieser Grundlage besteht die

schon als solches ästhetisch interessirt. ästhetische Lustwirkung beim Realismus

bald

mehr

in der

Freude an

der gelungenen Nachbildung des Wirklichen und an der virtuosen Kunst­ fertigkeit

überhaupt,

bald

mehr

in

der

Lust

an

dem

Interessanten,

Packenden, Außergewöhnlichen, Drastischen, das aus dem Wirklichen aus­

gehoben und zum Gegenstände der Darstellung gemacht wird,

bald in

allem diesem zusammen.

Zweitens der Idealismus von Ideal abgeleitet.

Derselbe setzt das

Wesen des Schönen in ein Beiseitelassen des unser Gefühl Störenden der gemeinen Wirklichkeit und in ein ausschließliches Hervorkehren der in der Welt anzutreffenden Züge von Vollkommenheit.

Ja er will durch die

Kunst geradezu eine schönere und bessere Welt geschaffen sehen, als die

gemeine, die uns umgiebt, eine paradiesische Traumwelt, in die wir uns

aus der unbefriedigenden Wirklichkeit des irdischen Jammerthals flüchten können.

Dies ist aber nicht der hier in Rede stehende Idealismus.

Dieser, von Idee abgeleitet, ist der dritte Standpunkt und bedeutet eine Erklärungsweise des ästhetischen Wohlgefallens, nach der dieses auf

der anschaulichen Erkenntniß des rationalen Elements im Wirklichen be­ ruht, mag diese Erkenntniß nun aufgehen am Wirklichen selbst, vermittelt

durch jene eigenartige Weise der Auffassung desselben, die man ästhetische

Anschauung nennt, oder mit leichterem Gelingen am Kunstwerke, wo schon das Mittleramt der Kunst die rationalen Lichtstrahlen der Wirklichkeit in

einen Brennpunkt gesammelt hat. Sinne braucht nicht

nothwendig

Der ästhetische Idealismus in diesem einen metaphysischen Hintergrund

der

Wirklichkeit, bestehend in einer urbildlichen Ideenwelt, oder in einer an sich seienden Vernunftpotenz, die sich im Wettproceß verwirklicht, oder in

einem vernünftigen Schöpferwillen, oder in einem mit dem Denken iden­ tischen Sein vorauszusetzen. An sich könnte er sich nominalistisch damit be gnügen, das unserem Denken thatsächlich Verwandte der gegebenen Wirk­ lichkeit, unbekümmert um eine etwaige metaphysische Herkunft, ästhetisch aufzufassen und seine Nachschaffung der Kunst als Aufgabe zu setzen. Thatsächlich jedoch hat dieser Idealismus sich den Luxus eines jenseitigen Princips rationaler Weltgestaltung vom Neuplatonismus an bis auf Hegel und Schopenhauer nie versagt; er würde auch ohne dasselbe eine Halbheit sein. Jedenfalls ist dieser Idealismus ästhetischer Intellektua­ lismus, d. h. er setzt die ästhetische Wirkung in die Befriedigung unseres intellektuellen Bedürfnisses durch Anschauung der unserem Denken ver­ wandten Elemente der Wirklichkeit, sei es in dieser selbst, sei es im ver­ deutlichenden Spiegel der Kunst, die ästhetische Lust aber ist nur der Ge­ fühlston dieser intellektuellen Befriedigung. Der vierte Standpunkt, vertreten durch von Kirchmann, ist der der GefühlSästhetik. Nach ihr ist das Schöne das Gefühl-Ausdrückende und Erregende, die Gefühlsäußerung, die Gefühlsursache, alles mit dem Ge­ fühlsleben Zusammenhängende; die ästhetische Lust beruht auf der Erre­ gung der ganzen Skala unserer Gefühle in unpersönlicher Form. Diese Erregung ist unmittelbar lustvoll. Der fünfte Standpunkt endlich ist eine Ausdehnung des vierten auf alle Arten seelischer Functionen und schließt daher den vierten in sich. Nach ihm beruht die ästhetische Lust auf der bloßen Versetzung unserer seelischen Fähigkeiten in Function, ohne daß ein persönliches Interesse dabei im Spiele wäre. DaS ästhetische Objekt im engeren Sinne, das in der eigentlichen Kunst seine Darstellung findet, bildet hier einen engeren Kreis im Gesammtgebiet deS Schönen, dessen Lustwirkung auf der uninteressirten FunctionSerregung von Gefühlen und zwar einer besonderen Gefühlsgruppe, der Schicksalsgefühle, beruht. Diese Uebersicht wird genügen, um die Stelle des bei von Hartmann vorliegenden ästhetischen Idealismus zunächst als Gattung innerhalb der Gesammtheit der möglichen Standpunkte zu kennzeichnen. Seinem be­ sonderen Artcharakter nach bestimmt sich der von Hartmann'sche Idealis­ mus zunächst als concreter im Gegensatze gegen den abstrakten, der sich z. B. bei Schopenhauer findet. Dieser Gegensatz von abstrakt und concret ist auch in der gegenwärtigen Schrift noch nicht ganz von der schwanken­ den Fassung befreit, die in der früheren hervortrat; z. B. wird S. 179 das Abstrakte in die Beschränkung der Idee auf den GallungStypuS ge­ setzt, während sie doch auch im Individuellen sich bethätige. 3m Allge­ meinen wird in der gegenwärtigen Schrift als das unterscheidende Merk-

344

Neue Schriften zur Poetik und zur Lehre vom Schönen überhaupt.

mal des abstrakten Idealismus festgehalten, daß bei ihm die Idee selbst in ihrem Ausichsein das eigentliche Schöne,

das Urschöne ist, während

der concrete Idealismus die Schönheit nur dem Scheinen der Idee zu­

erkennt, d. h. ihrem Hervortreten in sinnlicher Einkleidung, wogegen sie in ihrem Ansichsein als metaphysische Realität,

als

objektiv

existirendes

logisches Princip, keine Schönheit haben könne (S. 464, 579 f. u. a. St.).

Diese Unterscheidung ist sehr einleuchtend, es ist aber fraglich, ob nach ihr z. B. Schopenhauer zu den abstrakten Idealisten gerechnet werden kann. Auch findet darin das früher von von Hartmann hervorgehobene und in

seinem Sinne wichtige Merkmal des concreten Idealismus, daß bei ihm

die Idee selbst sich in Zeit und Raum ebenso wandelt, wie ihre Erschei­ nung, keinen Ausdruck.

Jedenfalls beruht für den concreten Idealismus die ästhetische An­

lage auf der „Jntellektualität der sinnlichen Anschauung"

d. h. auf dem

Vermögen, die sinnliche Form, wenn auch ohne deutliches Bewußtsein, als den Ausdruck der Idee zu fühlen und zu genießen (S. 116).

Nach dieser Vorstellung ist also alles Wesenhafte und Charakteristische

in Natur und Menschenleben,

sofern

sich

darin ein Moment des dem

Weltgrunde angehörigen logischen oder Vernunftprincips ausprägt, schön und die Freude am Schönen

auf der ahnenden Perception der­

beruht

jenigen metaphysischen Bedeutung der Dinge, die auf ihrem Zusammen­ hang

mit dem Vernunftatlribut der

Hartmann

nennt

dieses Hindeuten

absoluten Substanz beruht.

Don

des Schönen auf die absolute Idee

seine mikrokosmische Natur d. h. in ihm erscheint in gewissem Sinne der Weltgrund selbst in einem AuSzuge und in einer einzelnen Manifestation. Je stärker und bedeutsamer dieser Zusammenhang mit der absoluten Idee

ist, desto höher ist der Grad des ästhetischen Werthes (S. 470, 394 u. a. St.).

Die „logische Idee" oder das „unbewußt Logische" ist „das

zeugende Princip aller Wirklichkeit" (S. 145), das Schöne ist ihre Versinnlichung.

Auf der höchsten Stufe des Schönen wird

„die Logicität

der Idee" immer dunkler, das Schöne ein Mysterium, nur der unbe­ wußten Perception zugänglich (S. 199); die Weltidce umfaßt als höchste Jndividualidce alle Jndividualideen (S. 195). Dieser Gegensatz des

concreten

gegen den

abstrakten

Idealismus

tritt auf dem ästhetischen Gebiete an Stelle des metaphysischen Gegen­

satzes des Panlogismus gegen den Panthelismus.

Schopenhauer,

seinem Panthelismus

nommen und auS ihr das Schöne abgeleitet hatte,

Gebiete nicht mehr zu verwerthen. schen Ideen,

Letzterer war, da auch

zum Trotz, eine Ideenwelt ange­ auf dem ästhetischen

Freilich bleibt bei den Schopenhauer'-

da sie eigentlich „WillenSakle" sind und nicht aus einem

Neue Schriften zur Poetik und zur Lehre vom Schönen überhaupt.

345

Vernunftprincip entspringen, ihr logischer Charakter einigermaßen zweifel­

haft, während er bei von Hartmann an dem logischen Attribut der ab­

soluten Substanz seine unzweifelhafte Stütze und Gewähr hat. ES bleibt aber noch ein charakteristisches Merkmal deö von Hart-

mann'schen Idealismus hervorzuheben, das denselben namentlich gegen Hegel absondert und wiederum auf der besonderen Eigenthümlichkeit seiner

Metaphysik beruht. Sein Weltprincip ist nicht ausschließlich logische Idee,

sondern es hat die beiden Attribute des Willens und der Idee, die sich nur äußerlich und lose in der absoluten Substanz zur Einheit zusammenfinden. Auf dem Willen beruht das Daß, auf der Idee nur das Wie und Was

Auch dieser Urwille muß in der Aesthetik seine Stelle finden.

der Existenz.

In der That ist ihm, wie das Schöne das erscheinende Logische, so das Häßliche daS erscheinende Unlogische deS Weltgrundes (;. B. S. 322).

Während in der Hegel'schen Schule

ein positives Princip des Häßlichen

fehlt und dasselbe daher nur eine partielle Negation, ein Zurückbleiben hinter der vollen Auswirkung der Idee oder auch den nothwendigen Gegen­

satz darstellt, durch den die dialektische Entwicklung der Idee sich vollzieht, ist

bei von Hartmann der Gegensatz ein positiver zweier gleich starker

Factoren, auf dem Dualismus der Attribute des Absoluten beruhend.

Allerdings ist ja das logische Princip daS endgültig überlegene und triumphirende.

Es

Hal von Anbeginn den Weltproceß, der ein

Willen verschuldetes Unglück ist,

vom

auf den allein ersprießlichen AuSgang,

den Untergang alles Daseins, planvoll angelegt (S. 258) und die ganze „Logicität" hat zum letzten Ziele die Wiederherstellung des Friedens des

Nichtseins.

Demgemäß darf auch auf dem ästhetischen Gebiet daS Häß­

liche, soweit es daselbst überhaupt Berechtigung hat, denes auftreten (S. 256).

Andererseits

aber hat

nur als überwun­

die

mikrokosmische

Natur deS Aesthetischen, d. h. sein Zusammenhang mit der „Weltidee" als Wiedergabe nicht mir eines untergeordneten, gleichgültigen PartikelchenS derselben, sondern ihres wesentlichen und charakteristischen Gepräges, ihren letzten Hintergrund an der pessimistischen Bevorzugung deS Nichtseins vor

dem Sein.

Damit wäre

also

die Grundrichtung dieser Aesthetik charakterisirt:

Die Freude am Schönen ist eine wesentlich intellektuelle,

beruhend auf

ahnender Erkenntniß des in den Dingen sich offenbarenden logischen Welt­ princips.

Je

tiefer diese ahnende Erkenntniß in ihren Gegenstand ein­

dringt, desto mehr enthüllt sich ihr das letzte Ziel und die tiefste Bedeu­

tung dieser ganzen metaphysisch-jenseitigen Logik: die Wiederaufhebung der Welt.

Gilt dies zunächst nur von der Freude am Schönen der Wirk'

lichkeit, so ist doch auch für die Kunst, Preußische Jahrbücher.

Bd. LX1I. Heft 4.

die

das Schöne der Wirklichkeit 23

Nene Schriften zur Poetik und zur Lehre vom Schöuen überhaupt.

346

Wiederzuspiegeln hat, die höchste Aufgabe,

ebenfalls an

ihrem Theile

möglichst „mikrokosmisch" zu werden d. h. den negativen Werth der Welt

und ihre Bestimmung und Angelegtheit zum Nichtsein der ahnenden Er­ kenntniß im Bilde vorzuführen.

Den Aufbau im Einzelnen betreffend, so kann derselbe hier nur den allgemeinsten Zügen nach charakterisirt werden.

in zwei Bücher,

Die Schrift gliedert sich

„der Begriff deS Schönen"

und

„das Dasein des

Schönen".

Im

ersten Buche wird das Wesen deS Schönen nicht definitionS-

mäßig abstrakt bestimmt, entwickelt.

sondern in seiner concreten Mannigfaltigkeit

In der That ist ja daS Schöne ein

gruppenweise

abgeleitet

und

entwickelt werden

sehr Vielfältiges, das muß.

Die

Grundlage

dieser Umfangsbestimmung deS Begriffes bildet daS Kapitel: „Die Eon-

cretionSstufen des Schönen".

Dem Ausdruck ConcretionSstufen liegt die

Vorstellung zu Grunde, daß die einzelnen Formen und Arten deS Schönen nicht nur

eine Stufenfolge vom minder Bedeutenden zum Bedeutenden

bilden, sondern daß die höheren Stufen als die concreteren die niederen als aufgehobene Momente in sich schließen.

Aber schon

in

der Art der Durchführung

dieses Verfahrens zeigt

sich der verderbliche Einfluß der metaphysischen Grundlage, aus der mit Nothwendigkeit ein falscher Leitfaden der Auffindung und Anordnung der einzelnen Formen sich

faden,

ergeben muß.

Nicht psychologisch ist dieser Leit­

von der Erfahrung des eigenthümlich ästhetischen Gefallens aus

die einzelnen Formen und Arten desselben aufsuchend,

sondern er wird

ähnlich wie bei Schopenhauer von der Gliederung der in der Erscheinungs­

welt sich manifestirenden logischen Idee entlehnt.

Die ConcretionSstufen

deS Schönen sind nur die vom Abstrakten zum Concreten aufsteigenden Wandlungen und Evolutionen der Weltidee (S. 605). ist der eigentlich grundlegende, insbesondere auch

Dieser Abschnitt

von dem die ganze folgende Gliederung,

die der Künste, abhängt.

Zunächst werden in einem

folgenden Kapitel nach demselben Leitfaden die den einzelnen Formen des Schönen entgegenstehenden Formen des Häßlichen abgeleitet und auch die

beiden daran sich anschließenden Abschnitte „die Modificationen des Schö­ nen", in denen vornehmlich daS Erhabene und die aus dem Conflikt mit

dem Häßlichen und

der Ueberwindung

dieses ConfliktS

hervorgehenden

Besonderheiten deS Schönen behandelt werden, sind durch diese kosmische

Grundauffassung deS Schönen von vorn herein in ihrer Eigenthümlichkeit

bestimmt. Ein Schlußkapitel des

ersten Buches faßt zwei ziemlich heterogene

Gruppen von Gegenständen zusammen, daS Verhältniß des Schönen zu

Neue Schriften zur Poetik und zur Lehre vom Schönen überhaupt.

347

anderen Richtungen des Geisteslebens (Bedürfniß, Wahrheit, Sittlichkeit,

Im letzteren

Religion) und

die metaphysische Bedeutung des Schönen.

Abschnitt wird

der bis dahin nur mehr vereinzelt und gelegentlich her­

vorgetretene metaphysische Hintergrund der ganzen Auffassung vollständig

enthüllt. Das zweite Buch Kunst,

behandelt das Schöne der Wirklichkeit und der

ersteres unter den

geschichtlich Schönen,

beiden Gesichtspunkten des Naturschönen und

letzteres in seiner Gliederung in die unfreien und

unselbständigen Künste einerseits und die freien Künste andererseits. findet sich

Künste,

namentlich

hier,

das Kunsthandwerk im weitesten Sinne,

Widerspruch erweckt.

Vieles,

fruchtbar und anregend ist.

Es

in dem Abschnitt über die unselbständigen neben Manchem,

das

das auch für den principiell Abweichenden

Einseitig ist z. B. das Prinzip für die kunst­

mäßige Gestaltung der Gebrauchsgeräthe, nach dem für dieselben die reine

Zweckmäßigkeit der Gestaltung an sich während doch

sein soll, Zweckes

schon

die vollkommene Schönheit

letztere wohl auch eine Veranschaulichung des

glänzend

und eine Verlebendigung des GeräthS einschließt;

ist

z. B. die Verweisung der Baukunst unter die unfreien Künste (S. 599 f.). Auffallend ist die fast völlige Vernachlässigung des Begriffes des Kunst­

stils, der nur in vereinzelten Stellen berührt und hier sehr äußerlich auf­

gefaßt wird (S. 139 ff., 556).

Das tiefe Dunkel der Unklarheit,

über diesem wichtigen ästhetischen Terminus noch lagert,

das

erfährt in der

von Hartmann'schen Schrift keine Aufhellung.

Weiter

in die Einzelheiten einzugehen,

ist bei der Massenhaftigkeit

des Stoffes und der großen Zahl der in Betracht kommenden Special­

Wem eine Aesthetik auf der, wie ich hoffe, mit hin­

fragen unmöglich.

reichender Deutlichkeit bezeichneten,

mannas

congenial

metaphysischen Grundlage von Hart­

ist, wird bei dem Buche seine Rechnung finden; im

Allgemeinen dürfte bei der heutigen Welt das Gefühl der Gegensätzlichkeit wie gegen die zu Grunde liegende metaphysische Welterklärung nach Genus

so auch gegen die aus diesem Boden erwachsene Aesthetik

und Species,

als gegen eine verspätete Erscheinungsform einer eigentlich schon seit ge­

raumer Zeit

auf

den Aussterbeetat gesetzten Grundrichtung der Wissen­

schaft vom Schönen überwiegen.

Schade nur, daß wir einstweilen nichts

Besseres an die Stelle zu setzen haben

übung, wie

unser Kunsturtheil nach

und

daß

der Regel:

sowohl

unsere Kunst­

Ordre, contreordre,

dösordre bis auf Weiteres in dem bisherigen anarchischen, Princip- und

richtungslosen Zustande wird verharren müssen.

Einen seltsamen Gegensatz gegen den thatsächlich vorhandenen strengen Zusammenhang

mit

seiner

metaphysischen

Grundanschauung

23*

bildet

bei

Neue Schriften zur Poetik und znr Lehre voni Schönen überhaupt.

348

von Hartmann die wie anderwärts so auch bei seiner Aesthetik hervor­

tretende Neigung (S. X), die Ergebnisse seiner Einzeldisciplinen als auf

inductivem Wege, also voraussetzungslos, gewonnen hinzustellen.

In der

That treten in der vorliegenden Schrift die metaphysischen Grundvoraus­ setzungen nicht

als ausgemachte Sätze an die

gleich von vorn herein

Spitze, sondern sie treten nur allmählich im Verlaufe wie neugewonnene Diese Jnduction, die mit unfehlbarer Sicherheit die

Ergebnisse hervor.

vorauSbestimmte Richtung

auf die längst feststehenden Grundprincipien

deS Systems einschlägt, erinnert unwillkürlich an jene wohldressirte Deduktion der Wolff'schen Schule, über die der alte Kant namentlich in den

„Träumen eines Geistersehers" seinen gutmüthigen Spott auSgießt. Diese Philosophen sind, so meint Kant, übereingekommen, vom Anfangspunkte auS nicht nach der geraden Linie der Schlußfolge, sondern mit einem un­

merklichen Clinamen der Beweisgründe die Vernunft so zu lenken, daß

sie gerade hinlreffen

mußte, wo

der

treuherzige Schüler sie nicht ver­

nämlich dasjenige zu beweisen,

muthet hatte,

wußte, daß es sollte bewiesen werden.

wovon man schon vorher

Er vergleicht dies Verfahren mit

dem des Romanschreibers, der seine Heldin in entfernte Länder fliehen läßt, damit sie ihrem Anbeter durch ein glückliches Abenteuer wie von ungefähr aufstoße.

Kant denkt bei diesem Bilde wohl an den Boltaire-

schen Candide, mit dem er sich damals gerade eingehend beschäftigt hatte. —

Zwischen dem von Hartmann'schen Buche und dem „Handbuche der

Poetik" von Baumgart giebt es nur eine Aehnlichkeit, das ist der mächtige Umfang.

Dieses „Handbuch", das zudem noch nicht einmal die­

jenigen landläufigen Belehrungen über Versfüße, Reim u. dgl. enthält, die man in einem solchen anzutreffen erwartet, sondern sich wesentlich auf die ästhetischen Grundfragen beschränkt,

ist

ein

starker Band von 735

großen Seiten und übertrifft auch seinerseits den Umfang des Scherer'schen Buches um das Vier- bis Fünffache.

Im Uebrigen giebt es keinen größeren Gegensatz,

als den zwischen

der von Hartmann'schen und der Baumgart'schen Behandlung der ästhe­ tischen Fragen.

Dort

streng

philosophisches

Verfahren,

hier

litterar-

geschichtlich-exegetische Untersuchungen, dort metaphysische Grundlage, hier Verharren

auf dem Boden der Empirie,

dort Gebanntheit in den Ge­

dankenkreis der speculativen Aesthetik der Schelling, Hegel u. s. w., hier Auseinandersetzungen mit Lessing, Herder, Goethe, Schiller, Allen als

letzte Instanz

und

wie

über denen

eine gebietende Gottheit Aristoteles

schwebt.

Baumgart hält jeden Versuch, die Bestimmungeu über die einzelnen Künste aus

einer Definition

des Schönen abzuleiten,

für aussichtslos

Neue Schriften zur Poetik und zur Lehre vom Schönen überhaupt.

(S. 6).

Er glaubt,

soweit

349

die heute geltende Poetik auf einigermaßen

festem Boden stehe, stütze sie sich in den Fundamentalsätzen überall auf

die von Lessing und Schiller gewonnenen Resultate (S. 2).

Näher giebt

eö nur eine Art der Kunstbetrachtung, die zu positiven Resultaten führt, die Aristotelisch-Lessing'sche und für die Begründung einer Erkenntniß der technischen Grundgesetze hat vor Allem Aristoteles weit mehr gethan, als

die neuere und neueste Kritik anerkennen will (S. 6). Versuchen wir hier gleich die wesentliche Eigenart des BucheS, sie uns aus dem Ganzen entgegentritt, zusammenzufassen.

Litterarhistoriker;

er gehört offenbar

philologisch-historischer Richtung,

zu

wie

Baumgart ist

jener Gruppe von

Gelehrten

die durch die von Jakob BernahS ge­

gebene neue Deutung der tragischen Katharsis des Aristoteles zu ästhe­

tischen Betrachtungen angeregt wurden.

natürlicher und begreiflicher Vorgang.

DieS ist in der That ein sehr Die neue Auslegung der aristo­

telischen Lehre von der Wirkung der Tragödie erschien nicht als ein bloßer

Beitrag zum historischen Verständniß des griechischen Philosophen, sondern als ein ästhetisches Programm; es war ein Princip gegeben, das in seinen

Consequenzen eine ganze Aesthetik einschloß.

Man nahm daher mit einem

Eifer und einer Leidenschaftlichkeit für und wider Partei,

die

einer bloßen

Es schien sich

exegetischen Frage unerklärlich sein würde.

gegenüber

von vornherein nicht um die Frage zu handeln, was Aristoteles gemeint

hat, sondern was wir selbst für richtig zu halten rechtlich gebunden sind: es

war

wie

ein

Streit um die

einer zweifelhaften

Auslegung

Ge­

setzesstelle.

Diese

merkwürdige Erscheinung ist nur ein letzter Specialfall des

autoritativen Ansehens, das Aristoteles seit den Tagen der Renaissance

in Fragen der Poetik genossen hat.

Derselbe Humanismus, der Aristo­

teles seiner im Mittelalter genossenen Stellung als höchste Autorität in Fragen der Logik und Metaphysik entkleidete,

erhob ihn als Gesetzgeber

der Poesie auf den Thron und begründete ihm so ein neues Herrschafts­ gebiet.

Noch Lessing erklärt ihn,

während er sich seine Bestimmungen

über den Zweck der Tragödie nach dem eigenen Sinne zurechtlegt, für ebenso unfehlbar in Fragen der Poetik, wie Euklid in Fragen der Geo­

metrie und selbst Goethe macht wenigstens den Versuch, der Wirkung der Tragödie

sich

hinsichtlich

mit dem aristotelischen Wortlaut abzufindcn,

wenn er auch diese Abfindung als Auslegung preisgiebt. Baumgart hat sich seit fünfzehn Jahren

in

einer ziemlichen Reihe

von Aufsätzen und Schriften an der durch die BernayS'sche Katharsis­ erklärung angeregten Controverse betheiligt und in diesen Schriften eine

von BernahS abweichende und sich Lessing

annähernde Auffassung der

Neue Schriften zur Poetik und zur Lehre vom Schönen Überhaupt.

350

exegetischen Frage vertreten. licke seiner

Die gegenwärtige Schrift faßt da^ Wesent-

exegetischen Begründung für die ihm eigene Erklärung des

Aristoteles compendiarisch zusammen,

fügt aber als Neues die Identifi­

cation feines eigenen ästhetischen Standpunktes mit dem des Aristoteles, wie er ihn versteht, und den Versuch hinzu, aus diesem angeblich aristo­

telischen

Princip

unter

tischen Erörterungen

kritischen Auseinandersetzungen

mit den theore­

unserer Klassiker und reichlichen Exemplifikationen

anS der antiken und modernen Poesie eine vollständige Poetik herauszu­ spinnen. Wie sehr

ihm

hierbei

der Katharsisbegriff im Mittelpunkte der

ganzen Poetik, ja der Kunstlehre überhaupt steht, mögen folgende An­ führungen beweisen. Daß er in der Katharsis mit Aristoteles die we­ sentliche Wirkung der Tragödie erblickt (S. 450f.) kann nicht über­

raschen.

eS S. 501

Hinsichtlich der Tragödie heißt

„Auf die Katharsis

zusammenfafsend:

Schicksalsempfindungen zielen die sämmtlichen

der

Mittel der Darstellung mit vereinigter Kraft hin."

Diese selbe tragische

Katharsis als Katharsis der „Schicksalsempfindungen" weist er aber ferner auch dem ernsten Epos, dem epischen Analogon der Tragödie, als we­

sentliche Wirkung zu (S. 274f.). Anschluß

die

an

Auch für die Komödie macht er, im

von BernahS ans Licht

gezogenen Auszüge auS der

aristotelischen Poetik betreffend die Komödie, die er aber in viel weiterem

Umfange

als Bernays

selbst für echtes aristotelisches Gut erklärt, den

Versuch, eine eigenartige Katharsiswirkung zu construiren (Abschnitt XXX). Aber schon an einer früheren Stelle (S. 243ft.) hat

der Komödie

auf das

Komische

überhaupt

er diese Wirkung

ausgedehnt, als dessen

Zweck und Wirkung ihm „die gegenseitige Katharsis der Affekte des Wohl­ gefallens und des Lachens" erscheint.

Ebenso nimmt er für das Schau­

spiel im engeren Sinne, die Mittelgattung zwischen Tragödie und

Komödie,

als

ästhelische Wirkung

eine

„Empfindungen" (S. 394) in Anspruch.

entspricht aber genau dem,

setzt.

„gegenseitige Klärung"

Diese

zweier

„gegenseitige Klärung"

worin Baumgart das Wesen der Katharsis

Sogar für die Satire ist er (S. 105ft.) bemüht, als eigenthüm­

liche Wirkung

er S. 451,

„eine Art von Katharsis"

daß

zu erweisen.

Generell erklärt

„das Ziel der Wirkung in jeder Kunst eine Katharsis

ist, eine Läuterung des Empfindens, in den bildenden Künsten wie in der

Musik und in der Poesie und in dieser nicht nur in der Tragödie und Komödie, sondern ebensowohl auch in der Lyrik" daß die Katharsis

„das wesentliche Moment,

die

und S. 526 heißt cS, unerläßliche Aufgabe

einer jeden rein künstlerischen Wirkung bildet".

Mit dieser Generalisirung der Katharsis als Bezeichnung dcr Kunst-

Neue Schriften zur Poetik und zur Lehre vom Schönen überhaupt.

351

Wirkung ist, rein exegetisch-historisch betrachtet, die Befugniß, die der erhal­

tene aristotelische Text zur Verwendung giebt, weit überschritten.

Katharsiswirkung

des vielumstrittenen Terminus

Aristoteles scheint nach Allem, was vorliegt, die

auf die Musik und daS Drama

beschränkt zu

haben.

Die Erklärung dafür, daß ein so enragirter Aristoteliker, wie Baumgart

es ist, sich eine so weitgehende Grenzüberschreitung gestattet, liegt wohl in der ihm eigenthümlichen, von der durch Bernays begründeten wesentlich

abweichenden Auffassung deS Katharsisbegriffs.

Die Katharsis ist ihm

zwar nicht, wie bei Lessing, eine direkt ethische Wirkung, aber auch nicht, wie bei BernayS, ein bloßes Maximum der Gefühlserregung, sondern

sie ist ihm Läuterung deS Gefühls zu einer der Wahrheit der Dinge enisprechenden Haltung (S. 275), Befreiung des Gefühls von Trübungen,

Uebertreibungen, Verkümmerungen, störenden und entstellenden Beimischun­ gen (S. 451), wodurch offenbar seiner Meinung nach die Erhebung deS Gefühlslebens zu derjenigen Normalität bewirkt werden soll, wie sie der

wirklichen Bedeutung der Welteinrichtung für die Gesammtlage des Men­ schen entspricht. Wenn dies der Sinn des Aristoteles zunächst für die tragische Ka­

tharsis wäre und wenn ferner eine solche Gefühlsklärung als Aufgabe der Kunst gellen könnte, so läge allerdings die Versuchung nahe, den aristo­

telischen Terminus zur generellen Bezeichnung deS letzten Zweckes aller Kunst zu erweitern.

Warum sollten nicht, wenn der Zweck der Tragödie

in Klärung und Läuterung einer bestimmten Gefühlsgruppe besteht, für

andere Gefühlsgruppen andere Kunstformen haben können?

eine entsprechende Wirkung

Ganz anders aber liegt die Sache, wenn die Katharsis

für Aristoteles nur ein Maximum zugleich der Intensität und der Voll­

ständigkeit des Verlaufs der betreffenden Gefühle bedeutet.

Dann konnte

weder die Lyrik, die den Gefühlston zwar energisch anschlägt aber nicht

lange genug ausklingen läßt, noch das Epos, daS den Hörer oder Leser

zwar lange genug im Banne einer gewissen Gefühlssphäre hält, aber diese weniger stark aufregt, wie daS Drama, eine Katharsis bewirken.

Das­

selbe gilt aber auch für andere Gattungen der Poesie und für die sonstigen Künste mit alleiniger Ausnahme der Musik, die in Beziehung auf In­

tensität und Continuität der Gefühlserregung dem Drama verwandt ist.

Ich halte die von Baumgart für seine Auffassung der aristotelischen

Katharsis beigebrachten Gründe nicht für beweisend.

ES kann ja nicht

schaden, daß sich an der Katharsisfrage als einer rein exegetisch-philologi­

schen Frage immer neue Kräfte versuchen; vielleicht gelingt es der philo­ logischen Kunst einmal, eine allgemeine Uebereinstimmung der Ansichten zu erzielen.

Möglicherweise könnten die schon erwähnten Excerpte aus der

352

Neue Schriften zur Poetik und zur Lehre vom Schönen überhaupt.

Poetik für die aristotelische Lehre von Per Wirkung der Tragödie und Komödie noch einen Ertrag abwerfen. Baumgart hat sie für feine An­

sicht verwerthet, doch ist der Boden ein sehr unsicherer und jedenfalls hier nicht der Ort, in diese Untersuchung einzutreten.

Ein Hauptbedenken gegen

die BernayS'sche Deutung der Katharsis, das auch bei Baumgart wieder hervortritt, beruht auf der Thatsache, daß sie bei dieser Fassung ihrer

eigentlichen Bedeutung nach nicht als allgemeingültige normale Knnstwirkung, sondern als homöopathische Heilung krankhaft belasteter Gemüther erscheint.

Hier trifft nun in erster Linie Aristoteles selbst ein Borwurf.

DaS medizinische Bild ist nicht besonders glücklich gewählt und erforderte jedenfalls auch für die nächsten Leser allerlei Explicationen und Restric-

tionen, um die Brücke von der specifisch-therapeutischen zur allgemeingültig­ normalen Wirkung zu schlagen.

Für unS sind diese Erörterungen bis auf

eine flüchtige Andeutung im achten Buche der Politik verloren; außerdem ist unS der zu Grunde liegende medizinische VorstellungSkreiS ein völlig fremdartiger und daS Wort Katharsis drängt sich immer in seiner Grund­

bedeutung „Reinigung" auf.

Auch Bernays hat den von Aristoteles ge­

wollten Unterschied zwischen dem ursprünglichen therapeutischen und dem

abgeschwächten bei Allen stattfindenden Vorgänge nicht scharf genug markirt; das Zurückgehen auf die BernahS'sche Schrift, die den Gegenstand nicht gleich in jeder Hinsicht in makelloser Vollendung darstellte, wird hier

immer wieder Anstöße hervorrufen.

In größtmöglicher Deutlichkeit habe

ich in meinem früheren Aufsatze in d. Zeitschr. (Band LX) sowohl diesen Punkt, als auch die muthmaßliche Lehre des Aristoteles von der Wirkung

der Kunst überhaupt den Grundzügen nach dargestellt und halte diese Auf­ fassung nach wie vor für die richtige. Von dieser exegetischen Frage ist aber vollständig die ästhetische zu

trennen.

ES kann Jemand überzeugt sein, daß Aristoteles so oder so ge­

lehrt hat, ohne doch im Mindesten dessen Ansicht zu theilen und eS kann

Jemand eine ästhetische Ansicht hegen, ohne doch im Geringsten darnach zu fragen, ob auch Aristoteles dieser Ansicht gewesen.

Aber auch wenn man,

wie bei Baumgart der Fall, sich mit Aristoteles in allen Punkten eins glaubt, halte ich eS doch für mißlich, die aristotelische Lehre unmittelbar Ich selbst halte, wie

der systematischen Darstellung zu Grunde zu legen.

auch in dem erwähnten Aufsatze auSgeführt wurde,

die Kunstlehre des

Aristoteles dem Grundzuge nach für die richtige und stehe daher von vorn herein einer Poetik, die sich an Aristoteles anlehnt, sympathisch gegenüber,

würde aber nie versuchen, die Anlehnung auch äußerlich alö Ableitung des Systems aus Aristoteles zur Geltung zu bringen.

den Gründen.

Und zwar aus folgen­

Neue Schriften zur Poetik und zur Lehre vom Schönen überhaupt.

353

Zunächst muß doch im letzten Grunde der gewählie Standpunkt durch

innere Gründe gerechtfertigt, das ausgestellte Princip durch sich selbst ein­ leuchtend gemacht werden.

Auch die erlauchteste und

autoritativste Ge-

dankenverwandlschaft kann von dieser Leistung nicht dispensiren.

Ist dem

aber so, dann ist es wohl auch das Richtigste, man macht dies Geschäft vorweg für sich ab und läßt den Gewährsmann hinterher auftreten. Zweitens: Angenommen auch — eine Annahme, die von der Wirk­ lichkeit weit abliegt! — wir hätten die aristotelische Poetik vollständig und

in gutem Zustande vor uns, so würde doch immer ein bedeutendes Stück rein exegetischer Vorarbeit vorab zu leisten sein, um den Gedankengehalt aus der antiken und specifisch-aristotelischen Schale herauszulösen und in

moderner und unsern Anforderungen an Systematik entsprechender Form

darzustellen.

Als antike ist die aristotelische Poetik bei allem principiellen

Wahrheitsgehalt primitiv und ungelenk, mir einer unentwickelten Psycho­ logie arbeitend, nothwendiger psychologischer Begriffe, wie z. B. Gefühl,

entbehrend, ferner auf einer immerhin einseitigen und beschränkten natio­ nalen Litteratur beruhend.

Als specifisch-aristotelische verfährt sie,

wie

schon das Erhaltene deutlich zeigt, nach der bei Aristoteles überhaupt vor­

herrschenden Weise nicht synthetisch, das Princip nachweisend und daraus ableitend, sondern bleibt überall in der Analyse der Erscheinungen stecken.

Auch im denkbar günstigsten Falle der vollständigen Erhaltung würde ;. B. das

oberste Princip

der ästhetischen Lustwirkung, das Prinzip der Lust

auS der Erregung seelischer Functionen, voraussichtlich ganz ebenso aus

der Nikomachischen Ethik herzuholen sein, wie es bei der thatsächlich vor­

liegenden verstümmelten Erhaltung erforderlich ist und in anerkennenswerther Weise bei Baumgart (S. 149f.) geschieht. Drittens aber liegt nun in Wirklichkeit die aristotelische Lehre in so

unvollständiger Form vor, daß ein fachmäßiges Studium dazu gehört, sich über die Grundzüge eine Ansicht zu bilden und aus Schritt und Tritt ein gewaltiger Apparat von Beweismaterial in Bewegung gesetzt werden muß, um die gewonnene Ansicht über die Meinung deö Aristoteles zu rechtfer­ tigen und gegen die abweichenden Ansichten zu vertheidigen.

Durch diese

Nothwendigkeit wird denn auch der Charakter deS Baumgart'schen Buches wesentlich bestimmt: bei aller Beschränkung auf daS Wesentlichste und trotz

der vielfachen Verweisungen auf die Begründung exegetischer Punkte in

seinen früheren Arbeiten besteht ein erheblicher Theil desselben auS exege­ tischer Vorarbeit.

Und selbst so wird der Leser nicht überzeugt oder viel­

mehr, er erhält, wenn er Laie auf dem Gebiete der aristotelischen Kunst­

lehre ist, die Ueberzeugung, daß hier lauter streitige Fragen vorliegen; ist er Fachmann, wird er zum Widerspruche gegen unhaltbare Auffassungen

Neue Schriften zur Poetik und zur Lehre vom Schönen überhaupt.

354

aufgefordert. Hierher gehört die bereits besprochene falsche Fassung der Katharsis als Klärung und die damit zusammenhängende Verwendung der­

selben zur Bezeichnung der gesummten Kunstwirkung; dahin gehört ferner

auf den Baumgart

der künstliche Unterschied zwischen itdöo? und

sich selbst gegenüber einer von einem Kenner wie Bonitz dieser Frage ge­ widmeten Specialuntersuchung nach wie vor steift.

Das Resultat deS

ganzen Unternehmens einer Poetik auf aristotelischer Grundlage ist: wir erhalten einen nach eigenen vorgefaßten Meinungen,

die wir

solche nicht gutheißen können, gemodelten Aristoteles

und

auch als

können also

weder der Exegese, noch dem System bcistimmen. Zu diesen auf der Grundanlage beruhenden Mißständen kommt nun

noch eine weitere Eigenthümlichkeit deS Buches hinzu, die ihm einestheilS

Werth und Interesse giebt, anderntheilS aber doch auch wieder eine ge­

wisse Schwerfälligkeit und Ungefügigkeit zur Folge hat, nämlich die Hin­ einarbeitung eines ungeheuren Materials aus den modernen und antiken

Litteraturen

behufs Bestätigung der aufgestellten Sätze.

Dasselbe tritt

bald in der Form der bloßen Hindeutung, bald als mehr oder minder

ausführliches Citat, bald als JnhaltSanalyse oder Deutung unter neuen Gesichtspunkten auf.

Hier findet sich im Einzelnen manches sehr Geist­

volle und BeachtenSwerthe, als Ganzes wirkt dieser Stoff als eine Reihe

von retardirenden Momenten innerhalb eines Gedankenfortschrittes, der

ohnedies schon ein an sich

schwieriger und künstlich erschwerter ist und

weiterer Hemmnisse füglich entrathen kann.

So haben wir also hier eine sehr stosfreiche Arbeit vor uns, die

als Ganzes, als System der Poetik, dem Grundgedanken der Gefühls­

klärung als wesentlicher Kunstwirkung wie der Ableitung auS Aristoteles nach, als wesentlich verfehlt bezeichnet werven muß, int Einzelnen aber manches Werlhvolle und Schätzbare bietet. —

Richt so

leicht,

wie die beiden

anderen

Arbeiten,

läßt sich die

Scherer'sche Poetik der Grundrichtung und wesentlichen Eigenthümlich­ keit nach rubriciren, zumal es dem Verfasser nicht völlig gelungen ist, für

daS

Eigettartige seiner

zu finden.

Arbeit eine durchaus

zutreffende Formulirung

Sie erscheint zunächst, ganz äußerlich betrachtet, als eine Poetik

vom Standpunkte der deutschen Philologie und Litteraturgeschichte (S. 66).

auS

Warum aber unternimmt der Litterator eine solche Arbeit? Er

bedarf für die litterarische Schilderung und Kritik, wenn dieselbe nicht

haltlos, trivial und monoton werden soll, eines gewissen VorrathS von

ästhetischen Begriffen (S. 61 f.). Unentbehrlichkeit eines

Historiker!

festen

Hier das bedeutsame Zugeständniß der

systematischen Standpunktes

auch für den

Die vorhandene Aesthetik ferner erscheint ihm nicht geeignet,

Neue Schriften zur Poetik und zur Lehre vom Schönen überhaupt.

diesen Bedarf zu decken;

355

sie ist durch ihre speculative Richtung mit der

Litteraturgeschichte und Philologie stark außer Contakt gekommen (ebenda­ selbst).

Hier das beschämende Verdikt des Praktikers über die Unbrauch­

barkeit der philosophischen Leistungen!

Er macht sich also selbst an die

Arbeit, um das seinem Bedürfnisse dienende zu schaffen. Wie muß nun diese Poetik beschaffen sein?

gesetzgebend sein.

forscher genug (S. 43).

einräumen.

Sie soll vor Allem nicht

Aristoteles z. B. ist zu sehr Gesetzgeber, nicht Natur­ Wir können diese Forderung in gewissem Sinne

Für den schaffenden Künstler kann es keine ästhetische Gesetz­

gebung in der Ausdehnung geben, in der die Aesthetik des französischen

Regelzwanges eine solche in Anspruch nahm.

In gewissem Maße zwar

ist auch für den Künstler der bewußt erkannte und erwogene Zweck ein Gesetz

der Gestaltung;

aber werden

sehr große Gebiete der künstlerischen Thätigkeit

immer der Spielraum

Genius bleiben.

für das

unbewußte Schaffen des

Erwägen wir aber, daß Scherer dem Gesetzgeber den

Naturforscher gegenüberstellt, bemerken wir ferner, daß er die von ihm intendirte Poetik eine empirische (S. 42), noch deutlicher eine beschreibende

nennt (S. 64), nehmen wir wahr, daß er lediglich als Statistiker die ge-

sammte Mannigfaltigkeit der Erscheinungen zu registriren bemüht ist, so

wird unS deutlich, daß das Verbot des Gesetzgebens sich in seinem Sinne nicht nur auf den schaffenden Künstler bezieht, sondern die Negation einer

maßgebenden Norm überhaupt, auch für den Beurtheiler einschließt.

Da­

mit ist aber wieder ein viel zu weitgehendes Princip aufgestellt, das wieder die doch auch von Scherer selbst geforderte Brauchbarkeit der Poetik zur

litterarischen Kritik ausschließt.

Scherer selbst tritt, wie wir sehen werden,

im Verlaufe vielfach als ästhetischer Gesetzgeber auf; schon jene denkbar

vagste Regel: Jedes Genre ist gut außer dem langweiligen enthält ein gesetzgeberisches Prinzip, das von der als Zweck gesetzten Wirkung aus Anforderungen an die Beschaffenheit des Litteraturproduktes stellt.

Wir

brauchen die in diesem vagen Satze indirekt geforderte Wirkung nur zu

vertiefen, so ergeben sich bald Wesensbestimmungen, Begriffe, und aus den

Begriffen Regeln in genügender Fülle. Das Charakteristische der Schrift scheint mir hiernach in dem Be­ streben zu bestehen,

die historisch-registrirende Methode auf das Gebiet

der systematischen Wissenschaft, die es doch nun einmal mit den über den einzelnen Erscheinungen schwebenden begrifflichen Bestimmungen, mit dem

sokratischen xi gxottrcov £er Ueber« tragung seiner Methode auf ein Gebiet, auf dem sie nicht praktikabel ist.

Wer den Dom zu Köln oder einen Königspalast verstehen will, soll nicht

mit dem germanischen Opferstein oder der Höhle des Troglodhten beginnen. Der Historiker ferner muß seinen Blick schärfen auch für das Menschliche

im niederen Sinne des Wortes, die rohen, urmenschlichen, sinnlich-egoisti­ schen Instinctc, die für den geschichtlichen Verlauf vielfach ausschlaggebend sind.

Wenn aber Scherer von dieser empirisch gewiß nicht wegzuleugnen­

den Seite der menschlichen Natur einen überreichlichen Gebrauch macht, um Wesen und Wirkung der Poesie zu erklären, so zeigt sich auch darin

wieder das Uebergreifen der historischen Methode auf ein Gebiet, aus dem sie nicht zureicht. Nach diesem Versuch, die allgemeine Grundrichtung der Schrift zu charakterisiren, gehe ich dazu über, den Inhalt etwas eingehender, als bei

den anderen Schriften geschehen, zu skizziren.

Bei dem mäßigen Umfange

der Schrift ist dies ein ausführbares Unternehmen, bei der Bedeutung des Autors und der Frische und Originalität der Gedankenentwicklung ist es

geboten und lohnend. Nach der Vorbemerkung deS Herausgebers, des Privatdocenten R.

M. Meyer an der Berliner Universität, hat sich Scherer in den letzten acht Jahren seines Lebens mit der Poetik beschäftigt und diese war in

seinen letzten Jahren seine Lieblingsarbeit.

Die vorliegende Schrift ist

eine im Wesentlichen wortgetreue Reproduktion des vierstündigen Privatcollegs über Poetik, das er im Sommer 1885 gehalten hat.

Und zwar

hat diese Reproduktion nicht, wie so manche postume Borlesungspublikation

aus nachgeschriebenen Heften, nur die Authentie des mündlichen VortragS,

deS momentanen, improvisirten Ergusses, sondern größtentheilS die der eigenen schriftlichen Fixirung.

Außer sorgfältigen Nachschriften stand ein

ausgearbeitetes Heft zur Verfügung, von dem in großen Partien im Vor­ trage fast gar nicht abgewichen worden war.

Auch hat Scherer selbst vor

seinem Tode die Veröffentlichung der Poetik angeordnet und damit die

vorliegende Publikation als etwas anerkannt, das nicht ein bloßer erster Wurf und Versuch ist, sondern in gewissem Maße einen Abschluß er­

reicht hat.

Die offenbar höchst sorgfältige Thätigkeit deS Redaktors betreffend,

so möchte ich nur auf zwei kleine Curiosa aufmerksam machen.

Das erste

ist vielleicht ein Druckfehler, möglicherweise auch ein Lesefehler der Redak­ tion.

S. 45 werden als die ältesten Verfasser von Rhetoriken Horaz und

TisiaS aufgeführt; offenbar ist Korax, der sicilische College des Tisias,

Neue Schriften zur Poetik und zur Lehre vom Schönen überhaupt.

gemeint.

Das zweite ist vielleicht

357

ein lapsus memoriae deS Autors,

dessen stillschweigende Beseitigung die Aulhentie nicht beeinträchtigt haben würde.

S. 109 wird die Definition der Tragödie ins vierzehnte Capitel

der aristotelischen Poetik verlegt, während sie sich thatsächlich im sechsten findet.

Für das kurze Vorwort des Autors ist charakteristisch die gegen die Definition gerichtete Absage.

Er scheut sich vor Definitionen, weil damit

zuviel Unwesen getrieben worden ist.

Er hofft ohne Definitionen oder

auch mit Definitionen, die im Sinne der strengen Logik recht unvollkommen

sind, deutlich zu werden. DaS einleitende Kapitel giebt eine Begrenzung des Gegenstandes,

dessen Theorie die Poetik ist, der Poesie, ferner eine Skizze der Geschichte der Disciplin, endlich die vom Autor selbst intendirte Behandlungsweise.

Für die Abgrenzung der Poesie ist ihm der richtunggebende Begriff

nicht, wie man erwarten möchte, die Kunst, sondern die kunstmäßige An­ wendung der Sprache d. h. die Litteratur im weitesten Sinne.

Dieses

Verfahren ist sehr charakteristisch und von großer Tragweite; Scherer begiebt sich damit, daß er die Poesie nicht unter den Begriff der Kunst sub-

sumirt, ter Möglichkeit, ihr wahres Wesen zu begreifen.

Auch die roheste

und primitivste Poesie hat in der Fähigkeit, durch das der Kunst eigen­ thümliche Mittel, Darstellung von Gefühlen, Gefühlsausdrücken, Gefühls­

ursachen, die der Kunst eigenthümliche Wirkung, Erregung der entsprechen­ den Gefühle, hervorzubringen, ein Element von Kunst in sich und nur durch diesen ihren Kunstcharakter und Kunstzwcck ist ihre Abgrenzung auch gegen

die übrigen Lilteraturgebiete möglich. Wird dieses Unterscheidungsmerkmal bei Seile gelassen, so bleiben nur Aeußerlichkeiten übrig.

So finden wir

denn den Satz: „nicht alle kunstmäßige Anwendung der Sprache ist Poesie"

zunächst dahin näher bestimmt, daß als Poesie alleö gelten soll, was in gebundener Rede auftritt, auch wenn es nur gereimte Prosa ist (S. 16 f.).

Dies ist aber doch nur ein ganz äußerliches Merkmal.

Er selbst führt

an, daß die Gesetze ursprünglich in Versen ausgeschrieben wurden und weist auf die bis ins 16. Jahrhundert vorkommenden Reimchroniken als Vor­ stufe der Geschichtschreibung hin (S. 23f.).

Wurden denn diese Dinge

durch die Abfassung in gebundener Rede zur Poesie?

Und wie ist es mit

den gereimten Genusregeln und den Anpreisungen der goldenen Hundert­

zehn?

Daß das echte Lehrgedicht zur Poesie zu rechnen ist, geben wir

Scherer gegen Aristoteles selbstverständlich zu, aber nicht, weil es in Versen

geschrieben ist, sondern weil eS Gefühlsausdruck ist und Gefühlswirkung hat; eS gehört zur Lyrik.

Die Bereicherung deS Gebietes der Poesie durch

die gereimte Prosa, bloß weil eS ihrem Urheber in den Kopf gekommen

358

Neue Schriften zur Poetik und zur Lehre vom Schönen überhaupt.

ist, seine Gedanken in Verse zn setzen, kann doch unmöglich ernst genom­

men werden.

Auch der Umstand, daß rein genetisch betrachtet der Rhyth­

mus der gebundenen Rede muthmaßlich vom Tanzliede, also einem unzwei­ felhaft poetischen Erzeugnisse stammt (S. 12),

kann eine so äußerliche

Grenzbestimmung nicht rechtfertigen.

Aber es giebt auch Poesie in ungebundener Rede.

Was von dieser

hineinzuziehen, erscheint ihm eineStheilS als „mehr oder weniger willkür­ lich", anderntheils als „die schwierigste Frage".

In dieser Verlegenheit

muß denn doch der Begriff der künstlerischen Wirkung, wenn auch nur in unbestimmtester Fassung, aushelfen.

„Was ohne Anspruch auf künstlerische

Wirkung, auf Anregung der Phantasie ist, daS ist ausgeschlossen" (S. 30f.).

Die schließliche Formulirung auf S. 32 läßt jedoch diese Bezugnahme

wieder fallen: „Die Poetik ist vorzugsweise die Lehre von der gebundenen

Rede; anßerdem aber von einigen Anwendungen der ungebundenen, welche mit den Anwendungen der gebundenen in naher Verwandtschaft stehen." Aber die kunstmäßig angewandte Sprache ist ihm nicht einfach der Gattungsbegriff, zu dem sich die Poesie als Species verhält, die Poesie

greift in anderer Richtung wieder über diesen Gattungsbegriff hinaus.

„Nicht alle Poesie ist kunstmäßige Anwendung der Sprache."

Auch hier

ist wieder einestheils der historisch-genetische, anderentheils der rein em­ pirische Gesichtspunkt maßgebend.

Weil schon in primitiven Formen die

Poesie als gesungene vorkommt, weil in der Oper Musik, in Recitation und Schauspiel Mimik Hinzutritt, wird dies alles zur Poesie gerechnet. Ja sogar das mimische Ballet gehört zur Poesie (S. 2ff.).

die Function der

Hier fehlt

begrifflichen Jsolirung nach dem Ausdrucksmittel der

Sprache, die Unterscheidung von einfachen und zusammengesetzten, herrschen­

den und dienenden Künsten. Den zweiten Punkt der Einleitung bildet eine Geschichte der Poetik

im Umriß.

Als Hülfsmittel für diese Historiographie erscheint ihm die

Zimmermann'sche Geschichte der Aesthetik mit Recht als unzulänglich, die Schasler'sche gesteht er nicht zu kennen, aus Ed. Müller'S Geschichte

der Theorie der Kunst bei den Alten „ist immerhin Einiges zu gewinnen", Lotze's Geschichte der Aesthetik in Deutschland „ist nicht sehr historisch und nicht sehr eingehend" (S. 34f.).

Von den antiken Poetikern berücksichtigt er vornehmlich Aristoteles

und Horaz.

Für Aristoteles erhalten wir eine flüchtige Inhaltsangabe.

Scherer

findet, daß Aristoteles in der Poetik nicht sehr systematisch vorgeht.

Dies

ist in sofern richtig, als die aristotelische Poetik ganz äußerlich analytisch

zu Werke geht.

Leider ist es trotz der massenhaften, diese Schrift um-

Neue Schriften zur Poetik und zur Lehre vom Schönen überhaupt.

359

wuchernden Litteratur, vielleicht auch theilweise wegen derselben, für den

Laien fast unmöglich, den innerlich vorhandenen synthetischen Zusammen­ hang der aristotelischen Gedanken zu erfassen.

Diese Sachlage kann im

vorliegenden Falle nicht genug bedauert werden.

Es steht zu vermuthen,

daß die aristotelische Lehre von Wirkung und Wesen der Kunst Scherer sympathisch und congenial gewesen wäre und ihm vielleicht das geboten

hätte, waS er bei den übrigen Aesthetikern nicht gefunden hat.

So wie Vie Sache steht, greift er an vielen Stellen auf Aristoteles zurück, aber meist nur in Aeußerlichkeit und theilweise ungenau.

Z. B. be­

hauptet er mehrfach, die Poesie sei für Aristoteles Nachahmung handelnder

Personen oder Darstellung von Charakteren und dies sei der Grund, daß Aristoteles das Lehrgedicht von der Poesie ausschließt (S. 17. 38. 73). Thatsächlich ist aber nach Aristoteles die Poesie Nachahmung von Gefühlen,

Stimmungen und Handlungen oder Vorgängen (Cap. 1, 1447, 27) und er schließt das Lehrgedicht deshalb aus, weil er eS nicht für Nachahmung

in diesem Sinne hält.

Daß sich diese Einseitigkeit leicht beseitigen läßt,

ist oben schon angedeutet. zeichnung des Wesens der

Jedenfalls aber steht diese aristotelische Be­

Poesie der

Wahrheit viel näher, als

die

Scherer'sche Gebietsabgrenzung, und die Bemerkung, die Aristoteles in

demselben Zusammenhänge macht, daß die Menschen fälschlich den Begriff

der Dichtung an den Gebrauch deö Metrums knüpften und daher die Be­ nennung alS Dichter nicht auf die Nachahmung im obigen Sinne, sondern auf die Anwendung des Metrums gründeten, trifft direkt den Hauptpunkt der Scherer'schen Grenzbestimmung.

Im Uebrigen ist ihm die aristotelische Poetik „ein außerordentliches Werk, zum Theil von ewigem Gehalt" (S. 42) und Aristoteles ist der

einzige Aesthetiker, mit dem er sich principiell auseinandersetzt.

Er ist ihm,

wie schon bemerkt, zu sehr Gesetzgeber und nicht genug Naturforscher.

Horaz und die auf Aristoteles und Horaz beruhenden Poetiker der Renaissance werden nur äußerlich charakterisirt.

Die deutsche Aesthe­

tik auf metaphysischer Grundlage seit Baumgarten und Kant scheint

ihm eher in die Geschichte der Philosophie zu gehören; er ist überzeugt, daß die philosophischen Untersuchungen über „„das Schöne"" die Poetik

wenig gefördert haben" (S. 56).

Auch Batteux,

Künste auf ein Princip zurückführte", wird nur

„der

alle

schönen

gestreift; eine solche

Systematik erscheint ihm überhaupt erst als Krönung des Gebäudes nütz­ lich, wenn man sich über die einzelnen Künste klar ist.

er über Diderot,

der ihm folgte.

„der Einzelbeobachtungen gab"

Günstiger urtheilt

und über Lessing,

„Nur Empiriker wie Lessing fördern" (S. 57).

Herder, Goethe und Schiller werden nur flüchtig

berührt;

Auch

ebenso

Neue Schriften zur Poetik und zur Lehre vom Schönen überhaupt.

360

Diejenigen Forscher scheinen

Hegel, Bischer und Curriere (S. 58f.).

ihm auf dem Gebiet der Aesthetik am fruchtbarsten gewesen zu sein, die nicht auf ein System der Künste ausgingen, sondern einzelne Probleme

ins-Auge faßten.

In diesem Sinne soll Helmholtz, der doch ganz auf

dem Gebiete der Sinnesreize stehen bleibt, die Aesthetik besonders berei­ chert haben, während ihm

sogar die Ansätze zu einer rein empirischen

Aesthetik bei Fechner, weil er „von vorn herein das Schöne auf alleu

Kunstgebieten aufsucht", durch Verrückung

der Gesichtspunkte gefährlich

Die Aufgabe der Aesthetik beginnt ihm erst dann,

erscheint (S. 60 f.).

wenn Alles von unten aus aufgeführt ist (S. 61).

Das ist der abstrakt

induktive Standpunkt eines Baco, aber nicht der der wahren wissenschaft­

lichen Induktion.

Diese fängt nicht mit nichts an, sondern tritt mit be­

stimmten Voraussetzungen an die Erscheinungen heran, Voraussetzungen, bei denen eS sich alSdann fragt, ob sie sich an der Wirklichkeit bewähren. So ist eS gekommen, daß sich die Litteraturgeschichte und Philologie der Aesthetik entfremdet hat, während sie doch der Hülfe derselben, z. B.

zur Charakteristik eines bestimmten Dichters

oder Gedichtes, bedurfte.

Seit einiger Zeit führen Fragen über den Stil bestimmter Dichter immer mehr zu ihr zurück.

Eine die Philologie befriedigende Aesthetik erscheint

Die von W. Wackernagel in dieser

als ein aussichtsvolles Unternehmen.

Richtung

unternommene

„Poetik,

Rhetorik

und Stilistik" (1873)

ent­

spricht freilich dem Bedürfniß nicht; der gedankliche Theil ist zu schwach

(S. 61 ff.).

Dies führt zur Fipirung der Aufgabe.

Die frühere Poetik wollte

die wahre Poesie suchen; ihre Kategorieen waren gut und schlecht.

Aufgabe hat sich als unlösbar erwiesen. skriptiven Poetik bildet ihm Schiller. und sentimentalen Stils,

der sich

Diese

Den Uebergang zur rein de­

Mit der Unterscheidung des naiven später andere Stilunterschiede, wie

klassisch und romantisch, anschlossen, hat er den Weg einer gleichberechtigten Nebeneinanderstellung verschiedener Stilgattungen betreten.

Aber auch dies

genügt nicht; es handelt sich um eine vollständige Beschreibung der vor­

handenen, vielleicht auch der bloß möglichen Formen dichterischer Produk­ tion,

um

eine philologische Poetik,

die der früheren gerade so gegen­

übersteht, wie die historische und vergleichende Grammatik seit Jak. Grimm

der gesetzgebenden Grammatik vor Jak. Grimm (S. 62—66).

Auf den

schwierigen Begriff des Stils, der hier nur als Schwungbrett zum Ueber­ gang dient, gehe ich hier nicht ein; die Parallele der historischen Gram­

matik ist nicht recht zutreffend, da diese weniger der Poetik als der Litte­

raturgeschichte

entspricht.

Freilich ist auch eine so

excessiv

descriptive

Poetik, wie sie hier geplant wird, im Grunde nur Litteraturgeschichte in

361

Neue Schriften zur Poetik und zur Lehre vom Schönen Überhaupt.

etwas anderer Anordnung, etwa nach Gattungen.

Eine wirkliche Poetik

wird der Kategorieen gut und schlecht, d. h. dem Wesen und Zweck ent­

sprechend oder nicht entsprechend, ebensowenig entbehren können wie der grundlegenden Bestimmungen

über

Wesen

und Zweck selbst;

sonst ist

sie selbst wesen-, zweck- und haltlos und sinkt in die Litteraturgeschichte

zurück.

Die Angabe der Anordnung beschließt dies einleitende Kapitel.

Ge­

treu seiner genetisch-historischen Grundrichtung will er nicht mit dem dich­

terischen Produkt und seiner Wirkung, sondern mit dem Vorgänge der dichterischen Produktion beginnen; die Reihenfolge der Abschnitte ist: der Hergang, das Ergebniß, die Wirkung.

Eine philosophische Behandlungs­

weise würde die umgekehrte Anordnung befolgen. Thatsächlich ist eigentlich nur der erste dieser drei Abschnitte zur Aus­

führung gelangt; alles Besprochene steht unter dem Gesichtspunkte einer Erklärung der dichterischen Produktion, den beiden anderen Abschnitten ist keine selbständige Behandlung zu Theil geworden.

Den „Hergang" betreffend, giebt eS zunächst allerlei allgemeinere Be­ dingungen des Ursprungs und Lebens der Poesie; vornehmlich ist sie ab­ hängig „von der Beschaffenheit der Geister, aus denen sie fließt und der

Geister, in welche sie eingehen soll".

Wegen der überwiegenden Bedeutung,

die dieses Wechselverhältniß zwischen Dichter und Publikum unter diesen allgemeinen Bedingungen in Anspruch nimmt, erhält daS von Letzteren

handelnde zweite Kapitel a parte potiori

die Ueberschrift „Dichter und

Publikum" (S. 72). Jnuerhalb dieses Kapitels wird, entsprechend der ganzen genetischen Gedankenrichtung, zuerst der Ursprung der Poesie überhaupt untersucht.

Ich kann diese Anordnung nicht für die richtige halten.

Erst mußte doch

wohl das Wesen der Sache selbst auf Grund ihres Vollendungszustandes

festgcstellt sein, ehe die primitiven Keimformen als solche erkannt,

der

genetische Faden mit Sicherheit rückwärts verfolgt und die Continuität in unbestreitbarer Weise nachgewiesen werden kann.

Erst mußte ferner dar­

gelegt sein, was die Poesie unS ist, welchen Werth sie für unser Gei­ stesleben hat, ehe eS ein Interesse haben kann, die dürftigen Ansätze eines

so Großen und Herrlichen in primitiven Culturzuständen von der Grenze

deS Thierischen aufwärts zu verfolgen und mit Theilnahme zu betrachten. Scherer glaubt diese Anfänge schon vor der Entstehung der Sprache

nachweisen zu können (S. 82).

gefühlS: Springen,

Es sind Ausdrucksformen erhöhten LebenS-

Jubilircn, Lachen,

letzteres

beim

Urmenschen

Wilven lediglich Ausdruck der Freude überhaupt (S. 81).

sich bei diesen primitiven Formen Preußische Jahrbücher. 33b. LXIL Heft 4.

und

Es handelt

immer um ein Vergnügen (S. 87). 24

Nene Schriften zur Poetik und zur Lehre vom Schönen Überhaupt.

362

Ein Hauptgegenstand ist das Vorgefühl erotischer

Befriedigung.

Er

recurrirl hier auf ein australisches Tanzlied obscönen Inhalts,/ über das

in der Reise der Fregatte Novara berichtet wird (S. 83, 10); damit zu­ sammenhängend

auf den Lockruf deS männlichen Individuums (S. 84,

89f.); überhaupt waren es erotische Erregungen, die zur ältesten Poesie

führten, denn das erotische Gefühl ist das stärkste angenehme Gefühl des

primitiven Menschen (S. 93).

Andere angenehme Vorstellungen primi­

tiver Art sind u. A. „Macht, Reichthum, große Körperkraft, siegreiche Be­ thätigung, erfolgreiches Wirken, sei es durch List, sei eS durch Stärke"

(S. 94).

Der Impuls ist ihm hier daS individuelle Ausdrucksbedürfniß, aber das Individuum darf nicht ifolirt gedacht werden, eS befindet sich stets

in Beziehung zu einer verständnißvollcn Umgebung; das Bedürfniß des Ausdrucks ist zugleich Bedürfniß der Mittheilung. in engster Wechselwirkung

Der „Dichter" steht

applaudirenden und

mit dem

cooperirenden

Publikum; diese- Wechselverhältniß erweist sich auf dieser Stufe als das Haupt- und Grundverhältniß für die Entstehung der Poesie. Dies hat ja für die primitive Stufe, wo daS Individuum in seinem

Innenleben noch wenig losgelöst von der Gesellschaft, nur Exemplar der Gattung ist und wo auch äußerlich schon das Zusammenleben der StammeSgenossen ein viel vollständigeres ist, als in civilisirten Verhältnissen, seine unzweifelhafte Berechtigung.

Aber

gerade bei diesem Verhältniß

zeigt sich auch der himmelweite Unterschied zwischen dem Seelenleben Dar­

winscher Urmenschen oder Wilder und dem individualisirten, in sich ge­

schlossenen Geistesleben dichterischer Naturen auf hohen Culturstufen.

AuS

diesen redet nicht mehr die noch nicht differenzirte Volksseele, sondern ganz individuelle Scelenzustände bilden hier das eigentliche Motiv der poetischen Bethätigung.

Schon das lyrische oder balladenartige Volkslied und nickt

minder das homerische EpoS trägt den Charakter der Aussprache eines

individuell Jnterefsirenden; der dichterische Impuls ist beim echten Dichter

frei vom Schielen nach dem Beifall des Publikums, er entspringt aus­ schließlich aus dem

Ausdrucksbedürfniß; „das Lied, das aus der Kehle

dringt, Ist Lohn, der reichlich lohnet". Begreiflich bei dem bis dahin gewonnenen Resultat der genetischen Ableitung, aber auch in hohem Grade bezeichnend ist eS, daß dem Ver­

fasser die Frage als eine ganz besonders schwierige erscheint, wie daS

Unangenehme in der Poesie angenehm werden kann (S. 95). Der Redak­ tor bemerkt zu dieser Stelle auf Grund der ihm vorliegenden, von Scherer zurückgelegten früheren Aufzeichnungen: „Kein einzelner Punkt deS College

scheint Scherer so viele Mühe gemacht zu haben wie dieser" (S. 292).

Neue Schriften zur Poetik und zur Lehre vom Schönen überhaupt.

363

Zur Lösung wird hier eine Menge meist sehr realistischer Gesichts­

punkte vorgcführt.

Von Seiten des Producirenden: Ausgesprochener und

mitgetheilter Schmerz ist halber Schmerz (warum?), die schaffende Func­

tion wirkt ableitend, man münzt den Schmerz aus,

um Theilnahme zu

erwecken, man kommt sich wichtig vor u. dgl. (S. 97ff.).

Schwieriger wird die Frage von Seiten des Genießenden.

werden zunächst allerlei dem niedrigsten Niveau

angehörige Gesichtspunkte hervorgehoben.

Hier

menschlicher Interessen

Das doch schon von Aristoteles

und Schiller geltend gemachte so einfache nnd doch so einleuchtende Mo­

ment des Erregungsbedürfnisses

tritt erst zuletzt auf (S. 106 ff.).

In

diesem Zusammenhänge finden wir eine Zustimmung zur BernayS'schen Katharsiserklärung (S. 109).

Scherer findet für dieselbe den Ausdruck:

„Freude an der Uebung der Affekte."

Im Allgemeinen will er die Freude am Schmerzlichen nur für eine höhere Culturstufe gelten lassen (S. 102, 113). Der zweite Abschnitt dieses Kapitels handelt vom Werth der Poesie

als Stimulus zu ihrer Hervorbringung. Tauschwerth

Dieser Werth ist zunächst ein

im Sinne der Nationalökonomie, d. h. ein Inbegriff von

realen, ja materiellen Vortheilen, die sie ihrem Urheber einbringt.

Die

Poesie ist schon in alter Zeit eine Art von Waare, deren Werth sich nach Angebot und Nachfrage richtet (S. 121).

pitel vom

So erhalten wir hier ein Ka­

litterarischen Erfolg, in dem u. A. von Honoraren, Theater­

direktoren, Schauspielern, Kritikern, Leihbibliotheken, Sortimentern und

dem Institut der Weihnachtsbücher als Vehikeln dieses Erfolges gehan­

delt wird. Dem nationalökonomischen Begriffe des Tauschwerthes steht gegen­

über der deS Gebrauchswerthes.

Einen solchen haben Sonne und Luft,

die nicht verkauft werden können.

Für die Poesie wird diesem Begriffe

der deS idealen Werthes substituirt.

Antrieb zur Hervorbringung.

Auch dieser ist, wenn vorhanden, ein

„Wie weil ist denn nun die Poesie ein

solches allgemeines Gut der Menschheit?" (S. 137).

Scherer giebt der

Antwort sofort eine Wendung, durch die eine sachgemäße Lösung von vorn

herein ausgeschlossen wird; er findet das Hauptbeispiel für das Wirken der Poesie in ihrer Wirksamkeit für die Sittlichkeit (S. 138 f.).

Der dritte Abschnitt des Kapitels behandelt

die im Dichter selbst

liegenden, die persönlichen Bedingungen der Produktion.

Wir erhalten

hier zunächst sehr äußerliche Erörterungen, z. B. Betheiligung Mehrerer

an demselben Werke,

unterbrochenes

und

anhaltendes

Arbeiten.

Der

Passus „die schaffenden Seelenkräfte" bespricht ausschließlich die Phantasie und schon damit ist ausgesprochen, daß hier ebensowenig wie im Abschnitte 24*

Neue Schriften zur Poetik und zur Lehre vom Schönen überhaupt.

364

vom Ursprünge der Poesie die eigentlich treibende Kraft der künstlerischen Produktion,

das Ausdrucksbedürfniß,

eine tiefere Würdigung

erfährt.

Ebenso fällt hier kein Licht weder auf den Unterschied der beiden Fälle, wo der eigene Gefühlszustand unmittelbar den Stoff der Darstellung bil­

det, oder ein von außen her aufgenommener Stoff dem eigenen Zustande angepaßt wird, auf welchem Unterschiede der Gegensatz des Lyrischen und

des Episch-Dramatischen beruht, Erhebung

deS

noch auf den dichterischen Proceß der

individuellen Zustandes

in

die Sphäre der Allgemein­

gültigkeit. Die Thatsache deS Zusammenhanges der Phantasiekrafl mit körper­

lichen Beschaffenheiten führt auf die Frage der Verwandtschaft von Genie Er hält dieselbe insoweit für erwiesen, daß er die Hoff­

und Wahnsinn.

nung ausspricht, die fortschreitende Erkenntniß der körperlichen Disposi­

tionen, auf denen Irrsinn beruht, werde auch zu fortschreitender Erkennt­ niß der körperlichen Dispositionen führen, auf denen künstlerische Genialität beruht (S. 175).

Großentheils

in Aeußerlichkeiten hinein

führt dann

wieder der Passus, der die Verschiedenheiten der Dichter nach Lebens­

lage, Bildungsgrad, Grundstimmung u. dgl. als Factoren der Produktion behandelt (S. 177 ff.). Der letzte Abschnitt deS Kapitels handelt vom Publikum als Factor

der Produktion.

Wir finden hier einen PassuS überschrieben „die genießen­

den Seelenkräfte".

Hier erwarten wir etwas über die specifische Wirkung

der Poesie zu hören.

Erregt wird aber nach Scherer nur die Phantasie

und das Urtheilsvermögen (S. 189f.); das aristotelische yqvea&at aop.-

Tta&etc, die specifische Lustwirkung (otzsi'a tjoovV;) aus der Erregung der Gefühle bis zum völligen SichauSleben der Gefühlszustände bleibt unbe­

rücksichtigt.

Auch die

anderen

in diesem Kapitel

besprochenen

Punkte

kommen nicht über den äußerlichen Gegensatz des Gefallens oder Nichtge-

fallenS hinaus.

Nachdem so die dichterische Produktion nach ihrer allgemeinen Be­ stimmtheit durch innere und äußere Triebfedern geschildert ist, gehen die

folgenden Kapitel, immer noch unter dem gleichen Gesichtspunkte des dich­ terischen Schaffens, ins Detail.

Es wird gehandelt von den Stoffen, der

„inneren Form" als der specifischen Auffassung des Stoffes durch den Dichter, dem „unsichtbaren Quell,

auS dem die

(S. 203), endlich von der äußeren Form.

äußere Form fließt",

Stoff und innere Form bilden

die inventio, die äußere Form ist dispositio und elocutio.

DaS Stoffgebiet wird eingetheilt in die äußere und innere Well, ver als dritte die Welt der Phantasie und des WahnS sich anschließt, die nur

im Vorstellen Wirklichkeit hat, aber durch die Macht, die sie über die

365

Neue Schriften zur Poetik und zur Lehre Boni Schönen überhaupt.

Menschen übt, als eine Art des Wirklichen dasteht.

ES fehlt hier wieder

ein wichtiger Punkt, nämlich die Nachweisung, wie eS kommt, daß der ob­ jektive Stoff zum subjektiven, zum Stoff für den Dichter wird.

Das Ge­

biet der Stoffe erscheint in vollster Unbegrenztheit; es ist einestheils „das­ selbe, wie das der Wissenschaft" (S. 208), anderntheils „das des mensch­ lichen Denkens und Thuns" (S. 213).

Die Poesie ist gemäß dieser Uni­

versalität ihrer Stoffe eine Art von anschaulich individualisirter Welt- und Menschenkunde.

Die unendliche Mannigfaltigkeit dieser sich ganz äußer­

lich zur dichterischen

Bearbeitung

darbietenden Stoffe wird S. 214ff.

exemplificirt an den Unterabtheilungen eines einzelnen Stoffgebiets, des Gebiets der Verhältnisse der Menschen untereinander. Wird ein einzelnes Motiv in derselben Richtung zu lange festgehalten, so wird die Aufmerksamkeit des Publikums auf eine zu harte Probe ge­

stellt.

Deshalb

empfehlen

sich Conflikte.

Zum

Conflikt

gehört dann

wieder die Lösung, denn man will „den AuSgang wissen, daS Publikum kommt sonst nicht auf die Kosten seiner Spannung" (S. 216 f.).

Auch

hier beruht die dichterische Wirkung immer nur auf der intellektuellen Er­ regung!

Auch die Wahl der Charaktere und Handlungen als Bestand­

theile des Stoffes ist ihm ausschließlich bestimmt durch das intellektuelle UnlerhaltungSbedürfniß des Publikums, von dessen Stimmung der Erfolg

des Dichters abhängt.

Freilich kann der Dichter auf ein höher und edler

geartetes, oder auf ein niedrigeres oder roheres Publikum rechnen.

du die Anerkennung der Edlen, so zeige dich edel" (S. 220).

„Willst

Je nach

der Bevorzugung der Stoffe ist der Dichter Idealist oder Realist (S. 228 f.),

immer aber rechnet er lediglich auf das Unterhaltun gSbedürfniß und die

Unterhaltungsfähigkeit eines ihm homogenen Publikums. So wenig wie beim Publikum wird auch beim Dichter selbst ein ge­ fühlsmäßiges Verhältniß zum Stoffe, eine Wahlverwandtschaft desselben

mit seinem inneren Erleben vorausgesetzt.

Dies zeigt das Kapitel „Innere

Für die individuelle Auffassung

deS Stoffes durch den Dichter

Form".

bieten sich nur die Kategorieen objektiv und subjektiv, je nachdem mehr

oder weniger vom auffassenden Individuum am Stoffe haften bleibt. Eine

Betrachtungsweise,

der die Stoffwahl

auf innerer Verwandtschaft des

Stoffes mit dem Gefühlszustande des Dichters, also in letzter Instanz auf

dem Ausdrucksbedürfniß beruht, hätte hier die Ausgestaltung des Stoffes

zur möglichst vollkommenen Gleichartigkeit mit dem eigenen Zustande, zur Tauglichkeit für eine poetische Beichte und HerzenSerleichtcrung im Goethe-

schen Sinne, in Betracht ziehen müssen. Bei der Lehre von der äußeren Form wird der bisher immer noch

festgehaltene Faden der Ableitung auS dem Princip der dichterischen Pro-

Neue Schriften zur Poetik und zur Lehre vom Schönen überhaupt.

366

duktion völlig fallen gelassen.

Es kommt nichts vor von den Motiven,

die den Dichter bestimmen, die eine oder die andere Darstelluzigsweise zu wählen; die Arten der Form werden einfach aufgezählt und nebeneinander­

gestellt.

Charakteristisch ist hier der Abschnitt über die Dichtungsarten.

Eine auf dem Gefühle fußende Auffassung der Poesie wird keine Schwie­

rigkeit darin finden, das Wesen des Lyrischen zu bestimmen, ja sie wird gerade den Gegensatz des Lyrischen als des die Gefühle selbst Ausvrücken-

dcn und des Episch-Dramatischen, in dem die Gefühlsursachen den ersten Platz einnchmen, an die Spitze stellen.

Eine Auffassung dagegen, der die

Poesie wesentlich nur kunstmäßige Rede in gebundener Sprache ist, hat zwar für den Unterschied des Epos und des Dramas die alte aristotelische

Bestimmung zur Verfügung, daß der Dichter im Epos hauptsächlich im

eigenen Namen vorträgt, im Drama ganz hinter seine Gestalten zurück­ tritt, für die Lyrik wird sie kein positives Merkmal rein sprachlicher Art

finden.

In der That ist dies genau der Fall Scherer'S.

„Schwierigkeit

macht hauptsächlich die Lyrik, für die eS nichts Einheitliches giebt, als daß

sie früher stets für den Gesang bestimmt war und im Ganzen auch heute noch immer sangbar gehalten wird" (S. 245).

Abgesehen von der Aeußer-

lichkeit dieses Merkmals, abgesehen davon, daß eS mit der Sprache als

dem eigentlichen Darstellungsmittel der Poesie nichts zu thun hat:

wo

bleibt bei der Anlehnung ter Lyrik an den Gesang das Lehrgedicht und

die verwandten kleineren Gattungen, Epigramm, Spruch u. dgl.?

Bei der Composition fehlt das Bewußtsein von der Bedeutung der

Einheit als oberster Forderung, die natürlich in der episch-dramatischen Gattung Einheit der Handlung ist.

Doppelhandlung und sogar Anein­

anderreihung verschiedener Handlungen,

die nur durch die Einheit der

Person zusammengehallen werden, erscheint ihm als zulässig (S. 257) und

für das Drama scheint ihm die Einführung deS Helden, mit dessen Tode das Stück schließt, schon „als Baby" nur technische Schwierigkeiten zu

bereiten (S. 253).

An keinem Punkte tritt wohl der Rückgang hinter

Aristoteles schärfer hervor, als in dieser Verkennung der Bedeutung, die

der Einheit für das dichterische, wie für jede» Kunstwerk zukommt.

schroffem Gegensatz

In

gegen diese Vernachlässigung der Einheit wird auch

hier wieder aus bereits bekannten Gründen die der Abwechslung stark und

nachdrücklich urgirt. Diese Forderung der Abwechslung ist zugleich ein deutliches Beispiel

dafür, daß die Darstellung hier überall aus dem bloßen Beschreiben un­

vermerkt in das verpönte Gesetzgeben in dem oben befürworteten Sinne

hineingeräth.

Wer ven Zweck will, muß auch die Mittel wollen.

Der

Scherer'sche Dichter will unterhalten, fesseln, Aufmerksamkeit und Span-

Neue Schriften zur Poetik und zur Lehre vom Schönen überhaupt.

367

nung erregen und wachhalten, ergo —. Von demselben Gesichtspunkte aus gestalten sich

auch

die

letzten Abschnitte über dichterische Sprache und

Metrik, von denen übrigens namentlich der letztere nur noch einige flüch­

tige Bemerkungen bringt, zu Inbegriffen von Vorschriften und Regeln.

So zeigt cS sich an allen Punkten, daß die rein genetische Erklärung

unvermögend ist, zum Wesen der Sache vorzudringen.

Daß die Germa­

nistik in einem so bedeutenden Vertreter, wie Scherer, und zwar offenbar vornehmlich durch ihre Vertiefung in die neuere Litteratur, der Poetik zu-

gesührt worden ist, ist ein vom Standpunkte der philosophischen Aesthetik hocherfreulicher Vorgang, dem im eigenen Interesse der Germanistik Dauer und Nachfolge zu wünschen ist.

Aber etwas mehr Contakt mit der philo­

sophischen Aesthetik, die freilich durch ihre abstrakt construktive Haltung an

der vorhandenen Entfremdung reichlich mitschuldig ist, wird dabei erfor­

derlich sein. Blicken wir schließlich auf das Ganze der durchlaufenen Bahn zurück, zo zeigt sich zwischen den drei betrachteten, zeitlich fast zusammenfallenden

Schriften ein geradezu ungeheurer Gegensatz der Auffassung und Ueber­

zeugung.

Erst Anschauung der Weltidee, dann pseudoaristotelische Gefühls­

klärung, dann intellektuelle Unterhaltung als Zweck und wesentliche Wir­ kung der Kunst: wird nicht eine nahe Zukunft uns

bringen? Groß-Lichterfelde bei Berlin.

Pfingsten 1888.

die wahre Lösung

Die Reformbedürftigkeit der Preußischen Gewerbesteuer. Von

Dr. jur. Strutz, Regierung»»Assessor in Osnabrück.

Es ist bekannt, wie die Reform der direkten Steuern in Preußen

schon seit geraumer Zeit zur Diskussion steht, ohne daß e« bisher auch nur zu den Anfängen

eine solche Reform

einer organischen Reform gekommen wäre.

sich auf sämmtliche direkte Steuern erstrecken müsse,

darin sind wohl alle Parteien einverstanden.

in den letzten Jahren

welche

schränkten sich immer

Aber die schwachen Anläufe,

zu einer Steuerreform gemacht sind,

be