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German Pages 642 Year 1888
Preußische Jahrbücher. •per aus gegeben
von
H. von Treitschke uitb H. Delbrück.
Zweiundsechzigster Band.
Juli bis December 1888.
Berlin, 1888.
Druck und Verlag von Georg Reimer.
Erstes Heft. Die Beme.
(Conrad Bornhak.)........................................................................... Seite
Der Kampf um die Seligkeit. (Wilhelm Bender.)........................................ — Anselm Feuerbach. (Dr. Carl Neumann.).......................................................... —
1
20 57
Eine Culturskizze aus Ostpreußen............................................................................. Zwei Kaiser. 15. Juni 1888. (Heinrich von Treitschke.)...............................
—
77
Politische Correspondenz: Der Thronwechsel und die ihn begleitenden Akte, (w.)
-
87
Notizen: Filippo Mariotti, Die politische Weisheit des Fürsten von Bismarck
und des Grafen Camillo von Cavour. M. Bernardi.
Autorisirte Ueberfetzung von
2 Bde........................................................................................
—
93
Zweites Heft. Persönliche Erinnerungen an den Kaiser Friedrich und sein HauS. (Hans Delbrück.)..........................................................................................................
-
97
Eine Geschichte der römischen Dichtung.
—
117
(Ivo Bruns.)....................................
Die Geldstrafe. (Amtsrichter Schmölder.)..........................................................— Wieland'S „Goldener Spiegel". (Gustav Breucker.)........................................ —
129 149
Politische Correspondenz: Die Besuchsreisen des Kaisers. — Rußland. — Frankreich. — England, (cd.) — Der Nationalitäten-Hader in Oesterreich.
—
175
Notizen...........................................................................................................................
—
191
— —
193 213 233
Drittes Heft. Ein Ausweg aus der Fremdwörternoth. (Dr. Rob. Hessen.)........................... Ueber den ländlichen Wucher int Saar- und Mosel-Gebiet. (Ernst Barre.) . Naturforschung und Schule. (A. Matthias.)..................................................... Von moderner Malerei. Betrachtungen über die Münchener Kunstausstellung von 1888. (Carl Neumann.)........................................................... — Der Ursprung der Tell-Sage. (I. Mähly.)............................................ —
259 280
Viertes Heft. Prinz Adalbert und die Anfänge unserer Flotte. (Bätsch.).................. — Neue Schriften zur Poetik und zur Lehre vom Schönen überhaupt. (A.Döring.) Die Reformbedürftigkeit der Preußischen Gewerbesteuer. (Dr. jur. Strutz.)
— —
297 339 368
IV
Inhalt.
DaS „Tagebuch" Kaiser Friedrichs. (Hans Delbrück.)................................... Seite 406 Politische Correspondenz: Rußland. — Frankreich. — Italien. — England. — Tie deutsche Politik. (, das auf einer
Inschrift von Tegea sich für ßaXXa» findet, herbeigezogen worden
ist.
Simrock (deutsche Myth. 2. Aufl. p. 267) läßt Tell aus Erenthelle oder Ernthelle — der späteren Form für Orendel — entstanden sein! — Das
alles ist Spiel und Tand, der Name Tell ist etymologisch nicht zu erklären und steht in keinem begrifflichen Zusammenhang mit der Bedeutung des
welcher Namen und Wesen einem Zufall d. h. einem Mißvcr-
Helden,
ständniß verdankt. Hier
mögen nur in Kürze die Jnzichten zusammengestellt werden,
welche sich von Seiten der Geschichte gegen die landläufige Gestalt der
Tellsage erheben, wenn überhaupt von einer solchen Gestalt gesprochen werden kann, denn auch die Ueberlieferung der Sage ist keine einheitliche, sondern
sie differirt in wichtigen
und wichtigsten Punkten.
Es kann
doch kaum Zufall sein, daß im „weißen Buche" der notorisch ältesten bis jetzt bekannten Quelle der Tellsage (im Archiv zu Sarnen) der Held noch nicht Wilhelm Tell, sondern kurzweg „der Tall" heißt, erst der Chronist
Rueß (1482) und
Eidgenossenschaft"
fünf Jahre vor ihm daS „Lied vom Ursprung der
kennen den
Vornamen.
Und hierbei
ist wiederum
merkwürdig und kaum zufällig, daß dieser Vorname unter ähnlichen Um
ständen sich
wiederfindet.
Daß der reisige Knecht deS Grafen Niclas
v. Zollern, der die drei Zauberschüsse thut, Wilhelm heißt, (s. Rocholz,
Tell und Geßler, p. 105, Anm.) mag hingehen,
aber jener William
Cloudesly, der „Wolkenschütze", der mit Adam Bell und Clym of the Clough (d. i. Clemens von der Klippe) die Schützentrias bildet und vor seinem
Tode noch den Meisterschuß thun darf, d. h. seinem siebenjährigen Knäblein auf 120 Schritte einen Apfel vom Haupt schießt, wodurch er sich
und seinen Mitgesellen Absolution verschafft, — der kann nicht so ohne Weiteres auf die Seite geschoben werden, ja, auch wer der vergleichenden
Sagengeschichte nüchtern gegenübersteht, wird anerkennen müssen, daß in den
283
Der Ursprung der Tell-Sage.
Personell - (Geschlechts) nameii, der genannten, die auf Klippen und Wolken deuten, zum mindesten ein neckischer Zufall spukt, der vernemlich genug an die Tellsage anklingt —; das Wolkenmeer und der See könnten wohl
identisch sein, so gut sie es in anderen aus nebelgrauer Urzeit stammen den Sagen wirklich sind.
Wie aber solche Reflexe in ein northumbrisches
(altenglisches) Volkslied sich haben verirren können, darf man wohl fragen,
nicht aber zu beantworten sich erkühnen. Dergleichen gehört, wie die Figur des. Wilhelm Tell und ihre Umgebung, zu den Geheimnissen der Mytho
logie, die sich weder dem grübelnden Verstände noch dem lauschenden Ohre des gelehrten Forschers jemals ganz erschließen werden*). Dagegen muß
von vornherein eine weitergehende Combination
I. Grimms
abgelehnt
werden, diejenige nämlich, welche auS dem Vornamen William und dem Geschlechtsnamen Bell die beiden Namen deS schweizerischen Helden zu sammengeschweißt sein läßt.
und Thor geöffnet.
Mit solchen Beispielen wird der Willkür Thür
Nicht als ob die Mythologie gelegentlich nicht auch
mit der Etymologie unbewußt ihr Spiel triebe, — ein Beispiel dafür
liefert der Dulder Prometheus — ja wohl der Dulder, denn die Kobolde der Mythologie haben seinen ursprünglichen Körper noch viel grausamer zerstückelt und zerfleischt als der Adler des ZeuS seine Leber
— aber
dazu gehören doch etwas complicirtere Gebilde als Bell und Tell! Um aber wieder auf die Seltsamkeiten der sagengeschichtlichen und
die Wahrheiten der geschichtlichen Ueberlieferung zurückzukommen, so ge schieht weder in „Lied" noch bei Rueß deS aufgesteckten Hutes Erwäh
nung;
der Hut fällt also vielleicht für die ursprüngliche Fassung der
Sage (denn daS weiße Buch kennt ihn), jedenfalls aber für die mytho
logische Deutung außer Betracht.
Ferner: Rueß läßt den Tell erst dann
gefangen setzen, als er die Gemeinde aufwiegelt, und Tell
erschießt bei
ihm — eine Hauptabweichung — den Vogt gleich von der TellSplatte
auS, nicht in der hohlen Gaffe.
Der Weg sodann, den die gewöhn
liche Ueberlieferung Tell nach seinem Sprung bei der TellSplatte über
den Axenberg bis zur hohlen Gasse bei Küßnach zurücklegen läßt, ist
*) Ein Vorname Wilhelm ist zwar für jene Zeiten nicht gewöhnlich, doch ist er schon 1266 für Lucern nachweisbar. Ob der Name etymologisch mit Heimdallr, dem deutschen Gott Zusammenhänge — vgl. Pfeiffer Germ. VIII, p. 208ff. — mögen die Germanisten entscheiden. Völlig verfehlt ist aus jeden Fall der Versuch, den Wilhelm Teil mit Vornamen und GeschlechtSnamen, ja mit Leib und Seele zum Gott Heimdallr zu stempeln, der auch keinen Zug mit dem Schüyen und Steuer mann Tell gemein hat. Auch die Erkürung Wilhelm — Wildhelm, ein Prädicat des KriegSgotts Odhin, das ihn als einen „schrecklichen" charakterisire, ist, aus Wilhelm Tell angewandt, mythologisches Gefasel, um gar nicht zu reden von der durch A. Kuhn behaupteten „Identität" Wilhelm Tell'S mit dem be kannten Balladenhelden Robin Hood.
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Der Ursprung der Tell-Sage.
eine Leistung, die innerhalb der gegebenen Zeit einem heutigen Touristen
unmöglich ist.
i
Kein Schriftsteller und keine Urkunde des XIV. Jahrhunderts weiß
von einer Erhebung der Waldstädte, dagegen zeiht ein Breve deö PabstcS Jnnocenz IV. die Bewohner von Schwyz und Sarnen des Ungehorsams gegen den Grafen von Habsburg.
Diesen Vorfall, der im Jahre 1247
geschah, erwähnt der zürchersche (d. h. anlischwyzerische) Chorherr Felix Hemmerlin.
Die geschichtliche Veranlassung zu der Bewegung in den Waldstädten und dem daraus entstehenden kleinen Krieg mit Habsburg war der im Jahre 1291 geschlossene ewige Bund.
Eine Sendung von Vögten Oesterreichs war zu der Zeit, in welcher die Sage sie verlegt, unmöglich, und ist auch durch keine geschichtliche Quelle bezeugt.
Die
älteste dramatische Bearbeitung der TellSthat verlegt dieselbe
ins Jahr 1296, Tschudy ins Jahr 1307, Stumpf nimmt 1314, Schilling
1334 an, während
Justinger und Andere sich einer Zeitangabe ent
halten.
Der sogenannte Landvogt Geßler gehört mit Landenberg,
da, wo
sie auftreten, ins Gebiet der Sage. Wohl giebt es Persönlichkeiten Namens Geßler und Landenberg, aber sie sind österreichische Vasallen im Aargau
und Thurgau und zu Altdorf im Zürcherland gewesen (Rochholz p. 450).
Von den letzteren, den Rittern Geßler'S, ist dann einer in Folge geogra phischer Verwechslung nach dem urnerischen Altdorf versetzt worden, er
ist der sogenannte Landvogt Hermann G., der Peiniger W. Tells. Alle Stellen, wo der Name Tell als Personenname im Bereich der Waldstätte vorkommt, sind gefälscht, so im Schochdorfer-JahreSzeitbuch (auS Trullo), im Attinghauser-Pfarrbuch (statt Näll), Fälschung ist auch
der Landgemeindebeschluß einer Betfahrt von 1307, wo Tell als Land amman erwählt wird, Fälschung die fernere Landesgemeinde von 1388, wo
hundert Personen sollen gezeugt haben, daß sie den Tell noch persönlich
gekannt hätten.
Indessen muß sofort beigefügt werden: AuS dem Nicht
vorkommen des Namens Tell innerhalb der besagten Gebiete*) darf die Kritik noch nicht auf die Nichtexistenz einer Person dieses Namens schließen.
Die CivilstandSregister von damals haben ähnliche Lücken in Hülle und Fülle auf dem Gewissen, vor allem die, daß sie nicht existirt haben. Die Anschauungen vom Kampf
deS Winters
mit dem Frühling
haben in irgend welcher concreten sinnlichen, d. h. ächt mythologischen ’) Für das XVI. Jahrhundert ist in Sempach — vgl. Arch. d. histor. Der. d. Cant. Bern V. p. 12 — ein Jacob Dell uachgewiesen.
Der Ursprung der Tell-Sage.
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Gestalt vom Ganges bis zur Rhone*) und von unvordenklichen Zeiten
an bis auf unsere Tage ihren Reflex gefunden.
Tyrann
oder
als Drache,
Ob der Winter als wilder Mann erscheint
oder als
als Bär
und der Lenz als Maikönig, der die Burg des Winterriescn bricht, oder als Schütze dessen Sonnenpfeilen jener erliegt — überall liegt, natür
lich nicht
mehr
bewußt, die Spiegelung
desselben Naturvorgangeö
zu
Grunde, aber, weil nicht mehr bewußt, von verschiedenem Geflecht um
sponnen,
überwuchert,
entstellt.
Im Bogenschütze» Odysseus und dem
Armbrustschützen Tell wird ein nicht forschender Blick zwar wenig Aehnlichkeit entdecken,
sie sind aber,
näher
besehen,
gleichen Gepräges und
höchst wahrscheinlich auch gleicher Herkunft, und ebenso ist der wilde Mann der in Basel alljährlich vor der Fastnacht in Gesellschaft des Greifen und
deS Löwen den Rhein heruntergefahren kommt, kaum ein anderer als der
böse Tyrann und Landvogt Geßler, und kein anderer als Geßler wieder der Uli, der in den Brunnen geworfen wird.
recht: er hal's mit seinem
Es
geschieht
ihm ganz
bösen Treiben wohl verdient, wie auch
der
Geßler, wie die Freier deS Odysseus ihr Schicksal wohl verdient haben. Und der Tod, der bei Slavischen Völkern im Frühjahr (Mittfasten) in
Gestalt eines alten Weibes
herausgetragen und
in's Wasser geworfen
wird, ist wiederum kein anderer als der grimme Winter (altes Weib —
Todesgötlin, Winter — Tod); und
wenn der Tod anderswo als alter
Jude oder als Strohpuppe erscheint und diese, statt ersäuft, verbrannt wird,
wenn anderswo eine solche Figur begraben, oder
eine scheußliche Puppe
mittendurchgesägt wird — eS ist überall derselbe Vorgang, durch verschie
dene Symbole veranschaulicht. Die Leiche des Prinzen Carneval, die verbrannt wird, und die römische Anna Perenna (d. h. das „durchgejahrte Jahr"), die im Fluß versinkt, d. h.
in den Fluß geworfen wird, ursprünglich dasselbe — eS scheint unmöglich,
aber eS ist so (vgl. Usener Rhein. Mus. XXX. p. 182 ff.)
Auch Odhin ist
bekanntlich Pfcilschütze und hat mit den Dämonen deS Winters wie deS Gewitters zu schaffen, ebenso im fernen Asien Indra; fast schon besiegt
erlegt dieser mit sicher treffendem Geschoß im Sturmgebraus den Wolken-
und Gewitterdämon Vritra — und
so
auch Wilhelm Tell;
er
also
ein menschgewordener Gott, so gut, wie seine Gegenbilder auf scandinavischem und anderem Boden, wo nur immer der Gewitter- oder Winter-
mythuS — beide scheinen allerdings zusammenzufließen — seinen Nieder
schlag gefunden hat.
Die Pfeile sind die Sonnenstrahlen, und wie Tell
neben dem Schützen auch SchiffSmann, so ist Odhin auch himmlischer *) Selbst bei Lappen und Finnen, vgl. Hamburger Lit. Krit. Blätter 1856 Nr. 52 Pfeiffer's German. IX p. 224ff. n. Bensey, (Sott. Gel. Anz. 1861 p. 677ff.
286
Der Ursprung der Tell-Sage.
Wolkenschiffer
auch
der
nordische
Palna-Toki,
Schlittschuhläufer
das
entsprechendste und jeweilen herbeigezogene Gegenbild zu Wilhelm Tell, ist nur ein seiner Heimat angepaßter menschgewordener Wolkenschiffer:
die Schneefelder sind die Wolken, und,
in
gleicher Anbequemung
an
die localen Verhältnisse, ist in der Sage von Wilhelm Tell dem Wolken meer der Vierwaldstättersee wiederum,
der ihm
substituirt worden*);
der
Seesturm
hin
zu Hilfe kommt, entspricht den helfenden MarutS
JndraS, der im Sturmgebraus seinen Feind erlegt. sicht der vergleichenden Mhthologen.
Dies nach der An
Aber wie es nun für absolut sicher
gelten darf, daß man mit der Deutung von Wilhelm Tell sammt Zu behör ohne mythologische Symbolik nicht auskommt, so gewiß ist eS auch,
daß
man nach dieser Seite hin, im Drang,
allem und Jeden seine
symbolische Bedeutung zuzuweisen, viel Scharfsinn verschwendet und des
Guten zu viel gethan hat, uneingedenk der Thatsache, daß der Mythus, weil er wie jeder ächte Poet auch zur Phantasie spricht, auch aus anderem
als blos symbolischem Holze schnitzt.
Die Parforcejagd nach dem Sym
bol scheint mir die Achillesferse des sonst trefflichen Buches von Rocholz zu sein.
Was da z. B. alles aus dem „Hut auf der Stange" heraus-
oder in ihn hinein symbolisirt wird, während er doch gewiß nichts anderes ist, als das sehr einfache Zeichen der Verehrung heischenden Macht, ist
Wahn und Dunst. Ferner: ES liegt ja recht nahe, vom Apfel, dem Sym
bol des „frischen Lebens" oder auch vom Apfelbaum,
als „dem Baum
des Lebens" zu sprechen — die Hesperidenäpfel, und wenn sie auch wirklich das „Symbol der Sonne" oder „ihrer Lebensquelle" (im Westen!) wären,
und der Drache Ladon, als „Sinnbild der längsten Nacht" haben in und
mit der Sage von Wilhelm Tell kaum
etwas zu schaffen.
Immerhin
läßt man sich einen Ueberschuß nach dieser Seite hin noch eher gefallen als die zwar einfache und klare,
aber prosaisch-geschmacklose, magenerkäl
tende Deutung: Mit dem Apfel in der W. Tellsage sei nichts anderes ge sagt, als daß er eben — reif zum Falle sei, d. h. Herunterfalle, wenn er von der Sonne (den Sonnenpfeilen)
getroffen werde!!
Er ist verfüh
rerisch, dieser Apfel in Wilhelm Tell, wie der im Paradiese — für den Forscher nämlich: man ist versucht ihm nachzugehen, weil er im mytholo gischen Haushalt wirklich eine ausgiebige Rolle spielt.
im Wilhelm Tell hat er
Aber ich fürchte,
seine symbolische Hülle vollständig abgestreift
und liegt vor als ein ganz gewöhnlicher kleiner, rundlicher, weicher Ge*) Der indische (arische) Varuna ist einer der wenigen sicheren Gestalten, die bis ans die Wortform im Griechischen sich erhalten haben (Uranos); er ist Meergott, ist aber jedenfalls auch Himmelsgott gewesen (wie er es noch war bei den Griechen) und zwar darum, weil in der mythologischen Sprache da« Wolkenmeer und das Wassermeer znsammengeflossen sind.
Der Ursprung der Tell-Sage.
stand, der ganz gewiß gegessen worden wäre,
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wenn er sich nicht so vor
trefflich als Zielscheibe und Prüfungsmittel für einen Fernschuß geeignet
hätte.
Man hätte ihn auch an eine gewöhnliche Schnur hängen können,
aber die Hauptsache ist ja nicht er, sondern das Haupt, worauf er ruht,
und der mit der Treffgefahr für dieses Haupt verbundene, zur Strafe anbefohlene Schuß.
Der Apfel hat in der Mhthol. der arischen (auch der
semitischen) Völkerfamilie eine erotische Bedeutung:
er ist das Symbol
der Liebe, aber auch der Liebesfrucht, er konnte also, in unserem Fall,
den Knaben des Tell bezeichnen.
Aber was soll dann der Knabe selber?
Wollen wir, in einem mythologischen Gebilde,
stand neben einander stehen lassen?
Symbol und Gegen
Aber so arbeitet die mythologische
Phantasie nicht, daß sie dem Symbol die Erklärung in effigie bei
fügt*). Wohl löst sich etwa einmal ein symbolisches Attribut von einem Gotte
ab und verwandelt sich in eine von ihm getrennte Persönlichkeit — wie
z. B. der Stachel des Odhin, der ihn ursprünglich als Todesschützen be zeichnet,
später in Hagen (dem
christianisirten „Freund" Hain) zur
Person hypostasirt erscheint — aber das ist ein ganz anderer Prozeß, ist
mythologische Weiterbildung, während jenes mythologische Selbstzersetzung wäre.
Gegen die Bedeutung des Apfels spricht aber noch deutlicher ein
anderer Umstand: nämlich der, daß an seine Stelle auch noch andere Ge
genstände treten, die Nuß, die Birne, der Ring, die Münze, von denen nur der erstgenannte
darf. — Wie nun?
gleichfalls eine erotische Bedeutung beanspruchen Antwort: wenn eine mythol. Operation nicht hilft,
so versucht man es mit einer andern, d. h. man stempelt die genannten
Gegenstände sammt und sonders zu Sonnensymbolen, denn rund sind sie alle, und auch die Sonne hat ja diese Eigenschaft!
dabei zweierlei, und zwar
sind
Nur vergißt man
dies keineswegs Kleinigkeiten:
1) wäre
trotz den Hesperidenäpfeln zu beweisen, daß der Apfel (von Birne, Nuß, Ring und Münze zu geschweigen) jemals eine solare Bedeutung gehabt habe und 2) wenn es auch bewiesen werden könnte (was nicht der Fall)
so kämen wir mit unserem Mythus erst recht inS Gehege, denn wir hätten
jetzt zwei Sonnenmythen — den vom Apfelschützen und den vom Tyran
nenschützen, ein Ueberschwang, oder wenn man lieber will, eine Combina*) Wenigstens thut sie es höchst selten — wenn es überhaupt geschieht. Der Mythus von Eva und der Schlange scheint allerdings hieher zu gehören, denn Eva und Schlange sind begrifflich dasselbe; Eva heißt „Schlange". Und doch ist diese Ausnahme nur ein Schein. Denn der Mythus ist kein ursprünglich hebräischer, er ist, wie der ganze Paradiesesapparat, importirt aus dem Persischen und von dem fremden Bolksstamm mißverstanden worden; überdies tritt uns, wie gewöhn lich bei de» Hebräern, der Mythus nicht mehr in seiner naiven Gestalt entgegen, sondern stark gefärbt und alterirt durch Zusätze von Moral und Priesterweisheit, ist also schon darum nicht als Beweis zu gebrauchen.
Der Ursprung der Tell-Sage.
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tion, die kein nüchterner Forscher annehmen und noch weniger erklären
Denn was bedarf es
wird.
denn noch
der Apfelsymbolik/ wenn der
Schluß auf den Tyrannen dasselbe besagen soll?
Eine solche Verschwen
dung liegt sonst nicht in den Satzungen der Mythenbildung.
Aber diese
motivirt, und hierin, scheint mir, liegt einfach und offen der Schlüssel
zu der Apfelgeschichte.
Insofern nämlich die mythol. Sprache Naturvor
gänge in Geschichte, d. h. in menschliche That Handlungen umsetzt,
muß
sie diese Handlungen, wie dies der Geschichtschreiber und der Dramatiker auch thun, durch Motivirung anschaulich und plausibel machen.
Es
muß ein greifbarer Grund vorhanden sein, warum der Tyrann erschossen wird, und dem Tyrannen muß ein Anlaß geschaffen werden, bei welchem
er seine Grausamkeit zur höchsten Potenz steigern kann.
Dieser Anlaß
war im gewöhnlichen Menschenleben leicht und wohlfeil zu haben,
man
brauchte ihn nicht von der Sonne herunter zu holen. —
Hiermil wären wir des Apfels ledig und haben nur eine einfache,
keine Doppelhandlung: der Apselschuß ist nur eine interessante motivirende oder
Episode
das Vorspiel zur entscheidenden und
legung deö Tyrannen.
folgenschweren Er
Es ist ja so natürlich! Waren einmal die Glieder
jener mythologischen Sippe als unfehlbare Schützen anerkannt, so setzte
man ihnen auch das schwerste Ziel, d. h. nicht nur den kleinen Gegen stand auf weite Entfernung, Liebste«,
sondern noch obendrein auf das Haupt des
wo die größte Erregung auch nicht den kleinsten Einfluß auf
die Nerven der Hand äußern darf, ober es ist um jenes Leben geschehen. Wer aber unter solchen Umständen daS Ziel zu treffen weiß, wird noch sicherer daS Herz des Todfeindes treffen.
Skizziren wir hier mit einigen Strichen diejenigen Sagen,
welche
auf demselben Untergründe, wie die Tellsage, ruhen oder dem und jenen Forscher zu ruhen scheinen. — Die persische lautet: Ein König hatte einen
Lieblingssclaven, dem er auf den Kopf einen Apfel legte um diesen hcrunterzuschießen:
Jedesmal traf er den Apfel mitten durch.
Hier wird
ein nüchterner Forscher die mythologische Sonde ruhig bei Seite legen,
denn es wird nichts als eine potenzirte und raffinirte Schützenkunst zum
Ausdruck gebracht.
— Aus dem griechischen Sagenstoff wird eine Er
zählung angeführt, welche der Bischof Eustachius zu Hom. Jl. XII, 102
aufbewahrt hat (p. 384, 894, 39 d. röm. Ausg.): Die Söhne deS Bellerophon
beanspruchten
beide die Nachfolge und forderten einander zum
entscheidenden Wettkampf mit dem Bogen heraus:
es sollte durch einen
Ring geschossen werden, welcher auf der Brust eines liegenden Kindes ruhte.
und
Ihre Schwester Laodamia wollte ihr eigenes Kind dazu hergebcn,
in Folge dieses heroischen Entschlusses wurde ihr das Reich zuer-
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Der Ursprung der Tell-Sage.
sannt. — Auch hier ist wenig mehr zu entdecken als in der vorigen Er zählung. — Ganz anders schon, d. h. in ähnlichem Ton mit der Tellsage lautet die deutsche von Wieland und seinem Bruder Eigil, welch letzterer
auf Befehl des grausamen,
auch
gegen Wieland gewalthätigen Königs
seinem dreijährigen Sohn einen Apfel vom Haupt schießt —
einen Sonnenapfel.
schwerlich
Er nimmt drei Pfeile heraus, und vom König be
fragt, giebt er ihm dieselbe Antwort wie Tell seinem Landvogt, doch wird dem Schützen
seine Rede verziehen.
Schützenkunst so
deutlich
als möglich
Dieser
Eigil
trägt
nun
auf der Stirn geschrieben,
seine und
zwar durch seinen Namen: Eigil, Aigil, Agilo (die ursprüngliche NamenSform) ist eine Bildung auS der Wurzel ag — vgl. acuo, acies, acus,
dxk — Spitze, hier also Pfeilspitze. — Bon William Cloudesly und Consorten ist oben die Rede gewesen. — In der bekannten Erzählung
des Saxo Grammaticus (welche Tschudy allein wahrscheinlich auS einer schon 1431 erschienenen Uebersetzung kannte) erscheint nun der isländische
Eigil als dänischer Toko (Palna-Toko) dieser aber nun, Zug für Zug, nur mit klimatischen Nebenzügen, kann man sagen, behaftet in Wilhelm Tell wieder: dort ist der Tyrann Harald Blauzahn, hier Geßler, dort
leitet der Held seine Schlittschuhe über schauererregende abschüssige Eis
und Schneefelder, hier das Schiff durch Sturm
und Wellen.
Merk
würdig ist hierbei, daß Saxo diesen Schlittschuhlauf mit Ausdrücken be zeichnet, die ebenso gut auf Schiff und Schifffahrt passen: illiso cautibus
vehiculo
egit —
— vehiculo
cui insistebat excussus — vehiculum
ejus regimen intrepida manu continere suffecit u. s. w.
Harald Blauzahn lebte nun im 10., Saxo Grammat. int 12. Jahrhundert,
also früher als derjenige Tell, den die naive Geschichtschreibung reclamirt, und früher als die erste Kunde vom sagengeschichtlichen Tell hinaufreicht. Man kann unter solchen und
andern gleich
zu erwägenden Umständen
nicht laugnen, daß es gerade so nahe lag, die Gefahren des Eisfeldes auf die des sturmbewegten Wassers zu übertragen, als der Urnersee der Heimat Wilhelm Tells lag.
Oder will man die Uebereinstimmung
auf einen
bloßen Zufall, auf eine Laune der Geschichte oder der Sage zurückführen?
Es giebt Zufälle, die entweder durch Zeugen oder durch begleitende That sachen beglaubigt sind, man muß sie anerkennen; hier aber fehlt beides,
und der Zufall an sich betrachtet wäre geradezu wunderbar, die Kritik darf ihn nicht anerkennen.
Es bleibt nichts übrig als:
entweder Ent
lehnung (wobei der Gläubiger entschieden der Scandinavische Norden, der Schuldner dagegen der Canton Uri wäre)
oder Identität des Mythus,
der sich in der Heimat der arischen Völkerfamilie als deren gemeinsames
Eigenthum gebildet, dann, nach der Trennung, bei den einzelnen zur Sage Preußische Jahrbücher. Sb. LXII. Heft 3. 19
Der Ursprung der Tell-Sage.
290
herabgestimmt und in mehr oder weniger verschiedenen Modulationen fort getönt hätte — verschieden, wie es etwa dort die Gefahren deS Eisfeldes
und die des Seesturms in unserer Sage wären, woraus zugleich resultiren würde, daß beides nicht etwa bloß ausschmückende Zuthaten zum Schützen, sondern wesentliche Sagenelemente sind.
Dergleichen kommt in der ver
gleichenden Mythologie wenigstens häufig, ja nur zu häufig vor; ich meine damit allerdings weniger häufig als in der wirklichen. Sei nun aber die Tellsage entlehntes oder gemeinsames Gut — ich
beneide den nicht um seinen Muth, der es entscheiden möchte — jeden falls haben wir darin ein mythologisches Licht, das vom Spiegel der
schweizerischen Natur aufgefangen und gebrochen wurde, und es handelt
sich nur noch darum,
ob und wie viele Reflexe der Spiegel der realen
Geschichte in das Bild der Sagengeschichte hineinwarf.
Ich will mich
und den Leser nicht länger aufhalten mit Aufzählung sämmtlicher Analoga
zur Tellsage, am allerwenigsten mit solchen, die später fallen, wie die Ge
schichte jenes holsteinischen Henning Wulf, der unter denselben Um ständen wie Wilh. Tell seinen Meisterschuß that, bloß daß er eine Birne
statt eines Apfels zu treffen.und keinen Tyrannenmord zu begehen hatte (vgl. Rocholz, Tell und Geßler S. 38), oder die des norwegischen Heming,
der lange vor W. Tell seinem Bruder Biörn eine Haselnuß — hof
fentlich doch so wenig wie jene Birne ein Sonnensymbol — vom Haupt zu schießen gezwungen wurde;
auch darf ja höchstens um der Curiosität
willen jener Indianer angeführt werden, von dem in Pfeiffers Germ. IX. S. 25 als von einem modernen Tell gesprochen wird, oder jener aller
modernste, der Leineweber (vgl. Kölner Zeitung vom 24. Jan. 1859), der freiwillig
höchst unbekümmert um
beim Laternenschein seinem Knaben,
die Symbolik, eine Kartoffel vom Kopfe schoß. meisten entsprechende Sage von Palnatoko, die,
Aber gerade die am
wenn gleich
alle Züge
einer solchen an sich tragend, dennoch auch die einer wirklichen historischen
Phhsiognomie, des Harald Blatand, mit jenen Zügen verwoben hat, proclamirt laut und deutlich die Möglichkeit, daß auch bei Wilh. Tell die Geschichte am Webstuhl der Sage könnte mitgeholfen haben.
eine äußere Veranlassung
diese Combination
Wenn dort
hervorrief, so auch hier.
Die meisten Forscher haben, so viel ich sehe, diese „Gleichung" anerkannt
und
jene Veranlassung in der Abstammungsfrage gefunden; diese also
habe die Einführung des Toko auf Schweizerboden, respective die Er findung des Wilh. Tell bewirkt.
Die Abstammung der Schwyzer aus
Schweden nämlich sei der Trumpf gewesen, den der Schwyzer Fründ
im Zürcher-Schwhzerkrieg ausgespielt habe gegen den
antischwyzerischen
Chorherrn Felix Hemmerlin in Zürich, der aus politischem Haß die Schwyzer
Der Ursprung der Tell-Sage.
von den Sachsen, d. h abstammen ließ.
kennen gelernt
verstockten depossedirten
291
und deportirten Heiden
Man habe, angeregt durch Fründ, die nordische Sage
und Vorliebe dafür gefaßt.
Warum Fründ's Stamm
theorie durchgedrungen sei und nicht die des Zürcher Chorherrn, davon
sei der Grund einfach in dem Umstande zu suchen, daß Zürich im Krieg unterlag. Das ist recht scharfsinnig ausgedacht, aber beim Einrenken dieser Gc-
schichtstafel zeigt sich eine und zwar eine große Fläche hartnäckig
und
widerhaarig, das heißt, unser kritischer Verstand will sich diesem Versuch
nicht fügen, er kann nicht glauben, daß eine Sage, die doch mit der Ab
stammung gar nicht oder höchst lose durch den Faden der Jdeenverbindung zusammenhängt, von Gelehrten einfach in ein anderes Local ver
pflanzt worden sei mit der erstaunlichen Wirkung, daß sie dort, mit einigen
Localfarben retouchirt, im Bolksbewußtsein Wurzel gefaßt habe.
Es
giebt freilich gelehrte Sagen, die römischen Antiquare z. B. wissen davon
zu erzählen, aber das Volk hat sie nicht geglaubt.
Eine Sagenerklärung,
die Glauben verdient, darf sich nicht auf das Unwahrscheinliche, auf den Ausnahmefall stützen.
Rocholz hat das gefühlt und bringt darum nach
träglich ein anderes Moment hinein, ein geschichtliches, wodurch der Sage
doch wenigstens ein ätiologisches Mäntelchen umgehängt wird, aber doch nur ein Mäntelchen.
Der schlimme Landvogt Peter von Hagenbach
nämlich (enthauptet in Breisach 1474) und sein nicht besserer Hauptmann
Friedrich Vögeli seien das Vorbild gewesen zur Nachschöpfung Geßler's
und seines beim bekannten Hut aufgestellten Knechtes.
Nun reiten die
Todten zwar schnell, aber zuerst müssen sie wirklich todt sein; wenn nun
aber unsere älteste Urkunde über W. Tell drei Jahre vor Hagenbach's
Tod bereits vorhanden d. h. ausgeschrieben war, so werden wohl Hagenbach
und sein Knecht ihre Hände puncto W. Tell in Unschuld waschen dürfen. Aber auch abgesehen davon — warum sollte Hagenbach's Gestalt oder
die des grausamen Abteö von St. Gallen, den ein anderer Forscher an Hagenbach's Stelle auf die Bildfläche gesetzt hat, sich gerade im Urner see abspiegeln? Nein, sondern im Volk war die Tellsage schon früher,
nicht erst seit jenen gelehrten Untersuchungen über die Abstammung leben dig.
Die Forschung hat gefunden, daß jene in Scandinavien uns be
gegnenden Sagen ursprünglich zuerst in Westphalen Wurzel geschlagen und von dort, schon im VI. Jahrhundert, mit den auswandernden Stämmen ihre Reise nach dem Norden über Jütland gemacht haben.
Aber auch
nach dem Süden, will sagen, nach der Schweiz, wurden sie getragen und zwar durch daS Wandervolk der Alemannen.
denn der schweizerische (speciell
Und sie gediehen hier weiter,
gerade der urnerische) Boden
ist für
Der Ursprung der Tell-Sage.
292
Sagencultur nicht unergiebig. Hausen) erinnern,
Man darf an die Drachensage (bei Atting-
an die Paradiessagen
auf der Blümlisalp, an die
Königin Agnes als Wasserfrau im Canton Aargau, an die Sage vom
Unthier auf den Surenen, an die (bloß aus dem Heidnischen ins Christ
liche um gedeuteten) Ueberlieferungen, die sich an die Tcufelsbrücke und
den Teufelstein knüpfen, an die Frau Saelde in der Urnersage, an die drei auf den Rigi geflüchteten Schwestern, an die Schloßsage von Schwanau im Lowerzersee;
auch die „Geschichte" Arnolds von Melchthal und der
„Vorfall" auf dem Schloß Roßberg in der Neujahrsnacht und die Scene mit Bogt Landenberg sind Sagengewächs.
So ist die sagenbildende Phan
tasie — das zeigen auf's deutlichste die Fäden des Gewebes — auch bei Wilh. Teil geschäftig gewesen und zwar ebenso unverkennbar auf geschicht lichem Untergrund.
Die mitspielenden Personen brauchen deswegen keine
streng historischen zu sein, sie sind Typen — und das genügt — für ge
schichtliche Zustände, sie repräsentiren eine geschichtliche Stimmung, Tell die Freiheitsliebe des Volkes, Gesler die schwüle Atmosphäre des Druckes,
der Abhängigkeit und Rechtlosigkeit, die jahrelang auf dem Volke lastete.
In den Einzelereignissen und Einzelthatsachen der Tellsage concentrirt sich das Empfinden und Leiden von so und so viel Jahrzehnten, sie geschahen
nicht im bestimmten Jahre so und so.
Möglich, aber durchaus nicht
nothwendig, daß ein hervorragendes geschichtliches Begebniß — man denke an das Jahr 1230 oder 1247 — von der vorhandenen Sage um sponnen wurde und daß dann dieses Gebilde auf das Hauptereigniß, auf
die Haupt- und Staatsaction, die Befreiung des Landes von den Vög
ten, d. h. von irgend einer unbequemen Oberhoheit, so gut oder schlecht eö ging, übertragen oder mit ihr combinirt wurde.
Mir aber kommt es
darauf an, den Punkt zu finden, von welchem aus visirt wurde, um der Sage gerade diese Gestalt zu geben, und irre ich nicht, so kann man
ihn finden, es
ist ein wirklich springender Punkt,
nämlich — der
sogenannte und schon lange vor der Tellsage sogenannte Tellensprung.
Hier haben wir, wenn ich nicht irre, den Schlüssel zu dem Namen Tell: nicht der Held hat der Localität, sondern die Localität des „Sprungs"
dem Helden den Namen gegeben.
Wenn sich schon der Urnersee so präch
tig und wie von selbst als Pendant zu jener nordischen Eisbahn bot, um
den Helden noch
von Seiten einer anderen Kunst im vollen Glanz zu
zeigen, so mußte sich für ihn auch ein Rettungsport aufthun, und auch er
bot sich
von selber — die Tellsplatte;
dort
aber
eben erhebt sich
der Tellensprung, d. h. die mit Föhren bestandene oder der von der
Bucht ansetzende Aufstieg.
bucht.
Tell (Tall) heißt beides, Föhre und Thal
Composita mit Tell, Ortsnamen bezeichnend, giebt es in Uri und
Der Ursprung der Tell-Sage.
293
anderswo, genug: Tellenrütti, Tellenberg, Tellepfad, Telliboden, Telleren,
Telligen, Tellenbach, Tellenmoos, Tellenmatte u. s. w. — die Hauptsache
aber ist: „Sprung" bedeutet, damals und jetzt noch, einen steileren Auf stieg, einen Berg, einen Hügel, eine Schlucht hinan. Das Volk, oder wenn man lieber will, die sagenbildende Volksseele hat aber das Wort „Tellen
sprung" mißverstanden (wie dies
in der Mythologie oft nachweisbar,
vgl. Prometheus, Apollo Delius, Herakles, letzterer = Her-akel, „HoruS
der Starke", also ägyptischen Gepräges) und auS ihm den Helden hervor
gehen lassen, der dort den rettenden „Sprung" that.
Auch die Tells-
platte trug höchst wahrscheinlich bereits vor der Bildung des persönlichen
Tell diesen Namen.
Im „weißen Buch" nämlich heißt es:
du der Tall
kam untz (bis) an die ze Tellen blatten, da ruft er sy (die Schiffs
genossen) an u. s. w. — was, aufmerksam gelesen und lautirt, gewiß nicht dafür spricht, daß diese Platte erst nach dem Sprung des Tell und in
Folge desselben ihren Namen erhalten habe. sich
(Auch später noch dürfte
in Ausdrücken „beim Tellen" oder „wenn man heimkommt vom
Tallen" — „da fart man zum Tell" der Nachklang der ursprünglichen Localität erhalten haben, vgl. Rocholz 163, ferner 176; die Bevölkerung
von Sisikon am Axenberg leitet den Namen der Tellenplatte nicht vom Tellensprung ab, sondern nennt dieselbe „an der Tellen".)
„Was kann
der Tellensprung anders sein als der Sprung, den der Tell gethan hat?
und hier gerade muß er gesprungen sein!" So combinirte der Volksver-
stand, und es brauchte dann, bei den oben berührten Umständen, kein un gewöhnliches Maß von Phantasie, um die schwankenden flatternden Sagen gestalten an die feste und stäte Oertlichkeit zu knüpfen.
Was
nun das Wort Sprung betrifft, so können wir durch drei
baSlerische Beispiele gerade jene Bedeutung nachweisen, welche wir für
den
Tellensprung in Anspruch nehmen.
Der Rheinsprung, eine
Straße, die von der Rheinbrücke einen ziemlich steilen Hügel hinaufführt
(schon in alten Urkunden so genannt, vgl. Basl. Urk. 1248 „duas domos
sitas dem Sprunge Rheno contiguas“ und von Leo Jud heißt es: als er im Collegio zu Basel am Sprung (Rhysprung) war u. s. w.) — ferner: der
Spitalsprung (jetzt Münsterberg) vgl. Wurstisen, Basl. Chron. 15,1: „Vom Münsterplatz den Sprung nider bis zum Kaufhaus", ibid. 77. „ES haben die Römer an gesagtem Ort ein Burg und Besatzung
ge
habt, den Fahr unten am Sprung zu verwahren", s. Fechter „Basel im
XV. Jahrh." p. 5. 21 und 53.
„Die Straße genannt an den Schwellen
oder der Sprung" — drittens: der Schlüsselsprung (jetzt Schlüsselberg), der von der Zunft zum Schlüssel anhebende Hügel.
Basler Professor I. I. Spreng
in seinem
Nichtig erklärt der
handschriftlichen Idioticum
Der Ursprung der Dell-Sage.
294
Rauracum Cod. Basil. A. 8t. I. 3: „Spring, ein etwas gäher Hügel."
Im XIV. Jahrh, brauchte man die oben genannten Composita, nicht, son
dern man begnügte sich einfach mit „Sprung".
Eine andere Frage ist
warum man im selben Basel nicht auch von einem Spalen-
es wieder,
sprung (— Spalenberg), einem Lindensprung, Peterssprung und Herberg sprung gesprochen hat oder noch spricht. Aber nicht nur Basel liefert Beispiele, sondern unter anderem, merk
würdig genug, weisen wird,
auch Wallis,
wie das „neue schweiz. Jdicticon" nach
und im gleichen Sinn findet sich (vgl. Stalder, Jrioticon,
alte AuSgabe Bd.il, p. 387) „Sprenge" femin. „ein kurzer, doch sehr
jäher Abschuß an einer Straße .... Luzerner Gau .... und Zürich".
(In etwas anderer Bedeutung in Bayern, vgl. Schmeller, bahr. Wörterb. 2. Aufl. v. Fromann,
Bd. 2, Sp. 702, wo es in der Bedeutung „das
Aeußerste, der Rand", z. B. eines Abgrundes, aufgeführt ist mit den Re densarten: Es steht auf der Spreng.
die Spreng.)*)
Stell das Glas nicht gleich auf
Ein Berglein bei Einsiedeln, mit Namen Wasser
sprung will ich nicht zu den beweisenden Beispielen zählen, so wenig wie
den Emmensprung (einen von der Emme gebildeten Wasserfall) im Canton Lucern eher die „Sprüngen" eine Stelle am Weg auf den Säntis,
oder den „Hirschensprung" im St. Gallischen Rheinthale,
die Biegung an einer steilen Landstraße (derselbe Name mit gleicher Be deutung in der thurgauischen Gemeinde Escherz).
Völlig entsprechend aber
heißt bei den heutigen Jtaliänern ein steiler Weg auf eine Anhöhe und
die Anhöhe selber „una salita“.
Wackernagel (altd. Wörterb. 5. Aufl.
p. 276) giebt dem Wort „springen" u. a. die Bedeutung
und
von heraus-
„aufwärts sich bewegen" (ein Quell, eine Pflanze), dem ent
sprechend also Sprung als „jäher Aufstieg".Es ist wohl möglich, auch das lateinische Saltus zu
beim Fischerdorf Anthedon Glaukos" hieß,
und zwar,
daß
dieser Sippe gehört. Wenn in Böotien Stelle am Meere der „Sprung
des
wie der Mythus wollte, vom Sprunge
des
eine
Genannten in's Meer, -so kann vielleicht auch dort ein Absturz ge meint sein und der mißverstandene Name Veranlassung zu der Fabel des Glaukos Pontios gegeben haben. Wenn unsere Erklärung der Tellsage richtig ist, so muß sie durch
analoge Beispiele unterstützt werden können, d. h. in vorliegendem Fall solche, wo der Name einer Localität den Kern hergab, um welchen die Sage sich
crystallisirte,
emporrankte.
den Grundstock,
an welchem sie ansetzte und
Und deren finden sich genug.
Ist eS denn mit RomuluS
■*) Ich verdanke diese lexical. Nachweise den Herren Pros. L. Todter und Dr. C. Sieber.
Der Ursprung der Dell-Sage.
295
und RemuS und mit sonstigen Slädtegründern anders? Nicht sie haben der Stadt, sondern die Stadt ihnen den Ursprung gegeben.
aus dem
großen Gebiet der
Manches
sogenannten ätiologischen Mythen gehört
hier her, der Mythen also „die Ereignisse oder Vorgänge erzählen, welche ersonnen oder erklügelt worden sind um ein gegebenes Factische, um das
Vorhandensein oder die Benennung eines Gebrauchs, einer Sitte, eines CultS, einer Einrichtung, einer Oertlichkeit, eines MonumentS, eines
HeiligthumS u. f. w. genetisch zu erklären" (Schwegler röm. Gesetz. I. p. 69) — also auf römischem Boden die Sage vom Evander und seinem Sohne Pallas zur Erklärung des PallanteumS (PalatiumS), von der weißen
Sau, und was drum und dran hängt, um den Namen Albalonga zu
erklären, der seinen Ursprung in einem ganz anderen Etymon als dem lateinischen albus hat, die Sage ferner vom LacuS CurtiuS oder die Auf griechischem Boden gehört beispielsweise hierher
von der Tarpeja.
der Mythus von den Quellen Arethusa auf Sicilien und Dirke bei
Theben, hierher ferner der vom argivischen König JnachoS (ursprünglich einem Fluß).
An den Namen von ArgoS, beziehungsweise an den Bei
namen deS trockenen, Savotov "App; knüpfte sich dann — denn C. O. Müller wird in seinen Prolegg. z. e. wiss. Myth. p. 185 wohl Recht haben, — die Gestalten des DanaoS und der Danaiden, die uns sofort
an den Aegyptos und dessen Söhne, die Aegyptiaden erinnern; der Name der Stadt Tarsos hat im Mythus von Perseus den Zug veranlaßt, daß
sein Pferd Pegasus
hier das
Fußblatt (töv itapaiv) gebrochen habe.
Und nicht bloß im Nebel der Urgeschichte eines Volkes bilden sich solche Mythen,
sondern
mitten
im Sonnenschein des geschichtlichen Lebens.
Die Stadt Kyrene auf libyschem Boden,
ihrerseits benannt nach der
Quelle Kyre, hat den Mythus von der Kyrene und ihrem Verhältniß zu
Apollo erzeugt.
Ja, unser Jahrhundert und unser nüchternes Blut ist
solcher Production noch etwa einmal fähig.
Beweis ist der Mythus von
der Loreley, keineswegs einem „Märchen aus alten Zeiten!"
Ich bin zu Ende. Mancher wird finden, auch ich habe einen „Sprung"
gethan, und zwar nicht einmal auf eine feste Platte, sondern ins Blaue hinein — aber beweisen wird er mir'S schwerlich.
Die Person deS Helden
ist allerdings in der Retorte zerflossen, aber die Bestandtheile, aus denen
er gebraut war, haben sich nicht als Erfindung und gelehrten Hokuspokus,
sondern alS gegenständliche, daS heißt geschichtliche, volksthümliche Stim mungen, also doch als poetische Wahrheiten im aristotelischen Sinne er
wiesen.
Und daS ist ein Trost.
Verantwortlicher Redacteur: Professor Dr. H. Delbrück Berlins. Wichmann-Str. 21. Druck und-Verlag von Georg Reimer in Berlin.
Prinz Adalbert und die Anfänge unserer Flotte. Vom Vice-Admiral Bätsch.
Die Geschichte der ehemals Preußischen, dann Norddeutschen, dann Deutschen Marine stützt sich noch bis auf den heutigen Tag auf die Lebens geschichte deS Prinzen Adalbert von Preußen. Der dänische Krieg von 1848 hatte zuerst die Nothwendigkeit einer
deutschen Seerüstung dargethan.
Schon im Mai 1848 hat Prinz Aval
bert über vie Schaffung einer Flotte eine vortreffliche Denkschrift ausgearbeilet, aber noch vielfachen Widerstand gefunden.
Wir haben keine Häfen,
so hieß es, denn Kiel ist dänisch,
wir
können Kriegsschiffe nicht bauen, und selbst wenn wir sie im Auslande bauen ließen, hätten wir zwar Matrosen, aber keine Officiere, um sie
auszubilden, und um die Schiffe zu führen.
Der erste Punkt fiel, so wie
vie Verhältnisse lagen, nicht so schwer ins Gewicht, denn Danzig mit
seiner gar nicht unrühmlichen seekriegsgeschichtlichen Vergangenheit,
bot
für den Anfang mit Corvetlen Unterkunft genug; auch Swinemünde war
in beschränktem Maße brauchbar; für Schaluppen genügte der Dänholm
bei Stralsund; auch der zweite Punkt, der sich auf den Schiffbau bezog, konnte leicht überwunden werden, wenn nichts Anderes, so bewies es das
Geschwader in Bremerhaven; am schwierigsten stand es mit dem dritten
Punkt; noch war der Krieg nicht zu Ende, und für ihn bedurfte man der
Seerüstung.
ES ist nicht Jedermanns Sache, zu Gunsten einer krieg
führenden Nation der eigenen Volksangehörigkeit zu entsagen; auch trifft man das Condottieren-Gewerbe selten vereint mit Organisations-Talent; und des letzteren bedurfte man doch vor Allem. Während das Handelsministerium sich früher zur Ausbildung junger
Steuerleute Dänischer Officiere bedient hatte (Dirkink-Holmfeld, Froelich)
befand sich dasselbe Amt seit einigen Jahren in der Hand eines Hollän dischen Seeofficiers, des Commodore Schröder. Dieser erwarb sich das unPreußische Jahrbücher, ißb. LXII. Heft4. 20
Prinz Adalbert und die Anfänge unserer Flotte.
298
bestrittene und unschätzbare Verdienst, an der Küste in Ausführung zu bringen was — damals von einer Abtheilung des Kriegsminifleriums — unter der Aegide und auf Eingebung des Prinzen geplant wurde.
Die
lange Reihe von Jahren des Zusammenwirkens der beiden Männer ist
den Zeitgenossen unvergeßlich; es war die Zeit jenes Siechthums, dem die beste Seile abzugewinnen eines seltenen Aufwandes von moralischer Kraft
bedurfte. Dem Eintritt Schröder's folgten die ersten freilich noch bescheidenen Lorbeeren.
Ihm war es beschieden, den Postdampfer „Adler"
in
ein
Kriegsschiff zu verwandeln und ihn mit Officieren und Matrosen frisch aus der Kauffahrlei gegen die Dänischen Kreuzer zu führen.
Der ruhm
reiche Kriegslärm des Jahrhunderts ist über das kleine Gefecht von Brüster
ort längst zur Tagesordnung übergegangen, und doch hat es seinen ge
schichtlichen Werth.
Man mag seine Ebenbürtigkeit mit den Waffenthaten
altpreußischer Tradition bestreiten; immerhin war eS der Anfang preu ßischer Kriegstüchtigkeit auf einem Gebiet, bis zu dem selbst die bewährte
Schule des großen Friedrich noch nicht vorgedrungen war; ein Minimum
von Kriegsmitteln in primitivem Zuschnitt,
gehandhabt von Menschen,
denen die Grundlage kriegerischer Tugend nicht fehlte, denen ihr wohlge pflegter Besitz und Gebrauch aber doch noch ein Mysterium war.
1852 traten drei Stabsofficiere der Preußischen Dienst.
Schwedischen Flotte in den
Einer derselben, Hylten-Cavallius übte auf das Or
ganisatorische nicht geringen Einfluß und mit seiner Hülfe gelang
dem
Prinzen die Errichtung einer eigenen, vom Kriegsministerium völlig ge
trennten Admiralität.
Die
Nothwendigkeit dieser Emancipation möge daö
Geschichtliche
erläutern, daß als der erste Kiel zu dem Preußischen Kriegsschiff, (nach
maligen Corvette „Danzig") gelegt wurde, der Preußische Kriegsminister allen Ernstes vorschlug,
das Schiff erst bei
Krieges von Stapel laufen zu lassen.
etwaigem Ausbruch eines
Es bedarf nur einer ganz geringen
Kenntniß nautischer Verhältnisse, um das Monströse des Gedankens zu begreifen.
Die unter den Hammer gebrachte deutsche Flotte hinterließ Preußen als Erbschaft zwei Schiffe und die Idee
der Jade.
Wer jene Zeiten
nicht mit durchlebt, von den sic begleitenden Zeitumständen keine Kenntniß
hat, sieht heute nur das fertige Werk, den deutschen KriegShafen an der Nordsee, und ahnt nicht,
auf welchen Widerstand die Gewinnung dieses
Gebietes für Preuße», nicht nur bei den Machtfaktoren, sondern auch in
einem großen Theil der öffentlichen Meinung stieß.
Gemeinhin sah man
eS an als eine» dürftigen Nothbehelf, weil Jedermann wußte,
was eS
299
Prinz Adalbert und die Anfänge unserer Flotte.
mit den Häfen der Preußischen und Pommerschen Küsten auf sich habe.
Der Gedanke, der den Prinzen in der Hauptsache leitete, den er wieder holt aussprach, daß es sich nicht um eine Zuflucht, sondern um die Eman
cipation künftiger Preußischer und Deutscher Seegeltung von der einge schlossenen Ostsee handele, wurde von Wenigen getheilt und von Wenigen verstanden.
Daß schon der erste Napoleon dort einen Kriegshafen ein
richten wollte, galt Manchen als eine Legende, die heute keine Bedeutung
mehr habe, örtliche Sonderinteressen hatten auch damals ihre Bedeutung,
Bremen war für die Weser, Oldenburg anfänglich für Brake, Hannover für Geestemünde, Hamburg für Cuxhaven, und der Commodore des in
Bremerhaven noch immer ein kümmerliches Dasein fristenden Geschwa ders keinenfalls für die Jade.
Die Trennung
von Admiralität und Kriegsministerium hat etwa
ein halbes Jahrzehnt vorgehalten.
wurde nur scheinbar erreicht.
Der Zweck, den man damit erstrebte,
Was der Prinz wollte, war die Möglich
keit selbstständiger und einheitlicher Entwickelung; die Abhängigkeit vom Kriegsministerium war beseitigt, die einheitliche Leitung aber nicht er
reicht,
denn die Begriffsunterschcidung zwischen genereller und specieller
Leitung öffnete allen Einflüssen
unberufener Elemente Thür und Thor.
Die erstere war dem Ministerpräsidenten, die letztere dem Prinzen zuge wiesen, waren auch die drei Abtheilungen von Commando, Technik und
Verwaltung in des Prinzen Hand, so waren doch die eigentlichen Ver
waltungssachen
durch
eine besondere Clausel
dem
Abtheilungsvorstand
unter der Aegide des Ministerpräsidenten persönlich überwiesen.
Zu per
sönlichem Zwist innerhalb der Zentralbehörde, schon damals Admiralität genannt, lieferte das reichlichen Anlaß; dazu kamen die Anfeindungen,
denen das fremde Element ausgesetzt war, und die Vortheile der neuen Organisation kamen nicht voll zur Geltung.
Trotzdem hat die einmal hergestellte Selbständigkeit segensreich ge wirkt.
Besonders ist ihr der erste Anfang einer von der Landarmee ab
gesonderten Wehrpflicht der
danken.
seemännischen Bevölkerung deS Landes zu
Auch die Regelung der Chargen- und Beförderungsverhältnisse
deS Officier-CorpS datirt auS jener Zeit, das noch mit Hülfe des Kriegs ministers
vom Prinzen Adalbert geschaffene Seebataillon, und das auf
die Initiative des Commodore Schröder
geschaffene Schiffsjungeninstitut
blieben bestehen und haben sich — mit nicht ganz gleichem Werth — bis
auf den heutigen Tag erhalten.
Die errungene Selbstständigkeit machte so
manche dem Seewesen
eigene Einrichtung möglich; der Vorwurf, man habe sich damals zu sehr
an fremde Muster gehalten, war nicht berechtigt; die zu jener Zeit ge20*
300
Prinz Adalbert und die Anfänge unserer Flotte.
schaffenen Einrichtungen haben die
mannichfachen Sturm- und Drang
perioden der Marine überdauert; von den meisten kann man folgen, daß sie den Anforderungen des Seewesens eigenthümlich und nicht nach lan desüblichen Vorbildern geschaffen waren,
und nur die eine Anstalt,
sich an Preußische Grundsätze und Muster anlehnte,
die
hat nicht ein Jahr
zehnt überdauert; das war das zu Berlin errichtete Seekadetteninstitut. Die Klage, daß man sich zu wenig an landesübliche Muster halte, ging lange Zeit wie ein rother Faden durch die ganze organisatorische Bewe
gung; und dennoch hat es einem aufmerksamen Beobachter nicht entgehen können, wie gerade diejenigen Organisatoren, die der Armee angehörten,
dem Landesüblichen häufig entsagten.
Dahin gehörte die Beseitigung des Sekadetteninstituts.
Ueber die
Vorzüge der, Corps-Erziehung hört man in militärischen Kreisen kaum je
ein ungünstiges Urtheil, so
Betrachtet zwischen
man
die
daß
Unterschiede
Kritik
zwischen
wie
ein Wagniß erscheint.
Armee-
und
Flottenwesen,
dem Dienst der Garnison und dem des Schiffs,
so stellt der
Seedienst im Punkte der Schmiegsamkeit der menschlichen Natur bar höhere Forderungen.
offen
Körperlich und geistig soll sie schärfer disci-
plinirt, und deshalb früher gelernt, die Natur früher in Entsagung ge
Dazu, meinte man, bedürfe es früher Einstellung, und in
übt werden. Folge
dessen
wieder berufsseitig
neben dem Unterricht im Fach.
eines Ersatzes für die Bildungsschule
Merkwürdig genug, für den Landdienst
erkennt man das heute noch an, für den Seedienst nicht mehr seit fünf undzwanzig Jahren. einen Grundsatz,
Einem General der Armee war es beschieden durch
soweit er den Seedienst anbetraf, einen Federstrich zu
machen; und das geschah zu einer Zeit, wo im Preußischen Abgeordneten
hause die Corps-Erziehung lebhaft vertheidigt wurde.
Dazu trat die Aner
kennung des Kauffahrerdienstes als berechtigte Vorstufe für den Beruf deS
Officiers.
In einer Zeit, die auf fast allen Gebieten mit heftigen For
derungen hervortrat, schien die Marine ganz geeignet für Maßregeln ähn licher Art.
Dies geschah aber, als die Vortheile der Emancipation zum
Theil schon wieder beseitigt waren. Zu jenen Vortheilen gehörte, und gewiß
nicht in letzter Linie, — die Einsetzung eines selbstständigen, vom MilitärCabinet vollkommen unabhängigen Jmmediat-Vortrages, zuerst in der Hand Niebuhr's,
dann Jllaire's.
Das Militär-Cabinet Manteuffel blieS das
Lebenslicht dieses in seiner Art auch militärischen Sprößlings aus;
Marinestandpunkte war der Gedanke schön, dacht;
er verging
vom
aber doch etwas zu frei ge
auf lange Zeit, wurde erst unter der Aera Stosch
wieder zur Wahrheit, um dann abermals beseitigt zu werden. Trotz Olmütz war der Kaiser Nikolaus in Preußen ein militärisches
Prinz Adalbert und die Anfänge unserer Flotte.
301
Idol geblieben, und seine regelmäßigen Besuche in Berlin schienen auch für die Zukunft der Marine von Bedeutung werden zu sollen.
Denn daS
Geschwader, welches den Czar zu fahren und zu begleiten pflegte, machte
in Swinemünde Station.
Die Namen der Schiffe Kamtschatka, Smerleji,
Grarialschi sind den Zeitgenossen noch frisch in der Erinnerung; cs war
die Garde, und ein Theil der Garde-Equipage der Flotte, die da erschien,
und von dem aufstrebenden Seeofficier des jungen Preußischen Instituts angestaunt wurde.
Für den aufmerksamen Beobachter war ein gewisser
Einfluß nicht zu verkennen.
Bei der Behandlung der Uniformsfrage war
nicht wenig Meinung für daS Russische Grün, da siegten aber deS Prinzen Adalbert Atlantische Erinnerungen, im Russischen Kielwasser zu
segeln war ihm gegen daS Gefühl, und die blaue Farbe gewann den Preis. Noch entschiedener wurde der
jungen Marine der Stempel
ihrer
ferneren Richtung ausgeprägt, als es dem Prinzen gelang, die Britischen Geschwader im Schwarzen Meer und in der Ostsee als praktische Schule für Preußische Seekadetten zu benutzen.
Dies erschien ihm ein Gewinn,
den man, wie er sich oft ausdrückte, gar nicht hoch genug schätzen könne.
Selbst innerhalb der Marine hat er in dieser Meinung nicht immer Zu
stimmung und Unterstützung gefunden; demungeachtet hat sich der Prinz in der Beibehaltung und Ausbildung dieser Praxis nicht beirren lassen;
er lebte der vollen Ueberzeugung, das großartige Treiben deS Britischen FlotteudiensteS könne auf die jungen Officiere einer so neuen Schöpfung
nicht anders als günstig wirken, und wo nicht Mißgriffe in den Personen
stattgefunden haben, hat er sich nicht getäuscht.
Die Einrichtung hat fort
gedauert bis mit dem Eintritt der neueren Kriegs-Aera daS Vaterland aller Kräfte selbst bedurfte.
Sie später wieder fortzusetzen wurde noch
ein neuer Versuch gemacht, der indeß auf Englischer Seite nicht mehr auf die alte Bereitwilligkeit stieß, sodaß es damit ein Ende nahm.
War es dem Prinzen auch gelungen, die Personenfrage langsam in
ein erträgliches Geleise zu bringen, so blieb doch immer noch die Calamität der Häfen und der zu bauenden Schiffe.
Für die ersteren waren
mit Oldenburg schon die lebhaftesten Verhandlungen im Gange, und, weil dort daö regste Interesse war, versprachen sie Erfolg; schwieriger stand
die Sache mit dem Schiffbau.
Weder an der Ostsee, noch an der Nord
see fand sich ein Architekt, der den neueren Anforderungen an den Bau
eines Kriegsschiffes hätte genügen können; da stellte der Engländer John Scott Russell dem Prinzen seine Dienste zur Verfügung; er machte den Entwurf zu einem größeren Raddampfer mit mächtiger Armirung,
der
nachmaligen Corvette „Danzig", die dem Schiffbauer Klawitter in Bau gegeben wurde; dann aber entwarf er eine für flache Gewässer sich eig-
Prinz Adalbert und die Anfänge unserer Flotte.
302
«ende Schiffsart, Raddampfer mit einer Bewaffnung
von 4 schweren
68-pfündigen sogenannten Bombenkanonen, die auf den Radkasteis-Platt-
formen stehend in der Kielrichtung und querab feuern konnten. Die Schiffe waren, — damals eine Neuheit für Kriegsschiffe — von Eisen und halten nur 7 Fuß Tiefgang; dazu waren sie an jedem Ende mit Steuerapparat
versehen, liefen 11—12 Knoten und hatten vermöge der beiden Steuer
eine für ihre Länge sehr günstige Manöverirfähigkeit.
Sie hielten die
See und konnten sich mit großer Freiheit in allen Flußmündungen der
Pommerschen und Preußischen Küsten und namentlich auch in den Binnen gewässern von Rügen bewegen.
Nur ein Jahr früher gebaut, und sie
wären den Dänischen Fregatten ein gefährlicher Dorn im Fleisch gewor
den.
Jetzt waren sie zwar ein Material-Gewinn für die Zukunft, aber
für den Friedensdienst, der nun in Frage kam, wenig geeignet. Während deö Krimkrieges füllte sich die Englische Presse mit immer
lauter werdenden Klagen der Englischen Admirale im Schwarzen Meer nicht minder, wie im Finnischen Golf über den Mangel an flachen Fahr zeugen.
Mit neidischem Blick hatte der Britische Seeofficier die beiden
vorhererwähnten Fahrzeuge aus der Themse auslaufen sehen; aber daS war zu einer Zeit, wo von der Kronstädter Verlegenheit noch keine Rede
war; indeß hatte man sie nicht vergessen und der erste Lord der Admira
lität zur Zeil des Krimkrieges Sir James Graham machte ein Angebot mit der schönsten Fregatte,
wenn man ihm die beiden Fahrzeuge über
lassen wolle. Es hat einige Ueberwindung gekostet, ehe man sich von diesem schwer errungenen Anfang einer wirklichen — und für Kriegszwecke in der That
vortrefflichen — Seestreitkraft trennte; in deö Prinzen Hand lag die Ent scheidung; er wußte wo uns der Schuh drückte; an eine Seekriegs-Aera
war in Preußen fürs Erste nicht zu denken, und er ging auf das Ange bot Sir JameS Graham's ein.
Es war eine eigenthümliche Schickung,
daß dieselben Fahrzeuge auf ihrer Ueberfahrt nach England im Decem ber 1854 noch den Akt der Weihe bei Besitzergreifung des Jadegebietes
zu vollziehen hatten.
Es war ein Wendepunkt in mehrfacher Richtung,
eine Zeit, in der für so manches Neuere die Wege sich zu ebnen begannen. Für „Nix" und „Salamander" — so hießen die beiden kleinen Dampfer, die wir in Tausch gaben, — erhielten wir die „Thetis", damals eine der besten 36-Kanonenfregatten
der
Britischen Flotte.
Das
war
ein nützliches
Fahrzeug, hat gute Dienste gethan, und wurde zu früh „beseitigt".
Dieses Schiff und die „Gefion"
sind die eigentliche Uebungsschule
des älteren Theiles des Seeofficier-Corps gewesen.
den man mit „Gefion"
von dem
Der „Babaroffa",
aufgelösten Bremerhaven-Geschwader
303
Prinz Adalbert und die Anfänge unserer Flotte.
übernommen hatte, an sich ein vorzügliches Schiff, fand vor dem damals obwaltenden Schwedischen Einfluß keine Gnade, und wurde als Kriegsschiff aus der Liste gestrichen.
Mit der Nachahmung der rein militärischen, der Preußischen Armee
entlehnten Pragmatik dem
ist
Material, d. h.
zulegcu.
In der
also
man
mehr
und
den Schiffen
mehr
davon
abgekommen,
selbst historischen Werth
Armee verfolgt und pflegt
bei-
man die Geschichte der
Truppenlheile, insbesondere des Regimentes, obgleich das allein Greifbare dabei nur das geschriebene Geschichtsbuch ist.
Das Herkommen entspricht
den spirituellen Zwecken der Armee, aber nicht denen der Marine.
Man
hat dem Prinzen Adalbert mit Zähigkeit den Vorwurf gemacht, daß Her
kömmlichkeiten der Armee in seiner maritimen Pragmatik zu wenig Be
achtung fänden.
Aber der Vorwurf ist ungerecht.
Er hat eS vermeiden
wollen, daß eine verknöcherte Nachahmungssucht Raum gewinne; denn er
fürchteie, daß sie der Naturwüchsigkeit deS neuen Instituts schaden müsse.
Wer heute nach den Geschichtsaufzeichnungen der Schiffe fragt, findet ein leeres Blatt.
Wer in der Litteratur, wer im Buchhandel forscht, wird
nichts finden, als die „Geschichte des Seebataillons", denn nur von den Truppentheilen schreibt man Geschichte. „Amazone", „Thetis", „Danzig",
„Barbarossa", „Arcona",
„Nymphe" u. s. w. sie alle haben eine kleine
Geschichte, aber Niemand erfährt sie, es ist nicht herkömmlich, die trockene Biographie der Schiffskörper wird der Controlle der Reparaturen halber
nur im Schiffbaubureau gehalten; das andere vergeht und wird vergessen, und da die Marinetheile mit ihrem Personal nur Ersatz-Depots sind für
die Schiffe, so entbehren sie alles dessen,
was Werth wäre,
geschichtlich
ausgezeichnet zu werden. In der heutigen Aera der Schießbaumwolle nimmt die Beseitigung
des alten Flotten-Materials raschen Fortgang, und es wird nicht allzu
lange dauern, so wird es schwer halten, über dasselbe geschichtliche Aufzeich
nungen zu finden.
Wer im Dienst des Vaterlandes seinen Tod findet,
dessen Name pflegt an geweihter Stelle, — gewöhnlich in der Garnisonkirche
deS Orts — dem Gedächtniß ausbewahrt zu werden. zu Kiel würde man
vergeblich
„Amazone" mit „Frauenlob",
In der Marinekirche
die Namen derer suchen, mit dem
die mit der
„Großen Kurfürst"
im Dienst
ihres Königs ein nasses Grab fanden, und wenn man sagt, daß die Ge
pflogenheit nur auf solche Bezug hat, die ihren Tod vor dem Feind ge funden, so würde man ganz ebenso vergeblich die Namen der im Dänischen
Krieg auf „Arcona" und „Nymphe" Gefallenen suchen.
Daß man dem —
auf Zeit — in Kiel garnisonirenden Infanterie-Bataillon in der Marinekirche
eine schöne marmorne Botivtafel gewidmet hat, ist würdig und in der Ord-
Prinz Adalbert und die Anfänge unserer Flotte.
304
nung.
Man soll sich aber nicht zum Fremdling
Ehre dem Ehre gebührt!
im eigenen Hause machen, weil die „Herkömmlichkeit" nicht ga^iz zutrifft. Aus dem Streben nach selbstständiger Entwickelung ist dem Prinzen
Adalbert mancher bittere Borwurf erwachsen; Mangel an Achtung vor den
ruhmreichen Ueberlieferungen der Preußischen Armee, vor ihrer bewährten Pragmatik in Rüstung und Uebung des Volkes zum Kampf für König und Hcerd, wird bei einem Prinzen des Königshauses nie zu finden sein.
Der Gedanke aber,
daß
die kriegerischen
Tugenden,
deren
der See
krieg bedarf, am Lande und an irgend welchen Einrichtungen des Landes nicht zu erlernen seien, ist nicht ganz zu verwerfen, und wenn der Prinz
einem solchen Gedanken Raum gegeben hat, so verdient er nicht die Kritik,
die man geglaubt hat, ihm dafür zumesscn zu sollen.
Man mag ein
wenden, Todcsmuth sei eine Tugend, die zu Land und zu Wasser an den
Mann die gleiche Forderung stellt, daher mit gleichem Maße gemessen und gewürdigt werden muß.
Das ist richtig, soweit es die Person be
trifft, von der man solche Tugend fordert.
ES ist aber nicht zu leugnen,
daß die Forderung selbst in ganz anderer Gestalt und unter ganz anderen
Man braucht nur zu berücksichtigen, wie
Umständen zur Geltung kommt.
verschieden die Forderung auftritt, jenachdem eS sich um die Personen der Führer oder der Geführten handelt.
Kein Mensch, sei er Führer, oder
geführt, hat mehr als ein Leben daranzusetzen, und Jeder der dem KriegS-
beruf folgt, sei es auS Passion oder aus Pflicht, hat sich mit dem Ent
schluß dazu abzufinden. Man hat die Behauptung aufstellen hören,
die Forderung an krie
gerische Tugend sei zur See eine höhere, als am Lande; denn dort gelte
es nicht allein den Muth gegen die todtbringende feindliche Waffe,
son
dern einen Muth, der im Kampf mit dem Element, mit dem dauernden Ungemach des Seelebens noch höherer Anspannung bedürfe, höherem Werthe sei.
Das ist ein Trugschluß.
darum von
Der Muth, die Tapfer
keit, die Entsagung, der hingebende todesmuthige Entschluß des Kriegers, sie stehen bei dem Soldaten, wie beim Seemann auf gleicher Stufe, und verdienen die gleiche Würdigung.
Ihre Keime entsprießen dem gleichen
Boden, derselben theils ererbten, theils gepflegten Hingebung für Fürst
und Vaterland,
demselben in
einem
gesunden
Gemeingeist wachsenden
Streben, in die Fußtapfen der Väter zu treten, und nur zünftiger Eng
herzigkeit möchte es gelingen, zwischen beiden einen Unterschied zu finden. Ist also auch das Maß der Forderung gleich in dem Augenblicke, in wel chem sie an das Individuum herantritt, so ist doch ein Unterschied in der
Gestalt ihres Auftretens, wenn man die Lage in Betracht zieht, in welcher Führer und Geführte sich befinden.
305
Prinz Adalbert und die Anfänge unserer Flotte.
Als der Wohlfahrtsausschuß in Frankreich es für unerläßlich hielt,
auf Generale
und Admirale persönlichen Druck auszuüben,
ihnen Convents-Deputirte
zur Seite.
stellte
man
Die Verschiedenheit, die in der
Gestalt ihrer Einwirkung nicht minder, wie in dem Ergebniß zur Geltung kam, ist bezeichnend.
Dem Deputirtcn Jean Bon St. Andre genügte die
Theilnahme an der Seeschlacht vom l.Juni 1794, um beim Convent darauf hinzuwirken, daß man den Admiralen aufgab, sich künftig
auf
einer Fregatte einzuschiffen und hinter der Schlachtlinie zu halten; denn
warum sollte nicht auch ihm der Grundsatz zu Gute kommen,
nach wel
chem die bei der Kriegführung am Lande betheiligten Conventsgenossen
sich den kaltblütigen,
wahrten?
gesammelteren Ueberblick außerhalb des Feuers be
Die Maßregel kam zur Ausführung und man gab sich eine
Zeit lang der irrigen Auffassung hin. Französische Admirale könnten nur
auf diesem
Weg Erfolge haben.
Bei Fleurus,
diesem ersten großen
Erfolg der Republikanischen Waffen hatte ja der Oberbefehlshaber, — wie
das überhaupt im Landkrieg üblich, — auch nur hinter der Front gestan den.
Man bedachte nicht, daß der Seekrieg in diesem Punkte der Aus
übung des
Handwerkes
andere Forderungen stellt,
daß die geführten
Massen sich räumlich nicht ausdehnen, daß es für die Gefechtsbewegungen
nothwendig ist, dem obersten Führer selbst, und nicht bloß seinen durch Zeichen gegebenen Befehlen zu folgen, und daß die Einwirkung des per sönlichen Beispiels hier ein niemals zu entbehrender Faktor ist.
Batail
lon und Schiff sind nur in wenigen Punkten mit einander zu vergleichen;
die Gesammtwirkung der Individuen,
auf denen ihre Gefechtstüchtigkeit
beruht, kommt auf verschiedenem Wege zur Geltung;
statt daß man zu
Erfolgen kam, wurden die Mißerfolge immer bedenklicher,
und man ist
bald zu der alten im Seekrieg bewährten Art zurückgekehrt.
Solche und ähnliche. Erwägungen hatten nicht geringen Antheil an
der Richtung, welcher der Prinz sich hingab, als ein im Lande ganz neues Institut geschaffen wurde.
Annahme auch
Er meinte,
neuer Lehrsätze
mit der neuen Schöpfung sei die
ganz unvermeidlich.
Wenn
man einen
neuen Baum pflanze, dürfe man ihn nicht mit dem äußeren Blätter- und Blüthcnschmuck eines andersgearteten Baumes versehen wollen; die Nah
rung aus eigenem Boden müsse seinem Ertrag nicht minder,
äußeren Ansehen den Stempel geben. eine Eigenart,
wie rem
Daraus entstand in vielen Dingen
die im Lande selbst in manchen Kreisen Befremden und
Mißtrauen erregte.
Heute,
wo dies geschrieben wirr, hat die Marine
eine Lebenszeit von vierzig Jahren, und noch kann man nicht sagen, daß manche ihrer Eigenheiten, so z. B. die absonderliche, von den militärischen
Ueberlieferungen so abweichende Uniform in Fleisch und Blut der Nation
306
Prinz Abalbert und die Anfänge unserer Flotte.
übergegangen wären.
Daß die Marine eine Anstalt sei, in welcher die
„Licenz", das „Gehenlassen" der tonangebende Faktor wäre, ist,eine in
der Armee noch heute vielgeglaubte Legende.
Dem Verfasser ist es
un
vergeßlich, wie er von einem Officier des großen Generalstabes gefragt wurde, ob der auf dem Aermel der Admirals-Uniform befindliche goldene Stern „Licenz" sei.
übelzunehmen;
Es wäre
unrecht gewesen, dem Mann die Frage
er hatte die „Licenz" für eine
unerläßliche Zugabe des
Dienstes auf dem schwankenden Element gehalten, und die Klagen der in
Berlin sich aufhaltcnden Seeofficiere, daß ihre Uniform von den Schild
wachen nicht beachtet würden, sind noch heute an der Tagesordnung. Merkwürdig war es, daß der Prinz für solche Klagen nur ein hal
bes Gehör hatte; aber die Einbürgerung der Marine-Uniform im Binnen lande vermochte er als etwas Erstrebenöwerthes erst in zweiter Linie zu
würdigen;
„draußen" sollte sie sich geltend machen,
und wenn sie das
that, dann — so meint er, — könne auch die Geltung im Binnenlande
nicht fehlen, und der Kummer um die Schildwachen würde sich dann wohl
finden. Fand sich aber zu der von ihm so heiß erstrebten Geltendmachung keine Gelegenheit, dann, — und so meinte er mit Recht, — wäre jener kleinere Kummer mit dem unendlich viel größeren wohl zu verschmerzen.
Wo einem menschlichen Körper die Luft, die er zum Athmen braucht, versagt und nur ein falsches Ersatzmittel geboten wird, da sind die Merk
zeichen beginnender Krankheit unausbleiblich.
Zum eigenen nicht minder,
wie zum Unbehagen anderer dehnt und reckt er die Glieder, deren unarti-
kulirten Trieben zur Thätigkeit er nicht zu genügen vermag.
Am deut
lichsten, unartikulirtesten und lästigsten stellen solche Merkzeichen sich ein
bei dem Körper eines jungen Wesens, Beobachter am wenigsten geneigt, gleich
paßt einigermaßen auf das,
und bei ihm ist der urtheilende
Mitgefühl zu empfinden.
Der Ver
was man im Anfang der fünfziger
Jahre dieses Jahrhunderts die Preußische Marine nannte.
Bei einem
höchst geringen Bestand an Material war an Seegeltung nicht zu den
ken.
Rach der langen, nur durch die 48er Unruhen unterbrochenen Frie
densperiode wucherte die Armee noch mit den Lorbeeren der Befreiungs
kriege, ihr Ruhmestitel und ihre Rangstellung im Lande fußte auf selbst errungener
und
eroberter Grundlage, deren Pflege und Erhaltung mit
nicht weniger Recht, wie mit einer gewissen Eifersucht bewacht und ge
hütet wurde.
Daß ein neuer ganz junger Sprößling mit dem Anspruch
auf Ebenbürtigkeit auftrat, fand nicht ungetheilte Zustimmung.
Hier trat
der Sprößling nicht nur mit dem Anspruch auf, sondern, und das war
ein großes Unglück, — es fehlte ihm der Rechtstitel einer eroberten See geltung als nothwendige Unterlage.
Man nahm keinen Anstand, seine
307
Prinz Adalbert und die Anfänge unserer Flotte.
Nervosität auf Schritt und Tritt zu reizen, das leistete dem Krankheits
proceß Vorschub, der innere Organismus wurde zumeist mit untergeord
neten, trivialen Fragen beschäftigt,
Rang- und Etikettenfragen spielten
eine hervorragende Rolle, denn man war fest entschlossen, eine Ebenbür tigkeit sich nicht verkümmern zu lassen, zu deren Selbsterwerb noch nir gends Gelegenheit war.
Die erste Hauptgarnison der Marine, — von einer Flotte konnte man mit dem besten Willen nicht sprechen — war Stettin.
in den Jahren 1849—1852 ein
im Wesentlichen
Da lebte
den Kauffahrerkreisen
entnommenes Corps von Seeofficieren, die vorbehaltlich eines abzulegen den Examens den Namen „ Auxiliar-Officiere" trugen.
noch nicht fest eingestellt angesehen,
Sie wurden als
wie denn in der That die größere
Zahl derer, die man 1848 in dieser Weise eingestellt hatte, bereits wieder
Zu dem Rest dieser Officiere, einige zwanzig,
entlassen waren.
sich eine kleine Zahl sogenannter Seekadetten I. Klasse,
gesellte
die den gleichen
Rang, d. i. den des Sekondelieutenants der Armee hatten,
und deren
vom König verliehener Officierrang gar keinem Zweifel unterlag.
Dem-
ungeachtet fühlte man sich in gewissen Armee-Kreisen — am Sitz eines
General-Commandos kann man es wohl so bezeichnen — nicht
das anzuerkennen;
und da in einer Zeit,
geneigt,
wo von Kriegsthätigkeit wenig
die Rede ist, Etikettenfragen eine Wichtigkeit beanspruchen, die man ihnen bildeten hier die militärischen „Hon
sonst nicht einräumen würde, so neurs" der Schildwachen
einen Apfel der Zwietracht,
und entgegen der
Königlichen Willensmeinung nahm der Commandant von Stettin es auf sich, jenen jungen Officieren das
zusprechen.
Anrecht auf solche „Honneurs" ab
Der Sturm im Glas Wasser wurde bald gedämpft, das ge
kränkte Officierbewußtsein in sein Recht eingesetzt, und die Sache an sich
hat kaum den Werth einer geschichtlichen Erwähnung. das
deutliche Merkzeichen
eines Zwiespaltes,
Und doch war sie
in welchem der Keim der
damals so nothwendigen Kameradschaft zwischen ArmeeKreisen erstickt,
Neulinge
und Marine-
oder doch wenigstens nicht gefördert wurde.
Anstatt die
an sich heranzuziehen und sie in der Luft eines militärischen
Gemeinwesens, welches unter großen Traditionen aufgewachsen war, ge
deihen zu lassen, lehnte man die Gemeinschaft ab. Garnisonwechsel, der Uebergang
Erst ein
späterer
nach Danzig, hat darin Wandel
ge
schaffen; und da war es eigentlich schon zu spät, deun als Danzig Gar
nison wurde, fing das Corps der Seeofficiere an, den Schwerpunkt seiner Thätigkeit auf dem Salzwasser zu finden.
Mit dem Eintritt der Regentschaft in Preußen hatte man es für gut befunden, sich der Grundlage der Armee-Friedens-Verwaltung, —
308
Prinz Adalbert und die Anfänge unserer Flotte.
d. i. der vollständigen Trennung der Administration und inneren Oeko-
nomie vom Commando, — insoweit zu nähern, daß man für,jeden der
beiden Dienstzweige eine Spitze schuf,
die selbstständig arbeiten,
in ge
meinschaftlichen Dingen aber gemeinschaftlich unterzeichnen sollten.
Nach
Aeußerungen des Prinzen Adalbert ist die Idee auf den späteren ViccAdmiral Jachmann zurückzuführen, aber die thatsächliche Unausführbarkeit, die sich bald herausstellte, gereicht ihm nicht zum Vorwurf, weil man ja nach gegebenen Armeemustern zu arbeiten glaubte, und der Meinung war,
das „gemeinschaftliche Zeichnen" trüge dem
Marinedienstes vollkommen Rechnung.
besonderen Erforderniß
des
Chef der Verwaltung wurde der
Admiral Schröder und an die Spitze des Ober-Commandos, — so wurde
cs
genannt — blieb
der Admiral Prinz Adalbert.
Neu
war nur die
Trennung und Schaffung zweier nebeneinander stehender Behörden; voll ständige Einheit war auch vorher nicht gewesen, denn für alle Verwal
tungssachen hatte es der Unterschrift und Mitzeichnung des wirklichen Chefs
der Admiralität, des damaligen Minister-Präsidenten, bedurft, der sich von dem Berwaltungsvorstand der Admiralität, damals dem Geheimen-Rath Gäbler Vortrag halten ließ.
Als mit dem Eintritt der Regentschaft ein
neues Ministerium kam, und der Fürst Anton von Hohenzollern-Sigmaringen den Vorsitz hatte, war für die Admiralität eine Aenderung nöthig,
denn man rechnete nunmehr
auf
eine umfassendere Verwirklichung der
Flottenidee, für die Spitzen der großen Verwaltungskörper stand erweiterte Verantwortlichkeit in Aussicht,
schwerem Herzen,
und der Prinz ließ sich bewegen, — mit
wie er später
oft ausgesprochen hat, — den Prinz
regenten um eine Abzweigung der Verwaltung zu ersuchen.
Dem Gesuch
folgte die obenerwähnte Zweitheilung, — eine Maßregel von verhängniß-
voller Tragweite für das ganze Leben und Gedeihen der Marine.
Von
den Einrichtungen und Ueberlieferungen deS Armeewesens getäuscht, glaubte man, daß eine ähnliche Trennung, — denn nur um eine Aehnlichkeit,
nicht um eine Gleichheit war es jetzt zu thun — auch für das Marine wesen
ganz gute Früchte trage» müsse.
Hätte es sich einfach um eine
Fortführung des bisherigen verschwindend kleinen Betriebes
Jahresbudget von einer halben Million Thaler gehandelt, Sache vielleicht
geraume Zeit ganz gut gegangen.
lagen die Dinge aber wesentlich anders.
mit einem
so wäre die
In dem Augenblick
Zum Abschluß eines Handels
vertrages mit den Ostasiatischen Kaiserreichen sollte eine Expedition von nicht geringem Umfang ins Werk gesetzt werden.
Zwei größere und ein
kleineres Kriegschiff bildeten daS Geschwader und zum Nachschub von Vorräthen nicht minder, wie zur Aufnahme von Industrie- und Handelsarti
keln wurde ein Kauffahrteischiff als Transportschiff der Expedition gemie-
309
Prinz Adalbert und die Anfänge unserer Flotte.
thet.
An der Spitze derselben, soweit eS die nautische Führung anbetraf,
stand der allein noch vorhandene schwedische Seeofficier; da der Winter vor der Thür stand, das hauptsächlichste Schiff (Arcona) noch ganz neu
in seiner Art, man in der Uebersicht des Bedarfs auch noch nicht recht klar war, so haperte die ganze Ausrüstung; man hat behaupten wollen,
bei den Ausführenden sei nicht überall der nöthige gute Wille vorhanden
gewesen; dem mag sein wie ihm wolle: der Reibungs-Faktor machte sich bei den zwei nebeneinander wirkenden Behörden stark geltend,
sodaß der
Commodore nichts Besseres zu thun wußte, als sich diesem verschleppen den System
der Friktion zu entziehen, und die ganze Ausrüstung
eigene Hand in England zu vollenden.
den
einmal entfesselten Dämon des
Ruhe zu bringen.
auf
Das war freilich nicht geeignet, Dualismus in der Heimath zur
Schärfer und schärfer gestaltete sich die Reibung der
Autoritäten, und jene zur Zeit soviel besprochene Expedition war in die Heimathshäfen noch nicht wieder zurückgekehrt, als man die Unmöglichkeit
der Sachlage erkannt, und, ohne zu wissen, was man Besseres eintauschen würde, mit einem Federstrich der ganzen Organisation ein Ende gemacht.
An dieser war nichts, an rem würdigen Admiral Schröter, der sich ins
Privatleben zurückzog,
war viel verloren.
An der Spitze des damaligen
Militär-Cabinets stand der Oberst von Manteuffel, nachmaliger Feldwar-
schall und Statthalter von Elsaß-Lothringen.
In der Hauptsache war es
sein Einfluß, der eine Verschmelzung der Marine mit dem Kriegsministe
rium herbeiführte; das Ober-Commando verblieb dem Prinzen Atalbert,
die Verwaltung aber sollte der Kriegsminister unter dem Titel „MarineMinister" führen.
Darin
fand
der Dualismus
einen noch
schärferen
Ausdruck, als es vorher der Fall war. Damals glaubte man in dieser Zweitheilung von Commando und Verwaltung die Lösung eines Räthsels zu erblicken.
Daß die Marine so
wie sie war, weder wachsen noch gedeihen konnte, lag an der Spärlichkeit der Mittel, — „Beiräthigkeit der Fonds" war das damals geläufige Wort;
man suchte aber nach anderen Gründen; und weil die der Marine von Anbeginn
innewohnenden Eigenheiten soviel Absonderliches hatten, von
der Uniform, die immer ein Stein des Anstoßes blieb, gar nicht zu reden,
so unterlag cs nun gar keinem Zweifel mehr, daß man sich den „exotischen
Allüren" abwenden und endlich eine wirklich Preußische Pragmatik an nehmen müsse.
Der Gedanke war richtig, wenn es sich nur um die Pragmatik, die altbewährte Preußische Präcision in der Führung der Geschäfte, die Pflege des- Corps-Geistes in den Osficieren und Mannschaften, vor Allem um
die Pflege und Förderung der Disciplin gehandelt hätte; das war es aber
Prinz Adalbert und die Anfänge unserer Flotte.
310
nicht allein; es handelt sich vielmehr
um die Uebertragung jener Prag
matik auch auf den gesammten Betrieb.
1
Schon die ersten äußerlich hervortretenden Folgen der Aenderung waren nicht sehr ermuthigend.
Nicht genug, daß nunmehr in einem General die
Personal-Union der beiden Verwaltungsbehörden sich vereinigte, es mußte eine für die höheren Officiere der Flotte empfindliche Maßregel hinzutreten,
daß nämlich unter dem Kriegsminister selbst noch ein zweiter der Armee entnommener General die Ausführung der Berwaltungsgeschäfte übernahm. Daß das Prinzip einer absoluten Zweitheilung wie in der Armee nicht ganz durchführbar sein werde, fühlte man wohl, und versuchte ein
Einigungsmittel zu schaffen.
In der vorhergehenden Organisation hatte
man ein solches in der gemeinschaftlichen Vollziehung wichtiger Schrift
stücke zu finden geglaubt.
Aber statt zu einer Einigung beizutragen, hatte
gerade dieses Mittel den Zwiespalt verschärft; vielleicht war es sogar der
Grund des Zusammenbruchs, denn die Gegensätze hatten
sich zuletzt so
zugespitzt, daß selbst Formalitäten der Unterzeichnung Zwiespalt verursachten.
Ein Marine-Ministerium, an dessen Spitze der preußische Kriegsminister
stand, war daran nicht gebunden.
Auch innerhalb der Marine fand die
Sache ziemlich allgemeinen Beifall, derselbe bezog sich aber nicht sowohl
auf die Eigenheit der Organisation, sondern darauf, daß der Einverlei
bung der Personalunion
und Zusammengehörigkeit nun auch gewiß die
immer noch angezweifelte „Ebenbürtigkeit" folgen müsse.
Daß eine solche
aber nur durch sauer erworbene, auf Thaten beruhende geschichtliche Ueber
lieferung zu schaffen ist, daran dachten Wenige. Was die Organisation anbetraf, so meinte man, daß ein System,
unter welchem ein großes militärisches Gemeinwesen, wie die Preußische
Armee gedeihen und blühen könne, auch für den maritimen Sprößling gut sein müsse. Der Prinz-Admiral hatte sich zu fügen,
oder zu verzichten.
Das
Letztere wäre vielleicht das Bessere gewesen, denn wenn er sich auch darüber trösten konnte, daß das Heft seiner Hand fortan entwunden sei, so erschien ihm doch auch die Aussicht einer gedeihlichen Mitwirkung nur gering;
das wünschte man aber nicht, und baute eine Brücke, von der er wohl
glaubte, daß sich damit leben lasse. Was bei der vorhergehenden Organisation die „gemeinschaftliche Voll ziehung" gewesen war, und als Einigungs- oder Einheits-Mittel fallirt
hatte, das sollte jetzt der „Admiralitätsrath" sein.
Nur schade, daß beide
Theile sich darunter etwas ganz Verschiedenes dachten.
bald heraus,
Das stellte sich
und die Institution kam, — einige wenige Ausnahmsfälle
abgerechnet, — wenig zur Geltung.
Prinz Adalbert und die Anfänge unserer Flotte.
311
Die Sache hat unter der Firma „Marine-Ministerium und Ober-
Commando" etwa zehn Jahre lang gearbeitet, mit viel Arbeit, viel Reibung, vor Allem aber mit vielem, vielem Briefschreiben zwischen zwei Dienst gebäuden, die noch nicht eine Büchsenschußweite voneinander lagen.
Eine Art von Theilung besteht zwar auch heute noch; denn der Reichs
kanzler ist der verantwortliche Minister auch für die Marine und der Ches der Admiralität sein ausführender Staatssekretär;
aber der letztere hat
doch die Ausführung ganz allein in der Hand, plant und übersieht Alles
und ist frei von dem auf Schritt und Tritt ihm an den Schößen hängen den Bleigewicht eines außerhalb stehenden, anders denkenden, anders rech
nenden und anders wollenden Verwaltungsmannes.
Auch heute hört man zwar hie und da Stimmen, daß es eigentlich anders sein müßte; namentlich macht man geltend, es sei zuviel Macht
fülle in einer Hand vereinigt, und eine ähnliche Centralisation fände sich in keinem anderen Betrieb des Deutschen Reiches; ohnehin stehe es im
Widerspruch mit konstitutionellen Formen, daß ein stellvertretender Minister, der der Volksvertretung Rechenschaft schuldig wäre, mit dem Amte eines
Oberbefehlshabers betraut sei.
Es tritt der weitere Einwand hinzu, das
allmähliche Aufrücken eines Prinzen des Hauses erfordere eine neue Thei
lung der Gewalten, wie sie zur Zeit des Prinzen Adalbert und des Mi nisters von Roon so ersprießlich gewirkt habe.
Ueber das ersprießliche Wirken sind einige Zweifel erlaubt; die Stifter
jener Einrichtung waren von ihrer Vorzüglichkeit sicher überzeugt, dagegen besteht die Thatsache, daß der erste größere Kriegssturm sie beseitigt hat,
daß die heutige einheitliche Admiralität seit mehr als anderthalb Jahr
zehnten besteht, und daß noch kein neu hineintretender Chef daran ge dacht hat, sich der ihm gebotenen ungetheilten Autorität zu entäußern.
In dem Streben, die altbewährten Armee-Einrichtungen nachzuahmen, hatte man die Grundverschiedenheit übersehen, die dem Betrieb unv Wesen
Beider ihren Stempel giebt.
Eine Theilung von Verwaltung und Com-
mando kann und wird nützlich sein in einem Betrieb, der jahraus jahrein
sich bis in Einzelheiten immer in ein und demselben Geleise bewegt. Feste CadreS in festem örtlichen Zusammenhang,
eine Verwaltung, deren Ge-
sammtresultat nur die Multiplikation so und sovieler tausendfältigen Ein-
zelnheiten ist, sind die Grundlage des Armee-Betriebes im Frieden wie
im Kriege, namentlich im Geldpunkt; der letztere tritt zurück, sobald Krieg ausbricht.
Der Betrieb nimmt einen Umfang an, der jede Rücksicht auf
die Geldfrage zurückbrängt, ein großer Theil des wirthschaftlichen Treibens der Nation kommt in Mitwirkung und in Mitleidenschaft, das ganze Land
wird zu einem Schauplatz von Truppen-Anhäufungen und Aufmärschen,
Prinz Adalbert und die Anfänge unserer Flotte.
312
und — was vor Allem wichtig ist: die ganze Sorge für den wirthschaftlichen Betrieb der Armee kommt von dem Augenblick an in militärische Hand.
Man könnte einwenden, daß das ja im Frieden auch der Fall sei,
da ja in der Person des Kriegsministers sowohl, wie in der des Chefs des Oekonomie-Departements die militärische Hand auch in der Verwaltung
gesichert sei; ganz so liegt die Sache aber nicht, denn eine Freiheit des Handelns in Verwaltungs- und Verpflegungssachen
erhält ein Armee-
Befehlshaber erst mit der Mobilmachung und mit dem Ausrücken aus dem
Bereich seines Friedensquartiers; bis dahin waren die Grenzen des Etats bindend, und zwar in so einschränkender Weise, daß bis auf die Selbst-
bewirthschaftungsfonds der Truppentheile auch nicht über die kleinste Summe frei verfügt werden konnte.
Ganz anders verhält sich
die Sache mit dem Betrieb der Flotte.
Zunächst vollzieht sich der Haupttheil desselben immer außerhalb Landes,
und weil dies der Fall ist, deshalb ist er von Verhältnissen und Begeben heiten abhängig, die man nicht in der Hand hat, die aber von Tag zu
Tag auf den Betrieb einwirken, für ihn maßgebend sind, und ihn deshalb einer ewigen Veränderlichkeit preisgeben.
Diese Veränderlichkeit ist des
halb die Grundlage des täglichen Lebens der Flotte; ihr muß in Allem,
was auf den Betrieb einwirkt, Rechnung getragen werden, und namentlich ist eine so vollkommene Trennung von Verwaltung und Commando wie
im Armeebetriebe nicht durchführbar.
als der bei der Armee so
Es ist das umsoweniger der Fall,
wichtige Unterschied
zwischen Friedens
und
Kriegszustand bei der Flotte fast ganz wegfällt, oder doch mindestens sehr
zurücktritt.
Ein
Bataillon
auf Kriegs- oder Friedensstärke sind
zwei
außerordentlich verschiedene Dinge; das Schiff ist im Krieg genau dasselbe, wie im Frieden; aber nicht allein seine Stärke und Ausrüstung sind die
selben, sondern bis auf den durch den Krieg bedingten Gefechts-Akt ist auch seine Bewegung, Thätigkeit, täglicher Betrieb von ganz gleicher Art,
wie im Frieden.
Zieht man ferner in Betracht, daß das ganze Leben der
Flotte, vom Hafendienst abgesehen, außerhalb der Grenzen des Heimath-
landes seinen Schauplatz hat, so liegt auf der Hand, daß die Friedens-
Formen des Betriebes der Landarmee nicht passen,
und daß etwas in
diesem Fall allerdings „Fremdartiges" an die Stelle gesetzt werden muß.
Es scheint auch, daß man das Eigenartige nicht ganz verkannte, denn man
billigte die Schaffung eines Mittelgliedes, welches dazu dienen sollte, Rei bungen und Gegensätze auszugleichen, des Admiralitätsrathes.
Man hatte
aber entweder übersehen, vaß ein solches Mittelglied, selbst wenn es aus
unabhängigen, unbefangenen, und unparteiischen Räthen besteht, keine Macht
der Entscheidung hat, oder man hat dem Prinzen, der sich in seiner Noth-
Prinz Adalbert und die Anfänge unserer Flotte.
313
läge an den Strohhalm klammerte, pro forma ein Zugeständniß machen wollen.
Zu den Geschäften, die dem Admiralitätsrath zur „Berathung"
überwiesen wurden, gehörte auch die „Dislokation".
Vom Armeestand
punkte ist die „Dislokation" im Frieden ein wichtiger Akt, der selbst für kleinere Truppentheile nur durch Allerhöchste Cabinetsordre unter Gegen zeichnung des Ministers verordnet werden kann.
Vielleicht ist es nicht
zuviel behauptet, wenn man sagt: es ist ein Akt, der wenn er im Frieden
zur Ausführung kommt, alle Faktoren der Staatsverwaltung in Mitleiden schaft setzt.
Unzweifelhaft ist die
örtliche Verschiebung
einer Division,
einer Brigade, eines Regimentes oder eines Bataillons eine im Frieden
nur unter außerordentlichen Umständen vorkommende Sache.
Daß das
Commando der in Dienst gestellten Schiffe und des gesammten Militär
personals Sache des Oberbefehlshabers sei, erschien selbstverständlich; nach dem man aber zu einer grundsätzlichen Zweitheilung in allen Sachen ge schritten war, fühlte man, wie dem Verwaltungs-Chef das Heft aus der
Hand genommen werde, wenn „ Segelordres" dem Capitel der CommandoSachen einverleibt würden.
Und doch schien es auch nicht ganz richtig,
sie dem Commando zu entziehen, denn man fühlte durch, daß ein Flotten-
Commando
ohne Ertheilung
mando sei.
Doch da bot sich der vortreffliche Ausweg der Cabinetsordre,
der nothwendigen Segelordres kein Com
und auf diesem Wege konnte ja die Mitwirkung, — weil Gegenzeichnung
— des VerwaltungS-Chefs nicht fehlen.
Aber eine Segelordre ist nun eben „Dislokation" und bedurfte einer vom Minister gegengezeichneten Cabinetsordre, und da jedes für sich gehende Schiff eine Segelordre erhielt, so wuchs mit der Vermehrung der Indienst
stellungen die Zahl der Cabinetsordres, deren jede die Verständigung der beiden Behörden, Verwaltung und Commando, Ministerium und Ober-
Commando zur Vorbedingung hatte, und eö ist leicht zu ermessen, wie viel zu dem Ende geschrieben werden mußte, und geschrieben wurde.
Im
Lauf der Zeit gab es keine Anordnung irgend welcher Art, sei es aus persönlichem, sei es auf sachlichem Gebiet, die nicht der Vereinbarung be
durfte, und wer es nicht erlebte, hält es für unglaublich, welche Briefmassen tagtäglich von dem in der Wilhelmsstraße belegenen Marine-Ministerium nach dem Leipziger Platz, dem Palais des Prinzen und vice versa beför dert wurden.
Es ist klar, daß Reibungen dabei nicht zu vermeiden waren;
mit solchen Reibungen wuchs auch die Abneigung gegen jede persönliche Verständigung, Meinungsverschiedenheiten mußte durch Cabinetsordres die Spitze abgebrochen, in allen Fällen aber dafür gesorgt werden, daß wenig
stens der Jmmediatvortrag
nur ein einseitiger war,
weil
persönlicher
Widerstreit doch unmöglich in das Cabinet des Königs getragen werden Preußische Jahrbücher. 93b. LXIL Heft 4.
21
Prinz Adalbert und die Anfänge unserer Flotte.
314
durfte.
Dabei kam der Umstand zur Geltung, daß das Militär-Cabinet
ein unzweifelhaftes Organ des Kriegsministers, — bei der obwaltenden
Personal-Union also des Marine-Ministers ist, daß hier also unverkenn bar die spirituelle Oberbefehlshaberschaft in der Verwaltungsspitze ruhte, und daß sie von dieser ausgeübt wurde, ohne ihr nominell zu gehören, und
daß, was noch schlimmer war, die meisten Entscheidungen und Ausflüsse dieser Oberbefehlshaberschaft mit den Willensmeinungen des wirklichen Oberbe fehlshabers nicht übereinstimmten.
Noch immer klammerte sich der Prinz
an den Strohhalm des nie zusammenberufenen Admiralitätsraths, aber je mehr Werth er diesem vermeintlichen Aushülfemittel beizulegen suchte, desto geringere Neigung war auf der anderen Seite vorhanden.
Schließlich kam es
dahin, daß Wünsche der einen Seite ganz sicher waren, den Widerstand der
anderen zu finden, daß alle Anordnungen wichtigerer Art außerordentlich
langer schriftlicher Einleitungen und Besprechungen bedurften, daß dem thatsächlichen Obercommando jede Initiative verleidet wurde, und daß der an
der Küste befindliche Marine-Apparat, der den Geschäftsbereich einer mäßigen Armee-Division damals nicht überschritt, in ihrem nothwendigsten
Betrieb, persönlich und sachlich, von der Hand in den Mund lebte. Alle Anordnungen
auf dem Gebiet
des Materials,
wie In- und
Außerdienststellungen der Schiffe stehen mit denen des Personals in so
enger Wechselbeziehung, daß sie nicht zu trennen sind; sie sind das auch in
Friedenszeit, — ja, man kann sagen: gerade in Friedenszeit, — der sich
fortgesetzt geltend machende MobilmachungSakt.
Im Gefühl, daß eine In
dienststellung eine Art Mobilmachung sei, die selbst im kleinsten Umfang von Rücksichten deS Staatshaushaltes abhing, daß man die Verfügung
darüber also nicht einer ganz außerhalb des Verwaltungsapparats stehen den Commandobehörde überlassen könne,
Jmmediatvorlrag
deS
wurden Indienststellungen auf
Verwaltungs-Chefs durch Cabinetsordre verfügt.
Zuweilen pflegte man vor dem Jmmediatvortrag die Commandobehörde
zu verständigen, d. h. man setzte sie in Kenntniß, zuweilen auch nicht. Vom Avmiralitätsrath war dabei in keinem Fall die Rede, und seltsamer Weise glaubte man für die Außerdienststellung eines Schiffes nicht ein
mal der Königlichen Unterschrift zu bedürfen, denn man verfügte dieselbe
in der überwiegenden Mehrzahl der Falle Kraft eigenen Amtes.
Daß
auch dafür der Verwaltungs-Chef sich deS Allerhöchsten Einverständnisses
versichert hatte, unterliegt ja keinem Zweifel, aber eS war nicht konsequent
in der Form. Waren unter solchen Verhältnissen die Reibungen an der Tagesord nung, so kam auf die Dauer noch der weitere Uebelstand hinzu, daß dem immer
mächtiger werdenden Verwaltungsapparat die selbstständig— oder dem Namen
Prinz Adalbert und die Anfänge unserer Flotte.
315
nach selbstständig dastehende Commandobehörde unbequem und hinderlich
werden mußte.
Die Verschiedenheit der Anschauungen wurde von Jahr
zu Jahr größer, die Gegensätze schroffer.
Wer in der Ausführung seiner
Pläne nicht behindert sein will, muß den Anderen über Richtung
und
Ausdehnung derselben im Dunkeln lassen, denn daS macht ihn unfähig, sie zu stören; nur fehlte dazu die Berechtigung, und der zum wenigsten
auf dem Papier vorhandene und vorgeschriebene AdmiralitätSrath wirkte als stille Mahnung.
Zur Behandlung der JndienststellungSfrage trat noch
Schwierigkeit, die Betheiligung deS Auswärtigen Amts.
eine andere
Die allmähliche
Vergrößerung der Marine konnte sich natürlich nicht ganz im Stillen voll ziehen.
Jedes Schiss mehr, daS sich auf dem Ocean zeigte, vergrößerte
die Ansprüche und HülfSrufe der Consuln, denen man anfangs möglichst
Zähigkeit gegenübersetzte, die man aber doch nicht ganz uuberücksichtigt lassen konnte.
Der Deutsche im AuSlande begann, an daS „Civis Ro
manus sum“ zu glauben, und auf die Dauer hielt man eS doch für nöthig, dieser wachsenden Zuversicht Nahrung zu geben.
Auf diesem Ge
biet nun entdeckte man, daß man sich da mit ganz plötzlich und vereinzel: auftretcndcn Ansprüchen abzufinden habe.
Die südamerikanischen Repu
bliken wollten sich in ihren Parteikämpfen nicht kontrolliren lassen, ihre Programme sind unberechenbar, mithin auch die etwa nothwendige Hülfe,
die man seinen Staatsangehörigen dort angedeihen läßt.
Solche Ver
hältnisse erforderten nicht selten Indienststellungen aus dem Stegreif.
Es
war zuweilen schwer, ihre Kosten aus dem gewöhnlichen Indienststellungs fonds zu decken, und ebenso schwer war eS mitunter, den persönlichen
Anforderungen unbeschadet des gewöhnlichen Betriebes gerecht zu werden. Es liegt dem Verfasser dieser Schrift fern, auS den hier gegebenen Schilderungen bestimmten Personen einen Vorwurf zu machen, oder deren
Beweggründe in Zweifel zu stellen.
Derselbe glaubt vielmehr, daß Alle,
insbesondere die höchst- und höher stehenden nur ihrer aufrichtigen Ueber
zeugung gefolgt sind.
Ein nicht zu leugnender Borwurf erwächst nur
dem falschen, ja, man kann sagen dem verderblichen System.
Zwischen
einem System, welches den Oberbefehl der Armee in die Hand des Königs,
ihrer Theile
in die der Corpsführer die Verwaltung derselben in die
Hand eines mit den Faktoren der Staatsverwaltung zusammenhängenden Ministers legt und einem System, welches zwei untrennbare Lebensadern
deS Flottcnbetriebes der getrennten Handhabung zweier Behörden über antwortet, ist ein gewaltiger Unterschied. so sehr im Geldsäckel,
Nirgend liegt der Schwerpunkt
als wenn ein Betrieb unregelmäßig auftretenden
überseeischen Bedürfnissen gerecht werden muß; und wo der Schwerpunkt 21*
Prinz Adalbert und die Anfänge unserer Flotte.
BIG
liegt, da wächst das Machlbedürfniß, und muß dahin streben, Hindernissen, die sich ihm entzegenstellen, zu beseitigen, mögen Rücksichten der Etikette das erschweren oder nicht.
Aber ganz abgesehen von den Rücksichten auf die Person des Ober
befehlshabers, waren die Hindernisse in der That nicht geringer Art.
In
der Hand des Oberbefehlshabers, mochte dies nur ein Name sein, oder nicht, lag auch daS Amt eines General-Inspekteurs. In welcher Art es sich machte, daß dem Ober-Commando eine selbst ständige, jeder Zeit vernehmbare Stimme im Cabinet entzogen war, ist oben geschildert.
spekteurs".
Nicht so leicht zu beseitigen war die Stimme des „In
Denn als solcher ist er berufen das unmittelbare Organ des
Monarchen zu sein,
und er hat die Pflicht,
seine Beobachtungen und
Eingedenk dieser
Meinungen auf direktem Weg zur Sprache zu bringen.
Thatsache hat man dann auch später, als der Prinz, des Kampfes müde, daS Ober-Commando dahin abgab, wo es nach seiner Meinung hingehörte,
eine Aenderung gemacht, und ihm das Amt der General-Inspektion mit der
Clausel belassen,
daß seine Beobachtungen sich
nur
darüber
zu
äußern hätten, ob der Betrieb in Einklang mit den „Bestimmungen" sei.
So wie die Sache damals lag, bildeten die Jnspektionsberichte den Ablagerungsort aller entgegenstehenden Meinungen, die man an Aller
höchster Stelle zur Sprache bringen wollte.
Es wurde nicht viel damit
gewonnen, denn die Berichte gingen an den Minister zur Aeußerung und
die endgültige Wirkung und Entscheidung waren fast immer abweisend; kein Wunder, da das Concept der bezüglichen Cabinets-Ordre nicht im Cabinet, sondern im Marine-Ministerium verfaßt wurde.
Daß die zwischen den beiden Behörden obwaltende Spannung zu weilen Bemängelungen zu Tage brachte, die als solche besser unterblieben
wären, unterliegt keinem Zweifel.
Damit steigerte sich die Spannung,
und das hatte wiederum die Folge, daß Dinge, die wohl Berücksichtigung verdienten, grundsätzlich abgewiesen wurden.
Um ein Beispiel zu erwähnen, spielte in dieser Beziehung eine her
vorragende Rolle das damals sogenannte Swinemünder Trockendock. Zu einer Zeit, wo Kiel der Flotte noch nicht zur Verfügung stand, hatte man Einleitung getroffen, unter Berücksichtigung der Stettiner Rhe
derei,
in Swinemünde einen
Dockbetrieb herzurichten.
Als Kiel aber
Kriegshafen wurde, hielt der Prinz es für eine dringende Nothwendigkeit, die Verlegung des Dockes an diesen Ort in Aussicht zu nehmen. Immer von Neuem und in jedem Jahr wurde die Sache in den Jnspicirungs-
berichten zur Sprache gebracht, wiesen.
aber
mit derselben Consequenz
abge
Wie wenig die Abweisung begründet war, geht daraus hervor.
Prinz Adalbert und die Ansänge unserer Flotte.
317
daß die Verlegung später doch, und zwar noch zu einer Zeit erfolgte, wo die steinernen Docks im neuen Hafenbassin zu Kiel schon zur Verfügung
standen.
Als sie in Gebrauch kamen wurden Stimmen laut, man möge
nunmehr das Schwimmdock wieder nach Swinemünde nehmen,
aber bis
zum heutigen Tag hat eine entschiedene Meinung dafür nicht zur Geltung
kommen können, ungeachtet des Umstandes, daß das Bassin, in welches
das Dock gebracht werden muß, wenn es einen neuen Anstrich erhalten
soll, sich in Swinemünde befindet.
Wiederholt ist das Dock behufs neuen
Bodenanstrichs dorthin genommen, niemals aber in Swinemünde belassen,
sondern immer nach Kiel zurückgenommen worden.
Nachdem
der Zustand der Reibung. zwischen den beiden Behörden
einmal dauernd geworden war und der nothwendige Einfluß auf Commandosachen dadurch zu schleppend und schwerfällig wurde, half man sich,
ohne es gerade auszusprechen,
dadurch, daß man sich im Schooße des
Ministeriums eine eigene Commandobehörde schuf.
Das geschah durch
eine Abzweigung der bereits vorhandenen Central-Abtheilung.
Es läßt
sich nicht anders sagen, als daß diese neuentstehende Unterbehörde, was
das Nautische anbelangt, von einer tüchtigen Kraft geleitet wurde.
Die
rein militärischen Sachen fanden nicht so gute Vertretung, denn es wur
den Personen dazu herangezogen, denen die volle Kenntniß des Grund und
Bodens, auf dem sie sich befanden, abging.
Daß an der Spitze der Ab
theilung eine so tüchtige Kraft stand, war aber nicht einmal als ein Vor
theil anzusehen, denn es wurden dadurch sowohl die Initiative des Mi nisters, der sich
ohnehin
mit den Einzelnheiten
nicht viel beschäftigen
konnte, wie die des Direktors in den Hintergrund gedrängt; der Letztere war ohnehin immer nur halb orientirt, weil ja die Berichte und Eingaben der Commandos an den Küstenorten und von den Schiffen nicht an ihn,
sondern an den Oberbefehlshaber gingen.
Daraus erwuchs als weiterer
Uebelstand, daß ein den wirklichen militärischen Jnstanzenzug umgehender
Schriftverkehr hervorgerufen wurde, der keineswegs dazu angethan war,
der Spannung zwischen den oberen Behörden Abbruch zu thun. Wie daö System im Krieg arbeitete, darauf wird man zurückkom men müssen; wie es im Frieden wirkte, ist wohl genügend angedeutet,
und wenn man in Betracht zieht, daß für Armee und Flotte die Friedens arbeit immer nur die Vorbereitung zum Kriege ist, so liegt eine Schluß folgerung nahe. Die Entwickelung jener Friedensthätigkeit lag hier klar am Tage;
sie konnte Niemandem entgehen, der sie sehen wollte.
Bon allen Wir
kungen die schlimmste bestand darin, daß die Maxime, wonach in einem dem Schutz und Trutz deö Landes bestimmten Gemeinwesen der Oberste
Prinz Adalbert und die Anfänge unserer Flotte.
318
befehlen und leiten, der Untergebene gehorchen und willig folgen soll, all
mählich, wenn auch unwissentlich,
gefährdet wurde.
Es komzte auf die
Dauer nicht fehlen, daß die Spannung in den oberen Sphären der Flotte
einzelnen Angehörigen derselben bemerkbar wurden; die
jedem
zwischen
Wilhelmstraße und Leipziger Platz obwaltenden Meinungsverschiedenheiten wurden in den Schiffsmessen bei den Antipoden und in den Casinos der
heimischen Häfen besprochen; daß die Mehrzahl das Marine-Ministerium
als die im letzten Ende obsiegende und jedenfalls an Macht überlegene Partei ansah, war kein Wunder, und mochten die militärischen Autoritäten
den Satz:
„die Disciplin der Offtciere sei die der Flotte", auch noch so die geschilderten Verhältnisse rüttelten daran.
sehr betonen,
Man ge
wöhnte sich von jeder Maßregel, jeder Reform, jeder Anordnung das Pro und das Contra zu erwägen, denn daß an dem Thun und Lassen des
Oberbefehlshabers in Berlin vom BerwaltungSressort scharfe Kritik geübt wurde,
wußte man und fühlte das Bedürfniß, den eigenen Standpunkt
festzustellen.
Es ist nicht zuviel behauptet, daß dadurch in dem Jahr
zehnt 60/70 — wohlverstanden unwillkürlich — der Keim einer „Fronde"
großgezogen wurde, der auf die Leistungen der Flotte nicht anders als übel einwirken konnte. Wo das Leben, der Betrieb, die Verwaltung einer Flotte von täglich wechselnden Anforderungen abhängt, dürfen Verwaltung und Commando
in der Spitze nicht getrennt sein.
Sind sie eS, so entsteht trotz besten
Willens auf beiden Seiten, ein gewisses Mißtrauen einseitigen Interesses.
Wo immer sich Mängel zeigen,
werden sie einseitig beurtheilt.
einem Unglücksfall mangelnde Seetüchtigkeit des Schiffes
Führung schuld sei, wird nie entschieden.
oder
Ob bei schlechte
Ob ein Dampfschiff schnell oder
langsam fährt, ist ein Problem, dessen Lösung naturgemäß in der Hand
der Commandobehörde liegen sollte, aber nicht liegt,
vierfache Aufwand Ranges.
denn der drei- bis
an Brennmaterial ist eine Verwaltungsfrage ersten
Nur wo sich in diesen Dingen ein drittes maßgebendes Element
einstellt, wie im Oberrechnungshof, da ist Gelegenheit zur Einmüthigkeit,
die sich dabei
auch manchmal
geltend macht.
Wer zeitweise über das
Ganze verfügt, aber nur für einen Theil die dauernde Verantwortlichkeit
hat, kommt leicht in den Verdacht, den Theil des Anderen leicht zu nehmen,
und wo er ihn nicht leicht nimmt, tigter Einmischung.
kommt er in den Verdacht, unberech
Verfolgt man alle die Stadien, die ein Schiff durch
zumachen hat, von der Kiellegung bis zum Gefechtsakt, so ist es schwer,
die beiderseitigen Interessen der Thätigkeit scharf getrennt zu halten. Ver
einbarung, namentlich schriftliche,
führt selten zu
einem befriedigenden
Ziel; in vielen Fällen ist Jeder geneigt, nachzugeben, fühlt aber die Un-
Prinz Adalbert und die Anfänge unserer Flotte.
319
zuträglichkeit des Kompromisses, der nirgends übeler angebracht ist, als in militärischen Dingen.
Mancher Leser
wird es
seltsam finden, daß diese Dinge hier mit
solcher Breite behandelt werden, denn sie gehören ja einer längst vergan
genen Zeit an,
und seit Jahren besitzt die Marine eine Einrichtung,
mittelst deren alle jene Uebelstände beseitigt sind; das
ist richtig;
man
irrt aber, wenn man glaubt, daß es nicht doch noch Befürworter des Alten gäbe.
Sie vergessen, daß der Schöpfer jener alten Einrichtung,
jener Zweitheilung in Marine-Ministerium
und Ober-Cvmmandv, der
Minister von Roon, von der Unhaltbarkeit derselben Ueberzeugung ge wann und mittelst des bekannten Regulativs vom 15. Juni 1871 selbst Jenes Regulativ legte den Grund zu der
die Axt an die Wurzel legte.
Einrichtung, wie sie in der Admiralität noch heute besteht, nur in anderer
Form, weil mit den damals vorhandenen Personen gerechnet werden mußte. Als der Minister die lagen die
Erfahrungen
hinter ihm.
des
verhängnißvolle Zweitheilung beseitigte, da
Französisch-Deutschen Krieges
unmittelbar
Nach Allem, was schon erwähnt ist, darf man wohl fragen,
wie das System sich im Kriege gestaltet und bewährt hatte.
Zu seinen Gunsten läßt sich von vornherein sagen,
daß es für das
Kriegsverhältniß wenigstens eine vorzügliche Eigenschaft besaß, das soge
nannte „unbeschränkte Requisitionsrecht" des Oberbefehlshabers gegenüber
den Werften.
Weil aber das mangelnde Einvernehmen in den Spitzen
damit nicht beseitigt, zuweilen sogar verschärft wurde, so war damit nicht allzuviel gewonnen.
Im Dänischen Krieg wurde die ganze Organisation
zum erstenmal auf die Probe gestellt.
einseitiger Interessen gesagt wurde,
Was vorher von dem Ueberwiegen
fand seine
erste Illustration in der
Mission einer kleinen Flottille, die im Herbst des Jahres 1863 nach dem Mittelmeer ging.
Als Commandofahrzeug diente das von der Marine
übernommene frühere Postdampfschiff „Preußischer Adler".
Dasselbe hatte
alte Dampfkessel, die aber — bei der nöthigen Schonung — noch einige
Dienstdaner versprachen.
Die Cvmmandvbehörde fand
eö nicht ange
messen, ein Dampfschiff mit nur bedingt kriegstüchtigen Kesseln auf eine so weite Expedition zu
schicken; die Verwaltungsbehörde meinte, man
könne, da ein Krieg nicht bevorstände, die Rücksicht der Wirthschaftlichkeit
doch
nicht ganz außer Augen setzen,
meer mit alten Kesseln.
und der „Adler" ging ins Mittel
Wie er während des mittlerweile ausgebrochenen
Krieges im Frühjahr zurückkam, und am Gefecht bei Helgoland theilnahm,
ist den Zeitgenossen bekannt.
War man mit den Leistungen des Schiffes
zufrieden, so war das sicherlich Dampfkessel.
nicht die Schuld oder das Verdienst der
Prinz Adalbert und die Anfänge unserer Flotte.
320
Der Fall ist nicht ohne Interesse,
weil er zeigt, wie
eng
und
in
welcher Form Friedens- und Kriegsthätigkeit mit einander in Verbindung
stehen.
Selbst das für den Krieg vorgesehene „unbeschränkte Requisitions
recht" hatte für einen Fall dieser Art gar keinen Nutzen. Noch deutlicher kam die Einseitigkeit der Richtungen zum Ausdruck,
als es sich um die Vorbereitungen für den wirklich bevorstehenden Krieg
handelte.
Schon in der ersten Hälfte des December 1863 zeigten sich
Dänische Corvetten vor Swinemünde.
Nach den Aeußerungen des Ma
rine-Ministers glaubte man den ersten Kanonenschuß an der Schley oder Eider etwa den
21. desselben Monats erwarten zu sollen.
Der einzige
damalige Kriegshafen war Danzig, und die wesentliche Vorbereitung für
den Schutz der Küste bestand darin,
daß man zwei Schiffe von Danzig
nach Swinemünde „dislocirte" — man bediente sich
damals schon gern
militärischer Ausdrücke, — und daß man diese nicht etwa in Dienst stellte,
sondern daß man ad hoc ein sogenanntes Verhältniß der Kriegsbereit
schaft herstellte, d. h. also ein Verhältniß, bei dem ein Theil der Mann schaft des Präsenzstandes wohl zur Stelle war, aber ohne Schiffsverpfle gung und — was die Hauptsache war — ohne wirklichen Kriegsschiffs
betrieb.
Die zur Vervollständigung der Besatzungen nöthigen Reserven
wurden erst im
darauf folgende Februar eingezogen, weil eine Blokade
voraussichtlich doch nicht
vor dieser Zeit eintreten könne.
Daß man eS
in jener Zeit mit Reserven zu thun hatte, die überhaupt noch keine Dienst
zeit durchgemacht, kam nicht in Betracht, und man verließ sich darauf, daß die dem
Deutschen
Seemann innewohnende Gelehrigkeit das
ä tempo ersetzen würde.
Fehlende
Dabei waltete als Präses des Marine-Ministerii
ein erfahrener in den Gepflogenheiten der alten Preußischen Armee ausge wachsener hoher
Officier.
Als Jachmann den
17. März 1864 seine
Schiffe gegen die Dänische Eskadre des Admiral van Dokkum führte, da bestanden seine Besatzungen zum großen Theil aus solchen vor etwas mehr
als Monatsfrist neu eingezogenen Reserven, die in Folge des damaligen
Ersatzsystems noch keinerlei militärische geschweige denn artilleristische Vor bildung genossen hatten. Ganz ähnlich lag die Sache mit der Indienststellung einer gar nicht unbedeutenden Flottille von Dampfkanonenbooten
und
einer ebensolchen
von Kanonenschaluppen, welche letztere noch aus der 48er Zeit vorhanden
waren; sie sollten in den Binnengewässern von Rügen Verwendnng finden. Um alle die Fahrzeuge zu besetzen brauchte man eine große Menge von
Matrosen und Maschinen-Personal.
Die Dampfkanonenboote waren mit
gezogenen Kanonen bewaffnet, deren Bedienung, Geschick, Sachkenntniß und Uebung forderte.
Die Commandobehörde drang
auf baldige Jndienst-
Prinz Adalbert und die Anfänge unserer Flotte.
321
stellung; eine solche wurde aber von der Verwaltung auS wirthschaftlichen Gründen beanstandet; die Taselgelder der Officiere und die volle Schiffs verpflegung der Mannschaften mit dem Aufgehen der Schiffahrt eintreten
zu lassen,
schien zeitig genug; bis dahin legte man diese neueingezogene
Masse von Kauffahrtei-Matrosen zu Stralsund in Bürgerquartiere; man
behalf sich bis zur Einschiffung mit einer ad hoc hergestellten CompagnieEinheilung,
und
mit einer Art von militärischer Vorbildung oder Be
schäftigung; das hatte nicht geringe Schwierigkeit, denn die Mehrzahl der
Officiere bestand aus ebenso neueingezogenen jungen Schiffern und Steuer leuten, denen Militärverhältnisse und Kriegschiffsdienst vollkommen fremd war.
Es dauerte nicht lange, so remonstrirte der Magistrat von Stral
sund beim Marine-Ministerium
Matrosen.
über das lärmende Betragen der vielen
Die Verwaltungsbehörde hielt das für eine wesentliche Com-
mandosache und übersandte die Klage dem Oberkommando, als zukünftigen
Hauptquartier der noch in Dienst zu stellenden Seestreitkräfte, und diese
Behörde hatte natürlich nichts weiter zu thun, als die Klage für voll be rechtigt zu halten, und von Neuem auf baldige Indienststellung der See streitkräfte zu dringen.
Das war zu einer Zeit, wo Dänische Kriegschiffe
schon seit zwei Monaten die Küste unsicher machten, wo der Uebergang
bei Missunde die Räumung des Dannewerks und die Gefechte um Oeversee schon weit zurückliegende Ereignisse waren.
Die Dänen waren uns zur See weit überlegen, und es mußte dar auf gesonnen werden. Alles zu bewaffnen, was sich irgend bewaffnen ließ;
als Commandofahrzeug des Oberbefehlshabers sollte die „Grille" dienen, der jede Bewaffnung fehlte; eine solche wurde beantragt)
aber von der
Verwaltungsbehörde aus technischen Rücksichten Einspruch erhoben.
Man
behalf sich damit, auf die Indienststellung und daS „unbeschränkte Requi
sitionsrecht" zu warten; unter der Hand erfuhr man, daß auf der Dan ziger Werft noch gezogene 12-Pfündcr vorhanden seien; man „requirirt"
sie, dazu auch noch einen Schiffbautechniker (Hildebrandt) und die Armirung
ging von
statten.
So
wenig
Bedeutung den „Gefechten"
der
„Grille" beizulegen war, machten sie doch viel Redens zu einer Zeit, wo man vom Widerstand gegen die Dünnen zur See so wenig zu erwar
ten hatte.
Ein Charakterzug der damaligen Marine-Verwaltung war nothwen diger Weise auch der,
daß man sich nicht leicht entschloß, zu außerge
wöhnlichen Maßregeln zu greifen.
So war die Dampfcorvette „Danzig"
im vorangehenden Herbst meistbietend verkauft worden, weil sie einer Grundreparatur bedurfte,
die einem Neu-Aufbau fast gleichkam.
Käufer war ein Schotte,
der nach
nunmehr eingetretenem Krieg,
Der
das
322
Prinz Adalbert und die Anfänge unserer Flotte.
Schiff, welches noch in Danzig lag, der Marine wieder zum Rückkauf anbot.
Bom rein militärischen Standpunkt schien die Sache troß mancher
Verwaltungs-Bedenken annehmbar; man scheute sich aber vor einer Maß
regel, können,
die der Verwaltung später unliebsame Rückfrage hätte verursachen
und der Kauf unterblieb.
Das Schiff ging noch während des
Krieges unter Englischer Flagge in See, wurde von der Japanischen Rerung angekauft, dort als Kriegschiff verwandt und ging nach einer Reihe von Jahren durch eine Pulver-Explosion zu Grunde.
Es ist mindestens
zweifelhaft, ob die Dänen sich erlauben durften, wie geschehen, die Weich
selmündung mit so geringen Kräften zu blokiren, wenn eine Corvette von
der Armirung der „Danzig" von Neufahrwasser aus in Verbindung mit der „Bineta" gedroht hätte. So machte der gewohnte Zwiespalt der Meinungen sich bis in den
Krieg hinein geltend.
sich
Das unlängst erschienene Generalstabswerk befleißigt
einer sehr wahrheitsgetreuen und objektiv gehaltenen Erzählung der
Thatsachen auch auf maritimem Gebiet; daß die Preußen unter Jachmann am 17. März mit Bravour bei Jasmund, die Oestreicher unter Tegethoff
den 9. Mai bei Helgoland schlugen, daß der vielverschrieene Hammer ge fangen wurde, daß in der Ostsee noch einige kleine Scharmützel vorfielen,
wird sachgemäß berichtet; wer aber fragen würde, welche strategische Com binationen dem Verhalten der verbündeten Mächte zur See denn eigent lich zu Grunde lagen, erhält keine Auskunft; eine Cooperation der Flottille
wurde ungeachtet der Warnungen des General von Moltke bez. der Ver
wendung der ihm ungenügend scheinenden Seestreitkraft für den bei Ballegaard beabsichtigten Uebergang nach Alsen gefordert.
Da es nicht an
gängig schien, die beiden Befehlshaber zur See und zu Lande in direkte Beziehung zu setzen, so schrieb der Prinz Friedrich Carl dringende Briefe
an den Marine-Minister und dieser konnte von Berlin aus, dem Befehls
haber der Seestreitkräfte nur Vorschläge machen.
Daö that nichts zur
Sache, kennzeichnet aber den Charakter des Geschäftsganges. Merkwürdiger Weise war auch
dem Hauptquartier in Schleswig nicht ein
mit dem
Scebefehlshaber in Beziehung stehender Seeofficier, sondern ein der Ver
waltung, dem Marine-Ministcrio angehöriger, beigeordnet worden.
Da
der Armee-Befehlshaber seinen Briefverkehr an den Kriegsminister richtete, der ja auch Marineminister war,
Stabes
mit
so mußte ein direkter Verkehr seines
dem Seebefehlshaber natürlich
seine Schwierigkeit haben,
was sich im Falle Ballegaard auch geltend machte. Dem Seebefehlshaber wurde das Verlangen gestellt, mit der Dampf kanonenboot-Flottille nach den Gewässern von Alsen zu kommen, um beim Uebergang von Ballegaard behülflich zu sein.
Dabei waren, was in der
323
Prinz Adalbert und die Anfänge unserer Flotte.
Armee-Pragmatik sonst nicht zu geschehen pflegt, zwei vor allem Anderen
wichtige Dinge übersehen.
Entweder sprach man es nicht aus, oder man
hatte es sich nicht klar gemacht, welcher Art denn eigentlich die Hülfcleistung
sein solle, ob sie im Truppentransport bestand, oder ob sie als Deckung
gegen feindliche Seestreitkräfte dienen Standpunkt
des Seebefehlshabers zu
solle, und sodann ließ man den
sehr
außer Acht
und
betrachtete
die Hülfeleistung bei der Armee-Expedition als Hauptaufgabe der Flottille. Für den Seebefehlshaber lag aber der Hauptgesichtspunkt wesentlich an ders.
Der ihn
bewachenden
feindlichen
Streitmacht
lag nicht außer dem Bereich der Möglichkeit; dem
heutigen Dampfbetrieb und
nicht naheliegend,
entschlüpfen,
in so engen räumlichen Verhältnissen
und es wäre ein Fehler gewesen, sie als bestimmten
Faktor in Rechnung zu ziehen. lich sein,
zu
eine solche ist aber bei
Die ungünstige Jahreszeit konnte förder
und daraufhin wurden dann auch alle Dispositionen getroffen,
man verhehlte sich aber nicht, daß die Ueberwältigung überlegenen feind
lichen
Widerstandes beim
Auge zu fassen blieb.
Auslaufen
immerhin
als Hauptaufgabe
ins
Daß unsere Haupteskadre — wenn man die bei
den Schiffe „Arcona" und „Nymphe" mit einem so hochklingenden Namen
belegen dürfte, in Swinemünde auf Wache blieb, war wichtig.
Ein Theil
des Dänischen Geschwaders war damit gebunden, und daß „Vineta" sich noch in Danzig befand,
denn
war für den Augenblick auch
nicht ungünstig,
ihre Bewachung beanspruchte ebenfalls einen Theil der Dänischen
Seestreitkraft. Dampf-Flottille
Unter Benutzung der Peene versammelte man daher die bei Wittow-PosthauS im Westen Rügens,
um von da
via Fehmarn die Gewässer von Alfen zu erreichen.
Heute klingt es fast unverständlich, und doch ist es nicht in Abrede zu stellen, daß man bei der Flottille und im Stabe derselben lediglich von
der Absicht eines Ueberganges nach Alfen informirt war, denn darüber
lag ein diskret gehaltener Brief des Marine-Ministers vor. Einzelheiten der Rolle,
Ueber die
die man der Flottille dabei zugedacht hatte, lag
nicht daö Mindeste vor, ein neuer Beleg, welche Schwierigkeit man darin
fand, die exakte Pragmatik auch auf das Seewesen zu übertragen.
„Da
bekanntlich das Waffer nicht
unser Element ist rc. rc.", so
lautete der Eingang der Denkschrift, welcher eine Anzahl berufener Officiere dem König Friedrich Wilhelm IV.
Denkschrift hat sicher nicht daran gedacht,
vorlegte.
Der Verfasser jener
welch' tiefe Wahrheit das un
bedachte Wort enthalten sollte; und doch hat es sich bei der ersten KriegSprobe bestätigt. Der Drahtruf des Prinzen Friedrich Carl kam, als die Kanonen boote mit ihren gebrechlichen Maschinen sich kaum vor ihren Ankern hiel-
Prinz Adalbert und die Anfänge unserer Flotte.
324
ten, eine Frist von 24 Stunden war als unumgängliche Bedingung gestellt, und damit war die Fahrt außer aller Frage,' und zwar in verneinendem
Sinne. Ueber das Unterbleiben der im Hauptquartier der Armee so heiß
e. sehnten Hülfeleistung sind mancherlei Betrachtungen angestellt worden; sic - waren
dem Prinzen Adalbert nicht
immer
günstig,
und doch
lag
seinerseits vielleicht nur darin ein Fehler, daß er des zu bethätigenden
guten Willens halber den Gedanken jener Hülfeleistung nicht von vorn herein von der Hand wies.
Inwieweit man
berechtigt ist,
in
den
Kriegsläuften
auf „gutes
Glück" contra geschäftsmäßiger Berechnung zu bauen, zeigt das Verfahren der Armeeleitung,
als man den Verdacht schöpfte,
dem Plan unterrichtet.
Plan auf;
die Dänen seien von
Trotz der umfassenden Vorbereitung gab man den
und für die Armee war der Versuch eines Ueberganges bei
Ballegaard nur ein Unternehmen, welches,-wenn es in seinen Anfängen gelang, ganz gelingen konnte; gelang es in seinen Anfängen nicht, so
waren diese mit einigen Verlusten abgethan und von der Hauptsache Ab
stand zu nehmen.
Nicht so bei der Flotte; dort war der Beginn des
Unternehmens ein Wagstück, das entweder ganz glücken,
nichtung führen mußte.
im Osten der Insel Rügen nicht beachten würden, Insel vorging,
oder zur Ver
Die Hoffnung, daß die Dänen schlafen und was im Westen der
wäre allenfalls gerechtfertigt gewesen, wenn man Fahr
zeuge hatte, die den Dänischen Schiffen an Schnelligkeit überlegen waren. Das waren sie nicht allein nicht,
sondern — Dank der wirthschaftlichen
späten Indienststellung — waren die Maschinisten noch kaum auf eine
sichere Behandlung jener gebrechlichen Hochdruckmaschinen eingeübt.
die Dänen ihre Flotte im November mobil machten werk) geschah das unsererseits im Februar.
Wo
(cfr. Generalstabs
Dem Geschwader in Swine-
münde war es nicht möglich, die in Danzig liegende Vineta an sich heran zuziehen,
und doch waren dafür immer noch mehr Aussichten, als für
eine unbemerkte Ueberführung der Flottille nach der Alsener Föhrde, und in der That ist das auch vom General von Moltke dem Marine-Minister gegenüber sehr deutlich ausgesprochen worden. Was in der officiellen Berichterstattung trotz aller WahrheitStreue nicht deutlich zum Ausdruck kommt, ist der Umstand, der allein und vor
Allein die Schuld trug, jede sachgemäße Seeunternehmung gegen Däne mark von vornherein brach zu legen.
Das war der — wahrscheinlich
durch die drohende Haltung Englands herbeigeführte — Mangel des Zu sammenwirkens der beiderseitigen Secstreitkräfte der Verbündeten. Die Ge
fangennahme Hammer's und die Wegnahme einiger Ruderschaluppen sollen
325
Prinz Adalbert und die Anfänge unserer Flotte.
nicht unterschätzt werden; indeß: wenn von Seeunternehmungen die Rede
ist, so machte Tegethoff's Kampf bei Helgoland im Wesentlichen den Ab
schluß Oesterreichischer Seeunternehmungen in der Nordsee. Die Dänischen Schiffe räumten ihnen dort das Feld, und brachten den Dänischen Streit
kräften in der Ostsee so starken Zuwachs, daß dem Preußischen Geschwader jede Aussicht auf glückliche Unternehmungen schwinden mußte.
Es wurde damals geltend gemacht, daß
die Nordsee erst bei den
eigentlichen Dänischen Inseln Fünen und Seeland ihre Grenze habe und
daß das Kattegat noch mit zur Nordsee zu rechnen sei; vom Oesterreichischen Admiral wurde das — soweit der Verfasser dieser Schrift unterrichtet ist
auch anerkannt, und in Folge dessen im Hauptquartier zu Swinemünde die Hoffnung wachgerufen, daß man auf ein Erscheinen des Oesterreichischen
Geschwaders im Kattegat rechnen könne.
Da eine gegentheilige Absicht
nicht ausgesprochen wurde, so war die Hoffnung nicht allein berechtigt,
sondern es mußte nach
allen Grundsätzen
einiger
der Kriegskunst mit
Bestimmtheit darauf gerechnet werden. So wollte es der Zufall, daß der Prinz sich mit dem Swinemünder
Geschwader zu einer Rekognoscirungsfahrt in See befand, als ein Schrei ben des Oesterreichischen Admirals eintraf des Inhaltes, er sei im Be
griff, von Cuxhaven Nordwärts in See zu gehen. halte sich
Die Dänische Eskadre
in jenem Augenblick verhältnißmäßig weit
von Swinemünde
entfernt, und das gerade vorherrschende böige Wetter ließ einen Vorstoß
auf die Blokadeschiffe vor Danzig nicht ganz aussichtslos erscheinen.
Ob
gleich wenig wahrscheinlich, war es doch möglich, daß der Oesterreichische
Admiral Wüllerstorf in demselben Augenblicke die ernstliche Absicht hatte auf
die über die äußerste Nordseegrenze stattgehabten Erörterungen eine Probe zu machen, und bis das festgestellt sei, hielt der Prinz sich gebunden, am
Orte zu bleiben.
Es stellte sich aber heraus, daß der Brief des Oester
reichischen Admirals keinen andern Zweck hatte, als den der Erfüllung eines Versprechens,
welches er bald nach
seiner Ankunft gegeben,
deS
Versprechens nämlich, den Befehlshaber in der Ostsee über die von ihm vorzunehmenden Bewegungen auf dem Laufenden zu erhalten.
Da eine
solche Versprechung nur Werth haben konnte im Sinne des Zusammen
wirkens, da ein solches im vorliegenden Falle aber gar nicht beabsichtigt war, so wäre es unter den Umständen, wie sie sich gerade gestaltet hatten, besser gewesen den Brief nicht zu schreiben.
Eine Betrachtung, ob daS
vom Prinzen geplante Unternehmen in der Richtung von Danzig zweck mäßig oder rathsam war, ist gleichgültig; die Aussicht auf ein glückliches
Gelingen war nur gering, aber doch nicht ganz ausgeschlossen, und wo
einer Streitmacht ein so geringes Maß von Aussichten vergönnt war, da
Prinz Adalbert und die Anfänge unserer Flotte.
326
konnte es um so weniger erwünscht fein, Unternehmungs-Gedanken der be
scheidensten Art durch überflüssigen Briesverkehr im Keime zu ersticken. Dem Verfasser dieser Schrift liegt es fern, gegen die Oesterreichische Befehlsführung einen Vorwurf erheben zu wollen.
Die Mittheilung war
lediglich Erfüllung eines Versprechens, wohl aber ist die Frage am Platz,
ob denn nicht die eigene Behörde verpflichte« war mittelst der dazu beru fenen Organe den Seebefehlshaber in der Ostsee über das, was er vom Österreichischen Zusammenwirken zu erwarten habe, ins Klare zu setzen.
Der Feldzug von 1864 war der erste, in welchem die junge Marine eine
ernstliche Probe bestehen sollte.
Wir haben dem Generalstabswerk die ge
rechte Anerkennung wahrheitsgetreuer Schilderung der Thatsache nicht ver
sagt, dürfen aber bei dieser Gelegenheit auch nicht versäumen, auf Unge nauigkeiten aufmerksam zu machen, die nicht geeignet sind, daö ungünstige Streiflicht, welches vom Gesichtspunkt Uebelwollender auf den vergleichs
weise rühmlosen Gang der Seeereignisse fällt, zu verwischen. Dazu rechnen wir vor Allem die Art der Aufführung der Seestreit
kräfte.
Auf Seite 96 heißt es: „Preußen besaß damals: 4 gedeckte Cor-
vetten, 4 Glattdecks- Corvetten, 1 Panzerkuppelschiff (Panzerfahrzeug) ic. rc. Wenn auch bald darauf gesagt wird, daß „ein Theil" dieser Schiffe noch
im Bau begriffen war, oder sich „auswärts" befand rc., so muß die Art der Aufzählung doch irre führen.
WaS das hier aufgezählte Panzerkuppel-
schiff betrifft, so wurde es thatsächlich erst mehr als ein
ganzes Jahr
später von der Preußischen Regierung auf der Themse übernommen.
Die
„Anlage 16", auf welche der Leser verwiesen wird, giebt die Aufführung
der Seestreitkräfte richtig, und da findet man, daß der Oberbefehlshaber in der Ostsee den Krieg thatsächlich nicht mit 4 gedeckten Corvetten und
4 GlattdeckS-Corvetten, sondern mit „einer" gedeckten und „einer" Glattdecks-Corvette begann, und daß die zweite gedeckte Corvette sich erst am 21. Mai beim Geschwader in Swinemünde einfand.
So
ist
es
ferner buchstäblich zwar richtig, daß den 27 Dänischen
23 Preußische Kriegsdampfer gegenüberstanden, zieht man aber den Ein druck des Wortlautes in Betracht, so muß dieser Eindruck für jeden der Sache ferner Stehenden ein falscher sein.
Um ihn zu verwischen und
durch einen richtigen zu ersetzen, genügt es nicht, daß hinter den ange führten Ziffern auf Dänischer Seite die Geschützzahl 363, auf Preußischer
die Geschützzahl 117 steht, denn erst ein näherer und sachkundiger Ver gleich der Anlagen 15 und 16 ergiebt, daß in anderen Worten und in
Wirklichkeit beim Beginn des Krieges
18 Dänischen, worunter
gegenüberstanden.
an Hochsee-Kriegsdampfern den
1 Linienschiff und 4 Fregatten,
3 Preußische
Davon war die eine gedeckte Corvette (Vineta) unter
327
Prinz Adalbert und die Anfänge unserer Flotte.
sehr schwierigen Verhältnissen auf der Danziger Rhede in Ausrüstung,
ein Umstand, der von den Dänen merkwürdiger Weise ganz unbeachtet blieb.
Der Hafen von Neufahrwasser, der seit jener Zeit eine Vertie
fung erfahren hat, war 1864 nicht tief genug, um den gedeckten Sorbetten ein Auslaufen in voller Kriegsausrüstung zu gestatten.
Bestückung und
Ausrüstung mit Schießbedarf mußten daher auf offener Rhede erfolgen,
was zu verhindern einem einzigen, selbst schwächeren feindlichen Kriegsschiff
ein Leichtes gewesen wäre.
Das Schiff konnte unter solchen Umständen
in den Hafen erst einlaufen, wenn der Nordwind das Wasser anstaute,
und war unter diesen Verhältnissen in seinen Bewegungen sehr behindert. Auf die Dänische Kriegführung
Licht, daß sie die hier
zur See wirft es
kein günstiges
geschilderten Umstände nicht besser benutzt hat;
dagegen ist es anzuerkennen, daß unsere eigenen Officiere sich durch die beschriebenen ungünstigen Umstände in der sachgemäßen Ausrüstung des
ganz neuen Schiffes nicht haben beirren lassen. Buchstäblich
läßt das Generalstabswerk von 1864
den Leistungen
der Flotte Anerkennung widerfahren, mittelbar übt eS durch die Art des
Vergleichs der gegenseitigen Streitkräfte eine Kritik, die nicht durchweg
einen günstigen Eindruck macht.
Erinnert man sich der zugespitzten Ur
theile, deren das militärische Schriftwesen des Tages sich befleißigte, so
fragt man, ob ein größeres Maß von Unkenntniß oder Mangel an Wohl wollen einer noch neuen Waffe gegenüber, dem zu Grunde lag.
Nament
lich scharf waren die bald nach dem Kriege erscheinenden Urtheile artille ristischer Fachschriftsteller.
Damals waren die Wirkungen der gezogenen
Kanonen im Kriege noch neu und die Begeisterung, die nach den Leistun gen von Broacker und Gammelmark das Gemüth des Artillerie-Officiers
erfüllte, wohl berechtigt.
Wenn man sich aber gemüßigt sah, auf derselben
Grundlage auch auf die Leistungen der Flotte zu folgern und deren Thä
tigkeit abfällig zu beurtheilen, so war das zu weit gegangen. sichtslos
wurde hervorgehoben,
Nicht ab
wie die meisten der „23" Preußischen
Kriegsdampfer mit gezogenem, sämmtliche Dänischen in Zahl von 26 nur
mit glattem Geschütz bewaffnet gewesen seien*). Es ist weder die Absicht dieser Schrift, die Seeleistungen deö Krieges
von 1864 noch das Generalstabswerk einer Beurtheilung zu unterziehen, wohl aber soll die Verantwortlichkeit des Seebefehlshabers ins rechte Licht gestellt werden. *) In einer Bemerkung unter dem Text spricht sich das Generalitabswerk über diesen Punkt zwar aus, aber nicht exakt. Dort heißt es, die Dänischen Schiffe hätten lauter Borderlader gehabt, — sowie 18- und 24psündige Hinterlader; in welchem Zahlenverhältniß, bleibt ungewiß.
Prinz Adalbert mid die Anfänge unserer Flotte.
328
Es ist unverkennbar, daß die Offensive, deren die Preußische Armee
leitung sich schon in jenem Krieg befleißigte," zurücktreten mußte/ und nicht
zur Geltung kam, weil es an dem nöthigen Eingreifen der Flotte fehlte, so bei Ballegaard, so bei der beabsichtigten Landung auf Fünen und der
in Betracht gezogenen Expedition nach Seeland. Kriege Betrachtungen laut geworden,
Es sind bald nach dem
die namentlich die ausgezeichnete
Bewaffnung der Kanonenboote mit Hinterladern betonten und mit Rück sicht darauf eine ausgeprägtere Initiative seitens der Marineleitung ver mißten.
Solche Klagen waren
Begründung entbehrten.
ebenso leicht ausgesprochen, als
sie der
Die Seekriegskunst fordert offensives Verhalten
in viel höherem Grade als die zu Lande; gerade deshalb aber fördert sie in ebensoviel höherem Grade einen danach bemessenen Zuschnitt und eine
darauf hinzielende Vorbereitung.
Leides hat gefehlt, wie es schon im
ersten Dänischen Krieg gefehlt hatte, und auch in diesem Fall ist die Er kenntniß erst nach dem Kriege oder aber beim AuSbruch desselben, d. h.
zu einer Zeit gekommen, wo es zu spät war. War der Feldzug von 1864 reich an glänzenden Erfolgen, so fehlte
es doch auch nicht am Gegentheil, sofern man aufgegebene Unternehmun
gen dahin rechnen darf.
Und aufgegeben mußten sie werden aus dem ein
fachen Grunde, weil es abermals, — wie schon im ersten Krieg, — an einer den Anforderungen gewachsenen Flotte fehlte.
An erneuten Anstren
gungen, eine solche zu schaffen, hat es denn auch nach jedem Kriege nicht
gefehlt; dieselben haben aber niemals angedauert, es ist vielmehr unver kennbar, daß neue Kriegsdrohungen die allgemeine Aufmerksamkeit und das
Interesse der Nation auf die Verstärkung der Landmacht und nicht auf die der Seemacht lenkten.
Und so wird es wohl auch noch weiterer ähnlicher
Erfahrungen bedürfen, um die Erkenntniß zu völligem Durchbruch gelan
gen zu lassen.
Daß eine solche Erkenntniß nöthig ist, scheint unzweifel
haft, denn das Reich bedarf einer Flotte, die im Verhältniß steht zu seinem überseeischen Besitz, zu seinem schwimmenden Eigenthum, und zu seinem
überseeischen Ein- und Ausfuhrbedarf; einer Flotte sodann, die im rich tigen Verhältniß steht zu den strategischen Erfordernissen seiner Küsten bildung, zu der damit verbundenen Landesgefährdung und der Seestellung
drohender Nachbarn. Dazu bedarf es aber selbstständiger Entwickelung und vor Allem der
Fernhaltung und Widerlegung von Anschauungen, die in der Flotte nichts
anderes erblicken können, als ein kostspieliges, der Nation zur Liebhaberei gewordenes Schaustück, deren letzte Wirkung doch nur auf eine Schädigung der Landmacht Hinauslaufe.
„Kameraden von der Flotte zu haben, ist eine schöne Sache" äußerte
Prinz Adalbert und die Anfänge unserer Flotte.
329
ein Preußischer, im Oesterreichischen Feldzug nachmals berühmt gewordener hoher Osficier gegen den Verfasser dieser Schrift nicht lange vor dem
Ausbruch des Dänischen Krieges „aber nichts für ungut Herr Kamerad, Sie müssen mir zugeben, die Flotte hat noch nichts genützt, und ich sage
Ihnen, glauben Sie es mir, sie wird auch nichts nützen!" Daß sie nöthig war, zeigten schon die Ereignisse um Rügen, Alsen;
Fünen und Seeland, daß sie nur wenig genützt hat, war die Folge der vorher geschilderten Ansichten; und solche Ansichten waren keineswegs ver einzelt; hätte es sich dabei um die Meinung einzelner, noch so bedeuten der Personen gehandelt, so wäre das nicht von Belang gewesen; aber es
waren die Anschauungen einer ganzen Klasse, sofern man nicht sagen will, mehrerer Klassen, des einflußreichsten Theiles der militärischen Umgebung des Hofes.
Das Erstere war das bei Weitem Schlimmere, weil in einem
Staate, wie dem Preußischen die militärischen Vertreter einer ruhmvollen
Ueberlieferung in erster Reihe den Beruf haben, einem Kriegswerkzeug, welches neu ersteht, und welches so hervorragend des Geistes der Offen
sive bedarf, diesen Geist mitzutheilen.
Das geschieht nicht durch vornehme
Zurückhaltung, sondern durch aufrichtiges enges Anschließen, Anerkennung der Waffengemeinschaft und Erkenntniß der gemeinsamen patriotischen Ziele.
So wenig die Flotte im Krieg von 1864 zur Geltung gekommen war, einen Hauptgewinn davon, denn der Wiener Frieden
so trug sie doch
machte Kiel zum Bundeskriegshafen, und als die Gasteiner Convention eine Besitztheilung der Herzogthümer herbeisührte und Holstein inOester-
rcichische Obhut genommen wurde, behielt es diesen Charakter unter ge meinschaftlicher Besetzung.
An die Anlage eines wirklichen Kriegshafcns
mit den dazu nöthigen Einrichtungen konnte erst der Norddeutsche Bund,
das Ergebniß des Oesterreichischen Feldzuges, denken, und auch dann be durfte es der Beseitigung noch so mancher Zweifel, ehe zur Ausführung geschritten werden konnte.
Was den Oesterreichischen Feldzug selbst betrifft, so folgte er zu rasch
auf den Dänischen, als daß in dem Bestand und, — was hier in Frage kam, — in der Bündnißfähigkeit der Marine sich ein erheblicher Wechsel
hätte vollziehen können.
Daß die mittelbare Vertheidigung von Kiel und
Wilhelmshaven
noch
(damals
Heppens)
unseren
südlichen Verbündeten
überlassen blieb, hat uns damals wenig Sorge gemacht.
Die Kürze des
Feldzuges verhinderte auch, daß die Wirkung des Mißerfolges von Lissa
mit auf unsere Rechnung kam, und daß Tegethoff keine Gelegenheit hatte, sich vor Helgoland auch einmal gegen die alten Verbündeten zu versuchen.
Auf dem Ocean befanden sich „Vineta" und„Dandolo" in unmittel barer Nähe, was auch zu Zeitungsgerüchten Anlaß gab. Preußische Jahrbücher.
93b. LXIL Heft 4.
Nur schade, daß 22
330
Prinz Adalbert und die Anfänge unserer Flotte.
die Landenge von Panama sie zwischen ihnen ausschloß.
trennte
und
jede feindliche Begegnung
Der Glanz beV Erfolge auf den böhmischen
Schlachtfeldern zog jede Aufmerksamkeit von der Küste ab; der Prinz-Ad miral begnügte sich mit der Theilnahme an den Thaten der zweiten Armee
und Niemand dachte daran, daß die See-Ereignisse uns selbst berühren,
und in Ost- und Nordsee eine Fortsetzung haben könnten; und doch war eine solche Möglichkeit nicht ausgeschlossen, auch wenn der Krieg auf die
drei Mächte beschränkt blieb, die ihn begonnen hatten. So endete abermals ein Krieg, der in seinen Wirkungen der Marine
und ihren Freunden zwar großen Gewinn brachte, ihren Gegnern aber zu
der Bemerkung Anlaß bot, daß man sich abermals ohne die Mitwirkung
von Seestreitkräften beholfen habe. Thatsächlich war nichts dagegen einzuwenden; aber wie das so leicht
und so oft geschieht: man beging auch hier den Fehler, von der zufälligen Gestaltung der Thatsachen im gegebenen Fall auf allgemeine Grundsätze
Für keine Sache ist die Verwechslung von „weil" und „ob
zu folgern.
gleich" so folgenschwer gewesen, wie für die Bestrebungen zur Errichtung
einer Deutschen Flotte.
Der Frieden,
in dem der siebenjährige Kampf
des großen Friedrich seinen Abschluß fand, die Errungenschaften des Wiener Congresses, der nachmalige Wiener (1864) und der Prager Friede (1866),
sie alle waren das Ergebniß von Kämpfen,
Seetüchtigkeit hatte entbehren können.
in denen man der eigenen
Wie uns in dieser Beziehung der
Schuh drückte, war in den beiden Dänischen Kriegen zwar ziemlich deut lich zum Ausdruck gekommen; zuletzt gaben aber doch die größeren Ereig
nisse den Ton,
und die spätere Berührung mit einer Seemacht ersten
Ranges sollte die kümmerlich ausgewachsene Flotte manchs scharfes Urtheil ernten lassen.
Daß der Oberbefehlshaber der Marine sich bei jedem Kriegsausbruch in ein Hauptquartier der Armee begab, kennzeichnet die Art^ihres Wachs
thums trotz des Aufschwunges, den die öffentliche Meinung nach jedem
Friedensschluß genommen hat.
Von nicht zu unterschätzendem Einfluß auf
diese öffentliche Meinung war die Schriftstellerei.
Von ihr kann man
wohl sagen, daß sie das Möglichste zu leisten suchte; es ist aber ebenso unverkennbar, daß sie zuweilen über das Ziel hinausschoß, und in manchen
Fällen Erwartungen hervorrief, die wohl dazu dienten, die Gemüther zu erregen und zu entzünden, deren Nichterfüllung aber niederschlagend wir ken mußte.
Es ist hier nicht die Stelle, den Anerkennungen, welche der Armee
nach dem Französischen Feldzuge zu Theil geworden sind, noch neue hin zuzufügen.
Dem Verfasser dieser Schrift ist es beschieden gewesen, als
Prinz Adalbert und die Anfänge unserer Flotte.
331
Seeofficier mit verschränkten Armen jenen Ruhmesthaten zuschauen zu
müssen, die Thatenlosigkeit der Flotte erörtern und in nicht seltenen Fällen Sonderbar genug, daß die schärfste Beurtheilung
verurtheilen zu hören.
in der Regel da laut wurde, wo man zur Friedenszeit für eine Flotten
entwickelung am wenigsten Ernst und nur laue Fürsprache hatte.
So ist
es noch heute und es ist zu befürchten, daß der nächste Krieg die gleichen Erscheinungen zeigt.
Eine Vertheidigung, die in allen ihren vorbereiten
den Schritten jedem Uebergang in den Angriff von vornherein entsagt,
öffnet dem Mangel an Selbstvertrauen Thür und Thor; und wenn ihr
Personal aus lauter Helden und Haudegen bestände, würde der Instinkt des „DraufgehenS", den man heute „Schneid" nennt, schon in der Wurzel
verkümmert sein.
Das Großmachtsgefühl verschlimmert die Sache wesent
lich, weil es dem Auftreten einer ungenügenden Streitmacht den Stempel der Anmaßung verleiht, und weil Anmaßung ohne genügenden Hinterhalt
von Mitteln der Lächerlichkeit verfällt. Der Friedensbetrieb einer Flotte hat Eigenheiten, deren Pflege dem Kriegshandwerk nicht in jeder Beziehung förderlich ist.
Der Erhaltung
des Materials muß in der Marine ein viel größeres Maß von Sorgfalt, Zeit, Kräften und Denkarbeit gewidmet werden, als das im Kriegswesen
zu Lande der Fall ist.
Man darf hiebei nicht an die aufreibende Arbeit
der geistigen, wie der körperlichen, des Compagnieführers denken; sie ist
in beiden Zweigen des Kriegswesens so ziemlich dieselbe, und nur unähn
lich in Aeußerlichkeiten.
Sehr erheblich im Vordergrund steht dagegen int
Seewesen die Schiffs- und Geschwaderführung.
Sie nimmt vom ganzen
Friedensbelrieb im Punkte der Erhaltung des Materials den Löwenantheil
in Anspruch.
Wer sich
der Anfänge unseres verhältnißmäßig jungen
Kriegsseewesens erinnert, weiß, in welchem Maße der Schwerpunkt alles
Denkens und Handelns weit weniger im eigentlichen Kriegshandwerk, als
in der Navigation lag.
Weil sie eine Wissenschaft ist, die auch dem Un
gelehrten Gelegenheit giebt, aus den Hauptgesetzen der Mathematik und Astronomie unmittelbaren praktischen Nutzen zu ziehen, weil aber zu ihrer
nützlichen Ausübung doch eine Fertigkeit gehört, die von Talent abhängt, so kann sie leicht als Selbstzweck angesehen werden.
In der Kaufsahrtei
ist denn eine solche Anschauung auch ganz gerechtfertigt.
Wem die Fer
tigkeit abgeht, für den ist dort kein Platz, es sei denn in den untergeord
netsten Handleistungen.
Anders
liegt die Sache beim
Kriegsseewesen.
Hier steht die der Person eigene kriegerische Tugend im Vordergrund. Das in draufgängerischen Neigungen zu Tage tretende zerstörende Element drängt den so sorgsam gepflegten Erhaltungstrieb zurück; die mühsam er
worbene,
mit Liebe gepflegte Kunst
der gefahrmeidenden sicheren Fahrt
22*
Prinz Adalbert und die Anfänge unserer Flotte.
332
kann zum Laster werden, weil sie der freien Eytfaltung kriegerischer Tugend zum Hemmschuh wird.
/
In dieser Beziehung war es günstig, daß
eine
ganze Reihe
für
von Jahren
einer Mehrzahl von Personen ausging,
Kriegsandwerk fremd
war.
So
die Anfänge der
der Marine
nicht
maßgebende Ton von
deren ganze Vergangenheit dem
vortrefflich
niglich Preußischen Navigationsschulen sich
der Ruf,
dessen
die Kö
erfreuten, ebenso mißlich war
es, die abgelegte Prüfung auf solcher Schule zum fast alleinigen Maßstab des Könnens
bei
Dies ist in den
einer für Kriegszwecke bestimmten Anstalt zu machen.
ersten Jahren aus den schon erwähnten Gründen un
leugbar geschehen, und der Umstand, daß ein Navigationsdirektor — wenn
auch früher Seeofficier, — die unmittelbare Führung an der Küste er
hielt, trug nicht wenig dazu bei. Es
war
unter den
eine unausbleibliche Folge
gerade dieses Umstandes,
daß
das Marine-Officier-Corps bildenden Elementen eine stellen
weis ganz verkehrte Berufsauffassung Platz griff. der Marine-Infanterie fast
ausschließlich
So waren die Officiere
der Armee
entnommen; ihre
einzige Berufskenntniß war das Waffenhandwerk, wenn auch nur ein sehr einseitiges;
demgegenüber suchte und erkannte der damalige Seeofficier,
— vielleicht umsomehr, weil er nur Hülfsofsicier war — seinen Stolz in nautischer Ueberlegenheit,
namentlich
im Punkte
der geliebten Naviga
tion, der Besitz eines Sextanten galt für hoch erhaben über dem „Plempe",
und der Trugschluß,
einer
daß Jene die eigentlichen Kämpfer und
berufenen Helden der Seeschlacht, diese nur die verdienstvollen und nütz
lichen Schiffsführer seien,
ist in der That ganz geraume Zeit behauptet
und geglaubt worden. Und dies war möglich, obgleich die Schaffung eines Infanterie-Ba taillons in der Marine von ganz entgegengesetzten Gesichtspunkten erfolgte. Es ist dies der Punkt, um den, wie man wohl sagen kann, das innere
Seelenleben der Marine sich lange hindurch gedreht hat, und der, aus
inzwischen eingetretenen anderen Gründen noch heute zu einer festen Gestaltung nicht gelangt ist.
Daß eS noch immer nicht der Fall ist, hat man nicht
zum Wenigsten jenen irrthümlichen Anschauungen zuzuschreiben, die in den
ersten Entstehungsjahren den Geist des größeren Theiles des SeeofficierCorpS beherrschten.
Hier mußte es erwähnt werden, weil es ein Punkt
ist, der dem Leben und Wirken der Flotte in Kriegs- unb Friedenszeiten
seinen Stempel aufgedrückt hat.
ES wird wohl von keiner Seite bestrittet! werden, wie das, was man „militärische Initiative" nennt, so ziemlich auch die Grundlage jedweden kriegerischen Erfolges ist.
Sie allein schafft den Standpunkt, von welchem
Prinz Adalbert und die Anfänge unserer Flotte.
man dem Gegner das Gesetz giebt.
333
Wer sie aus der Hand giebt, oder
— was dasselbe sagen will, — wer sich in die Lage bringt, sie nie in
die Hand zu bekommen, begiebt sich von vornherein jeden Erfolges, denn er rechnet fortwährend mit dem Gedanken einer schon Sache.
So ist es im Kriege,
halb
verlorenen
wo vas wirkliche Machtverhältniß
sein
Recht fordert, und wo die sogenannten „Imponderabilien" d. h. die dem Personal innewohnenden Kräfte der Moral und kriegerischen Tugend vor
Namentlich ge
einem zu ungleichen Machtverhältniß doch zurücktreten.
schieht dies, wenn ihre Friedenspflege sich nur auf Theorie, und nicht auf wirkliche Macht stützt.
Daß die Flotte im letzten Französischen Krieg bedeutunglos blieb, ist
eine Thatsache, und wenn nach dem Friedensschluß und der Rückkehr der Truppen von der Flotte überhaupt gesprochen wurde, dann war ein all
gemeines Achselzucken an der Tagesordnung.
Dabei kann man nicht be
haupten, daß die öffentliche Meinung es an Wohlwollen hätte fehlen
lassen; es waren nur die „Feuerbrände", die ihre Entrüstung äußerten, daß
die Flotte kein Sedan aufzuweisen hatte; sonst war man für die
kleinen Scharmützel, die hie und da vorgefallen waren, sehr dankbar; mit einer Genugthuung und Wärme, die seinem Herzen Ehre machte, erwirkte
der Prinz an Allerhöchster Stelle Auszeichnungen für die Betheiligten; daß Großes und Kleines dabei über einen Kamm geschoren wurde, war
nicht seine Schuld, denn auch für Waffenthaten gab eS eine Schablone, die der unbefangenen Würdigung Schranken setzte. Aufmerksamen Anfang
des
Beobachtern
konnte
Französischen Krieges
„Siegesvertrauen"
nennt,
eine
es
das,
nicht
waS
entgehen,
man
verhältnißmäßig
bei
besten
wohl
Pflanze
war.
am
zarte
wie
Trotz der vorangegangenen glücklichen Feldzüge, war man in den Erwar tungen noch ziemlich bescheiden.
Die den
ersten Waffengängen voran
gehenden Armeebefehle athmeten noch eine gewisse Vorsicht.
DaS Ver
trauen mit dem sich Deutsche Truppentheile einer selbst fünf- bis sechs
fachen Ueberlegenheit gegenüberstellten, kam erst, nachdem die feindliche Hauptarmee niedergeworsen war.
Und wer wollte behaupten, daß das
anders sein kann? Blickt man zurück auf die Ueberlegenheit, welche die
Britische Flotte sich in den Revolutionskriegen auf dem Meer erorbert
hat, so trifft man auf dieselbe Erscheinung.
Erst Abukir und Trafalgar
mußten vorangehen, ehe eS dahin kam, daß ein einziges Englisches Linien schiff einem zehnfach überlegenen Russischen Geschwader in der Ostsee die
Stirn bot.
Das unbegrenzte Siegesvertrauen ist eben eine Pflanze, der
nicht blos papiernes Bewußtsein
und
haranguirende Ueberredung
des
Paradeplatzes, sondern wirklich brauchbare Macht zu Grunde liegen muß.
Prinz Adalbert und die Anfänge unserer Flotte.
334
Hausbackene Kraft ist in diesem Punkte der beredteste und überzeugendste Faktor; die Pflanze deS Siegesvertrauens gedeiht nicht auf einem b^oß mit
den Feinheiten der Kriegskunst oder der Explosivmittel gedüngten Boden; daran zu glauben, ist ein verderblicher Irrthum und eine Neigung der heut
zutage leider hier und da gehuldigt wird.
•
Wer wollte behaupten, daß die seemännische Bevölkerung kriegerischer
Tugend weniger zugänglich sei, als die deS Landes, aber ebensowenig kann man behaupten, daß die dem Menschen innewohnende kriegerische
Tugend allein genüge, einer Armee das Selbstbewußtsein unfehlbaren Er
folges, einer Flotte daS unbeschränkte Siegesvertrauen zu geben.
Die
starken nicht minder wie die schwachen Seiten in der Lebenskraft einer
Nation werden sich in gleichem Verhältniß auch in jedem ihrer Theile finden; immer sind die Menschen, aus denen die Wehrkräfte sich zusam mensetzen, dieselben, und Sache der Staatsleiter ist es, durch geschickte Eintheilung
und Führung,
durch Gewährung
guten und
ausreichenden
Werkzeugs die starken Seiten nutzbar, die schwachen aber verschwinden zu machen.
Es ist unbillig, Vorkommnisse irgend welcher Art anders, als unter diesem Gesichtspunkt zu beurtheilen.
Wo eine weise Art der Verleihung
von Anerkennung und Auszeichnung so vortrefflich geordnet ist, wie in den
Ländern Deutscher Zunge, wo also auch dieses Hülfsmittel noch als Hebel wirkt, da kann bei guter natürlicher Grundlage die Entfaltung kriegerischer
Tugend nicht so schwer sein, nur darf in der Zahl kein zu bedeutender
Rechenfehler gemacht werden.
Eine kleine Dänische Armee kann
gegen
zwei Deutsche Großmächte wohl eine Zeit lang Düppel vertheidigen, sie weiß aber, daß ihre Tage gezählt sind, wenn nicht Hülfe kommt. günstige Zufälle spielen eine Rolle,
Auch
heute wie früher; nur wird man
finden, daß auch sie dem Starken immer mehr Gunst erweisen, wie dem Schwachen.
Es ist dies ein Grund, jeder auch der geringsten Auszeichnung deö
Schwachen doppelte Anerkennung zu Theil werden zu lassen, und seine Zurückhaltung
mit
größerer
Nachsicht
zu beurtheilen.
Der Dänische
Cemmodore hatte bei Helgoland über Tegethoff nicht gesiegt; er war aber auch nicht geschlagen worden, und doch verließ das Dänische Geschwader
die Nordsee, weil die Oesterreicher Zuzug bekamen, und es vortheilhafter
schien, sich in der Ostsee auf die sechsmal schwächeren Preußischen See streitkräfte zu werfen. Geht man auf den ersten Dänischen Krieg zurück und betrachtet das
kleine Gefecht von Brüsterort, so kann man schwanken zwischen den Ge fühlen der Nachsicht und der Anerkennung.
Wer in der Sache bloß einen
335
Prinz Adalbert und die Anfänge unserer Flotte.
Kampf sieht zwischen einem mit Dampfkraft versehenen Preußischen Krieg
schiff und
einer Dänischen,
auf Segelkraft beschränkten „Kutterbrigg"
glaubt seine Nachsicht zu sehr in Anspruch genommen.
Wer aber weiß,
daß es sich auf Preußischer Seite um ein Schiff handelte, von dessen Be mannung noch keiner einen scharfen Schuß gethan, auf dem die Rapperten der wenigen Geschütze schon bei den ersten Schüssen ihren Dienst ver
sagten, wird die dem Commandanten zu Theil gewordene Anerkennung
voll gerechtfertigt finden. Wunderbar genug, daß dasselbe Dampfschiff, nur etwas anders be
waffnet, noch fünfzehn Jahre später der Hauptvertreter Preußischer See streitkraft in der Nordsee war.
DaS Hauptergebniß des Schaffens wäh
rend jener Zeit waren eben nur die schon erwähnten drei gedeckten und eine Glattdecks-Corvette gewesen,
und es ist wohl erklärlich, daß bei so
geringer Schöpfung in den Kriegsmitteln auch die Kriegskunst der Men schen keine Riesenschritte machte. Als der König 1864 die Drahtmeldung erhielt von dem Gefecht bei
Jasmund und dem Rückzug seiner Schiffe nach Swinemünde, die Bemerkung darauf: „also eine rückgängige Bewegung"?
schrieb er
Eine solche
war es unzweifelhaft, konnte unter den obwaltenden Umständen auch nichts
anderes sein, denn es hatten, streng genommen, nur zwei und ein halbes gegen sieben feindliche Schiffe gestanden; deshalb hatten alle Theilnehmer die ihnen gewordene Anerkennung in vollem Maße verdient.
Eine rück
gängige Bewegung war eben das, wozu man sich mit dem besten Willen
aufzuschwingen vermochte.
Das Siegesvertrauen war ein Ding, welches
der Flotte auch im zweiten Dänischen Krieg noch
nicht beschieden sein
sollte; dieselbe Art von Bewegungen widerholte sich noch öfter,
und in
kleinerem Maßstabe, aber der Preußischen Wehrkraft zur See hatte der
ganze Ernst des Wollens bis dahin noch gefehlt, das Können blieb weit hinter der Forderung zurück, und der Mehlthau der Ohnmacht verhinderte jeden Aufschwung zu irgend einem Gefühl, welches dem Siegesvertrauen
auch nur ähnlich gewesen wäre.
Die öffentliche Meinung, amtlich wie
nichtamtlich begnügte sich mit einer verschämten Zufriedenheit über das,
was geschehen war. Läßt man den Blick vom ersten zum zweiten Dänischen Krieg schwei
fen, so übergeht man einen Vorgang, der für das Leben und Wirken des Prinzen Adalbert bezeichnend, für das innere Leben der Flotte von nicht zu unterschätzender Wichtigkeit war; das Landungsgefecht von Tres Forcas.
Es ist hier nicht die Stelle, um sich über die näheren Umstände zu verbreiten, die zu jenem Hergang den Anlaß boten.
angeführt werden als eine der Staffeln,
Hier soll es nur
auf denen das junge Marine-
Prinz Adalbert und die Anfänge unserer Flotte.
336
wesen seine Kriegskunst zur Geltung zu bringen, die Sprößlinge kümmer
licher Macht an eine Feuertaufe irgend welcher Art heranzubringxn suchte. Alle Ehre dem Andenken damaliger Zeitgenossen, aber man kann nicht behaupten, daß der Veranstalter jenes kleinen Kampfes an Afrikanischer Küste vielen Dank davon geerntet hätte.
Es war das eine Zeit, wo nach
,'ft vierzigjährigem Frieden das einzelne Menschenleben höher wog als später, wo das Streben der „Erhaltung" dem Führer einer kleinen Schaar
mehr zu gelten hatte als das des rücksichtslosen Opferns, noch dazu für kleinen Einsatz.
Von 66 gelandeten Personen zählte man nach der Rück
25 Todte
und Verwundete, unter Ersteren des Prinzen Adalbert
kehr
eigenen Adjutanten und unter Letzteren den Prinzen selbst.
deres
Etwas An
einen Rückzug konnte auch der günstigste Verlauf der Sache
als
nicht bringen, danach wurde ihr allgemeiner Werth bemessen.
Es waren
nicht die heitersten Mienen, deren der „unternehmende Detter" sich bei der
Rückkehr in die Hauptstadt zu versehen hatte;
und doch: wer wollte es
leugnen, in einer Marine, die sich nach Kriegsruhm zu sehnen anfing, wie nach dem Wasser,
der Hirsch
Thau nach langer Dürre.
wirkte die kleine Affaire wie erfrischender
Im Feuer tiraillirende Matrosen waren eine
neue Erscheinung; warum solch' Handwerk das ausschließliche Recht der
Landsoldaten sein müsse, das hatte sich Niemand recht klar gemacht, und doch Jedermann geglaubt; an die Verbreiterung des Dogmas zu glauben, wollte nur Wenigen in den Sinn,
Lapsus calami,
und vielleicht ist es doch nicht nur
wenn noch militärische Schriftsteller der neuesten Zeit
den Löwenantheil jenes Gefechts den Infanteristen des Seebataillons zu schreiben, die doch nur in ganz geringer Zahl daran betheiligt waren. Kriegsläufte waren vom zweiten Dänischen bis zum Französischen für die Flotte
nicht
zu
verzeichnen, große Fortschritte der Entfaltung auch
nicht, wenngleich die Zahl der Corvetten gewachsen war,
und sich auch
Schlachtschiffe neuer Art in Gestalt von drei ganz beachtenswerthen Panzer
schiffen eingefunden hatten. Hatte der so plötzlich ausbrechende Krieg von 1870 die ganze Welt überrascht,
so war das in noch höherem Grade der Fall für die Flotte.
Was sich gegen Dänemark zu schwach erwiesen hatte, waö als Hülfsmacht
gegen Oesterreich zu gering befunden war, sah sich jetzt einer Flotten macht ersten Ranges gegenüber.
Merkwürdiger Weise sollte eS sich so fügen,
daß der Kern der kleinen Preußischen Seestreitkraft ein Panzergeschwader von drei Schiffen unter Führung des Prinzen Adalbert sich dem gewaltigen
Feind gegenüber
in einer streng genommen gar nicht
griffsstellung befand.
Vortheil
daraus
ungünstigen An
Es ist hier kein Anlaß zu Betrachtungen, ob man
hätte ziehen können, da man
dem Geschwader, über
Prinz Adalbert und die Anfänge unserer Flotte.
337
welches der Admiral Dieudonn^ damals zu verfügen hatte, nicht so ganz unebenbürtig war, und wenn Lcrd Granville warnte, weil jener „something violent“ im Schilde führe,
man dem beimessen wollte. weiteren Folgen
entzogen,
so hatte das nur gerade soviel Werth, als Genug, daß unser Geschwader allen etwaigen
seiner vorgeschobenen Stellung auf Befehl des Königs
und zur Vertheidigung Wilhelmshavens
zurückberufen wurde:
eine rückgängige Bewegung, die nicht geeignet war,
Angriffsneigungen,
die im Geist der Flotte keimten, zu frischer Entfaltung zu bringe». Aehnlich wie daheim lagen die Machtverhältnisse natürlich auch auf
den auswärtigen, überseeischen Stationen.
Die zweifelhafteste Beurthei
lung erfuhren im Auge der öffentlichen Meinung, namentlich vom mili tärischen Standpunkt die Vorgänge in Ost-Asien.
Das dortige Macht
verhältniß war keineswegs günstig; es war ein Verhältniß, wie seiner Zeit Preußen zu Dänemark im zweiten Dänischen Krieg.
Rechnet man
Alles zusammen, was Frankreich in dortigen Gewässern an größeren und kleineren Fahrzeugen musterte, so standen Hertha und Medusa gegen etwa
26 Fahrzeuge Französischer Flagge.
Daß ein
solches
Machtverhältniß
sich nicht auch auf jeden einzelnen Ort deö Zusammentreffens erstreckte,
liegt auf der Hand.
In diesem Punkt war man über die Dinge, wie
sie sich in so entfernt liegenden Orten gestalteten, bei uns nie ganz genau
orientirt.
Sei dem, wie ihm wolle, man vereinbarte eine Art dauernden
Waffenstillstand, der an maßgebender Stelle genehmigt wurde; daß derselbe
für Rhederei und Handel einige Vortheile gehabt, ist wohl nicht zu leugnen; für die Streitkräfte bedingte er eine Thatenlosigkeit, die nicht geeignet war,
einer Kriegsheiterkeit Nahrung zu geben, die vielmehr so manche düstere Er scheinung zu Tage brachte.
Daß Französische Geschichtschreibung sich der
Sache nicht gerade in freundlichem Sinn bemächtigt hat, ist kein Wunder.
Noch vor wenigen Jahren erschien eine Schilderung aus der Feder eines Französischen Diplomaten, die von Unwahrscheinlichkeiten strotzte.
Indeß
nahmen auch deutsche Zeitungen Notiz davon und brachten Auszüge, die in den Augen des guten Patrioten entweder der Flagge einen Makel anhefteten
oder von maßgebender amtlicher Stelle der Berichtigung bedurften.
Das
Letztere hat man damals nicht für gut befunden, so bleibt der Makel.
Un
widersprochene Behauptungen sind
so gut wie bejaht.
Eine Bejahung
in diesem Fall schließt eine Beurtheilung der Vergangenheit in sich, und ein Urtheil über Personen, die für jene Vergangenheit ganze oder ge
theilte Verantwortung tragen. sonen und nicht die Verhältnisse.
Der Nichteingeweihte sieht nur die Per
Wenn ein Heer so ungemessenen Ruhm
erntet wie das Deutsche in jenem Feldzug, wie konnte da die Flotte so
thatenlos zurückstehen? Das Gefecht Metcor-Bouvet vor Havana der ein-
Prinz Adalbert und die Anfänge unserer Flotte.
338
zige Glanzpunkt! Aber der Nichteingeweihte übersieht in seiner Beurthei
lung, wie in jener ganzen Vergangenheit den Personen niemals? Willen und Kraft, sondern den Verhältnissen immer der Haupt-Hebel gefehlt hat. Da, wo die Keime kriegerischer Tugend in den Personen sich zeigten, da ,anden sie in den Verhältnissen keine Hinterlage.
Will man Ruhm der
Ueberlieferungen schaffen, so erziehe man das innere und äußere Bewußt
sein der Ueberlegenheit;
sendet man Männer hinaus in
die Welt,
so
lasse man das Siegesvertrauen ein bevorzugtes Stück ihrer Ausrüstung
sein.
Die Macht der Rede kann von Wirkung sein, das heutige Geschlecht
ist ihr vielleicht zugänglicher als das alte; ihr Erzeugniß bleibt aber nichts mehr und nichts weniger als eine Treibhaus-Pflanze, unfähig zu nach
haltigem Druck und dem ernsten Anprall kräftig und verständig geführter Kraft nun und nimmer gewachsen.
Unbegrenzter TodeSmuth war eine Eigenschaft, die der Prinz Adal bert von Preußen
und
zu
gewesen
nicht allein zu besitzen, sondern auch an jedem Ort
jeder Zeit zu gebrauchen auch
die Personen,
theilhaftig zu machen.
verstand.
Unausgesetzt ist er bemüht
über die er gesetzt war, jener Eigenschaft
Dem hohen Herrn ist die Erfahrung nicht erspart
geblieben, daß Verhältnisse mächtiger sind
als Menschen und daß das
innere Bewußtsein der Ueberlegenheit, welches den Britischen Seemann der Zeiten Lord Hawke's zu
denen der Nelson und Collingwood führte,
jenes Siegesvertrauen, welches
schließlich
jeder zeitlichen
und
örtlichen
Ueberlegenheit des Feindes spottete, auch dem Deutschen Seemann anzu
erziehen ist, aber nicht durch Worte, sondern durch wirkliche Macht, auch nicht durch abgefeimte Sprengmittel, sondern durch einfaches Werkzeug in
Stahl und Eisen und für offenen, ritterlichen Kampf.
Weimar den 2. August 1888.
Neue Schriften zur Poetik und zur Lehre vom
Schönen überhaupt. Bon
A. Döring. Eduard von Hartmann, Philosophie deö Schönen. Zweiter systematischer Theil der Aesthetik. Berlin, C. Duncker 1887. XV u. 836 S. Herm. Baumgart, Professor an der Universität Königsberg, Handbuch der Poetik. Eine kritisch-historische Darstellung der Theorie der Dichtkunst.
Stuttgart, Cotta 1857.
XII u. 735 S. Wilh. Scherer, Poetik. Berlin, Weidmann 1888.
XII u. 303 S.
Das Schöne tritt uns theils in der Wirklichkeit, in Natur, Leben und Geschichte, theils als Erzeugniß absichtsvoll auf seine Produktion ge richteter Kunstthätigkeit
und auf beiden Gebieten wieder theils als an
hängendes, nur neben der sonstigen Bedeutung des schönen Objekts be stehendes,
theils als selbständiges für
die ästhetische Anschauung,
Wesen des Objekts selbst ausmachendes entgegen.
das
Daß es in allen diesen
Fällen in eigenartiger Weise lustvoll ist, darüber sind wir alle einver standen.
Auch darüber sollte billigerweise eine Meinungsverschiedenheit
nicht bestehen, daß zwischen dieser eigenartigen Lustwirkung und dem Wesen
des Schönen derjenige ursächliche Zusammenhang
besteht,
der
zwischen
Wesen und Wirkung überhaupt vorhanden ist und der es ermöglicht, durch
den Rückschluß von der Wirkung auf das Wesen als seine Ursache letzteres zu bestimmen.
Die Wirkung ist der Erkenntnißgrund des Wesens, weil
das Wesen der Realgrund der Wirkung ist. Hiernach ist die Grundfrage jeder mit Aussicht auf Erfolg zu unter
nehmenden Theorie sowohl deS Schönen überhaupt, als auch irgend einer besondern Art und Form des Schönen, z. B. des poetischen, die nach der eigentümlichen Art dieser Lustwirkung, nach den besonderen Bedürfnissen
der Menschennatur, denen das Schöne entgegenkommt.
Denn auf Be
friedigung eines Bedürfnisses muß doch wohl jede Art von Lust beruhen.
Neue Schriften zur Poetik und zur Lehre vom Schönen überhaupt.
340
Leider sind wir über diese Grundfrage, von der alles weitere Verständniß abhängt und aus deren Lösung alle Bestimmungen der Aesthetsk sich ab
leiten, noch immer im Unklaren, und auch die drei neuen Arbeiten, über
die hier zu berichten ist, von denen die von Hartmann'sche das ganze Ge-
bidt des Schönen umspannt, die beiden andern sich auf ein einzelnes Ge biet des Kunstschöncn, die Poesie, beschränken, haben die Lösung des Räthsels zwar auf sehr verschiedenen Wegen gesucht, aber nicht gefunden. Die von Hartmann'sche Philosophie des Schönen bildet den
zweiten,
systematischen Theil eines zweibändigen Werkes über Aesthetik,
dessen erster historisch-kritischer Theil eine Geschichte der deutschen Aesthetik seit Kant brachte.
Diese Philosophie des Schönen ist zunächst quantitativ
betrachtet ein Werk von monumentaler Größe.
Der eigentliche Text umfaßt
827 Seiten von riesigem Umfange, auf deren jeder doppelt so viel steht, wie auf einer Seite des leichtgeschürzten Scherer'schen Buches.
Und da
der eigentliche Text des Letzteren nur 276 Seiten umfaßt, so übertrifft das von Hartmann'sche Buch dasselbe an Ausdehnung ungefähr um das
Sechsfache.
Ich will diesem Thatbestände gegenüber nicht gerade an das
altklasstsche
ßtßXtov pieya 7nj|ia erinnern, aber zu leugnen ist nicht,
daß diese dicken Bücher eine Beschwerde für den Leser bilden, daß manche Partieen sich hätten kürzer fassen lassen und daß die erste Fassung nicht immer weder die glücklichste, noch die kürzeste ist.
Der Verfasser freilich
versichert uns im Vorwort, daß er bei einer einigermaßen erschöpfenden Behandlung keine Mühe gehabt haben würde, den Raum von sechs solchen
Bänden zu füllen und daß er daher eine ausführliche Darstellung nur
für die grundlegenden Theile gegeben habe.
Es ist gut, daß er diese Be
schränkung hat eintreten lassen,
wäre wohl heute der einer
denn
wo
ästhetischen Belehrung bedürftige Leser, dessen Wissensdurst mit einer so
ausgiebigen Lehrhaftigkeit Schritt gehalten hätte? Jedenfalls muß sich die
Berichterstattung darauf beschränken, die allgemeine Grundrichtung zu be zeichnen,
in
der die Lösung der ästhetischen Grundfrage unternommen
wird und in großen Zügen ein Bild des Inhalts und Gedankenganges zu entwerfen. Dem Grundcharakter
nach entspricht diese Aesthetik ganz dem all
gemeinen philosophischen Standpunkte von Hartmanns und ist aus demselben
hervorgewachsen. Zwar setzt sie anscheinend voraussetzungslos ein, aber bald befinden wir uns in bekannten Regionen und es tritt im Verlaufe immer
deutlicher diejenige Richtung hervor, die sich schon aus dem in Band LX d. Ztschr. besprochenen historisch-kritischen Theile genügend erkennen ließ.
Von Hartmann Epigone der
ist seiner philosophischen Grundrichtung
nach ein
deutschen metaphysischen Schule der ersten Hälfte unsres
Neue Schriften zur Poetik und zur Lehre vom Schönen überhaupt.
341
Jahrhunderts, wenn es erlaubt ist, Gegensätze wie Hegel und Schopen
hauer unter
den gemeinsamen Begriff einer Schule zusammenzufassen.
Er selbst liebt es, den Entwicklungsgang dieser Schule so zu construire»,
daß der ursprüngliche Schelling als Vorläufer und Hegel als Vollender der einen von zwei gegensätzlichen Richtungen, des Panlogismus oder der
Vernunflmetaphysik, Schopenhauer, der Antipode Hegels, als klassischer Vertreter der
entgegengesetzten Richtung,
deö
Panthelismus
oder
der
Willensmetaphhsik und der spätere Schelling als unentwickelter Vorläufer einer höheren Einheit dieses Gegensatzes dasteht, worauf dann seiner eigenen
Metaphysik, in der Wille wie logisches Princip Attribute der absoluten
Substanz sind, wie von selbst die Stellung der abschließenden Vereinigung
des Gegensatzes und damit des Abschlusses dieser Entwickelung überhaupt zufällt.
Selbstverständlich wird sich von einem andern Standpunkte aus
diese Entwicklungsreihe ganz anders ausnehmen, worüber aber hier nicht
zu reden ist. Gemäß dieser Stellung seines Systems überhaupt steht dann auch
seine Aesthetik ganz in der Entwicklungsreihe jener speculativen Aesthetik auf metaphysischer Grundlage, mit der die deutsche Philosophie bis weit
in die zweite Hälfte unseres Jahrhunderts hinein heimgesucht war und deren congenialer Geschichtschreiber von Hartmann im ersten Bande ge
worden ist.
Für die Aesthetik freilich kommt der Gegensatz des PanlogiSmuS und
PantheliSmuS nur in ganz untergeordnetem Sinne in Betracht.
Die
ganze Aesthetik dieser Schule ist Idealismus auf metaphysischer Grund lage.
Für Schelling und Hegel war dies selbstverständlich,
aber auch
Schopenhauer läßt in einer freilich nicht recht verständlichen Weise aus seinem absoluten Urwillen eine platonische Ideenwelt hervorgehen, deren
Abglanz in der Erscheinungswelt das Naturschöne oder das Schöne der Wirklichkeit ausmacht und vom Künstler im Scheinbilde des Kunstwerkes
in seiner ganzen Reinheit wiedergespiegelt wird.
Von Hartmann selbst
aber brauchte, um einen ästhetischen Idealismus zu entwickeln, nicht in die Schopenhaucrsche Inkonsequenz zu verfallen, da ihm ja bei der Doppel heit der Attribute seiner Ursubstanz ein logisches Princip
im Urwescn
als Hintergrund eines metaphysischen Idealismus ohne Zwang zur Ver fügung stand. Da sind wir denn nun glücklich bei dem vieldeutigen, unfaßbaren
Schlagworte des ästhetischen Idealismus angelangt. gegriffene Münze des Idealismus
Man sollte die ab
auf keinem Gebiete passiren
lassen,
ohne zu fragen: Wes ist das Bild und die Ueberschrift? Beschränken wir
uns hier auf den ästhetischen Terminus!
Neue Schriften zur Poetik und zur Lehre vom Schönen überhaupt.
342
Um aber den ästhetischen Idealismus-, wie er uns hier entgegentritt, sicher in das begriffliche Netz einzufangen, muß etwas weites ausgeholt
werden.
Da ist zunächst
der fundamentale Hauptgegensatz klarzustellen.
Derselbe wird gebildet durch den ästhetischen Formalismus, der die Lust
wirkung ausschließlich von Formen und Verhältnissen ganz abgesehen von Vorstellungsinhalt, Sinn und Bedeutung ableitet und der wohl nachgerade
als abgethan gelten könnte, einerseits und die als eine vielgestaltige, die verschiedenartigsten Richtungen
unter sich befassende Gruppe ihm gegen
überstehende Gehaltsästhetik andrerseits, der die wohlgefällige Wirkung des
Schönen in irgend einem Sinne von Inhalt und Bedeutung des Dargestellten abhängig ist.
Innerhalb der Gehaltsästhetik lassen sich fünf Richtungen
unterscheiden.
Erstens der Realismus oder Naturalismus, der mehr oder weniger von
der
stillschweigenden
Voraussetzung
ausgeht,
daß
alles Wirkliche
Auf dieser Grundlage besteht die
schon als solches ästhetisch interessirt. ästhetische Lustwirkung beim Realismus
bald
mehr
in der
Freude an
der gelungenen Nachbildung des Wirklichen und an der virtuosen Kunst fertigkeit
überhaupt,
bald
mehr
in
der
Lust
an
dem
Interessanten,
Packenden, Außergewöhnlichen, Drastischen, das aus dem Wirklichen aus
gehoben und zum Gegenstände der Darstellung gemacht wird,
bald in
allem diesem zusammen.
Zweitens der Idealismus von Ideal abgeleitet.
Derselbe setzt das
Wesen des Schönen in ein Beiseitelassen des unser Gefühl Störenden der gemeinen Wirklichkeit und in ein ausschließliches Hervorkehren der in der Welt anzutreffenden Züge von Vollkommenheit.
Ja er will durch die
Kunst geradezu eine schönere und bessere Welt geschaffen sehen, als die
gemeine, die uns umgiebt, eine paradiesische Traumwelt, in die wir uns
aus der unbefriedigenden Wirklichkeit des irdischen Jammerthals flüchten können.
Dies ist aber nicht der hier in Rede stehende Idealismus.
Dieser, von Idee abgeleitet, ist der dritte Standpunkt und bedeutet eine Erklärungsweise des ästhetischen Wohlgefallens, nach der dieses auf
der anschaulichen Erkenntniß des rationalen Elements im Wirklichen be ruht, mag diese Erkenntniß nun aufgehen am Wirklichen selbst, vermittelt
durch jene eigenartige Weise der Auffassung desselben, die man ästhetische
Anschauung nennt, oder mit leichterem Gelingen am Kunstwerke, wo schon das Mittleramt der Kunst die rationalen Lichtstrahlen der Wirklichkeit in
einen Brennpunkt gesammelt hat. Sinne braucht nicht
nothwendig
Der ästhetische Idealismus in diesem einen metaphysischen Hintergrund
der
Wirklichkeit, bestehend in einer urbildlichen Ideenwelt, oder in einer an sich seienden Vernunftpotenz, die sich im Wettproceß verwirklicht, oder in
einem vernünftigen Schöpferwillen, oder in einem mit dem Denken iden tischen Sein vorauszusetzen. An sich könnte er sich nominalistisch damit be gnügen, das unserem Denken thatsächlich Verwandte der gegebenen Wirk lichkeit, unbekümmert um eine etwaige metaphysische Herkunft, ästhetisch aufzufassen und seine Nachschaffung der Kunst als Aufgabe zu setzen. Thatsächlich jedoch hat dieser Idealismus sich den Luxus eines jenseitigen Princips rationaler Weltgestaltung vom Neuplatonismus an bis auf Hegel und Schopenhauer nie versagt; er würde auch ohne dasselbe eine Halbheit sein. Jedenfalls ist dieser Idealismus ästhetischer Intellektua lismus, d. h. er setzt die ästhetische Wirkung in die Befriedigung unseres intellektuellen Bedürfnisses durch Anschauung der unserem Denken ver wandten Elemente der Wirklichkeit, sei es in dieser selbst, sei es im ver deutlichenden Spiegel der Kunst, die ästhetische Lust aber ist nur der Ge fühlston dieser intellektuellen Befriedigung. Der vierte Standpunkt, vertreten durch von Kirchmann, ist der der GefühlSästhetik. Nach ihr ist das Schöne das Gefühl-Ausdrückende und Erregende, die Gefühlsäußerung, die Gefühlsursache, alles mit dem Ge fühlsleben Zusammenhängende; die ästhetische Lust beruht auf der Erre gung der ganzen Skala unserer Gefühle in unpersönlicher Form. Diese Erregung ist unmittelbar lustvoll. Der fünfte Standpunkt endlich ist eine Ausdehnung des vierten auf alle Arten seelischer Functionen und schließt daher den vierten in sich. Nach ihm beruht die ästhetische Lust auf der bloßen Versetzung unserer seelischen Fähigkeiten in Function, ohne daß ein persönliches Interesse dabei im Spiele wäre. DaS ästhetische Objekt im engeren Sinne, das in der eigentlichen Kunst seine Darstellung findet, bildet hier einen engeren Kreis im Gesammtgebiet deS Schönen, dessen Lustwirkung auf der uninteressirten FunctionSerregung von Gefühlen und zwar einer besonderen Gefühlsgruppe, der Schicksalsgefühle, beruht. Diese Uebersicht wird genügen, um die Stelle des bei von Hartmann vorliegenden ästhetischen Idealismus zunächst als Gattung innerhalb der Gesammtheit der möglichen Standpunkte zu kennzeichnen. Seinem be sonderen Artcharakter nach bestimmt sich der von Hartmann'sche Idealis mus zunächst als concreter im Gegensatze gegen den abstrakten, der sich z. B. bei Schopenhauer findet. Dieser Gegensatz von abstrakt und concret ist auch in der gegenwärtigen Schrift noch nicht ganz von der schwanken den Fassung befreit, die in der früheren hervortrat; z. B. wird S. 179 das Abstrakte in die Beschränkung der Idee auf den GallungStypuS ge setzt, während sie doch auch im Individuellen sich bethätige. 3m Allge meinen wird in der gegenwärtigen Schrift als das unterscheidende Merk-
344
Neue Schriften zur Poetik und zur Lehre vom Schönen überhaupt.
mal des abstrakten Idealismus festgehalten, daß bei ihm die Idee selbst in ihrem Ausichsein das eigentliche Schöne,
das Urschöne ist, während
der concrete Idealismus die Schönheit nur dem Scheinen der Idee zu
erkennt, d. h. ihrem Hervortreten in sinnlicher Einkleidung, wogegen sie in ihrem Ansichsein als metaphysische Realität,
als
objektiv
existirendes
logisches Princip, keine Schönheit haben könne (S. 464, 579 f. u. a. St.).
Diese Unterscheidung ist sehr einleuchtend, es ist aber fraglich, ob nach ihr z. B. Schopenhauer zu den abstrakten Idealisten gerechnet werden kann. Auch findet darin das früher von von Hartmann hervorgehobene und in
seinem Sinne wichtige Merkmal des concreten Idealismus, daß bei ihm
die Idee selbst sich in Zeit und Raum ebenso wandelt, wie ihre Erschei nung, keinen Ausdruck.
Jedenfalls beruht für den concreten Idealismus die ästhetische An
lage auf der „Jntellektualität der sinnlichen Anschauung"
d. h. auf dem
Vermögen, die sinnliche Form, wenn auch ohne deutliches Bewußtsein, als den Ausdruck der Idee zu fühlen und zu genießen (S. 116).
Nach dieser Vorstellung ist also alles Wesenhafte und Charakteristische
in Natur und Menschenleben,
sofern
sich
darin ein Moment des dem
Weltgrunde angehörigen logischen oder Vernunftprincips ausprägt, schön und die Freude am Schönen
auf der ahnenden Perception der
beruht
jenigen metaphysischen Bedeutung der Dinge, die auf ihrem Zusammen hang
mit dem Vernunftatlribut der
Hartmann
nennt
dieses Hindeuten
absoluten Substanz beruht.
Don
des Schönen auf die absolute Idee
seine mikrokosmische Natur d. h. in ihm erscheint in gewissem Sinne der Weltgrund selbst in einem AuSzuge und in einer einzelnen Manifestation. Je stärker und bedeutsamer dieser Zusammenhang mit der absoluten Idee
ist, desto höher ist der Grad des ästhetischen Werthes (S. 470, 394 u. a. St.).
Die „logische Idee" oder das „unbewußt Logische" ist „das
zeugende Princip aller Wirklichkeit" (S. 145), das Schöne ist ihre Versinnlichung.
Auf der höchsten Stufe des Schönen wird
„die Logicität
der Idee" immer dunkler, das Schöne ein Mysterium, nur der unbe wußten Perception zugänglich (S. 199); die Weltidce umfaßt als höchste Jndividualidce alle Jndividualideen (S. 195). Dieser Gegensatz des
concreten
gegen den
abstrakten
Idealismus
tritt auf dem ästhetischen Gebiete an Stelle des metaphysischen Gegen
satzes des Panlogismus gegen den Panthelismus.
Schopenhauer,
seinem Panthelismus
nommen und auS ihr das Schöne abgeleitet hatte,
Gebiete nicht mehr zu verwerthen. schen Ideen,
Letzterer war, da auch
zum Trotz, eine Ideenwelt ange auf dem ästhetischen
Freilich bleibt bei den Schopenhauer'-
da sie eigentlich „WillenSakle" sind und nicht aus einem
Neue Schriften zur Poetik und zur Lehre vom Schönen überhaupt.
345
Vernunftprincip entspringen, ihr logischer Charakter einigermaßen zweifel
haft, während er bei von Hartmann an dem logischen Attribut der ab
soluten Substanz seine unzweifelhafte Stütze und Gewähr hat. ES bleibt aber noch ein charakteristisches Merkmal deö von Hart-
mann'schen Idealismus hervorzuheben, das denselben namentlich gegen Hegel absondert und wiederum auf der besonderen Eigenthümlichkeit seiner
Metaphysik beruht. Sein Weltprincip ist nicht ausschließlich logische Idee,
sondern es hat die beiden Attribute des Willens und der Idee, die sich nur äußerlich und lose in der absoluten Substanz zur Einheit zusammenfinden. Auf dem Willen beruht das Daß, auf der Idee nur das Wie und Was
Auch dieser Urwille muß in der Aesthetik seine Stelle finden.
der Existenz.
In der That ist ihm, wie das Schöne das erscheinende Logische, so das Häßliche daS erscheinende Unlogische deS Weltgrundes (;. B. S. 322).
Während in der Hegel'schen Schule
ein positives Princip des Häßlichen
fehlt und dasselbe daher nur eine partielle Negation, ein Zurückbleiben hinter der vollen Auswirkung der Idee oder auch den nothwendigen Gegen
satz darstellt, durch den die dialektische Entwicklung der Idee sich vollzieht, ist
bei von Hartmann der Gegensatz ein positiver zweier gleich starker
Factoren, auf dem Dualismus der Attribute des Absoluten beruhend.
Allerdings ist ja das logische Princip daS endgültig überlegene und triumphirende.
Es
Hal von Anbeginn den Weltproceß, der ein
Willen verschuldetes Unglück ist,
vom
auf den allein ersprießlichen AuSgang,
den Untergang alles Daseins, planvoll angelegt (S. 258) und die ganze „Logicität" hat zum letzten Ziele die Wiederherstellung des Friedens des
Nichtseins.
Demgemäß darf auch auf dem ästhetischen Gebiet daS Häß
liche, soweit es daselbst überhaupt Berechtigung hat, denes auftreten (S. 256).
Andererseits
aber hat
nur als überwun
die
mikrokosmische
Natur deS Aesthetischen, d. h. sein Zusammenhang mit der „Weltidee" als Wiedergabe nicht mir eines untergeordneten, gleichgültigen PartikelchenS derselben, sondern ihres wesentlichen und charakteristischen Gepräges, ihren letzten Hintergrund an der pessimistischen Bevorzugung deS Nichtseins vor
dem Sein.
Damit wäre
also
die Grundrichtung dieser Aesthetik charakterisirt:
Die Freude am Schönen ist eine wesentlich intellektuelle,
beruhend auf
ahnender Erkenntniß des in den Dingen sich offenbarenden logischen Welt princips.
Je
tiefer diese ahnende Erkenntniß in ihren Gegenstand ein
dringt, desto mehr enthüllt sich ihr das letzte Ziel und die tiefste Bedeu
tung dieser ganzen metaphysisch-jenseitigen Logik: die Wiederaufhebung der Welt.
Gilt dies zunächst nur von der Freude am Schönen der Wirk'
lichkeit, so ist doch auch für die Kunst, Preußische Jahrbücher.
Bd. LX1I. Heft 4.
die
das Schöne der Wirklichkeit 23
Nene Schriften zur Poetik und zur Lehre vom Schöuen überhaupt.
346
Wiederzuspiegeln hat, die höchste Aufgabe,
ebenfalls an
ihrem Theile
möglichst „mikrokosmisch" zu werden d. h. den negativen Werth der Welt
und ihre Bestimmung und Angelegtheit zum Nichtsein der ahnenden Er kenntniß im Bilde vorzuführen.
Den Aufbau im Einzelnen betreffend, so kann derselbe hier nur den allgemeinsten Zügen nach charakterisirt werden.
in zwei Bücher,
Die Schrift gliedert sich
„der Begriff deS Schönen"
und
„das Dasein des
Schönen".
Im
ersten Buche wird das Wesen deS Schönen nicht definitionS-
mäßig abstrakt bestimmt, entwickelt.
sondern in seiner concreten Mannigfaltigkeit
In der That ist ja daS Schöne ein
gruppenweise
abgeleitet
und
entwickelt werden
sehr Vielfältiges, das muß.
Die
Grundlage
dieser Umfangsbestimmung deS Begriffes bildet daS Kapitel: „Die Eon-
cretionSstufen des Schönen".
Dem Ausdruck ConcretionSstufen liegt die
Vorstellung zu Grunde, daß die einzelnen Formen und Arten deS Schönen nicht nur
eine Stufenfolge vom minder Bedeutenden zum Bedeutenden
bilden, sondern daß die höheren Stufen als die concreteren die niederen als aufgehobene Momente in sich schließen.
Aber schon
in
der Art der Durchführung
dieses Verfahrens zeigt
sich der verderbliche Einfluß der metaphysischen Grundlage, aus der mit Nothwendigkeit ein falscher Leitfaden der Auffindung und Anordnung der einzelnen Formen sich
faden,
ergeben muß.
Nicht psychologisch ist dieser Leit
von der Erfahrung des eigenthümlich ästhetischen Gefallens aus
die einzelnen Formen und Arten desselben aufsuchend,
sondern er wird
ähnlich wie bei Schopenhauer von der Gliederung der in der Erscheinungs
welt sich manifestirenden logischen Idee entlehnt.
Die ConcretionSstufen
deS Schönen sind nur die vom Abstrakten zum Concreten aufsteigenden Wandlungen und Evolutionen der Weltidee (S. 605). ist der eigentlich grundlegende, insbesondere auch
Dieser Abschnitt
von dem die ganze folgende Gliederung,
die der Künste, abhängt.
Zunächst werden in einem
folgenden Kapitel nach demselben Leitfaden die den einzelnen Formen des Schönen entgegenstehenden Formen des Häßlichen abgeleitet und auch die
beiden daran sich anschließenden Abschnitte „die Modificationen des Schö nen", in denen vornehmlich daS Erhabene und die aus dem Conflikt mit
dem Häßlichen und
der Ueberwindung
dieses ConfliktS
hervorgehenden
Besonderheiten deS Schönen behandelt werden, sind durch diese kosmische
Grundauffassung deS Schönen von vorn herein in ihrer Eigenthümlichkeit
bestimmt. Ein Schlußkapitel des
ersten Buches faßt zwei ziemlich heterogene
Gruppen von Gegenständen zusammen, daS Verhältniß des Schönen zu
Neue Schriften zur Poetik und zur Lehre vom Schönen überhaupt.
347
anderen Richtungen des Geisteslebens (Bedürfniß, Wahrheit, Sittlichkeit,
Im letzteren
Religion) und
die metaphysische Bedeutung des Schönen.
Abschnitt wird
der bis dahin nur mehr vereinzelt und gelegentlich her
vorgetretene metaphysische Hintergrund der ganzen Auffassung vollständig
enthüllt. Das zweite Buch Kunst,
behandelt das Schöne der Wirklichkeit und der
ersteres unter den
geschichtlich Schönen,
beiden Gesichtspunkten des Naturschönen und
letzteres in seiner Gliederung in die unfreien und
unselbständigen Künste einerseits und die freien Künste andererseits. findet sich
Künste,
namentlich
hier,
das Kunsthandwerk im weitesten Sinne,
Widerspruch erweckt.
Vieles,
fruchtbar und anregend ist.
Es
in dem Abschnitt über die unselbständigen neben Manchem,
das
das auch für den principiell Abweichenden
Einseitig ist z. B. das Prinzip für die kunst
mäßige Gestaltung der Gebrauchsgeräthe, nach dem für dieselben die reine
Zweckmäßigkeit der Gestaltung an sich während doch
sein soll, Zweckes
schon
die vollkommene Schönheit
letztere wohl auch eine Veranschaulichung des
glänzend
und eine Verlebendigung des GeräthS einschließt;
ist
z. B. die Verweisung der Baukunst unter die unfreien Künste (S. 599 f.). Auffallend ist die fast völlige Vernachlässigung des Begriffes des Kunst
stils, der nur in vereinzelten Stellen berührt und hier sehr äußerlich auf
gefaßt wird (S. 139 ff., 556).
Das tiefe Dunkel der Unklarheit,
über diesem wichtigen ästhetischen Terminus noch lagert,
das
erfährt in der
von Hartmann'schen Schrift keine Aufhellung.
Weiter
in die Einzelheiten einzugehen,
ist bei der Massenhaftigkeit
des Stoffes und der großen Zahl der in Betracht kommenden Special
Wem eine Aesthetik auf der, wie ich hoffe, mit hin
fragen unmöglich.
reichender Deutlichkeit bezeichneten,
mannas
congenial
metaphysischen Grundlage von Hart
ist, wird bei dem Buche seine Rechnung finden; im
Allgemeinen dürfte bei der heutigen Welt das Gefühl der Gegensätzlichkeit wie gegen die zu Grunde liegende metaphysische Welterklärung nach Genus
so auch gegen die aus diesem Boden erwachsene Aesthetik
und Species,
als gegen eine verspätete Erscheinungsform einer eigentlich schon seit ge
raumer Zeit
auf
den Aussterbeetat gesetzten Grundrichtung der Wissen
schaft vom Schönen überwiegen.
Schade nur, daß wir einstweilen nichts
Besseres an die Stelle zu setzen haben
übung, wie
unser Kunsturtheil nach
und
daß
der Regel:
sowohl
unsere Kunst
Ordre, contreordre,
dösordre bis auf Weiteres in dem bisherigen anarchischen, Princip- und
richtungslosen Zustande wird verharren müssen.
Einen seltsamen Gegensatz gegen den thatsächlich vorhandenen strengen Zusammenhang
mit
seiner
metaphysischen
Grundanschauung
23*
bildet
bei
Neue Schriften zur Poetik und znr Lehre voni Schönen überhaupt.
348
von Hartmann die wie anderwärts so auch bei seiner Aesthetik hervor
tretende Neigung (S. X), die Ergebnisse seiner Einzeldisciplinen als auf
inductivem Wege, also voraussetzungslos, gewonnen hinzustellen.
In der
That treten in der vorliegenden Schrift die metaphysischen Grundvoraus setzungen nicht
als ausgemachte Sätze an die
gleich von vorn herein
Spitze, sondern sie treten nur allmählich im Verlaufe wie neugewonnene Diese Jnduction, die mit unfehlbarer Sicherheit die
Ergebnisse hervor.
vorauSbestimmte Richtung
auf die längst feststehenden Grundprincipien
deS Systems einschlägt, erinnert unwillkürlich an jene wohldressirte Deduktion der Wolff'schen Schule, über die der alte Kant namentlich in den
„Träumen eines Geistersehers" seinen gutmüthigen Spott auSgießt. Diese Philosophen sind, so meint Kant, übereingekommen, vom Anfangspunkte auS nicht nach der geraden Linie der Schlußfolge, sondern mit einem un
merklichen Clinamen der Beweisgründe die Vernunft so zu lenken, daß
sie gerade hinlreffen
mußte, wo
der
treuherzige Schüler sie nicht ver
nämlich dasjenige zu beweisen,
muthet hatte,
wußte, daß es sollte bewiesen werden.
wovon man schon vorher
Er vergleicht dies Verfahren mit
dem des Romanschreibers, der seine Heldin in entfernte Länder fliehen läßt, damit sie ihrem Anbeter durch ein glückliches Abenteuer wie von ungefähr aufstoße.
Kant denkt bei diesem Bilde wohl an den Boltaire-
schen Candide, mit dem er sich damals gerade eingehend beschäftigt hatte. —
Zwischen dem von Hartmann'schen Buche und dem „Handbuche der
Poetik" von Baumgart giebt es nur eine Aehnlichkeit, das ist der mächtige Umfang.
Dieses „Handbuch", das zudem noch nicht einmal die
jenigen landläufigen Belehrungen über Versfüße, Reim u. dgl. enthält, die man in einem solchen anzutreffen erwartet, sondern sich wesentlich auf die ästhetischen Grundfragen beschränkt,
ist
ein
starker Band von 735
großen Seiten und übertrifft auch seinerseits den Umfang des Scherer'schen Buches um das Vier- bis Fünffache.
Im Uebrigen giebt es keinen größeren Gegensatz,
als den zwischen
der von Hartmann'schen und der Baumgart'schen Behandlung der ästhe tischen Fragen.
Dort
streng
philosophisches
Verfahren,
hier
litterar-
geschichtlich-exegetische Untersuchungen, dort metaphysische Grundlage, hier Verharren
auf dem Boden der Empirie,
dort Gebanntheit in den Ge
dankenkreis der speculativen Aesthetik der Schelling, Hegel u. s. w., hier Auseinandersetzungen mit Lessing, Herder, Goethe, Schiller, Allen als
letzte Instanz
und
wie
über denen
eine gebietende Gottheit Aristoteles
schwebt.
Baumgart hält jeden Versuch, die Bestimmungeu über die einzelnen Künste aus
einer Definition
des Schönen abzuleiten,
für aussichtslos
Neue Schriften zur Poetik und zur Lehre vom Schönen überhaupt.
(S. 6).
Er glaubt,
soweit
349
die heute geltende Poetik auf einigermaßen
festem Boden stehe, stütze sie sich in den Fundamentalsätzen überall auf
die von Lessing und Schiller gewonnenen Resultate (S. 2).
Näher giebt
eö nur eine Art der Kunstbetrachtung, die zu positiven Resultaten führt, die Aristotelisch-Lessing'sche und für die Begründung einer Erkenntniß der technischen Grundgesetze hat vor Allem Aristoteles weit mehr gethan, als
die neuere und neueste Kritik anerkennen will (S. 6). Versuchen wir hier gleich die wesentliche Eigenart des BucheS, sie uns aus dem Ganzen entgegentritt, zusammenzufassen.
Litterarhistoriker;
er gehört offenbar
philologisch-historischer Richtung,
zu
wie
Baumgart ist
jener Gruppe von
Gelehrten
die durch die von Jakob BernahS ge
gebene neue Deutung der tragischen Katharsis des Aristoteles zu ästhe
tischen Betrachtungen angeregt wurden.
natürlicher und begreiflicher Vorgang.
DieS ist in der That ein sehr Die neue Auslegung der aristo
telischen Lehre von der Wirkung der Tragödie erschien nicht als ein bloßer
Beitrag zum historischen Verständniß des griechischen Philosophen, sondern als ein ästhetisches Programm; es war ein Princip gegeben, das in seinen
Consequenzen eine ganze Aesthetik einschloß.
Man nahm daher mit einem
Eifer und einer Leidenschaftlichkeit für und wider Partei,
die
einer bloßen
Es schien sich
exegetischen Frage unerklärlich sein würde.
gegenüber
von vornherein nicht um die Frage zu handeln, was Aristoteles gemeint
hat, sondern was wir selbst für richtig zu halten rechtlich gebunden sind: es
war
wie
ein
Streit um die
einer zweifelhaften
Auslegung
Ge
setzesstelle.
Diese
merkwürdige Erscheinung ist nur ein letzter Specialfall des
autoritativen Ansehens, das Aristoteles seit den Tagen der Renaissance
in Fragen der Poetik genossen hat.
Derselbe Humanismus, der Aristo
teles seiner im Mittelalter genossenen Stellung als höchste Autorität in Fragen der Logik und Metaphysik entkleidete,
erhob ihn als Gesetzgeber
der Poesie auf den Thron und begründete ihm so ein neues Herrschafts gebiet.
Noch Lessing erklärt ihn,
während er sich seine Bestimmungen
über den Zweck der Tragödie nach dem eigenen Sinne zurechtlegt, für ebenso unfehlbar in Fragen der Poetik, wie Euklid in Fragen der Geo
metrie und selbst Goethe macht wenigstens den Versuch, der Wirkung der Tragödie
sich
hinsichtlich
mit dem aristotelischen Wortlaut abzufindcn,
wenn er auch diese Abfindung als Auslegung preisgiebt. Baumgart hat sich seit fünfzehn Jahren
in
einer ziemlichen Reihe
von Aufsätzen und Schriften an der durch die BernayS'sche Katharsis erklärung angeregten Controverse betheiligt und in diesen Schriften eine
von BernahS abweichende und sich Lessing
annähernde Auffassung der
Neue Schriften zur Poetik und zur Lehre vom Schönen Überhaupt.
350
exegetischen Frage vertreten. licke seiner
Die gegenwärtige Schrift faßt da^ Wesent-
exegetischen Begründung für die ihm eigene Erklärung des
Aristoteles compendiarisch zusammen,
fügt aber als Neues die Identifi
cation feines eigenen ästhetischen Standpunktes mit dem des Aristoteles, wie er ihn versteht, und den Versuch hinzu, aus diesem angeblich aristo
telischen
Princip
unter
tischen Erörterungen
kritischen Auseinandersetzungen
mit den theore
unserer Klassiker und reichlichen Exemplifikationen
anS der antiken und modernen Poesie eine vollständige Poetik herauszu spinnen. Wie sehr
ihm
hierbei
der Katharsisbegriff im Mittelpunkte der
ganzen Poetik, ja der Kunstlehre überhaupt steht, mögen folgende An führungen beweisen. Daß er in der Katharsis mit Aristoteles die we sentliche Wirkung der Tragödie erblickt (S. 450f.) kann nicht über
raschen.
eS S. 501
Hinsichtlich der Tragödie heißt
„Auf die Katharsis
zusammenfafsend:
Schicksalsempfindungen zielen die sämmtlichen
der
Mittel der Darstellung mit vereinigter Kraft hin."
Diese selbe tragische
Katharsis als Katharsis der „Schicksalsempfindungen" weist er aber ferner auch dem ernsten Epos, dem epischen Analogon der Tragödie, als we
sentliche Wirkung zu (S. 274f.). Anschluß
die
an
Auch für die Komödie macht er, im
von BernahS ans Licht
gezogenen Auszüge auS der
aristotelischen Poetik betreffend die Komödie, die er aber in viel weiterem
Umfange
als Bernays
selbst für echtes aristotelisches Gut erklärt, den
Versuch, eine eigenartige Katharsiswirkung zu construiren (Abschnitt XXX). Aber schon an einer früheren Stelle (S. 243ft.) hat
der Komödie
auf das
Komische
überhaupt
er diese Wirkung
ausgedehnt, als dessen
Zweck und Wirkung ihm „die gegenseitige Katharsis der Affekte des Wohl gefallens und des Lachens" erscheint.
Ebenso nimmt er für das Schau
spiel im engeren Sinne, die Mittelgattung zwischen Tragödie und
Komödie,
als
ästhelische Wirkung
eine
„Empfindungen" (S. 394) in Anspruch.
entspricht aber genau dem,
setzt.
„gegenseitige Klärung"
Diese
zweier
„gegenseitige Klärung"
worin Baumgart das Wesen der Katharsis
Sogar für die Satire ist er (S. 105ft.) bemüht, als eigenthüm
liche Wirkung
er S. 451,
„eine Art von Katharsis"
daß
zu erweisen.
Generell erklärt
„das Ziel der Wirkung in jeder Kunst eine Katharsis
ist, eine Läuterung des Empfindens, in den bildenden Künsten wie in der
Musik und in der Poesie und in dieser nicht nur in der Tragödie und Komödie, sondern ebensowohl auch in der Lyrik" daß die Katharsis
„das wesentliche Moment,
die
und S. 526 heißt cS, unerläßliche Aufgabe
einer jeden rein künstlerischen Wirkung bildet".
Mit dieser Generalisirung der Katharsis als Bezeichnung dcr Kunst-
Neue Schriften zur Poetik und zur Lehre vom Schönen überhaupt.
351
Wirkung ist, rein exegetisch-historisch betrachtet, die Befugniß, die der erhal
tene aristotelische Text zur Verwendung giebt, weit überschritten.
Katharsiswirkung
des vielumstrittenen Terminus
Aristoteles scheint nach Allem, was vorliegt, die
auf die Musik und daS Drama
beschränkt zu
haben.
Die Erklärung dafür, daß ein so enragirter Aristoteliker, wie Baumgart
es ist, sich eine so weitgehende Grenzüberschreitung gestattet, liegt wohl in der ihm eigenthümlichen, von der durch Bernays begründeten wesentlich
abweichenden Auffassung deS Katharsisbegriffs.
Die Katharsis ist ihm
zwar nicht, wie bei Lessing, eine direkt ethische Wirkung, aber auch nicht, wie bei BernayS, ein bloßes Maximum der Gefühlserregung, sondern
sie ist ihm Läuterung deS Gefühls zu einer der Wahrheit der Dinge enisprechenden Haltung (S. 275), Befreiung des Gefühls von Trübungen,
Uebertreibungen, Verkümmerungen, störenden und entstellenden Beimischun gen (S. 451), wodurch offenbar seiner Meinung nach die Erhebung deS Gefühlslebens zu derjenigen Normalität bewirkt werden soll, wie sie der
wirklichen Bedeutung der Welteinrichtung für die Gesammtlage des Men schen entspricht. Wenn dies der Sinn des Aristoteles zunächst für die tragische Ka
tharsis wäre und wenn ferner eine solche Gefühlsklärung als Aufgabe der Kunst gellen könnte, so läge allerdings die Versuchung nahe, den aristo
telischen Terminus zur generellen Bezeichnung deS letzten Zweckes aller Kunst zu erweitern.
Warum sollten nicht, wenn der Zweck der Tragödie
in Klärung und Läuterung einer bestimmten Gefühlsgruppe besteht, für
andere Gefühlsgruppen andere Kunstformen haben können?
eine entsprechende Wirkung
Ganz anders aber liegt die Sache, wenn die Katharsis
für Aristoteles nur ein Maximum zugleich der Intensität und der Voll
ständigkeit des Verlaufs der betreffenden Gefühle bedeutet.
Dann konnte
weder die Lyrik, die den Gefühlston zwar energisch anschlägt aber nicht
lange genug ausklingen läßt, noch das Epos, daS den Hörer oder Leser
zwar lange genug im Banne einer gewissen Gefühlssphäre hält, aber diese weniger stark aufregt, wie daS Drama, eine Katharsis bewirken.
Das
selbe gilt aber auch für andere Gattungen der Poesie und für die sonstigen Künste mit alleiniger Ausnahme der Musik, die in Beziehung auf In
tensität und Continuität der Gefühlserregung dem Drama verwandt ist.
Ich halte die von Baumgart für seine Auffassung der aristotelischen
Katharsis beigebrachten Gründe nicht für beweisend.
ES kann ja nicht
schaden, daß sich an der Katharsisfrage als einer rein exegetisch-philologi
schen Frage immer neue Kräfte versuchen; vielleicht gelingt es der philo logischen Kunst einmal, eine allgemeine Uebereinstimmung der Ansichten zu erzielen.
Möglicherweise könnten die schon erwähnten Excerpte aus der
352
Neue Schriften zur Poetik und zur Lehre vom Schönen überhaupt.
Poetik für die aristotelische Lehre von Per Wirkung der Tragödie und Komödie noch einen Ertrag abwerfen. Baumgart hat sie für feine An
sicht verwerthet, doch ist der Boden ein sehr unsicherer und jedenfalls hier nicht der Ort, in diese Untersuchung einzutreten.
Ein Hauptbedenken gegen
die BernayS'sche Deutung der Katharsis, das auch bei Baumgart wieder hervortritt, beruht auf der Thatsache, daß sie bei dieser Fassung ihrer
eigentlichen Bedeutung nach nicht als allgemeingültige normale Knnstwirkung, sondern als homöopathische Heilung krankhaft belasteter Gemüther erscheint.
Hier trifft nun in erster Linie Aristoteles selbst ein Borwurf.
DaS medizinische Bild ist nicht besonders glücklich gewählt und erforderte jedenfalls auch für die nächsten Leser allerlei Explicationen und Restric-
tionen, um die Brücke von der specifisch-therapeutischen zur allgemeingültig normalen Wirkung zu schlagen.
Für unS sind diese Erörterungen bis auf
eine flüchtige Andeutung im achten Buche der Politik verloren; außerdem ist unS der zu Grunde liegende medizinische VorstellungSkreiS ein völlig fremdartiger und daS Wort Katharsis drängt sich immer in seiner Grund
bedeutung „Reinigung" auf.
Auch Bernays hat den von Aristoteles ge
wollten Unterschied zwischen dem ursprünglichen therapeutischen und dem
abgeschwächten bei Allen stattfindenden Vorgänge nicht scharf genug markirt; das Zurückgehen auf die BernahS'sche Schrift, die den Gegenstand nicht gleich in jeder Hinsicht in makelloser Vollendung darstellte, wird hier
immer wieder Anstöße hervorrufen.
In größtmöglicher Deutlichkeit habe
ich in meinem früheren Aufsatze in d. Zeitschr. (Band LX) sowohl diesen Punkt, als auch die muthmaßliche Lehre des Aristoteles von der Wirkung
der Kunst überhaupt den Grundzügen nach dargestellt und halte diese Auf fassung nach wie vor für die richtige. Von dieser exegetischen Frage ist aber vollständig die ästhetische zu
trennen.
ES kann Jemand überzeugt sein, daß Aristoteles so oder so ge
lehrt hat, ohne doch im Mindesten dessen Ansicht zu theilen und eS kann
Jemand eine ästhetische Ansicht hegen, ohne doch im Geringsten darnach zu fragen, ob auch Aristoteles dieser Ansicht gewesen.
Aber auch wenn man,
wie bei Baumgart der Fall, sich mit Aristoteles in allen Punkten eins glaubt, halte ich eS doch für mißlich, die aristotelische Lehre unmittelbar Ich selbst halte, wie
der systematischen Darstellung zu Grunde zu legen.
auch in dem erwähnten Aufsatze auSgeführt wurde,
die Kunstlehre des
Aristoteles dem Grundzuge nach für die richtige und stehe daher von vorn herein einer Poetik, die sich an Aristoteles anlehnt, sympathisch gegenüber,
würde aber nie versuchen, die Anlehnung auch äußerlich alö Ableitung des Systems aus Aristoteles zur Geltung zu bringen.
den Gründen.
Und zwar aus folgen
Neue Schriften zur Poetik und zur Lehre vom Schönen überhaupt.
353
Zunächst muß doch im letzten Grunde der gewählie Standpunkt durch
innere Gründe gerechtfertigt, das ausgestellte Princip durch sich selbst ein leuchtend gemacht werden.
Auch die erlauchteste und
autoritativste Ge-
dankenverwandlschaft kann von dieser Leistung nicht dispensiren.
Ist dem
aber so, dann ist es wohl auch das Richtigste, man macht dies Geschäft vorweg für sich ab und läßt den Gewährsmann hinterher auftreten. Zweitens: Angenommen auch — eine Annahme, die von der Wirk lichkeit weit abliegt! — wir hätten die aristotelische Poetik vollständig und
in gutem Zustande vor uns, so würde doch immer ein bedeutendes Stück rein exegetischer Vorarbeit vorab zu leisten sein, um den Gedankengehalt aus der antiken und specifisch-aristotelischen Schale herauszulösen und in
moderner und unsern Anforderungen an Systematik entsprechender Form
darzustellen.
Als antike ist die aristotelische Poetik bei allem principiellen
Wahrheitsgehalt primitiv und ungelenk, mir einer unentwickelten Psycho logie arbeitend, nothwendiger psychologischer Begriffe, wie z. B. Gefühl,
entbehrend, ferner auf einer immerhin einseitigen und beschränkten natio nalen Litteratur beruhend.
Als specifisch-aristotelische verfährt sie,
wie
schon das Erhaltene deutlich zeigt, nach der bei Aristoteles überhaupt vor
herrschenden Weise nicht synthetisch, das Princip nachweisend und daraus ableitend, sondern bleibt überall in der Analyse der Erscheinungen stecken.
Auch im denkbar günstigsten Falle der vollständigen Erhaltung würde ;. B. das
oberste Princip
der ästhetischen Lustwirkung, das Prinzip der Lust
auS der Erregung seelischer Functionen, voraussichtlich ganz ebenso aus
der Nikomachischen Ethik herzuholen sein, wie es bei der thatsächlich vor
liegenden verstümmelten Erhaltung erforderlich ist und in anerkennenswerther Weise bei Baumgart (S. 149f.) geschieht. Drittens aber liegt nun in Wirklichkeit die aristotelische Lehre in so
unvollständiger Form vor, daß ein fachmäßiges Studium dazu gehört, sich über die Grundzüge eine Ansicht zu bilden und aus Schritt und Tritt ein gewaltiger Apparat von Beweismaterial in Bewegung gesetzt werden muß, um die gewonnene Ansicht über die Meinung deö Aristoteles zu rechtfer tigen und gegen die abweichenden Ansichten zu vertheidigen.
Durch diese
Nothwendigkeit wird denn auch der Charakter deS Baumgart'schen Buches wesentlich bestimmt: bei aller Beschränkung auf daS Wesentlichste und trotz
der vielfachen Verweisungen auf die Begründung exegetischer Punkte in
seinen früheren Arbeiten besteht ein erheblicher Theil desselben auS exege tischer Vorarbeit.
Und selbst so wird der Leser nicht überzeugt oder viel
mehr, er erhält, wenn er Laie auf dem Gebiete der aristotelischen Kunst
lehre ist, die Ueberzeugung, daß hier lauter streitige Fragen vorliegen; ist er Fachmann, wird er zum Widerspruche gegen unhaltbare Auffassungen
Neue Schriften zur Poetik und zur Lehre vom Schönen überhaupt.
354
aufgefordert. Hierher gehört die bereits besprochene falsche Fassung der Katharsis als Klärung und die damit zusammenhängende Verwendung der
selben zur Bezeichnung der gesummten Kunstwirkung; dahin gehört ferner
auf den Baumgart
der künstliche Unterschied zwischen itdöo? und
sich selbst gegenüber einer von einem Kenner wie Bonitz dieser Frage ge widmeten Specialuntersuchung nach wie vor steift.
Das Resultat deS
ganzen Unternehmens einer Poetik auf aristotelischer Grundlage ist: wir erhalten einen nach eigenen vorgefaßten Meinungen,
die wir
solche nicht gutheißen können, gemodelten Aristoteles
und
auch als
können also
weder der Exegese, noch dem System bcistimmen. Zu diesen auf der Grundanlage beruhenden Mißständen kommt nun
noch eine weitere Eigenthümlichkeit deS Buches hinzu, die ihm einestheilS
Werth und Interesse giebt, anderntheilS aber doch auch wieder eine ge
wisse Schwerfälligkeit und Ungefügigkeit zur Folge hat, nämlich die Hin einarbeitung eines ungeheuren Materials aus den modernen und antiken
Litteraturen
behufs Bestätigung der aufgestellten Sätze.
Dasselbe tritt
bald in der Form der bloßen Hindeutung, bald als mehr oder minder
ausführliches Citat, bald als JnhaltSanalyse oder Deutung unter neuen Gesichtspunkten auf.
Hier findet sich im Einzelnen manches sehr Geist
volle und BeachtenSwerthe, als Ganzes wirkt dieser Stoff als eine Reihe
von retardirenden Momenten innerhalb eines Gedankenfortschrittes, der
ohnedies schon ein an sich
schwieriger und künstlich erschwerter ist und
weiterer Hemmnisse füglich entrathen kann.
So haben wir also hier eine sehr stosfreiche Arbeit vor uns, die
als Ganzes, als System der Poetik, dem Grundgedanken der Gefühls
klärung als wesentlicher Kunstwirkung wie der Ableitung auS Aristoteles nach, als wesentlich verfehlt bezeichnet werven muß, int Einzelnen aber manches Werlhvolle und Schätzbare bietet. —
Richt so
leicht,
wie die beiden
anderen
Arbeiten,
läßt sich die
Scherer'sche Poetik der Grundrichtung und wesentlichen Eigenthümlich keit nach rubriciren, zumal es dem Verfasser nicht völlig gelungen ist, für
daS
Eigettartige seiner
zu finden.
Arbeit eine durchaus
zutreffende Formulirung
Sie erscheint zunächst, ganz äußerlich betrachtet, als eine Poetik
vom Standpunkte der deutschen Philologie und Litteraturgeschichte (S. 66).
auS
Warum aber unternimmt der Litterator eine solche Arbeit? Er
bedarf für die litterarische Schilderung und Kritik, wenn dieselbe nicht
haltlos, trivial und monoton werden soll, eines gewissen VorrathS von
ästhetischen Begriffen (S. 61 f.). Unentbehrlichkeit eines
Historiker!
festen
Hier das bedeutsame Zugeständniß der
systematischen Standpunktes
auch für den
Die vorhandene Aesthetik ferner erscheint ihm nicht geeignet,
Neue Schriften zur Poetik und zur Lehre vom Schönen überhaupt.
diesen Bedarf zu decken;
355
sie ist durch ihre speculative Richtung mit der
Litteraturgeschichte und Philologie stark außer Contakt gekommen (ebenda selbst).
Hier das beschämende Verdikt des Praktikers über die Unbrauch
barkeit der philosophischen Leistungen!
Er macht sich also selbst an die
Arbeit, um das seinem Bedürfnisse dienende zu schaffen. Wie muß nun diese Poetik beschaffen sein?
gesetzgebend sein.
forscher genug (S. 43).
einräumen.
Sie soll vor Allem nicht
Aristoteles z. B. ist zu sehr Gesetzgeber, nicht Natur Wir können diese Forderung in gewissem Sinne
Für den schaffenden Künstler kann es keine ästhetische Gesetz
gebung in der Ausdehnung geben, in der die Aesthetik des französischen
Regelzwanges eine solche in Anspruch nahm.
In gewissem Maße zwar
ist auch für den Künstler der bewußt erkannte und erwogene Zweck ein Gesetz
der Gestaltung;
aber werden
sehr große Gebiete der künstlerischen Thätigkeit
immer der Spielraum
Genius bleiben.
für das
unbewußte Schaffen des
Erwägen wir aber, daß Scherer dem Gesetzgeber den
Naturforscher gegenüberstellt, bemerken wir ferner, daß er die von ihm intendirte Poetik eine empirische (S. 42), noch deutlicher eine beschreibende
nennt (S. 64), nehmen wir wahr, daß er lediglich als Statistiker die ge-
sammte Mannigfaltigkeit der Erscheinungen zu registriren bemüht ist, so
wird unS deutlich, daß das Verbot des Gesetzgebens sich in seinem Sinne nicht nur auf den schaffenden Künstler bezieht, sondern die Negation einer
maßgebenden Norm überhaupt, auch für den Beurtheiler einschließt.
Da
mit ist aber wieder ein viel zu weitgehendes Princip aufgestellt, das wieder die doch auch von Scherer selbst geforderte Brauchbarkeit der Poetik zur
litterarischen Kritik ausschließt.
Scherer selbst tritt, wie wir sehen werden,
im Verlaufe vielfach als ästhetischer Gesetzgeber auf; schon jene denkbar
vagste Regel: Jedes Genre ist gut außer dem langweiligen enthält ein gesetzgeberisches Prinzip, das von der als Zweck gesetzten Wirkung aus Anforderungen an die Beschaffenheit des Litteraturproduktes stellt.
Wir
brauchen die in diesem vagen Satze indirekt geforderte Wirkung nur zu
vertiefen, so ergeben sich bald Wesensbestimmungen, Begriffe, und aus den
Begriffen Regeln in genügender Fülle. Das Charakteristische der Schrift scheint mir hiernach in dem Be streben zu bestehen,
die historisch-registrirende Methode auf das Gebiet
der systematischen Wissenschaft, die es doch nun einmal mit den über den einzelnen Erscheinungen schwebenden begrifflichen Bestimmungen, mit dem
sokratischen xi gxottrcov £er Ueber« tragung seiner Methode auf ein Gebiet, auf dem sie nicht praktikabel ist.
Wer den Dom zu Köln oder einen Königspalast verstehen will, soll nicht
mit dem germanischen Opferstein oder der Höhle des Troglodhten beginnen. Der Historiker ferner muß seinen Blick schärfen auch für das Menschliche
im niederen Sinne des Wortes, die rohen, urmenschlichen, sinnlich-egoisti schen Instinctc, die für den geschichtlichen Verlauf vielfach ausschlaggebend sind.
Wenn aber Scherer von dieser empirisch gewiß nicht wegzuleugnen
den Seite der menschlichen Natur einen überreichlichen Gebrauch macht, um Wesen und Wirkung der Poesie zu erklären, so zeigt sich auch darin
wieder das Uebergreifen der historischen Methode auf ein Gebiet, aus dem sie nicht zureicht. Nach diesem Versuch, die allgemeine Grundrichtung der Schrift zu charakterisiren, gehe ich dazu über, den Inhalt etwas eingehender, als bei
den anderen Schriften geschehen, zu skizziren.
Bei dem mäßigen Umfange
der Schrift ist dies ein ausführbares Unternehmen, bei der Bedeutung des Autors und der Frische und Originalität der Gedankenentwicklung ist es
geboten und lohnend. Nach der Vorbemerkung deS Herausgebers, des Privatdocenten R.
M. Meyer an der Berliner Universität, hat sich Scherer in den letzten acht Jahren seines Lebens mit der Poetik beschäftigt und diese war in
seinen letzten Jahren seine Lieblingsarbeit.
Die vorliegende Schrift ist
eine im Wesentlichen wortgetreue Reproduktion des vierstündigen Privatcollegs über Poetik, das er im Sommer 1885 gehalten hat.
Und zwar
hat diese Reproduktion nicht, wie so manche postume Borlesungspublikation
aus nachgeschriebenen Heften, nur die Authentie des mündlichen VortragS,
deS momentanen, improvisirten Ergusses, sondern größtentheilS die der eigenen schriftlichen Fixirung.
Außer sorgfältigen Nachschriften stand ein
ausgearbeitetes Heft zur Verfügung, von dem in großen Partien im Vor trage fast gar nicht abgewichen worden war.
Auch hat Scherer selbst vor
seinem Tode die Veröffentlichung der Poetik angeordnet und damit die
vorliegende Publikation als etwas anerkannt, das nicht ein bloßer erster Wurf und Versuch ist, sondern in gewissem Maße einen Abschluß er
reicht hat.
Die offenbar höchst sorgfältige Thätigkeit deS Redaktors betreffend,
so möchte ich nur auf zwei kleine Curiosa aufmerksam machen.
Das erste
ist vielleicht ein Druckfehler, möglicherweise auch ein Lesefehler der Redak tion.
S. 45 werden als die ältesten Verfasser von Rhetoriken Horaz und
TisiaS aufgeführt; offenbar ist Korax, der sicilische College des Tisias,
Neue Schriften zur Poetik und zur Lehre vom Schönen überhaupt.
gemeint.
Das zweite ist vielleicht
357
ein lapsus memoriae deS Autors,
dessen stillschweigende Beseitigung die Aulhentie nicht beeinträchtigt haben würde.
S. 109 wird die Definition der Tragödie ins vierzehnte Capitel
der aristotelischen Poetik verlegt, während sie sich thatsächlich im sechsten findet.
Für das kurze Vorwort des Autors ist charakteristisch die gegen die Definition gerichtete Absage.
Er scheut sich vor Definitionen, weil damit
zuviel Unwesen getrieben worden ist.
Er hofft ohne Definitionen oder
auch mit Definitionen, die im Sinne der strengen Logik recht unvollkommen
sind, deutlich zu werden. DaS einleitende Kapitel giebt eine Begrenzung des Gegenstandes,
dessen Theorie die Poetik ist, der Poesie, ferner eine Skizze der Geschichte der Disciplin, endlich die vom Autor selbst intendirte Behandlungsweise.
Für die Abgrenzung der Poesie ist ihm der richtunggebende Begriff
nicht, wie man erwarten möchte, die Kunst, sondern die kunstmäßige An wendung der Sprache d. h. die Litteratur im weitesten Sinne.
Dieses
Verfahren ist sehr charakteristisch und von großer Tragweite; Scherer begiebt sich damit, daß er die Poesie nicht unter den Begriff der Kunst sub-
sumirt, ter Möglichkeit, ihr wahres Wesen zu begreifen.
Auch die roheste
und primitivste Poesie hat in der Fähigkeit, durch das der Kunst eigen thümliche Mittel, Darstellung von Gefühlen, Gefühlsausdrücken, Gefühls
ursachen, die der Kunst eigenthümliche Wirkung, Erregung der entsprechen den Gefühle, hervorzubringen, ein Element von Kunst in sich und nur durch diesen ihren Kunstcharakter und Kunstzwcck ist ihre Abgrenzung auch gegen
die übrigen Lilteraturgebiete möglich. Wird dieses Unterscheidungsmerkmal bei Seile gelassen, so bleiben nur Aeußerlichkeiten übrig.
So finden wir
denn den Satz: „nicht alle kunstmäßige Anwendung der Sprache ist Poesie"
zunächst dahin näher bestimmt, daß als Poesie alleö gelten soll, was in gebundener Rede auftritt, auch wenn es nur gereimte Prosa ist (S. 16 f.).
Dies ist aber doch nur ein ganz äußerliches Merkmal.
Er selbst führt
an, daß die Gesetze ursprünglich in Versen ausgeschrieben wurden und weist auf die bis ins 16. Jahrhundert vorkommenden Reimchroniken als Vor stufe der Geschichtschreibung hin (S. 23f.).
Wurden denn diese Dinge
durch die Abfassung in gebundener Rede zur Poesie?
Und wie ist es mit
den gereimten Genusregeln und den Anpreisungen der goldenen Hundert
zehn?
Daß das echte Lehrgedicht zur Poesie zu rechnen ist, geben wir
Scherer gegen Aristoteles selbstverständlich zu, aber nicht, weil es in Versen
geschrieben ist, sondern weil eS Gefühlsausdruck ist und Gefühlswirkung hat; eS gehört zur Lyrik.
Die Bereicherung deS Gebietes der Poesie durch
die gereimte Prosa, bloß weil eS ihrem Urheber in den Kopf gekommen
358
Neue Schriften zur Poetik und zur Lehre vom Schönen überhaupt.
ist, seine Gedanken in Verse zn setzen, kann doch unmöglich ernst genom
men werden.
Auch der Umstand, daß rein genetisch betrachtet der Rhyth
mus der gebundenen Rede muthmaßlich vom Tanzliede, also einem unzwei felhaft poetischen Erzeugnisse stammt (S. 12),
kann eine so äußerliche
Grenzbestimmung nicht rechtfertigen.
Aber es giebt auch Poesie in ungebundener Rede.
Was von dieser
hineinzuziehen, erscheint ihm eineStheilS als „mehr oder weniger willkür lich", anderntheils als „die schwierigste Frage".
In dieser Verlegenheit
muß denn doch der Begriff der künstlerischen Wirkung, wenn auch nur in unbestimmtester Fassung, aushelfen.
„Was ohne Anspruch auf künstlerische
Wirkung, auf Anregung der Phantasie ist, daS ist ausgeschlossen" (S. 30f.).
Die schließliche Formulirung auf S. 32 läßt jedoch diese Bezugnahme
wieder fallen: „Die Poetik ist vorzugsweise die Lehre von der gebundenen
Rede; anßerdem aber von einigen Anwendungen der ungebundenen, welche mit den Anwendungen der gebundenen in naher Verwandtschaft stehen." Aber die kunstmäßig angewandte Sprache ist ihm nicht einfach der Gattungsbegriff, zu dem sich die Poesie als Species verhält, die Poesie
greift in anderer Richtung wieder über diesen Gattungsbegriff hinaus.
„Nicht alle Poesie ist kunstmäßige Anwendung der Sprache."
Auch hier
ist wieder einestheils der historisch-genetische, anderentheils der rein em pirische Gesichtspunkt maßgebend.
Weil schon in primitiven Formen die
Poesie als gesungene vorkommt, weil in der Oper Musik, in Recitation und Schauspiel Mimik Hinzutritt, wird dies alles zur Poesie gerechnet. Ja sogar das mimische Ballet gehört zur Poesie (S. 2ff.).
die Function der
Hier fehlt
begrifflichen Jsolirung nach dem Ausdrucksmittel der
Sprache, die Unterscheidung von einfachen und zusammengesetzten, herrschen
den und dienenden Künsten. Den zweiten Punkt der Einleitung bildet eine Geschichte der Poetik
im Umriß.
Als Hülfsmittel für diese Historiographie erscheint ihm die
Zimmermann'sche Geschichte der Aesthetik mit Recht als unzulänglich, die Schasler'sche gesteht er nicht zu kennen, aus Ed. Müller'S Geschichte
der Theorie der Kunst bei den Alten „ist immerhin Einiges zu gewinnen", Lotze's Geschichte der Aesthetik in Deutschland „ist nicht sehr historisch und nicht sehr eingehend" (S. 34f.).
Von den antiken Poetikern berücksichtigt er vornehmlich Aristoteles
und Horaz.
Für Aristoteles erhalten wir eine flüchtige Inhaltsangabe.
Scherer
findet, daß Aristoteles in der Poetik nicht sehr systematisch vorgeht.
Dies
ist in sofern richtig, als die aristotelische Poetik ganz äußerlich analytisch
zu Werke geht.
Leider ist es trotz der massenhaften, diese Schrift um-
Neue Schriften zur Poetik und zur Lehre vom Schönen überhaupt.
359
wuchernden Litteratur, vielleicht auch theilweise wegen derselben, für den
Laien fast unmöglich, den innerlich vorhandenen synthetischen Zusammen hang der aristotelischen Gedanken zu erfassen.
Diese Sachlage kann im
vorliegenden Falle nicht genug bedauert werden.
Es steht zu vermuthen,
daß die aristotelische Lehre von Wirkung und Wesen der Kunst Scherer sympathisch und congenial gewesen wäre und ihm vielleicht das geboten
hätte, waS er bei den übrigen Aesthetikern nicht gefunden hat.
So wie Vie Sache steht, greift er an vielen Stellen auf Aristoteles zurück, aber meist nur in Aeußerlichkeit und theilweise ungenau.
Z. B. be
hauptet er mehrfach, die Poesie sei für Aristoteles Nachahmung handelnder
Personen oder Darstellung von Charakteren und dies sei der Grund, daß Aristoteles das Lehrgedicht von der Poesie ausschließt (S. 17. 38. 73). Thatsächlich ist aber nach Aristoteles die Poesie Nachahmung von Gefühlen,
Stimmungen und Handlungen oder Vorgängen (Cap. 1, 1447, 27) und er schließt das Lehrgedicht deshalb aus, weil er eS nicht für Nachahmung
in diesem Sinne hält.
Daß sich diese Einseitigkeit leicht beseitigen läßt,
ist oben schon angedeutet. zeichnung des Wesens der
Jedenfalls aber steht diese aristotelische Be
Poesie der
Wahrheit viel näher, als
die
Scherer'sche Gebietsabgrenzung, und die Bemerkung, die Aristoteles in
demselben Zusammenhänge macht, daß die Menschen fälschlich den Begriff
der Dichtung an den Gebrauch deö Metrums knüpften und daher die Be nennung alS Dichter nicht auf die Nachahmung im obigen Sinne, sondern auf die Anwendung des Metrums gründeten, trifft direkt den Hauptpunkt der Scherer'schen Grenzbestimmung.
Im Uebrigen ist ihm die aristotelische Poetik „ein außerordentliches Werk, zum Theil von ewigem Gehalt" (S. 42) und Aristoteles ist der
einzige Aesthetiker, mit dem er sich principiell auseinandersetzt.
Er ist ihm,
wie schon bemerkt, zu sehr Gesetzgeber und nicht genug Naturforscher.
Horaz und die auf Aristoteles und Horaz beruhenden Poetiker der Renaissance werden nur äußerlich charakterisirt.
Die deutsche Aesthe
tik auf metaphysischer Grundlage seit Baumgarten und Kant scheint
ihm eher in die Geschichte der Philosophie zu gehören; er ist überzeugt, daß die philosophischen Untersuchungen über „„das Schöne"" die Poetik
wenig gefördert haben" (S. 56).
Auch Batteux,
Künste auf ein Princip zurückführte", wird nur
„der
alle
schönen
gestreift; eine solche
Systematik erscheint ihm überhaupt erst als Krönung des Gebäudes nütz lich, wenn man sich über die einzelnen Künste klar ist.
er über Diderot,
der ihm folgte.
„der Einzelbeobachtungen gab"
Günstiger urtheilt
und über Lessing,
„Nur Empiriker wie Lessing fördern" (S. 57).
Herder, Goethe und Schiller werden nur flüchtig
berührt;
Auch
ebenso
Neue Schriften zur Poetik und zur Lehre vom Schönen überhaupt.
360
Diejenigen Forscher scheinen
Hegel, Bischer und Curriere (S. 58f.).
ihm auf dem Gebiet der Aesthetik am fruchtbarsten gewesen zu sein, die nicht auf ein System der Künste ausgingen, sondern einzelne Probleme
ins-Auge faßten.
In diesem Sinne soll Helmholtz, der doch ganz auf
dem Gebiete der Sinnesreize stehen bleibt, die Aesthetik besonders berei chert haben, während ihm
sogar die Ansätze zu einer rein empirischen
Aesthetik bei Fechner, weil er „von vorn herein das Schöne auf alleu
Kunstgebieten aufsucht", durch Verrückung
der Gesichtspunkte gefährlich
Die Aufgabe der Aesthetik beginnt ihm erst dann,
erscheint (S. 60 f.).
wenn Alles von unten aus aufgeführt ist (S. 61).
Das ist der abstrakt
induktive Standpunkt eines Baco, aber nicht der der wahren wissenschaft
lichen Induktion.
Diese fängt nicht mit nichts an, sondern tritt mit be
stimmten Voraussetzungen an die Erscheinungen heran, Voraussetzungen, bei denen eS sich alSdann fragt, ob sie sich an der Wirklichkeit bewähren. So ist eS gekommen, daß sich die Litteraturgeschichte und Philologie der Aesthetik entfremdet hat, während sie doch der Hülfe derselben, z. B.
zur Charakteristik eines bestimmten Dichters
oder Gedichtes, bedurfte.
Seit einiger Zeit führen Fragen über den Stil bestimmter Dichter immer mehr zu ihr zurück.
Eine die Philologie befriedigende Aesthetik erscheint
Die von W. Wackernagel in dieser
als ein aussichtsvolles Unternehmen.
Richtung
unternommene
„Poetik,
Rhetorik
und Stilistik" (1873)
ent
spricht freilich dem Bedürfniß nicht; der gedankliche Theil ist zu schwach
(S. 61 ff.).
Dies führt zur Fipirung der Aufgabe.
Die frühere Poetik wollte
die wahre Poesie suchen; ihre Kategorieen waren gut und schlecht.
Aufgabe hat sich als unlösbar erwiesen. skriptiven Poetik bildet ihm Schiller. und sentimentalen Stils,
der sich
Diese
Den Uebergang zur rein de
Mit der Unterscheidung des naiven später andere Stilunterschiede, wie
klassisch und romantisch, anschlossen, hat er den Weg einer gleichberechtigten Nebeneinanderstellung verschiedener Stilgattungen betreten.
Aber auch dies
genügt nicht; es handelt sich um eine vollständige Beschreibung der vor
handenen, vielleicht auch der bloß möglichen Formen dichterischer Produk tion,
um
eine philologische Poetik,
die der früheren gerade so gegen
übersteht, wie die historische und vergleichende Grammatik seit Jak. Grimm
der gesetzgebenden Grammatik vor Jak. Grimm (S. 62—66).
Auf den
schwierigen Begriff des Stils, der hier nur als Schwungbrett zum Ueber gang dient, gehe ich hier nicht ein; die Parallele der historischen Gram
matik ist nicht recht zutreffend, da diese weniger der Poetik als der Litte
raturgeschichte
entspricht.
Freilich ist auch eine so
excessiv
descriptive
Poetik, wie sie hier geplant wird, im Grunde nur Litteraturgeschichte in
361
Neue Schriften zur Poetik und zur Lehre vom Schönen Überhaupt.
etwas anderer Anordnung, etwa nach Gattungen.
Eine wirkliche Poetik
wird der Kategorieen gut und schlecht, d. h. dem Wesen und Zweck ent
sprechend oder nicht entsprechend, ebensowenig entbehren können wie der grundlegenden Bestimmungen
über
Wesen
und Zweck selbst;
sonst ist
sie selbst wesen-, zweck- und haltlos und sinkt in die Litteraturgeschichte
zurück.
Die Angabe der Anordnung beschließt dies einleitende Kapitel.
Ge
treu seiner genetisch-historischen Grundrichtung will er nicht mit dem dich
terischen Produkt und seiner Wirkung, sondern mit dem Vorgänge der dichterischen Produktion beginnen; die Reihenfolge der Abschnitte ist: der Hergang, das Ergebniß, die Wirkung.
Eine philosophische Behandlungs
weise würde die umgekehrte Anordnung befolgen. Thatsächlich ist eigentlich nur der erste dieser drei Abschnitte zur Aus
führung gelangt; alles Besprochene steht unter dem Gesichtspunkte einer Erklärung der dichterischen Produktion, den beiden anderen Abschnitten ist keine selbständige Behandlung zu Theil geworden.
Den „Hergang" betreffend, giebt eS zunächst allerlei allgemeinere Be dingungen des Ursprungs und Lebens der Poesie; vornehmlich ist sie ab hängig „von der Beschaffenheit der Geister, aus denen sie fließt und der
Geister, in welche sie eingehen soll".
Wegen der überwiegenden Bedeutung,
die dieses Wechselverhältniß zwischen Dichter und Publikum unter diesen allgemeinen Bedingungen in Anspruch nimmt, erhält daS von Letzteren
handelnde zweite Kapitel a parte potiori
die Ueberschrift „Dichter und
Publikum" (S. 72). Jnuerhalb dieses Kapitels wird, entsprechend der ganzen genetischen Gedankenrichtung, zuerst der Ursprung der Poesie überhaupt untersucht.
Ich kann diese Anordnung nicht für die richtige halten.
Erst mußte doch
wohl das Wesen der Sache selbst auf Grund ihres Vollendungszustandes
festgcstellt sein, ehe die primitiven Keimformen als solche erkannt,
der
genetische Faden mit Sicherheit rückwärts verfolgt und die Continuität in unbestreitbarer Weise nachgewiesen werden kann.
Erst mußte ferner dar
gelegt sein, was die Poesie unS ist, welchen Werth sie für unser Gei stesleben hat, ehe eS ein Interesse haben kann, die dürftigen Ansätze eines
so Großen und Herrlichen in primitiven Culturzuständen von der Grenze
deS Thierischen aufwärts zu verfolgen und mit Theilnahme zu betrachten. Scherer glaubt diese Anfänge schon vor der Entstehung der Sprache
nachweisen zu können (S. 82).
gefühlS: Springen,
Es sind Ausdrucksformen erhöhten LebenS-
Jubilircn, Lachen,
letzteres
beim
Urmenschen
Wilven lediglich Ausdruck der Freude überhaupt (S. 81).
sich bei diesen primitiven Formen Preußische Jahrbücher. 33b. LXIL Heft 4.
und
Es handelt
immer um ein Vergnügen (S. 87). 24
Nene Schriften zur Poetik und zur Lehre vom Schönen Überhaupt.
362
Ein Hauptgegenstand ist das Vorgefühl erotischer
Befriedigung.
Er
recurrirl hier auf ein australisches Tanzlied obscönen Inhalts,/ über das
in der Reise der Fregatte Novara berichtet wird (S. 83, 10); damit zu sammenhängend
auf den Lockruf deS männlichen Individuums (S. 84,
89f.); überhaupt waren es erotische Erregungen, die zur ältesten Poesie
führten, denn das erotische Gefühl ist das stärkste angenehme Gefühl des
primitiven Menschen (S. 93).
Andere angenehme Vorstellungen primi
tiver Art sind u. A. „Macht, Reichthum, große Körperkraft, siegreiche Be thätigung, erfolgreiches Wirken, sei es durch List, sei eS durch Stärke"
(S. 94).
Der Impuls ist ihm hier daS individuelle Ausdrucksbedürfniß, aber das Individuum darf nicht ifolirt gedacht werden, eS befindet sich stets
in Beziehung zu einer verständnißvollcn Umgebung; das Bedürfniß des Ausdrucks ist zugleich Bedürfniß der Mittheilung. in engster Wechselwirkung
Der „Dichter" steht
applaudirenden und
mit dem
cooperirenden
Publikum; diese- Wechselverhältniß erweist sich auf dieser Stufe als das Haupt- und Grundverhältniß für die Entstehung der Poesie. Dies hat ja für die primitive Stufe, wo daS Individuum in seinem
Innenleben noch wenig losgelöst von der Gesellschaft, nur Exemplar der Gattung ist und wo auch äußerlich schon das Zusammenleben der StammeSgenossen ein viel vollständigeres ist, als in civilisirten Verhältnissen, seine unzweifelhafte Berechtigung.
Aber
gerade bei diesem Verhältniß
zeigt sich auch der himmelweite Unterschied zwischen dem Seelenleben Dar
winscher Urmenschen oder Wilder und dem individualisirten, in sich ge
schlossenen Geistesleben dichterischer Naturen auf hohen Culturstufen.
AuS
diesen redet nicht mehr die noch nicht differenzirte Volksseele, sondern ganz individuelle Scelenzustände bilden hier das eigentliche Motiv der poetischen Bethätigung.
Schon das lyrische oder balladenartige Volkslied und nickt
minder das homerische EpoS trägt den Charakter der Aussprache eines
individuell Jnterefsirenden; der dichterische Impuls ist beim echten Dichter
frei vom Schielen nach dem Beifall des Publikums, er entspringt aus schließlich aus dem
Ausdrucksbedürfniß; „das Lied, das aus der Kehle
dringt, Ist Lohn, der reichlich lohnet". Begreiflich bei dem bis dahin gewonnenen Resultat der genetischen Ableitung, aber auch in hohem Grade bezeichnend ist eS, daß dem Ver
fasser die Frage als eine ganz besonders schwierige erscheint, wie daS
Unangenehme in der Poesie angenehm werden kann (S. 95). Der Redak tor bemerkt zu dieser Stelle auf Grund der ihm vorliegenden, von Scherer zurückgelegten früheren Aufzeichnungen: „Kein einzelner Punkt deS College
scheint Scherer so viele Mühe gemacht zu haben wie dieser" (S. 292).
Neue Schriften zur Poetik und zur Lehre vom Schönen überhaupt.
363
Zur Lösung wird hier eine Menge meist sehr realistischer Gesichts
punkte vorgcführt.
Von Seiten des Producirenden: Ausgesprochener und
mitgetheilter Schmerz ist halber Schmerz (warum?), die schaffende Func
tion wirkt ableitend, man münzt den Schmerz aus,
um Theilnahme zu
erwecken, man kommt sich wichtig vor u. dgl. (S. 97ff.).
Schwieriger wird die Frage von Seiten des Genießenden.
werden zunächst allerlei dem niedrigsten Niveau
angehörige Gesichtspunkte hervorgehoben.
Hier
menschlicher Interessen
Das doch schon von Aristoteles
und Schiller geltend gemachte so einfache nnd doch so einleuchtende Mo
ment des Erregungsbedürfnisses
tritt erst zuletzt auf (S. 106 ff.).
In
diesem Zusammenhänge finden wir eine Zustimmung zur BernayS'schen Katharsiserklärung (S. 109).
Scherer findet für dieselbe den Ausdruck:
„Freude an der Uebung der Affekte."
Im Allgemeinen will er die Freude am Schmerzlichen nur für eine höhere Culturstufe gelten lassen (S. 102, 113). Der zweite Abschnitt dieses Kapitels handelt vom Werth der Poesie
als Stimulus zu ihrer Hervorbringung. Tauschwerth
Dieser Werth ist zunächst ein
im Sinne der Nationalökonomie, d. h. ein Inbegriff von
realen, ja materiellen Vortheilen, die sie ihrem Urheber einbringt.
Die
Poesie ist schon in alter Zeit eine Art von Waare, deren Werth sich nach Angebot und Nachfrage richtet (S. 121).
pitel vom
So erhalten wir hier ein Ka
litterarischen Erfolg, in dem u. A. von Honoraren, Theater
direktoren, Schauspielern, Kritikern, Leihbibliotheken, Sortimentern und
dem Institut der Weihnachtsbücher als Vehikeln dieses Erfolges gehan
delt wird. Dem nationalökonomischen Begriffe des Tauschwerthes steht gegen
über der deS Gebrauchswerthes.
Einen solchen haben Sonne und Luft,
die nicht verkauft werden können.
Für die Poesie wird diesem Begriffe
der deS idealen Werthes substituirt.
Antrieb zur Hervorbringung.
Auch dieser ist, wenn vorhanden, ein
„Wie weil ist denn nun die Poesie ein
solches allgemeines Gut der Menschheit?" (S. 137).
Scherer giebt der
Antwort sofort eine Wendung, durch die eine sachgemäße Lösung von vorn
herein ausgeschlossen wird; er findet das Hauptbeispiel für das Wirken der Poesie in ihrer Wirksamkeit für die Sittlichkeit (S. 138 f.).
Der dritte Abschnitt des Kapitels behandelt
die im Dichter selbst
liegenden, die persönlichen Bedingungen der Produktion.
Wir erhalten
hier zunächst sehr äußerliche Erörterungen, z. B. Betheiligung Mehrerer
an demselben Werke,
unterbrochenes
und
anhaltendes
Arbeiten.
Der
Passus „die schaffenden Seelenkräfte" bespricht ausschließlich die Phantasie und schon damit ist ausgesprochen, daß hier ebensowenig wie im Abschnitte 24*
Neue Schriften zur Poetik und zur Lehre vom Schönen überhaupt.
364
vom Ursprünge der Poesie die eigentlich treibende Kraft der künstlerischen Produktion,
das Ausdrucksbedürfniß,
eine tiefere Würdigung
erfährt.
Ebenso fällt hier kein Licht weder auf den Unterschied der beiden Fälle, wo der eigene Gefühlszustand unmittelbar den Stoff der Darstellung bil
det, oder ein von außen her aufgenommener Stoff dem eigenen Zustande angepaßt wird, auf welchem Unterschiede der Gegensatz des Lyrischen und
des Episch-Dramatischen beruht, Erhebung
deS
noch auf den dichterischen Proceß der
individuellen Zustandes
in
die Sphäre der Allgemein
gültigkeit. Die Thatsache deS Zusammenhanges der Phantasiekrafl mit körper
lichen Beschaffenheiten führt auf die Frage der Verwandtschaft von Genie Er hält dieselbe insoweit für erwiesen, daß er die Hoff
und Wahnsinn.
nung ausspricht, die fortschreitende Erkenntniß der körperlichen Disposi
tionen, auf denen Irrsinn beruht, werde auch zu fortschreitender Erkennt niß der körperlichen Dispositionen führen, auf denen künstlerische Genialität beruht (S. 175).
Großentheils
in Aeußerlichkeiten hinein
führt dann
wieder der Passus, der die Verschiedenheiten der Dichter nach Lebens
lage, Bildungsgrad, Grundstimmung u. dgl. als Factoren der Produktion behandelt (S. 177 ff.). Der letzte Abschnitt deS Kapitels handelt vom Publikum als Factor
der Produktion.
Wir finden hier einen PassuS überschrieben „die genießen
den Seelenkräfte".
Hier erwarten wir etwas über die specifische Wirkung
der Poesie zu hören.
Erregt wird aber nach Scherer nur die Phantasie
und das Urtheilsvermögen (S. 189f.); das aristotelische yqvea&at aop.-
Tta&etc, die specifische Lustwirkung (otzsi'a tjoovV;) aus der Erregung der Gefühle bis zum völligen SichauSleben der Gefühlszustände bleibt unbe
rücksichtigt.
Auch die
anderen
in diesem Kapitel
besprochenen
Punkte
kommen nicht über den äußerlichen Gegensatz des Gefallens oder Nichtge-
fallenS hinaus.
Nachdem so die dichterische Produktion nach ihrer allgemeinen Be stimmtheit durch innere und äußere Triebfedern geschildert ist, gehen die
folgenden Kapitel, immer noch unter dem gleichen Gesichtspunkte des dich terischen Schaffens, ins Detail.
Es wird gehandelt von den Stoffen, der
„inneren Form" als der specifischen Auffassung des Stoffes durch den Dichter, dem „unsichtbaren Quell,
auS dem die
(S. 203), endlich von der äußeren Form.
äußere Form fließt",
Stoff und innere Form bilden
die inventio, die äußere Form ist dispositio und elocutio.
DaS Stoffgebiet wird eingetheilt in die äußere und innere Well, ver als dritte die Welt der Phantasie und des WahnS sich anschließt, die nur
im Vorstellen Wirklichkeit hat, aber durch die Macht, die sie über die
365
Neue Schriften zur Poetik und zur Lehre Boni Schönen überhaupt.
Menschen übt, als eine Art des Wirklichen dasteht.
ES fehlt hier wieder
ein wichtiger Punkt, nämlich die Nachweisung, wie eS kommt, daß der ob jektive Stoff zum subjektiven, zum Stoff für den Dichter wird.
Das Ge
biet der Stoffe erscheint in vollster Unbegrenztheit; es ist einestheils „das selbe, wie das der Wissenschaft" (S. 208), anderntheils „das des mensch lichen Denkens und Thuns" (S. 213).
Die Poesie ist gemäß dieser Uni
versalität ihrer Stoffe eine Art von anschaulich individualisirter Welt- und Menschenkunde.
Die unendliche Mannigfaltigkeit dieser sich ganz äußer
lich zur dichterischen
Bearbeitung
darbietenden Stoffe wird S. 214ff.
exemplificirt an den Unterabtheilungen eines einzelnen Stoffgebiets, des Gebiets der Verhältnisse der Menschen untereinander. Wird ein einzelnes Motiv in derselben Richtung zu lange festgehalten, so wird die Aufmerksamkeit des Publikums auf eine zu harte Probe ge
stellt.
Deshalb
empfehlen
sich Conflikte.
Zum
Conflikt
gehört dann
wieder die Lösung, denn man will „den AuSgang wissen, daS Publikum kommt sonst nicht auf die Kosten seiner Spannung" (S. 216 f.).
Auch
hier beruht die dichterische Wirkung immer nur auf der intellektuellen Er regung!
Auch die Wahl der Charaktere und Handlungen als Bestand
theile des Stoffes ist ihm ausschließlich bestimmt durch das intellektuelle UnlerhaltungSbedürfniß des Publikums, von dessen Stimmung der Erfolg
des Dichters abhängt.
Freilich kann der Dichter auf ein höher und edler
geartetes, oder auf ein niedrigeres oder roheres Publikum rechnen.
du die Anerkennung der Edlen, so zeige dich edel" (S. 220).
„Willst
Je nach
der Bevorzugung der Stoffe ist der Dichter Idealist oder Realist (S. 228 f.),
immer aber rechnet er lediglich auf das Unterhaltun gSbedürfniß und die
Unterhaltungsfähigkeit eines ihm homogenen Publikums. So wenig wie beim Publikum wird auch beim Dichter selbst ein ge fühlsmäßiges Verhältniß zum Stoffe, eine Wahlverwandtschaft desselben
mit seinem inneren Erleben vorausgesetzt.
Dies zeigt das Kapitel „Innere
Für die individuelle Auffassung
deS Stoffes durch den Dichter
Form".
bieten sich nur die Kategorieen objektiv und subjektiv, je nachdem mehr
oder weniger vom auffassenden Individuum am Stoffe haften bleibt. Eine
Betrachtungsweise,
der die Stoffwahl
auf innerer Verwandtschaft des
Stoffes mit dem Gefühlszustande des Dichters, also in letzter Instanz auf
dem Ausdrucksbedürfniß beruht, hätte hier die Ausgestaltung des Stoffes
zur möglichst vollkommenen Gleichartigkeit mit dem eigenen Zustande, zur Tauglichkeit für eine poetische Beichte und HerzenSerleichtcrung im Goethe-
schen Sinne, in Betracht ziehen müssen. Bei der Lehre von der äußeren Form wird der bisher immer noch
festgehaltene Faden der Ableitung auS dem Princip der dichterischen Pro-
Neue Schriften zur Poetik und zur Lehre vom Schönen überhaupt.
366
duktion völlig fallen gelassen.
Es kommt nichts vor von den Motiven,
die den Dichter bestimmen, die eine oder die andere Darstelluzigsweise zu wählen; die Arten der Form werden einfach aufgezählt und nebeneinander
gestellt.
Charakteristisch ist hier der Abschnitt über die Dichtungsarten.
Eine auf dem Gefühle fußende Auffassung der Poesie wird keine Schwie
rigkeit darin finden, das Wesen des Lyrischen zu bestimmen, ja sie wird gerade den Gegensatz des Lyrischen als des die Gefühle selbst Ausvrücken-
dcn und des Episch-Dramatischen, in dem die Gefühlsursachen den ersten Platz einnchmen, an die Spitze stellen.
Eine Auffassung dagegen, der die
Poesie wesentlich nur kunstmäßige Rede in gebundener Sprache ist, hat zwar für den Unterschied des Epos und des Dramas die alte aristotelische
Bestimmung zur Verfügung, daß der Dichter im Epos hauptsächlich im
eigenen Namen vorträgt, im Drama ganz hinter seine Gestalten zurück tritt, für die Lyrik wird sie kein positives Merkmal rein sprachlicher Art
finden.
In der That ist dies genau der Fall Scherer'S.
„Schwierigkeit
macht hauptsächlich die Lyrik, für die eS nichts Einheitliches giebt, als daß
sie früher stets für den Gesang bestimmt war und im Ganzen auch heute noch immer sangbar gehalten wird" (S. 245).
Abgesehen von der Aeußer-
lichkeit dieses Merkmals, abgesehen davon, daß eS mit der Sprache als
dem eigentlichen Darstellungsmittel der Poesie nichts zu thun hat:
wo
bleibt bei der Anlehnung ter Lyrik an den Gesang das Lehrgedicht und
die verwandten kleineren Gattungen, Epigramm, Spruch u. dgl.?
Bei der Composition fehlt das Bewußtsein von der Bedeutung der
Einheit als oberster Forderung, die natürlich in der episch-dramatischen Gattung Einheit der Handlung ist.
Doppelhandlung und sogar Anein
anderreihung verschiedener Handlungen,
die nur durch die Einheit der
Person zusammengehallen werden, erscheint ihm als zulässig (S. 257) und
für das Drama scheint ihm die Einführung deS Helden, mit dessen Tode das Stück schließt, schon „als Baby" nur technische Schwierigkeiten zu
bereiten (S. 253).
An keinem Punkte tritt wohl der Rückgang hinter
Aristoteles schärfer hervor, als in dieser Verkennung der Bedeutung, die
der Einheit für das dichterische, wie für jede» Kunstwerk zukommt.
schroffem Gegensatz
In
gegen diese Vernachlässigung der Einheit wird auch
hier wieder aus bereits bekannten Gründen die der Abwechslung stark und
nachdrücklich urgirt. Diese Forderung der Abwechslung ist zugleich ein deutliches Beispiel
dafür, daß die Darstellung hier überall aus dem bloßen Beschreiben un
vermerkt in das verpönte Gesetzgeben in dem oben befürworteten Sinne
hineingeräth.
Wer ven Zweck will, muß auch die Mittel wollen.
Der
Scherer'sche Dichter will unterhalten, fesseln, Aufmerksamkeit und Span-
Neue Schriften zur Poetik und zur Lehre vom Schönen überhaupt.
367
nung erregen und wachhalten, ergo —. Von demselben Gesichtspunkte aus gestalten sich
auch
die
letzten Abschnitte über dichterische Sprache und
Metrik, von denen übrigens namentlich der letztere nur noch einige flüch
tige Bemerkungen bringt, zu Inbegriffen von Vorschriften und Regeln.
So zeigt cS sich an allen Punkten, daß die rein genetische Erklärung
unvermögend ist, zum Wesen der Sache vorzudringen.
Daß die Germa
nistik in einem so bedeutenden Vertreter, wie Scherer, und zwar offenbar vornehmlich durch ihre Vertiefung in die neuere Litteratur, der Poetik zu-
gesührt worden ist, ist ein vom Standpunkte der philosophischen Aesthetik hocherfreulicher Vorgang, dem im eigenen Interesse der Germanistik Dauer und Nachfolge zu wünschen ist.
Aber etwas mehr Contakt mit der philo
sophischen Aesthetik, die freilich durch ihre abstrakt construktive Haltung an
der vorhandenen Entfremdung reichlich mitschuldig ist, wird dabei erfor
derlich sein. Blicken wir schließlich auf das Ganze der durchlaufenen Bahn zurück, zo zeigt sich zwischen den drei betrachteten, zeitlich fast zusammenfallenden
Schriften ein geradezu ungeheurer Gegensatz der Auffassung und Ueber
zeugung.
Erst Anschauung der Weltidee, dann pseudoaristotelische Gefühls
klärung, dann intellektuelle Unterhaltung als Zweck und wesentliche Wir kung der Kunst: wird nicht eine nahe Zukunft uns
bringen? Groß-Lichterfelde bei Berlin.
Pfingsten 1888.
die wahre Lösung
Die Reformbedürftigkeit der Preußischen Gewerbesteuer. Von
Dr. jur. Strutz, Regierung»»Assessor in Osnabrück.
Es ist bekannt, wie die Reform der direkten Steuern in Preußen
schon seit geraumer Zeit zur Diskussion steht, ohne daß e« bisher auch nur zu den Anfängen
eine solche Reform
einer organischen Reform gekommen wäre.
sich auf sämmtliche direkte Steuern erstrecken müsse,
darin sind wohl alle Parteien einverstanden.
in den letzten Jahren
welche
schränkten sich immer
Aber die schwachen Anläufe,
zu einer Steuerreform gemacht sind,
be