Januar bis Juni 1890 [Reprint 2021 ed.]
 9783112407387, 9783112407370

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Preußische Iahrbüch Herausgegeben

von

Haus Delbrück.

Fünfundsechzigster Band.

Januar bis Juni 1890.

Berlin, 1890. Druck und Verlag von Georg Reimer.

Inhalt Erstes Heft. Moderne Moralisten. I. (Adolf Lasson.) ..................................................... Seite 1 Die Katholistrung Englands. (Rudolf Buddensieg.).................................... — 27 Jbsen's neuere Dramen. (Otto Harnack.).................................................... — 55 Die Regierung Friedrich Wilhelm's IV. (Hans Delbrück.)....................... — 73 Zur Geschichte des Templer-Ordens. (Bruno Gebhardt.)........................... — 89 Politische Correspondenz: Neujahrsbetrachtung, (sau, Schle swig-Holstein.

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Die wirtschaftliche Perspektive der gegenwärtigen Lohnbewegung.

Die sich uns darbietende wirthschaftliche Erscheinung großer Besitzthümer muß vielmehr so gedeutet werden, daß die Fortschritte der Technik (Gewinnung von Zucker aus Rüben, von Farben aus Stein­ kohlen rc.) und vor allen die Fesselung der elementaren Kraft des

Dampfes zu einer weitgreifenden Vermehrung der Güter überhaupt

(des Nationalwohlstandes) geführt haben, daß von diesen Gütern sich ein gewisser Theil in den Händen einiger sehr reicher Personen,

ein

größerer Theil in den Händen der sogenannten Mittelklaffen und ein anderer Theil in den Händen der arbeitenden Klaffen befindet. Allein

die in Eisenbahnen angelegten Ersparnisse

der Nation, welche mehr

oder weniger Gemeingut Aller sind, können auf zehn Milliarden Mark angeschlagen werden. Sie sowohl, wie das in den Fabriken und frei­ gehenden Maschinen, in Dampfschiffen und Bodenmeliorationen ange­

legte Kapital führen zu fortwährender Erzeugung neuer Güter, von denen ein Theil durch die Nation verzehrt, ein Theil erspart wird, um die werbende Kraft abermals zu vermehren.

Da ist es nun ganz natürlich, daß die arbeitenden Klassen in der Erkenntniß, daß sie einen wesentlichen Antheil an dieser Gütererzeugung

haben, einen entsprechenden Theil der Güter für sich beanspruchen. Die Arbeiter stehen als gesetzlich gleichberechtigte Menschen den übrigen Menschen, deren Kapital und leitende Intelligenz die beiden anderen

Faktoren der Gütererzeugung sind, gegenüber und nehmen sich ihren Antheil, der menschlichen Natur entsprechend, wenn er ihnen nicht gut­ willig zugestanden wird, im Kampfe. Es ist hier nicht nöthig zu erörtern, daß die Fähigkeit und Nei­ gung zum Kampf in der menschlichen Natur begründet ist, oder zu schildern, welche sittlichen und unsittlichen Triebfedern diese Kampfes­

eigenschaft zu verschärfen oder zu mildern geeignet sind und thatsächlich verschärfen oder mildern. Genug, wir haben etwas von der Natur selbst Gegebenes vor uns, womit wir uns abzufinden haben.

Dabei

wird von vornherein anzuerkennen sein, daß die Menschheit durch Kämpfe

sowohl gegen die leblose Natur, als auch unter sich im Allgemeinen

weiter gekommen ist, als durch ein friedfertiges Geschehenlasfen und Stillsitzen. In unseren Tagen erleben wir nun einen eigenartigen, in

vielen Punkten bemerkenswerthen Kampf, der sich mehr oder weniger über alle zivilisirten Länder gleichzeitig verbreitet hat, und deshalb, um dies vorwegzunehmen, für das einzelne Land an dringender Gefahr ver­

liert, den Lohnkampf. Beschränken wir uns auf Deutschland, so sehen wir ein starkes Hin- und Herwogen der Bewegung.

Neben zahlreichen gelungenen

Die wirthschaftliche Perspektive der gegenwärtigen Lohnbewegung.

Lohnerhöhungsversuchen nicht wenig mißlungene.

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Unter den letzeren

die 50°/,-Lohnerhöhungs-Bewegung unter den Kohlenarbeitern; der Aus­ stand der Zimmerer in München u. s. w. Ja es wurde sogar in einer großen berliner Fabrik das Verlangen nach Lohnerhöhung mit der Ent­ lassung aller Arbeiter zum nächsten Tage beantwortet, eine Maßregel, die Kwi der bestehenden täglichen Kündigungsfrist möglich war und einen Schluß darauf zuläßt, zu welchen Maßregeln sich die Fabrikbesitzer durch das häufig beobachtete kontraktwidrige Verlassen der Arbeit durch die

Arbeiter veranlaßt gesehen haben. Andererseits wurden in einem vor­ zugsweise von der Gerberei lebenden Städtchen die ausständig gewor­ denen Arbeiter, als sie zu dem alten Lohne die Arbeit wieder aufneh­

men wollten, eine lange Zeit überhaupt nicht wieder beschäftigt, iydem die Gerbereibesitzer erklärten, es sei ihnen sehr erwünscht, den Betrieb einstellen zu können. Die Arbeiterfrauen mußten in der Forst- und Landwirthschaft etwas für sich und ihre Kinder zu verdienen suchen. Allein im Allgemeinen ist die Bewegung eine den Arbeitern günstige gewesen. Nicht nur wurde vielfach eine Erhöhung des Lohnes, sondern auch eine Verkürzung der Arbeitszeit herbeigeführt. Daß die Fesselung einer großen Anzahl von Menschen an die Dampfmaschine, welche in steigendem Maße stattfindet, nicht ohne große Bewegung in den bethei-

ligten Kreisen durchgeführt werden konnte, war vorauszusehen. Es kommt hinzu, daß zweifellos an manchen Stellen jene Fesselung eine über Gebühr lange — 14 bis 16 Stunden täglich — dauernde, mißbräuch­

liche gewesen ist.

Zum Theil erfolgte sie gegen den Willen der Arbeiter,

zum Theil mit ihrem Willen, indem sie in kurzsichtiger Weise über dem Vortheil des Augenblicks ihre wahren Interessen hintansetzten. Dazu gesellt sich die durch die gehobene allgemeine Intelligenz, (beffere Schul­

bildung, allgemeine Wehrpflicht, Lektüre, Versammlungen) vermehrte

Einsicht von der eigenen Unentbehrlichkeit und die Anstellung von Ver­ gleichen zwischen dem eigenen Loose und dem mancher Anderen. End­ lich hat auch die in jüngster Zeit eingetretene Vertheuerung einzelner nothwendiger Lebensmittel zweifellos bei der Hervorrufung und Ingang­

haltung der gegenwärtigen Lohnbewegung mitgewirkt.

Was dabei ins­

besondere die vielberufene Vertheuerung des Schweinefleisches anlangt,

so wird dieselbe nicht nur in den Kreisen der das Fleisch unmittelbar Kaufenden empfunden, sondern auch in den Kreisen derer gefühlt, die sich sonst ein Schwein mit den Abfällen der Haushaltung und einigen zugekauften Materialien selbst zu füttern pflegten, die nun aber wegen

der Verdoppelung und Verdreifachung des Preises der damit für sie nicht mehr käuflichen jungen Schweine hierzu nicht mehr im Stande

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Die wirthschaftliche Perspektive der gegenwärtigen Lohnbewegung.

sind und dadurch nicht nur materiell geschädigt werden, sondern auch aus der sozialen Stellung derer die „selbst schlachten" sich verdrängt mithin degradirt sehen. Es hat keinen Zweck, vor dieser Thatsache die

Augen zu verschließen, wenn man Thatsachen beobachten und aus ihnen Schlüffe ziehen will. Darüber in welchem Maße die Löhne in den letzten Jahrzehnten bestiegen sind, fehlt es an umfaffenden Ermittelungen.

In der In­

dustrie und überhaupt in den Großstädten ist die Steigerung eine un­ gleich erheblichere gewesen, als auf dem platten Lande, woraus sich das Anwachsen

der städtischen Bevölkerung ohne Weiteres erklärt.

Man

wird nicht fehlgehen, wenn man hier die Steigerung seit dem Jahre 1850 auf das Doppelte und stellenweise auf das Dreifache annimmt. Dafür, daß eine solche Verdreifachung in der That stattgefunden hat, liegen die Beweise vor. Cs hat sich demnach, da die Lebensmittelpreise keineswegs in gleichem Maße gestiegen sind, manche sich sogar gleich blieben, wenn nicht sanken, die Lebenshaltung der Arbeiter in erfreu­ licher Weise gehoben. Was diese Lebensmittelpreise anlangt, so geben darüber die angeschlossenen Tabellen aus einer Stadt, in deren Nach­ barschaft kürzlich ausgedehnte Ausstandsbewegungen stattfanden, einigen Aufschluß. Danach ist das Brot nicht theurer als vor etwa vierzig Jahren; billiger geworden sind im Laufe der Zeit Kartoffeln, Reis, Zucker, Pflaumen, Schmalz (amerikanisches), Rüböl (wird viel zur Speiseberei­ tung benutzt), Petroleum, Seife; theurer dagegen Fleisch, Speck, Butter,

Kaffee, Branntwein, Bier. — Theurer, allerdings auch weit beffer ge­ worden sind gleichzeitig die Wohnungen, theurer das Schuhwerk, billiger

die übrige Kleidung, billiger der öffentliche Unterricht und leichter die Last der direkten Steuer; kürzer die Arbeitszeit! Vergegenwärtigen wir uns dem gegenüber die Perspektive der

gegenwärtigen Lohnbewegung, so zeigt sich zunächst als Folge der sich stetig wenn auch mit Unterbrechungen vollziehenden Lohnerhöhung auf

der einen Seite eine Entwerthung allen Kapitalbesitzes, insofern der­ selbe die menschliche Kraft, ohne welche er keinen Ertrag liefert, theurer erkaufen muß, und auf der anderen Seite bei der Erhöhung der Lebens­ haltung der arbeitenden Klassen und der Erhöhung der an Dienstboten, Handwerker rc. zu zahlenden Löhne, eine relative Erniedrigung des Ni­

veaus der Besitzer kleiner Einkommen, Renten, Pensionen, Gehälter. Die Erniedrigung des Zinsfußes ist eine Sache für sich und darf nicht als eine Folge der Lohnerhöhung angesehen werden. Es kann bei hohem Lohne ein hoher Zinsfuß, bei niedrigem Lohne ein niedriger Zinsfuß bestehen.

Die wirthschaftliche Perspektive der gegenwärtigen Lohnbewegung.

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So war der Zinsfuß bei der Steigerung der Löhne von 1871 auf 1872, 1873 und 1874 ein hoher; er sank gegen das Ende der siebziger Jahre, nachdem die Löhne von 1876 ab zum Theil erheblich gefallen

waren, um dann noch weiter zu sinken, als vom Jahre 1880 ab die Löhne sich wieder hoben. Das Kapital hatte sich bis dahin stark ver­

mehrt, die Eisenbahnen waren im wesentlichen ausgebahnt und andere Maffen-Abzugskanäle zu gewinnbringender Anlegung waren nicht vor­

handen. Die relative Erniedrigung des Niveaus der Renten- rc. Empfän­ ger kann man sich in folgendem Beispiel klar machen. Gewisse Unter­ beamte hatten im Jahre 1848 250 Thaler Gehalt, wurden im Jahre 1870 auf 900 bis 1080 Mark gestellt und im Jahre 1880 auf einen noch jetzt geltenden Durchschnitt von 1080 Mark erhöht, so daß die Steigerung in 40 Jahren 50°/, betragen hat; solche Beamte sind offen­ bar weniger vorangekommen, als Arbeiter, deren Löhne sich in dem gleichen Zeitraum verdoppelt und verdreifacht haben. Aehnlich sieht es mit manchen kleinen Kapitalisten rc. aus, die überdieß durch das Sinken des Zinsfußes ihre Einkünfte unmittelbar geschmälert sehen, also doppelt leiden. Eine weitere Folge der Erhöhung der Löhne in der Industrie und in den Großstädten ist eine sich schon vielfach bemerkbar machende Ent­ völkerung des platten Landes. Wenn gegenwärtig Grundflächen, die in den vierziger, fünfziger und sechziger Jahren wegen der voraufgegan­ genen erheblichen Steigerung des Getreidepreises zu Aeckern einge­ richtet wurden, obschon sie fast absoluter Waldboden wareii, nun wieder

in Wälder verwandelt werden, so ist dagegen nichts zu erinnern. So liegen jedoch die Verhältnisse nicht allein. Manche Flächen, die sehr wohl landwirthschaftlich kultivirt werden könnten, bleiben aus Mangel an Arbeitskräften theils brach liegen, theils wird zur Weidewirthschaft übergegangen und damit auch die Arbeitsgelegenheit vermindert. Frei­

lich ist auf dem Lande in den vierziger und fünfziger Jahren, während die Industrie bereits höhere Löhne zu zahlen anfing, eine Lohnerhöhung kaum bewirkt worden, obschon dieselbe damals möglich gewesen wäre.

Während die Tonne Roggen zu Berlin in den zwanziger Jahren 88 Mark

kostete, kostete sie in den dreißiger Jahren 101, in den vierziger Jahren 124, in den fünfziger Jahren 168 Mark; fiel dann in den sechziger Jahren auf 162 Mark, stieg in den siebziger Jahren aus 172, fiel, trotz der Zölle, in den

achtziger Jahren aus 146, ja sogar 121 (im Jahre 1887), um zu Anfang

des Jahres 1890 wieder bis auf 173 Mark, also dem Satz der siebziger Jahre, zu steigen.

Trotz dieser Verdoppelung des Roggenpreises ist

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Die wirtschaftliche Perspektive der gegenwärtigen Lohnbewegung.

von 1830 bis 1870 der Lohn auf dem Lande in den östlichen Provinzen nur vielleicht um V, gestiegen.

Aus jener Zeit stammt schon wie die

starke Auswanderung nach Amerika, so der Zug der ländlichen Bevöl­

kerung in die Städte. Der Zug ist einmal vorhanden, und wird jetzt durch die steigenden Löhne zum Schaden des platten Landes noch immer verstärkt. Diese Perspektive ist um so trüber, als die dringend noth­ wendige sogenannte Arbeiterschutzgesetzgebung und die damit eintretenie abermalige Verbesserung der Lage der industriellen Arbeiter ein neues

Anziehungsmittel für die ländliche Bevölkerung bilden werden.

Eine dritte Folge der Erhöhung der Löhne wird die in immer größerem Maße eintretende Ersetzung der menschlichen Arbeit durch maschinelle Kräfte sein. In Nord-Amerika, wo die Löhne höher sind

als in Deutschland, werden schon sehr viele Arbeitsthätigkeiten durch Maschinen besorgt, die hier mittelst der Hand verrichtet werden. Im Ganzen ist darin ja ein Fortschritt zu erblicken, indem durch Vermitte­ lung der Maschinen die elementare Kraft des Dampfes oder der Ge­ wässer gezwungen wird, für die Menschen Güter herzustellen, und je mehr Güter hergestellt werden, um so besser für die Menschheit. Eine letzte Aussicht, die zunächst wohl noch sehr fern liegen mag, indessen hier nicht unerwähnt gelassen werden darf, ist die Verpflanzung

der Industrie nach Ländern mit geringen Löhnen (dem kohlenreichen China, Indien rc.), wenn die Löhne bei uns zu sehr steigen sollten. — Daß die deutsche Industrie sich so rasch entwickelt und neben der eng­ lischen, für welche die Verhältnisse in mancher Beziehung günstiger liegen, auf dem Weltmärkte festen Fuß gefaßt hat, beruht unter An­

derem auch auf den niedrigeren deutschen Löhnen. So lange ebenso wie in Deutschland auch in Nord-Amerika, England, Belgien, Frank­ reich, Oesterreich, kurz den zivilisirten Ländern, mit denen Deutschland im Mitbewerb steht, die gleichen Lohnbewegungen, Lohnerhöhungen statt­

finden, ist von diesen Ländern her nichts zu fürchten und darum wurde zu Anfang gesagt: die Allgemeinheit der Bewegung benehme ihr die besondere Gefahr für ein einzelnes Land. Jndesien handelt es sich um die Möglichkeit einer allgemeinen Uebersiedelung eines Theiles der

Industrie in die Länder mit billigen Arbeitskräften, aus denen dann statt der Konsumenten mitwerbende Producenten werden. sicht eröffnet sich allen zivilisirten Ländern gemeinsam.

Diese Aus­

An eine Wieder­

gewinnung des dann einmal verlorenen Marktes und Aufrechthaltung

der Höhe des Exportes (der eigenen Industrie), selbst bei Ermäßigung der Löhne, ist dann nicht zu denken. Worauf es hiernach im allgemeinen Interesse und im Interesse der

Die wirtschaftliche Perspektive der gegenwärtigen Lohnbewegung.

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Arbeiter ankommt, ist weniger die Erhöhung des Geldlohnes, als die Vermehrung der Güter an sich, welche auf die arbeitenden Klaffen vertheilt werden können. Durch die Steigerung des Geldlohnes allein

wird kein Scheffel Kartoffeln und kein Liter Bier mehr zur Verfügung

gestellt. Wenn durch die Aenderung des Geldlohnes innerhalb der Bevölkerung eine gewisse Verschiebung der Theilnahme an den vorhan­ denen Genußmitteln herbeigeführt werden mag, so kann eine allgemeine Verbefferung der Situation doch eben nur durch eine Vermehrung der

Genuß- und Gebrauchsmittel, von denen Jeder einen Theil haben will, her­

beigeführt werden.

Die Idee, daß man die Millionen eines Bankiers

nur zu vertheilen brauche, um damit Andere glücklich zu machen, ist, auf die Allgemeinheit angewandt, vollständig fehlsam. Der reichste Mann

kann nicht mehr effen und trinken als ein Armer, und wenn er nun daneben eine zahlreiche Dienerschaft, Wagen und Pferde, kostbare Möbel und Kunstwerke und für zahlreiche Gäste feine Weine hat, so leben davon ja Hunderte und indirekt Tausende von anderen Menschen. Diese großen Vermögen sind Spartöpfe der Nation, auf denen die Aufrecht­ erhaltung der Kultur, der Kunst, Kunstindustrie und Wissenschaft wesent­ lich mit beruht. Die ärmere Bevölkerung verzehrt den bei weitem größ­ ten Theil ihres Einkommens, legt ihn in Genußmitteln an, die mit dem Verzehren zerstört sind. Die reichere verwendet einen relativ sehr viel größeren Theil zu Neu-Anlagen, mit deren Hülse weiter producirt wird. Man kann jeden Inhaber eines großen Vermögens nach Herzenslust

beneiden, aber man muß sich vom wirthschaftlichen Standpunkte aus doch schließlich freuen, daß es die Millionäre überhaupt giebt. Ohne sie sähen unsere großen Städte ganz anders aus.

das Heil nicht zu suchen.

Darin ist also Im Gegentheil, je mehr die großen Ver­

mögen anwachsen, um so mehr mittlere und kleine Vermögen wird es geben, die sich an sie anlehnen, und um so mehr wird cs insbesondere

möglich sein, durch die Darleihung von Kapital an das Ausland dieses für unser Land arbeiten zu lassen und dadurch die Deutschland zuflie­ ßenden Güter zu vermehren.

Denn das Ausland zahlt uns seine

Darlehnszinsen in seinen Produkten.

Baares Geld, dessen es selbst

bedurfte und bedarf, kann es uns wenigstens nicht fortlaufend senden.

Für die Verzinsung der kontrahirten Schulden muß es arbeiten, um mit seinen Arbeitserträgniffen uns zu befriedigen.

Je mehr Tribut

an Häuten, Korinthen, Südfrüchten, Wein, Reis, Kaffee, Baumwolle, u. s. w. das Ausland, mögen die Länder welchen Namen immer haben, an uns abführt, ohne daß wir dafür ein Produkt unserer Arbeit hinaus­

zusenden brauchen und ohne daß wir darum den inländischen Unter-

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Die wirtschaftliche Perspektive der gegenwärtigen Lohnbewegung,

nehmungen das Kapital entziehen, desto bester ist es für das Inland, insbesondere auch für die Arbeiter.

Was auf diese Weise hierher

gelangt, geht theilweise in den allgemeinen Verbrauch über, theilweise

führt es zu neuen Ersparnissen, die wiederum zur Vermehrung der Güter der Nation beitragen. Allein an Getreide bedarf Deutschland zu seiner Ernährung jährlich 1 bis 2 Millionen Tonnen vom Ausland.

Gerade die in Deutschland vorhandenen großen Ersparnisse und die seit vierzig Jahren eingetretene gewaltige Kapitalvermehrung, welche, wie in den Eisenbahnen, in den Bergwerken, Fabriken, landwirthschaft-

lichen Meliorationen und anderen Güter erzeugenden Anlagen zu Tage tritt, hat die Erhöhung der Löhne und die sonstigen vielfachen Auf­

wendungen zu Gunsten der Arbeiter überhaupt erst ermöglicht. Zu diesen Aufwendungen gehören insbesondere auch die Krankenversicherung,

die Unfallversicherung, die Jnvaliditäts- und Altersversicherung, welche in dem Haushalt der Arbeiter zweifellos auf der Aktivseite gebucht werden müssen, aber nur in Folge der seit einem Menschenalter vor sich gehenden raschen Kapitalerzeugung möglich zu machen waren. Im Haushalt der Nation deckt sich Brutto- und Nettoertrag. Die Bruttoerträge zu heben und Alles hintanzuhalten, was sie schmälern könnte, ist eine Hauptaufgabe derer die es angeht. In erster Linie gehören dazu selbstverständlich die Arbeiter selbst. Wenn darum die Lohnbewegung gleichzeitig eine Richtung annehmen sollte, welche zu einer Schmälerung der Bruttoerträge führt, so leiden darunter unter allen Umständen zuerst die Arbeiter; sie umsomehr, als sie gewiffermaßen unmittelbar dem Wellenschlag des Lebens gegenüberstehen und keine schützende Kapitaldüne vor sich sehen.

Man kann die lediglich zu

Zwecken der Vermehrung der Produktion dienende, nicht durch den Be­ trieb absolut gebotene Sonntagsarbeit, die Nachtarbeit der Frauen, die übertrieben lange Arbeitsdauer u. s. w. aus das Schärfste verurtheilen,

daneben aber doch eine Bewegung, welche, ohne in dem Ruhebedürfniß

und der Rücksicht auf das Familienleben der Arbeiter einen ausreichen­ den Grund zu finden, die Verminderung der Produktion an fich will, für eine bedauerliche Thorheit erklären. Jetzt schon ist man mit dem, was auf den Einzelnen an Glücksgütern und Genußmitteln entfällt,

nicht zufrieden; was soll erst werden, wenn diese Güter in noch gerin­ gerer Anzahl hervorgebracht werden? Vom Standpunkt des sogenannten

Kapitalisten aus könnte sogar ein solches Vorgehen begrüßt werden. Wird weniger producirt, so wird weniger erspart, weniger neues Kapital gebildet, das vorhandene Kapital steigt im Werthe, der Zinsfuß steigt

(hier setzt die Frage des Zinsfußes ein).

Allein daraus kann es nicht

Die wirthschaftliche Perspektive der gegenwärtigen Lohnbewegung.

ankommen.

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Was der Menschheit bei dem jedem Menschen innewohnen­

den Drange nach Glückseligkeit frommt, ist eine möglichst große Er­ zeugung von Gütern und möglichst großer Antheil der Betheiligten an

den so gewonnenen Gütern; daneben

die Ansammlung genügender,

mindestens mit der Zunahme der Bevölkerung Schritt haltender Er­ sparnisse, welche wiederum Frucht bringen.

Lange andauernde Arbeitsausstände und selbst schon die Furcht davor hemmen die Produktion zum Schaden aller. Der im Jahre 1890 für Berlin mit Nachdruck angekündigte Bauarbeiterausstand hat die Bauthätigkeit derartig beschränkt, daß an die Durchführung des Aus­ standes gar nicht mal gedacht werden konnte. Die Ziegelsteine fielen um 25 pCt. im Preise; die Nachfrage nach Eisenkonstruktionen rc. ließ

nach; Ziegeleien, Steinbrüche, Eisenwerke wurden in Mitleidenschaft ge­

zogen, und so bereitete sich ein Rückschlag vor, der an dem, was in den Haushalt der Arbeiter kam, eine Einbuße, in der Kapitalvermehrung einen Stillstand und in dem allgemeinen Konsum, folgeweise in der

Produktion einen Ausfall herbeiführte. Eine geeignete Organisation der Arbeiter, insbesondere auch zu dem Zweck, um auf dem Gebiete der Lohnbewegung ein Streben nach erreichbaren Zielen mit angemessenen Mitteln zu gewährleisten, wird wohl eine weitere Folge der zum Theil planlos verlaufenen Bewegung der jüngsten Zeit sein. Würde jene Organisation in dem durch die Unfallversicherung gegebenen Rahmen durchgeführt, so schlösse sie sich an etwas Lebensfähiges und Bewährtes an. Auf diesem Boden besteht schon jetzt eine Arbeitervertretung, die aber bei ihrer gesetzgeberischen Ausgestaltung im Jahre 1884 in Folge des Widerstandes einflußreicher Arbeitgeberkreise nur verkrüppelt zum Vorschein kam. Vielleicht ändern sich auch hier die Ansichten mit der wachsenden Erkenntniß, daß die Bewegung doch ihren Gang geht und

es sich nur darum handeln kann, sie in ein gutes Bett zu lenken, nicht,

sie auszuhalten.

Die wirtschaftliche Perspektive der gegenwärtigen Lohnbewegung.

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Durchschnitts-

der hauptsächlichsten Lebensmittel bei der Consum-Anstalt

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