Politisches Urteil – Form und Funktionen 9783495999271, 9783495999264


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In Wilhelm Hennis‘ memoriam
Vorwort
Einleitung: Öffentlichkeit und Verborgenheit des politischen Urteils
I. Kapitel: Die logische Form des politischen Urteils
II. Kapitel: Die kognitiven Voraussetzungen politischer Urteilsbildung
Verfallsformen der politischen Urteilsbildung
III. Kapitel: Die praktischen Funktionen der politischen Urteilsbildung
IV. Kapitel: Die normativen Voraussetzungen politischer Urteilsbildung
V. Die bürgerschaftlichen Voraussetzungen politischer Urteile
Zum Schluß
Literaturverzeichnis
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Politisches Urteil – Form und Funktionen
 9783495999271, 9783495999264

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Rainer Enskat

Politisches Urteil – Form und Funktionen

https://doi.org/10.5771/9783495999271 .

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Rainer Enskat

Politisches Urteil – Form und Funktionen

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Titelmotiv Bei den Bildelementen, die der Ausschnitt zeigt und die für die Leser kurz erläutert werden sollten, handelt es sich im Zentrum um den fürstlichen Herrscher sowie um die politischen Kardinaltugenden, die links und rechts neben ihm repräsentiert sind: Die Tapferkeit (fortitudo), die Klugheit (prudentia), die Gerechtigkeit (iustitia), die Mäßigung (temperantia) und außerdem der Friede (pax) und der Großmut (magnanimitas); am unteren Bildrand ist das Volk des Gemeinwesens repräsentiert. © Fotonachweis: Ambrogio Lorenzetti - Allegory of Good Government, Wikipedia Commons

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-495-99926-4 (Print) ISBN 978-3-495-99927-1 (ePDF)

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1. Auflage 2022 © Verlag Karl Alber – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Baden-Baden 2022. Gesamtverantwortung für Druck und Herstellung bei der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei). Printed on acid-free paper. Besuchen Sie uns im Internet verlag-alber.de https://doi.org/10.5771/9783495999271 .

In Wilhelm Hennis‘ memoriam

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Vorwort

Daß ich mich an den nachfolgenden Überlegungen in der vorlie­ genden Form und in der Hoffnung auf ihr Gelingen versuchen konnte, verdanke ich zwei kontingenten Umständen – vor allem dem Umstand, daß ich am Anfang meines Studiums von Philosophie und Politischer Wissenschaft an der Universität Hamburg Gelegenheit hatte, während der letzten Hamburger Semester von Wilhelm Hennis dessen Lehrveranstaltungen zu besuchen – vor allem seine Maßstäbe setzende Vorlesung über Regierungslehre. Diesem Umstand und dem kontinuierlichen Studium seiner Schriften verdanke ich nicht nur eine durch nichts zu ersetzende Initiation in das politische Denken und Urteilen. Dieser Initiation verdanke ich ebenso den Umstand, daß ich meinem philosophischen Lehrer Wolfgang Wieland Mitte der 60er Jahre auf dessen Weg von der Hamburger Universität an die Philipps-Universität Marburg folgen konnte, ohne mich auch nur im mindesten von den pseudo-politischen Ausbrüchen der Deutschen Unruhe (Wilhelm Hennis)1 irritieren zu lassen, in die sich einige verführerische links-radikale Marburger Hochschullehrer und ihre irregeführten Studenten verirrt hatten. Der hermeneutischen und der analytischen Strenge und Eindringlichkeit der Lehrveranstaltungen und der Schriften Wolfgang Wielands verdanke ich die Mitgift, nach nunmehr fünf Jahrzehnten das durch die beiden ehemaligen Lehrer Gelernte zugunsten des Themas der nachfolgenden Überlegungen fruchtbar zu machen. Inmitten der modischen rhetorischen Inflation der politischen Relevanz – überboten nur noch von der entsprechenden Hyper-Infla­ tion der gesellschaftlichen Relevanz – bietet das Thema des Politischen Urteils durch seinen geradezu brennpunkt-förmigen Zuschnitt eine einzigartige methodische Aussicht, sich auf die Frage zu konzen­ trieren, wovon die Möglichkeit und der Grad politischer Relevanz abhängen. Die politischen Urteile politischer Amtsinhaber und die der 1 Vgl. Wilhelm Hennis, Die deutsche Unruhe. Studien zur Hochschulpolitik, Ham­ burg 1969.

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Vorwort

ihrer politischen Praxis anvertrauten Bürger markieren nicht nur die beiden extremen, sondern in wohlgeordneten politischen Gemeinwe­ sen auch die beiden wichtigsten Grenzpunkte, zwischen denen sich ein nicht wirklich restlos überschaubares und auslotbares Spannungsfeld dieser Relevanz öffnet. Doch die methodische Zuversicht scheint berechtigt zu sein, daß eine Klärung der Bedingungen, von denen die Möglichkeit und der Grad der Relevanz dieser beiden reinen Grenz­ fälle politischer Urteile abhängen, auch mehr Licht in das schwer überschaubare und durchschaubare Relevanz-Feld zwischen ihren gleichsam reinen Strukturen und Funktionen zu bringen. Überdies hat die Philosophie während der vergangenen mehr als hundert Jahre viel über die besondere Wichtigkeit der Mikro-Analyse von Urteilen, Sätzen, Behauptungen und anderen Typen sprachlicher Äußerungen gelernt. Es wäre daher ein gravierendes Versäumnis, das auf diesem Weg Gelernte nicht auch für eine sorgfältige Revision des Schlüssels fruchtbar zu machen, ohne den niemals irgendjemand einen gezielten Zugang zu einer politischen Agende oder Option gewinnen könnte – für eine Revision der Form und der Funktionen der in praktischer Hinsicht wichtigsten öffentlichen sprachlichen Äußerungen – des politischen Urteils: Eine politische Agende oder Option ohne vorher­ gehendes, wohlerwogenes politisches Urteil gleicht einem anti-politi­ schen Blindversuch. Eine mit der Erinnerung an Wilhelm Hennis verbundene Unter­ suchung kommt selbstverständlich nicht umhin, mit mancherlei Einzelheiten Rechenschaft auch über die Lernpotentiale und Lernef­ fekte abzulegen, die meine vorliegende Untersuchung mit der Arbeit verbindet, die Wilhelm Hennis von Anfang an auf der Grenze zwi­ schen Politischer Wissenschaft und Politischer Philosophie zuwege gebracht hat. Sein großer akademischer Start mit dem 1963 aus seiner Habilitationsschrift hervorgegangenen Buch Politik und prak­ tische Philosophie. Untersuchungen zur Rekonstruktion der politischen Wissenschaft war geradezu ein Fanal nicht nur für das, dessen die Politische Wissenschaft damals bedurfte, sondern auch für das, dessen sie in der Zukunft wieder fähig sein sollte. In dieser Zukunft hat Hennis selbst das hier Mögliche in einzigartiger Weise eingelöst. Er hat auf diesem Weg Mitstreiter gehabt, aus deren Schriften ich im Laufe der Jahrzehnte unter weiterführenden Aspekten nicht weniger Wichtiges gelernt habe. Das Literaturverzeichnis mag dies in formel­ ler Weise vor Augen führen. Doch der außerordentliche Rang, den Hennis mit seiner Arbeit in der Politischen Wissenschaft einnimmt,

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Vorwort

ist längst auch außerhalb Deutschlands anerkannt. Diesen Rang verdankt er einer Haltung, die Hegel in einem frühen Text mit dem Stand des ›freien Bürgers in einer Polis‹ verbindet. Es ist der Stand, der sich um »das Sein und die Erhaltung des Ganzen der sittlichen Organisation« des Gemeinwesens zu sorgen hat: »Diesem Stande weist Aristoteles als sein Geschäft das an, wofür die Griechen den Namen πολιτεύειν (politeuein), hatten, was in und mit und für sein Volk leben, ein allgemeines, dem Öffentlichen ganz gehöriges Leben führen ausdrückt, oder das Philosophieren, welche beiden Geschäfte Platon nach seiner höheren Lebendigkeit nicht getrennt, sondern schlechthin verknüpft sehen will«.2 Hennis‘ Habilitationsschrift von 1960 war nicht nur eine fulminante akademische Leistung. Im Licht von Hegels aristotelisch-platonischer Charakterisierung des ›freien Bürgers einer Polis‹ bezeugte sie von Anfang an seine lebenslang wirksam gebliebene persönliche politische Tugend. Gewiß liegt es auf der Hand, daß ein Fachvertreter der Philo­ sophie auf die Lernpotentiale und Lerneffekte von Hennis‘ politik­ wissenschaftlicher Arbeit ein Licht hauptsächlich im Horizont von Aspekten, Kriterien und methodischen Einstellungen der Philosophie werfen kann. Es dürfte indessen klar sein, daß Hervorbringungen der politikwissenschaftlichen Forschung, die ich auch nach meinem formellen Studium im Auge behalten habe, eher ausnahmsweise zu Publikationen gefunden haben, die sich im Horizont der Philosophie kohärent mit der Frage nach der Form und den Funktionen des politischen Urteils verknüpfen lassen. Eine wichtige Rolle spielen in diesem Zusammenhang jedoch auch die Reifeprozesse, die die Politische Wissenschaft – aber auch die Sozialwissenschaften – gerade in den prägenden 60er und 70er bis 80er Jahren durchgemacht haben. Prominente okkasionelle Interventionen von hinreichend streitfähi­ 2 G. W. F. Hegel, Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts, seine Stellung in der praktischen Philosophie und sein Verhältnis zu den positiven Rechtswissenschaften, in: ders., Jenaer Schriften (1801–1807), Werke in zwanzig Bänden 2, Frankfurt/Main 1970, S. 434–530, hier: S. 489. – Diese Aristoteles frei paraphrasierende Bestimmung des freien Bürgers hat Leo Strauss, Naturrecht und Geschichte,###, übersehen, wenn er sie im Rahmen seiner Behandlung des Klassischen Naturrechts gegen »Die volle Aktualisierung des Menschseins« ausspielt, die er nur »in der angemessen ausgerichteten Tätigkeit des Staatsmannes, des Gesetzgebers und des Gründers«, S. 133, Hervorhebung R. E., erreicht sieht. Zu Strauss‘ pejorativer Abgrenzung gegen »eine Art passiver Mitgliedschaft in der bürgerlichen Gesell­ schaft«, ebd., vgl. auch, wie Rousseau und Hegel, die bei Strauss zum Modernen Naturrecht gehören, zwischen citoyen und bourgeois unterscheiden, unten S. 90–92.

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Vorwort

gen Repräsentanten dieser Fächer markieren bedeutsame Zwischen­ etappen dieser Entwicklungen. Man denke beispielsweise an die ebenso prominente wie ›leichtfüßige‹ Auseinandersetzung von Jür­ gen Habermas mit dem opus magnum Ralf Dahrendorfs Gesellschaft und Demokratie in Deutschland.3 Einen vergleichbaren Exponenten bildet Wilhelms Hennis‘ schwergewichtige Auseinandersetzung mit den bis 1976 vorliegenden sozial-philosophisch orientierten Legitimi­ täts-Auffassungen von Jürgen Habermas.4 Doch nicht weniger schla­ gend können auch unspektakuläre gelehrte Reaktionen sein wie die des damals jungen Lucian Hölscher.5 Er unterlief Jürgen Habermas‘ Kritik einer bürgerlichen Kategorie6 durch den subtilen Nachweis, daß die gerichtliche Öffentlichkeit lange vor der so apostrophierten ›‚bür­ gerlichen‹‘ Öffentlichkeit das wichtigste erste Medium war, das in der westlichen Neuzeit in einem wahrhaft paradoxen Spannungsfeld die empfindlichsten Interessen der Öffentlichkeit, ihre Rechtsinteressen im ›‚Geheimnis‹‘ ihrer Beratungen und Urteilsfindungen wahrnahm. In den nachfolgenden Jahrzehnten hat der zuvor in öffentlicher Fehde ausgetragene Streit um Grundfragen der öffentlichen, politischen Praxis das in seinen Grundzügen einmal bestellte Feld schrittweise fruchtbar gemacht, ohne es durch neue Grundfragen zu vertiefen. Auf die beliebte Methode, das ›‚Wellenreiten‹‘ bzw. ›‚Trittbrett­ fahren‹‘ auf unzähligen der aktuellsten internationalen approaches zu demonstrieren, habe ich angesichts der Kumulation von grundle­ genden und richtungweisenden Publikationen der ersten Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg gerne verzichtet. Doch nicht nur mein formelles politikwissenschaftliches Studium an den Universitäten Hamburg, Marburg und Göttingen habe ich mit Reflexionen aus dem Horizont der hier behandelten Grundfragen begleitet. Wichtige Bewährungsproben für die Behandlung der Leitfrage dieses libellum haben sich mir darüber hinaus geboten, als ich an der Universität 3 Vgl. Ralf Dahrendorf, Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, München 1965, und Jürgen Habermas, Die verzögerte Moderne. Rezension von Ralf Dahrendorf, Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, in: Der Spiegel, 53/1965. 4 Vgl. Jürgen Habermas, Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, Frankfurt am Main 1973, und Wilhelm Hennis, Legitimität. Zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, in: Merkur 1976, 1, S. 17–-36. 5 Vgl. Lucian Hölscher, Öffentlichkeit und Geheimnis. Eine begriffsgeschichtliche Untersuchung zur Entstehung der Öffentlichkeit in der frühen Neuzeit, Stuttgart 1979; vgl. hierzu auch unten S. 510. 6 Vgl. Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Zur Kritik einer bürger­ lichen Kategorie, Frankfurt/Main 1962.

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Vorwort

Halle die Hauptvorlesung Einführung in die Politische Philosophie zweimal im Rahmen der kollegialen Vertretung eines ForschungsFreisemesters halten konnte. Diese Vorlesungen bildeten für mich das wichtigste Medium zur vorbereitenden Durchdringung des in diesem libellum behandelten Fragenkomplexes. Das Gemälde des Sieneser Malers Ambrogio Lorenzetti Allego­ rie der guten Regierung, dessen Ausschnitt das Titel-Cover dieses Büchleins ziert, habe ich kennengelernt, als ich vor etlichen Jahren gemeinsam mit Wolfgang Wieland und seiner Frau eine vierwöchige Arbeitszeit in ihrem Landhaus in der Nähe von Siena verbracht habe. Halle, am 6. Oktober 2022

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Inhaltsverzeichnis

Einleitung: Öffentlichkeit und Verborgenheit des politischen Urteils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Kapitel: Die logische Form des politischen Urteils . .

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II. Kapitel: Die kognitiven Voraussetzungen politischer Urteilsbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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III. Kapitel: Die praktischen Funktionen der politischen Urteilsbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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IV. Kapitel: Die normativen Voraussetzungen politischer Urteilsbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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V. Die bürgerschaftlichen Voraussetzungen politischer Urteile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung: Öffentlichkeit und Verborgenheit des politischen Urteils

Unternimmt man es, die Form und die Funktionen des politischen Urteils zu klären, dann ist es ratsam, von Anfang an darauf zu achten, dass das politische Urteil in einem klärungsbedürftigen Spannungsfeld zu Hause ist. In diesem Spannungsfeld durchdringen einander zwei Dimensionen des politischen Urteils – einerseits die Unübersehbarkeit bzw. Unüberhörbarkeit seiner informationellen und seiner diversen rhetorischen – vor allem expressiven, persuasi­ ven und polemischen – Rollen in den öffentlich-medialen Formen eines Gemeinwesens und andererseits die Verborgenheit, die seiner wahren Form gerade durch die eher wildwüchsigen Funktionen seiner rhetorisch geprägten öffentlichen Kommunikation widerfährt. Das Spannungsfeld, in dem diese beiden Dimensionen einander durch­ dringen, wird schon seit mehr als zwei Jahrtausenden – vor allem seit den lateinischen Traktaten Ciceros – unter dem klassisch gewordenen Namen der öffentlichen Angelegenheit (res publica) umrissen.7 Erzeugt wird dieses Spannungsfeld von zwei Polen. Der eine Pol wird vom Öffentlichkeitsbedarf des politischen Urteils gebildet: Das politische Urteil erhält seine klassische Aufgabe im Regierungssystem eines konkreten geschichtlichen Gemeinwesens durch die Frage gestellt, welcher gesetzlichen oder welcher anderen normativen Regulierun­ gen die kollektiven Lebensbedingungen der Bürger eines konkreten individuellen Gemeinwesen in einer konkreten geschichtlichen und praktischen Situation bedürftig und fähig sind. Den anderen Pol bildet die öffentliche, also die allen Bürgern schuldige Teilhabe am Prozeß der Bildung ihrer Urteile über die Urteile, die solchen normativen Regulierungen jeweils zugrunde liegen. Diese Schuldigkeit ist in Ver­ fassungsnormen verankert, die in den modernen parlamentarischen Regierungssystemen vor allem um die Freiheit der Meinungsäuße­ Vgl. Cicero, De re publica / Vom Gemeinwesen. Lateinisch / Deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Karl Büchner, Stuttgart 1979.

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Einleitung: Öffentlichkeit und Verborgenheit des politischen Urteils

rung, die der Presse sowie die der Gründung von Parteien und Interessenverbänden zentriert sind. Im Licht dieser Normen ist die Schuldigkeit dieser bürgerschaftlichen Teilhabe an der Bildung politi­ scher Urteile daher selbst eine praktisch-normative Bedingung dafür, dass ein solches Urteil wahr ausfallen können muß – wahr nämlich mit Blick auf die individuelle, geschichtlich konkrete praktische Situa­ tion, in der die Lebensbedingungen der Bürger eines individuellen Gemeinwesens einer gesetzlichen Regulierung bedürftig und fähig sind. Ohne ihre grundsätzliche Wahrheitsfähigkeit wären politische Urteile eines Streits, der diesen Namen ernsthaft verdient – vor allem eines öffentlichen Streits –, gar nicht fähig, bedürftig und würdig. Platons Frage, »worüber müßten wir uns wohl streiten, und zu was für einer Entscheidung nicht kommen können, um uns zu erzürnen und einander feind zu werden?«,8 könnte ohne die stillschweigende Voraussetzung der Wahrheitsfähigkeit praktischer und insbesondere politischer Urteile, gar nicht sinnvoll gestellt werden. Gerade in repu­ blikanischen Gemeinwesen mit ihren charakteristischen normativen Garantien und Grenzbestimmungen für den Gebrauch der Freiheit durch ihre Bürger bildet die alltägliche Streitbarkeit in allen ihren Ausprägungen – ob mehr oder weniger klug oder populistisch oder demagogisch – geradezu eine unaufhörliche empirisch-praktische Bewährungsprobe für Platons Unterstellung der Wahrheitsfähigkeit und Streitbedürftigkeit aller praktischen und daher auch aller politi­ schen Urteile. Doch ob die jeweils fraglichen Lebensbedingungen einer gesetz­ lichen Regulierung bedürftig und fähig sind oder nicht, ist eine Frage, die nicht ohne eine von großer Umsicht geleitete, kontinuierliche Beobachtung dieser Lebensbedingungen und ihrer Veränderungen beantwortet werden kann. An solchen Beobachtungen sind in den parlamentarisch strukturierten Gemeinwesen der Gegenwart direkte repräsentative Selbstauskünfte von Bürgern im Rahmen von Umfra­ Platon, Euthphr. 7 c-d; zur Frage der praktisch-politischen Wahrheit vgl. unten bes. S. 12–13 und 23–46. Die grundsätzliche Wahrheits-fähigkeit politischer Urteile ist denkbar weit von der welt- und politik-fremden Auffassung entfernt, daß politische Deliberierung, also Beratschlagung ein wahrheitsförderlicher Modus sei; vgl. zu dieser Illusion Carl Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus (11923), Berlin 102017: »Das Parlament … ist der Platz, wo man deliberiert, d. h. in einem diskursiven Vorgang, durch die Erörterung von Argument und Gegenargu­ ment, die relative Wahrheit gewinnt«, S. 43, Hervorhebungen R. E.; vgl. hierzu aus­ führlich unten S. 77–81. 8

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Einleitung: Öffentlichkeit und Verborgenheit des politischen Urteils

gen ebenso beteiligt wie die durchschnittlichen Verhaltens- und Handlungsweisen, durch die sie in ihrem alltäglichen Leben auch ungefragt demonstrieren bzw. aktenkundig werden lassen – z. B. gegenüber der Polizei und allen anderen Ämtern der Exekutive und der Judikative –, wie sie mit ihren aktuellen Lebensbedingungen zurechtkommen. Vor allem aber gehen aus solchen Untersuchungen auch die immensen Informationsmengen hervor, die den diversen Regierungs- und Verwaltungszweigen eines politischen Systems auf den unzähligen Stufen von den untersten kommunalen Ebenen bis zu den Ämtern der ministeriellen Zentren zufließen. Die in der Bun­ desrepublik vom Statistischen Bundesamt jährlich herausgegebenen Statistischen Jahrbücher bieten einen öffentlich zugänglichen, reprä­ sentativen Einblick in die informationellen Grundlagen politischer Urteile und Agenden.9 Andererseits sind es dieselben öffentlichen Angelegenheiten, durch die dem politischen Urteil vielfältig verschie­ dene rhetorische, diskursive und kommunikative Rollen zufallen oder verliehen werden – also vor allem expressive, persuasive, polemische und informationelle Rollen und deren vielfältige Modifikationen.10 Diese Rollen, die den drei wichtigsten Zielen seiner öffentlichen sprachlichen Artikulation dienen, werden wiederum von einer Viel­ zahl der vielfältigsten sozialen Interessen durchkreuzt, mit denen sie durch ihre Herkunft aus jenem ›System der Bedürfnisse‹ verfloch­ ten sind, das Hegel mit der bürgerlichen Gesellschaft identifiziert.11 Die von Hegel diagnostizierte ›ungeheure Macht der bürgerlichen Gesellschaft‹12 hat vor allem dazu geführt, dass die emotionalen, die kognitiven, die praktischen und die sozialen Fähigkeiten des Menschen in ein immer schneller ins immer Komplexere wachsendes funktionales Bedürfnissystem verflochten worden sind.

Eines der wichtigsten Epiphänomene tyrannischer bzw. despotischer Regierungen bilden insofern Zensurformen zur systematischen Geheimhaltung praktisch aller für die politische Urteilsbildung der Bürger relevanten Tatsachen des öffentlichen Lebens; paradigmatisch sind sie verkörpert in der stalinistischen Zensurbehörde GLAWLIT; vgl. zum tyrannischen bzw. despotischen Epiphänomen der systematischen bzw. hab­ ituellen Geheimhaltung politisch wichtiger Tatsachen auch unten S. 22f., 41–42. 10 Diesen Rollen widmet Ronald Beiner, Political Judgment, London 1983, – vor allem im Anschluß an Arbeiten von Hannah Arendt und Jürgen Habermas – den größten Teil seiner in thematischer Hinsicht verdienstvollen Untersuchung; vgl. hierzu auch unten S. 20f., 2144-46, 27f., 3851-52, 4368, 5077, 112221. 11 Vgl. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, §§ 189–208. 12 Vgl. § 238, Zusatz. 9

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Einleitung: Öffentlichkeit und Verborgenheit des politischen Urteils

In dem auch gegenwärtig immer noch komplexer und dichter werdenden Rollengeflecht dieses Systems entzieht sich die Form des politischen Urteils immer mehr seiner öffentlichen Wahrnehmbar­ keit. Denn zur Form eines politischen Urteils als Urteil gehören wesentlich ganz spezifische Bedingungen, von denen nicht nur seine mögliche Wahrheit abhängt (vgl. unten I. Kap.), sondern auch die Möglichkeit, durch seine gelungene Bildung zur Erkenntnis der poli­ tischen Reform- bzw. Bewahrungsbedürftigkeit der jeweils aktuellen Lebensbedingungen in einem konkreten geschichtlichen Gemeinwe­ sen zu gelangen (vgl. unten II. Kap.). Vernachlässigt man diese forma­ len und diese kognitiven Struktur- und Funktionskomponenten des politischen Urteils und deren interne Verflechtungen, dann handelt man sich nur allzu leicht eine in die Irre – und zwar in die praktischpolitische Irre – führende dezisionistische Suggestion ein. Aus dem langen und dunklen Schatten dieser Suggestion taucht früher oder später nur allzu konsequenterweise eine nicht nur a-politische, son­ dern sogar anti-politische Gestalt auf – der Feind der wahrheits- und erkenntnis-orientierten Politik. Er bildet die dezisionistische Fehlge­ stalt, die glaubt, mit den komplexen informationellen, technischen, organisatorischen, institutionellen, kognitiven und nicht zuletzt auch kollegialen Aufgaben aller politischen Urteilsbildung kurzen Prozeß machen zu können. Im fadenscheinigen Schutz seiner angemaßten persönlichen, quasi- oder pseudo-charismatischen Attribute funktio­ niert er sie zu Angelegenheiten um, die seinen persönlichen und auf angeblich höherer Eingebung beruhenden ultima ratio-Entschei­ dungen anvertraut seien.13 Sogar der persönliche Glaube an einen solchen politische ultima-ratio-Einsichten spendenden Gott kann zur Suggestionsquelle des Dezisionismus werden.14 Angesichts dieser dezisionistischen Fehlgestalt des Politischen – im ärgsten Fall die Vgl. zu dieser Fehlgestalt des Politischen die ausführliche, ebenso kritische wie hellsichtige Auseinandersetzung, die Hermann Heller, Staatslehre (11934), Heraus­ gegeben von Gerhart Niemeyer, Leiden 21961, im Anfangsjahr der deutschen Kata­ strophe mit den diversen konzeptionellen Entgleisungen der bis dahin entwickelten Auffassungen Carl Schmitts dem Publikum vor Augen geführt hat. – Carl Schmitt, Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität (11922), Berlin 11 2021, charakterisiert den Dezisionismus selbst in zutreffender Form als »eine Redu­ zierung des Staates auf das Moment der Entscheidung, konsequent auf eine reine, nicht räsonierende und nicht diskutierende, sich nicht rechtfertigende, also aus dem Nichts geschaffene absolute Entscheidung«, S. 69. 14 Vgl. hierzu unten S. 4162. 13

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Einleitung: Öffentlichkeit und Verborgenheit des politischen Urteils

Tyrannis bzw. Despotie –, die nie ganz aufhören wird, eine reale Bedrohung zu sein, scheint es umso wichtiger zu sein, die Bedin­ gungen der Möglichkeit guter Politik bis in die mikroskopischen Bedingungen der Wahrheitsfähigkeit politischer Urteile und in die ebenso mikroskopischen Bedingungen der Erkennispotentiale solcher Urteile zu verfolgen. Von ihrer zureichenden Klärung hängt es unmit­ telbar ab, auch die Form des radikal wahrheits-unfähigen politischen Urteils zu klären – also die Form des unwahren tyrannischen bzw. despotischen politischen Urteils.15 Die Öffentlichkeit ist aber nun einmal unwiderruflich die Sphäre des praktisch-politischen Zusammenlebens der Bürger eines Gemeinwesens. In dieser Sphäre muß daher auch die Spannung zwi­ schen der verborgenen Form des politischen Urteils und der nahezu unüberschaubaren Vielfalt seiner öffentlichen, medial vermittelten Rollen ausgetragen werden.16 Ursprünglich ist die Öffentlichkeit gar 15 Vgl. hierzu unten S. 39, 60 f. – Winand von Petersdorff, Eine neue Hoffnung, in: FAZ vom 8. Januar 2021, spricht im Rückblick auf den US-amerikanischen Präsiden­ ten der Jahre 2016–2021 zu Recht als von »einem Despoten«, S. 15 – also als von einem Präsidenten, der habituell politisch wichtige Tatsachen verschleiert, durch unwahre Urteile geleugnet und durch Behauptungen des Gegenteils solcher Tatsachen die seiner Regierungstätigkeit anvertrauten Bürger zu täuschen versucht hat. Dafür, daß die öffentliche Unwahrhaftigkeit das spezifische Erzübel der Politik bildet, hat Kant zwei scharfsinnige, einander ergänzende formal-juridische Kriterien entwickelt. Das positive Kriterium lautet: »Alle Maximen, die der Publizität bedürfen, (um ihren Zweck nicht zu verfehlen), stimmen mir Recht und Politik zusammen«, Zum ewigen Frieden, in: Kant‘s gesammelte Schriften (sog. Akademie-Ausgabe), Berlin 1900ff., Bd. VIII, S. 341–386, hier: S. 386. Bei den hier ins Auge gefaßten Maximen handelt es sich ausschließlich um diejenigen, die politische Amtsinhaber mit den von ihnen bis zur Gesetzesreife verfolgten Agenden verbinden. Da die Akte des öffentlichen Gesetzgebers »auf das Recht anderer Menschen bezogene Handlungen«, S. 381, sind, formuliert Kant das komplementäre negative Kriterium so: »Alle auf das Recht anderer Menschen bezogene Handlungen, deren Maxime sich nicht mit der Publizität verträgt, sind unrecht«, ebd. Das berüchtigtste Beispiel für eine solche mit der Publizität unver­ trägliche und daher unrechte Handlung politischer Amtsinhaber bilden die von der nationalsozialistischen Führungsclique geheim gehaltenen Beschlüsse über die Ver­ nichtung der Juden. Zur Rolle der beiden Kriterien im Zusammenhang von Kants Praktischer Philosophie vgl. vom Verf., Vernunft und Urteilskraft. Kant und die kogni­ tiven Voraussetzungen vernünftiger Praxis, Freiburg 2018, bes. S. 77-78, 128-129. 16 Einen Sonderfall der Verborgenheit einer an sich äußerst wichtigen Form eines öffentlichen Urteils bildet das Gerichtsurteil; vgl. hierzu die vorzügliche Studie von Hölscher, Öffentlichkeit. Einen bedeutsamen Einschnitt in dieser Tradition des gerichtlichen Geheimnisses ergab sich in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre für das deutsche Bundesverfassungsgericht durch den lauter werdenden Ruf nach dem Recht,

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Einleitung: Öffentlichkeit und Verborgenheit des politischen Urteils

nichts anderes als eine Funktion des praktischen Interesses, das alle individuellen Bürger eines Gemeinwesens an den Urteilen nehmen müssen, mit denen sie sich um der Klärung der Angelegenheiten willen auseinandersetzen, die sie um ihres gemeinsamen Wohles willen interessieren – also an der Klärung der salus publica der res publica. Erst durch die auch sprachliche Traditionen stiftende Tragweite von Ciceros gleichnamigem politischen Schlüsselwerk hat sich für die funktionale Dimension, in der die politischen Urteile der Bürger für alle Bürger zugänglich werden können und sollten, schließlich der Name der Öffentlichkeit als der Name eines schein­ bar autonomen und objektiv vorfindlichen Mediums eingebürgert. Wenn sich gegenwärtig eine quasi-handwerklich geprägte Sprachge­ wohnheit abzeichnet, nach der Öffentlichkeit etwas ist, was erst einmal ›hergestellt‹ werden müsse, dann verweist diese Tendenz angesichts der gegenwärtigen medialen Formen der Öffentlichkeit lediglich mit Nachdruck auf einen organisations-technischen Faktor der praktisch-politischen Dimension namens Öffentlichkeit. Dieser organisations-technische Faktor war mit dieser Dimension zwar von alters her verbunden, sofern die Volksversammlung einer förmlichen Einberufung und deren organisatorischer Vorbereitung und Durch­ führung bedurfte. Doch dieser Faktor macht es gegenwärtig schon seit längerem nötig, die ursprüngliche, die praktisch-politische Dimen­ sion der Öffentlichkeit sorgfältig von der organisations-technischen medialen Öffentlichkeit zu unterscheiden.17 Bei dieser ursprünglichen Dimension handelt es sich indessen um gar nichts anderes als um die Dimension, deren das politische Urteil um der öffentlichen Kri­ tik seiner formalen, seiner kognitiven und seiner praktischen Reife willen bedarf. Doch die Öffentlichkeitsbedürftigkeit des politischen Urteils geht nicht von selbst in Erfüllung. Nur durch förmliche und rechtsverbindliche Übereinkünfte kann sichergestellt werden, dass diese Öffentlichkeitsbedürftigkeit an regulären Orten, zu regulären Zeiten und durch reguläre Prozeduren ein Medium ihrer Artikulation findet, in dem sich jeder Bürger mit seiner politischen Urteilsbildung an der Bildung des Urteils über eine politische Agende beteiligen Minderheits-Sondervoten öffentlich mitzuteilen. Seit 1970 ist dieses Recht verbürgt, vgl. Bundesverfassungsgerichtsgesetz, München 2019, § 30, Abs. 2. 17 Oskar Negt / Alexander Kluge, Öffentlichkeit und Erfahrung. Eine Organisati­ onsanalyse von bürgerlicher und proletarischer Öffentlichkeit, Frankfurt/Main 1972, behandeln diesen organisations-technischen Faktor mit systematischer Ausschließ­ lichkeit; vgl. hierzu auch unten S. 4469.

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kann. Dabei ist es gleichgültig, ob es sich bei diesem Medium um die Agora einer klassischen griechischen Kleinrepublik, um das Forum der klassischen römischen Großrepublik oder um die diversen publizistischen Organe der Gegenwart und der Zukunft handelt. Ungeachtet aller geschichtlichen Gestaltwandlungen, die die Orte, die Zeiten und die Prozeduren dieser Artikulation durchgemacht haben, ist es stets nur die mediale Organisationsstruktur der Öffentlichkeit, was um der Öffentlichkeitsbedürftigkeit des politischen Urteils willen ›hergestellt‹ werden muß. Zwar ist es die res publica, die gemeinsame öffentliche Angele­ genheit aller Mitglieder eines Gemeinwesens – auch der politischen Amtsinhaber –, die den politischen Urteilen ihren öffentlichen Cha­ rakter verleiht. Doch es ist gerade das vieldimensionale Geflecht der kommunikativen Rollen, in dem der formale Kern seines politischer Charakter fast bis zur Verborgenheit verschwindet. Der Komplexitäts­ grad dieses Rollengeflechts hängt selbstverständlich vom Komplexi­ tätsgrad der Gesellschaft ab, in der politische Urteile geäußert werden. Die Vielfalt und der Interdependenzgrad der individuellen und der gruppenspezifischen mehr oder weniger vitalen Bedürfnisse, nach deren Befriedigung ihre Mitglieder mit den ihnen jeweils verfügbaren leibhaftigen, instrumentellen und organisatorischen Techniken stre­ ben, bildet gleichsam die primordiale Dimension jeder Gesellschaft. Zu Recht identifiziert Hegel diese Dimension daher mit dem funk­ tional zentralen ›System der Bedürfnisse‹ der bürgerlichen Gesell­ schaft.18 Es gibt nur eine einzige reale Bedingung, die ausschlaggebend dafür sein kann, dass die Sorge um das Gemeinwohl überhaupt einer wie auch immer konstituierten politischen Zentralinstanz als deren alleinige Aufgabe anvertraut ist. Sie liegt in dem frühgeschicht­ lichen Umstand, dass es für die individuellen Mitglieder einer Gesell­ schaft und für jede ihrer internen Gruppierungen durch einen kri­ tisch gewordenen Größen- und Komplexitätszuwachs ihrer sozialen Ordnung sowie ihrer Bedürfnis- und Interessenstruktur unmöglich geworden war, die kognitiven, die praktischen und die technischen Aufgaben dieser Sorge durch eigene kontinuierliche, strikt solidarische Anstrengungen aus eigener Kraft mit ausreichendem Erfolg wahrzu­ nehmen. In einer solchen Situation wird der Gedanke des öffentlichen Amtes geboren, das exklusiv denjenigen anvertraut wird, denen von 18

Vgl. G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, §§ 189–208.

21 https://doi.org/10.5771/9783495999271 .

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einer hinreichend großen Mehrheit der Gesellschaft zugetraut wird, daß sie diese der Sorge um das Gemeinwohl gewidmeten Aufgaben wenigstens für eine periodisch befristete Zeit vergleichsweise am besten wahrnehmen können.19 Trotz seiner ingeniösen kognitiven Akzentuierung der ›Suche nach dem Gemeinwohl‹ übersieht Jouve­ nel, daß diese Suche in den parlamentarischen Regierungssystemen durch den Souverän(!) – also durch das Volk – ausschließlich der zeitlich befristeten und auf Widerruf durch Wahlen verliehenen Autorität(!) der parlamentarischen Regierungsinstanzen anvertraut ist. Die ›Suche nach dem Gemeinwohl‹ ist im Rahmen seiner gleich­ wohl lehrreichen Erörterungen eine Angelegenheit ausschließlich des »sozialen Proze[sses] als ein[es] unaufhörlich[en] Hervorsprudeln[s] mitreißender Initiativen …, die jede für sich eine bewußte oder unbewußte sittliche Verpflichtung in sich trägt, und innerhalb welcher die Anordnungen der öffentlichen Gewalt bloß eine unter vielen Formen der Befehlsgewalt sind: ihre höchste und zugleich niedrigste Erscheinungsform, weil sie der meisten Einschüchterungsmaßnah­ men bedarf«.20 Jouvenel legt seine Untersuchungen damit program­ matisch auf eine Sozialphilosophie des Politischen fest. Eine exklusive politische Instanz, wie sie das parlamentarische Regierungssystem für die nach jeder Legislaturperiode von neuem beginnende Suche nach gemeinwohldienlichen öffentlichen Maßnahmen vorsieht, ist diesem Ansatz fremd.21 Es gibt auf allen Feldern menschlicher Praxis nur noch eine einzige andere eminente Instanz, deren praktische Stellung mit dieser allen positiv-rechtlichen und allen technischen Rahmenbedingungen vorgeordneten Verpflichtung der politischen Zentralinstanz eines Gemeinwesens auf das Gemeinwohl vergleichbar ist. Diese Instanz ist der Arzt, der ebenfalls ganz unabhängig von allen positiv-rechtlichen und allen technischen Rahmenbedingungen seiner jeweiligen Zeit unter der spezifischen Solidaritätsnorm des Salus aegroti suprema lex steht. Sie allein ist es, die ihn verpflichtet, sich nach allen Regeln der jeweils zeitgemäßen ärztlichen Kunst um das gesundheitliche Wohl eines individuellen Patienten, also eines Kranken, eines Verletzten Diesen Strukturwandel untersucht mit phänomenologischer Sorgfalt Bertrand de Jouvenel, Über Souveränität. Auf der Suche nach dem Gemeinwohl (franz. 11955), Freiburg 1963; zu Sonderbedingungen des Gemeinwohls, die leicht zu Irritationen führen können, vgl. unten S. 56-62. 20 Jouvenel. Souveränität, S. 17–18. 21 Vgl. hierzu vor allem unten S. 52ff. 19

22 https://doi.org/10.5771/9783495999271 .

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oder eines sonstwie leibhaftig Leidenden zu sorgen. Den kognitiven und den praktischen Mittelpunkt dieser Kunst bilden die diagnosti­ schen und die therapeutischen Fähigkeiten und Fertigkeiten, mit deren Hilfe der Arzt das beratende Gespräch mit dem Patienten führt, dessen Heilbehandlung einleitet und mit seiner Hilfe überwacht. Bis tief ins 19. Jahrhundert war es daher auch eine Selbstver­ ständlichkeit gewesen, die Politische Wissenschaft – zumeist unter dem Namen der Staatslehre – ebenso wie die Medizin, aber auch die Rechtswissenschaft, die Wirtschaftswissenschaften und die Erzie­ hungswissenschaften – in der Hemisphäre der praktischen Wissen­ schaften beheimatet zu sehen. Diese Selbstverständlichkeit ging in dem Maß verloren, in dem drei andere, einander ergänzende geschichtliche Faktoren das Bewußtsein vom systematischen Status der Politischen Wissenschaft zu dominieren begannen. Einerseits vermittelte die stürmische neuzeitliche Erfolgsgeschichte der Natur­ wissenschaften zunehmend das Bewußtsein, daß der Politischen Wissenschaft nur dann eine wenigstens strukturell vergleichbare Erfolgsgeschichte beschieden sein könne, wenn es ihr gelingt, ihre empirischen Methoden mit derselben Strenge und Virtuosität zu kultivieren wie die Naturwissenschaften. Andererseits vermittelte die mit dem 20. Jahrhundert beginnende endgültige methodische Reife der Sozialwissenschaften zunehmend das Bewußtsein, daß die Poli­ tische Wissenschaft das genuine Forschungsfeld dieser genuin empi­ rischen Methodenkultur nur in den gesellschaftlichen Bedingungen der politischen Praxis finden könne. Und schließlich war es die schon von Hegel beschworene »bürgerliche Gesellschaft [...] die ungeheure Macht«,22 die das traditionsreiche systematische Selbstverständnis der Politischen Wissenschaft als praktischer Wissenschaft bedrängte, weil diese Gesellschaft »den Menschen an sich reißt, von ihm fordert, daß er für sie arbeite und daß er alles durch sie sei und vermittels ihrer tue«.23 Tatsächlich waren es jedoch kritische Größen der sozialen Ordnungen und ein ebenso kritischer Komplexitätsgrad von deren Bedürfnis- und Interessenstrukturen, die in der Geschichte der west­ lichen Zivilisation schon in frühgeschichtlichen Stammesordnungen zur Einführung von Führungsrollen geführt haben, die den kogni­ 22 G.W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Werke in zwanzig Bänden 7, Frankfurt/Main 1970, § 238. 23 Ebd.

23 https://doi.org/10.5771/9783495999271 .

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tiven, den praktischen und den technischen Aufgaben einer zentra­ lisierten Sorge um das Gemeinwohl gewidmet waren. In Homers Werk werden solche Rollen- und Ämterordnungen bereits auf dem sozialen und politischen Differenzierungsniveau von königlichen und anderen fürstlichen Gemeinwesen dargestellt. Doch erst diejenigen Dialoge Platons sowie diejenigen Traktate Xenophons, Aristoteles’ und Ciceros, die diesem Thema und dem anderen eminenten Themen der Politischen Philosophie – der Gerechtigkeit – gewidmet sind, bezeugen bis heute in klassischer Weise, auf welchem reflexiven und analytischen Niveau diese Sorge in den Ursprungsjahrhunderten der so strukturierten politischen Ordnungen wahrgenommen worden ist. In der Gegenwart haben indessen schon längst diese politischen Ordnungen selbst – das parlamentarische Regierungssystem mitsamt seinen nationalspezifischen Varianten – ein Größenwachstum und einen Komplexitätsgrad erreicht, die sie für die des Gemeinwohls bedürftigen Mitglieder ihrer Gemeinwesen mit einem immer mehr­ dimensionaler, immer engmaschiger und damit auch immer undurch­ sichtiger werdenden ›Schleier des Nicht-wissens‹ umgeben. Wenn es für die moderne Politische Wissenschaft eine durch nichts zu erset­ zende und zu überbietende Aufgabe gibt, dann die, diesen ›Schleier des Nicht-wissens‹ zu durchdringen und die von ihm verhüllten normativen und faktischen Strukturen und Prozeduren des Regierens bzw. Regiert-werdens für möglichst viele Bürger eines Gemeinwe­ sens besser durchschaubar und beurteilbar zu machen. Die jeweils wichtigsten mehr oder weniger wandelhaften normativen und nichtnormativen Faktoren der hinter diesem Schleier liegenden politischen Ordnungen – also die Ämter, Institutionen, Gremien und Prozeduren sowie die Praxis des politischen Personals – müssen von ihr nicht nur umfassend empirisch ermittelt, sorgfältig analysiert und kritisch beurteilt werden. Ihre Untersuchungen, Analysen und Beurteilungen sollten im Medium ihrer Publikationen der politischen Urteilsbildung der Bürger ebenso dienen wie sie im Modus der Beratung für die Selbstkontrolle und die Selbstkritik der politischen Instanzen selbst nützlich sein sollten. Die Wissenschaft von der Politik hat aus diesen Zusammen­ hängen schon seit längerem die Konsequenz gezogen, die es ihr ermöglicht, den ›Schleier des Nicht-wissens‹ im Ausgang von sei­ nem zentralen Knotenpunkt durchsichtig zu machen. Unter dem

24 https://doi.org/10.5771/9783495999271 .

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Namen der Regierungslehre24 trägt sie dem strukturellen Umstand Rechnung, daß die Regierung eines Gemeinwesens ganz unabhän­ gig von den parlamentarischen und den nicht-parlamentarischen Modi der Bestellung der Inhaber der Regierungsämter die exklusive Aufgabe hat, sich durch Gesetzesinitiativen und -vorlagen sowie durch rechtlich bindende nicht-legislatorische Normen (Verordnun­ gen, Verfügungen u. ä.) um das Gemeinwohl zu sorgen. In den wohlgeordneten Gemeinwesen der Gegenwart sind es die parlamen­ tarische Regierungspraxis selbst sowie die ihr zugrunde liegenden Verfassungsnormen und diversen Geschäftsordnungen der Regie­ rung, der Ministerien und des Parlaments, die sie in den Mittelpunk ihrer Aufmerksamkeit stellt, wenn sie die spezifischen Zuständigkei­ ten, Kompetenzen, Pflichten und Grenzen untersucht und beurteilt, die für die alltägliche Praxis der Inhaber der genuin politischen Ämter maßgeblich sind. Komplementär zu dieser Zentraldisziplin hat die Politische Wissenschaft während der vergangenen Jahrzehnte zunächst unter dem Namen der Politischen Soziologie eine spezielle disziplinäre Anstrengung kultiviert. Dieser wohl wichtigsten Spezial­ disziplin der Wissenschaft von der Politik ist die Aufgabe gestellt, kontinuierlich diejenigen Erfolgsbedingungen der politischen Praxis zu untersuchen und zu erklären, die ihr durch die stets wandelhaften Lebensbedingungen der Menschen eines Gemeinwesens zuwachsen – aus ihren sozialen, ökonomischen, kulturellen und technischen Lebensbedingungen einschließlich der öffentlichen Meinung.25

24 Vgl. hierzu vor allem den richtungweisenden Aufsatz von Wilhelm Hennis, Auf­ gaben einer modernen Regierungslehre, in: ders., Politik als praktische Wissenschaft. Aufsätze zur politischen Theorie und Regierungslehre, München 1968, S. 81–104. 25 Einer der ersten neuzeitlichen Philosophen, die die öffentliche Meinung in einer konkreten geschichtlichen Situation – der Situation der französischen Revolution – sogar als geschichtsträchtige Erfolgsbedingung für ein künftiges republikanisches Regierungssystem in Anspruch genommen haben, war Kant, Der Streit der Fakultäten (1798), in: Kant‘s gesammelte Schriften (sog. Akademie-Ausgabe = Ak. Iff.), Berlin 1900ff., Ak. VII, S. 32–42; eine unmißverständliche, aber subtile Distanzierung von den unmittelbaren Akteuren der französischen Revolution bildet den springenden Punkt einer Überlegung, die vor allem ein außerordentliches Bewußtseinsphänomen als eine geschichtsträchtige öffentliche Meinungsäußerung deutet: Denn »diese Revo­ lution […] findet doch in den Gemütern aller Zuschauer (die nicht selbst in diesem Spiele mit verwickelt sind) eine Teilnehmung dem Wunsche nach, die nahe an Enthu­ siasmus«, S. 85, Hervorhebungen R. E., grenzt.

25 https://doi.org/10.5771/9783495999271 .

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Umso mehr fällt in Zeiten hochentwickelter wissenschaftstheo­ retischer Forschungen26 ein Defizit auf: Das dominierende Bewußt­ sein vom vermeintlichen sozialwissenschaftlichen Status der Poli­ tischen Wissenschaft ist noch niemals einer Bewährungsprobe ausgesetzt gewesen, in der es mit Untersuchungen hätte konkurrieren müssen, die den klassischen Status der Politischen Wissenschaft als einer genuin praktischen Wissenschaft auch nur mit Hilfe von elementaren logischen, erkenntnistheoretischen und handlungstheo­ retischen Methoden zu analysieren suchen würden. Dies Bewußtsein ist weitgehend das Ergebnis eines in seinen Tiefenstrukturen zumeist unreflektiert gebliebenen Bewußtseinswandels, wie er vom suggesti­ ven Erfolgsdruck der scheinbar konkurrierenden Naturwissenschaf­ ten provoziert worden ist. Die wichtigsten problemgeschichtlichen und systematischen Pionierstudien sowie die mit ihnen verbundenen Fallstudien27 – vor allem zu den Aufgaben einer modernen Regie­ rungslehre – haben das systematische Selbstverständnis der gegen­ wärtigen Politischen Wissenschaft weder in nennenswerter Breite noch in nennenswerter Tiefe zu durchdringen vermocht. Daher ist noch nicht einmal auf einem elementaren Niveau ein Versuch unter­ nommen worden ist, den systematischen Status der Politikwissen­ schaft als einer praktischen Wissenschaft auch nur mit elementaren Mitteln zu klären. Zu diesem Zweck kommt es darauf an, die prakti­ schen, die kognitiven und die logischen Grundzüge der politischen Urteilsbildung schrittweise zu klären – zunächst im Ausgang von seiner Rolle für die Kunst des Regieren und von hier aus schließlich bis zur Urteilsbildung der dieser Kunst anvertrauten Bürger eines wohlgeordneten politischen Gemeinwesens. Diese Typen politischer Urteilsbildungen verdienen nicht nur, sondern haben es auch nötig, wenigstens annähernd mit einem Maß an Strenge analysiert zu werden, wie es für die heute dominierenden Formen der Theorie der paradigmatischen Naturwissenschaften schon seit langem selbstver­ ständlich geworden ist. Für die ärztliche Kunst des Diagnostizierens

26 Vgl. Wolfgang Stegmüller, Probleme und Resultate der Analytischen Philosophie und Wissenschaftstheorie, Bd. I-IV, Berlin-Heidelberg-New York 1968ff. 27 Vgl. vor allem Wilhelm Hennis, Philosophie und praktische Philosophie. Eine Studie zur Rekonstruktion der politischen Wissenschaft, Neuwied 1963, sowie: Politik als praktische Wissenschaft. Aufsätze zur politischen Theorie und Regierungslehre, München 1968.

26 https://doi.org/10.5771/9783495999271 .

Einleitung: Öffentlichkeit und Verborgenheit des politischen Urteils

und Heilens und das Bewußtsein der ihnen anvertrauten Patienten liegt ein überzeugender Versuch seit einigen Jahrzehnten vor.28 Da eine vergleichbare systematische Analyse der logischen, der kognitiven und der praktischen Grundzüge der für die Praxis des Regierens relevanten politischen Urteilsbildung bislang fehlt, soll diesem Mangel mit den hier vorgelegten Überlegungen gesteuert werden.29 Das vorzügliche, thematisch ebenso orientierte Buch von Ronald Beiner Political Judgement30 legt das Schwergewicht seiner Überlegungen auf Struktur und Funktion des politischen Urteils des Bürgers eines wohlgeordneten modernen republikanischen Gemein­ wesens. In der hier nun vorgelegten Untersuchung liegt das thema­ tische Schwergewicht indessen auf Form und Funktionen des politi­ schen Urteils, das dem Handeln vorausliegt, durch das die Inhaber der politischen Schlüsselämter in Regierung und Parlament eines solchen Gemeinwesens dessen Geschicke im Ausgang von konkre­ ten normierungsbedürftigen Situationen ihres Gemeinwesens mit Hilfe von Gesetzen und anderen rechtsverbindlichen generellen und gemeinwohldienlichen Normen steuern. Es liegt auf der Hand, dass diese beiden Untersuchungsrichtungen einander ergänzen und sogar konvergieren. Denn das politische Urteil des Bürgers hat letzten Endes den praktischen Bewährungsgrad zum Thema, den im Leben seines Gemeinwesens die politischen Urteile zeigen, von denen sich die maßgeblichen politischen Amtsinhaber in der legislaturperiodisch befristeten Zeit ihrer Praxis leiten lassen. Und umgekehrt haben die maßgeblichen politischen Amtsinhaber den Bewährungsgrad ihrer Praxis immer wieder von neuem auch dem entsprechenden Urteil derjenigen Bürgerschaft auszusetzen, zu deren Gunsten ihnen die Vgl. hierzu Wolfgang Wieland. Diagnose. Überlegungen zur Medizintheorie (11975), Warendorf 2004, bes. den Hinweis auf den systematische Parallelfall der Politikwissenschaft S. 1151; zur positiven Resonanz auf Wielands beiläufige wissen­ schaftssystematische Einschätzung der Politikwissenschaft vgl. Wilhelm Hennis, Max Weber und Thukydides. Die »hellenische Geisteskultur« und die Ursprünge von Max Webers politischer Denkart, Göttingen 2003, S. 41f. 29 An meiner Universität, der traditionsreichen, ursprünglich aufklärungs-orientier­ ten Universität Halle – mit europäischen Leuchttürmen wie Christian Thomasius (Recht), Christian Wolff (Philosophie), Friedrich August Wolf (Altphilologie) und Leopold Zunz (Judaistik) – wird für die Politikwissenschaft gerade unter den Vor­ zeichen des technokratischen Euphemismus Profilschärfung die Integration in ein sozialwissenschaftliches Groß-Institut geplant – Profilverschleierung statt ›Profil­ schärfung‹. 30 Vgl. Ronald Beiner, Political Judgement, London 1983. 28

27 https://doi.org/10.5771/9783495999271 .

Einleitung: Öffentlichkeit und Verborgenheit des politischen Urteils

Ausübung dieser Praxis von der Mehrheit dieser Bürgerschaft zuge­ traut wird und anvertraut ist. Die folgenden Überlegungen haben gleichsam drei Angelpunkte. Den Ausgangspunkt bildet der Gedanke, dass analog zur höchsten ärztlichen Norm Salus aegroti suprema lex die politische Norm Bonum commune suprema lex das allen positiv-rechtlichen Ordnungen vor­ geordnete höchste normative Legitimitätskriterium der politischen Praxis abgibt. Den wichtigsten neuralgischen Brennpunkt für diese Überlegungen bildet indessen der Umstand, dass jeder politischen Praxis ein spezifisch politisches Urteil zugrunde liegt. Dessen logische Form legt, wie sich zeigen soll, die spezifisch praktisch relevanten Bedingungen fest, von denen seine Wahrheit bzw. seine Wahrheitsde­ fizite abhängen. Für Leser, die mit der Methodik vertraut sind, die in der moder­ nen Formalen Logik zugunsten der Analysen von logischen Formen und Wahrheitsbedingungen von Urteilen (Sätzen, Aussagen, Propo­ sitionen u. ä.) geübt wird, ist an diesem Punkt ein Signal vorbeugender Vorsicht zweckmäßig. Denn es wird sich im Laufe der folgenden Kapi­ tel schrittweise zeigen, daß und inwiefern die logische Form, also die Wahrheitsbedingungen politischer Urteile von so enormer Komplexi­ tät sind, daß einer der wichtigsten traditionell gewordenen Kunstgriffe der Formalen Logik – die Formalisierung von Sätzen – in diesem Fall gleichsam ›auf die lange Bank geschoben‹ werden muß. Wie dieser Kunstgriff vorbereitet werden muß, kann man am instruktivsten durch den klassisch gewordenen Aufsatz des eminenten Logikers Gottlob Frege Funktion und Begriff31 studieren. Frege bereitet diesen Kunstgriff vor, indem er zunächst elementare, inhaltlich bestimmte arithmetische Sätze erörtert32 und anschließend einige wenige nicht weniger elementare in unserer Umgangssprache formulierte Sätze.33 Schließlich nutzt er eine ingeniöse Analogie, um plausibel zu machen, daß und inwiefern Begriffe unserer Umgangssprache wie erobern und Hauptstadt ebenso den logischen Status von Funktionen haben wie die Addition, die Multiplikation und unzählige andere mathematische Entitäten dieses Typs. Erst nach dieser Vorbereitung ist er – und Gottlob Frege, Funktion und Begriff (11891), wieder abgedr. in: ders., Funktion, Begriff, Bedeutung. Fünf logische Studien, Herausgegeben und eingeleitet von Gün­ ther Patzig, 2. durchgesehene Auflage, Göttingen 1966, S. 17–39. 32 Vgl. S. 18ff. 33 Vgl. S. 29f. 31

28 https://doi.org/10.5771/9783495999271 .

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mit ihm die gesamte von ihm inaugurierte moderne Formale Logik – in der Lage, von den vorher inhaltlich bestimmten Sätzen unse­ rer Umgangssprache schrittweise durch Formalisierung zu Formeln überzugehen, in denen auf Grund des zuvor geklärten funktionalen Formats der beteiligten Begriffe von allen Inhalten abstrahiert wird.34 Formalisiert man z. B. den Satz Berlin ist die Hauptstadt von Deutsch­ land, indem man den Namen der Stadt bzw. des Landes durch die Buchstaben a bzw. b und das Prädikat … ist die Hauptstadt von … durch das Symbol … Kap … andeutet, erhält man die Formel a Kap b. Solche Formeln bringen in abstrakter Weise nicht nur die logischen Formen aller Sätze zum Ausdruck, die als Sätze über Hauptstädte dieselbe logische Form haben. Von solchen logischen Formen hängt auch ab, wie Frege ausführlich zeigt, wie sich Wahrheit und Falschheit der Sätze solcher logischen Formen verhalten.35 Er zeigt also, obwohl er über den Begriff der Wahrheitsbedingung noch nicht verfügt, inwiefern die logische Form eines entsprechend formalisierten Satzes dessen Wahrheitsbedingungen festlegt.36 Doch eine nicht immer deutlich gemachte Pointe solcher Forma­ lisierungen besteht darin, daß jeder, der eine entsprechende Formel verwendet, voraussetzt, daß er mit den Wahrheitsbedingungen, die durch sie festgelegt sind, schon lange durch seine Praxis des Sprechens der alltäglichen Sprache vertraut ist, aus deren Sätzen solcher Formeln durch Formalisierung gewonnen worden sind. Andernfalls könnte im alltäglichen Leben – auch im alltäglichen wissenschaftlichen Leben – niemand jemals in sinnvoller Weise Behauptungen mit Wahrheits­ anspruch und mit dem Risiko des Irrtums, also ihres Falschseins aufstellen. Unsere, wie man seit Karl Bühlers Sprachtheorie37 sagen kann, empraktische38 Vertrautheit mit den Wahrheitsbedingungen von alltäglichen Sätzen (Urteilen, Aussagen, Propositionen, Behaup­ tungen u. ä.) – auch von Sätzen des wissenschaftlichen Alltags – Vgl. S. 29–30. Vgl. S. 30ff. 36 Die erste, klassische lehrbuchförmige formal-logische Behandlung dieses Themas hat erst fünfzig Jahre später – nach außerordentlich wichtigen Zwischenschritten Ludwig Wittgensteins und Alfred Tarskis – Rudolf Carnap, Introduction to Semantics, Harvard 1942, mit Hilfe des von Wittgenstein eingeführten Begriffs der Wahrheitsbe­ dingungen ausgearbeitet. 37 Karl Bühler, Sprachtheorie. Die Darstellungsformen der Sprache (11934), Stutt­ gart 1965. 38 Vgl. S. 52f. 34 35

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Einleitung: Öffentlichkeit und Verborgenheit des politischen Urteils

macht daher für eine Untersuchung wie die hier vorliegende eine bestimmte methodische Vorentscheidung nicht nur zweckmäßig, sondern auch nötig: Versuche zur Formalisierung des politischen Urteils müssen mindestens so lange vertagt werden wie die Wahr­ heitsbedingungen nicht geklärt sind, die unserem ›empraktischen‹ Vorverständnis als Bürgern eines wohlgeordneten, republikanischen Gemeinwesens innewohnen. Andernfalls könnte niemand politische Urteile mit Anspruch auf Wahrheit und mit dem Risiko ihres Falsch­ seins treffen. Im Rahmen der richtungweisenden theoretischen Aus­ einandersetzungen der vergangenen Jahrzehnte bildet es daher ein durchaus ernstzunehmendes Indiz für einen tiefgehenden Konsens in diesem Punkt, daß ihn zwei so antipodische Autoren wie Hennis und Habermas teilen: Hennis bekennt, »daß ich […] praktische Fragen für wahrheitsfähig halte«;39 Habermas betont in demselben thematischen Legitimitäts-Kontext seine Überzeugung, »daß prakti­ sche Fragen wahrheitsfähig sind«.40 Beide stehen zwar – mit sehr unterschiedlichen Graden ihres problemgeschichtlichen Bewußtseins – in einer von Aristoteles gestifteten Tradition dieser Auffassung.41 Doch die Bedingungen dieser Wahrheitsfähigkeit, also die Wahrheits­ bedingungen politischer Urteile zu klären, lag aus verschiedenartigen Gründen außerhalb der Horizonte ihrer Intentionen. Den Zielpunkt der vorliegenden Überlegungen bildet daher der Nachweis, dass die Gemeinwohlorientierung die irreversible und implizite, aber zentrale Wahrheitsbedingung jedes auch noch so all­ 39 Wilhelm Hennis, Legitimität. Zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, in: Merkur 1976, 1, S. 17–36, hier: S. 25. 40 Jürgen Habermas, Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, Frankfurt/Main 1973, S. 153. 41 Vgl. hierzu die gründlichen Erörterungen durch Alejandro G. Vigo, Praktische Wahrheit und dianoetische Tugenden bei Aristoteles, in: Platon und Aristoteles sub ratione veritatis. Festschrift für Wolfgang Wieland zum 70. Geburtstag (Hg. Gregor Damschen, Rainer Enskat und Alejandro G. Vigo), Göttingen 2003, S. 252–285, bes. S. 252–261, vgl. hierzu auch unten S. 72138; vgl. zum Thema zuletzt die trefflichen Erörterungen durch Hermann Weidemann, Überlegungen zum Begriff der prakti­ schen Wahrheit bei Aristoteles, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 59 (3), (2005), S. 345–357, bes. S. 349–357. Beide Autoren arbeiten im Anschluß an Aris­ toteles, Nik. Ethik 1139a 18ff. die wichtigsten Wahrheitsbedingungen praktischer Urteile individueller Akteure heraus. Analoge Wahrheitsbedingungen werden in den folgenden Kapiteln als Wahrheitsbedingungen auch des politischen Urteils zur Spra­ che gebracht – das Ziel des politischen Handelns, der Modus des politischen Handelns, die Bewährungsform des politischen Handelns, der Status des politisch Handelnden sowie die kognitiven und die praktischen Tugenden des politisch Handelnden.

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Einleitung: Öffentlichkeit und Verborgenheit des politischen Urteils

täglichen politischen Urteils bildet, das diesen Namen mit guten Gründen beanspruchen kann. Angesichts dieser irreversibel implizi­ ten, praktisch-politischen Wahrheitsbedingung politischer Urteile ist es daher auch ganz gleichgültig, auf welcher der unüberschaubar vie­ len prozeduralen Stufen der politischen Regierungspraxis es von irgendjemand getroffen wird, der mit einer politischen Agende von Amts wegen befaßt ist. Es ist aus demselben Grund ebenso gleich­ gültig, in welcher sozialen Rolle ein beliebiger Bürger ein Urteil über das Format irgendeiner beliebigen politischen Agende oder über irgendeinen politischen Amtsinhaber oder über irgendeine andere politische Instanz trifft. Und es ist schließlich aus diesem Grund ebenso gleichgültig, ob man sich der Wahrheitsbedingungen des poli­ tischen Urteils ausdrücklich bewusst ist oder nicht, wenn man ein politisch ambitioniertes Urteil trifft. Umso mehr kommt es darauf, die logischen, die kognitiven, die normativen und die praktischen Funk­ tionsstellen in der Tiefenstruktur des politischen Urteils möglichst sorgfältig zu bestimmen, in der dessen Gemeinwohlorientierung ver­ ankert ist. Doch die Form des politischen Urteils, in der die Bedin­ gungen seiner Wahrheitsfähigkeit – also seine Wahrheitsbedingun­ gen – miteinander verbunden sind, sind öffentlich unsichtbar; öffentlich sichtbar sind indessen die diversen rhetorischen Funktio­ nen, von denen das Publikum – und auch jeder politische Amtsinha­ ber sowohl im Rahmen seiner amtlichen Tätigkeit wie in seinen medialen Auftritten – in ständig wechselnden Situationen politisch urteilend Gebrauch macht. Der öffentlichen Unsichtbarkeit der logi­ schen Form, also der Wahrheitsbedingungen des politischen Urteils trägt die vorliegende Untersuchung mit Hilfe eines aus der der Logik übernommenen Kunstgriffs Rechnung: Sie bringt jede dieser Wahr­ heitsbedingungen mit Hilfe eines charakteristischen, sonst still­ schweigenden Präfix‘ zur Sprache (vgl. unten S. 36, 44, 49-50, 54, 76). Diese Präfixe haben, abgesehen von ihren jeweils spezifischen Inhal­ ten, die Standardform: Die in der Verborgenheit der logischen Form des politischen Urteils aufgehobene Wahrheitsbedingung der/des/von ... ist bei allen verfassungsrechtlich vorgesehenen öffentlich-rechtlichen Nor­ mierungen mit dem stillschweigenden Präfix verbunden: Es ist gemein­ wohldienlich, daß …. Wenn alle diese Bedingungen erfüllt sind, ist ein solches Urteil wahr, in dem Maß, in dem diese Bedingungen nicht erfüllt sind, verliert ein solches Urteil an Wahheitsfähigkeit. Meine langjährige Verbundenheit mit Wilhelm Hennis‘ und Wolfgang Wielands Arbeiten mag indessen zu verstehen geben,

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Einleitung: Öffentlichkeit und Verborgenheit des politischen Urteils

warum die folgenden Überlegungen in einer Haltung angestellt wer­ den, die so viel politischen Realismus wie nötig und so viel Grundfra­ gen-Reflexion und -Analyse wie möglich zu verbinden sucht.

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I. Kapitel: Die logische Form des politischen Urteils

Was macht den politischen Charakter und was den Urteilscharakter eines politischen Urteils aus?42 Diese doppelte Frage signalisiert in der einfachsten möglichen Form, warum das Thema des politischen Urteils auf die Grenze zwischen Politischer Philosophie und Politi­ scher Wissenschaft gehört. Mit der Lokalisierung des Themas auf dieser Grenze entfernt man sich selbstverständlich am weitesten von der Praxis, durch die das politische Urteilen in jedem politischen Gemeinwesen zum Alltag der Menschen gehört. Eine Behandlung dieses Themas entlang dieser disziplinären Grenze wird daher darauf zu achten haben, daß sie die Spannweite des offenkundigen Abstands gebührend respektiert, der die Einstellungen des politischen Alltags, die der Politischen Philosophie und die der Politischen Wissenschaft voneinander zu trennen scheint. Doch dieser gebührende Respekt verlangt auch, daran zu erinnern, daß die Politische Philosophie als die älteste disziplinäre Einstellung zu diesem Thema auch von alters her, also seit Platon, Xenophon und Aristoteles – und sogar schon seit Thukydides und den Sophisten – mit unterschiedlichen Erfolgen darum bemüht ist, die scheinbare Kluft zwischen der alltäg­ lichen Praxis des politischen Urteilens und seiner reflexiven und analytischen Behandlung durch die für dieses Thema zuständigen disziplinären Bemühungen direkt zu überspringen. Zu Recht erinnert Ronald Beiner daran: »In every contact we have with the political

Zu dem thematisch genau entsprechenden Buch von Beiner, Judgment, vgl. die folgenden Seiten; zum angemessenen sachlichen Verständnis von Beiners Untersu­ chung ist es allerdings unerläßlich zu berücksichtigen, daß judgment im Englischen sowohl Urteil wie auch Urteilskraft bedeutet. In seinem überaus kundigen Foreword spricht Bernard Crick daher zu Recht wiederholt von skill, virtue und wide ability levels, S. X, und von an inherently human quality, S. XII, sowie davon, daß we should exercise the best judgment that we can, S. 13; sorgfältig unterscheidet er davon den act of judgment, S. XI. Beiners Buch erörtert daher sowohl das politische Urteil wie die politische Urteilskraft. 42

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I. Kapitel: Die logische Form des politischen Urteils

world we are engaged in judgment. Judging is what we do when we read politics in our morning newspaper, when we discuss politics during family or friendly conversation, and when we watch politics on television. Judging is also what we as academics do when we try to keep abreast of the political developments in our world, or when we strive to appraise the course of modern political history. And finally, judging is what we are doing also when we do politics, that is, when we act in a public setting or assume public responsibilities for which we are held accountable. So the normal kind of contact that each of us – academics, political observers, and common citizens – has with politics is the opportunity to judge«.43 Gerade die oft und irrtümlich übel beleumdeten Sophisten waren es im fünften Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung, die schon ganz gezielt gerade auch die alltägliche politische Urteilsbildung ihrer Zeitgenossen kri­ tisch auf die Anteile unreflektiert gebliebener Vorurteile, Traditionen und Konventionen zu durchschauen gesucht haben.44 Doch diese im besten Sinne kritische Einstellung nicht nur zu politischen, sondern zu allen praktischen Themen der alltäglichen Urteilspraxis wird vor allem von Platon durch das personifizierte Medium der SokratesGestalt seiner Dialoge auf ein methodisch-didaktisch mustergültiges Reflexionsniveau gehoben. Hier wird die prä-disziplinäre Form der logischen und der erkenntnistheoretischen Reflexion und Analyse in der eindringlichsten Weise vor Augen geführt, ohne jemals den Kon­ takt zur alltäglichen Urteilspraxis – auch der politischen Urteilspraxis – ganz zu verlieren. Das Erbe dieser methodischen Einstellungen haben danach und bis heute – in der Tradition der thematischen Traktate des Aristoteles – zunächst die Logik, die Erkenntnistheorie und die Politische Philosophie angetreten. Seit damals gehört das Thema des Urteilens in die spezielle disziplinäre Obhut der Logik und der Erkenntnistheorie, das Thema des Politischen indessen während zwei Jahrtausenden – also seit Platon, Xenophon und Aristoteles – zunächst in die Obhut der Politischen Philosophie, in der Tradition 43 Beiner, Judgment, S. 8. – Auch die »Representatives […] are expected to entertain their judgement in enacting legislation«”, John Rawls, A Theory of Justice (11971), London/Oxford New York 1973, S. 227, Hervorhebung R. E. 44 Vgl. hierzu George B. Kerferd, Hellmut Flashar: Entstehung und Wesen der Sophistik, in: Hellmut Flashar (Hrsg.): Grundriss der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie der Antike. Band 2/1, Basel 1998, S. 3–10.

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I. Kapitel: Die logische Form des politischen Urteils

von Augustinus‘ De civitate dei ebenso in die der Theologie, seit den ersten Jahrhunderten der Neuzeit in die der Staatsphilosophie und der Rechtsphilosophie, seit dem achtzehnten Jahrhundert in die der Staatswissenschaft oder Polizeiwissenschaft45 und ungefähr seit dem zweiten Drittel der zwanzigsten Jahrhunderts zunehmend in die der Politischen Wissenschaft.46 Doch seitdem Fragestellungen und Methoden der Sozialwissenschaften ungefähr seit den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts immer mehr in die Obhut von Politikwissenschaftlern genommen worden sind, ist zunehmend die Erinnerung verloren gegangen, daß die von der älteren Staatslehre geerbten Fragen, Themen und Methoden der Politischen Wissen­ schaft in die traditionelle wissenschaftssystematische Dimension der praktischen Wissenschaften gehören und sich diese Zugehörigkeit mit der Medizin, der Rechtswissenschaft, der Ökonomie und der Pädagogik teilten.47 Kriterium dieser systematischen Gemeinsamkeit war, daß diese Wissenschaften ihren Adepten zu einer möglichst tüch­ tigen Bildung der praktischen Urteilskraft in den Aufgaben verhelfen sollen, die ihnen die vielgestaltige Praxis der Menschen abverlangt – in der Medizin zu möglichst trefflichen, also auch therapie-förder­ lichen Diagnosen leibhaftiger Beschwerden von Patienten, in der Politischen Wissenschaft zu möglichst trefflichen situativen Urteilen (von politischen Amtsinhabern und Bürgern) über den Grad der Gemeinwohldienlichkeit politischer Agenden, in der Rechtswissen­ schaft zu möglichst trefflichen situativen Urteilen (von Anwälten und Richtern) über Wege zur friedlichen Überwindung von Rechtsstreitig­ keiten, in der Ökonomie zu möglichst trefflichen situativen Urteilen (von Unternehmern und Kaufleuten) über die Optimierungschancen betrieblichen bzw. nationalen Gewinnstrebens in Konkurrenzsitua­ tionen und in der Pädagogik zu möglichst trefflichen situativen Urtei­ len (von Lehrern) über die Verbesserungschancen erziehungs- bzw. lernbedürftiger Heranwachsender.

45 Vgl. hierzu die eindringliche Untersuchung von Hans Maier, Die ältere deut­ sche Staats- und Verwaltungswissenschaft (Polizeiwissenschaft). Ein Beitrag zur Geschichte der politischen Wissenschaft in Deutschland, Neuwied am Rhein und Berlin 1966. 46 Der treffliche Heller, Staatslehre, behandelt im Kapitel I. Aufgaben der Staatslehre sogleich 1. Staatslehre als Teil der politischen Wissenschaft. 47 Vgl. zu diesem Erinnerungsverlust und seiner Tragweite bes. Wilhelm Hennis, Politik und praktische Philosophie, Neuwied 11963.

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Angesichts des Themas dieser Untersuchung mag die eben nur gestreifte Gemeinwohlbedingung sogleich in das ihr zustehende Zen­ trum ihrer Berücksichtigung gestellt werden. Mit Hilfe des oben (vgl. S. 31) standardisierten Präfixes kann ihre Rolle als die zentrale Wahr­ heitsbedingung des politischen Urteils leicht so zur Sprache gebracht weden: Die in der Verborgenheit der logischen Form des politischen Urteils aufgehobene Wahrheitsbedingung des Gemeinwohls ist bei allen verfassungsrechtlich vorgesehenen öffentlich-rechtlichen Normierungen mit dem stillschweigenden Präfix verbunden: Es ist gemeinwohldienlich, daß …, Es ist zwar nicht nur verständlich, sondern auch gerechtfertigt, daß die unaufhörlichen Komplexitätszuwächse der modernen Gesell­ schaften auch eine zunehmend komplexer werdende wissenschaftli­ che Konzentration auf die empirische Erforschung, funktionalistische Analyse und theoretische Durchdringung dieser Komplexitätszu­ wächse erfordern. Ohne ihre Hilfe ließe sich die schon von Hegel diagnostizierte ›ungeheure Macht der bürgerlichen Gesellschaft‹ nicht mit berechtigter Aussicht auf Erfolg auch nur einigermaßen hegen. Doch bevor immer mehr Repräsentanten der Politischen Wissenschaft anfingen, sich unmittelbar als Sozialwissenschaftler zu verstehen, bildete die Politische Soziologie den disziplinären Ort, an dem unmittelbar politisch orientierte soziologische Untersuchungen zu Hause waren.48 Wenn die Frage nach dem Urteilscharakter des politischen Urteils traditionell in die Obhut von Logik und Erkenntnistheorie zu gehören scheint, dann ist in der Gegenwart schon seit längerem Vorsicht vor allerdings verständlichen Mißverständnissen von erheblicher Tragweite geboten. Denn die Logik hat sich vor allem in Gestalt der formalen Logik im Laufe von über hundert Jahren zu einer weitver­ zweigten Spezialdisziplin entwickelt, an deren Forschungsfront for­ male Fertigkeiten vonnöten sind, wie sie sonst nur in der Mathematik verlangt werden. Aus guten Gründen wird sie daher bis heute nicht

48 Vgl. hierzu vor allem das Nachkriegs-Werk von Richard Löwenthal, bes. die aufschlußreiche Sammlung scharfsinnig analysierender und souverän urteilender Aufsätze über die sich wandelnden sozio-kulturellen Rahmenbedingungen der Politik westlicher Gemeinwesen im dritten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts: Richard Löwenthal, Gesellschaftswandel und Kulturkrise. Zukunftsprobleme der westlichen Demokratien, Frankfurt/Main 1979.

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selten auch als mathematische Logik apostrophiert.49 Hinzu kommt, daß diese formale Logik in allen ihren diversen disziplinären Zweigen primär als Analyse und Theorie formal korrekter Schlußfolgerungen betrieben wird. Im Unterschied zu dieser deduktions-logischen Orientierung faßt die Frage nach dem Urteilscharakter des politischen Urteils von Anfang an Merkmale solcher Urteile ins Auge, von denen die deduktions-logisch orientierte formale oder mathematische Logik aus guten Gründen systematisch abstrahieren kann. Denn schon vor aller eindringlicheren Analyse liegt es auch schon für das alltägliche Vorverständnis auf der Hand, was man von einem Urteil als Urteil verlangen darf: »It is possible for us to have a concept of deficient or distorted judgment only because of logically prior access to an ideal standard of adequate or fitting judgment. It is therefore important for us to clarify precisely what it is that constitutes a good judgment«.50 Doch was konstituiert ein gutes politisches Urteil? Vier charakteristische formale Merkmale sind es jedenfalls und mindestens, die ein politisches Urteil ganz wesentlich prägen: Es ist der Umstand, daß es stets 1. zu einer ganz bestimmten individuellkalendarischen Zeit politischer Praxis, 2. an einem ganz bestimmten individuellen politisch-nationalen Ort im verfassungsrechtlichen Gefüge einer solchen Praxis, 3. von einer ganz bestimmten individu­ ellen Instanz (natürliche bzw. juristische Person) im Amts- und Rol­ lengefüge einer solchen Praxis und 4. über eine ganz bestimmte indi­ viduelle und aktuelle politische Agende politischer Amtsinhaber getroffen wird. Diese strikte vierfache Minimalstruktur verweist darauf, daß ein politisches Urteil – wie auch die charakteristischen Urteile, zu deren Bildung die anderen praktischen Wissenschaften 49 Vgl. z.  B. hierzu das proto-typische Pionierwerk von Willard van Orman Quine, Mathematical Logic (11940), Cambridge 51951. 50 Beiner, Judgment, S. 9, Hervorhebungen R. E. Zwar ist sich Beiner darüber im klaren, daß »[a] theory of political judgment must supply some means of individuating political judgment relative to other varieties of human judgment (such as aesthetic judgment, moral judgment, historical judgment, legal judgment, and hermeneutic judgment)«, S. 130. Dennoch räumt Beiner hier – im letzten Kapitel seines Buchs – auch ganz freimütig ein: »We cannot hope to fulfil this requirement here, but perhaps we can take a first, tentative, step, and thus contribute in a preliminary way to the eventual provision of a full theory of political judgment«”, ebd. Solche means of indi­ vduating political judgment relative to other varieties of human judgment (such as aes­ thetic judgment, moral judgment, historical judgment, legal judgment, and hermeneutic judgment) werden in den nachfolgenden Untersuchungen bereitgestellt.

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ihren Adepten verhelfen sollen – vor allem durch eine radikal situative Form geprägt ist.51 Sie ist es, die den von seiner logischen Analyse primär zu berücksichtigenden formalen Charakter als Urteil aus­ macht.52 Gleichzeitig bildet diese strukturelle Situativität politischer Urteile auch das strukturelle Hindernis, sie deduktions-logisch zu behandeln. Denn es gibt ganz einfach keine gültige logische Regel, mit deren Hilfe man einen Satz, der einen so radikal situativen per­ sonellen, örtlichen und zeitlichen Einzelfall thematisiert, aus irgend­ einem anderen Satz logisch korrekt ableiten könnte bzw. durch die man aus diesem Satz irgendeinen anderen Satz logisch korrekt ablei­ ten könnte. Politische Urteile sind – wie alle genuin praktischen Urteile – wegen ihrer strukturellen Situativität deduktions-logisch gänzlich steril. Ihre genuine Fruchtbarkeit ergibt sich vor allem aus ihrem Entwurf einer möglichst wohlbestimmten politischen Agende (s. o. S. 37, 4. Charakter). Carl Schmitt verschärft diese Bedingung noch mit Hilfe eines ›existenziellen‹ Moments: »Die Möglichkeit richtigen Erkennens und Verstehens und damit auch die Befugnis mitzusprechen und zu urteilen ist hier [bei politischen Fragen, R. E.] nur durch das existenzielle Teilhaben und Teilnehmen gegeben«.53 Doch damit prägt er das ›existenzielle‹ Moment irrtümlich zu einem Kriterium der Möglichkeit des ›richtigen Erkennens und Verstehens‹ um, obwohl es allenfalls ein Kriterium der Möglichkeit des solidarischen Erkennens und Verstehens sein kann. Nur durch diese existenzielle Form der Partizipation sind die politischen Amtsinhaber und die ihrer amtli­ chen Tätigkeit anvertrauten Bürger gemeinsam im politischen Leben ihres Gemeinwesens verbunden. Doch diese existenzielle Form der politischen Partizipation ist nicht im geringsten auf die Dimension von Freundschaft und Feindschaft eingeschränkt. Ihr genuines thema­ tisches Zentrum bildet die Orientierung am Gemeinwohl, also an Urteilen ist ganz allgemein, wie Beiner im Anschluß an Aristoteles’ und Kants Urteilstheorie zu Recht hervorhebt, »the judging of particulars«”, S. 106, also von Einzelfällen in konkreten individuellen Situationen. 52 Auch Beiner, Judgment, betont die Wichtigkeit des »explicating formal and substantive conditions of judgment«, ebd., orientiert sich aber im Ganzen seiner Untersuchung – und zwar berechtigterweise und mit Gewinn – mit Blick auf die formalen Bedingungen politischer Urteile vor allem an rhetorischen und kommunika­ tiven Modi. 53 Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corrolarien, Berlin 82009, S. 26. 51

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dem für alle Bürger gemeinsamen Guten. Zu ihnen gehören auch die politischen Amtsinhaber selbst. Deswegen erinnert Hannah Arendt in knapper Zusammenfassung zu Recht daran, daß für »Montesquieu … das hervorragende Merkmal der Tyrannis das Prinzip der Isolie­ rung war, auf dem sie beruht, die Isolierung des Herrschers von seinen Untertanen und die Isolierung der Untertanen gegeneinander, die durch eine Art systematischer und organisierter Verbreitung gegenseitiger Furcht und allseitigen Mißtrauens zustande kommt«.54 Allerdings prägt Montesquieu für diese anti-solidarische Herrschafts­ form im Unterschied zur überlieferten aristotelischen Tradition der Politischen Philosophie den Terminus der Despotie. Er hebt die von Arendt betonte anti-solidarische Trennung der Herrschenden von den Untertanen durch die Maxime hervor: »Abolissez dans une monarchie les prérogatives des seigneurs, du clergé, de la noblesse et des villes; vous aurez bientôt … un État despotique«.55 Diese Trennung beruht also verfassungrechtlich auf der Ausschaltung der die politische Soli­ darität gewährenden pouvoirs intermédiaires.56 Wenn man das öffentliche Agenden-Zentrum des politischen Urteils mit der regierungsamtlichen Tätigkeit identifiziert, dann wäre

54 Hannah Arendt, Vita activa oder vom tätigen Leben, Stuttgart 1960, S. 196. – In seinem von der klassischen griechischen Problemgeschichte der Tyrannis gesättigten Buch kommt Leo Strauss, On Tyranny (11948), Revised and expanded Edition (ed.by Victor Gourevitch an Michael S. Roth), New York/Toronto 1991, daher in seiner ebenso mikro-hermeneutischen wie systematisch orientierten Untersuchung von Xenophons Hiero u. a. zu dem Ergebnis: »… his [i. e. the tyrant's subjects] are not free«, S. 70; »They are literally on the mercy of the tyrant and his merceneries«, ebd.; daher »[believed] [Xenophon] that virtue is impossible without freedom«, S. 72; der Tyrann »fears, then, the brave and the just because their virtues or viruous actions might bring about the restoration of freedom or at least of nontyrannical government«, S. 41; vgl auch unten S. 5179. 55 Charles de Montesquieu, De l‘Esprit des Lois. Texte établi avec une introduction, des notes et des variantes par G. Truc, 2. Bde., Paris 1956, II, 4.. – Die inverse tyran­ nische Variante dieser Trennung diagnostiziert Claus Leggewie, Brauchen sie eine Exilregierung? In: FAZ vom 6. August 2002, S. 9: Die symbiotische Verbindung der Mehrheit der Russen mit dem wahrheitsfeindlichen tyrannischen Regime Putins, sei­ nem völkerrechts-verbrecherischen Krieg gegen die Ukraine und dessen geopolitische Tragweiten haben dazu geführt, daß »Rußland ... Feind der Menschheit geworden ist«. 56 Die aktuellen Verfallsform der klassischen politischen Sprache zeigen sich immer häufiger auch in der Hilflosigkeit, mit der Kommentatoren des politischen Geschehens despotische/ tyrannische Regierungsformen nur noch durch den Gebrauch der aus den dreißiger Jahren stammenden kommunistischen Kampfparole faschistisch zu apostrophieren verstehen.

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es allerdings eine irreführend einseitige Verabsolutierung, wenn man es zu dem praktizistischen Dogma verkürzen würde: »Praktiker heißt Handelnde!«57 Es wird nicht besser, wenn man das mit abstrakten, also sterilen begrifflichen Gegensätzen erläutert: »Und in der Politik sind die Praktiker noch lange keine Handelnden in dem Sinne, daß sie etwas voranbringen. Zweifellos sind sie Praktiker, weil sie die Maschi­ nerie kennen; ob sie aber handeln, das bleibt noch sehr fraglich.«58 Die ganze Hilflosigkeit dieser Stellungnahme zeigt sich in ihrer Fortsetzung: »Handeln würde nämlich bedeuten: einen gegenwärti­ gen schlechten Zustand in einen guten zu verändern. Das bewirkt der echte Praktiker, nicht aber der schlaue Fuchs, der praktische Kopf«.59 Daß ›Handeln‹ in diesem Sinne voraussetzt, einen gegen­ wärtigen Zustand als einen ›schlechten‹ zu beurteilen und ebenso einen intendierten zukünftigen Zustand nicht nur als einen ›guten‹, sondern auch als einen praktisch-politisch erreichbaren zu beurteilen, geht in solchen grobmaschigen Verkürzungen und fast schon popu­ listischen Epitheta wie dem vom ›schlauen Fuchs‹ und ›praktischen Kopf‹ unter. In jeden halbwegs wohlgeordneten parlamentarischen Regierungssystem werden die Spitzenämter der Ministerien von Beamten besetzt, denen zugetraut wird, kluge Urteile über ›gute‹ und über ›schlechte‹ Zustände des Gemeinwesens zu bilden; und ebenso werden die mittleren und die unteren Ämter von Beamten besetzt, denen zugetraut wird, daß sie hinreichend ›praktische Köpfe‹ sind, um Gesetzesvorlagen mit Hilfe von angemessenen Ausführungsbestim­ mungen auf einen guten Weg ihrer Durchsetzbarkeit zu bringen. Jenseits des unserem spontanen Vorverständnis unmittelbar zugänglichen spezifisch situativen Charakters des politischen Urteils fällt dem vierten Merkmal (der Orientierung an einer konkreten öffentlichen Agende der politischen Amtsinhaber) eine ganz beson­ dere Rolle zu. Denn es bringt eine auf den ersten Blick allerdings paradox scheinende Tragweite mit sich. Durch den Umstand, daß ein politisches Urteil stets eine bestimmte situative politische Agende zur Sprache bringen muß – und nur dadurch –, qualifiziert es sich als spezieller Fall eines praktischen Urteils: Es nötigt, wenn es zutrifft, die jeweils urteilende Person innerhalb der Grenzen ihrer amtlichen 57 Günther Nenning, in: Muß unsere politische Maschinerie umstrukturiert werden?. Bergedorfer Protokolle. Band 16, Hamburg-Berlin 1966, S. 133. 58 Ebd. 59 Ebd.

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Zuständigkeit zu Recht zur authentischen und erfolgsorientierten Durchsetzung der von ihr thematisierten Agende.60 Doch die unmit­ telbare Beziehung eines politischen Urteils auf eine individuelle und aktuelle politische Agende macht implizit auf einen hier schon aus­ drücklich thematisierten weiteren seiner Charaktere aufmerksam – auf seinen Anspruch, daß es ›zutrifft‹, also wahr ist. Ohne diesen Anspruch wäre ein Streit um politische Urteile gar nicht sinnvoll möglich. Dieses Streitbarkeits-Kriterium alles praktisch Wichtigen legt mit Blick auf die gemeinsame Praxis der Menschen schon Platon seinem Sokrates durch die Frage in den Mund, »worüber wir uns wohl streiten müßten, und zu was für einer Entscheidung nicht kommen können, um uns zu erzürnen und einander feind zu werden«.61 Politi­ sche Streitigkeiten, Gegnerschaften und Feindschaften könnte es ohne die spezifisch praktischen Wahrheitsansprüche politischer Urteile gar nicht geben.62 Der implizite Wahrheitsanspruch politischer Urteile wirft aller­ dings sogleich Licht auf ein ganzes Nest von Problemen, das ohne die elementare formale Analyse seiner spezifisch situativen Charak­ tere allzu leicht verborgen bliebe. Zwar gehört die spezifisch prakti­ Zum Status des ex officio politisch Urteilenden vgl. den Status der politischen Autorität unten S. 51f. 61 Platon, Euthphr. 7 c-d. – Zum wahren Thema des politischen Freund-Feind-Ver­ hältnisses vgl. unten S. 63–65. 62 In seiner mikro-hermeneutischen und mikro-analytischen Erörterung von Xeno­ phons Dialog Hiero markiert Strauss, On Tyranny, den Wendepunkt zum antagonis­ tischen Streit zwischen dem Tyrannen Hiero und dem Dichter (und auswärtigen Pri­ vatmann) Simonides: »Now the struggle begins in earnest«, S. 51; »The topics ... introduced by Hiero are: peace and war, friendship, confidence, fatherland, good men, city and citizens, fear and protection«, S. 52; der Streit um diese Themen endet mit einer »peripeteia. It culminates in Hiero‘s declaration that the tyrant can hardly do better than to hang himself«, S. 54. – Eine besonders streitträchtige Form, den Wahr­ heitsanspruch politischer Urteile ernst zu nehmen, hat vor allem Carl Schmitt, Über die drei Arten des rechtswissen-schaftlichen Denkens (11934), Berlin 32006, durch die Wiederbelebung von Thomas Hobbes‘ Gedanken zur Sprache gebracht, daß dieser Anspruch nur durch den Gehorsam gegen die Autorität des geoffenbarten christlichen Gottes in Erfüllung gehen kann: »Der noch so unerforschliche Ratschluß eines per­ sönlichen Gottes ist, solange man an Gott glaubt, immer bereits ›in Ordnung‹ und nicht reine Dezision«, S. 26. Doch daß das ›In-Ordnung-sein‹ des göttlichen Rat­ schlusses und dessen Unerforschlichkeit auch im Horizont des Gläubigen einen Widerspruch bilden, sieht der in diesen Fragen sorglose Schmitt nicht: Dieses ›InOrdnung-sein‹ des Ratschlusses setzt im Widerspruch zu dessen Unerforschlichkeit einen kognitiven Zugang des Glaubenden zum Inhalt des als In-Ordnung beurteilten Ratschlusses voraus. Zum Problem der politischen Autorität vgl. unten S. 51f. 60

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sche Wahrheit seit deren klassischer Erörterung durch Aristoteles63 zu den immer wieder einmal thematisierten Charakteristika prakti­ scher Urteile.64 Doch der spezifische praktische Charakter politischer Urteile macht es erforderlich, auch spezifisch andere Merkmale als die ins Auge zu fassen, die die nicht-politischen praktischen Urteile prägen.65 Eine seiner wichtigsten Prägungen erhält ein politisches Urteil – und auch das entspricht noch unserem prä-analytischen Vorverständnis – aus seinem öffentlichen Charakter, und damit aus dem Umstand, daß sein Wahrheitsanspruch und die Agende, zugunsten von deren Praktizierung es gebildet wird, nur auf dem Forum und in den Augen der Öffentlichkeit aller Bürger Bestand haben kann. Diese charakteristische praktische Wahrheitsbedingung eines politischen Urteils macht seine Wahrheit von einem spezifisch geschichtlichen Geschehen abhängig, das man am angemessensten mit einem zunächst aus der Methodologie der empirischen Wissen­ schaften vertrauten Terminus apostrophieren kann – als Bewährung. Aus gutem Grund hat die Sprachgeschichte in diesem Begriff die Wahrheit als die zentrale Komponente aufgehoben, aber eben auch ganz offensichtlich durch ein zeitliches und in gewisser Weise dyna­ misches Moment relativiert. Durch diese Relativierung wird vor allem zu verstehen gegeben, daß die Wahrheit eines politischen Urteils nicht einfach vom Vorliegen eines aktuell bestehenden Sachverhalts, also einer aktuellen Tatsache abhängt, d. h. von einer Tatsache, die zu der­ selben Zeit (noch oder schon) aktuell ist, zu der das Urteil von jemand getroffen wird. Daß diese zeitliche und dynamische Relativierung der Wahrheit eines politischen Urteils der Sache nach angemessen ist, ergibt sich wiederum vor allem aus der 4. Bedingung (s. o. S. 37), die das spezifisch praktische Format des politischen Urteils vom Entwurf einer Agende, also eines spezifisch politischen Handlungsentwurfs abhängig macht. Denn zum einen erfolgt die Praktizierung einer sol­ chen Handlungsanweisung erst in der Zukunft des Urteils. Zum ande­ ren und vor allem wird sich erst in dieser Zukunft nach und nach erweisen, in welchem Maß und in welcher Form die jeweilige Hand­ Vgl. oben S. 3041. Vgl. oben S. 29–31. 65 Zu Recht bekennt Wilhelm Hennis, Legitimität. Zu einer Kategorie der bürgerli­ chen Gesellschaft, in: Merkur 1976, 1, S. 17–36, hervor, »daß ich […] praktische Fragen für wahrheitsfähig halte«, S. 25; zu einer speziellen Frage der Wahrheitsfähigkeit praktisch-politischer Fragen vgl. auch unten S. 52–54. 63

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lungsanweisung erfolgsträchtig ist – also dem Gemeinwohl in der praktischen Erfahrung und Beurteilung durch die betroffenen Bürger gedient hat. Analog wie die praktische Wahrheit einer ärztlichen Dia­ gnose vom mehr oder weniger langfristigen Erfolg der Praktizierung des vom Arzt empfohlenen Heilbehandlungsplans abhängt,66 hängt die praktische Wahrheit eines politischen Urteils von dem Maß und den Formen ab, in denen sich die Gemeinwohldienlichkeit der von ihm entworfenen Agende im Laufe der Zeit öffentlich zeigt – also in der öffentlichen Praxis und Beurteilung durch alle Bürger eines Gemeinwesens ihre spezifisch praktische Bewährung findet.67 Diese Bewährungsbedingung verdeutlicht ganz besonders ein­ dringlich, daß und inwiefern das thematische Zentrum aller poli­ tischen Urteile die Agenden bilden, die in den Gesetzgebungsin­ itiativen und Gesetzesentwürfen der dafür zuständigen amtlichen Instanzen sowie in den schließlich in Kraft getretenen Gesetzen Gestalt annehmen. Es ist indessen vor allem die mit einem solchen Gesetz konforme öffentliche Praxis der Bürger, in der der Wahrheits­ anspruch eines politischen Urteils seine mehr oder weniger starke Bewährung findet – oder aber nicht, falls diese Praxis nicht im hinreichenden Maß gesetzeskonform ist. Doch wie es diese öffentliche Bewährungsprobe besteht, hängt vor allem davon ab, in welchem Maß die von ihm favorisierte Agende dazu beiträgt, dem Ziel zu dienen, das für jede praktische Politik die suprema lex bildet – das Gemeinwohl des betroffenen Gemeinwesens zu fördern oder dessen schon erreichtes Niveau wenigstens zu konservieren oder gegen Störfaktoren abzuschirmen (salus populi suprema lex esto).68 Die 66 Auf die systematische Parallele der ärztlichen und der politischen Aufgaben macht Wolfgang Wieland, Diagnose. Überlegungen zur Medizintheorie Berlin/New York 1975, mit Blick auf Hennis, Politik, aufmerksam, vgl. S. 881; Hennis hat diesen syste­ matischen Hinweis Wielands zwar erst verspätet zur Kenntnis genommen, aber mit rühmenden Worten über dessen Wichtigkeit für die Politische Wissenschaft kom­ mentiert, vgl. Wilhelm Hennis, Max Weber und Thukydides. Nachträge zur Biogra­ phie des Werks, Tübingen 2003, S. 46f. 67 Dieser praktisch-politischen Bewährungsbedingung entspricht in Beiners, Judg­ ment, Theorie die Bedingung der »possible confirmation of the validity of his [the politically judging subject‘s, R. E.] judgment«, S. 115. 68 Vgl. Cicero, De legibus, Buch III, Teil III, Abschn. VIII; vgl. auch John Locke, Zwei Abhandlungen über die Regierung (engl. 11690), (Hg. W. Euchner), Wien 1967, II. Buch XIII. Kap., § 158, S. 307–08. Daß vor allem die Orientierung am Gemeinwohl den politischen Urteilen ihren spezifischen Charakter verleiht, umschreibt Beiner, Judgment, für unsere Gegenwart so: »All political judgments are – implicitly at least

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politische Öffentlichkeit wird von einem subtilen Netz gebildet. In ihm ist das in einem in Kraft getretenen Gesetz nahezu stillschwei­ gend verborgene politische Urteil mit den gesetzeskonformen Hand­ lungsweisen der Bürger öffentlich manifest verbunden.69 Die in der Verborgenheit der logischen Form des politischen Urteils aufgehobene Wahrheitsbedingung der bürgerschaftlichen Bewährung ist bei allen verfassungsrechtlich vorgesehenen öffentlich-rechtlichen Normierungen mit dem stillschweigenden Präfix verbunden: Wir trauen der von uns statuierten Agende zu, daß sich in der Bürgerschaft unseres Gemeinwe­ sens praktisch bewährt, daß es gemeinwohldienlich ist. daß …. Will man dem Format der für ein politisches Urteil charakte­ ristischen spezifisch praktischen Wahrheit gerecht werden, dann lohnt es sich, die Unterschiede zur theoretischen Wahrheit sorgfäl­ tig zu berücksichtigen. Im elementarsten, aber für einen solchen Vergleich aufschlußreichsten Fall, bildet die theoretische Wahrheit die Eigenschaft von Sätzen, die bestehende Sachverhalte (Wittgen­ stein), also aktuelle Tatsachen darstellen70 – z. B. Halle liegt an der Saale, Deutschland ist im Herbst 2020 wieder von zunehmenden Corona-Virus-Infektionen betroffen.71 Ein wahrer theoretischer Satz dieses Typs ist ein Satz, dessen Wahrheitsbedingungen von dem bestehenden Sachverhalt, also von der Tatsache, die er darstellt, aktuell so erfüllt werden, daß diese Erfüllung mit Hilfe von bewährten Methoden durch entsprechend kundige Personen auch mit Erfolg überprüft werden können. Diese knappe Charakteristik der Wahrheit theoretischer Urteile dieses Typs genügt bereits, um dem ausschlaggebenden Unterschied – judgments about the form of collective life that it is desirable for us to pursue within a given context of possibilities«”, S. 138, Hervorhebungen R. E. – Rawls, Justice, umschreibt die spezifische Wahrheitsbedingung politischer Urteile durch die Bürger implizit so: »All citizens should have the means to be informed about political issues. They should be in a position to assess how proposals affect their well-being and which policies advance their conception of the political good«”, S. 225, Hervorhebungen R. E.; zu Rawls Konzeption des politischen Gemeinwohls vgl. unten S. 6016. 69 Negt / Kluge, Öffentlichkeit, behandeln nicht nur ausschließlich organisationstechnische Dimensionen der Öffentlichkeit; sie behandeln diese Dimensionen – immerhin noch im Jahr 1972 – ausschließlich unter Aspekten eines traditionalisti­ schen Marxismus mit Blick auf die Maße und die Formen, in denen zwei dichotomische Dimensionen ›bürgerlicher‹ und ›proletarischer‹ Öffentlichkeit, vgl. S. 102–168, Möglichkeiten ›kollektiver gesellschaftlicher Erfahrung‹ eröffnen, vgl. S. 17–101. 70 Vgl. hierzu Günther Patzig, Satz und Tatsache (11964), wieder abgedr. in: ders., Gesammelte Schriften 4. Theoretische Philosophie, Göttingen 1996, S. 9–42. 71 Ich formuliere dieses Beispiel im Oktober 2020.

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zur praktischen Wahrheit eines politischen Urteils auf die Spur zu kommen. Denn der praktische Charakter eines solchen Urteils wird vor allem durch die Tragweite geprägt, die ihm durch die für es konstitutive Bindung an die Bewährung innewohnt, die von der Gemeinwohl-Orientierung des Erfolgs abhängt, den die öffentliche Praktizierung der von ihm favorisierten politischen Agende durch alle Bürger mit sich bringt oder nicht mit sich bringt. Eine praktische Tragweite auch nur irgendeiner Form gehört definitiv nicht zu den Wahrheitsbedingungen theoretischer Urteile. Umso mehr kommt es darauf an zu berücksichtigen, daß und inwiefern wahren theoretischen Sätzen über Tatsachen gerade inner­ halb des praktischen Horizonts politischer Urteile sogar eine außer­ ordentliche Bedeutsamkeit zukommt. Diese Bedeutsamkeit ist impli­ zit mit den situativen Umständen von Zeit und Ort verbunden, die mit der gleichsam an ihrer Oberfläche auftauchenden 1. und 2. situa­ tiven Bedingung (S. 37) verbunden sind. Das Außerordentliche dieser Bedeutsamkeit ergibt sich daraus, daß niemand eine bewährungsfä­ hige und -bedürftige politische Agende mit auch nur minimaler prak­ tischer Berechtigung ernsthaft auch nur erwägen kann, der die für ihren praktischen Erfolg relevanten aktuellen Tatsachen der Situation nicht kennt, die durch die Praktizierung dieser Agende modifiziert oder konserviert werden sollen. Wenn man als Ausgangspunkt für eine kleine Fallerörterung die an sich banale, oben exemplifizierte Tatsache wählt, daß Halle an der Saale liegt, dann lassen sich rasch leicht durchschaubare Zusammenhänge zwischen diesen beiden Urteilstypen erfassen. Denn als 1990 die Bestandsaufnahme der Situation begann, in die nicht nur das Wasser, die Fauna und die Flora der Saale während der Zeit der DDR durch deren Abwasserwirtschaft geraten waren, wurde eine außerordentlich komplexe politische Agende zur Überwindung der katastrophalen abwasserwirtschaftli­ chen Situation in diesem neuen Bundesland in Angriff genommen.72 In dieser Situation waren zunächst extrem aufwendige Ermittlungen 72 Vgl. die große eindringliche Fallstudie zur exemplarischen Situation des Bezirks Magdeburg von Günter Pampel, Die Entwicklung der Abwasserbeseitigung in Sach­ sen-Anhalt nach 1990. Geschichte und Erkenntnisse, Halle 2010. Der Verfasser war von 1992 bis 2004 der für diese Agende leitende Ministerialrat in zwei Ministerien. Das mehr als fünfhundert-seitige Buch ist aus der Dissertation hervorgegangen, die 2004 unter der Obhut von Professor Dr. Michael Kilian von der Juristischen Fakultät und der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Martin-Luther-Universität-Halle angenommen worden war.

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makroskopischer und mikroskopischer Tatsachen nötig, wie sie von Experten der zuständigen naturwissenschaftlichen Disziplinen durch­ geführt wurden. Alle ermittelten Tatsachen mußten in Sätzen formu­ liert werden können, bei denen es sich entsprechend ihrem logischen Status um wahre theoretische Urteile handelt, die feststellen, was an einem bestimmten individuellen Ort und zu einer bestimmten aktu­ ellen Zeit z. B. unter chemo-physikalischen, zoologischen und bota­ nischen Aspekten mit einem individuellen Gewässer der Fall ist. Nur in dem Maß, in dem diese und unzählige andere – und anders-artige – Tatsachen nach und nach bekannt wurden, konnten die entspre­ chenden politischen Urteile über die Agenden gebildet werden, die die Formen und die Maße der behördlichen und der technischen Inter­ ventionen bestimmten, durch die diese Tatsachen zugunsten des Gemeinwohls der betroffenen Landesbevölkerung modifiziert wer­ den mußten und konnten. Wer sich ohne Informationen, die die tat­ sächlichen Umstände einer jeweils aktuellen Situation in einem Gemeinwesen erschließen, an einem politischen Urteil über die dieser Situation angemessene Agende versucht, ist buchstäblich blind für seine Gegenwart 73 und praktisch von Anfang an zum Scheitern ver­ urteilt. Gewiß sind die Einzelheiten, die in einem solchen Zusammen­ hang wie dem hier skizzierten ihre Rollen spielen, bis an die Grenze zur Selbstverständlichkeit auch im Rahmen unserer alltäglich politi­ schen Urteilspraxis bekannt. Doch in dem hier ins Auge gefaßten Rah­ men ist es entscheidend zu berücksichtigen, daß und inwiefern wahre theoretische Urteile über Tatsachen die logische Form der genuin prak­ tischen Urteile mitbestimmen, zu denen auch die politischen Urteile gehören. Denn ein politisches Urteil könnte gar nicht wahr sein – also keine endgültige praktische Bewährung erfahren –, wenn es nicht auch von den Tatsachen getragen würde, die die faktischen Umstände der Situation repräsentieren, der die Sorge des politisch Urteilenden in Gestalt der von ihm entworfenen Agende gilt. In genauer Entspre­ chung hierzu gehört es zur logischen Struktur eines solchen Urteils, daß es – in Abhängigkeit von den faktischen Umständen dieser Situation – eine ihnen angemessene Agende, also Handlungsweise zu ihrer Modifikation oder Konservierung entwirft. Ohne eine ent­ sprechende Agende könnte das Urteil nicht nur nicht wahr sein, es wäre weder ein politisches noch überhaupt ein praktisches Urteil. 73

Zur Blindheit eines politischen Urteils für die Zukunft vgl. unten S. 47f.

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Ohne Entwurf einer Agende wäre es wie eine ärztliche Diagnose ohne Heilbehandlungsplan, also ohne therapeutische Empfehlung. Doch damit ist die formale Inspektion der Charakteristika, die zur Struktur eines politischen Urteils gehören, durchaus noch nicht abgeschlossen. Ein weiteres nicht weniger wichtiges Charakteristi­ kum zeigt sich, wenn man beachtet, daß die Agende eines solchen Urteils strikt mit einem anderen, komplexeren Typ von theoretischen Urteilen verwoben ist als es wahre Urteile sind, die aktuell bestehende Sachverhalte, also Tatsachen darstellen. Denn zu jeder Agende, also zu jeder politischen Handlungsanweisung müssen Urteile gehören, die über die wahrscheinlichen Konsequenzen orientieren, die sich aus den kollektiv befolgten Handlungsformen ergeben, zu denen die Bür­ ger durch die staatliche Norm verpflichtet werden, die den praktischen Kerngehalt der Agende und damit des jeweiligen politischen Urteils bildet. Auch diese prognostischen Urteile gehören zur logischen Form solcher Urteile. Denn sie könnten nicht wahr sein, also grundsätzlich keine Bewährung erfahren, wenn sie vernachlässigen würden, daß es geradezu aus gesetzlichen Gründen in unserer physischen Lebens­ welt keinerlei konkrete, also leibhaftige Handlungen geben kann, die keine Konsequenzen in dieser Lebenswelt nach sich ziehen. Die Ermittlung solcher Konsequenzen hängt von drei theoretisch-metho­ dischen Voraussetzungen ab: 1. Von der Berücksichtigung der schon ermittelten Tatsachen, die in Gestalt von wahren theoretisch-empi­ rischen Sätzen über die charakteristischen Umstände der aktuellen Handlungssituation zur Verfügung stehen; 2. von einer zuverlässigen Einschätzung der faktischen Veränderungen, die diese Umstände durch die Techniken der aktiven Eingriffe wahrscheinlich durchlaufen werden, mit denen die von der Agende geplanten Handlungsweisen in die aktuelle Situation intervenieren können und sollen; 3. von einer zuverlässigen Einschätzung der Kosten, die diese Eingriffe der Politik und der Gesellschaft zu ihrer Finanzierung wahrscheinlich abverlangen werden; und 4. von einer zuverlässigen Einschätzung der faktischen Konsequenzen, die diese wahrscheinlichen Veränderungen dieser aktuellen Situation für die dadurch betroffenen Menschen und ihre Umwelt wahrscheinlich nach sich ziehen werden. Ein politisches Urteil, das insbesondere die 2., die 3. und die 4. Voraussetzung vernachlässigt, ist blind für seine Zukunft und könnte also schon deshalb nicht wahr sein, weil es in Gestalt der diversen Konsequenzen, die das Handlungsmuster seiner Agende berücksichtigen müßte, die

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eigentliche Dimension der zukünftigen Bewährung seines Wahrheits­ anspruchs ausblendet. Es liegt indessen auf der Hand, daß der vergleichsweise enorme Komplexitätsgrad, der einem politischen Urteil vor allem durch die 2. bis 4. Voraussetzung innewohnt74 – indiziert nicht zuletzt durch die mehrfachen Wahrscheinlichkeitsfaktoren –, schon seit langem auf die Unverzichtbarkeit der planmäßigen wissenschaftlichen Bera­ tung aufmerksam macht, auf die die Bildung politischer Urteile angewiesen ist. Denn falls die Tatsachen der für den Entwurf der Agende maßgeblichen situativen Umstände ein bestimmtes kritisches Komplexitätsniveau überschreiten, gehört sogar schon die Ermittlung dieser unmittelbaren situativen Tatsachen in die methodische und die theoretische Obhut der dafür zuständigen Wissenschaften. Die oben schon angesprochene Situation der Abwasserwirtschaft in SachsenAnhalt Anfang der 1990er Jahre kann dies gut exemplifizieren. Denn die empirischen Tatsachen über die ins Mikroskopische reichenden Umstände, die damals z. B. den Zustand der Saale prägten, konnten nur durch das komplexe, entsprechend aufwendige – auch kostspie­ lige – und langwierige Zusammenwirken chemo-physikalischer, zoo­ logischer und botanischer Untersuchungen hinreichend zuverlässig ans Licht gebracht werden.75 Alleine schon zu diesem Zweck müssen die zuständigen Fachleute aus dem Fundus der einschlägigen Diszipli­ 74 Beiner, Judgment, trägt diesem Komplexitätsgrad des politischen Urteils – in wohldurchdachter Abgrenzung zu dem von ihm eindringlich untersuchten Typus des ästhetischen Urteils – durch das Kriterium der Verantwortlichkeit Rechnung: »there is an especially heavy burden of judgment involved in judging political affairs, and responsibility of a qualitatively higher intensity«, S. 115. Denn das politische Urteil ist von Hause aus und im Gegensatz zum ästhetischen Urteil strikt verflochten mit »the authentic pathos of judging human affairs«”, S. 116. Es sind daher vor allem die Agenden der politisch urteilenden maßgeblichen Amtsinhaber, die strikt mit dem ›authentischen Pathos der menschlichen Angelegenheiten‹’ verflochten sind. 75 Vgl. hierzu Pampel, Entwicklung, bes. S. 243ff; auf das makroskopische verwahr­ loste Erscheinungsbild der Saale in der Zeit der DDR fällt ein grelles Licht, wenn man liest, was der Hallesche Graphiker und Bühnenbildner Helmut Brade, Ich zeichne noch Buchstaben. Texte 1965–20170. Herausgegeben mit Anmerkungen und einem Nach­ wort von Gerhard Wünscher, Leipzig 2017, über Reaktionen von westdeutschen Besuchern der 1980er Jahre auf dieses Erscheinungsbild berichtet: »die Saale, die manch Fremder für eine offene Erdölleitung hielt, mit ihrem Schaum und dem ste­ chenden Phenolgeruch«, S. 135; eine eindringliche Studie der extrem belasteten Region Leipzig-Halle-Bitterfeld bieten Reinart Feldmann / Klaus Henle / Harald Auge / Johannes Flachowsky / Stefan Klotz / Rudolf Krönert (Hrsg.), Regeneration und nachhaltige Landnutzung. Konzepte für belastete Regionen. Mit 138 Abbildun­

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nen auf hinreichend bewährte Methoden, Hypothesen und Theorien zurückgreifen. Sie sind unerläßlich, um ihnen nicht nur das Gespür und den Blick für die relevanten in Frage kommenden Phänomene zu vermitteln. Sie geben ihnen darüber hinaus auch die Mittel an die Hand, mit deren Hilfe sie auch das Zustandekommen der ermittelten Tatsachen aus früher aktuellen Umständen erklären können. Die Klärung dieser früher aktuellen Umstände ist wiederum wichtig, weil es nur im Licht einer solchen Klärung möglich ist, die geplante Veränderung der gegenwärtig aktuellen Situation gegen störende Einflüsse dieser früheren Umstände abzuschirmen – sei es durch deren Beseitigung oder durch neue Formen ihrer Neutralisierung. Der unverzichtbare theoretische Gehalt eines politischen Urteils fängt daher angesichts der komplexen Situationen unserer Lebenswelt schon mit dem allerersten Beginn der Urteilsbildung an zu wachsen – also schon mit der empirischen Ermittlung der für den Entwurf der Agende relevanten Tatsachen. Auch hier scheint diese eher deskriptive Charakterisierung die­ ser Zusammenhänge Elemente zu erfassen, die bis an die Grenze zur Selbstverständlichkeit vertraut sind, sobald es um den Entwurf politischer Agenden geht. Doch auch hier ist wieder entscheidend, daß es sich bei allen diesen Elementen um interne Komponenten der logischen Form politischer Urteile handelt. Denn auch sie bilden die theoretischen und die methodischen Bedingungen der praktischen Wahrheit politischer Urteile. Ohne ihre Berücksichtigung könnte man mit dem Entwurf der für ein politisches Urteil konstitutiven Agende noch nicht einmal in minimal gezielter Weise, also mit minimal berechtigter Aussicht auf praktische Wahrheit den Anfang machen. In der wichtigen Analogie zur praktischen Wahrheit der ärztlichen Diagnose76 entsprechen die Ermittlungen dieser theoretisch-metho­ dischen Elemente der Anamnese und den unmittelbaren körperlichen und auch labor-technischen Untersuchungen, die ein Arzt an einem individuellen ihm sich anvertrauenden Patienten vornimmt. Analog sind die Mitglieder eines Gemeinwesens den politischen Amtsin­ habern und den politischen Urteilen anvertraut, die sich in deren Agenden zeigen. Die in der Verborgenheit der logischen Form des politischen Urteils aufgehobene Wahrheitsbedingung der Berücksichti­ gen, Berlin/Heidelberg/New York/Barcelona/Budapest/Hongkong/London/ Mailand/Paris/Santa Clara/Singa-pur/Tokio 1997. 76 Vgl. oben S. 2728.

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gung aller jeweils praktisch-politisch relevanten empirischen Tatsachen ist bei allen verfassungsrechtlich vorgesehenen öffentlich-rechtlichen Normierungen mit dem stillschweigenden Präfix verbunden: Unter allen uns zugänglichen praktisch relevanten empirischen Tatsachen, ihren wahrscheinlichen Konsequenzen und den Konsequenzen unserer Hand­ lungsnormierungen statuieren wir: Es ist gemeinwohl dienlich, daß... Unter den spezifisch praktischen Wahrheitsbedingungen politi­ scher Urteile spielen noch einige andere Bedingungen charakteristi­ sche Rollen, die alle wie in einem Knotenpunkt mit der Rolle der amtlichen Instanz verflochten sind, die das politische Urteil trifft. Den springenden Punkt bildet hier die Identität der urteilenden Instanz mit der die Agende entwerfenden und durchsetzenden Instanz. Es ist diese Form der praktischen Identität, von der eine viel diskutierte und in der öffentlichen Rhetorik nachgerade inflationär überstrapazierte praktische Einstellung der politisch urteilenden, die Agenden entwer­ fenden und durchsetzenden Instanz abhängt – ihre Verantwortung für die angemessene Durchsetzung der von ihr entworfenen Agende und der mit ihrer Praktizierung verbundenen Konsequenzen in der alltäglichen Lebenswelt, für deren konservative bzw. reformative Gestaltung sie von ihr entworfen worden ist.77 Einem politischen Urteil, dessen urteilender Instanz diese Identität und die mit ihr unmittelbar verbundene Verantwortung nicht bewußt ist, kann keine praktische Wahrheit zukommen. Denn ohne das Bewußtsein dieser praktischen Identität ist die urteilende Instanz in einer elementaren Selbsttäuschung über den praktischen Ernst der Aufgaben befangen, auf die sie sich mit ihrem Urteil einläßt. Ohne das Bewußtsein dieser praktischen Identität verwechselt sie den Modus eines politischen Urteils mit dem eines rhetorischen oder reflexiven Spiels, in dem es um die praktisch belanglose – also auch bewährungsunbedürftige – Selbstbespiegelung mit Projektionen von möglich scheinenden oder sogar illusorischen kollektiven Aktionen geht.78 Vgl. Beiner, Judgment, S. 115, sowie oben S. 4368. Diesen im strengen Sinne verantwortungslosen, pseudo-politischen Spielmodus hat mit Blick auf einige charakteristische Züge der aktivistischen studentischen Pro­ testbewegung der späten 1960er Jahre in Deutschland vor allem Wilhelm Hennis, Die deutsche Unruhe, in: ders., Unruhe, S. 116–136, eindringlich analysiert. Hier macht er auch behutsam von der Analogie der politischen zur ärztlichen Urteilsbildung Gebrauch, vgl. S. 124–125. Eine moderatere Darstellung dieser Formen der spezifisch ›deutschen Unruhe‹ läßt ihnen Thomas Ellwein, Krisen und Reformen. Die Bundes­ republik seit den sechziger Jahren, München 1989, bes. S. 98–121, angedeihen, wenn­ 77

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Die personale Identitätsbedingung politischer Urteile mit ihrer praktischen Verantwortung ist noch mit einem letzten, wieder ein wenig verborgenen funktionalen Moment dieser Urteile verbunden, wenngleich mit einem Moment, das in der alltäglichen Verständigung ebenfalls mit an Selbstverständlichkeit grenzender Geläufigkeit prä­ sent ist – das Moment der politischen Autorität. Auch mit Blick auf dieses Moment ist es wieder das zentrale praktische Strukturmoment der mit einem wahrheitsfähigen politischen Urteil strikt verbundenen Agende, das dieses Autoritätsmoment als praktische Wahrheitsbe­ dingung impliziert: Ein solches Urteil kann nur dann wahr sein, wenn die urteilende Instanz auch die praktische Autorität besitzt, dieser Agende zur Durchsetzung in dem Gemeinwesen zu verhelfen, für die sie entworfen worden ist.79 Die in der Verborgenheit der logischen Form des politischen Urteils aufgehobene Wahrheitsbedingung der Autorität ist bei allen verfassungsrechtlich vorgesehenen öffentlich-rechtlichen Normierungen mit dem stillschweigenden Präfix verbunden: Kraft unse­ rer amtlichen Autorität statuieren wir, daß es gemeinwohldienlich ist, daß …. Der Gebrauch des Begriffs der Autorität ist nicht nur im politi­ schen Alltag mit mancherlei Mehrdeutigkeiten verbunden. Die ele­ gleich er ihren unpolitischen Charakter unmißverständlich im Auge hat. Richard Löwenthal, Bonn und Weimar. – Zwei Deutsche Demokratien, in: ders., Gesell­ schaftswandel, S. 257–276, streift den »explosiven«, S. 268, Charakter dieser Bewe­ gung nur flüchtig. Dabei hatte er als Professor an der Freien Universität Berlin die direktesten persönlichen Erfahrungen mit ihr gemacht. Im Rahmen eines der Leitas­ pekte seiner Aufsatzsammlung bildet diese Bewegung vermutlich einerseits bloß eine kuriose, wenngleich »zerstörerische«, ebd., Episode der ›deutschen Unruhe‹, aber vor allem einen unpolitischen Auswuchs der anomischen Entwicklung, die in der westli­ chen Welt generell zu einer Entfremdung von Angehörigen des ›Kultursystems‹ von den genuinen Bedingungen eines wohlgeordneten parlamentarischen Regierungs­ systems führen. 79 Zu den für die Wahrnehmung und die Anerkennung politischer Autorität nötigen kognitiven und praktischen Tugenden der Personen, die diese Autorität wahrzuneh­ men haben und auf ihre Anerkennung angewiesen sind, vgl. unten S. 71ff. – Strauss, On Tyranny, kommt daher u. a. zu dem Ergebnis: »The ensuing lack of unquestioned authority leads to the consequence that tyrannical government is essentially more oppressive and hence less stable than nontyrannical government«, S. 75, Hervorhe­ bungen R. E. – Es grenzt daher nahezu an ein Wunder, daß die politischen Autoritäten der Bundesrepublik nach der friedlichen Revolution von den aus einer Parteidiktatur selbst-befreiten Bürgern der ehemaligen DDR weitgehend auf Massenloyalität gesto­ ßen sind. Daß diese Loyalität von starken Wohlstands-, Komfort- und Sozialversi­ cherungsbedürfnissen ausging, ist ebenso unübersehbar wie legitim.

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mentare Klärung seiner sachgemäßen Gebrauchsformen80 ist gerade im Feld der so extrem streitanfälligen politischen Diskussionen besonders wichtig. Die selbstverständlich im Zentrum des Begriffs stehende individuelle Instanz (natürliche oder juristische Person), die die Autorität innehat, ist an vielfältige funktionale Beziehungen gebunden, denen sie gerecht werden muß, wenn ihr diese Autori­ tät zu Recht zukommt. Nötig hierfür ist nicht nur, daß sie diese Autorität gegenüber einem hinreichend klar umrissenen Kreis von Personen innehat, die dieser Autorität anvertraut sind. Sie muß für die Ausübung dieser Autorität ebenso mit einem hinreichend klar umrissenen Feld von Aufgaben betraut sein. Diese letzte Bedingung ist mit zwei spezialisierenden Bedingungen verbunden, die in gewis­ ser Weise den eigentlichen Kern der Autorität und damit ihres Begriffs bilden. Denn Autorität setzt ebenso voraus, daß sich die innehabende Instanz dafür in einem doppelten Sinne qualifiziert hat: Sie muß dafür sowohl die hinreichende kognitive wie die hinreichende praktische Tüchtigkeit erworben haben – die hinreichende kognitive Tüchtigkeit, weil sie in jeder neuen praktischen Situation von neuem beurteilen und erkennen können muß, ob und wenn ja inwiefern diese Situation einer Agende bedarf, die die bisherige Situation gegen Störungen abschirmen muß und kann oder durch reformative Eingriffe verbes­ sern muß und kann;81 und hinreichende praktische Autorität, weil sie so handeln können muß, daß sie die von ihr beurteilte und als angemessen erkannte Agende in dem ihr anvertrauten Personenkreis auch durchsetzen kann. Spätestens an diesem Punkt ist es nötig und zweckmäßig eine Voraussetzung ausdrücklich zu benennen und zu erörtern, die bis hier stillschweigend in Anspruch genommen worden ist, aber auch zum selbstverständlichen Repertoire ernsthafter politischer Diskussionen gehört. Denn es liegt auf der Hand, daß politische Urteile der bis hier analysierten Struktur in die Obhut von Instanzen gehört, die in einem wohlgeordneten Gemeinwesen einerseits von der Regie­ rung und ihren Organen sowie andererseits vom Parlament gebildet werden. Denn nur sie besitzen die spezifisch praktische, von den Vgl. hierzu die vorzügliche Behandlung des Themas durch Joseph M. Bochenski, Was ist Autorität? Einführung in die Logik der Autorität, Freiburg i. Br. 1974. 81 Eine besonders aufschlußreiche Fallerörterung von weitgespannten und tiefgrei­ fenden institutionellen, rechtlichen und prozeduralen Agendenbedürftigkeiten hat Nevil Johnson, Die englische Krankheit. Wie kann England seine politische Krise überwinden?, Stuttgart 1977, vorgelegt. 80

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(geschriebenen oder ungeschriebenen) Verfassungen ihrer jeweiligen Gemeinwesen umrissene Autorität, Agenden zu entwerfen, auf den Weg zu bringen und ihre Durchsetzung zu veranlassen und überwa­ chen zu lassen. Eine ganz andere Frage ist es es selbstverständlich, ob die jeweils in ihren Ämtern agierenden Autoritäten vor allem auch die spezifische kognitive und praktische Tüchtigkeit für die angemessene Ausübung dieser Ämter besitzen oder nicht. Diese so überaus wich­ tige Frage der politischen Alltagspraxis muß indessen von der Analyse der logischen Form des politischen Urteils sorgfältig unterschieden und getrennt werden. Denn die ob-Frage zielt auf eine ganz andere, unvergleichlich viel komplexere Art von Problem – auf die Frage nach den Kriterien oder Maßstäben, die für die Beantwortung der ob-Frage angemessen sind. Der Komplexitätsgrad dieser Art von Problem hängt vor allem davon ab, daß diese Kriterien und Maßstäbe nicht nur dem geschichtlichen Wandel der inneren Verfassungen der politischen Gemeinwesen unterliegen. Er hängt nicht weniger auch davon ab, ob diese ob-Frage die Inhaber der höchsten Ämter im Staat ins Auge faßt oder die Amtsinhaber z. B. von Regierungen in föderalen Hoheitsgebieten mit ihren ganz anderen landschaftlichen, sozialen, ökonomischen und kulturellen Rahmenbedingungen oder die Bürgermeister und ihre Ratsgremien in den kleinsten Kommunen des Staatsgebiets. Dennoch ist die Klärung der logischen Form des politischen Urteils für die Erörterung dieses enorm vielgestaltigen Kriterienproblems alles andere als belanglos. Denn nur wenn die Bedingungen der praktischen Wahrheit eines politischen Urteils hin­ reichend geklärt sind, kann auch in jedem konkreten Einzelfall so gezielt wie möglich gefragt werden, welche von diesen Bedingungen vom jeweiligen Inhaber der in Frage stehenden politischen Autorität in welchem Maß erfüllt werden. Im komplizierten Ämtergefüge eines wohlgeordneten Gemein­ wesens sind die spezifischen, kognitiven und praktischen politischen Tüchtigkeiten der Amtsinhaber an zwei Modi ihrer Ausübung gebun­ den, die eine besonders anspruchsvolle, integrative Form ihrer Bean­ spruchung erforderlich machen – Rat und Beratung.82 In diesen Modi 82 Vgl. hierzu die vorbildliche Behandlung des Themas durch Wilhelm Hennis, Rat und Beratung im modernen Staat (11963), wieder abgedr. in: ders., Politik als prakti­ sche Wissenschaft. Aufsätze zur politischen Theorie und Regierungslehre, München 1968, S. 161–176. – Zu den drei spezifisch kognitiven Tugenden der politisch urtei­ lenden Instanzen vgl. unten S. 71ff.

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kommt es praktisch in jeder nötigen und zweckmäßigen Phase ihrer Wahrnehmung darauf an, daß die Amtsinhaber in der Beratschla­ gung mit ihresgleichen und mit ihren Untergebenen sowie in der Einholung von Ratschlägen durch zutrauens- und vertrauenswürdige Instanzen83 von ihren kognitiven und praktischen Tüchtigkeiten so tüchtig wie möglich Gebrauch machen, um die von ihnen favorisierten Agenden zu prüfen, nötigenfalls zu verbessern und erfolgsträchtiger zu gestalten als es ohne die Hilfe dieser beiden sowohl kognitiven wie praktischen Modi möglich ist. Die in der Verborgenheit der logischen Form des politischen Urteils aufgehobene Wahrheitsbedingung von Rat und Beratung ist bei allen verfassungsrechtlich vorgesehenen öffentlichrechtlichen Normierungen mit dem stillschweigenden Präfix verbunden: Im Licht des von uns eingeholten sachverständigen Rats und unserer eindringlichen Beratungen statuieren wir, daß es gemeinwohldienlich ist, daß …. Selbstverständlich ist man im Rahmen von Erörterungen unse­ rer Grundfragen nach Form und Funktionen des politischen Urteils weit davon entfernt, die abgründigen situativen Einzelheiten von Beratung und Rat im politischen Ämter- und Institutionengefüge auch nur annähernd auszuloten. Bevor man sich hier mit unange­ messen abstrakten Hilfsmitteln doch nur ins Ungefähre oder ins zu wenig Repräsentative dieser Abgründe verirrt, ist es wichtiger und richtiger, am Leitfaden der Klärung der Bedingungen der praktischen Wahrheit politischer Urteile festzuhalten. Auch bei diesem Thema kommt indessen das alltägliche Vorverständnis zu Hilfe, mit dem die Mitglieder eines Gemeinwesens – ob wohlgeordnet oder nicht – die Wichtigkeit von Beratung und Rat zugunsten des Entwurfs politischer Agenden einzuschätzen wissen. Die unübersehbare, mehr oder weniger große Komplexität eines Gemeinwesens mit seinen für jeden einzelnen Bürger nicht überschaubaren und durchschauba­ ren kulturellen, sozialen, ökonomischen, rechtlichen und anderen Lebensbedingungen führen es jedem einzelnen von ihnen geradezu suggestiv vor Augen, wie nötig und zweckmäßig vielseitige Formen Der wichtige, aber subtile Unterschied zwischen Vertrauen und Zutrauen ist nicht nur in den öffentlichen Diskussionen fast ganz verloren gegangen: Vertrauen ist eine spezifisch moralische Haltung, mit der man integre, aufrichtige und wahrhaftige Personen – bzw. die man dafür hält – bedenkt, Zutrauen ist hingegen ein nicht-mora­ lischer Kredit, den man speziell in die kognitiven und die technischen Tüchtigkeiten von Personen investiert, wobei es beiden technischen Fähigkeiten allerdings um eine der wichtigsten speziellen kognitiven Fähigkeiten handelt – um ein know-how. 83

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von Rat und Beratung für politische Urteile über agendenbedürftige Phänomene sind. Die Selbstverständlichkeit ist indessen kein Zufall, mit der schon der common sense die Vernachlässigung von Rat und Beratung für ein gravierendes Indiz des Versagens der politischen Urteilsbildung hält. Denn deren Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit kann regelmäßig schon innerhalb der privaten Alltagspraxis der Menschen erfahren werden. Aristoteles erörtert daher das Thema der Wohlberatenheit in der Nikomachischen Ethik84 in so elementaren Analysen der Rollen von Rat und Beratung, daß sie sowohl mit Blick auf die privaten Situationen der Menschen in ihrem praktischen Alltagsleben wie auf die politischen Situationen der politischen Amtsinhaber tragfähig sind. Doch die Selbstverständlichkeit, mit der schon der common sense die Vernachlässigung von Rat und Beratung für ein gravierendes Indiz des Versagens der politischen Urteilsbildung hält, bildet nur das charakteristische Indiz dafür, daß diese beiden Modi der politischen Urteilsbildung zu den notwendigen Bedingungen der praktischen Wahrheit des gesuchten Urteils gehören. Ein politisches Urteil, das unter Verzicht auf Rat und Beratung gewonnen sein will, kann schon deshalb nicht wahr sein, weil es sich in den der Beratung und des Rats bedürftigen Hinsichten schutz- und hilflos in die praktische Bewährungsprobe seiner Agende schickt. Die in gewisser Weise wichtigste Bedingung der praktischen Wahrheit eines politischen Urteils ist hier zwar schon einige Male angesprochen worden, aber in ihren wichtigsten Charakteristika noch nicht sorgfältig erörtert worden – die klassische und traditionsreiche Bedingung des Gemeinwohls (vgl. ihre wahrheitskonditionale Cha­ rakteristik oben S. 33).85 Seit den klassischen Traktaten der griechi­ schen Politischen Philosophie und ihren lateinischen Nachfolgern hat das Thema unter den Namen der κοινή συμφέρων bzw. des bonum commune oder salus publica eine erst in jüngerer Zeit unterbrochene Tradition. In der ersten radikal-republikanischen Politischen Philo­ sophie der Neuzeit – in seinem Traktat Vom Gesellschaftsvertrag – hebt Rousseau in drei unterschiedlichen Akzentuierungen »das

Vgl. Aristoteles, Eth. Nik. 1141a 31ff. Die letzte eindringliche Erörterung des Themas hat bis heute, allerdings vor allem unter Aspekten der Sozialphilosophie Bertrand de Jouvenel, Über Souveränität. Auf den Suche nach dem Gemeinwohl (franz. 11955), Freiburg 1963, vorgelegt. 84 85

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gemeinsam Gute«,86 »die öffentliche Nützlichkeit«87 und »das gemeinsame Interesse«88 der Bürger (citoyens) eines republikani­ schen Gemeinwesens als das höchste politische Ziel hervor. Der letzte eminente klassische Philosoph, der das Gemeinwohl als höchstes politisches Gut zur Sprache gebracht, war Kant. In der lateinischen Tradition formuliert er durch die Apostrophierung der »Salus publica civitatis lex«.89 Gegenwärtig löst die Erinnerung an diese zentrale normative Orientierung aller praktischen Politik nicht selten nur noch die skeptische, wenn nicht sogar spöttische Frage aus, wie denn dieses Gemeinwohl gefunden werden könne.90 Immerhin sehen die Skep­ tiker und Spötter dieses Typs wenigstens noch ganz richtig, dass mit der Gemeinwohlverpflichtung aller praktischen Politik vor allem auch die kognitive Aufgabe verbunden ist, nach dem Gemeinwohl zu suchen.91 Jouvenel hat sogar einen fiktiven Dialog entworfen, in dem ein politischer Amtsträger einen Philosophen ›händeringend‹ um erkenntnistheoretische ›Aufklärung‹ über das Gemeinwohl bittet: »Sagen Sie mir bloß, wie ich es erkennen soll. Geben Sie mir einen klaren Begriff davon, oder geben Sie mir wenigstens Kriterien, die mir helfen, unter allen Möglichkeiten die zu wählen, die dem Gemeinwohl am zuträglichsten ist«.92 Doch diese erkenntnistheoretische Verle­ genheit bringt ein tiefes Mißverständnis der wichtigsten kognitiven Möglichkeiten zum Ausdruck, die den politischen Amtsträgern in unseren parlamentarischen Regierungssystemen mit der Aufgabe 86 »le bon commun«, Jean-Jacques Rousseau; Du contrat social, in: ders., ?uvres com­ plètes, Bd. III, Paris 1964, S. 368. 87 »l‘utilité publique«, S. 371. 88 »l‘interêt commun«, S. 374. – In einer vortrefflichen Erörterung von Aristoteles‘ Behandlung des Standes der Polis, der sich um »das Sein und die Erhaltung des Ganzen der sittlichen Organisation« des Gemeinwesens zu sorgen hat, schreibt Hegel: »Die­ sem Stande weist Aristoteles als sein Geschäft das an, wofür die Griechen den Namen πολιτεύειν (politeuein), hatten, was in und mit und für sein Volk leben, ein allgemeines, dem Öffentlichen ganz gehöriges Leben führen ausdrückt«, Hegel, Naturrecht, S. 489. 89 Kant, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sei, taugt aber nicht für die Praxis, Ak. VIII, S. 298. 90 Vgl. hierzu die entsprechenden kritischen Bemerkungen von Peter Graf Kiel­ mannnsegg, Organisierte Interessen als »Gegenregierungen«?, in: Regierbarkeit. Stu­ dien zu ihrer Problematisierung (Hrsg. Wilhelm Hennis, Peter Graf Kielmannsegg, Ulrich Matz), Band 2, Stuttgart 1979, S. 144ff. 91 Vgl. hierzu die treffliche Thematisierung dieses kognitiven Schlüsselaspekts durch die Studie von Jouvenel, Gemeinwohl. 92 S. 131.

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der Suche nach dem Gemeinwohl eröffnet sind: Es ist die mit jeder Legislaturperiode von neuem beginnende Suche nach Bedingungen, die sich in der verfassungsrechtlich befristeten Zeit ihrer auf Zeit verliehenen Amtsautorität und im Horizont ihrer politischen Urteils­ kraft durch gemeinwohldienliche legislative und andere normative Maßnahmen begünstigen lassen. Es darf hier offen bleiben, ob die Skeptiker und die Spötter der Gemeinwohlbedingung wenigstens verblüffungsfest genug sind, um zu sehen, dass es gerade diese kognitive Struktur dieser Aufgabe ist, mit deren Berücksichtigung sie ihre Skepsis und ihren Spott wirklich fruchtbar werden lassen könnten, oder ob sie die ersten sind, die selbst den Verblüffungseffekten erlegen sind, mit denen sie eigentlich auf ihre anonymen Adressaten zielen. Man sieht anscheinend nur mit Mühe, daß und wie diese Skepsis einen festen institutionellen Teil in parlamentarischen Regierungssystemen bildet: Sie sind mit rechtlich verbürgter und faktisch ausgeübter Pressefreiheit sowie mit ebenso verbürgter und ausgeübter Freiheit der Meinungsäußerung und mit der legislatur-periodischen Ausübung des Rechts zur Wahl zwischen konkurrierenden Parteien ausgestattet. Die reale rechtliche und praktische Möglichkeit, eine amtierende Regierung und ihre parlamentarischen Mehrheit durch »Verlust des Zutrauens«93 der Mehrheit der Wahlberechtigten ihres Amtes verlustig werden zu lassen bzw. in die Schranken einer parlamentarischen Minderheit zu verweisen, ist die verfassungsrechtliche Institutionalisierung dieser praktisch-politischen Skepsis gegen die Verläßlichkeit der regierungs­ amtlichen und parlamentarischen Gestalt der politischen Urteilskraft. Die traditionelle Bindung des Gemeinwohls vor allem an die Bedingung der Gerechtigkeit hat die Behandlung des Themas seit Platons Politeia bis zu John Rawls‘ weltbekannter Theorie immer wieder von neuem mit abgründigen Schwierigkeiten begleitet. Es scheint daher, daß seine Berücksichtigung im Rahmen einer doch eng umrissenen Inspektion der Bedingungen der praktischen Wahr­ heit politischer Urteile im Handumdrehen ins nahezu Uferlose füh­ ren muß. Selbstverständlich kann die Inspektion dieser spezifisch politi­ schen Bedingungen praktischer Wahrheit schon aus methodologi­ schen Gründe nicht zu dem Irrweg führen, sogleich in wenigen anma­ G. W. F. Hegel, Erste Entwürfe einer Einleitung zur Verfassungsschrift, in: ders., Werke in zwanzig Bänden. 1, Frankfurt/Main 1970, S. 459.

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ßenden Schritten eine Art von Hilfstheorie politischer Gerechtigkeit zu entwickeln. Den springenden Punkt bei einer solchen Inspektion bilden vielmehr gerade umgekehrt und direkt die außerordentlich reichen Arbeitserfahrungen, die die Politische Philosophie mit der Abgründigkeit des Gerechtigkeitsthemas und der daher nicht gerin­ geren Abgründigkeit des Themas des Gemeinwohls gesammelt hat. Denn diese doppelte Abgründigkeit macht darauf aufmerksam, daß die praktische Wahrheit des politischen Urteils durch die Gemein­ wohl-Bedingungen seiner jeweiligen Agende und deren Bewährungs­ bedürftigkeit selbst an diesen Abgründigkeiten unmittelbar teilhat – diese spezifische praktische Wahrheitsbedingung ist selbst von abgründiger Tiefe. Man überwindet diese Abgründigkeit selbstver­ ständlich auch nicht dadurch, daß man eine handliche, aber triviale Arbeitsdefinition des Gemeinwohlbegriffs entwirft, wie sie im ana­ logen Fall des für die ärztliche Diagnose wichtigen Leitbegriffs der Gesundheit die Weltgesundheits-Organisation entwickelt hat: »Gesundheit ist ein Zustand völligen psychischen, physischen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur das Freisein von Krankheit und Gebrechen«.94 Kombiniert man auf dieser arbeitsdefinitorischen Linie den Begriff des Gemeinwohls mit dem der Gerechtigkeit, dann ergibt sich die Charakterisierung: Gemeinwohl besteht in einem Gemeinwe­ sen, wenn allen seinen Mitgliedern völlige Gerechtigkeit widerfährt. Man braucht diese hier lediglich zu rhetorischen Zwecken formulierte Arbeitsdefinition nicht weiter zu kommentieren, weil sie schon an der gesunden Urteilskraft des common sense scheitert: Auch in ihrem ›Licht‹ wird es niemals ein Gemeinwesen geben, in dem Gemein­ wohl herrscht. Umso mehr Licht wirft die Abgründigkeit der GemeinwohlBedingung auf die praktische Wahrheitsfähigkeit des politischen Urteils, also auf die Bewährungschancen seiner jeweiligen Agende. Denn diese Bewährung ist in einem kaum überschaubaren Maß von der geschichtlichen Tragweite abhängig, innerhalb von der sie praktisch fruchtbar sein kann und muß, wenn die praktische Wahrheit des leitenden politischen Urteils eine Chance hat, manifest zu werden. Diese mehr oder weniger große geschichtliche Tragweite macht darauf aufmerksam, daß gerade die Bewährung der Gemeinwohl-Bedingung für seine praktische Wahrheit mit unwägbaren und unverfügbaren, Zur Kritik an dieser Definition, in deren ›Licht‹ höchstwahrscheinlich niemals irgendein Mensch gesund ist, vgl. Wieland, Diagnose.

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niemals definitiv vorhersehbaren Unsicherheiten – vulgo: Risiken – unvollkommener und sogar scheiternder Verwirklichung verbunden ist. Positiv gewendet, ist diese Bewährung in einem erheblichen Maß auf eine mehr oder weniger gewichtige geschichtliche Gunst der Umstände angewiesen, also auf eine Erfolgsbedingung einer politischen Agende, die ebenso unwägbar und unverfügbar ist wie die von ihr abhängige praktische Wahrheitsbedingung des leitenden politischen Urteils. Es liegt selbstverständlich auf der Hand, daß das Maß dieser Unwägbarkeiten und Unverfügbarkeiten auch von der territorialen Größe und strukturellen Komplexität des Gemeinwesens abhängt, für das die jeweilige Agende entworfen wird. Auf der Ebene einer dörflichen Klein-Kommune sind die Geschicke einer solchen Agende zwar zweifellos extrem viel besser steuerbar und von einer unwäg­ baren und unverfügbaren Gunst der Umstände entsprechend viel weniger abhängig als auf der Ebene eines nationalen Territorialstaats. Dennoch ist es angesichts der geschichtlichen politischen Erfahrung ein schlichtes Gebot skeptischer Klugheit, mit Blick auf die Geschicke der Wahrheit jedes politischen Urteils und der Bewährung der von ihm entworfenen Agende die Unwägbarkeiten und Unverfügbarkeiten in Rechnung zu stellen, derer es mit seiner charakteristischen Orientie­ rung am Gemeinwohl gewiß sein muß.95 Es mag überraschen, daß eine Analyse der logischen Form des politischen Urteils in Gestalt des Gemeinwohls eine Bedingung seiner praktischen Wahrheit ans Licht bringt, die ausgerechnet für diese Wahrheit so ungünstig zu sein scheint. Denn der praktische Kern des politischen Urteils – die von ihm zu entwerfende Agende – hängt von einem praktischen Bewährungsmodus ab, der inmitten der niemals ganz überschaubaren und durchschaubaren Lebensverhältnisse der Mitglieder jedes Gemeinwesens von der Gunst unwägbarer und unverfügbarer Umstände abhängt. Doch dieses Ergebnis braucht im Grunde deswegen nicht wirklich zu überraschen, weil es lediglich 95 Rainer Specht, Innovation und Folgelast. Beispiele aus der neueren Philosophieund Wissenschaftsgeschichte, Stuttgart-Bad Cannstatt 1972, hat in diesem Sinne den Konservativismus durch die vermutlich klügste mögliche Bemerkung charakterisiert, »daß bei ihm der Mißerfolg schon im Kalkül vorkommt«, S. 228. – Zu Recht erinnert Strauss, On Tyranny, daher daran, daß insbesondere schon »The classics thougt that, owing to the weakness or dependence of human nature, universal happiness is impos­ sible, and therefore they did not dream of a fulfilment of History and hence not of a meaning of History«, S. 210.

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daran erinnert, daß von allen politischen Aufgaben die Sorge um das Gemeinwohl die schwerste ist, deren sich jede ernstzunehmende poli­ tische Anstrengung anzunehmen hat. Für die am Gemeinwohl ori­ entierte politische Autorität stehen daher auch alle anderen ihr oblie­ genden Aufgaben (s. oben S. 52–54) von Anfang an unmittelbar auf der Linie, die diese Aufgaben mit dieser Hauptorientierung verbindet. Allerdings ist es auch verständlich, daß eine Analyse der logischen Form des politischen Urteils eine Überraschung geradezu provoziert. Denn gemessen am Umfang und der Komplexität auch der bedeu­ tendsten Traktate der Politischen Philosophie zeigt sich durch die Konzentration auf die Form des politischen Urteils die kleinste denk­ bare Gestalt – gleichsam die Miniatur –, in der mit den Bedingungen seiner praktischen Wahrheit zugleich die wichtigsten Bedingungen jeder praktischen Politik präsent sind. Der Autor hat aus dieser Tra­ dition und aus den gelehrten, energischen und leidenschaftlichen Bemühungen um ihre Wiederbelebung vor allem durch Wilhelm Hennis in unschätzbarer Weise gelernt: Im unmittelbaren Zusam­ menhang der praktischen Wahrheitsbedingungen des politischen Urteils bildet die Orientierung am Gemeinwohl nicht nur »das Herz­ stück der politischen Wissenschaft«,96 sondern er sieht mit Blick auf die Möglichkeit »der bestimmenden Unterscheidung von guter Herr­ schaft und Tyrannis […] ihr einziges Kriterium […] in gerechter, dem Gemeinwohl dienender Tätigkeit«.97 Ohne diese Orientierung wohnt Hennis, Praktische Philosophie, S. 56. – Gerade ein so eminenter Politischer Phi­ losoph wie Rawls, Justice, hat zwar keine formal strikte Definition, jedoch eine treff­ liche Charakteristik des Gemeinwohls konzipiert. Sie liegt allerdings mit einer gewis­ sen Unschärfe auf der Grenze zwischen einer Arbeitsdefinition ihres Begriffs und einem Kriterium von dessen Gebrauch: »Government is assumed to aim at the common good, that is, at maintaining conditions and achieving objectives that are similarly to everyone’s advantage«”, S. 233, Hervorhebungen R. E.; vgl. auch: »(The common good I think of as certain general conditions that are in an appropriate sense equally to everyone’s advantage)«”, S. 246. Die politisch-praktische Pointe dieses appropriate sense besteht indessen darin, daß es jeder Regierung bei Risiko des Scheiterns am Votum der Wähler obliegt, diesen appropriate sense im Rahmen ihrer Agenden und ihrer legislatur-periodisch festgelegten Regierungszeit immer wieder von neuem zu bewähren. 97 S. 62, vgl. auch S. 63, 65–66; zehn Jahre später sah sich Wilhelm Hennis, Ende der Politik? Zur Krisis der Politik in der Neuzeit, in: Merkur 6 (1971), S. 509–529, ange­ sichts der weltweiten technizistischen und szientistischen Tendenzen, Politik auf die Instrumente ihrer Machtausübung zu reduzieren, zu einem leidenschaftlichem Plä­ doyer für die Rehabilitierung der teleologischen Gemeinwohlorientierung veranlaßt. Ihrer Vernachlässigung sowohl durch die Politik selbst wie durch die Politische Wis­ 96

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jeder Politik die Gefahr inne, früher oder später zur Tyrannis entarten, und jeder Politischen Philosophie und Politischen Wissenschaft die Gefahr, zum Ideologiebeschaffer tyrannischer Ambitionen zu entar­ ten.98 Daher haben sich von der Seite der Beherrschten die Menschen »bisher noch nie darauf beschränkt, an [den Staat] den Anspruch zu stellen, das ›Monopol der legalen physischen Gewaltherrschaft‹ (Max Weber) zu verwalten oder ›Aktionszentrum´ politischer Machtaus­ senschaft und die Politische Philosophie galt seine größte Sorge, weil er auf diesem Weg das Ende einer Politik kommen sah, die diesen Namen verdient und nicht in Sozialtechnik und angewandter Wissenschaft versinkt. – Helmut Willke, Steuerungsund Regierungsfähigkeit der Politik, Wien 1992, meint in seiner strikt systemtheo­ retisch und funktionalistischen Abhandlung allen Ernstes – aber immerhin auch kon­ sequenterweise – , daß »Beiträge zum Gemeinwohl […] alle diejenigen Funktionssysteme [leisten], die in in ihrer spezifischen Operationsweise zumindest auch öffentliche und/oder meritorische Güter produzieren – also etwa Wissenschaft, Erziehungs- oder Gesundheitssystem«, S. 11 – aber warum nicht auch die Fußball­ vereine mit ihren ›Meriten‹ um eine immer umfangreicher werdende öffentliche Frei­ zeitgestaltung? Daß die Sorge um das Gemeinwohl die einzigartige amtlich-öffentli­ che Aufgabe der Regierung und des Parlaments bildet, entgeht dieser systemtheoretisch und funktionalistisch verzerrten Optik; doch ebenso entgeht ihr vor allem die normative und die empirische Tatsache, daß eine Regierung und das sie mit seiner Mehrheit tragende Parlament mit ihrer legislatur-periodisch beschränkten Aufgabe der Suche nach gesetzförmigen und anderen normativen Beiträgen zum Gemeinwohl am Votum ihrer Wähler scheitern können sollen und auch immer wieder einmal faktisch scheitern. Wenn Gemeinwohl »politisch uninterpretierbar«, S. 118, ist, wie sich Willke zustimmend auf Niklas Luhmann beruft, wie können dann ›Wis­ senschaft, Erziehungs- oder Gesundheitssystem‹ gleichwohl – und offensichtlich in beurteilbarer Form – zu diesem ›uninterpretierbaren‹ Gemeinwohl ›beitragen‹? Er verkennt darüber hinaus die allen genuin politischen Agenden zugrundeliegenden eminent praktischen Urteile darüber, daß diese Agenden zum Gemeinwohl beitragen – mit allen Risiken des Scheiterns am Votum der Wähler. Welcher Wissenchaftler, Lehrer bzw. Arzt bemüht sich in seiner alltäglichen Arbeit um Beiträge zum Gemein­ wohl? Das Büchlein von Willke ist so ziemlich das Unpolitischste, wenn nicht sogar Anti-Politischste, was zu seinem Themenkreis auf dem Markt ist – wenngleich auch das Konsequenteste, was man im dunklen Schatten seiner irreführenden systemtheo­ retischen und funktionalistischen Prämissen hervorbringen kann. Unter seinen Vor­ aussetzungen degeneriert das wohlverstandene parlamentarische Regierungssystem zu dem, als was Schmitt, Souveränität, es unter Max Webers Voraussetzungen dege­ nerieren sah – zum Betrieb, vgl. hierzu unten S. 62100. 98 Strauss, On Tyranny, mahnt sogar zu Recht: »Tyranny is a danger coeval with poli­ tical life«, S. 22, Hervorhebung R. E. – Zum Verblassen, vor allem zur Entpolitisierung der klassischen Tradition der Tyrannis-Konzeption seit dem 17. Jahrhundert in Europa und vor allem seit dem 19. Jahrhundert in Deutschland vgl. außer Strauss, op. cit., bes. S. 22-28, vor allem Hella Mandt, Tyrannislehre und Widerstandsrecht. Studien zur deutschen politischen Theorie des 19. Jahrhundert, Darmstadt und Neuwied 1974.

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übung zu sein«.99 Wäre dies die Auffassung, die die Angehörigen eines Staats von der Legitimitätsgrundlage seiner Herrschaft haben, dann würden sie selbst zu grundsätzlichen Befürwortern auch von tyrannischen Ambitionen degenerieren.100 Angesichts des engen institutionellen Zusammenhanges von praktischer Politik und Verwaltung ist es ratsam zu berücksichtigen, was ein so erfahrende Verwaltungsbeamter und -wissenschaftler wie Fritz Morstein Marx zur Rolle des Gemeinwohls als Wahrheitsbe­ dingung praktischer Urteile ausführt. Er geht sogar mit Blick auf »die ursprüngliche Verantwortlichkeit für sorgfältige Beurteilung bei dem Berufsbeamten« so weit zu argumentieren, daß dessen »richtige Entscheidung … […] zugleich mit dem Gemeinwohl, dem Verfas­ sungsgeist und dem ethischen Prinzip im Einklang stehen [muß]«,101 – also die Wahrheit seines jeweiligen verwaltungs-pragmatischen Urteils hängt sogar in erster Linie von der Berücksichtigung des Gemeinwohls ab. Als erfahrener Verwaltungsbeamter und -wissen­ schaftler wußte er selbstverständlich gleichzeitig auch, daß man eine Wahrheitsbedingung des verwaltungspragmatischen Urteils nicht mit den alltäglichen Formen der Verwaltungspraxis verwechseln darf: »die starke Neigung, um grundsätzliche Fragen herum zu lavieren; ein ungewisses Tasten nach einem Verwaltungskurs, der von Unklarhei­ ten frei ist und beständig zu sein verheißt; eine tiefsitzende Furcht davor, den auf eine politische Grundlinie nicht festgelegten Wählern oder Mitgliedern der gesetzgebenden Versammlung auf die Zehen zu treten. Angesichts eines so weit ausgetretenen Niemandslandes und bei einem so unklaren Zustand der höchsten Machtbefugnis ist es eine beinahe unlösbare Aufgabe, politische Leitung und sachver­

Hennis, Praktische Philosophie, S, 20. Auf der Stufenleiter der Schritte, die durch Mißachtung der Gemeinwohl-Bedin­ gung aller ernstzunehmenden praktischen Politik zu dieser radikalen Degeneration führen, hat Schmitt, Souveränität, im Anschluß an Max Weber auf eine wichtigen degenerativen Zwischenschritt aufmerksam gemacht: »Der moderne Staat scheint wirklich das geworden zu sein, was Max Weber in ihm sieht: ein großer Betrieb«, S. 69; vgl. hierzu auch oben S. 6097. Eine gründliche thematische Auseinandersetzung mit den Auffassungen, die Bürger von der Legitimität der sie politisch Beherrschenden haben, bietet vor allem Ronald Beiner (Hg.), Theorizing Citizenship, New York 1995; vgl. hierzu unten V. Abschn. 101 Fritz Morstein Marx, Einführung in die Verwaltungslehre. Eine vergleichende Untersuchung, Neuwied 1959, S. 221, Hervorhebung R. E. 99

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ständige Beratung durch das Berufsbeamtentum in einer produktiven Synthese zusammenzufassen«.102 Die Tragweite, die dem Gemeinwohl als Schlüsselbedingung der Möglichkeit aller guten Politik zukommt, läßt sich bemerkenswerter­ weise indirekt, aber deswegen nicht weniger bedeutsam durch die Rolle erläutern, die sie im Zusammenhang mit dem von Carl Schmitt so prominent eingeführten Gegensatz von Freund und Feind103 über­ nehmen kann. Denn die Träger gemeinwohl-orientierter, guter Herr­ schaft und die Träger der Tyrannis sind im Sinne dieses Gegensatzes einander feind: Freund im politischen Sinne ist jeder Freund der Orientierung am Gemeinwohl, weil er dadurch – und nur dadurch – Feind der Tyrannis sein kann; Feind ist indessen jeder, der Feind dieser Orientierung ist, weil er, ob er sich dessen bewußt ist oder nicht, zum Freund der Tyrannis werden muß. Erst wenn man von der Analyse des politischen Urteils zur Klärung des Kriteriums übergeht, mit dessen Hilfe sich der politische Unterschied von Freund und Feind beurteilen und erkennen läßt, wird auch die Abgründigkeit erkennbar, mit der die Gemeinwohl-Bedingung des politischen Urteils das ganze politische Spannungsfeld bis in die Tiefe des extremen Gegensatzes von Freund und Feind durchdringt. Nicht – wie Schmitt es schließlich beschwört – der Gehorsam gegen den geoffenbarten christlichen Gott bildet die

S. 227. Vgl. Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen (11927), Berlin 1963 (Nachdruck der Ausgabe von 1933) 92015; zwar erweckt Schmitts Titel-Thematisierung des Begriffs des Politischen den irreführenden Eindruck, er arbeite an einer Definition des Begriffs des Politischen; Heinrich Meier, Die Lehre Carl Schmitts. Vier Kapitel zur Unter­ scheidung Politischer Theologie und Politischer Philosophie (11994), Stuttgart/ Weimar 32009, trägt diesen Zusammenhängen Rechnung, indem er von Anfang an zu Recht das von Schmitt selbst apostrophierte »Kriterium des Politischen«, Schmitt, Begriff, S. 25, in Erinnerung ruft, S. 52; schon vorher spricht er mit dem deutschen Synonym auch vom »Prüfstein«, S. 45. Dennoch ist nicht zu übersehen, daß Schmitt ständig mit deutlicher Unsicherheit zwischen Kriterium/Kriterien, Definition und Begriffsbestimmung/en schwankt und damit seine Leser methodologisch heillos ver­ wirrt. Daß Kriterien andererseits nur pseudo-instrumentalistische Spaltprodukte der nachträglichen Reflexion auf stillschweigende Funktionen der Urteilskraft sind, über­ sieht er wie unzählige andere Autoren auch. Ausschließlich Kant sieht in diesen kri­ terien-affinen Funktionen zu Recht »eine verborgene Kunst in den Tiefen der mensch­ lichen Seele, deren wahre Handgriffe wir der Natur schwerlich jemals abraten, und sie unverdeckt vor Augen legen werden«, KrV, A 141, B 181; vgl. hierzu vom Verf., Urteil und Erfahrung. Kants Theorie der Erfahrung. Zweiter Teil, Göttingen 2020, bes. S. 227–245. 102

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Bedingung der Möglichkeit guter Politik.104 Es ist die nicht weniger fordernde Orientierung am Gemeinwohl, also am gemeinsamen Guten der einer Herrschaft anvertrauten Menschen, die diese Bedingung bildet. Dieses gemeinsame Gute ist als Gutes identisch mit der Idee des Guten (ἰδέα του αγατου),105 die Platon als ›jenseits des Seienden‹ (επέκεινα της ουσίας) beheimatet charakterisiert.106 Unter seinen Charakteristika sticht hervor, daß alle Menschen das Gute durch ihr Handeln unbedingt (ανυπόθετον) anstreben.107 Den nicht weniger wichtigen Charakter bildet die ursprüngliche inhaltliche Unbestimmt­

104 »die Leugnung der Erbsünde [zerstört] alle sozialen Bindungen […]. Der metho­ dische Zusammenhang theologischer und politischer Denkvoraussetzungen ist also klar«, Schmitt, Begriff, S. 60, also der Zusammenhang, in dem der Glaube an den die Erbsünde verhängenden christlichen Schöpfergott die notwendige Bedingung für jeg­ liches die menschliche Gemeinschaft betreffende Denken und Handeln bildet. – Leo Strauss, Die geistige Lage der Gegenwart (11932), wieder abgedr. in: ders., Gesam­ melte Schriften. Band 2 (GS 2): Philosophie und Gesetz – Frühe Schriften (Hg. Hein­ rich Meier), Stuttgart-Weimar 1997, S. 441–456, hat zwar zu bedenken gegeben, daß die moderne Philosophie durch leichtfertige Formen der Traditions-Kritik und der Vorurteils-Kritik um die wichtigste Herausforderung ihrer Selbstbesinnung gebracht worden sei – um die Herausforderung »einer Tradition von so unbedingter Autorität, wie es die Tradition der Offenbarungsreligionen ist«, S. 456, und durch »die Tradition der griechischen Philosophie«, S. 446. Nach Strauss’ Auffassung wird die wichtigste Aufgabe der Selbstbesinnung nicht nur der Philosophie, sondern jedem einzelnen Menschen gestellt, wenn »nach den Prinzipien des Handelns gefragt [wird], nach dem Richtigen und Guten«, ebd., Strauss’ Hervorhebungen. Umso auffälliger ist es, daß der mit der klassischen griechischen Philosophie vertraute Strauss den für die Politik und die Politische Philosophie zentralen Gedanken des Gemeinwohls nicht berück­ sichtigt. Ihn legt Platon seinem Sokrates in den Mund, als er ihm im Phaidon die Erinnerungen an seine jugendlichen Hoffnungen in den Mund legt, die Aufklärung über das »für alle [Menschen] gemeinsame Gute«, Phd. 98b 2–3 (τῦκοινἀν πῦσινἀ) zu erlangen. Der Anspruch an die Politik, sich um dieses für alle Menschen gemeinsame Gute zu sorgen, ist nicht weniger herausfordernd als die ›unbedingte‹’ Autorität der Offenbarungsreligionen. Doch erst die modernen parlamentarischen Regierungs­ syste-me haben der fundamental-anthropologischen kognitiven Fehlbarkeit dieser Sorge Rechnung getragen, indem sie das Scheitern der Regierung am ›Verlust des Vertrauens‹’ (Hegel) der Mehrheit der Wähler mit den Mitteln des Verfassungrechts in Rechnung stellen. 105 Platon, Rep. 505a 2. 106 509b 8; die Frage, in welchem Maß und auf welchen überlieferungsgeschichtlichen Wegen die von Platon konzipierte Idee des Guten mit der Unbedingtheit ihrer Orientierungsfunktion und ihrem jenseits des Seienden angesiedelten Ort zu einem Muster der theologischen Konzeption des christlichen Gottes geworden ist, darf hier – außerhalb jeglicher Politischen Theologie – auf sich beruhen bleiben. 107 B. 509b 6.

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heit der Idee des Guten.108 Sie ist stattdessen ausschließlich durch funktionale Bestimmtheiten charakterisiert – vor allem durch ihre Funktion, allem Handeln der Menschen, auch dem am bloß vermeint­ lich Guten orientierten Handeln als unbedingte Orientierung zu dienen, doch ebenso durch ihre Funktion, allen anderen Ideen, vor allem der Idee der Gerechtigkeit zur unbedingten Teilhabe an ihr zu dienen. Es liegt auf der Hand, daß eines der beiden fordernden Momente der Orientierung an der Idee des Guten von der Unbedingtheit abhängt, mit der alle Praxis der Menschen an sie gebunden ist: Nie­ mand kann handeln, ohne durch seine Handlung irgendetwas Gutes zu intendieren und ohne es auf gute Weise zu intendieren. Doch das andere dieser beiden fordernden Momente hängt mit weitreichender und tiefreichender Ambivalenz von ihrer inhaltlichen Unbestimmt­ heit ab. Denn sie ist es, durch die es jedem Menschen zwar aufgegeben ist, mit Blick auf jede seiner Handlungen selbst zu bestimmen, inwiefern sie als Handlung gut ist und auch das Ziel gut ist, das er mit ihr intendiert. Doch mit dieser nur dem Menschen überlassenen Aufgabe sind daher auch alle seine Chancen verbunden, das jeweils Gute zu treffen, ebenso wie alle seine Risiken, es zu verfehlen. Diese unauflösbare, anthropologisch verhängte Spannung zwi­ schen praktischer, am Guten orientierter Erkenntnisfähigkeit und Fehlbarkeit reicht mit ihrer Tragweite und Tiefenschärfe selbstver­ ständlich auch in die Dimension des bonum commune, der salus publica, also des Gemeinwohls. In dieser Dimension sind die struktu­ rellen Risiken, die mit dieser tiefen kognitiven Spannung unaufhebbar verbunden sind, im Laufe der politischen Geschichte immer wieder einmal durch unterschiedliche verfassungsförmige Normierungen aufgefangen worden, bis sie in der Neuzeit – angefangen mit John Pyms Initiative zur Grand Remonstrance von 1641, zur grundlegen­ den Reform der Rechte und Pflichten des britischen Parlaments – in die allmähliche europaweite Entwicklung des parlamentarischen Regierungssystems mündete.109 Zur wichtigsten Aufgabe dieses Systems als Medium der politischen Stimmung der Bürger eines 108 Dieser Gedanke der Unbestimmheit ist in der jüngeren Philosophie vor allem durch George Edward Moore, Principia Ethica (engl. 11903), Stuttgart 1970, mit der methodologischen Überlegung wiederbelebt worden, daß der Begriff des Guten gar nicht im strengen Sinne definiert werden kann, vgl. bes. S. 34–36. 109 Vgl. hierzu Kurt Kluxen, Geschichte und Problematik des Parlamentarismus, Frankfurt/Main 1983; vgl. zum Thema des Gemeinwohls vor allem die gründlichen

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Gemeinwesens wurde es, im legislaturperiodischen Rhythmus für die Möglichkeit auch des Scheiterns der parlamentarischen Regierung, also der Verantwortlichen für die maßgeblichen Agenden zu sorgen: Die Bürger sollen in regelmäßigen, nicht zu langen und nicht zu kur­ zen Abständen die systemische Möglichkeit haben zu signalisieren, ob und gegebenenfalls inwiefern diese Agenden zum Gemeinwohl beigetragen haben oder nicht. Wie die politische Geschichte vor allem der vergangenen hundert Jahre gezeigt hat, hat das kognitive anthro­ pologische Verhängnis der Ambivalenz von politischer Erkenntnisfä­ higkeit und Irrtumsträchtigkeit auch vor gravierenden Entgleisungen solcher Bürgervoten nicht Halt gemacht. Diese nicht mehr unmittelbar zur Analyse der logischen Form des politischen Urteils gehörigen Überlegungen können und sollen verdeutlichen, daß mit der Klärung des Gemeinwohls als der wich­ tigsten praktischen Wahrheitsbedingung des politischen Urteils ein methodischer Wendepunkt erreicht ist. An diesem Wendepunkt wird der Blick von der logischen Form des politischen Urteils auf die kogni­ tiven Voraussetzungen der politischen Urteilsbildung gelenkt. Diese Blickwendung hängt, wie sich zuletzt gezeigt hat, ausschließlich von der Schlüsselrolle ab, die innerhalb der logischen Form des politischen Urteils der Bedingung des Gemeinwohls zukommt. Denn es ist der Entwurf einer gemeinwohl-dienlichen Agende, der zwar von jedem politischen Urteil als seine wichtigste praktische Wahrheitsbedingung berücksichtigt werden muß, aber gleichwohl auch die komplexesten Anforderungen an die politische Urteilsbildung richtet. Doch sie ist stets von der kognitiven, menschlich-allzumenschlichen Ambivalenz der Irrtumsanfälligkeit bedroht. Aber die Tyrannis – zuletzt in Form der menschenverachtenden Gewaltherrschaft der Nationalsozialis­ ten in Deutschland – ist keine Schickung des geoffenbarten christli­ chen Gottes, der Ungehorsam gegen ihn bestrafen würde; ebenso wenig ist die Nachkriegspolitik in Deutschland eine Schickung dieses durch Gehorsam versöhnlich gestimmten Gottes. Wohl aber sind an jeder gemeinwohlorientierten Politik immer wieder von neuem auch unverfügbar günstige bzw. ungünstige nationale und internatio­ nale Umstände beteiligt. In jeder Legislaturperiode sind es andere Umstände, deren Gunst bzw. Ungunst für den Entwurf und die Durch­ setzbarkeit der maßgeblichen Agenden durch das situative Gespür Erörterungen durch Josef Isensee, Gemeinwohl und öffentliches Amt. Vordemokrati­ sche Fundamente des Verfassungsstaates, Wiesbaden 2014.

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der praktisch-politischen Urteilskraft der Amtsinhaber erfaßt, abge­ wogen und erkannt werden müssen. Eine Politische Theologie auf der Linie Carl Schmitts traut der Unerforschlichkeit der Ratschlüsse eines geglaubten persönlichen Gottes zu, das politisch Gute immer wieder von neuem finden zu lassen.110 Außerhalb der Politischen Theologie sind es die nie restlos auslotbaren und nur allzu oft unverfügbaren situativen Umstände des politischen Lebens, denen die kognitiven Tugenden der praktisch-politischen Urteilskraft immer wieder von neuem einen kognitiven Zugang zum Gemeinwohl abzugewinnen suchen muß. Doch was ist verläßlicher, um den nie restlos auslotbaren und oft unverfügbaren situativen Umständen des politischen Lebens ein treffliches Urteil über das Gemeinwohl abzugewinnen – das hoffnungsvolle Zutrauen in die unerforschlichen Ratschlüsse eines geglaubten persönlichen Gottes oder das risikobewußte und daher skeptische Zutrauen in die Findigkeit, mit der die amtlichen Träger der praktisch-politischen Urteilskraft das Gemeinwohl zu fördern bzw. zu erhalten bemüht sind, dessen unaufhörlich erneuerte Suche ihnen auch und gerade in einem parlamentarischen Regierungssystem von dessen Bürgern immer wieder von neuem aufgegeben wird? Mit einer besonders bemerkenswerten Überlegung hat sich der (katholische) Verfassungsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde mit der »kopernikanischen Wende«111 auseinandergesetzt, die »der tra­ ditionellen katholischen Staatslehre« widerfahren ist, »wie sie von Papst Leo XIII. formuliert worden war«:112 »Was sich hier zeigt, ist ein Vorgang der Veränderung von Lehren, die im Glauben gründe­ ten, und damit auch des Glaubens selbst durch die Vernunft. Es erscheint, rückblickend gesehen, als eine reflektierende Reinigung des Glaubens durch die Vernunft. Aber welcher Vernunft? Es war nicht irgendeine Vernunft, sondern die Vernunft der Aufklärung, deren Erkenntnisse hier beständig einwirkten – der Vernunft, die zur amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, zur Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 führte, die in Lessings Nathan

Vgl. oben S 2456. Ernst Wolfgang Böckenförde, Der säkularisierte, religionsneutrale Staat als sittli­ che Idee – Die Reinigung des Glaubens durch die Vernunft (12010), wieder abgdr. In: ders., Wissenschaft-Politik-Verfassungsgericht, Frankfurt/Main, S. 84–93, hier: S. 90. 112 Ebd. 110 111

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der Weise ihren Niederschlag und in Immanuel Kant einen ihrer großen Denker fand«.113 Ungeachtet der tiefen Verschiedenheit zwischen der logischen Form des politischen Urteils und den kognitiven, von Vernunft und Urteilskraft geprägten Voraussetzungen der politischen Urteilsbil­ dung zeigen sich Urteil und Erkenntnis im Licht der Agenden-Bedin­ gung des politischen Urteils in unmittelbarer Verbundenheit. Auf­ schlußreicherweise hat Kant diese Form unmittelbarer Verbundenheit in einer Situation terminologischer Verlegenheit zum Anlaß genom­ men, ihr direkt durch eine entsprechende begriffliche Prägung Rech­ nung zutragen. Am systematischen Ende seines ›critischen Wegs‹, in der Dritten Kritik, der Kritik der Urteilskraft führt er den Begriff des »Erkenntnisurteils«114 ein. Er subsumiert unter diesen Begriff ausdrücklich auch die praktischen Urteile, weil er im Rahmen seiner Moral- und seiner Rechtsphilosophie sorgfältig durchdachte Kriterien zu bedenken gegeben hat, mit deren Hilfe sich die moralischen Eigenschaften von Handlungsweisen und ihrer Urheber ebenso im Medium spezifisch praktischer Urteile erkennen lassen wie die rechtli­ chen Eigenschaften von Handlungsweisen und deren Urhebern.115 Im Schutz dieser Kriterien hat er sogar zwei komprimierte Kriterien zur Beurteilung und Erkenntnis der schätzenswerten bzw. der verwerfli­ chen Eigenschaften politisch ambitionierter Handlungen zur Sprache gebracht. Das negative Kriterium lautet: »Alle auf das Recht anderer Menschen bezogenen Handlungen, deren Maxime sich nicht mit der

113 S. 90–91. – Zu den Einzelheiten von Kants Beitrag vgl. vom Verf., Vernunft und Urteilskraft. Kant und die kognitiven Voraussetzungen vernünftiger Praxis, Freiburg/ München 2018; zu den spezifischen Einzelheiten von Kants Beiträgen zu den Bemü­ hungen um Aufklärung vgl. vom Verf., Bedingungen der Aufklärung. Philosophische Untersuchungen zu einer Aufgabe der Urteilskraft (12008), Paperback-Ausgabe, Wei­ lerswist 2020, bes. S. 515–628. Doch ungeachtet aller internen Komplikationen von Kants Beitrag ist stets zu bedenken, daß er mit seiner legendären AufklärungsMaxime Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen die Geschicke der Auf­ klärung von der individuellen Selbstaufklärung jedes Menschen abhängig macht. Die von Böckenförde apostrophierte Vernunft ist für ihre Beiträge zur Aufklärung in Kants Augen auf »die freilich noch durch Erfahrung geschärfte Urteilskraft«, Kant, Grund­ legung zur Metaphysik der Sitten, Ak. IV, S. 389, angewiesen. 114 Kant, Kritik der Urteilskraft, in: Kant‘s gesammelte Schriften (sog. AkademieAusgabe = Ak.), Berlin 1900ff., Ak. V, S. 209; vgl. hierzu vom Verf., Urteil und Erfah­ rung. Erster Teil, Kants Theorie der Erfahrung, Göttingen 2015, bes. S. 5ff. 115 Vgl. auch hierzu vom Verf., Vernunft und Urteilskraft.

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I. Kapitel: Die logische Form des politischen Urteils

Publizität verträgt, sind unrecht«;116 das positive Kriterium lautet: »Alle Maximen, die der Öffentlichkeit bedürfen (um ihren Zweck nicht zu verfehlen), stimmen mit Recht und Politik überein«.117 Hier wird eine Struktur der Öffentlichkeit umrissen, die allem ›Strukturwandel der Öffentlichkeit‹ zuvorkommt. Kants unscheinbare, aber der Sache nach wichtige, terminolo­ gisch verbrämte Einsicht in den unmittelbaren Zusammenhang von Urteil und Erkenntnis mag daher den Knotenpunkt bilden, von dem aus der Schritt von der Analyse der Form des praktisch-politischen Urteils zur Analyse der kognitiven Voraussetzungen der politischen Urteilsbildung, also zur politischen Erkenntnis unmittelbar am nächs­ ten liegt.

Kant, Zum ewigen Frieden, Ak. VIII, S. 381, Hervorhebungen R. E. S. 386, Hervorhebungen R. E.; des liegt auf der Hand, daß das negative Kriterium bedeutet, daß es zu bedenken gibt, daß die von ihm erfaßten Handlungen und Maxi­ men weder mit Recht noch mit Politik übereinstimmt. 116

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II. Kapitel: Die kognitiven Voraussetzungen politischer Urteilsbildung

In einer für die Entwicklung der Politischen Wissenschaft nicht nur in Deutschland maßgeblich gewordenen Abhandlung zum Thema Aufgaben einer modernen Regierungslehre118 hat Wilhelm Hennis im Anhang dieser Schrift einen differenzierten Entwurf für eine Systematik einer Vorlesung zur Regierungslehre mitgeteilt. In dieser, auch in englischer Übersetzung vorliegenden Schrift119 sieht Hennis mit einem damals einzigartigen Tiefblick die kognitiven Aufgaben des Staatsmanns und Politikers, also das Erkennen – und zwar in jeder neuen praktischen Situation von neuem – an der Spitze aller politischen Agenden stehen.120 Gleichwohl hat sich die Politische Wissenschaft ebenso wenig wie ihre unmittelbare Vorgängerin – die Staatswissenschaft bzw. -lehre – einer ins einzelne gehenden Klärung dieser kognitiven Voraussetzungen der politischen Urteilsbildung angenommen. Es ist daher kein Zufall, daß Hennis – wenngleich ver­ spätet, aber dafür umso dankbarer – die Hilfestellung angenommen hat, die ihm Wolfgang Wielands entsprechende medizintheoretische Untersuchungen zu Struktur und Funktion der ärztlichen Diagnose geboten haben. 121 Immerhin ist die wichtige Analogie der ärztlichen diagnostischen Kunst zur politischen Kunst der Urteilsbildung des politischen Amtsinhabers von der bedeutenden Politischen Philoso­ phie seit alters her bis in unsere unmittelbare Neuzeit beachtet worden. In Platons Alterswerk der Gesetze wird diese Analogie mit derselben Selbstverständlichkeit fruchtbar gemacht122 wie in dem so bedeutsamen neuzeitlichen Monument Politischer Philosophie der

Vgl. Hennis, Regierungslehre, bes. Anhang S. 100–104. Wilhelm Hennis, Politics as a Practical Science, Translated by Keith Tribe, Lon­ don 2009. 120 Vgl. Regierungslehre, S. 101, II. Die Aufgabe. Erkennen, Beschließen, Ausführen. 121 Vgl. oben S. 2728. 122 Vgl. Platon, Nom. 720aff. 118

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Federalist Papers.123 Das tertium comparationis dieser Analogie bildet die ganz spezifische kognitive Fähigkeit, die sowohl in der ärztlichen wie in der politischen Kunst der Urteilsbildung dafür zuständig ist, die konkrete aktuelle Situation zu durchschauen, in der sich jeweils der betroffene Patient bzw. das betroffene individuelle Gemeinwesen befindet – die praktische Urteilskraft.124 Doch wie kann man Einzelheiten der kognitiven Voraussetzun­ gen politischer Urteilsbildung noch weiter auf die Spur kommen, wenn man die praktische Urteilskraft schon als das kognitive Zen­ trum dieser Urteilsbildung identifiziert hat – zumal die geradezu sprichwörtliche abgründige Um-ständlichkeit unserer praktischen Lebenssituationen eine solche Spurensuche ins Uferlose zu schicken scheint? Die Erkenntnistheorie, die hier eigentlich zuständig ist, muß sich in ihrer gegenwärtigen Verfassung schon auf einen außerordent­ lich weiten begriffs- und problemgeschichtlichen Rückblick gefaßt machen, wenn sie auf dieser Linie fündig werden will. Erst in der griechischen und der lateinischen Spätantike wird sie auf Spuren treffen, die ihr hier weiterhelfen können.125 Unabhängig davon, aber in Übereinstimmung damit sind es die kognitiven Tugenden der praktischen Urteilskraft, auf die unter ihren traditionellen Namen der Umsicht, der Vorsicht und der Rücksicht gelegentlich nicht nur gezielt, sondern auch mit systematischer Absicht die Aufmerksamkeit gelenkt worden ist.126 Die Namen dieser kognitiven Tugenden sind vielleicht schon zu lange und zu tief im Gebrauchshaushalt unse­ Vgl. Alexander Hamilton / John Jay / James Madison, The Federalist Papers, New York/Toronto 1961, bes. S. 234f. 124 Vgl. Wieland, Diagnose, S. 96ff, und Hennis, Thukydides, S. 46ff. 125 Vgl. Theo Kobusch, Art. Umsicht, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie Bd. 11 (Hg. J. Ritter, K. Gründer, G. Gabriel), Basel 2001, S. 94–97. 126 »... philosophic treatment … is nothing less than a special form of the fundamental question of the relation of theory and practice, or of knowledge and virtue«, Srauss, On Tyranny, S. 34, Hervorhebung R. E. Allerdings gehört Wissen zumindest bei Aris­ toteles zu den dianoetischen Tugenden; vgl. hierzu die trefflichen Erörterungen durch Vigo, Praktische Wahrheit, S. 261-268. – Vgl. zum Tugend-Thema vom Verf., Auf­ klärung trotz Wissenschaft, in: Wissenschaft und Auf-klärung (Montagsvorträge an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg 1995/6) (Hg. R. Enskat), Opladen 1996, S. 119–157, bes. S. 139ff.; zur systematischen Absicht vgl. vom Verf., Bedin­ gungen der Aufklärung, bes. S. 157ff., 666–667; im selben Sinne bringt Friedrich H. Tenbruck, Grenzen der staatlichen Planung, in: Regierbarkeit. Stu-dien zu ihrer Pro­ blematisierung (Hg. von Wilhelm Hennis, Peter Graf Kielmannsegg, Ulrich Matz), Stuttgart 1977, S. 134–149, unter seinem Leitaspekt mit der These auf den Punkt: »Die Grenzen der Planung ergeben sich gerade nicht aus der Planung, sondern aus Erfah­ 123

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res alltäglichen Sprechens aufgehoben, als daß man ohne weiteres bereit sein könnte, ihnen sogar in der Erkenntnistheorie und hier einen überaus bedeutsamen kognitions-anthropologischen Rang für erkenntnistheoretische Überlegungen zuzutrauen. Doch die gemeinsame Sicht-Komponente dieser drei Tugenden verweist schon von sich auf die kognitive Funktion ihrer Namen­ träger. Und das Um-Präfix der Umsicht verweist unmittelbar auf die spezifische kognitive Funktion, durch die die Aufmerksamkeit dieser kognitiven Tugend der situations-erschließenden praktischen Urteilskraft exklusiv auf die Um-stände gerichtet ist, die jede Situation ausmachen. Aufgabe dieser Tugend ist es offensichtlich, gleichsam das Meer der jede Situation ausmachenden Umstände so zu sich­ ten, daß es ihr gelingt, möglichst nur diejenigen in den Blick zu nehmen, die mit Blick auf die erfolgsträchtige praktische Intention des jeweiligen Akteurs am wichtigsten sind. Hat die dieser kognitiven Tugend zugrunde liegende natürliche kognitive Disposition jedes Menschen erst einmal das Niveau erreicht, auf dem sie den Namen einer Tugend verdient, dann sieht sie sich auch nicht mehr einem ›Meer‹ von Umständen ausgesetzt. Dann hat sie schon lange gelernt, den Umständen einer jeweils aktuellen Situation einige alternative Muster hinreichend ähnlicher Situationen aufzuprägen, gleichsam in deren Maschen sich unterschiedlich relevante Umstände so verfan­ gen, daß es nur noch nötig ist, ein komparatives, abwägendes Urteil über die aktuell relevantesten Umstände zu treffen und das aktuell erfolgsträchtigste Handlungsmuster auszuwählen. Doch die Umsicht ist aus guten Gründen in die Trias aus Umsicht, Vorsicht und Rücksicht eingebunden. Denn alle drei üben untereinan­ der drei für die kognitive Orientierung der praktischen Urteilskraft unentbehrliche, einander ergänzende Funktionen aus. So gehört es zur Erfolgsträchtigkeit jeder Praxis, daß man mit Hilfe der Vorsicht in der Lage ist, die wahrscheinlichen Konsequenzen hinreichend abzu­ schätzen, um die mit der Handlungsoption des Akteurs verbundenen günstigen und schätzenswerten unter ihnen von den mehr oder weni­ ger schädlichen unterscheiden zu können. Doch Handlungskonse­ quenzen kann man auch nur dann abschätzen, wenn man die aktuellen Umstände der Handlungssituation ebenso hinreichend überblickt wie die kausalen Effekte, die eine Handlungsweise der gewählten Option rung und Urteilskraft. Diese erst lassen die generellen Tugenden der Vorsicht und der Umsicht im konkreten Fall praktisch werden«, S. 146.

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gewöhnlich auslöst. Eine erfolgsträchtige Ausübung der Vorsicht ist daher nur möglich, wenn die Ausübung der Umsicht bereits zu hinreichend verläßlichen Erkenntnissen geführt hat. Es ist kein Zufall, daß eine anthropologisch so fest verwurzelte kognitive Disposition wie die Vorsicht so tief in dem dunklen Schatten geblieben ist, die die außerordentlich lebendigen erkenntnistheore­ tischen Diskussionen der vergangenen rund hundert Jahre auf sie geworfen haben. Sogar in der vor einigen Jahrzehnten so lebhaft erörterten und auch institutionen-politisch geförderten Technikfol­ gen-Abschätzung hat bis auf extrem seltene Ausnahmen niemand bemerkt, daß es nichts anderes als die kognitive Urteilskraft-Tugend der Vorsicht ist, die hier auf den Plan gerufen wurde. Selbstver­ ständlich ist die Technikfolgen-Abschätzung in methodischer Hin­ sicht unvergleichlich viel komplexer und anspruchsvoller als die Ausübung der Vorsicht im praktischen Alltagsleben. Sie setzt – stets in Entsprechung zu dem Typ der Technik, um die Konsequen­ zen von deren praktischem Gebrauch im Alltagsleben es geht – wissenschaftliche Kompetenzen auf den Forschungsfeldern voraus, aus deren kognitiver Obhut eine Technik hervorgegangen ist bzw. in deren kognitive Obhut die wahrscheinlichen Konsequenzen ihres alltäglichen Gebrauchs gehören. Doch ungeachtet aller diversen mit der Technikfolgen-Abschätzung verbundenen Komplikationen ist es die praktische, kognitive Urteilskraft-Tugend der Vorsicht, die die Sorge um diese besondere Form der Handlungsfolgen-Abschätzung anthropologisch provoziert.127 Bei der ›Dritten im Bunde‹ dieser kognitiven Tugenden – der Rücksicht – handelt es sich gleichsam um den eineiigen Zwilling der Vorsicht. Denn ihre Aufmerksamkeit ist wie die der Vorsicht ebenfalls auf die wahrscheinlichen Konsequenzen einer Handlungsoption kon­ zentriert. Gleichwohl läßt sich ihre spezifisch praktische Orientierung von einem ganz anderen Gesichtspunkt praktischer Relevanz leiten. Denn sie sucht ausschließlich das Maß und die Form der Betroffenheit 127 Der von oberflächlichen sowie von vorurteils- und ideologie-gesteuerten Lesern gerne diskreditierte Martin Heidegger, Sein und Zeit (11927), Tübingen 91960, hat sowohl die Umsicht wie die Vorsicht wegen wichtiger kognitiver Aufgaben für die Wahrnehmung der alltäglichen Sorge des Menschen in der Praxis und in der Wissen­ schaft berücksichtigt, vgl. S. 356–364, 358ff. Heideggers Gespür für ihre Wichtigkeit dürfte daher kommen, daß er ihre von Kobusch, Umsicht, in Erinnerung gerufenen spätantiken griechischen und lateinischen Traditionen (περισκοπή, circumspectio), vgl. oben S. 72123, aus eigener gründlicher Lektüre kannte.

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einzuschätzen, die die wahrscheinlichen Konsequenzen einer Hand­ lungsoption für die Mitmenschen des Akteurs in seiner Situation mit sich bringen.128 Dieser kurze Exkurs hat die kognitions-anthropologische Dimension umrissen, in der Umsicht, Vorsicht und Rücksicht der praktischen Urteilskraft im strikten funktionalen Verbund zu den Erkenntnissen verhelfen, zu deren Gewinnung sie – und nur sie – befähigt ist. Ohne die ins einzelne gehende Berücksichtigung dieser drei kognitiven Tugenden bliebe Hennis‘ so erratisch scheinende The­ matisierung der sogar alle anderen Aufgaben leitenden Erkenntnis­ aufgaben der praktischen Politik (vgl. oben S. 9–10) ohne sachlichen Halt. Den springenden Punkt für die politische Schlüsselrolle dieser kognitiven Tugenden bildet die strikte Situativität, durch die alle poli­ tischen Agenden – ob in Form von Gesetzesinitiativen, -vorlagen oder -beschlüssen – die praktische Relevanz des politischen Urteils aus­ machen. Doch es liegt auch auf der Hand, daß die komplexe institu­ tionelle, administrative und prozedurale Struktur eines modernen Regierungssystems mit allen ihren rechtlichen Rahmenbedingungen dazu führt, daß die praktisch-politische Sorge um die angemessene Wahrnehmung von Umsicht, Vorsicht und Rücksicht nur in einem vieldimensionalen Netz der diversesten Ämter, Zuständigkeiten, Rechte und Pflichten ausgeübt werden kann. Wenn es auf der Linie der hier erprobten Überlegungen um die Behandlung von Grundfra­ gen der öffentlichen Praxis geht, die die zentrale Aufgabe der prakti­ schen Politik bildet, dann kann es selbstverständlich nicht darum gehen, die institutionellen, administrativen und prozeduralen Einzel­ heiten der Ämter, Zuständigkeiten, Rechte und Pflichten zu durch­

128 In einer dem Andenken von Wilhelm Hennis‘ tief- und weitblickender politik­ wissenschaftlicher Arbeit auch persönlich gewidmeten Untersuchung ist es vielleicht nicht unangemessen, auch eine persönliche Reminiszenz einzuflechten: 1996 hatte ich Hennis meine erste Erörterung dieser kognitiven Trias der Urteilskraft im Text meines Vortrags Aufklärung trotz Wissenschaft, vgl. oben S. 49121, geschickt und erhielt einen begeisterten telephonischen Anruf; 2008 habe ich ihm mein Buch Bedingungen der Aufklärung. Philosophische Untersuchungen zu einer Aufgabe der Urteilskraft geschickt. In seinem Brief vom 18. 5. 2008 schrieb er mir: »Es ist doch sehr befriedigend zu hören, daß man vom Samen der Urteilskraft ein wenig verbreitet hat – unbeeindruckt vom Unverständnis der meisten Kollegen«. Der außerordentliche Anklang, den diese Erörterungen bei ihm gefunden hatte, gehört in denselben Horizont, aus dem seine verspätete, aber ebenso befriedigende Aufnahme von Wielands Buch zur ärztlichen Diagnose kam.

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leuchten, die die Wahrnehmung dieser Aufgabe tag-täglich prägen.129 Es kommt vielmehr darauf an, zur Sprache zu bringen, worauf sich jeder politisch Urteilende und vor allem die politischen Amtsträger eher stillschweigend, aber berechtigterweise verlassen, wenn sie poli­ tisch urteilen – auch auf die Wahrheit der von ihnen in Gebrauch genommenen Unterstellung, daß sie Umsicht, Vorsicht und Rücksicht nach bestem Wissen und Gewissen berücksichtigt haben. Das cha­ rakteristische Präfix dieser Wahrheitsbedingung hat daher die Form: Die in der Verborgenheit der logischen Form des politischen Urteils auf­ gehobene Wahrheitsbedingung der drei kognitiven Kardinaltugenden ist bei allen verfassungsrechtlich vorgesehenen öffentlich-rechtlichen Nor­ mierungen mit dem stillschweigenden Präfix verbunden: Im Licht der von uns nach bestem Wissen und Gewissen geübten Umsicht, Vorsicht und Rücksicht statuieren wir, daß es gemeinwohldienlich ist, daß…. Erörterungen von Grundfragen haben mit Blick auf jedes the­ matische Feld des Alltagslebens und der Wissenschaft andere Ziele und daher auch andere Aufgaben: Sie sollen Voraussetzungen der alltäglichen Praxis zur Sprache bringen, die im Gedränge der alltäg­ lichen Arbeit übersehen, vergessen oder verdrängt werden, obwohl alle Akteure im Vertrauen auf ihre Gültigkeit und Verläßlichkeit still­ schweigend von ihnen Gebrauch machen. Doch bei diesem Zur-Spra­ che-bringen handelt es sich nicht etwa um eine höhere Art von selbst­ genügsamem Sprachspiel. Überlegungen zu solchen Grundfragen sollen vor allem ausführlich Rechenschaft über die sachliche und die methodologische Berechtigung ablegen, mit der man normalerweise unreflektiert von diesen Voraussetzungen Gebrauch macht. Innerhalb und während der alltäglichen Geschäfte läßt sich die Reflexion auf diese Voraussetzungen schon deswegen nicht zureichend ausüben, weil die Aufgaben, denen sich diese Geschäfte widmen müssen, 129 Die Ausführungen von Negt/Kluge, Öffentlichkeit, zu Erfahrung, Erkenntnis und Wissenschaft sind von keinerlei Arbeitserfahrungen berührt, wie man sie durch eine gründliche Auseinandersetzung mit der klassischen Tradition der Erkenntnistheorie und der aktuellen Erkenntnistheorie bzw. Wissenschaftstheorie erwerben kann. Ihre einschlägigen Ausführungen lesen sich wie eine ambitiöse Seminararbeit, wie sie im Rahmen eines Schnellkurses über Erkenntnistheorie und Wissenschaftstheorie am DKP-nahen Frankfurter Institut für Marxistische Studien und Forschungen ver­ faßt worden sein könnte. Es ist ein bildungs-psychologisches Rätsel, wie sich der Co-Autor des ebenso klugen wie kritischen kulturpolitischen Buchs: Hellmut Becker / Alexander Kluge, Kulturpolitik und Ausgabenkontrolle: Zur Theorie und Praxis der Rechnungsprüfung. Klostermann, Frankfurt/Main 1961, zu einer so ideologiebefan­ genen Co-Autorschaft verstehen konnte.

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unter dem einfachen Zeitverlust leiden müßten, den die Ablenkungen durch die nötige Sorgfalt und Gründlichkeit der reflexiven Analysen dieser Voraussetzungen mit sich bringen würden. Daher hat sich zwischen der philosophischen Grundfragenreflexion und -analyse und den alltäglichen wissenschaftlichen und nichtwissenschaftlichen Tätigkeiten von alters her eine stillschweigende Arbeitsteilung einge­ bürgert, die zum arbeitsökonomischen Vorteil beider ist: Keine von beiden muß ihre Kräfte teilen, um die Fruchtbarkeit bzw. Fortschritte auch der jeweils anderen auch nur minimal zu fördern, sondern kann ihre jeweils spezifisch internen Aufgaben ausschließlich um ihrer selbst willen möglichst optimal und maximal wahrzunehmen suchen. Gewiß hat es in der Geschichte auch immer wieder Fälle gegeben, in denen jemand beiden Aufgaben in Personalunion gerecht zu werden versucht hat. Es ist hier nicht der Ort, über die Erfolge dieser sehr verschiedenartigen Versuche zu urteilen. Indessen ist im Laufe der Geschichte auf beiden Seiten der Grad der sachlichen und der methodischen Komplexität der Unternehmungen so gewachsen, daß sich ernstgemeinte Versuche solcher Personalunion zunehmend von selbst verboten haben: Der praktische Politiker ist ist in der Regel nicht der beste Analytiker seiner Praxis ebenso wenig wie der einsichtsvollste Politische Philosoph in der Regel nicht der beste praktische Politiker ist. Das Beispiel von Umsicht, Vorsicht und Rücksicht kann auf einem elementaren Niveau verdeutlichen, um was es bei der Differenz zwischen der reflexiv-analytischen Einstellung zu Grundfragen und der Einstellung geht, die die ursprünglichen Sach- und Methodenfra­ gen gewissermaßen in intentione recta angeht. In der intentio recta kann man Umsicht, Vorsicht und Rücksicht mit Selbstverständlichkeit so tüchtig wie möglich üben, ohne die entsprechenden Worte auch nur in den Mund nehmen zu müssen, um zu zeigen, daß man sie übt. Ihr ausdrücklicher Gebrauch kann in praktischen Situationen eher geeig­ net sein, ungünstige Eindrücke von Selbststilisierung oder gar Selbst­ gefälligkeit ihres Benutzers zu wecken. Noch unangemessener wäre es in der intentio recta, ihre Ausübung durch ausdrückliche Kommentare über ›kognitive Tugenden der praktischen Urteilskraft‹ zu begleiten. Ein solches überspanntes sprachliches Verhalten in der intentio recta zu zeigen, gehört eher zur Signatur der Einstellung, »Bildung zu

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prätendieren, die man nicht hat«.130 Denn man macht dann in dieser Einstellung von etwas Gebrauch, was hier so überflüssig ist wie das, an dem man zu partizipieren prätendiert – an der reflexiv-analytischen Einstellung, in der die kognitiven Tugenden der praktischen Urteils­ kraft zum Thema der analytischen Bemühungen um die Klärung der allgemeinen Unerläßlichkeit ihres Beitrags zu einer gelingenden Praxis gemacht werden. Das Spannungsverhältnis zwischen beiden Einstellungen haben zwei von meiner Lehrergeneration formulierte ingeniöse Charakteristiken der philosophischen Tätigkeit auf Begriffe gebracht: »Philosophie ist die Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeit genau dessen, was in jeder anderen als der philoso­ phischen Einstellung für selbstverständlich gehalten wird«131 bzw. kurz und bündig: »Philosophie ist die Theorie des Selbstverständli­ chen«.132 Die ausdrückliche Thematisierung und Erörterung der drei kognitiven Tugenden macht daher mit den Mitteln der Reflexion darauf aufmerksam, daß drei kognitive Tugenden, deren alltägliche Namen wir mit Selbstverständlichkeit immer wieder einmal in den Mund nehmen, trotz ihrer alltäglichen Selbstverständlichkeit zu den zentralen Bedingungen der Möglichkeit guter situationsgerechter Politik gehören. In der Politischen Philosophie hat vor allem Bertrand de Jouvenel durch eine tiefsinnige Reflexion darauf aufmerksam gemacht, inwie­ fern diese Tugenden bereits bei der Gründung der ersten und elemen­ tarsten Formen spezifisch politischer Gemeinwesen Pate gestanden haben. Denn oberhalb einer kritischen, aber immer noch kleinen Größe der Vergesellschaftung war es für keinen Einzelnen mehr möglich, das für sie gemeinsam praktisch Wichtige durch individuelle

130 Theodor W. Adorno, Theorie der Halbbildung (11959), wieder abgedr. in: ders., Gesammelte Schriften (hg. von Rolf Tiedmann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Muck-Morss und Klaus Schultz), Soziologische Schriften I, Frankfurt/Main 4 1996, S. 93 – -121, hier: S. 110. 131 Günter Patzig, Vorwort, in: Gottlob Frege, Funktion, Begriff, Bedeutung. Fünf logische Studien (Herausgegeben und eingeleitet von Günther Patzig) (1964), Göttingen 1966, S. 3–15, hier. S. 14. – Indessen erinnert Leo Strauss, Tyranny, unter Berufung auf die griechischen Klassiker zu Recht an die realen Bedingungen der Möglichkeit, die philosophische Reflexion zu üben: »The philosopher cannot devote his life to his own work if other people do not take care of of the needs of his body. Philosophy is possible only in a society in which there is ›division of labour‹«, S. 199. 132 Wolfgang Wieland, Wissenschaft und Ethik, in: Das Parlament, Beilage: Aus Politik und Zeitgeschichte 1964, S. 11 – 26, hier: S. 11.

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Umsicht, Vorsicht und Rücksicht zu beurteilen und zu erkennen,133 ohne immer wieder von neuem in riskante, prekäre oder gefährliche Situationen ihrer gemeinsamen Praxis zu geraten – »Denn was einer nicht kann, können vielleicht alle zusammen«,134 wie der Soziologie Friedrich H. Tenbruck diese fundamental-anthropologische Maxime zu bedenken gibt. Solche Situationen bildeten die Geburtsstunden für die Etablierung von Gremien, in denen durch spezifisch politische Arbeitsteilung Aufgaben für die umsichtige, vorsichtige und rück­ sichtliche Überwachung unterschiedlicher Dimensionen des gemein­ samen alltäglichen Lebens verteilt wurden. Wenige Jahre später hat Arnold Gehlen135 die Kategorie der Entlastung in die Anthropologie und speziell auch in die Sozialanthropologie eingeführt, um vor allem kognitions-anthropologische Entwicklungssprünge angemes­ sen erfassen zu können. Die Gründungen der elementarsten, arbeits­ teilig organisierten politischen Gremien zur umsichtigen, vorsichti­ gen und rücksichtlichen Überwachung und Beratung gemeinsamer praktischer Angelegenheit sogar auf Stammesebene bilden einen der bedeutendsten dieser Entlastungssprünge in der Entwicklung der menschlichen Gattung. Nur so war es auch für einen frühgeschichtli­ chen Stamm möglich, seine Autarkie, also Selbstgenügsamkeit gegen Verfallstendenzen abzuschirmen, die sich aus einer gewachsenen kognitiven Überforderung jedes einzelnen seiner Angehörigen erge­ ben mußten, durch seine individuell geübte Umsicht, Vorsicht und Rücksicht noch maßgeblich zu einer lebens- und nutzendienlichen Balance zwischen allen Angehörigen beizutragen.136 Die klassischen modernen Gremien dieses Typs – die Kabinette mit ihrem ministerieller Unterbau sowie die Parlamente der entspre­ chenden Regierungssysteme – mögen noch so wenig Gestaltähnlich­ keit mit ihren frühgeschichtlichen Vorgängern zeigen. An ihren kognitions-anthropologisch vorgezeichneten Aufgaben, mit allen ihnen zu Gebote stehenden zeitgenössischen Methoden und Techni­ ken Agenden zu entwerfen, die dem gesellschaftlichen Komplexitäts­ grad der ihnen anvertrauten Gemeinwesen durch situationsgerechte Umsicht, Vorsicht und Rücksicht gerecht werden, hat sich nichts geän­ Jouvenel, Gemeinwohl, bes. Zweites Kapitel. Tenbruck, Grenzen, S. 30. 135 Vgl. Arnold Gehlen, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, Frankfurt am Main/Bonn 1962, bes. S. 62ff. 136 Vgl. Gehlen, Mensch, bes. S. 62ff., sowie die Literatur-Übersicht, S. 381ff., und Jouvenel, Gemeinwohl. 133

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dert. Hennis‘ entsprechende Placierung der Erkenntnisaufgabe an die Spitze aller der Politik gestellten Aufgaben (vgl. oben S. 49ff.) hat daher eine geschichtliche Tiefendimension, die alle seine Untersu­ chungen mehr oder weniger ausdrücklich grundiert. Im Rahmen dieser regierungsamtlichen und parlamentarischen Aufgaben bildet ihre bis heute angewachsene, fast schon ungeheure funktionale und formale Binnendifferenzierung in Form ihrer Ämter­ verteilung vordergründig die größte methodische Schwierigkeit für eine angemessene Erörterung der mit diesen Aufgaben und Ämtern verbundenen Grundfragen. Doch diese Schwierigkeiten hängen gerade in ihrer Vordergründigkeit vor allem damit zusammen, daß erkenntnistheoretische Probleme in der Neuzeit in einem bis heute immer noch wachsenden Maß in den Vordergrund der Aufmerksam­ keit geraten sind. Die an Faszination grenzende Bewunderung der Erkenntnis-Fortschritte, die vor allem der naturwissenschaftlichen Forschung seit dem frühen 17. Jahrhundert unaufhörlich gelingen, ist an sich zweifellos nicht nur verständlich, sondern auch berechtigt. Doch die Thematisierung der Erkenntnis dessen, was praktisch, also auch politisch wichtig ist, wird durch diese Faszination mit einer an Blindheit grenzenden Konsequenz ausgeblendet. Eine ausgeglichene Bilanz, die auch die Gewinne berücksichtigt, die die vor-neuzeitliche Erkenntnistheorie seit der klassischen griechischen Antike auf dem thematischen Feld der praktischen Erkenntnis hinterlassen hat, sieht anders aus. Es ist kein Zufall, daß ein gründlicher Kenner der Platoni­ schen und der Aristotelischen Erkenntnistheorie wie Wolfgang Wie­ land in dieser Hinsicht Pionierarbeit geleistet hat. In seinem medi­ zintheoretischen Buch über die ärztliche Diagnose hat er nicht nur die zuerst von Aristoteles im VI. Buch seiner Nikomachischen Ethik thematisierte praktische Urteilskraft137 als das kognitive Zentrum der diagnostischen Tätigkeit des Arztes in Erinnerung gerufen. Gleichzei­ tig war ihm damit die gründlichste erkenntnistheoretische Rehabili­ tation der Medizin als die praktische Wissenschaft gelungen als die sie bis ins 19. Jahrhundert im Wissenschaftssystem fest etabliert war, bevor die unaufhörlichen stürmischen naturwissenschaftlichen Ent­ deckungen der klinischen Medizin das hartnäckige Mißverständnis provozierten, die Medizin sei eine angewandte Naturwissenschaft. Das genaue Parallel-Stück hierzu war schon mehr als zehn Jahre früher durch die Studie zur Rekonstruktion der politischen Wissenschaft 137

Vgl. Nic. Eth. 1139a, hier auch der Hinweis auf die ärztliche Kunst.

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gelungen, mit der Wilhelm Hennis diese Wissenschaft ebenso als die praktische Wissenschaft rehabilitiert hatte, als die sie auf derselben Traditionslinie wie die Medizin anerkannt war, bevor sie schließlich nach dem Zweiten Weltkrieg zunehmend als Sozialwissenschaft mißverstanden wurde. Inmitten der sich ständig vervielfältigenden Alltagsarbeit der gegenwärtigen Politikwissenschaft und ihrer Spezialdisziplinen – vor allem der für unser Thema zentralen Regierungslehre und Par­ lamentsforschung – trifft unsere Grundfrage nach den kognitiven Voraussetzungen der politischen Urteilsbildung gerade an dem aller Alltagsarbeit am weitesten vorausliegenden Punkt auf die in gewisser Weise aufschlußreichste Situation. Denn es ist die ursprüngliche Gründungssituation jedes beliebigen obersten Regierungsamtes, also der Ministerien, mit Blick auf die die entsprechende kognitive Grün­ dungskonzeption am evidentesten wird. Es ist daher die kontinuierli­ che, amtlich und mit allen administrativen Möglichkeiten gesicherte Aufsicht über alle jeweils zugänglichen politisch relevanten Tatsachen und Tendenzen in einer Gesellschaft, was in einer solchen Gründungs­ situation maßgeblich ist. Bei dieser Aufsicht handelt es sich nicht nur um die generelle, sondern vor allem auch um die normativ institutionalisierte kognitive Voraussetzung aller regierungsamtlichen politischen Urteilsbildung. Der normative Charakter dieser kogniti­ ven Generaleinstellung prägt indessen auch alle kognitiven Tugenden, mit deren Hilfe sie in allen Zweigen einer Regierung wahrgenommen werden müssen. Nur deswegen kann ihre nachweisliche Vernachläs­ sigung, Verletzung oder mißbräuchliche Beanspruchung durch indi­ viduelle politische bzw. beamtenrechtliche Sanktionen in Rechnung gestellt werden. Damit ist indessen ein subtiles Problem der politischen Praxis berührt. Denn das Ensemble aus Umsicht, Vorsicht und Rücksicht bildet an sich und in seiner persönlichen Wahrnehmung durch einen individuellen Menschen nur deswegen nicht einfach eine a-praktische kognitive Tüchtigkeit, sondern eine sowohl kognitive wie praktischmoralische Tugend, weil sie durch den Anteil der Rücksicht vor allem auch der wechselseitigen mitmenschlichen Schonung zugute kom­ men. Diese moralische Komponente der Rücksicht strahlt daher nicht nur einfach unmittelbar auch auf die beiden anderen scheinbar exklu­ siv kognitiven Tugenden aus. Sie strahlt in dieser Form genauso auch auf die Ausarbeitung jeder politischen Agende aus. Denn bereits die Umsicht muß unter dieser Voraussetzung die relevanten situativen

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Umstände für eine Gesetzesinitiative und deren intra-ministerielle Beratung so abwägen, daß deren mögliche Tragweite für die vom anvisieren Gesetz betroffenen Bürger bedacht wird. Ebenso muß die Vorsicht die wahrscheinlichen Konsequenzen, die sich aus den als relevant erachteten Umständen für die Bürger im Geltungsbereich des anvisierten Gesetzes ergeben können, in Betracht ziehen. In der Aus­ übung der Vorsicht laufen indessen alle Einschätzungen zusammen, um auch die moralische Zumutbarkeit erwägen zu können, die das anvisierte Gesetz für die betroffenen Bürger mit sich bringt. Diese ursprüngliche amtspflichtige Aufgabe, die drei sowohl kognitiven wie praktischen und sogar moralischen Tugenden plan­ mäßig durch die regierungsamtliche Urteilsbildung wahrnehmen zu lassen, ist in einer unscheinbaren, aber deswegen nicht weniger wich­ tigen Dimension der praktischen Politik von fundamentaler Wichtig­ keit. Denn diese Aufgabe sorgt schon von Grund auf für eine subtile Durchdringung der Politik mit der geradezu fundamental-anthropo­ logischen moralischen Tugend der Rücksicht und ihrer Ausstrahlung auf Umsicht und Vorsicht. Damit ist – gleichsam aus der mikrosko­ pischsten Zelle des strukturellen Binnenraums der praktischen Politik – die ebenso regelmäßige wie berechtigte Sorge unterlaufen, die auf den zunehmenden Verlust aufmerksam macht, den nicht nur das öffentliche Bewußtsein erleidet, indem szientistische, technizistische und sozialwissenschaftliche Disproportionen zunehmend die sittlichmoralische Dimension der Politik verdrängen. Die Sorge um diesen Verlust wird seit vielen Jahrzehnten auch von zu Recht prominenten Gelehrten lebhaft und manchmal sogar leidenschaftlich öffentlich vorgetragen. Unter den Sozialwissenschaftlern ist es vor allem der tiefblickende Friedrich H. Tenbruck, der sich durch diesen Verlust alarmiert gezeigt hat.138 Am prominentesten sind zweifellos Wilhelm Hennis‘ aus der Mitte der Politischen Wissenschaften gekommenen Sorgen geworden.139 Ebenfalls aus der Mitte der Politischen Wis­ senschaft kommt Peter Graf Kielmannseggs in dieselbe Richtung zielende, behutsam wägende Frage nach dem klassischen politischen Zusammenhang von Demokratie und Tugend.140 Eine spezifisch politische Konkretisierung ist Kielmannsegg durch die Erinnerung an Vgl. Tenbruck, Grenzen, bes. S. 146ff. Vgl. Hennis, Ende?. 140 Vgl. Peter Graf Kielmannsegg, Demokratie und Tugend, in: ders., Nachdenken über Demokratie. Aufsätze aus einem unruhigen Jahrzehnt, Stuttgart 1980, S. 15–34. 138

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die Tugend der »besonnenen Tapferkeit«141 gelungen. Es ist denn auch diese Tugend mit ihrer Verflechtung einer kognitiven mit einer prak­ tischen Tugend, die gerade in den von Schmitt beschworenen, aber kognitiv und tugend-spezifisch gänzlich unterbelichtet gebliebenen Konfrontationen zwischen Freund und Feind vonnöten ist.142 Das ebenso beliebte wie wohlfeile Pseudo-Argument des Kon­ servatismus, der solchen Auffassungen zugeschrieben wird, erledigt sich von selbst, wenn man Rainer Spechts überaus kluges Kriterium des Konservativen berücksichtigt, daß ›bei ihm der Mißerfolg schon im Kalkül vorkommt‹.143 Denn unter Umständen kann der Mißerfolg, der beim Konservativen schon im Kalkül vorkommt, auch in dem von aller Moral, Sittlichkeit und Tugend verlassenen ›Ende der Politik‹ (Hennis) bestehen. Spechts treffliche Charakterisierung macht inso­ fern auf den Kerngehalt der konservativen Tugend aufmerksam.144 Vielleicht ist es für nicht wenige Leser solcher Autoren mißver­ ständlich, wenn der Verlust des Gespürs für die politische Wichtigkeit 141 Peter Graf Kielmannsegg, Putins Krieg, FAZ vom 19. April 2022, S. 7. – Damit erinnert Kielmannsegg stillschweigend an Platons Einsicht, daß man die natürliche Disposition der risikofreudigen Kühnheit nur durch Besonnenheit zugunsten wahrer Tapferkeit überwinden kann; vgl. Platon, Laches. – Doch da Tugenden einer Person in unterschiedlichen Graden zukommen können, kann es passieren, daß einem Staats­ mann von der ›besonnenen Tapferkeit‹ angesichts einer geopolitisch gefährlichen Situation die Besonnenheit zwar rhetorisch dominiert, aber die Tapferkeit zur rheto­ risch verbrämten Zögerlichkeit oder gar Ängstlichkeit regrediert. 142 Eine gründliche und daher besonders aufschlußreiche Erörterung des strikten Zusammenhangs der praktischen Wahrheit mit dem praktischen Gebrauch der kogniti­ ven Tugenden bei Arisoteles bietet Vigo, Praktische Wahrheit, bes. S. 261–280. 143 Vgl. oben S. 5995. 144 Kielmannsegg, Tugend, bilanziert zwar zu Recht, »Das Wort ist in unserer Sprache schon verloren gegangen, man lächelt, wenn man es hört«, S. 15. Vor allem seine notorische Konnotation mit christlichen Tugenden wie der Frömmigkeit und pädago­ gischen Normen wie der Sittsamkeit dürften zu seiner Verlorenheit im alltäglichen Sprachgebrauch beigetragen haben. Im angelsäch-sischen Sprachgebrauch ist viel häufiger, respektvoller und gleichzeitig mit großer Selbstverständlichkeit von virtue die Rede. Beispielsweise Crick, Foreword, apostro-phiert die Urteilskraft (judgement) geradezu mit Selbstverständlichkeit und in einem Atemzug als virtue und als skill, vgl. S. X, im Sinne einer kognitiven Tüchtigkeit. Die Bedeutung dieses englischen Worts ist immer noch zu eng mit der praktisch-politi-schen Bedeutung der römischen virtus verflochten, um in den Bannkreis einer Sitt-samkeits-Pädagogik geraten zu können. In der Philosophie ist daher in der angelsäch-sischen Literatur während der vergan­ genen Jahrzehnte sogar eine lebendige und fruchtbare Spezialdisziplin namens Virtue Epistemology entstanden; vgl. hierzu den thematischen Überblick in der Stanford Encyclopedia of Philosophy.

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von Moral, Sittlichkeit und Tugend mit solchen an sich angemesse­ nen, aber auch plakativ verkürzten Stichworten evoziert wird. Der in dieser Untersuchung erprobte Ansatz bei den alltäglichen und menschlich-allzumenschlichen kognitiven Tugenden von Umsicht, Vorsicht und Rücksicht, insbesondere bei der deutlich auch moralisch geprägten Tugend der Rücksicht soll zu diesen Dimensionen des Poli­ tischen gerade einen mikro-analytischen Zugang eröffnen. Umsicht und Vorsicht können ohne weiteres auch in einem durchaus respekt­ heischenden Sinne nutzen-egoistisch geübt werden, um die wohl­ verstandenen praktischen Interessen einer individuellen Person zu schützen und durchzusetzen. Doch die Rücksicht bildet eine nur allzu deutlich nicht-nutzenegoistische Einstellung, weil sie von Hause aus ausschließlich die Geschicke berücksichtigt, die die wahrscheinlichen Konsequenzen des Handelns eines Akteurs für dessen Mitmenschen mit sich bringen werden. Eine Tugend ist sie jenseits ihres kognitiven Formats also gerade auch im traditionellen moralisch-sittlichen Sinne der Mitmenschlichkeit. Der Kontrast zu ihrem Gegenteil – der Rück­ sichtslosigkeit – gibt dies unmißverständlich zu verstehen. Doch wie zeigen sich diese drei Tugenden konkret und im einzelnen, wenn man ihnen vor allem im Zusammenhang mit der Struktur von konkreten Regierungsämtern bzw. Ministerien auf die Spur zu kommen sucht?145 Dies läßt sich besonders prägnant am Beispiel einer der wichtigsten Neugründungen eines Ministeriums in Deutschland illustrieren – am Beispiel des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit (kurz: BMU). Sieht man im Rahmen unseres Leitthemas zunächst einmal von den Grenzen der faktischen Handlungsspielräume, die nicht nur diesem Ministerium unter den allgemeinen Rahmenbedingungen des deutschen Regierungs- und Parteiensystems gezogen sind, ab,146 145 Allerdings können diese personalen Tugenden im Zuge der regierungsamtlichen Politik unter Umständen ins verfassungsrechtlich riskante Privatistische entarten: »Verfassungspolitisch ist das Gespann Brandt/Bahr ein bedauernswerter Rückfall in Formen des ›Persönlichen Regiments‹ im Stile Wilhelms II. oder der ›Küchenkabi­ nette‹ amerikanischer Präsidenten«, Wilhelm Hennis, Die Kehrseite des Verfassungs­ staats (11973), in: Auf dem Weg in den Parteienstaat. Aufsätze aus vier Jahr-zehnten, Stuttgart 1998, S. 49–56, hier: S. 51. 146 Kielmannsegg, Demokratie, widmet der unmittelbaren Vorgeschichte dieses Ministeriums und seinen Handlungsspielräumen unter dem Titel Die Kehrseite der Wettbewerbsdemokratie: Das Beispiel des Umweltschutzes zu Recht ein eigenes, ebenso eindringliches wie sehr skeptisches Kapitel, vgl. S. 69–90. Bei der von Kielmannsegg apostrophierten Wettbewerbsdemokratie handelt es sich um den Wettbewerb, den die

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dann bilden Vorgeschichte, Gründung und bisherige Praxis dieses Ministeriums ein besonders geeignetes Muster für die Beantwortung dieser Grundfrage. Es beginnt damit, daß das Fanal, das das Bewußtsein internatio­ nal für die Gefährdung unserer Umwelt – aber nicht nur unserer Umwelt – wachgerufen hat, im Jahr 1972 von der von Denis und Donella Meadows erarbeiteten Studie des Club of Rome ausging. Sein Thema Die Grenzen des Wachstums betraf zwar in ersten Linie die Endlichkeit der natürlichen Ressourcen, die den Menschen zur Befriedigung ihrer wachsenden Bedürfnisse zur Verfügung stehen. Doch es ging den Autoren um die vielfältigen Grenzen, die sowohl der gegenwärtigen Zunahme der Weltbevölkerung wie der Industrialisie­ rung, der Umweltverschmutzung sowie der Nahrungsmittelproduk­ Parteien um die Gunst der Wähler austragen, um die Zugänge zu den maßgeblichen politischen Ämtern zu gewinnen. Die Konsequenzen, die dieser Wettbewerb inzwischen für die zunehmende Verengung der Handlungsspielräume der praktischen Politik mit sich gebracht hat, könnte manchen dazu verführen, in ihnen späte, im Grunde unvorhersehbare empirische Bestätigungen der ganz nicht-empirischen, »wesensanalytisch[en]« Arbeit zu sehen, die vor fast hundert Jahren Gerhard Leibholz, Die Reprä­ sentation in der Demokratie (11929), Berlin/New York 31973, S. 2, unter dem Titel Das Wesen der Repräsentation und der Gestaltwandel der Demokratie im 20. Jahrhun­ dert begonnen hatte. Die angeblich »zwischen Verfassungsrecht und Verfas-sungs­ wirklichkeit bestehende Spannung«, S. 271, versucht nach seiner Auffassung ein »soziologischer Positivismus«, ebd., der ›Verfassungswirklichkeit‹ zu überwinden, der aber nur »relativistisch, anarchisch und letztlich destruktiv sein«, ebd., würde. Leib­ holz‘ sterilem Pseudo-Gegensatz eines Verfassungsrechts-Wortlauts-Positivismus und eines vermeintlichen ›soziologischen Positivismus‹ der Verfassungswirklichkeit hat vor allem Wilhelm Hennis, Verfassung und Verfassungswirklichkeit. Ein deut­ sches Problem, in: Recht und Staat, Heft 373/374, 1968, in seiner Freiburger Antritts­ vorle-sung mit schlagenden Argumenten seine Bodenlosigkeit aufgezeigt. Entschei­ dend sind seine Argumente: 1. »Korrelatbegriff zur Verfassung ist Verfassungswidrigkeit, und der andere Korrelatbegriff, auf den die ganze Verfassung ja hinzielt, ist die Staatspraxis«, S. 36; 2. In der praktischen Politik »ist die rechtliche Verfassung das, was sie der ersten geschriebenen Verfassung [Cromwells Verfassung von 1653, R. E.] war, ein Instrument of Government [so ihr offizielle Titel, R. E.], das gut oder schlecht sein kann. Bezugspunkt für die Kritik der Staatspraxis ist für die politische Wissenschaft nicht die [...] [geschriebene, R. E.] Verfassung, sondern das Gemeinwesen, die Auf-gaben, die ihm in Zeit, Raum unter den besonderen Bedin­ gungen der Anforderungen einer freiheitlich verantwortlichen rechtsstaatlichen Demokratie gestellt sind«, S. 36–37. Wie man mit Hilfe von historischen und poli­ tisch-empirischen Fallerörterungen sowie mit profunder Gesetzeskenntnis dem Weg der Bundesrepublik in Richtung auf einen Parteienstaat auf die Spur kommt, zeigt Wilhelm Hennis, Auf dem Weg in den Parteienstaat. Aufsätze aus vier Jahrzehnten, Stuttgart 1998.

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tion und der Ausbeutung von natürlichen Rohstoffen gezogen sind. Indessen ist es nur allzu offensichtlich, daß gerade die kognitive Pointe ihrer Untersuchungen darin bestand, daß ihnen gleichsam aus einer weltweiten Vogelperspektive zum ersten Mal eine Form der Um-sicht gelungen war, die alle für ihre Diagnosen relevanten Um-stände der damaligen globalen Situation der Menschen gewichten konnte.147 Ebenso ist das, was in ihrem Bericht in der konventionellen Form von Prognosen – wenngleich mit dramatischen Inhalten – mitgeteilt wurde, in der kognitiven Obhut der Vor-sicht aufgehoben. Es ist selbstverständlich nur allzu verständlich, daß in der öffentlichen Wahrnehmung vor allem die dramatischen Inhalte ihrer Diagnosen und Prognosen wahrgenommen und diskutiert wurden. Ihre Progno­ sen der weitreichenden Konsequenzen wurden denn auch rasch und zu Recht zu Themen anspruchsvoller konsequentialistisch-utilitaris­ tischer Untersuchungen der Verantwortung für künftige Generatio­ nen.148 Doch die in dieser Form ganz neue kognitive Einstellung zu den Konsequenzen, die eine ungehegte Fortsetzung der gewachsenen Formen der Bedürfnisbefriedigung für künftige Generationen mit sich bringen wird, bildet auch eine ganz neuartige Verflechtung der kogni­ tiven Tugend der Vorsicht mit der der Rücksicht – neuartig deswegen, weil sie entgegen ihrem konventionellen Wortsinn nicht der Sorge um die Betroffenheit der aktuellen Mitmenschen durch Konsequenzen von aktuellen Handlungsoptionen entspringt,149 sondern der Sorge um alle unsere weltweiten Nachkommen. Damit werden alle unsere weltweiten Nachkommen in einer ganz neuartigen und gleichzeitig dramatischen Weise in die Obhut unserer Mitmenschlichkeit aufge­ nommen. Doch damit strahlt das moralisch-sittliche Moment, das

147 Es verdient Beachtung, daß Heidegger, Sein und Zeit, der Umsicht die kognitive Leitfunktion für die Wahrnehmung der Sorge zuschreibt, vgl. S. 69f., weil sie der »Verweisungsmannigfaltigkeit«, S. 68, – also den Um-ständen bzw. der Situativität – Rechnung trägt, die die Struktur der »Umwelt«, S. 72ff. prägt. 148 Vgl. in Deutschland vor allem Dieter Birnbacher, Verantwortung für zukünftige Generationen, Stuttgart 1988; zur kritischen Klärung der konsequentalistisch-utilitaristischen Struktur der Verantwortung vgl. Wolfgang Wieland, Verantwortung – Prin-zip der Ethik?, Heidelberg 1999. 149 Auch die Rücksicht wird von Heidegger, Sein und Zeit, als ein spezifisch kognitiver Modus der Sorge thematisiert, vgl. S. 123f.

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strikt mit der kognitiven Tugend der Rücksicht verbunden ist, auf die Wahrnehmung der Verantwortung für künftige Generationen aus.150 Erst damit sind die tieferliegenden Vorzeichen geklärt, unter denen in Deutschland das Bundesministeriums für Umwelt, Natur­ schutz und nukleare Sicherheit 1986 gegründet wurde. Wie jedes andere Ministerium auch übernimmt es die ihm von Amts wegen übertragene Aufsicht über alle relevanten Tatsachen und Tendenzen, die sich in dem ihm zugewiesenen gesellschaftlichen Wirklichkeits­ ausschnitt Deutschlands erkennen und politisch beurteilen lassen. Es übt also Umsicht, Vorsicht und Rücksicht, wie sie Denis und Donella Meadows mit globaler Perspektive geübt haben, in der nationalen Per­ spektive. Es ist allerdings nur allzu verständlich, daß diese drei kogni­ tiven Tugenden mit ihren moralisch-sittlichen Momenten sowohl im ministeriellen und regierungsamtlichen Tagesgeschäft genauso wenig im alltäglichen Bewußtsein präsent sind wie in der politischen Öffentlichkeit. Doch das nimmt ihnen ebenso wenig das geringste von ihrer politischen Bedeutsamkeit wie es die Bedeutsamkeit der Hintergrundstrahlung mindert, die unseren Kosmos erfüllt. Umsicht, Vorsicht und Rücksicht bilden geradezu gleichsam die Hintergrund­ strahlung, die für jede politische Urteilsbildung bedeutsam ist – sei es durch ihre Ausübung oder durch ihre Vernachlässigung. Mit diesen Charakterisierungen soll nicht im mindesten ein sogenannter ›Idealtypus‹ eines Ministeriums entworfen werden, dessen Tätigkeit sich während der vergangenen Jahrzehnte immer wieder auch überspannten moralischen, politisch sogar halbblinden Erwartungen und Forderungen nicht nur aus der Öffentlichkeit aus­ gesetzt gesehen hat. Mit der Berufung auf sogenannte Idealtypen wird seit Max Webers unglücklichen Ausflügen in die Auseinan­ dersetzungen mit den unzulänglichen wissenschaftstheoretischen Begriffsbildungen, Thesen und Argumenten von Roscher, Knies

150 So berechtigt Wielands, Verantwortung, überaus kritische Auseinandersetzung mit den inflationären Tendenzen einer ethischen Überstrapazierung eines ›Prinzips‹ Ver-antwortung auch ist, so bringt das moralisch-sittliche Moment, das mit der kogni­ tiven Tugend der Rücksicht verbunden ist, gleichwohl auf einer mikro-analytischen Stufe der Auseinandersetzung mit der Struktur der neuartigen Verantwortung für zukünftige Generationen dieses Moment auch hier zum Tragen. Die zukünftigen Generationen werden unter diesen neuen strukturellen Voraussetzungen als die potentiellen Mitmenschen behandelt, denen unsere Rück-sicht gelten muß. Zur Para­ doxie einer Rück-sicht auf zukünftige Generationen vgl. unten S. 92f.

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u.  a.151 der springende Punkt regelmäßig verschleiert, um den es auch Weber geht: Es geht um Kriterien für Diagnosen, denn es geht beim ›Idealtypus‹ darum, wie man ein »›historisches Individuum‹ […], d.  h. ein[en] Komplex von Zusammenhängen in der geschicht­ lichen Wirklichkeit […] unter dem Gesichtspunkt ihrer Kulturbe­ deutung begrifflich zusammenschließ[t] […], aus seinen einzelnen, der geschichtlichen Wirklichkeit zu entnehmenden Bestandteilen allmählich komponiert«.152 Es geht also um »Zusammenhänge von stets und unvermeidlich spezifisch individueller Färbung«.153 Bei dem vermeintlich Idealen der sogenannten Idealtypen handelt es sich – analog wie bei den Diagnoseschlüsseln, auf die ein diagnostizierender Arzt zurückgreifen kann – um bislang empirisch bewährte, aber wei­ terhin bewährungsbedürftige und daher auch verbesserungsfähige Beurteilungsstandards, ohne deren orientierende Hilfsfunktion nichts auf dieser Welt von irgendjemand zutreffend beurteilt werden kann. Vor allem Peter Graf Kielmannsegg hat in seinem scharfsinnig und skeptisch wägenden Artikel (vgl. oben S. 82140) auf strukturelle Faktoren aufmerksam gemacht, die nicht nur im deutschen Regie­ rungssystem dazu führen, daß nicht nur die Aufgaben dieses Minis­ terium geradezu chronisch nur verzerrt ausgeübt, vielleicht sogar wahrgenommen werden können. Solche Einschätzungen von Entar­ tungen oder Deformationen dessen, was normalerweise nicht der Fall sein sollte – z.  B. Krankheiten – bilden Musterbeispiele für den mehr oder stillschweigenden diagnostischen Gebrauch von Kriterien. Wenn die von ihm ins Auge gefaßte parteipolitisch grundierte Wettbewerbs­ demokratie unaufhörlich Konsequenzen zeitigt, die inzwischen zu einer zunehmenden Verengung der Handlungsspielräume154 der praktischen Politik führt, dann setzt dies ein stillschweigend genutztes Kriterium für die Beurteilung politischer Handlungsspielräume ins­ besondere eines Ministeriums voraus. Ganz analog wie in der ärztli­ chen Praxis, aber auch in der Medizintheorie brauchen solche Krite­ rien von denen, die sie benutzen, nicht auf Schritt und Tritt direkt artikuliert und ausbuchstabiert zu werden. Ihre Benutzer brauchen Vgl. Max Weber, Idealtypus, Handlungsstruktur und Verhaltensinterpretation, in: ders., Methodologische Schriften. Studienausgabe. Mit einer Einführung, besorgt von Johannes Winckelmann, Frankfurt am Main 1968, S. 65–167. 152 S. 66, Hervorhebung R. E. 153 Ebd. 154 Kielmannsegg, Umweltschutz, S. 74ff. 151

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lediglich durch die konkreten Beurteilungen der von ihnen ins Auge gefaßten exemplarischen Fälle klar genug zu verstehen zu geben, an welcher Komponente des von ihnen benutzten Kriteriums sie sich orientieren. Ulrich Matz sieht einen der wichtigsten Faktoren der Ver­ engung der politischen Handlungsspielräume in der wachsenden »Verrechtlichung der Politik«:155 »Die Verrechtlichung der Politik wird schließlich gekrönt, wenn Gesetzgebung nicht mehr als Resultat freier politischer Entscheidung im Rahmen der Verfassung verstanden wird, sondern exakt nach dem Muster der gesetzesgebundenen Verwaltung als Vollzug der Verfassung, den das Bundesverfassungsgericht vor allem auf Betreiben einer nicht mehr politisch, sondern verfassungs­ rechtlich argumentierenden Opposition zu kontrollieren hat«.156 Der Gesetzgeber »opfert … auf dem Feld administrativer Problemlösun­ gen zu einem wesentlichen Teil die Gesetzgebung im eigentlichen Sinne einer politischen Entscheidung über Grundordnungen gesell­ schaftlichen Lebens zugunsten der Massenproduktion von Verwal­ tungsrichtlinien, die detailliert genug sind, um den Gesetzgeber (und die Verwaltung!) den Überblick verlieren zu lassen, aber unvermeid­ licherweise immer noch zu abstrakt und schwerfällig,um die Verwal­ tung wirklich lagengerecht führen zu können«.157 In diesem Sinne lautet der kriteriell-diagnostische Schlüssel­ begriff, mit dessen Hilfe Kielmannsegg die strukturellen Faktoren zusammenfaßt, die im demokratischen Wettbewerb der Parteien zu den Verzerrungen führen, die die Handlungsspielräume der Politik verengen, Risikovermeidung.158 Der Wettbewerb, den die Parteien um die Gunst der Wähler austragen, um die Zugänge zu den maßgeb­ lichen politischen Ämtern zu gewinnen, wird von allen mit Hilfe von Strategien geführt, 159 die darauf zielen, die Steigerung z.  B. von Matz, Untugenden, S. 228–232. S. 229. – Böckenförde, Diskussionsbeitrag, in: Veröffentlichungen der Vereini­ gung deutscher Staatsrechtslehrer 39 (1981), erörtert am Leitfaden von wohlfeilen, aber verschleiernden Abstrakta wie »Konkretisierung«, 172–175, die legislative Trag­ weite der nicht nur von der parlamentarischen Opposition in Anspruch genommenen verfas-sungsgerichtlichen Urteile. 157 S. 231–232. 158 S. 75ff. 159 Zu dem schon von Kurt Schumacher kritisierten Verfall der politischen Sprache durch Gebrauch eines ›technokratischen und kriegswissenschaftlichen Vokabulars‹ vgl. Wilhelm Hennis, Große Koalition ohne Ende? Die Zukunft des parlamentarischen Regierungssystems und die Hinauszögerung der Wahlrechtsreform, München 1968, bes. S. 78f. 155

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Arbeitslosen, von Konsum- und Komfortverzicht, von individuellen Krankenversicherungsanteilen u. ä. bzw. die entsprechenden Zumu­ tungen, z.  B. spürbare Veränderungen der Einkommensverteilung zu vermeiden. In entsprechende Regierungsämter oder parlamenta­ rische Ämter gelangt, können solche risikovermeidungsträchtigen Strategien von ihren Trägern um ihrer politischen und persönlichen Glaubwürdigkeit nicht einfach aufgegeben werden, sondern werden in den Agenden ihrer Ämter fortgesetzt160 – mit welchen Modifikatio­ nen auch immer, wie sie durch die interministeriellen Abstimmungen sowie die Kabinetts- bzw. Fraktionsdisziplin und die Einflüsse von Verbandsvertretungen herbeigeführt werden können.161 Doch die von Kielmannsegg so überzeugend zu bedenken gege­ benen, durch die Wettbewerbsdemokratie provozierten Verengungen der politischen Handlungsspielräume können unter diesen Voraus­ setzungen offenbar nur auf zwei Wegen überwunden werden. Auf dem einen Weg müssen Regierung und Parlament Verbesserungen am instrument of government, also an der Verfassung gelingen. Kiel­ mannsegg läßt zu Recht keinen begründeten Zweifel daran, daß solche Verbesserungen einerseits nicht ohne Einführung autoritä­ rer Normen in die Verfassungen der westlichen parlamentarischen Regierungssysteme gelingen können.162 Der andere Weg grenzt an 160 John C. Wahlke, Policy Demand and System Support: The Role of the Represented, in: Gerhard Loewenberg (Hg.), Modern Parliaments. Change or Decline?, Chicago/New York 1971, S. 141–171, argumentiert mit Blick auf ein Responsible Party Model sogar: »›representatives‘ policy-making must reflect that [formulated party program]‹«, S. 146, Hervorhebung R. E.; mit Blick auf ein Simple Demand-Input Model gibt er allerdings zu bedenken: » (4) Large proportions of the citizens lack the instru­ mental knowledge about political structures, processes, and actors that they would need to communicate political demands or expectations if they had any«”, S. 145. Mit Blick auf das »legislative behavior« fragt Gerhard Loewenberg, The Role of Parlia­ ments in Modern Political Systems, in: ders. (Hg.), Modern Parliaments, S. 1–20, ganz allgemein, »whether the standards or the institutions are to blame«, S. 16. 161 Der Einfluß der Spitzenverbände auf die Beratungen von Gesetzentwürfen, wie er durch § 23 der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien normiert ist, ist bis heute mehrmals vor allem mit dem Ziel verbessert worden, im Wortlaut des jeweiligen Gesetzes auch die konkreten Bestimmungen kenntlich zu machen, die auf Berücksichtigung der Ratschläge der Verbände zurückgehen, und damit die Verant­ wortung der beteiligten politischen Instanzen für die Berücksichtigung dieser Anteile an den gesetzlichen Bestimmungen zu dokumentieren. 162 Kielmannseggs, Umweltschutz, Neigung, z.  B. der frühen Gründung des Minis­ teriums für Umwelt und Wasserwirtschaft in der DDR im Jahr 1972, aber auch den entsprechenden autoritären Elementen kommunistisch-sozialistischer Regierungen

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eine parteipolitische Revolution: »Die Probe aufs Exempel könnte nur eine Partei machen, die aus dem Zirkel der Risikovermeidung ausbricht«.163 Vielleicht vermeidet Kielmannsegg aus rhetorischer Vorsicht, von einem Teufelskreis der parteipolitischen Risikovermei­ dung zu sprechen. Doch die unaufhörliche Fortschreibung der Studie der Meadows durch die zuständigen wissenschaftlichen Disziplinen hat unablässig alarmierendere Konsequenzen ans Licht gebracht, die nicht nur durch regierungsamtliche und parlamentarische Risikover­ meidungsstrategien der sie tragenden Parteien provoziert werden. Sie werden nicht weniger durch nutzenegoistische und entsprechend korruptionsanfällige nationale Strategien autoritärer Regime zur quantitativen Steigerung der technischen und der ökonomischen Lebensbedingungen ihrer Völker provoziert. Die globale politische Verflechtung von Risikovermeidungs- und Risikoignoranzstrategien hat inzwischen schon längst zu einem Teufelskreis, also zu einer immer bedrohlicher werdenden weltpolitischen Aporie geführt, aus der bis jetzt niemand einen klugen praktikablen Ausweg kennt. So mikroskopisch und daher auch unscheinbar in den Turbu­ lenzen der öffentlichen, medial vermittelten Wahrnehmung die Ver­ änderungen der praktischen Politik auch sein mögen – angesichts unserer weltweit immer wahrscheinlicher und immer alarmierender werdenden Zukunftsaussichten machen auch Umsicht, Vorsicht und Rücksicht innerhalb der amtlichen Politik einen Gestaltwandel durch. einen gewissen Respekt entgegenzubringen – nicht zuletzt im Horizont von Wolfgang Harichs Buch Kommunismus ohne Wachstum, Hamburg 1975 – ist verständlich. (Zur exemplarischen Wasserwirtschaft der DDR vgl. oben S. 4572.) 1980 publiziert, ist die­ ser vorsichtige Respekt seines Aufsatzes zweifellos dem Umstand geschuldet, daß die Verwüstungen, die z.  B. in der DDR die aggressive, fast ohne Rücksicht auf die Gesundheit der Menschen praktizierte Industriepolitik (vor allem Chemie, Braun­ kohleabbau, Metall u. ä.) angerichtet hatte, erst durch den Augenschein klar geworden, der für westliche Besucher erst nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion möglich wurde; vgl. in diesem Sinne auch Günther Patzig, Ökologie und Ethik. Podiumsdiskussion zwischen Günther Patzig, Dieter Birnbacher und Walter Ch. Zimmerli, in: Günther Patzig, Dieter Birnbacher und Walter Ch. Zimmerli, Die Rationalität der Moral, Bamberg 1996, S. 56–108, hier: S. 74f. Aus dem Westen neuberufene Chefs von Universitäts-Kliniken, vor allem der Haut-Klinik haben mir berichtet, daß sie z.  B. beim Studium von Krankenakten aus der Zeit der DDR auf Krankheitsformen und -verläufe – vor allem von Krebs – gestoßen sind, die sie aus der alten Bundesrepublik gar nicht mehr kannten und die in ihren morphologischen Formen und ihrer Gravität ausschließlich auf pathogene, nahezu menschenverachtende Arbeitsbedingungen in entsprechenden DDR-spezifischen Industriezweigen zurückzuführen seien. 163 Kielmannsegg, Umweltschutz, S. 751.

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Denn auch die Vorsicht gelangt unter diesen Umständen aus ihrem klassischen nutzenegoistischen Bannkreis in einen moralisch-sittli­ chen geprägten Horizont. Sie verschwistert sich – zunächst besonders gut sichtbar im Aufgabenkreis der Umweltministerien – mit der Rücksicht zu einer paradoxen Einstellung: Die von der Vorsicht zu überwachenden wahrscheinlichen Konsequenzen unseres politischen Tuns und Unterlassens werden aus moralisch-sittlicher Sorge um die Form und den Grad der Betroffenheit zukünftiger Generationen antizi­ patorisch in die Obhut der solidarischen Rücksicht der gegenwärtigen Generation geholt, also paradoxerweise als unsere Mitmenschen behandelt. Vor allem das regierungsamtliche Unterlassen von kon­ struktiven Maßnahmen zugunsten zukünftiger Generationen wird – je länger solche mehr oder weniger gravierenden Unterlassungen fortgesetzt werden – immer mehr zu ihrem moralisch-sittlichen Menetekel. Denn das Unterlassen solcher Maßnahmen bedeutet unter diesen Voraussetzungen ein äußerst riskantes Zulassen: Es wird durch solches Unterlassen zugelassen, daß sich die vielgestaltigen bekann­ ten ursächlichen Faktoren, die die sich abzeichnenden desaströsen Konsequenzen für die Lebensbedingungen künftiger Generationen begünstigen, ohne abschirmende, neutralisierende oder kontrapro­ duktive kausale Maßnahmen weiter verschärfen oder kumulieren. Die zuständigen Abteilungen und Referate der Ministerien ver­ fügen von Hause aus über eine Fülle wissenschaftlich fundierter Infor­ mationen über lokale, regionale, nationale und globale kausale Wir­ kungszusammenhänge, die ökologisch relevant oder sogar brisant sind. Es ist ihre Verfügung über solche Informationen, wodurch das Unterlassen abschirmender, neutralisierender oder kontraprodukti­ ver kausaler Maßnahmen in erster Linie zurechenbar wird. Sofern das durch ein solches Unterlassen bedingte Zulassen schädliche Kon­ sequenzen für die durch dieses Zulassen betroffenen aktuellen und/ oder zukünftigen Mitmenschen mit sich bringt, führt die Zurechen­ barkeit eines solchen Zulassens unmittelbar zu den moralisch-sittli­ chen Defiziten dieses Zulassens und seiner politischen Vorwerfbar­ keit.164 164 Wenn man wie Dieter Birnbacher, Tun und Unterlassen, Stuttgart 1995, an einer konsequentialistischen Individual-Ethik arbeitet, dann ist es – abgesehen von extre­ men Sonderfällen wie der Sterbehilfe, vgl. S. 337ff. –, wie Birnbacher zeigt, viel schwieriger, zu klaren und eindeutigen moralisch-sittlichen Charakterisierungen individueller Formen des Unterlassens zu gelangen, vgl. bes. S. 233–336. Das liegt vor

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Es liegt für jeden hinreichend Kundigen selbstverständlich sofort auf der Hand, daß es sich bei der komplexen kognitiven und mora­ lisch-sittlichen Struktur eines im Brennpunkt des öffentlichen Inter­ esses stehenden Ministeriums um alles andere als um ein Alleinstel­ lungsmerkmal dieses Ministeriums handelt. Zum einen sorgt die interministerielle Struktur eines parlamentarischen Regierungssys­ tems schon von sich aus dafür, daß die Aspekte und Kriterien, mit deren Hilfe ein solches Ministerium unter den Bedingungen eines globalen ökologischen Katastrophentrends arbeiten muß, auch in die Abstimmung mit den anderen Ministerien getragen werden: Spätestens die gemeinsam zu vertretenden Gesetzesentwürfe im Kabinett und in den Beratungen der parlamentarischen Ausschüsse bilden die klassischen prozeduralen Mediatoren für eine gemeinsame Berücksichtigung der ein solches Ministerium leitenden Aspekte und Kriterien. Daß die entsprechende Mediatisierung in diesen Gremien zu einer nicht nur finanziellen Abschwächung der spezifischen Agen­ den eines solchen Ministeriums führt, entspricht allerdings aller herkömmlichen Erfahrung der politischen Praxis. Im Sinne dieser Herkömmlichkeit gehört es zwar auch nicht zu den sogenannten klassischen Ministerien. Doch unter den Bedingungen eines globa­ len ökologischen Katastrophentrends ist schon längst nicht mehr alles klassisch, was im herkömmlichen Sinne klassisch ist. Denn Her­ kömmlichkeit ist gewiß kein verläßliches Kriterium für Klassizität. Wenn klassisch indessen so viel bedeutet wie, in einer epochalen Situa­ tion musterhaft und vorbildlich zu sein, dann stempeln die Aspekte und Kriterien, von denen die Aufgaben und die Urteilsbildungen eines Umweltministeriums in der Gegenwart geprägt sein müssen, jedes Umweltministerium zu einem klassischen Ministerium. Daß z.  B. ein Landwirtschaftsministerium und ein Verkehrsministerium in dieser Situation geradezu von Hause aus – einschließlich der drei dafür nötigen kognitiven und moralisch-sittlichen Tugenden – in denselben ökologisch orientierten Pflichtenkreis gehören wie ein Umweltministerium, liegt inzwischen auch in der öffentlichen, medial vermittelten Wahrnehmung fast schon auf der Hand. allem daran, daß individuelle Akteure in ihrem alltäglichen Handeln über verschwin­ dend wenige wissenschaftlich fundierte Informationen über die kausalen Wirksam­ keitsformen ihres Handelns verfügen und verfügen müssen. Ihre Handlungs- und Verhaltensweisen orientieren sie in der Regel an den bewährten Handlungs- und Ver­ haltensmustern ihrer sozialen Milieus – was immer die Bewährungskriterien in diesen Milieus sein mögen.

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Bei alledem sollte nicht übersehen werden, daß die drei kogniti­ ven und moralisch-sittlichen Tugenden, die in dieser epochalen Situa­ tion in jedem Umweltministerium so paradigmatisch zu Hause sind, schon von alters her – wenngleich ohne nennenswert ausgeprägtes Bewußtsein – an der Gründung jedes Ministeriums und der Konzep­ tion des gesellschaftlichen Wirklichkeitsausschnitts beteiligt sind, der seiner politischen Aufsicht anvertraut ist. Was sind, um mit einem herkömmlich klassischen Ministerium zu beginnen, die kognitiven und die moralisch-sittlichen Aufgaben für die Urteilsbildung eines Außenministeriums, wenn nicht 1. mit Umsicht die Umstände und die Entwicklungen zu beobachten, die im Ausland relevant für den Umgang der eigenen Politik mit Gesprächspartnern, Institutionen und Organisationen im Ausland sind; wenn nicht 2. mit Vorsicht die Konsequenzen abzuwägen, die sich für die eigenen Politik zum eige­ nen Vorteil im Umgang mit solchen Gesprächspartnern, Institutionen und Organisationen empfehlen; und wenn nicht 3. mit Rücksicht die Konsequenzen abzuwägen, die sich aus den Konsequenzen der Agenden der eigenen Regierung mit Rücksicht auf die Betroffenheit von Bürgern, Institutionen und Organisationen anderer Länder wahr­ scheinlich ergeben werden? Die wenigen und kurzen Erörterungen der maßgeblichen Rol­ len, die die drei kognitiven und moralisch-sittlichen Tugenden der praktischen Urteilskraft trotz ihrer öffentlichen Verborgenheit für die amtliche politische Urteilsbildung innehaben, reichen nicht nur aus, um Muster auch für die entsprechenden Durchleuchtungen aller anderen Ministerien zu bieten. Vor allem reichen sie auch aus, bewußt zu machen, daß diese spezifischen Tugenden auch ohne ihre ausdrückliche Thematisierung mit mehr oder weniger pragmatischer Erfolgsträchtigkeit von jedem hinreichend verantwortungsbewußten politischen Amtsinhaber stillschweigend ausgeübt werden. Doch es gehört zu den normalen Aufgaben der philosophischen Reflexion auf Strukturen, Aspekte und Momente gerade unserer alltäglichen Praxis, Komponenten und Momente dieser Praxis so zu Bewußtsein, also zur Sprache und auf Begriffe zu bringen, daß eine argumentative Erörterung ihres Formats und ihrer Funktionen möglich wird. Die öffentliche Verborgenheit, in der Umsicht, Vorsicht und Rücksicht von maßgeblichen Amtsinhabern in der alltäglichen politischen Praxis stillschweigend mit mehr oder weniger Erfolg geübt werden, bildet daher geradezu die normale Dimension, in der die philosophische Reflexion sie ausfindig machen muß und kann.

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Verfallsformen der politischen Urteilsbildung

Das Menetekel der katastrophalen Entwicklung der Umweltbe­ dingungen und damit der Lebensbedingungen der Menschen betrifft inzwischen buchstäblich alle Wirklichkeitsausschnitte, die der Obhut, also der Urteilsbildung von Ministerien, Kabinetten und Parlamenten anvertraut werden können und müssen. Dieses Menetekel bildet im Rahmen der Leitfrage dieser Untersuchung lediglich die wichtigste aktuelle Gelegenheit, die drei kognitiven und moralisch-sittlichen Tugenden aus ihrer öffentlichen Verborgenheit in ihre öffentliche Erörterung zu transponieren. Es wäre aber selbstverständlich absurd, aus diesem okkasionellen Umstand die Konsequenz zu ziehen, daß jedes Ministerium nur eine besondere Art von Umweltministerium sei. Aber jedes Ministerium muß unter diesen Umständen seine spezifischen Agenden, also Gesetzesinitiativen und -entwürfe mit der entsprechenden Umsicht, Vorsicht und Rücksicht stets auch an den ökologisch relevanten Konsequenzen dieser Initiativen und Entwürfe orientieren. Es versteht sich von selbst, daß diese Orientierung auch maßgeblich in die Richtlinienkompetenz gehört, mit der der Inhaber des höchsten Regierungsamts die Urteilsbildung steuert, die aus den Beratungen und Beschlüssen des Kabinetts hervorgeht. Beispiels­ weise »die Diskussion der »Grundwerte«, die in den siebziger Jahren einsetzte und bis heute anhält, … stellt dafür keinen Ersatz dar«,165 um ein treffliches, aber anders gewendetes Argument Thomas Ellweins hier zu nutzen.

Verfallsformen der politischen Urteilsbildung Der Soziologe Alexander Bogner166 orientiert sich für die Erörterung seiner beiden Titel-Themen an »all jenen Konflikten, in denen um ökologische oder gesundheitliche Risiken, um Grenzwerte, Kausalitä­ ten und Wirkungsgrade gestritten wird«167. Er thematisiert auf den inflationären, also semantisch entwerteten Spuren Francis Bacons »die Macht des Wissens«,168 ist allerdings weder mit Bacons Kon­ 165 Thomas Ellwein, Krisen und Reformen: Die Bundesrepublik sei den siebziger Jahren, München 1989, S. 151. 166 Alexander Bogner, Die Epistemisierung des Politischen. Wie die Macht des Wis-sens die Demokratie gefährdet, Stuttgart 2021. 167 S. 11. 168 S. 11ff.

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zeption der spezifischen Machtförmigkeit des kausal-technischen Wissens (know-how!)169 vertraut noch mit mit den außerordentlich scharfsinnigen Bemühungen, mit denen die Philosophie seit fast mehr als hundert Jahren – von G. E. Moore über Gilbert Ryle bis in die Gegenwart – zur Antwort auf die Frage beizutragen sucht, was Wissen ist;170 er beschwört im verspäteten Stil Friedrich Nietzsches die »Wahrheit als notwendige Fiktion«,171 ohne auch nur oberflächlich von der semantischen Wahrheitstheorie gestreift zu sein, die seit den 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts – von Alfred Tarski bis Donald Davidson – zu einer realistischen Behandlung des Wahrheits­ problems beigetragen hat; er glaubt, daß »Intellektuelle, die Opfer der Wissensgesellschaft«,172 sind, ohne sich auch nur im mindesten um die zentralen Unterscheidungen zwischen Wissen, Meinungen und Informationen und deren repräsentativen Trägern in unserer Gesellschaft zu kümmern; er möchte schließlich »Die Politik vor der Wissenschaft retten«,173 ohne auch nur im geringsten die tiefen struk­ turellen Unterschiede zwischen den Sachgebieten, Möglichkeiten, Methoden und Zielen der Wissenschaftsgruppen in unserem Wissen­ schaftssystem zu berücksichtigen. Entsprechend verschwinden bei einem Autor, dem es vor allem um Topos-Kreationen und steile The­ sen für eine entsprechend disponierte Leserschaft geht, alle für sein Thema systematisch wichtigen Unterschiede im Dunkel einer ›Nacht, in der alle Katzen Grau sind‹ (Hegel). Weder die von Hennis, Politik, wiederbelebte klassische Konzeption der Politischen Wissenschaft als praktischer Wissenschaft – gegen ihre Versozialwissenschaftlichung – noch die von Wieland, Diagnose, wiederbelebte klassische Konzeption der Medizin als praktischer Wissenschaft – gegen ihr Mißverständnis als ›angewandte Naturwissenschaft‹ – liegen auch nur im entferntes­ ten in seinem Horizont. Die sowohl von Wieland wie von Hennis in der Obhut der praktischen Urteilskraft lokalisierten spezifisch poli­ tischen bzw. ärztlich-medizinischen Erkenntnisaufgaben sind ihm fremd. Doch die spezifisch regierungspolitischen Erkenntnisaufgaben der Sorge um das Gemeinwohl stehen unter der eminent praktischen Vgl. hierzu vom Verf., Dimensionen des Kausalwissens, in: ders., Authentisches Wissen. Prolegomena zur Erkenntnistheorie in praktischer Hinsicht, Göttingen 2005, S. 307–376. 170 Vgl. hierzu vom Verf., Authentisches Wissen. 171 Bogner, Epistemisierung, S. 52ff. 172 S. 87ff. 173 S. 105ff. 169

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Verfallsformen der politischen Urteilsbildung

ciceronischen salus populi suprema lex und konvergieren unmittelbar mit der ebenso eminent praktischen hippokratisch-paracelsischen salus aegroti suprema lex der Ärzte und der Medizin insgesamt. Was Mediziner der Politik in einer entsprechenden Beratungssituation aus den praktischen Gründen des salus aegroti zu tun raten, konvergiert daher bis an die Grenze zur Ununterscheidbarkeit mit dem, was die Politik aus praktischen Gründen des salus populi von sich aus ebenfalls tun sollten. Insbesondere die klinischen Forscher unter den Medizi­ ner haben allerdings den spezifisch kognitiven, regelutilitaristischen Vorteil, daß nur sie die wahrscheinlichen mehr oder weniger günsti­ gen bzw. ungünstigen kollektiven Konsequenzen fundiert abschätzen können, die unter den jeweils gegebenen situativen Umständen das Unterlassen bzw. das Praktizieren der empfohlenen Maßnahmen für die gesundheitlichen Vorteile bzw. Nachteile der Bevölkerung mit sich bringt. Daß es angesichts der strikten situativen Abhängigkeit ärztlicher Diagnosen und Handlungsempfehlungen und der ebenso strikten situativen Abhängigkeit politischer Urteile und Agenden immer wieder zu kontroversen Beurteilungen einer konkreten Hand­ lungssituation kommen kann, sollte sich fast von selbst verstehen. Die ebenso spezifisch medizinisch-praktische wie politisch-praktische Frage des gesundheitlichen Wohls oder Wehs von Personen bzw. Bürgern spielt in Bogners theorie-ambitiösen Konfundierungen nicht die geringste Rolle.174 In dieselbe Richtung, zwar nicht so exaltiert, aber ebenso poli­ tisch und wissenschaftssystematisch desorientiert ›zielt‹ der Histori­ ker Caspar Hirschi175. Es ist ganz unerfindlich, wie die beiden Autoren meinen können, ihren Themen auch nur annähernd gerecht werden zu können, ohne die wichtigsten thematischen und methodologischen Unterschiede zwischen den Wissenschaftsgruppen unseres Wissen­ schaftssystems zu berücksichtigen. 174 Vgl. auch Bogners popularisierende Darstellung: Macht der Evidenz, in: Der Spiegel, Nr. 6 / 6. 2. 2021, S. 112–113. - Eine vorbildlich kurze und bündige Einschätzung des tiefen Unterschieds zwischen wissenschaftlicher Beratung und spezifisch politi­ schem Urteil demonstriert die Vorsitzende Charlotte Krawczyk der Expertenkommis­ sion Fracking. Zur entsprechenden Rolle des Abschlußberichts der Kommission wird ihr der Kommentar zugeschrieben, daß auf der Grundlage dieses Berichts über empi­ rische Fakten sowie techische Möglichkeiten und Risiken des Fracking ›nur die Politik entscheiden könne, ob Deutschland denn nun in das Fraking einsteigen solle‹, vgl. Der Spiegel, Nr. 28/9. 7. 2022, S. 107. Von der Karikatur einer ›Epistemisierung der Poli­ tik‹ sind solche Wissenschaftler glücklicherweise wohltuend weit entfernt. 175 Kalkül schlägt Kompetenz, in: FAZ vom 9. März 2021, S. 9–10.

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Hirschis Artikel zeigt in musterhafter Weise, welche Fehl- und Vorurteile man sich einhandelt, wenn man sozialwissenschaftliche Rollen- bzw. ›Figuren‹-Analysen unkritisch auf die Träger der Wis­ senschaft und auf die maßgeblichen Träger der Politik überträgt: »In der Pandemie verschmilzt die Figur des Experten mit der des Aktivisten und Intellektuellen«.176 Die hauptamtlichen Träger der Wissenschaft ebenso wie die hauptamtlichen Träger der Politik sind nicht Inhaber von extern zugeschriebenen ›Rollen‹ bzw. ›Figuren‹ in Theaterstücken, die sie ›spielen‹ (!) würden. Sie sind Inhaber öffent­ licher Ämter mit öffentlich-rechtlichen Verpflichtungen zu Forschung und Lehre bzw. zur situations-angemessenen Förderung, Bewahrung bzw. Restitution des Gemeinwohls mit Hilfe von Gesetzesinitiativen und -vorlagen. Rollen, die einer Person extern zugeschrieben wer­ den, bringen weder Verpflichtungen noch Verantwortlichkeiten mit sich. Wissenschaftler zu »Intellektuellen« umzufunktionieren und in die Tradition des Proto-Intellektuellen Voltaire einzureihen, mag für einen Kultur-Historiker der Wissenschaft naheliegend sein, der auch Die Tragik des wissenschaftlichen Experten. Der Sturz der Acadé­ mie Royale des Sciences während Voltaires Jahrzehnten untersucht hat. Der Nationalökonom Joseph A. Schumpeter177 hatte mit seiner »Soziologie des Intellektuellen«178 den realitäts-gesättigteren Blick auf dessen »Fehlen einer direkten Verantwortlichkeit für praktische Dinge« sowie auf dessen »Fehlen jener Kenntnisse aus erster Hand diagnostiziert, wie sie nur die tatsächliche Erfahrung geben kann«179 – also die Erfahrung aus der tag-täglichen wissenschaftlichen Arbeit in Forschung und Lehre bzw. ebenso die Erfahrung aus der tag-tägli­ chen amtlichen Arbeit an der Ausarbeitung von Gesetzesinitiativen und -vorlagen zur praktischen Verbesserung der Lage der Bürger eines individuellen Gemeinwesens in einer konkreten geschichtlichen Situation. Ebenso wie Alexander Bogner verkennt Hirschi gründlich das systematische und das methodologische Format der Medizin als einer praktischen Wissenschaft und die daraus resultierenden Aufgaben ihrer ärztlichen und klinischen Repräsentanten zur prakti­ schen Beratung der Politik in einer pandemisch konfigurierten natio­ nalen Krise der Volksgesundheit. Die ›den Experten‹ »attestierte 176 177 178 179

S. 9. Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie (amerik. 1942), Bern 1950. S. 235–251. S. 237.7

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Kompetenz, einen kleinen Ausschnitt der Realität besonders scharf zu sehen«,180 gehört in ein Kompetenz-Konzept, das nicht nur unter­ schiedslos zur Charakterisierung jeder beliebigen wissenschaftlichen Kompetenz taugt. Inzwischen werden in den Medien auch ehemalige Fußballprofis als ›Experten‹ für den kleinen Ausschnitt der Realität der Fußballwelt zu Rate gezogen. Ebenso wie bei Bogner gehören in Hirschis Wissenschafts-Konzeption alle Wissenschaften in eine ›Nacht, in der alle Katzen grau sind‹ (Hegel). In dieses Grau-in-Grau bringt Hirschi durch die polemischen Amalgamierungen seiner Rol­ len- und Figuren-Atteste eine kunterbunte Kakophonie – »geistige Führungsfiguren der Nation«,181 »expertokratische und … populisti­ sche [Antipluralismen]«, »Deutungsmacht«, »Kompetenzüberschrei­ tungen«, »Totalisierung der Expertenrolle«182 u. ä. Wer Hirschis Artikel Die Tragik des wissenschaftlichen Experten. Der Sturz der Académie Royale des Sciences183 gelesen hat, wird sich an seine dramatische Rolleninszenierung des Wissenschaftlers als einer »königlichen Vollzugsinstanz«184 erinnern. Seine jüngste pseudopolitische Darstellung des heutigen Wissenchaftlers als Expertokraten ist nichts anderes als eine gleichsam spiegelverkehrte rollen- und figu­ ren-analytische Inszenierung desselben Ansatzes. Unter Umständen hat das a-historische Instrument der rollen- und figuren-analytischen Erörterung geschichtlicher Situationen zweifellos den Vorteil einer vorläufigen mikroskopischen Aufbereitung der personalen und der verhaltens-pragmatischen Elemente des dokumentierten Materials. Doch wo es um die eminent praktischen und geschichtlich-situativen Angelegenheiten von Politik und Medizin geht, handelt man sich mit einer unkritischen Verwendung dieses Instruments eine ideologieträchtige Fixierung ein. Daß Hirschi ausgerechnet den Mesmerismus als Parade-Symptom des von ihm inszenierten Verfalls der Académie Royale des Sciences in Anspruch nimmt, sagt genug über das metho­ dische Niveau seiner wissenschafts-pragmatischen Urteilskraft. Hier hat schon Robert Darnton Der Mesmerismus und das Ende der Auf­ klärung in Frankreich185 mit seiner Einschätzung des Mesmerismus Hirschi, S. 10. S. 10. 182 S. 11. 183 Merkur, Heft 9/10, September 2012, S. 907–918. 184 S. 911ff. 185 Robert Darnton, Der Mesmerismus und das Ende der Aufklärung in Frankreich (amerik. 11968), München 1983.

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als »Schutt der Aufklärung«186 genauso klar geurteilt wie die mit dem Mesmerismus befaßten Mitglieder der Académie. In welche elementaren begrifflichen Konfusionen Hirschi sich verstrickt, zeigt seine ›Diagnose‹ eines angeblichen Widerspruchs, in dem die Acadé­ mie unter der Leitung Lavoisiers im Umgang mit ihren Stellungnah­ men vermeintlich befangen gewesen sei: »die Stellungnahmen der Akademie [mussten] als Empfehlungen, nicht als Urteile verfasst sein. Informell jedoch hatten sie tatsächlich Urteilscharakter, und genau dieser Widerspruch dürfte Lavoisier aufgefallen sein«.187 Der vor allem bei sozialwissenschaftlichen bzw. marxistoiden Autoren geradezu inflationär beliebte Umgang mit Widerspruch-Argumen­ ten zeitigt auch bei Hirschi seine Konsequenzen: Zwischen einem wissenschaftlichen Urteil und einer wissenschaftlichen Empfehlung besteht mitnichten ein Widerspruch, sondern ein (sprech-)pragmati­ scher Rollenunterschied; das Urteil bildet eine mit Wahrheits- und Erkenntnisanspruch verbundene Behauptung, die Empfehlung bildet eine adressaten-spezifische und mit praktischer Handlungsrelevanz versehene Äußerung. Meint Hirschi allen Ernstes, eine wissenschaft­ liche Einrichtung könnte eine Empfehlung ernsthaft ohne ein zugrun­ deliegendes Urteil abgeben? Man gesteht den Autoren von Auffassungen wie Bogner und Hirschi allerdings implizit schon zu viel zu, wenn man vor einer »Überepistemisierung der Politik« warnt.188 Denn mit dem Rekurs auf die griechische Episteme (?πιστήμη) ist bereits der begriffliche Faden gerissen, der den spezifisch praktisch-kognitiven Kern aller Politik seit den richtungweisenden Schriften Platons, Aristoteles‘, Xenophons und Ciceros bis ins zwanzigste Jahrhundert mit der Phronesis (φρόνησις), der Klugheit verbindet. Bei dieser Klugheit handelt es sich – im Gegensatz zur rein theoretisch orientierten und bewährten Episteme – um die in hinreichend vielen und hinreichend wichtigen praktischen Situationen erfahrene Gestalt der praktischen Urteilskraft.189 Dabei ist es gleichgültig, ob diese praktische Klugheit dem Leben der Einzelnen in der Gesellschaft oder der Tätigkeit S. 111. Hirschi, Tragik, S. 911. 188 So das Zitat aus der noch nicht publizieren Abschiedsvorlesung von Wolfgang Merkel, über die Gerald Wagner, FAZ, Forschung und Lehre, S. 4, vom 13. Oktober 2021, berichtet. 189 Hennis‘, Politik, einzigartig eindringliche Wiederbelebung dieser Tradition zeigt in der Gegenwart nur noch Spurenelemente ihrer Wirksamkeit. 186 187

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von Inhabern öffentlicher, auf das Gemeinwohl verpflichteter Ämter angehört. Diese praktische Klugheit ist in beiden Zusammenhängen die in der Bestimmung praktischer Ziele und Zwecke sowie der ihnen angemessenen Mittel, Techniken und Methoden erfahrene Gestalt der praktischen Urteilskraft. Schon Kant hat klar genug gesehen, daß dieser »Mangel an Urteilskraft […] eigentlich das [ist], was man Dummheit nennt«.190 Doch es ist daher auch »nichts ungewöhnliches, sehr gelehrte Männer anzutreffen, die, im Gebrauche ihrer Wissen­ schaft, jenen nie zu bessernden Mangel häufig blicken lassen«191 – also den Mangel einer praktisch erfahrenen Urteilskraft namens Klugheit. Doch Kant lebte und arbeitete zu einer Zeit, in der die Tradition der praktischen Hemisphäre des Wissenschaftssystems (vor allem Medizin, Recht, Politik, Pädagogik) noch ungebrochen und von den überwältigend irreführenden ›epistemischen‹ Erfolgen vor allem der Naturwissenschaften noch nicht infiziert war.

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Kant, KrV, A 133*, B 172*. Ebd., Hervorhebung R. E.

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Eine Erörterung der Form und der Funktionen des politischen Urteils wird auch beim Thema der praktischen Funktionen des politischen Urteils zunächst bei den bekannten Selbstverständlichkeiten unseres politischen Alltags einen ersten Halt suchen, bevor sie es sich leisten kann, ihre ersten reflexiven und analytischen Schritte zu tun. Einen solchen Halt hat schon bei der Analyse der logischen Form des poli­ tischen Urteils (vgl. oben I. Kap.) die Orientierung geboten, die von Selbstverständlichkeiten ausgeht, wie sie mit der Öffentlichkeit, der Rat- und der Beratungsbedürftigkeit, der praktischen Bewährungsbe­ dürftigkeit und der Gemeinwohlverpflichtung des politischen Urteils sowie von seiner Bindung an die Autorität verfassungsgemäßer Amtsinhaber verbunden werden. Diese in den Gesetzesvorlagen der Regierung sich zeigenden Urteile gewinnen ihre erste und wich­ tigste praktische Funktion und Bewährungsprobe in den parlamenta­ rischen Auseinandersetzungen um ihre gesetzlichen Reifegrade. Die Ausübung dieser praktischen Funktion und Bewährungsprobe wird ebenfalls von der wichtigsten aller diskursiven politischen Bedingun­ gen in Atem gehalten – von der Bedingung der Öffentlichkeit, also von der Bedingung, daß diese Auseinandersetzungen grundsätzlich allen Bürgern in verfassungsrechtlich verbürgten öffentlichen Formen zugänglich sein müssen. Die Chancen dieser Zugänglichkeit sind angesichts der gegenwärtigen Vielfalt der Print-, der Hör- und der Fernsehmedien – sieht man einmal vom Spektrum der Niveauunter­ schiede ab – so gut wie noch nie in der Geschichte der parlamentari­ schen Regierungssysteme. Diese Bedingung der Öffentlichkeit wird in der Tradition des politischen Liberalismus regelmäßig und strikt in einem Atemzug mit dem Erfordernis der Diskussion verbunden. Sogar ein so unverblümt anti-liberaler Politischer Philosoph wie

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III. Kapitel: Die praktischen Funktionen der politischen Urteilsbildung

Carl Schmitt beschwört geradezu mantrahaft die parlamentarische Wichtigkeit von Öffentlichkeit und Diskussion.192 Man muß nicht mit den vom sprachphilosophischen Werk Lud­ wig Wittgensteins ausgehenden Subtilitäten der sogenannten prag­ matischen Dimension unseres Sprachgebrauchs vertraut sein, um sich klar zu machen, daß Diskussionen die unterschiedlichsten Ziele und damit auch die unterschiedlichsten rhetorischen und argumentativen Formen und Funktionen haben können und müssen. Es ist unter diesen Umständen verblüffend, wie verschwindend selten bemerkt wird, mit welch außerordentlichem Maß an spezifisch politischer Weltfremdheit der Politische Philosoph Carl Schmitt das Hauptziel parlamentarischer Diskussionen ins Auge faßt: »Das Parlament ist ... der Platz, a dem die unter den Menschen verstreuten, ungleich verteilten Vernunftpartikeln [!, R. E.] sich sammeln und zur öffentli­ chen Herrschaft bringen«.193 Abgesehen von der stilistischen, seinen anti-liberalen Affekt evident machenden Entgleisung ergänzt Schmitt seine vernunft-enthusiastische Karikatur der parlamentarischen Ver­ sammlung noch durch das wahrheits-enthusiastische Pseudo-Theo­ rem: »Das Parlament ist jedenfalls nur so lange ´wahr´ als [...][es, R. E.] von dem Zweck beherrscht ist, den Gegner mit rationalen Argumenten von einer Wahrheit und Richtigkeit zu überzeugen oder sich von der Wahrheit und Richtigkeit überzeugen zu lassen«.194 »Das Parlament […] ist der Platz, wo man deliberiert, d.  h. in einem diskursiven Vorgang, durch die Erörterung von Argument und Gegenargument, die relative Wahrheit gewinnt«.195 Man kann solchen – teilweise stilistisch entgleisenden – Thesen zweifellos nicht absprechen, daß sie auch heute noch bei nicht weni­ gen, auch philosophisch arbeitenden Zeitgenossen einen verführeri­ schen Konsenseffekt hinterlassen können.196 Es lohnt sich jedoch, mit der substantiellen Kritik beim Elementaren zu beginnen. Deliberation Vgl. Carl Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus (11923), Berlin 102017. 193 Schmitt, Parlamentarismus, S. 43. 194 S. 9. 195 S. 58. 196 Einem besonders prominenten Konsenseffekt dieser Art ist Wolfgang Jäger, Öffentlichkeit und Parlamentarismus. Eine Kritik an Jürgen Habermas Stuttgart/ Berlin/Köln/ Mainz 1973, vor allem in einer Auseinandersetzung mit Jürgen Haber­ mas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Zur Kritik einer bürgerlichen Kategorie, Frankfurt/Main 1962, eindringlich nachgegangen; vgl. hierzu auch unten S. 111f. 192

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III. Kapitel: Die praktischen Funktionen der politischen Urteilsbildung

bedeutet, wie der problem- und literaturgeschichtlich hochgelehrte Schmitt wohl weiß, im politischen Kontext auch in der lateinischen Tradition in erster Linie Beratung, Beratschlagung. Gewiß wird auch heute noch in traditionell-konventioneller Sprechweise von Beratun­ gen und Beratschlagungen des Parlaments gesprochen. Doch die Orte eines parlamentarischen Regierungssystems, an denen in einem klassischen Sinne beraten und beratschlagt wird, sind zum einen die den Ministern zuarbeitenden Abteilungen und Referate, die intermi­ nisteriellen Ausschüsse und das Kabinett; im Parlamente sind es vor allem dessen Ausschüsse, vor allem auch in deren Zusammenwirken mit den Regierungsvertretern. Nur an diesen Orten geht es darum, daß die jeweils Beteiligten aus dem Fundus ihrer Informationen und spezifischen Erfahrungen einander helfen, Verbesserungen an mehr oder weniger vorläufigen Gesetzesentwürfen auf den Weg zu bringen. Doch schon Ende der 60er Jahre war klar, daß »[…] dem Parlament die Gefahr [droht], in Unkenntnis der Einzelheiten allein auf die Informationen durch die Regierung angewiesen zu sein und damit die Richtung nicht mehr bestimmen zu können, in der das Staatsge­ schäft gesteuert werden soll. Die Fülle der Steuerungsgeschäfte setzt einen Apparat der Information, Koordination, Planung und Entschei­ dungsvorbereitung voraus, über den nur die Regierung verfügt«.197 Angesichts dieses – inzwischen noch beträchtlich gewachsenen – strukturellen parlamentarischen Informationsdefizits kann auch mit Blick auf die Beteiligung der Regierungsvertreter an Sitzungen der parlamentarischen Ausschüsse kaum noch von einer ausgewogenen Balance der Beratungsmöglichkeiten die Rede sein. Schmitts Delibe­ rationsbeschwörung ist hoffnungslos obsolet. Doch wie Wilhelm Hennis mit scharfer Beobachtung der parla­ mentarischen Praxis und schlagenden Kriterien und Argumenten gezeigt hat,198 geht auch Schmitts suggestive Orientierung an einer parlamentarischen Intention oder gar -verpflichtung zur ›Wahrheits­ findung durch Diskussion‹ mit traumwandlerischer Sicherheit nicht nur an der Wirklichkeit, sondern auch an den Möglichkeiten und den

197 Thomas Ellwein, Axel Görlitz (in Zusammenarbeit mit Andreas Schröder), Parlament und Verwaltung. 1. Teil: Gesetzgebung und Kontrolle, Stuttgart/Berlin/Köln/ Mainz 1967, S. 41. 198 Vgl. Wilhelm Hennis, Reform of the Bundestag: The Case for General Debate (dtsch. 11968), in: Loewenberg (Hg.), Modern Parliaments, S. 65–79.

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III. Kapitel: Die praktischen Funktionen der politischen Urteilsbildung

Aufgaben des modernen Parlaments vorbei199 – analog übrigens wie Leibholz‘ in derselben Zeit angefangene ›wesens-analytische‹ Erör­ terungen einer angeblich ernstzunehmenden unauflösbaren Span­ nung von Verfassung und Verfassungswirklichkeit (vgl. oben S. 60140). Die angebliche parlamentarische Wahrheitsintention oder -verpflichtung ridikülisiert Hennis zu Recht mit der an sich trivialen Erinnerung: »Parliamentary debate is not a philosophical search for the truth but – how could it be anything else? – political contest by rhetorical means«.200 Diese rhetorischen Mittel charakterisiert Hen­ nis zu Recht durch zwei ganz unterschiedliche Ziele, Formen und Funktionen. Innerhalb der parlamentarischen Situation (on the floor) »[i]t compels politicians to produce rational justifications and public explanations for a given measure and against the alternative recommended by the opposition. Parliamentary debates which usu­ ally take place after the really important decisions have already been made, and prior to their final enactment, are not occasions for great initiatives in making policy, but rather for for examining a proposed policy«.201 Daher »[do] Members of Parliament […] not genuinely discuss with one another, but try to prove the weakness of their oppo­ nent’s argument«”.202 Vgl. Hennis‘ direkte Bezugnahme auf Schmitts Ausführungen S. 69–70. S. 72. 201 S. 72–73. 202 S. 72. – Das energische Plädoyer, das David van Reybrouck, Gegen Wahlen. Warum Abstimmen nicht demokratisch ist (niederl. 2013), Göttingen 2013, zuguns­ ten der Einführung von Losverfahren für die Bestimmung von Abgeordneten veröf­ fentlicht hat, hat eine strukturelle Schwäche darin, daß es alles auf die Karte Delibe­ rative Demokratie setzt, vgl. S. 113ff. Ein plausibler Vorteil dieses »bewußt neutralen Ver-fahren[s]« ist zwar, daß das »Risiko von Korruption […] kleiner [wird]«, S. 156, weil der geloste Abgeordnete grundsätzlich nicht darauf rechnen kann, durch Vor­ teilsnahmen eine Wählerschaft zu seinen Gunsten zu beeinflussen, damit er beim nächsten Mal wieder abgeordnet wird; ein weiterer plausibler Vorteil besteht darin, daß »das Wahlfieber sinkt«, ebd., das durch die persönliche Konkurrenz von mehreren Kandidaten erzeugt wird. Der angebliche Vorteil sei, daß das Losverfahren dafür sorge, daß »die Aufmerksamkeit für das Gemeinwohl [zu][nimmt]«, ebd. Doch in Verbin­ dung mit der Fixierung auf den Modus der Beratung eines entsprechenden Parlaments vgl. bes. S. 113ff., und der bestenfalls naiven Auffassung, daß »[e]in solches Gespräch […] rational verlaufen und die Demokratie gerechter machen [könne]«, S. 114, Her­ vorhebung, R. E., ergibt sich mit der ›rationalen und gemeinwohlförderlichen Deli­ beration eine haargenaue Analogie zu der weltfremden Auffassung Carl Schmitts von der ›wahrheitsförderlichen Deliberation‹ des Parlaments; vgl. hierzu unten S. 107– 113. 199

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Von dieser parlaments-internen rhetorischen Form und Funktion der Auseinandersetzungen zwischen Regierung bzw. Mehrheitsfrak­ tion(en) und Opposition unterscheidet Hennis sorgfältig und mit der angemessenen Emphase ihre gleichzeitige parlaments-externe, genuin öffentliche Funktion: »… the sense of parliamentary debate … is, above all, to force the Government, and, to a lesser extent, also the opposition, to justify their policy before the sovereign electorate«.203 Doch speziell der Bundestag hält dieser Aufgabe bei weitem nicht stand: »Unfortunately, the Bundestag fails in this respect. ... This failure results from the lamentable practice by which a small oligarchy of Mps dominates the debates«.204 Die Überbelastung des Bundes­ tags – pseudo-euphemistisch gerne als Typus des Arbeitsparlaments apostrophiert – durch legislatorische Aufgaben gilt darüber hinaus schon länger allgemein als wichtigstes strukturelles Hindernis für die Wahrnehmung seiner zentralen Diskussionsaufgabe auf dem Forum der Öffentlichkeit.205 Diese genuin politischen, an die beiden zentralen politischen Institutionen eines parlamentarischen Regierungssystems gebunde­ nen Aufgaben werden auf der Linie von Carl Schmitt durch das gründliche Verfehlen seiner illusorischen Fixierung auf eine parla­ mentarische Wahrheitsintention bzw. -verpflichtung ebenso gründ­ lich unterlaufen. Wenig mehr als eine Generation später hat mit einer ähnlich prominenten Breitenwirkung Jürgen Habermas eine 203 Ebd., Hervorhebungen, R. E.; im selben Sinne argumentiert Helmuth C. F. Lie­ segang, Parlamentsreform in der Bundesrepublik. Dokumente zur Reform von Auf­ gaben und Arbeit des Parlaments und seiner Abgeordneten im parlamentarischen Regierungssystem. Zusammengestellt und mit einer Einführung versehen von Hel­ muth C. F. Liesegang, Berlin/New York 1974, bes. S. 29–31. Über wichtige Differen­ zen im parlamentarischen Regierungssystem Englands mit seinem Mehrheitswahlrecht und dem sich daraus während vieler Jahrzehnte ergebenden Zweiparteiensystem informiert Karl Loewenstein, Der britische Parlamentarismus. Entstehung und Gestalt, Hamburg 1964, bes. S. 94–98. 204 Hennis, Reform, S. 78; die eindringlichste und sorgfältigste kritische Abrechnung mit den geradezu habituellen Schwächen des deutschen Bundestags hat zur selben Zeit Gerhard Loewenberg, Parlamentarismus im Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland (amerik. 1967), Tübingen 1969, bes. VII. Kap., vorgelegt. 205 Diese Zusammenhänge vernachlässigt Reybrouck, Gegen Wahlen, vgl. oben S. 94197. Vgl. hierzu ausführlicher Liesegang, Parlamentsreform, bes. S. 96–104. Der effektivste Entlastungsvorschlag – die Regierung durch ein entsprechendes Gesetz zu ermächtigen, viele der minder wichtigen Gesetze durch Rechtsverordnungen in Kraft zu setzen, vgl. S. 97f. – wird ebenso wie mancher andere Vorschlag mit dieser Zielsetzung von Liesegang mit respektablen Besorgnissen bedacht, vgl. bes. S. 100–104.

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Konzeption des Politischen skizziert. Wie Schmitt ist er an der zen­ tralen Wichtigkeit der Öffentlichkeit orientiert.206 Doch bei dem von ihm behaupteten ›Strukturwandel‹ der Öffentlichkeit handelt es sich in Wahrheit um einen verwirrenden und sich ständig vervielfäl­ tigenden medialen Funktionswandel der Öffentlichkeit. Die Struktur der Öffentlichkeit wird indessen in wohlgeordneten Gemeinwesen nach wie vor von den Menschenrechten, den Bürgerrechten und von einem entsprechenden Gerichtswesen, von republikanischen Institu­ tionen, den rechtsfähigen Bürgern parlamentarisch-demokratischer Gemeinwesen und einer Presse gebildet, deren Journalisten vor allem diese Struktur fest und tief in das Kriteriengewebe ihrer politischen Urteilskraft aufgenommen haben. Der unablässige mediale Funkti­ onswandel der Öffentlichkeit – vor allem in seiner jüngsten, elektro­ nischen Gestalt – hat diese wahre Struktur der Öffentlichkeit für nicht wenige ihrer Träger – aber auch für einige ihrer Theoretiker – inzwischen bis zur Undurchschaubarkeit durchdrungen. Ihre ständig sich vervielfachenden so genannten Foren und chat-rooms ähneln mehr und mehr einer globalen, von Halb-, Viertel- bzw. Unbildung durchdrungenen privatistischen Gerüchteküche.207 Doch da Habermas den Parlamentarismus einem Verfall anheimgegeben sieht, dessen Diagnose aus einem gründlichen Mißverständnis der Vorgeschichte seiner wohlverstandenen aktuel­ len Aufgaben, Möglichkeiten und Grenzen resultiert,208 überspringt Vgl. Habermas, Strukturwandel. Die spezifisch amerikanische Vorgeschichte der abgründigen, inzwischen interna­ tionalen Verfallsformen des akademischen Bildungswesens analysiert im Horizont seiner eigenen Erfahrungen in musterhaft komplexer Weise Alan Bloom, The Closing of the American Mind, New York 1987. 208 Vgl. zu den ahistorischen, spezifisch politik-geschichtlichen Irrtümern, durch deren Optik Habermas‘ Verfallsdiagnose die gegenwärtige Situation verzerrt, Jäger, Öffentlichkeit, bes. S. 17–77; die Abwegigkeit der Rekonstruktion, die Habermas dem geschichtlichen Weg des britischen Parlamentarismus widmet, hätte er allerdings schon der souveränen Darstellung entnehmen können, mit der Loewenstein, Parla­ mentarismus, diesen Weg in die gegenwärtige Phase »der parlamentarischen Kabi­ nettsregierung«, S. 142, mit genuin politikwissenschaftlichen Mitteln rekonstruiert; vgl. auch Loewensteins wichtigen Hinweis auf die Rolle, die die englischen Wahlen von 1784 für die allmähliche Ausprägung dieses Regierungssystems mit sich brach­ ten, S. 77f. Vor allem das Fanal, das schließlich seit 1867 von Walter Bagehots Buch The English Constitution für die ganze westeuropäische Entwicklung dieses Regie­ rungstyps ausging, wird von Loewenstein zu Recht herausgestellt, vgl. S. 129–133, und als »das Muster einer Regierungsform« gewürdigt, »die an Wirksamkeit der Staatsführung in einer technologischen Massengesellschaft und bei gleichzeitiger 206

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er ihn in seiner Konzeption der Öffentlichkeit gleich ganz. Indessen taucht die konzeptionelle Verwandtschaft mit Schmitts illusorischer Konzeption von parlamentarischer Diskussion und Öffentlichkeit gleichsam in einer Art von kompensatorischer Parallelverschiebung wieder auf. Schmitts Fixierung auf eine parlamentarische Wahrheits­ intention bzw. -verpflichtung nimmt in einer genau entsprechenden Fixierung auf Struktur und Funktion der Öffentlichkeit wieder Gestalt an, sorgsam schützend eingehegt in die sogenannte, jede empirische und jede argumentative Kritik abschirmende »bürgerliche Idee des Gesetzesstaats«.209 Es entspreche dieser politischen Idee, daß »das öffentliche Räsonnement der Privatleute überzeugend den Charakter einer gewaltlosen Ermittlung des zugleich Richtigen und Rechten behauptet«.210 Doch da er nicht nur den Verfall des Parlamentaris­ mus‘ meint diagnostizieren zu können, sondern auch den »Zerfall bürgerlicher Öffentlichkeit«211, scheint auch die politische ›Idee‹ einer ›gewaltlosen Ermittlung des zugleich Richtigen und Rechten durch das öffentliche Räsonnement der Privatleute‹ nicht mehr ›überzeu­ gend behauptet‹ werden zu können. Doch warum entwickelt Habermas dann zehn Jahre später eine irritierend aufwendig elaborierte Konsensustheorie der Wahrheit212 mit der Intention, zur »normativen Grundlage einer Theorie der Gesellschaft«213 beizutragen? Soll diese normative Grundlage die Rechtfertigung von therapeutischen Mitteln bereitstellen, den Zerfall der Gesellschaft zu heilen, den er zehn Jahre früher diagnostiziert

Wahrung der bürgerlichen Freiheitsrechte und der Menschenwürde von keinem ande­ ren politischen System erreicht oder gar übertroffen wird«, S. 142. M. J. C. Vile, Politics in the U.S.A. (11970), Middlesex/Baltimore/Victoria 1973, sah schon zur Zeit der Publikation seines Buchs die Chance »to see closer links between President and Congress« unter anderem »by a more radical movement towards a cabinet system of government … to strengthen the position of the President in relation to the Congress and to give national party leaders a greater ability to discipline and control the lower echelons of the party«, S. 274. Und das alles »in order to try to bring about a more responsible policy-oriented political system«, ebd. Das Buch ist 2007 in der sechsten Auflage erschienen. 209 Habermas, Öffentlichkeit, S. 94, Hervorhebung R. E. 210 Ebd. 211 S. 157ff. 212 Vgl. Jürgen Habermas, Wahrheitstheorien, in: Wirklichkeit und Reflexion. Walter Schulz zum 60. Geburtstag (Hg. Helmut Fahrenbach), Pfullingen 1973, S. 211–265, bes. S. 218f., bes. S. 230ff. 213 S. 26215.

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zu haben meinte? Oder sollen sie dazu beitragen, die Struktur einer Gesellschaft zu normieren, die auch mit ihrer politischen ›Idee‹ gegen jeglichen Zerfall gesichert ist? Irritierend aufwendig elaboriert ist diese Theorie deswegen, weil sie in der für Habermas typischen Manier geradezu turbulent auf ungezählte internationale approaches rekurriert, so daß eine außerordentlich gelehrte Vertrautheit mit Beiträgen zur Wahrheitstheorie zwar suggeriert wird. Tatsächlich charakterisiert er die Funktion dieser Theorie zu Recht als die eines (komplexen) Wahrheitskriteriums,214 also des wichtigsten methodi­ schen Mittels, mit dessen Hilfe man beurteilen können soll, ob die Wahrheitsbedingungen einer satzförmigen sprachlichen Äußerung erfüllt sind oder nicht. Doch anstatt mit Hilfe der Semantik der Wahr­ heitsbedingungen und diesem einfachen kriteriologischen Gedanken einen roten Faden durch seine Konsensustheorie der Wahrheit zu entwickeln, driftet er in den Turbulenzen seiner unzähligen Rekurse in die diversesten inkohärenten approaches und entsprechende Fehl­ leistungen ab. Denn seit wann »[…] nennen wir [Wahrheit] einen Geltungsanspruch«215 – also außerhalb des Wir der von Habermas repräsentierten Sprachgemeinschaft der so apostrophierten Kritischen Theorie? Und seit wann »[…] sind [Tatsachen] abgeleitet aus Sach­ verhalten«216 und nicht das, was Sätze durch ihre erfüllten Wahr­ heitsbedingungen beschreiben? Erfüllte Wahrheitsbedingungen, also Tatsachen werden nicht aus irgendetwas abgeleitet, schon gar nicht aus Sachverhalten, sondern werden entdeckt.217 Im mehr als fragwürdigen Schutz solcher und mancher anderer kategorialer und argumentativer Fehlleistungen sucht Habermas mit Hilfe seiner Konsensustheorie nun einmal die ›normative Grundlage einer Theorie der Gesellschaft‹ zu entwerfen. Sieht man einmal von den internen Mängeln der Machart dieser Theorie ab, dann bleibt als theoretische Quintessenz der Gedanke eines Konsens-Kriterium der Wahrheit, also der Gedanke, daß die Mitglieder einer entspre­ chend normierten Gesellschaft die Möglichkeit haben sollen, im Zuge einer ›gewaltlosen Ermittlung des zugleich Richtigen und Rechten Vgl. S. 239–40. S. 218, Hervorhebung R. E. 216 S. 217, Hervorhebung R. E. 217 Vgl. hierzu und zu Habermas‘ beiden ebenso elementaren wie repräsentativen Fehlleistungen die auch vieles andere vorzüglich klärende Untersuchung von Günther Patzig, Satz und Tatsachen (11964), wieder abgedr. in: ders. Gesammelte Schriften IV. Theoretische Philosophie, S. 9–42. 214

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durch das öffentliche Räsonnement‹ einen Konsens auch über das zu erzielen, was politisch wahr, also politisch richtig und recht ist. Doch was ist an einer solchen Ermittlung ›gewaltlos‹, wenn sie sich den von Habermas erdachten Normen der ›normativen Grundlagen der Gesellschaft‹ unterwerfen muß? Solche ›normativen Grundlagen‹ pflegte man in dieser Zeit in bestimmten, intellektuell ambitiösen Milieus auch als ›strukturelle Gewalt‹ zu diskreditieren. Wolfgang Jägers sorgfältige und eindringliche politikwissen­ schaftliche Untersuchung vor allem von Habermas‘ Buch über den vermeintlichen Strukturwandel der Öffentlichkeit mündet in das Ergebnis, seine normativen Ansätze »hypostasierenden, in der Zukunftsperspektive utopischen Denkens«218 befangenen Einstellun­ gen zuzuschreiben. Doch der wunde Punkt dieser Theorie ist von ganz anderer Art. Ihr Autor macht aus Mangel an methodischer Selbstkritik einen typischen Reflexionsfehler: In der Rolle des Autors dieser Theorie ist er gleichsam der uneingeschränkte Herr über alle Elemente dieser Theorie und die von ihr formulierten norma­ tiven und nicht-normativen Bedingungen des Konsenses, der für die Wahrheit der an diesem Konsens Beteiligten kriteriell notwen­ dig und hinreichend ist; doch in der sozialen Wirklichkeit – auch in der Wirklichkeit der normierten Gesellschaft, die Habermas ent­ wirft – wird es niemals irgendjemand geben, der uneingeschränkter Herr über die empirischen Mittel wäre, mit deren Hilfe er einen entsprechende Konsens zwischen allen Mitgliedern einer solchen Gesellschaft überblicken und durchschauen könnte; und ebenso wenig wird es jemals irgendjemand geben, der uneingeschränkter Herr über jedes einzelne Räsonnement aus dem ›öffentlichen Räsonnement der Privatleute‹ wäre, um es im Licht des Konsens-Kriteriums auf seinen ›gewaltlos‹ gewonnenen Beitrag zum ›zugleich Richtigen und Rechten überzeugend‹ beurteilen zu können. Jäger hat diesen neur­ algischen Punkt im Rahmen seiner »Forderung nach detaillierterer Diagnose«219 treffend hervorgehoben: »Es spricht vieles dafür, daß … die Persönlichkeitsstruktur des [E]inzelnen … in ihrer Wechsel­ wirkung vor allem zu dessen Primärgruppen die zentralen Variablen im Beeinflussungs- oder Überredungsprozeß sind«, 220 also gerade in dem Prozeß, der mit seinen unablässig wechselnden sozialen und 218 219 220

Jäger, Parlamentarismus, S. 82. S. 84. Ebd.

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psychischen Konstellationen immer wieder zu neuen Modifikationen der Persönlichkeitsstruktur jedes Einzelnen führt. Man braucht nur die Wandlungen in Rechnung zu stellen, die in diesem Prozeß die kognitiven Dispositionen durchmachen, die die traditionelle Erkennt­ nistheorie unter den Namen der Einbildungskraft, des Verstandes und der Urteilskraft thematisiert hat. Doch dann ist auch in der von Habermas entworfenen normier­ ten Gesellschaft nichts weniger sicher als ein Konsens der Urteile ihrer einzelnen Mitglieder über das, was in einer konkreten praktisch-poli­ tischen Situation ›das Richtige und Rechte‹ ist. Nicht ein hypostasie­ render oder utopischer Charakter bildet den neuralgischen Punkt von Habermas‘ normativer Konsensus-Theorie der Gesellschaft. Neural­ gisch an ihr ist, daß sich ihr Autor durch die Folie ihrer internen Machart über die invarianten empirischen ›Variablen‹ jeder beliebi­ gen sozialen und psychischen Wirklichkeit täuschen läßt. Es macht jedoch einen wesentlichen Teil nicht nur der Schwierigkeiten, sondern gerade auch der Kunst der politischen Urteilsbildung aus, Agenden für Gesetze zu entwerfen, die trotz ihrer unaufhebbaren gesetzlichen Allgemeingültigkeit den unüberschaubar und unaufhebbar divergie­ renden ›Persönlichkeitsstrukturen der Einzelnen‹ Rechnung zu tra­ gen, die in ihre ›Wechselwirkung vor allem mit ihren Primärgruppen und deren Beeinflussungs- oder Überredungsprozeß‹ eingebunden bleiben.221 Wer die ›normative Grundlage einer Gesellschaft‹ außer­ halb der rechtspolitischen Normen eines parlamentarischen Regie­ rungssystems sucht, begünstigt gegen seine erklärten Intentionen 221 Auf eine andere, gerade in politischer Hinsicht wichtige Irrtumsquelle von Haber­ mas‘ Konsenstheorie der Wahrheit macht Beiner, Judgment, aufmerksam, der ansons­ ten einer seiner durchaus günstig gestimmten Leser ist: »… we should take care not to overemphasize the discursive dimension of politics. Habermas, in particular, some­ times falls into this kind of error. This was the fallacy of the Enlightenment: to assume that the world could be remade by rational inquiry and discourse purged of preju­ dice«, S. 148, Hervorhebung R. E.. Diese Charakterisierung der fallacy of Enlighten­ ment ist zwar leider allzu weit verbreitet. Doch Beiners Referenz-Autorität Kant hätte ihn mit Hilfe seiner zu Recht berühmten Aufklärungs-Maxime Habe Mut, Dich Deines eigenen Verstandes zu bedienen! unmißverständlich eines Besseren belehren können: Aufklärung ist mutige individuelle Bemühung um Selbst-Aufklärung. ›Die Welt‹ kann daher nur in dem Maß schrittweise be remade, in dem sich hinreichend viele indivi­ duelle Bürger mutig und mit Erfolg schrittweise um Selbst-Aufklärung bemüht haben. Kants Gebrauch des kognitiven Vokabulars ist sogar liberal genug, so daß er mit Gewinn hätte schreiben können Habe Mut, Dich Deiner eigenen Urteilskraft zu bedie­ nen!; vgl. hierzu vom Verf., Bedingungen der Aufklärung, bes. S. 523-628.

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auch dann ein soziales Zwangssystem, wenn er es durch eine – überdies mangelhaft durchdachte – Konsensustheorie der Wahrheit verschleiert. Nicolas Rescher weist in seiner Schrift Pluralism. Against the Demand for Consensus222 daher gerade unter dem klassischen libe­ ralen Aspekt des Pluralismus solche Konsensustheorien der Wahrheit wie die von Habermas zu Recht zurück, weil sie in der Rolle von politischen bzw. gesellschaftspolitischen Hilfstheorien grundsätzlich die Gefahr einer Uniformierung des Denken begünstigen. Die politikwissenschaftlichen Analysen und Diagnosen der gegenwärtigen Aufgaben, Möglichkeiten und Grenzen des Parla­ ments auf dem Forum der Öffentlichkeit einerseits und andererseits Schmitts und Habermas‘ wirklichkeitsfremde Erörterungen desselben Themas sind offenkundig durch unüberbrückbare Klüfte voneinander entfernt. Doch die empirische – auch historische –, analytische und theoretische Eindringlichkeit und Verläßlichkeit der politikwissen­ schaftlichen Diagnosen und Erklärungen und damit ihre Überlegen­ heit über die beiden alternativen Konzepte ist zu schlecht bestreitbar, um von ihnen nicht uneingeschränkt Gebrauch zu machen. Den in gewisser Hinsicht wichtigsten begrifflichen Schlüssel zum Verständnis und zur Durchleuchtung der praktischen Funktionen des politischen Urteils bildet die von Cromwells Parlaments-Reform geprägte Charakterisierung der Verfassung eines politischen Gemein­ wesens als instrument of government. Diese instrumentalistische Cha­ rakterisierung und die zwiespältigen Erinnerungen an Cromwells politische Handlungsweisen als Lordprotektor von England, Schott­ land und Irland tragen nur allzu leicht dazu bei, diese Charakterisie­ rung als Ausdruck einer zumindest autoritären, wenn nicht sogar tyrannischen Einstellung zu den verfassungsmäßigen Aufgaben der maßgeblichen politischer Amtsinhaber zu mißdeuten. Doch diese Mißdeutung beruht in dem springenden Punkt auf einem instru­ mentalistischen Fehlschluß: Kein Instrument macht von sich selbst Gebrauch, also auch weder einen mehr oder weniger guten oder mehr oder weniger schlechten; und aus keinem einzigen historischen Fall seines Mißbrauchs durch irgendeinen politischen Amtsinhaber folgt in irgendeinem folgerungs-logischen Sinne, daß irgendein anderer oder gar jeder andere politische Amtsinhaber mit einem solchen Instrument ebenfalls nur Mißbrauch treiben könnte. Vgl. Nicholas Rescher, Pluralism. Against the Demand for Consensus. Studies in Social Philosophy. Collected Papers VI. Frankfurt/Main 2006, S. 31–45.

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Die instrumentalistische Charakterisierung der Verfassungen politischer Gemeinwesen macht vielmehr mit einer sonst kaum zu erreichenden Pointierung darauf aufmerksam, daß gerade mit Blick auf den politischen Gebrauch dieses Instruments buchstäblich alles auf die spezifischen persönlichen Tüchtigkeiten (virtues, skills, ›Tugenden‹) ankommt, die der Inhaber eines maßgeblichen politi­ schen Amts für seine Aufgaben mitbringt. Verfassungen politischer Gemeinwesen legen ausschließlich Ämter- und Institutionengefüge sowie Verfahren fest, von denen Gebrauch zu machen den Inhabern der entsprechenden Ämter und Mitgliedern der entsprechenden Insti­ tutionen erlaubt, geboten bzw. verboten ist. Zugunsten welcher Ziele es der Politik obliegt, von den Instrumenten dieser verfassungsrechtlich normierten Ämter, Institutionen und Verfahren Gebrauch zu machen, ist durch kein einziges dieser Instrumente festgelegt.223 Die Erörte­ rungen der Gemeinwohl-Bedingung durch das I. Kapitel sollten an das wichtigste Ziel aller politischen Formen des Gebrauchs dieser Instrumente erinnern; die Erörterungen der praktisch-politischen Urteilskraft und ihrer drei kognitiven und sittlich-moralischen Tugen­ den durch das II. Kapitel sollten die wichtigsten Voraussetzungen zur Sprache bringen, die der politischen Urteilsbildung dienen. Daß die persönliche Mitgift spezifisch politischer Tüchtigkeiten kaum jemals, sondern eher selten ein Optimum bildet, zeigt die geschichtliche Erfahrung immer wieder von neuem. Umso wichtiger ist es, daß die instrumentalistische Pointierung der Verfassung eines Gemeinwesens das klarste und hellste Licht auf den wichtigsten Aspekt wirft, unter dem die Bürger eines Gemeinwesens ihre politi­ schen Urteile über ›die‹ Politik bilden können und sollten, der sie im Horizont der von Regierung und Parlament ins Werk gesetzten Agen­ den ausgesetzt sind. Mit gutem Grund normiert das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland die Amtstätigkeit des Kanzlers und der Minister durch den personalisierenden Grundsatz »Der Bundeskanz­ ler bestimmt die Richtlinien der Politik und trägt dafür die Verant­ wortung. Innerhalb dieser Richtlinien leitet jeder Minister seinen Geschäftsbereich selbständig und unter eigener Verantwortung« (GG, Art. 65). Diese Norm lenkt die politische Aufmerksamkeit der Bürger zentral auf den praktischen Modus, der – gleichsam in Umkehrung 223 Zu Recht widmet Hennis, Politik, schon in seiner Studie zur Rekonstruktion der politischen Wissenschaft das zentrale Kapitel dem Thema Die teleologische Orientierung der politischen Wissenschaft, vgl. IV. Kapitel, S. 56–80.

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des Verantwortungs-Modus der politischen Amtsinhaber – am wich­ tigsten für ihr politisches Werturteil über die politischen Agenden der Regierung ist: die Zurechenbarkeit der Gesetze an die Adresse der Amtsinhaber der federführenden Ministerien und des Regierungs­ chefs. An dieser persönlichen Zurechenbarkeit ändert sich im Rahmen der zeitgenössischen Kabinettsregierungen und der sie tragenden par­ lamentarischen Mehrheit in der Regel nichts Wesentliches.224 Umso mehr zeigt die pointierte politische Charakterisierung der Verfassung als instrument of government mit Blick auf die beiden wichtigsten, komplementären Dimensionen eines Gemeinwesens an, wovon die entsprechenden Formen der politischen Urteilsbildung abhängen – einerseits von den spezifisch politischen Tüchtigkeiten (virtues, skills, ›Tugenden‹) der maßgeblichen politischen Amtsinhaber, einschließ­ lich der parlamentarischen Fraktionsführungen und andererseits von den politischen Werturteilen der Bürger über die Angehörigen dieses Personenkreises und deren Amtsführungen. Noch nie in der Vergan­ genheit haben die Bürger in Gemeinwesen mit parlamentarischem Regierungssystem über eine solche Vielfalt von zeitungs-, audio- und video-medialen Zugängen zu diesem Personenkreis und ihren Akti­ vitäten verfügt, um sich ihre politischen Werturteile über das Maß an Zutrauens- und Vertrauenswürdigkeit zu bilden, das diese im Licht ihrer Amtstätigkeiten.verdienen. Zwar darf man sich angesichts der extremen Qualitätsunterschiede zwischen den informationellen und den urteilskraft-abhängigen Niveaus dieser Medien auch keinerlei Illusionen über die Formen ihrer Beiträge zur Urteilsbildung der Bür­ ger hingeben. Umso mehr bildet der radikale Unterschied zwischen der politischen Urteilsbildung der maßgeblichen Amtsinhaber und der politischen Urteilsbildung der ihren Agenden ausgesetzten Bürger den konstantem kognitiven, emotionalen und praktischen Span­ nungsbogen, unter Umständen sogar eine Zerreißprobe republikani­ scher Gemeinwesen.

Ausnahmen im deutschen Regierungssystem bilden bekanntlich ebenfalls in der Regel vor allem die Gesetzentwürfe, die wegen ihrer steuerlichen Folgelasten für die Bundesländer einer Zustimmung durch den Bundesrat bedürfen, vgl. GG Art. 105 (3).

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Es ist kein Zufall, daß die inzwischen vierhundert Jahre alte Konzep­ tion der Verfassung eines politischen Gemeinwesens als instrument of government gleichsam die Drehscheibe zwischen seinem politischen Gebrauch und seinem normativen Gehalt bildet. Denn es ist sein nor­ mativer Gehalt, wodurch normiert ist, welchen Gebrauch von ihren Ämtern zu machen, den personalen Trägern der politischen Institutio­ nen ausdrücklich erlaubt, geboten bzw. verboten ist. Allerdings gehört zu diesen Normen auch die Erlaubnis, mit Hilfe entsprechender par­ lamentarischer Mehrheiten bislang geltende Normen außer Kraft zu setzen, wenn diese der Wahrnehmung eines bestimmten politischen Aufgabenkreises im Wege stehen, der vom Parlament mehrheitlich als zukunftsträchtig erkannt und anerkannt ist. Die Verfassung eines politischen Gemeinwesens ist gar nichts anderes als dessen Ämterund Institutionenordnung. Einen geschichtlich bedingten Sonderfall bildet das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland mit seinem dieser Ämter- und Institutionenordnung vorgeschalteten Katalog der Grundrechte. Sie haben von 1948–49 durch die Erörterungen des Parlamentarischen Rats Eingang in das Grundgesetz gefunden. Sie sollten dem Ziel dienen, die zu gründende Bundesrepublik durch das normative Pathos der Freiheitsrechte gegen die Tyrannei der menschenverachtenden nationalsozialistischen Herrschaft abzugren­ zen. Diese Herrschaftsform war das erste geschichtliche Muster auf deutschem Boden, das zeigte, wie eine Verfassung – die Weima­ rer Reichsverfassung – im Status eines instrument of government mißbraucht werden kann, wenn die Inhaber der maßgeblichen politi­ schen Ämter und ihre willfährigen Helfershelfer buchstäblich sämtli­ cher politischen Tüchtigkeiten (virtues, skills) und humanen Tugenden ermangeln, deren ein wahrhaft republikanisches Gemeinwesen zur gedeihlichen Sorge um seine res publica bedarf. Der enge und strikte Bedingungszusammenhang zwischen dem normativen Gehalt einer Verfassung und ihrem politischen Status

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als instrument of government bildet seit Jahrhunderten den wich­ tigsten Anknüpfungspunkt für die Frage nach der Legitimität eines Regierungssystems. Diese Legitimität ist allerdings nicht notwendi­ gerweise daran gebunden, als ausdrücklich zur Sprache gebrachtes Thema im allgemeinen Bewußtsein der Bürger eines wohlgeordne­ ten, von konkurrierenden Parteien getragenen und parlamentarisch regierten Gemeinwesens fest verankert zu sein. Die Legitimität eines solchen – und nur eines solchen – Regierungssystems ist so gut wie ausschließlich an die geschichtliche Bewährungsprobe der massenweisen Loyalität, also Gesetzestreue seiner Bürger gebunden. Die politischen Urteile der maßgeblichen politischen Amtsinhaber werden im günstigen Fall im Schutz der Legitimität getroffen, die eine solche faktische massenhafte Gesetzestreue der Bürger eines solchen wohlgeordneten, von konkurrierenden Parteien getragenen und parlamentarisch regierten Gemeinwesens gewährt. Illegitime Regierungssysteme ›verschaffen‹ sich ihre Scheinlegitimität in den paradigmatischen Formen des zwanzigsten Jahrhunderts durch den »organisierte[n] Aufmarsch der Massen auf dem Parteitagsgelände in Nürnberg oder auf dem Roten Platz in Moskau«, durch »gemeinsames Anhören der Rundfunkansprachen der Parteioberen, Partizipation von der Wiege bis zu Bahre tragen in totalitären Staaten sicher zur Stabilisierung der Herrschaft, genauso sicher aber auch nichts zu ihrer Legitimität bei«.225

225 Hennis, Legitimität, S. 18. – Strauss, On Tyranny, erinnert im thematischen Kon­ text von Legitimität und Loyalität ausführlicher an den Zusammenhang von Piety and Law, S. 103-105, aber auch daran, daß für Xenophon die Gesetzestreue der Athener »Divine approval and assistance seem to be indispensable for salutary political action«, S. 103; »Yet … He gives the Athenian the crowning advice, in the case the gods should approve of his suggestions, that they further ask the gods to which of the gods they ougt to sacrifice in order to be successful« ebd. – In der Phase der klassischen deutschen Philosophie entwirft Kant in der teilweise symbolischen Sprache des Alten Testaments die Konzeption einer innerweltlichen, dem Recht gewidmeten Religion: »... das Hei­ ligste, was Gott auf Erden hat, das Recht des Menschen … diese[r] Augapfel Gottes«, Zum ewigen Frieden, Ak.VIII, S. 352, Hervorhebungen R. E.; die Verletzung des Rechts des Menschen kommt also der Verletzung des Augapfel Gottes auf Erden gleich; nur durch diesen »Enthusiasmus der Rechtsbehauptung des Menschenge­ schlechts«, Op. post., Ak. XXI, S. 86**, eröffnet sich für den Menschen und Bürger die Aussicht, »ein rechtliches und somit glückliches Mitglied des gemeinen Wesens wäh­ rend dem Leben«, Op. post. Ak. XXIII, S. 426, Hervorhebungen R. E. zu werden; die Wendung vom Augapfel Gottes geht auf AT, Sacharja 2,12, zurück.

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Doch trotz einer rund zwanzigjährigen gedeihlichen Sorge um die res publica der noch jungen Bundesrepublik zeigte sich alsbald, wie wenig gefestigt das Bewußtsein von der Legitimität ihres Regie­ rungssystems in allen Kreisen der Bürger war. Als rund zwanzig Jahre nach ihrer Gründung dem empfindlichen rechtspolitischen Mangel an Notstandsgesetzen abgeholfen werden sollte, brach gerade in eini­ gen intellektuellen Milieus die ›deutsche Unruhe‹ (Hennis) aus und beschwor eine bevorstehende diktatorische Pervertierung der verfas­ sungsförmigen Ämter- und Institutionenordnung. Die um das Stich­ wort »Diktatur« zentrierte Polemik verriet schon auf ihrer verbalen Oberfläche den verfassungsrechtlichen und -geschichtlichen Bewußt­ seinsverlust, zwischen Diktatur und Tyrannei zu unterscheiden.226 Vor allem aber verriet sie einen gänzlichen Mangel an jenen beiden kognitiven und praktischen Tugenden der politischen Urteilskraft, die in Gestalt der Vorsicht und der Umsicht vorsorglich die niemals ganz auszuschließende Wahrscheinlichkeit des realgeschichtlichen Eintretens eines Notstands ins Auge fassen. Sie stellen das niemals ausreichend unwahrscheinliche Eintreten von Umständen in Rech­ nung, unter denen einem kleinen ausgewählten Kreis maßgeblicher und bewährter politischer Amtsinhaber die verfassungsrechtliche Legitimation offensteht, für eine nicht zu kurze und nicht zu lange Zeit Maßnahmen zu ergreifen, die Bürger gegen einen von innen oder von außen eingetretenen Notstand zu schützen. Gewiß sind es diese selben Tugenden, in deren Obhut es liegt, über das Vorliegen eines Notstands und über die angemessenen Mittel zu seiner Beherrschung zu befinden. Doch seit es die verfassungsförmige Institution gegeben hat, die erst später, in römischer Zeit den Namen der Diktatur erhalten hat, war die Legitimation dieses Amtes bis weit in die Neuzeit eine gegen jeden spezifischen Tyrannis- und damit auch Illegitimitäts-Ver­ dacht immune, geradezu selbstverständliche Einrichtung. Umso abwegiger war dieser von vielerlei begrifflichen und kri­ teriellen Verwirrungen begleitete bzw. genährte Verdacht angesichts der Tatsache, daß in der Zeit der parlamentarischen Debatten um die Notstandsgesetzgebung die Mehrheit der Mitglieder des Bundestags Dieser spezifische Bewußtseinsverlust ist eines der Phänomene, die Löwenthal, Bonn ist nicht Weimar, als Symptome eines unpolitischen Auswuchses der ano­ mischen Entwicklung diagnostiziert, die in der westlichen Welt generell zu einer Entfremdung von Angehörigen des ›Kultursystems‹ von den genuinen Bedingungen eines wohlgeordneten parlamentarischen Regierungssystems führen.

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seit rund zwanzig Jahren und im kritischen Licht einer freien Presse das überwältigende Zutrauen und Vertrauen der Bürger erworben hatte. In einem parlamentarischen Regierungssystem, in dem fast alle Ministerämter und das Amt des Regierungschefs unter solchen Umständen ebenso lange aus der Mitte der Mitglieder des Parlaments berufen worden sind, gibt es keine andere auch nur annähernd ähnlich günstige Voraussetzung, um Notstandsgesetze der Obhut derjenigen Politiker anzuvertrauen, die in der absehbaren Zukunft das Eintreten eines Notstands zu beurteilen und die Sorge um seine Beherrschung wiederum mit Umsicht, Vorsicht und Rücksicht – wenngleich in eher dramatisch anderen Formen – zu organisieren haben.227 Die Debatten um die Notstandsgesetze betrafen, ganz ungeachtet ihrer milieu-spezifischen kriteriellen und begrifflichen Verwirrun­ gen, lediglich ein punktuelles verfassungsrechtliches und -politisches Legitimitätsproblem. Eine ins Allgemeine und Grundsätzliche zie­ lende Debatte um die verfassungs-politische Legitimität des deut­ schen Regierungssystems bzw. Nachkriegs-Staates ging zeitweise wenig später von Versuchen aus, unbestreitbare Auswüchse der kapitalistischen Wirtschaftsform als verfassungs-politische Legitimi­ tätsdefizite dieses Regierungssystems bzw. Staates zu entlarven.228 In einer seiner typischen Verquickungen kontrafaktischer hypotheti­ scher wenn ...wäre/würde, dann wäre/würde ...- Argmentationsmus­ ter mit einer empirisch mehr als fragwürdigen sozial-ökonomischen Analogie gelangt Habermas zu seinem zentralen ›Theorem des Legi­ timitätsdefizits‹ in Form einer pseudo-empirischen Symptom-Dia­ gnose: »Auch wenn es dem Staatsapparat gelänge, die Produktivität so zu steigern und die Produktivitätsgewinne so zu verteilen, daß ein zwar nicht störungs-, aber krisenfestes Wirtschaftswachstum gesi­ chert wäre, vollzöge sich dieses Wachstum nach Prioritäten, die sich in Abhängigkeit nicht von verallgemeinerungsfähigen Interessen der Bevölkerung, sondern von privaten Zielen der Gewinnoptimierung »Überdies sind unter dem parlamentarischen Regierungssystem die politischen Führer in der gesetzgebenden Versammlung entweder regierende Minister oder Kan­ didaten für das Ministeramt im Namen der Opposition«, Morstein Marx, Verwal­ tungslehre, S. 27. 228 Vgl. Jürgen Habermas, Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, Frankfurt am Main 1973, sowie Claus Offe, Strukturprobleme des kapitalistischen Staates. Aufsätze zur politischen Soziologie, Frankfurt am Main 1973, und ders., Strukturpro­ bleme des kapitalistischen Staates, Aufsätze zur politischen Soziologie, veränderte Neuausgabe, hrsg. von Jens Borchert / Stephan Lessenich, Frankfurt am Main 2006. 227

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herausbilden. Die Prioritätenmuster […] ergeben sich aus einer wie immer latent gehaltenen Klassenstruktur: sie ist in letzter Instanz Ursache des Legitimationsdefizits«.229 Man fragt sich, ob Habermas hier – wider alles Wissen und Wollen – die Planspiele eines Sekretärs für Wirtschaftsfragen des ZK der SED simuliert. Doch wenn man das aus absolutistischer Zeit stammende Legi­ timitäts-Kriterium oboedientia facit imperatorem in das demokrati­ sche Legitimitäts-Kriterium der Massenloyalität, also der massen­ haften Gesetzestreue transponiert, wird die empirische Absurdität von Habermas‘ klassen-spezifischer Symptom-Diagnose offenkun­ dig. Denn selbst unter den Bedingungen der von Marx mit empi­ risch-realistischen Kriterien diagnostizierten Entwicklung einer Klas­ senstruktur in seiner Zeit230 gab es keine statistisch signifikante klassenspezifische Aufkündigung dieser Loyalität durch Flucht oder Auswanderung der ›proletarischen‹ Klassenangehörigen.231 Wohl aber gab es schon bis zur Zeit der Publikation von Habermas‘ Buch ca. zwei Millionen Menschen – also knapp 15% % der Bevölkerung –, die als Flüchtlinge oder als legitimierte Ausreisewillige den ›ersten 229 Habermas, Legitimationsprobleme, S. 103, Habermas‘ Hervorhebung. Ohne Habermas‘ rhetorisches und abstraktives sowie theorie-pluralistisches Geschick spricht Offe, Strukturprobleme, den springenden Punkt unverblümt aus: »Wenn dem­ zufolge das kapitalistische System nicht ohne bürgerlich-demokratische Formen poli­ tischer Herrschaftsorganisation zu überleben vermag, so weist auf der anderen Seite der Widerspruch zwischen den ökonomischen und den legitimatorischen Funktionen des kapitalistischen Staates auf eine irreversible Politisierung von Klassenkämpfen, also darauf hin, daß er auch mit ihnen nicht überleben kann«, S. 104–105, Offes Her­ vorhebungen. Die bekannte krude, aber wohl auch unverbesserliche Beschwörung eines ›realen Widerspruchs‹ zwischen dem legitimatorisch ›Formalen‹ und dem dele­ gitimatorisch ›Materialen‹ des Ökonomischen sei geschenkt. 230 »Das selbsterarbeitete, sozusagen auf Verwachsung des isolierten, unabhängigen Arbeiterindviduums mit seinen Arbeitsbedingungen beruhende Privateigentum wird verdrängt durch das kapitalistische Privateigentum, welches auf Exploitation fremder, aber formell freier Arbeit beruht«; dieser Prozeß »[verwandelt] die Arbeiter in Proletarier, ihre Arbeitsbedingungen in Kapital«, so daß »die kapitalistische Produk­ tionsweise auf eignen Füßen steht«, Karl Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie (1867). 24. Kap., 7. Geschichtliche Tendenz der kapitalistischen Akkumu­ lation. 231 Sogar Eric Hobsbawm, Europäische Revolutionen, (engl. 11962), Zürich 1962, einer der scharfsinnigsten marxistoider Gelehrten, erwähnt in den einschlägigen Erör­ terungen der Situation in Westeuropa zur Zeit von Marx‘ Arbeit, vgl. S. 248ff., solche proletarischen bzw. proletaroiden Flucht- bzw. Auswanderungstendenzen lediglich mit einem marginalen Hinweis auf anti-royalistische Motive von Auswanderungen in die USA, vgl. S. 249.

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Arbeiter- und Bauernstaat auf deutschen Boden‹ (offizielle Selbstcha­ rakterisierung der DDR) verlassen hatten. In einer bedeutsamen ver­ fassungsrechtlichen Erörterung kommt Ernst-Wolfgang Böckenförde zu dem Ergebnis, daß »sich die gegenwärtige Verfassungslage der Bundesrepublik … als institutionalisierter (Klassen-)Kompromiß erweist«.232 Allerdings muß dieses System »vor einseitiger, d. h. nicht einvernehmlicher Systemveränderung gesichert sein, auch im Bewußtsein der Beteiligten. … Eine zweite Voraussetzung ist, daß die Beteiligten selbst den institutionalisierten Kompromiß politisch bejahen und als solchen wollen«233 – also seine Legitimität durch wechselnde parlamentarische Mehrheitsverhältnisse in allgemeinen Wahlen immer wieder von neuem sichern. Autoren wie Habermas und Offe versuchen nur allzu offensichtlich, diesen ›institutionali­ sierten Klassen-Kompromiß‹ in Mißkredit zu bringen, indem sie den an diesem Kompromiß Beteiligten mit den literarischen Mitteln klassen-ideologisch befangener Abstraktions- und Reflexionsmetho­ den eine Illegitimität dieses Kompromisses zu suggerieren suchen. Sie übersehen geflissentlich und trotz aller sozialwissenschaftlichen back-ground-Orchestrierung die »Ambiente, die sich aus der Situa­ tion nach 1945 zwischen Faktoren Arbeit und Kapital in der Bundes­

232 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die politische Funktion wirtschaftlich-sozialer Ver­ bände und Interessenträger in der sozialstaatlichen Demokratie, in: (Hennis et al., Hg.), Regierbarkeit 1, S. 223–254, hier: S. 253. 233 S. 254, Hervorhebung R. E.; vorsichtige Kritik an Böckenfördes These, »Tarif­ partner und Investoren hätten Teil an der politischen Entscheidungsgewalt«, übt Peter Graf Kielmannsegg, Organisierte Interessen als »Gegenregierungen«?, in: (Hennis et al., Hg.), Regierbarkeit 2, S. 139–176; er argumentiert, »daß es sachgemäßer ist, von einer Spannung zwischen der umfassenden Verantwortlichkeit des modernen Staates und den für seine liberale Ordnung konstitutiven gesellschaftlichen Autonomien zu sprechen«, S. 16557; doch schließt das eine das andere in funktionaler Hinsicht nicht wirklich aus. Wohl aber können die funktionalen Verflechtungen der faktischen Aus­ übungen dieser beiden Formen der Autonomie zu den von Kielmannsegg konzipierten Spannungen führen. Eine gründliche Untersuchung von solchen ruinösen Spannun­ gen am damaligen europäischen Ausnahme-Beispiel Großbritanniens bietet Johnson, Krankheit. Vor allem die wachsende Überbelastung der Regierung mit ihr eigentlich fremden, nicht-öffentlichen Aufgaben und die hypertrophe marxistoide Entwicklung des gewerkschaftlichen Einflusses werden als die beunruhigendsten Faktoren analy­ siert. Ein Zusammenfassung seiner Untersuchung bietet der Aufsatz: Nevil Johnson, Politische Stabilität und Unregierbarkeit in Großbritannien: Fragezeichen hinter einer alten Verfassungstradition, in: Regierbarkeit 2 (Hennis et al., Hg.), S. 375–426.

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republik herausgebildet hat. Sie hat aus einer – vielleicht gegebenen – Klassenlage keinen Klassenkampf entstehen lassen«.234 Umso bemerkenswerter ist unter diesen Voraussetzungen Habermas‘ Überzeugung, »daß praktische Fragen wahrheitsfähig sind«.235 Allerdings leidet diese Überzeugung empfindlich unter dem von ihm favorisierten Wahrheits-Kriterium für ›praktische Fragen‹ – daß nämlich wahrheitsfähige »Normen verallgemeinerungsfähige Interesse ausdrücken«.236 Sieht man einmal von der sträflichen Ver­ nachlässigung des strukturellen Unterschieds zwischen subjektiven und objektiven Interessen ab,237 dann leidet dieses ›Kriterium‹ unter zwei Verirrungen: Unter der von Marcus Singer gestifteten verun­ glückten Tradition, den von Kant zur Sprache gebrachten morali­ schen Kategorischen Imperativ »als ›principle of universality‹ oder als ›generalization argument‹«238 zu mißdeuten; und unter dem Mißverständnis, daß alle Normen ›Interessen ausdrücken‹. Zum einen bildet den springenden Punkt des Kategorischen Imperativs gerade ein prozedurales Kriterium dafür, ob ein normatives Gebilde in gesetzlicher Form verallgemeinerungsfähig und vernünftig ist oder nicht;239 zum anderen ist Habermas‘ Verständnis von Normen nur allzu offensichtlich an seinen persönlichen Glauben an empirische, diskurs-rationalistisch verkleidete Motivationsfaktoren von Normen gebunden: »Sie haben die Kraft, die Teilnehmer eines Diskurses von einem Geltungsanspruch zu überzeugen, d.  h. zur Anerkennung von Geltungsansprüchen rational zu motivieren«.240 In einer idea­ len Diskurswelt, an deren reale Möglichkeit Habermas zu glauben scheint, mag das ›realistisch‹ sein. In unserer realen sozialen Welt Ebd., Hervorhebung R. E. Habermas, Legitimationsprobleme, S. 153. 236 Ebd. 237 Vgl. hierzu Günther Patzig, Der Unterschied zwischen subjektiven und objektiven Interessen und seine Bedeutung für die Ethik, Göttingen 1978. 238 Habermas, Legitimationsprobleme, S. 149. 239 –71, formuliert: »Es gibt gewisse ›kategorische Imperative‹, die für das gedeihliche und vertrauensvolle Zusammenleben der Menschen überhaupt erst die Voraussetzun­ gen schaffen«, S. 70. Die von Kant vorgesehene kriterielle Prozedur zur schrittweisen Einsicht in solche kategorisch-imperativen Voraussetzungen vernünftiger Verallge­ meinerbarkeit, bleibt bei Patzig allerdings im dunkeln; vgl. hierzu im einzelnen vom Verf., Autonomie und Humanität. Wie kategorische Imperative die Urteilskraft ori­ entieren (12001), wieder abgedr. in: ders., Vernunft und Urteilskraft. Kant und die kognitiven Voraussetzungen vernünftiger Praxis, Freiburg/München 2018, S. 51–94. 240 Habermas, Legitimationsprobleme, S. 147. 234

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ist dieser Glaube – abgesehen vom Mangel an realistischen Kriterien und von milieu-spezifischen Verhältnissen in ebenso flüchtigen wie glaubensstarken Konventikeln – ein Aberglaube. Normen, die im Licht des von Kant zur Sprache gebrachten Kategorischen Imperativs in gesetzlicher Form verallgemeinerungsfähig sind, sind überdies nicht ›Ausdruck‹ irgendwelcher Interessen, sie formulieren stattdes­ sen Voraussetzungen vernünftiger Praxis, an deren Respektierung »jedermann notwendig interessiert«241 ist. Die normativen Voraussetzungen der politischen Urteilsbildung verdichten sich gleichsam zu einer einzigen solchen Voraussetzung, wenn man die strikte und unmittelbare Verflechtung gebührend ernst nimmt, die die verfassungsrechtlichen Normen eines Gemeinwesens mit der zentralen politischen Gebrauchsbedingungen für das instru­ ment of government dieses Gemeinwesens – also mit der teleologi­ schen Orientierung am Gemeinwohl – eingehen. Denn im Schutz der dadurch immer wieder von neuen erworbenen Legitimität kann ein parlamentarisches Regierungssystem durch die legislatur-periodisch bestandenen Bewährungsproben – vor allem durch den Wechsel der parlamentarischen Mehrheitsverhältnisse und der Regierungsämter zugunsten der bisherigen Opposition242 – immer wieder von neuem Kritik der reinen Vernunft (11781, 21787) (= KrV), Hg. R. Schmidt (11926), Philo­ sophische Bibliothek Bd. 37A, Synoptische Ausgabe der beiden Original-Ausgaben (A- bzw. B-Seitenzählung) Hamburg 21956, A 839, B 867*. 242 »Diese alternative Spannung ist das eigentliche Lebenselement des Parlaments, unter dessen Einfluß sich jede Regierungshandlung vollzieht«, Siegfried Landshut, Formen und Funktionen der parlamentarischen Opposition (1955), in: Parlamenta­ rismus (Hg. Kurt Kluxen), Köln/Berlin 1967, S. 400–409, hier: S. 401. Doch diese Spannung sieht Landshut angesichts der parteipolitischen Entwicklungen in der Bun­ desrepublik schon 1955 in Gefahr: »So gerät die Opposition in die gefährliche Lage eines Auffangs für aufkommende Unzufriedenheit und wird oft dazu neigen, sich ihre politischen Stellungnahme von taktischen Gesichtspunkten beeinflussen zu lassen. Denn der Hintergrund einer egalitären Einheitsgesellschaft mit wesentlich gleichge­ richteten Massenwünschen bietet nur noch wenig Anhalt für genuine Alternativen im Hinblick auf die politische Gestaltung des nationalen Schicksals«, S. 408. Seine Erwä­ gungen münden gleichwohl – oder deswegen? – in die außerordentlich ernste Dia­ gnose des parlamentarischen Regierungssystems: »Die parlamentarische Opposition gegenüber dem Inhaber der Herrschergewalt ist also der letzte uns verbliebenen Wächter der Freiheit«, S. 409. Gegen die an der unmittelbaren Nachkriegspolitik der 50er Jahre orientierte Beschwörung von ›genuinen Alternativen im Hinblick auf die politische Gestaltung des nationalen Schicksals‹ gab Willy Brandt auf dem Parteitag der SPD in Hannover im November 1960 ein nüchternes Normalitäts-Kriterium für die Beurteilung der Politik in einem von Parteien geprägten parlamentarischen Regie­ 241

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unter Beweis stellen, daß es die massenhafte Gesetzestreue der seinen gesetzförmigen Agenden ausgesetzten Bürger verdient.243 Es gehört zur Verborgenheit der Form des politischen Urteils, also seiner praktisch-politischen Wahrheitsbedingungen (vgl. Kapitel I) und seiner kognitiven Voraussetzungen (vgl. Kapitel II), daß sie in diesem Schutz der evidenten faktischen Legitimität eines Regierungs­ systems eines ausdrücklichen und öffentlich zur Sprache gebrachten Problembewußtseins gar nicht bedürfen. Zwar tauchen diese Wahr­ heitsbedingungen und diese kognitiven Voraussetzungen im öffent­ lichen Sprachgebrauch immer wieder einmal in erratischen Formen auf. Doch eine konzentrierte thematische Aufmerksamkeit auf sie als solche und in ihrem strikten Zusammenhang wird ihnen kaum jemals gewidmet. Das liegt in parlamentarischen Regierungssystemen mit verfassungsrechtlich verbürgter freier Presse und einem ebensolchen Recht auf freie Meinungsäußerung an deren faktischer LegitimitätsEvidenz. Die paradigmatischen deutschen Beispiele einer ausschließ­ lich literarischen Legitimitätskrise zeigen etwas ganz anderes: Sie rungssystem zu bedenken: »In einer gesunden und sich fortentwickelnden Demokratie ist es nichts Ungewöhnliches, sondern dort ist es das Normale, daß die Parteien auf einer Reihe von Gebieten ähnliche, sogar inhaltsgleiche Forderungen vertreten. Die Frage der Prioritäten, der Rangordnung der zu lösenden Aufgaben, die Methoden und Akzente, das wird immer mehr zum Inhalt der Meinungsbildung«, zitiert bei Manfred Friedrich, Opposition ohne Alternative, in: Parlamentarismus, S. 425–440, hier: S. 425. 243 Hegel charakterisiert ein entsprechendes Legitimitäts-Kriterium schon in vorparlamentarischer Zeit als »das Zutrauen der Bürger zur Regierung«, G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, in: ders., Werke in zwanzig Bänden. 7, Frank­ furt/Main 1970, S. 463, § 295; sogar schon in seinen frühen, aus den Jahren 1799– 1801 stammenden ersten Entwürfen zu seiner zu Recht berühmten Schrift Die Ver­ fassung Deutschlands formuliert er das entsprechende Kriterium der Illegitimität als das, »[w]orüber die öffentliche Meinung heller oder dunkler durch Verlust des Zutrau­ ens entschieden hat«, Hegel, Verfassungsschrift, bes. S. 102–142; vgl. hierzu vom Verf., Hegels Theorie des praktischen Bewußtseins, Frankfurt/Main 1986, S.###. Gleichwohl bildet ein ›Zutrauen in die Regierung‹, für sich genommen, so lange keine ausreichende Form der Legitimität eines politischen Systems, wie die Regierung dem Parlament keine Rechenschaft schuldig ist, die zum ›Verlust des Zutrauens‹ führen könnte. Andreas Kilb, Wilhelm und seine Getreuen, FAZ vom 18. Januar 2021, S. 9, hat mit Blick auf das entsprechende politische System des am 18. Januar 1871 prokla­ mierten deutschen Kaiserreichs die treffliche Formel geprägt: »Die Abgeordneten repräsentieren das Volk, ohne es zu regieren. Der Monarch, seine Minister und die Fürsten regieren es, ohne es zu repräsentieren«. Die verheerend traditionsstiftende Verächtlichkeit, mit der der letzte deutsche Kaiser vom deutschen Reichstag gespro­ chen hat, ist geradezu sprichwörtlich geworden.

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IV. Kapitel: Die normativen Voraussetzungen politischer Urteilsbildung

bilden gerade umgekehrt ein umso eklatanteres Signal für eine systematische Blindheit der praktisch-politischen Urteilskraft. Nur allzu offensichtlich befangen im Medium einer sozial-ideologischen Selbstgenügsamkeit und provoziert durch den irreführenden Über­ legenheits-Komplex einer überschießenden Reflexionslust, verwech­ seln sie die Struktur des spezifisch gesellschaftlichen »System[s] der Bedürfnisse«244 mit der genuinen, gemeinwohl-bedürftigen Struktur politischer Gemeinwesen. Nicht nur eine fehlende oder mangelhafte Legitimität, auch eine irrige Illegitimitäts-Diagnose bzw. ein fehlen­ des Legitimitäts-Bewußtsein kann dazu führen, daß die Politische Philosophie wachgerufen wird, ihre klassischen, seit Platon, Aristote­ les und Xenophon tradierten Aspekte der Legitimität in einer neuen Situation politischen Denkens und Urteilens erneut fruchtbar zu machen. Während der vergangenen mehr als hundert Jahre hat die Philosophie viel über die besondere Wichtigkeit der Mikro-Analysen von Urteilen, Sätzen, Behauptungen und anderen Typen sprachlicher Gebilde gelernt. Es wäre daher ein gravierendes Versäumnis, das auf diesem Weg Gelernte nicht auch für eine sorgfältige Revision des Schlüssels fruchtbar zu machen, ohne den niemals irgendjemand eine politische Agende oder Option gewinnen könnte – für eine Revision der Form und der Funktionen des politischen Urteils.

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Hegel, Grundlinien, §§ 189–208.

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V. Die bürgerschaftlichen Voraussetzungen politischer Urteile

Nachdem es fraglich geworden ist, ob es die vom achtzehnten bis ins frühe zwanzigste Jahrhundert gewachsene bürgerliche Gesellschaft überhaupt noch in größerem Maß als in erratischen und unrepräsen­ tativen Schwundformen gibt, empfiehlt es sich für eine Untersuchung wie diese, von den bürgerschaftlichen Voraussetzungen politischer Urteile zu sprechen. Der Status des Bürgers begann schon im acht­ zehnten Jahrhundert zum Problem zu werden. Unter dem Titel des bourgeois charakterisiert Rousseau ihn im scharfen Gegensatz zum citoyen als dessen psychische Verfallsform: »Der in der bürgerschaft­ lichen Ordnung den Primat seiner Empfindungen bewahren will, nicht weiß, was er will; immer im Konflikt mit sich selbst, immer schwankend zwischen seinen Neigungen und seinen Pflichten, wird er niemals Mensch oder citoyen sein – ein Bourgeois«.245 Der bourgeois verkennt im Gegensatz zum citoyen gründlich, daß er ein integrales Mitglied einer republikanischen bürgerschaftlichen Ordnung (ordre civil) ist, wie sie Rousseau in seinem Traktat Du contrat social konzi­ piert. Er identifiziert sich mit einem solchen Mitglied und bekennt sich zu einer seiner bürgerschaftlichen Pflichten: »Einen wie auch immer schwachen Einfluß meine Stimme in den öffentlichen Angele­ genheiten haben mag, so reicht mein Recht, darin meine Stimme zu

245 »[...] qui dans l’ordre civil veut conserver la primauté des sentiments de la nature, ne sait ce qu’il veut. Toujours en contradiction avec lui-même, toujours flotant entre ses penchans et ses devoirs il ne sera jamais ni homme ni citoyen; [...] un Bourgeois«, Jean-Jacques Rousseau, Émile ou de l’éducation, in: ders., ?uvres complètes IV, Paris 1969, S. 249–50; in ähnlicher, wenn auch nicht in so herabsetzender Form charakte­ risiert auch der enthusiastische Rousseau-Leser Hegel den Typus des individuellen Bürgers, »der als bourgeois […] sich verhält« und »die politische Nullität« ist, weil »die Mitglieder dieses Standes Privatleute sind«, die »den Ersatz [für die freie Sitt­ lichkeit] in den Früchten des Friedens und des Erwerbes in der vollkommenen Sicher­ heit des Genusses derselben finde[n]«, Hegel, Naturrecht, S. 494.

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V. Die bürgerschaftlichen Voraussetzungen politischer Urteile

geben, um mir die Pflicht aufzuerlegen, mich zu unterrichten«246 – nämlich darüber, wie es um die die Bürger (citoyens und bourgeois) gemeinsam betreffenden öffentlichen Angelegenheiten steht. Denn wie er in einem kurz zuvor veröffentlichen Extrakt dieses Traktats schreibt, kommt es für Bürger solcher politischer Ordnungen im Licht dieser Selbstunterrichtung vor allem darauf an, »gesund über die Regierungen zu urteilen«247 bzw. »über die relative Gutheit der Regierungen«.248 Denn »unterschiedliche Regierungen können zu unterschiedlichen Zeiten gut für dasselbe Volk sein«.249 Sofern solche wohlunterrichteten Beurteilungen durch die citoyens gelingen, sind sie auf die zentrale sowohl kognitive wie praktisch-politische Tugend zurückzuführen, die Aristoteles als φρόνησις charakterisiert,250 und die lateinische, vor allem auf Ciceros De re publica zurückgehende Tra­ dition als prudentia – auf »die menschliche Klugheit«.251 Sogar schon in seiner frühesten Publikation lenkt Rousseau die Aufmerksamkeit auf die so überaus wichtige Klugheit des citoyen: Die irritierende Führungsrolle, die Diderots und d‘Alemberts Encyclopédie den Natur­ wissenschaftlern für die Bemühungen um Aufklärung zuschreibt, provozieren Rousseau zu einer antizipatorischen Karikatur: »Wir haben Physiker, Geometer, Chemiker, Astronomen, wir haben keine citoyens mehr«.252 Mit derselben polemischen Zuspitzung diagnos­ tiziert er daher auch schon den wichtigsten kognitiven Bedarf der Bürger: Wir citoyens »[brauchen] Lehrer der Klugheit [...]«.253

»[...] quelque faible influence que puisse avoir ma voix dans les affaires publiques, le droit d’y voter suffit pour m’imposer le devoir de m’instruire«, Rousseau, Du contrat social, S. 351. 247 Rousseau, Émile, S. 836. 248 S. 851. 249 Du contrat, S. 351. 250 Vgl. Aristoteles, Politik, 1260 a 17––20; vgl. hierzu auch Eckart Schütrumpf, Aristoteles, Politik Buch I. Einleitung, Übersetzung und Kommentar, Berlin/Darm­ stadt 1991 (Aristoteles: Werke in deutscher Übersetzung, Bd. 9, Politik, Teil I), S. 102ff.; ebenso Wolfgang Kullmann, Man as Political Animal in Aristotle, in: A Companion to Aristotle‘s Politics (Hrsg. D. Keyt, F.D. Miller, jr.), Cambridge/Mass., Oxford 1990, 94–117, bes. S. 108–14. 251 »la prudence humaine«, Du contrat, S. 384. 252 »Nous avons des Physiciens, des Géometres, des Chymistes, des Astronomes [...]; nous n’avons plus de citoyens«, Jean-Jacques Rousseau, Discours sur les sciences, in: ders., ?uvres complètes, Bd. III, Paris 1964, S. 26. 253 »des Maîtres de [...] prudence«, S. 24**. 246

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Noch vor der großen, zunächst sozial-politisch motivierten Revolution des Jahres 1789 erörtert Rousseau auf dieser zehn Jahre lang verfolgten Linie in einzigartig hellsichtiger Form eine revolutio­ näre Fassung der kognitiven Voraussetzungen des politischen Urteils des citoyen.254 Dieselben Zusammenhänge hat mit scharfem Blick auf die gegenwärtigen Zusammenhänge – und mit Tiefblick – Wilhelm Hennis behandelt. Er gibt zu bedenken, daß der Bürger moderner Gemeinwesen »[...] mindestens so viel Wissen von den Zusammen­ hängen politischen Lebens besitzen [muß], daß er diese Welt nicht als eine fremde, seiner Einsicht entzogene betrachtet«255. Nur mit ihrer Hilfe und mit Hilfe der »›cogniti­ ven‹ Freiheit«256 der praktisch-phronetischen257 Tugend seiner Urteils­ kraft kann der Bürger moderner parlamentarisch regierter Gemein­ wesen den komplexer werdenden öffentlichen Angelegenheiten gewachsen sein. Mit dieser Konzeption einer gegen die Entfremdung der politischen Wirklichkeit möglichst resistenten ›cognitiven Frei­ heit‹ des Bürgers zugunsten seiner politischen Urteilsbildung zeigt sich Hennis bereits 1957 der diffusen sozialwissenschaftlichen Kon­ zeption der ›emanzipatorischen‹ Funktion überlegen, die Habermas zehn Jahre später unter den Vorzeichen der Sozialwissenschaften reklamieren wird.258 Es ist selbstverständlich immer noch eine offene Frage, in welchem Maß oder Grad ein Bürger über diese kognitive Freiheit der praktisch-politischen Klugheit der Urteilskraft verfügen kann. Doch wenn man – wie es implizit auch Hennis tut – unter Aspekten der Praktischen Philosophie nach den Bedingungen der Möglichkeit der politischen Urteilsbildung von Bürgern moderner parlamentarisch regierter Gemeinwesen fragt, dann wird man diese nicht mit den realen sozialen Chancen verwechseln, für seine prak­ tisch-politische Urteilskraft ein gutes Maß entsprechender Klugheit zu entwickeln. Es ist unter diesen Aspekten daher auch gleichgültig, in welcher sozialen Rolle ein beliebiger Bürger ein Urteil über das Vgl. hierzu die umfassenden Rousseau-Interpretationen und -Analysen des Ver­ fassers, Bedingungen, S. 213–523. 255 Wilhelm Hennis, Das Modell des Bürgers (11957), wieder abgedr., in: Politik, S. 201–12, hier: S. S. 209. 256 S. 210. 257 Vgl. Wilhelm Hennis, Eine Replik auf Jürgen Habermas, in: Legitimität. Zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft (11976), wieder abgedr. in: ders., Politikwis­ senschaft und politisches Denken, Tübingen 2000, S. 289–96, hier S. 293. 258 Vgl. Jürgen Habermas, Zur Logik der Sozialwissenschaften, in: Philosophische Rundschau, Sonderheft (Beiheft 5) Februar 1967, bes. S. 192–95. 254

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Format irgendeiner beliebigen politischen Agende oder über irgendei­ nen politischen Amtsinhaber oder über irgendeine politische Instanz trifft. Entscheidend ist, wie es gelingen kann, der extrem schwierigen bildungspolitischen Aufgabe gerecht zu werden, die darauf zielt, jedem Menschen gerade innerhalb des sozialen Horizonts, in dem er aufwächst bzw. lebt, zu einem guten Maß an kognitiver Freiheit seiner praktisch-politischen Urteilskraft bzw. Klugheit zu verhelfen. Angesichts der Schlüsselrolle, die für jede amtliche Politik die Verpflichtung zur Orientierung am Gemeinwohl spielt, liegt es auf der Hand, daß diese Verpflichtung für die Bürger jedes beliebigen Gemeinwesens das Maß ihrer politischen Urteile über die Praxis ihres Regierungssystems bilden sollte. Doch es liegt ebenso auf der Hand, daß die Grade, mit denen sich die praktisch-politische Urteils­ kraft im gesellschaftlichen ›System der Bedürfnisse‹ (Hegel) eines Gemeinwesens bei dessen Bürger zugunsten politischer Klugheit entwickelt, in unüberschaubarem Maß zwischen einem wahrschein­ lichen Minimum und dem unwahrscheinlichen Maximum differie­ ren. Am realistischsten wird es sein, damit zu rechnen, daß im Durchschnitt aller politischen Urteile von Bürgern die Abwägung maßgeblich ist, die sich vor allem an individuellen und milieuspezi­ fischen sozial-ökonomischen Vor- und Nachteilen ihres alltäglichen Lebens orientiert, die der bisherigen und der bevorstehenden Politik der amtierenden Regierung zugeschrieben werden – sowohl auf nationaler wie auf föderaler und auf kommunaler Ebene. Sieht man einmal von den legislaturperiodischen Gelegenheiten ab, bei denen die Bürger diese Abwägungen ihrer legitimen Interessen in die Waag­ schale allgemeiner Wahlen werfen können, dann ist die politisch wirkungsvollste Wahrnehmung dieser Interessen immer noch bei den vielbescholtenen Interessenverbänden aufgehoben.259 Die verbreitete Geringschätzung der Interessenverbände geht Hand in Hand mit der aus der US-amerikanischen Situation importierten Legende, daß es Aufgabe der Abgeordneten in den Fraktionen des Parlaments sei, die Interessen ihrer heimischen Wähler zu ›repräsentieren‹. Doch »[d]as 259 Die wirklichen bzw. vermeintlichen Gefährdungen der staatlichen Autonomie durch die sozial-ökonomischen Aktivitäten der großen Interessenverbände werden vor allem in der soziologischen Tradition diagnostiziert, die mit Blick auf die spezifisch US-amerikanischen Verhältnisse das Buch von C. Wright Mills, The Power Elite, New York 1956, gestiftet hat. Die entsprechenden jüngeren Diagnosen erörtert sorgfältig und mit wohldurchdachter Kritik Kielmannsegg, Organisierte Interessen, in: (Hennis et al., Hg.), Regierbarkeit 2, S. 139–176.

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besorgen«, wie Hennis es mit seiner realistischen Urteilskraft und mit wegwerfender Lakonie formuliert, in Deutschland »die Verbände viel besser«.260 Die Wahrnehmung dieser Interessen durch diese Ver­ bände ist deswegen so wirkungsvoll, weil »[...] die auf demokratische Konsensgewinnung verwiesenen staatlichen Entscheidungsorgane darauf angewiesen [sind], diese Verbände und die von ihnen vertre­ tenen Interessen als politisch relevante Einflußfaktoren zu berück­ sichtigen. Sie müssen ihre vermutliche oder wirkliche Reaktion auf geplante politische Entscheidungen einkalkulieren und sich ungeach­ tet der eigenen Entscheidungszuständigkeit um eine Kooperation mit ihnen bemühen. Dies gehört seit Jahren zur politischen Wirklichkeit nicht nur der Bundesrepublik, sondern auch darüber hinaus«.261 Die Mediatisierung der sozial-ökonomischen Interessen der individuellen Mitglieder einer modernen Gesellschaft durch diese Organisationen bildet die wichtigste Form »politischer Willensbildung« im »Prozeß politischer Meinungsbildung und Einflußnahme aus der Gesellschaft heraus auf die staatlichen Entscheidungsorgane«.262 Wenn man die bürgerschaftlichen Voraussetzungen politischer Urteilsbildung zu klären sucht, muß man offensichtlich eine ans Dif­ fuse grenzende, aber personal-identische Verflechtung des rechtlichen und des politischen Status des Bürgers (citoyen) eines Gemeinwe­ sens bzw. Staates und der unzähligen Inhaber sozial-ökonomischer Positionen und Rollen in einer Gesellschaft berücksichtigen. Wie wichtig es ist, diese ans Diffuse grenzende Verflechtung sorgfältig zu berücksichtigen, zeigt Böckenförde mit der angemessen subtilen Bemerkung, »daß über die notwendige Unterscheidung von Staat und Gesellschaft hinaus auch wieder eine bereichsweise Trennung von Staat und Gesellschaft stattfindet«263 – also nicht nur die notwendige begriffliche Unterscheidung zwischen den spezifischen Merkmalen der beiden Formen ihrer Autonomie, sondern auch die reale Trennung zwi­ schen den spezifischen Methoden, Techniken und Bewährungsfeldern der unmittelbaren Ausübung ihrer Autonomie-Formen. Die Bürger (citoyens) sind als solche der Sorge der politischen Amtsinhaber um Hennis, Große Koalition, S. 25. Böckenförde, Verbände und Interessenträger, S. 228. – Die eher prognostischeb Mahnung von Hans Paul Bahrdt, Wege zur Soziologie, München 1966, daß »die Staatsmacht durch Verbands- und Industrie-feudalistische Tendenzen unterwandert ist«, S. 216, ist nichtsdestoweniger gerade gegenwärtig nicht weniger ernstzunehmen. 262 S. 22810., Hervorhebungen R. E. 263 S. 238, Hervorhebungen R. E. 260

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das Gemeinwohl anvertraut, während die Interessen der individuel­ len Inhaber der sozial-ökonomischen Positionen und Rollen einer Gesellschaft in den Aktivitäten der Interessenverbände aufgehoben sind. Die Diffusitäten zwischen beiden ergeben sich nicht zuletzt auch daraus, daß die Bürger (citoyens) in Personalunion identisch mit Inhabern dieser Positionen und Rollen sind. Wie es vor allem die embryonen-ethischen Debatten der vergangenen Jahrzehnte ins öffentliche Bewußtsein gehoben haben, sind sogar die prä-natalen Menschenwesen Inhaber sozialer Positionen und Rollen, in denen sie nicht nur der Fürsorge und Vorsorge ihrer Eltern, sondern auch der Sorge familien-externer, öffentlicher Instanzen und Einrichtun­ gen anvertraut sind. Sie werden sogar, sofern es schon in dieser Lebensphase z.  B. um ihre Erbrechte geht, als zukünftige Bürger (citoyens) behandelt, die von diesen Rechten dereinst sollen Gebrauch machen können. Ungeachtet des medialen, inzwischen vor allem elektronisch expandierenden Wildwuchses bleiben die Bürger (citoyens) zugunsten ihrer politischen Urteilsbildung auf externe Unterrichtung angewie­ sen. In einem der letzten und bedeutendsten politischen Klassiker, den Federalist Papers, wird zu dieser Angewiesenheit der Bürger auf mediale Unterrichtung über die öffentlichen Angelegenheit gefragt: Aber »[...] how must these men obtain their information? Evidently from the complexion of public measures, from the public prints, from correspondences with their representatives, and with other persons who reside at the place of their deliberations. [...] The public papers will be expeditious messengers of intelligence to the most remote inhabitants«.264 In Zeiten einer vergleichsweise verläßlichen medialen Übersichtlichkeit war diese Antwort auf die Frage nach den Quellen der politischen Unterrichtung der Bürger von berechtigter Zuversichtlichkeit gestimmt. In derselben geschichtlichen Situation konnte Kant 1784 seine weltberühmte Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?265 veröffentlichen, ihre Erörterungen 1793 teilweise fortsetzen und vor allem die später so apostrophierte Meinungsfrei­ heit pointiert noch als die »Freiheit der Feder«266 charakterisieren. 264 Alexander Hamilton, in: Alexander Hamilton / John Jay / James Madison, The Federalist Papers (1787–88), New York / Toronto 1961, No. 84, S. 516f. 265 Vgl. Ak. VIII, S. 32–42. 266 Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sei, taugt aber nicht für die Praxis, Ak. VIII, S. 273- 324, hier: S. 304, Kants Hervorhebungen.

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Von ihr Gebrauch zu machen – und zwar »in den Schranken der Hochachtung und Liebe für die Verfassung, worin man lebt, durch die liberale Denkungsart«267 –, bildet »das einzige Palladium der Volksrechte«,268 in Kants Sprachgebrauch also das einzige Unterpfand der Volksrechte eines jeden Bürgers (citoyen). Es geht beim Gebrauch dieses Palladiums um »das Unrecht […], welches ihm seiner Meinung nach widerfährt« und zwar wegen »gewisser Folgen aus Gesetzen der obersten Macht«. In solchen Fällen »muß dem Staatsbürger und zwar mit Vergünstigung des Oberherrn selbst die Befugnis zustehen, seine Meinung über das, was von den Verfügungen desselben ihm ein Unrecht gegen das gemeine Wesen zu sein scheint, öffentlich bekannt zu machen«.269 Sowohl die Sprache Kants wie die strikte Einschränkung öffent­ licher Meinungsäußerungen auf die ›Freiheit der Feder‹ und ihre namentlich-schriftliche Dokumentation stammen aus einer rechtspolitischen Welt, die vor allem mit den aktuellen massenhaften anonymen Gebrauchsformen der Meinungsfreiheit in den sog. sozia­ len Medien und auf Kundgebungen buchstäblich nichts mehr gemein­ sam hat. Insbesondere die strikte rechtliche Möglichkeit, den nament­ lichen Gebrauch der Freiheit der Feder in jedem konkreten Einzelfall individuell zurechenbar und nötigenfalls dafür sogar haftbar zu machen, macht den gravierenden Unterschied aus. Doch auch die zuversichtliche Auffassung, die die Federalist Papers in Zeiten von vergleichsweiser medialer Übersichtlichkeit mit den Quellen der Unterrichtung der Bürger noch haben konnten, ist längst abgründig unterhöhlt. In der Gegenwart lassen sich diese Quellen nur noch notdürftig mit Hilfe von groben typologischen Kontrast-Charakte­ risierungen überblicken. Ihr Spektrum beginnt bei Zeitungen, die wissenschaftlich ausgebildete und mit erprobter politischer Urteils­ kraft tätige Journalisten innerhalb eines weitgespannten und dicht gewebten Netzes von international tätigen Kollegen beschäftigen und die politische Bildung ihrer Leser durch aufschlußreiche Informatio­ nen und urteilskräftig kommentierende Orientierungshilfen fördern. Am anderen Ende des Spektrums finden sich die früher gerne so charakterisierten ›Revolverblätter‹. Ihre Journalisten sind zwar nicht selten ebenfalls wissenschaftlich ausgebildet und verfügen über eine 267 268 269

Ebd. Ebd. Ebd.

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erprobte politische Urteilskraft. Doch mit rhetorischem Geschick und unverkennbarem ökonomischem Gewinnstreben mißbrauchen sie diese Potentiale tendenziell, um die Gemüter ihrer Leser durch verstümmelte und polemisch frisierte Informationen sowie durch tendenziöse Desorientierungsrhetoriken in sterile Aufregung zu ver­ setzen und deren vorurteilsschwangere ›Bauchgefühle‹ zu bedienen. Zwischen diesen beiden Extremen öffnet sich das vielfältige Spektrum der nationalen, regionalen und lokalen Presse-Organe. Ein ähnlich extrem gespanntes Spektrum bilden inzwischen die Fernsehsender und ihre Nachrichten- und Kommentar-Programme. Vor allem die sich vervielfältigenden privat-ökonomisch finanzierten und daher auch auf ökonomische Gewinne zielenden Privat-Sender dienen primär populärsten Unterhaltungs- und Selbstbespiegelungs­ bedürfnissen, aber nicht einer informationellen, auf die politische Urteilsbildung ihrer Zuschauer und Zuhörer zielenden Unterrich­ tung. Eine geradezu abgründige Dimension, in der Bürger (citoyens?) die diffusen Formen ihrer Urteilsbildung füreinander zur Schau stel­ len, bilden im rasant wachsenden elektronischen Medium schon länger die unzähligen Plattformen, Foren, chat-rooms u. ä. Sie ähneln mehr und mehr einer globalen, von Halb-, Viertel- bzw. Unbildung durchdrungenen privatistischen Vorurteils- und Gerüchteküche und bilden tendenziell – trotz ihrer die Öffentlichkeit imitierenden allge­ meinen Zugänglichkeit – eine sich selbst verwahrlosende Unterwelt der Öffentlichkeit. Den pseudo-politischen Tiefpunkt dieser Unter­ welt bilden die wuchernden Verschwörungsphantasien, die sogar von an sich ernstzunehmenden Kommentatoren allen Ernstes als Verschwörungs-Theorien apostrophiert werden. Diese irregeleitete Apostrophierung aus der ›Freiheit der Feder‹ von an sich ernstzuneh­ menden Autoren weckt die beunruhigende Frage, wie und wo Bürger (citoyens) mit Blick auf ihre politische Urteilsbildung heutzutage zuverlässig lernen können, zwischen pseudo-politischen Phantasie­ produkten und ernstzunehmenden Politischen Theorien sowie wohl­ begründeten, vor allem auch tatsachen-basierten politischen Urteilen zu unterscheiden. Jedenfalls führt der immer entstellendere mediale Zerrspiegel der wirklichen politischen Praxis dazu, daß die Politik nicht nur gegen die Feinde, sondern sogar gegen schwer zu korrigie­

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rende Zerrbilder im Bewußtsein von Freunden des parlamentarischen Regierungssystem verteidigt werden muß.270 Unter solchen Umständen bildet die Öffentlichkeit nicht einfach eine Dimension nur allzu offenkundiger Unübersichtlichkeit.271 Sie bildet eine Dimension ungehegter, tendenziell verwahrloster Formen der Freiheit von Meinungsäußerungen. In welchem Maß solche For­ men der Ungehegtheit auch schon die Meinungsäußerungen auf der klassischen Agora Athens und dem nicht weniger klassischen Forum Roms geprägt haben, darf hier offen bleiben. Die literarische Beglei­ tung, die Platon Sokrates‘ Schicksal in der Apologie, dem Kriton und dem Phaidon widmet, bilden ein klassisches Denkmal und Mahnmal für die Verfallsformen, die öffentliche Meinungsäußerungen sogar in Situationen annehmen können, in denen es buchstäblich um Leben und Tod geht. Doch eine maßvolle Portion sozial-anthropologischen und sozial-psychologischen Realismus‘ reicht aus, um verläßlich ver­ muten zu können, daß solche ungehegten Formen einen ständigen Begleiter im öffentlichen Leben jedes Volks bilden. Unter solchen Umständen ist es gegenwärtig grundsätzlich pro­ blematisch geworden, allgemeine Einschätzungen der realen Chan­ cen zu formulieren, die der politischen Urteilsbildung der Bürger eines Gemeinwesens mit Hilfe der Unterrichtung durch die öffent­ lichen Medien eröffnet werden. Das grundsätzlich Problematische einer solchen Einschätzung scheint sogar einen paradoxen Kern zu haben: Die realen Chancen des einzelnen Bürgers, für seine politische Urteilsbildung solche Quellen für eine angemessene Förderung zu finden, scheint bereits einen Reifegrad seiner politischen Urteilskraft vorauszusetzen, wie er ihn auf solchen Wegen erst zu erreichen 270 Vgl. hierzu die eindringliche Darstellung von Otto B. Roegele, Massenmedien und Regierbarkeit, in: Regierbarkeit. Band 2, S. 177- 210, und zuletzt vor allem Peter Graf Kielmannsegg, Warum die Politik verteidigt werden muß, in: FAZ vom 2. 8. 2018; sein Artikel erörtert sorgfältig die modisch gewordene Populismus-Schelte; er hat besonders den Vorzug, daß er die mentalen Verflechtungen und Überschneidungen zwischen den gemeinsamen politischen Interessen der Bürger (citoyens) des Gemein­ wesens und den mit ihnen personal-identischen Trägern der divergierenden sozialökonomischen, milieu-spezifischen Bedürfnisse, sozialen Rollen und Positionen (Rousseaus bourgeois) subtil in Rechnung stellt. 271 Vgl. Jürgen Habermas, Die neue Unübersichtlichkeit. Kleine Politische Schriften V, Frankfurt am Main 1985; immerhin gibt Habermas mit diesem Titel (unfreiwillig?) zu verstehen, daß es sich bei dem von ihm früher so apostrophierten Strukturwandel der Öffentlichkeit in Wahrheit um den Funktionswandel der medialen Öffentlichkeit gehandelt hat.

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suchen kann. Angesichts dieser Situation fällt traditionellerweise zu Recht den persönlichen Vorbildern eine Schlüsselrolle zu, die die Heranwachsenden in der Familie, in der Schule und in ihrem spezifischen Lebensmilieu finden. Medienvertreter, denen die für die bürgerschaftliche politi­ sche Urteilsbildung paradoxe Situation der medialen Öffentlichkeit bewußt zu sein scheint, haben in Deutschland daher nach einer Möglichkeit gesucht, in dieser Situation mit gleichwohl medialen Mitteln gegenzusteuern. In einem u.  a. für solche Anlässe geöffneten Fernsehsender wird z.  B. die jährliche mehrtägige Haushaltsdebatten des Plenums des Parlaments für die Öffentlichkeit übertragen. Einige besonders interessierte Bürger verfolgen die Reden und Wortwech­ sel, durch die sich die verantwortlichen Inhaber der zuständigen Regierungsämter sowie Angehörige der Regierungsfraktionen und solche der Oppositionsfraktionen mit dem von der Regierung ein­ gebrachten Entwurf des Haushaltsgesetzes auseinandersetzen. Die Stellungnahmen der diversen Redner dienen – entsprechend ihren diversen Ämtern und Stellungen in Regierung und Parlament – ausschließlich der öffentlichen, dem Publikum der Bürger medial zugänglichen Verteidigung bzw. Kritik des eingebrachten Entwurfs. Insbesondere die Auseinandersetzung mit dem Haushaltsentwurf für das Amt des Regierungschefs wird traditionell zur Gelegenheit für eine generelle Auseinandersetzung: Einerseits für eine Abrechnung der Opposition mit der gesamten Regierungspolitik – also ihren auf den Gesetzgebungsweg gebrachten Agenden, ihren öffentlichen Reden, Artikeln und Interviews – der vorangegangenen Legislaturpe­ riode und andererseits für eine Rechtfertigung der von der Regierung praktizierten Politik und ihrer Richtlinien durch die zuständigen Regierungsmitglieder sowie durch Abgeordnete der sie tragenden parlamentarischen Mehrheit. Im Laufe einer Legislaturperiode ergibt sich regelmäßig nur noch eine einzige andere Gelegenheit, bei der sogar noch größere Teile des Publikums dem wichtigsten parlamen­ tarischen Akt wenigstens in medial vermittelter Form beiwohnen – wenn die jeweils neu gewählten Abgeordneten aus ihrer Mitte den Regierungschef der bevorstehenden Legislaturperiode bestimmen. Mit diesen beiden parlamentarischen Akten sind auch die beiden wichtigsten regelmäßigen politischen Zäsuren in der legislaturperio­ dischen Interaktion der Regierung und des sie zur Rede stellenden Parlaments markiert, an denen größere Teile des interessierten Publi­ kums eines modernen politischen Gemeinwesens wenigstens in einer

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medial vermittelten Form sehenden Auges und hörenden Ohres teilnehmen können. Im Rahmen dieser medialen öffentlichen Wahr­ nehmung des politischen Geschehens bleibt indessen ein immenser und nahezu hyperkomplexer Teil der eigentlichen politischen Praxis gänzlich ausgeblendet. Das beginnt beispielsweise schon mit dem Wortlaut des mehr als tausendseitigen Entwurfs des Haushaltsge­ setzes, der für diese mediale Form öffentlicher Wahrnehmung – abgesehen von einigen gelegentlichen Zitaten durch die Redner – ausgeblendet bleibt. Ausgeblendet bleibt aber ebenso und vor allem der gesamte prozedurale Weg der Gesetzgebung von den regierungs­ amtlichen Gesetzesinitiativen und -vorlagen bis zur parlamentari­ schen Auseinandersetzung mit ihnen. Es ist indessen dieser Weg, auf dem der schließlich eingebrachte Gesetzentwurf im Kabinett, in Ämtern, Ausschüssen und anderen Gremien der Regierung sowie im Haushaltsausschuß des Parlaments und unter Beteiligung nichtamtlicher Fachkreise und von Interessenverbänden erarbeitet worden ist. Und auch nach der großen Haushaltsdebatte wird über diesen Entwurf noch einmal intensiv in diesen prozeduralen Formen weiter beraten, bevor ein endgültiger Entwurf in letzter parlamentarischer Lesung verabschiedet wird und mit dem Tag seiner Verkündung im Gesetzblatt in Kraft tritt. Es ist gleichgültig, ob es sich bei der sichtbaren und hörba­ ren Vermittlung aus dem institutionellen Zentrum eines modernen parlamentarischen Regierungssystems um diese beiden politischen Großereignisse handelt oder – wenigstens okkasionell – um das oder eine andere entsprechende, ebenfalls für fernseh-würdig gehaltene Ereignis: Die politische Authentizität der Beratschlagungen einer Volksversammlung auf der athenischen Agora oder auf dem römi­ schen Forum gehört unwiederbringlich einer fernen Vergangenheit an, die realistischerweise nicht einmal Nostalgie auslösen sollte. Vielleicht war Kant der letzte Philosoph ersten Ranges, der mit nüch­ terner begrifflicher Trennschärfe von Authentizität gesprochen hat. Er schreibt ausschließlich »den Erfordernissen eines unverwerflichen Zeugen [...]: Authentizität«272 zu. Wenig später gibt er erläuternd zu verstehen, daß wir allerdings bei weitem nicht – wie eben ein Zeuge – »alles selbst erfahren«.273 Der systemische Authentizitätsmangel, den repräsentativ organisierte Regierungsformen für die Bürger mit 272 273

Logik, Ak. IX, S. 72*. S. 78, Hervorhebung R. E.

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sich bringen, bildet gewiß nicht den wichtigsten Grund für die Schwie­ rigkeiten der politischen Urteilsbildung durch die Bürger. Wie die geschichtliche Erfahrung gezeigt hat, sind Volksversammlungen für das Risiko politischer Fehlurteile nicht weniger anfällig als die indivi­ duellen Bürger in repräsentativen Regierungssystemen. Fehlurteile gehören auf allen Feldern der menschlichen Praxis zu einem ständi­ gen kognitions-anthropologischen Verhängnis. Durch unablässige Kultivierung der praktischen Urteilskraft können diesem Verhängnis individuelle Fortschritte seiner Mäßigung abgerungen werden. Die rechtspolitische Geschichte des Westens hat in Gestalt des parlamen­ tarischen Regierungssystems sogar Institutionen hervorgebracht, die als Institutionen einen die Kultivierung der praktisch-politischen Urteilskraft hegende und begünstigende Rolle ausüben können. Vor allem durch die diversen auch verfassungsrechtlich normierten For­ men parteipolitischer Konkurrenz und Formen des Scheiterns politischer Instanzen durch Abstimmungen sind Formen der institutionalisierten Skepsis gegen individuelle und kollektive Anmaßungen von Unfehl­ barkeit der Urteilskraft geschaffen worden.274 274 In einer seiner frühesten Publikationen zur Politischen Philosophie gibt Wilhelm Hennis, Der Begriff der öffentlichen Meinung bei Rousseau, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie Vol. 43, Nr. 1 (1957), S. 111–115, die von Rousseau im Traktat Du contrat social behandelte Behörde der Censure als eine Institution zu bedenken, die mit Blick auf die tendenziell diffuse bzw. verworrene öffentliche Meinung eine kri­ tisch-skeptische Funktion ausüben soll. In dieser kritisch-skeptischen Funktion traut Hennis dieser Behörde zu, so etwas wie eine institutionalisierte Gestalt der Urteils­ kraft zu sein. Im Rückblick auf die tendenziell heillose Entwicklung der öffentlichen Meinung in den Zeiten der Weimarer Republik und des nationalsozialistischen Regimes ist es vielleicht nicht nur verständlich, sondern sogar berechtigt, die skep­ tisch-kritischen Funktionen einer solchen institutionalisierten Gestalt der Urteilskraft für die noch junge Bundesrepublik zu erwägen. Gleichwohl bildet eine solche insti­ tutionalisierte Gestalt der Urteilskraft einen Widerspruch mit sich selbst. Denn die Urteilskraft ist eine so radikal individual-persönliche kognitive Fähigkeit, daß sie einer Institutionalisierung grundsätzlich nicht fähig ist. Das übersieht Meier, Politische Philosophie, der sich in einer thematischen Passage, vgl. S. 216–217, vor allem auf die römische Tradition der Zensur-Behörde beruft. Daß es für die angemessene Wahr­ nehmung dieses Amts durch seine Träger auf das »Urteilsvermögen«, S. 216, ankommt, kann Meier trotzdem nicht übersehen. Auch die Weisheit (sa-gesse) des Législateur ist eine, wenngleich eminente Gestalt der Urteilskraft. Denn ihr obliegt es, das in-dividuelle Volk, dem der Legislateur trotz seiner Abgehobenheit vorsteht, auf seine individuelle Form derr Geset-zesbedürftigkeit in seiner individuellen Grün­ dungssitutation zu beurteilen. Dieser radikal individual-persönlichen kognitiven Fähigkeit widmet Rousseau in seinem Émile ou de l‘éducation – nicht zuletzt auch im Vorgriff auf die Rolle dieser Fähigkeit in allen grundlegenden Fragen der republika­

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Doch wie das Beispiel des größten westlichen parlamentarischen Regierungssystems der Gegenwart in seiner Präsidentschaft von 2016–2021 gezeigt hat, können gravierender werdende gesellschaft­ liche, sozial-ökonomische und bildungs-förmige Ungleichheiten dazu führen, daß solche mehr als zweihundert Jahre lang bewährten institutionellen und prozeduralen Hegungsformen der politischen Urteilskraft allmählich erodieren und schließlich – scheinbar wie über Nacht – an die Grenzen ihrer Belastbarkeit stoßen.275 Sogar solche traditionsreichen institutionellen und prozeduralen Formen der Skepsis gegen individuelle Anmaßungen von Unfehlbarkeit der politischen Urteilskraft sind unter solchen Umständen gegen popu­ listische Anfälligkeiten für demagogische Verführungen leider nur allzu offensichtlich nicht gefeit. Bürger (citoyens) erleben durch solche wachsenden gesellschaftlichen Ungleichheiten früher oder später und in mehr oder weniger großer Zahl, wie ihr sozialer Status ins Prekäre und sogar Proletarische oder Plebejische degeneriert. Im selben Maß degeneriert unter solchen Umständen – und zwar verständlicherweise durch entsprechend wuchernde anti-politische Affektpotentiale – ihre politische Urteilskraft. Selbstverständlich bleiben solche Bürger sowohl aus elementaren verfassungsrechtlichen wie aus spezifisch wahlrechtlichen Gründen citoyens. Doch gleichzeitig prägen sie einen a-politischen Typus, der der von Rousseau konzipierten psychologi­ schen Verfallsform des bourgeois (vgl. oben S. 97f.) nahe kommt – wiewohl die sozialen und die rechtspolitischen Rahmenbedingungen, die Rousseau mit Blick auf diesen Typus in der Mitte des 18. Jahrhun­ derts vor Augen stehen konnten, himmelweit von denen in westlichen Demokratien der Gegenwart verschieden sind. Doch es entspricht dem überraschenden Auftauchen dieses Typus in einem scheinbar so heilen parlamentarischen Regierungssystem der Gegenwart, daß er mit Hilfe von Attributen wie denen des Prekären, Proletarischen und Plebejischen nur indirekt und notdürftig eingekreist werden kann. Allerdings löst sich dieser Schein des Heilen in der Regel rasch auf, wenn man die Versäumnisse in Rechnung stellt, durch die die amtliche nischen Politik – eine einzigartig eindringliche und umfangreiche Erörterung; vgl. hierzu vom Verf., Die Aufklärung der Urteils-kraft, in: ders., Bedingungen, S. 369– 424. 275 Mit dem Untertitel Fragezeichen hinter einer alten Verfassungstradition seiner Abhandlung bringt Johnson, Unregierbarkeit, diesen Zusammenhang mit Blick auf das – wenngleich ganz anders gelagerte – Großbritannien der 70er und der 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts ebenfalls zur Sprache.

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Wirtschafts-, speziell die Industriepolitik, die Gesundheitspolitik, die Sozialpolitik und die Bildungspolitik die realen Lebenschancen solcher Bevölkerungsgruppen sträflich vernachlässigt haben. Ihre politische Urteilsbildung ist durch tiefe Enttäuschungen verständli­ cherweise entsprechend kraß verzerrt. Der Authentizitätsmangel, der für das politische Informations­ niveau der Bürger moderner parlamentarischer Regierungssysteme geradezu konstitutiv ist, führt zu dem zentralen Problem der bürger­ schaftlichen Urteilsbildung: Aus welchen Quellen können und sollten diese Bürger zuverlässige Informationen und Orientierungshilfen über die Grundzüge der praktischen Politik und über die legislaturperiodisch aktuelle Praxis der Politik ihres Gemeinwesens zu gewin­ nen suchen? Die generelle Antwort auf diese Frage leidet jedoch in einem beträchtlichen Maß unter dem angedeuteten Paradox. Denn die geglückte Wahl solcher Quellen setzt einen Reifegrad politischer Urteilskraft der Bürger voraus, wie er erst durch den jahrelangen Umgang mit solchen Quellen und ihren Informationen und Orientie­ rungshilfen erworben werden kann. Am beunruhigendsten an diesem Paradox ist daher die Aussicht, daß die Entwicklung der medialen Quellen zunehmend dahin tendiert, die Entwicklung der politischen Urteilskraft ihrer meisten Benutzer immer wieder von neuem auf einem stetig sinkenden Niveau zu stabilisieren. In einem wohlgeordneten modernen politischen Gemeinwesen mit der zeitgemäßen medialen Struktur gibt es in der Regel nur eine einzige bedeutsame politische Situation, in der die Bürger die Möglichkeit haben, zumindest in einer medial vermittelten Authen­ tizität Eindrücke vom Agieren der zentralen politischen Akteure zu gewinnen – die mehrtägigen im Fernsehen übertragenen jährlichen Haushaltsberatungen durch das Plenum des Parlaments. Hinreichend interessierte Bürger können die Reden und Wortwechsel verfolgen, durch die sich die verantwortlichen Inhaber der zuständigen Regie­ rungsämter sowie Angehörige der Regierungsfraktionen und solche der Oppositionsfraktionen mit dem von der Regierung eingebrachten Entwurf des Haushaltsgesetzes auseinandersetzen. Die Stellungnah­ men der diversen Redner dienen – entsprechend ihren diversen Ämtern und Stellungen in Regierung und Parlament – ausschließlich der öffentlichen, dem Publikum der Bürger direkt oder medial zugäng­ lichen Rechtfertigung bzw. Kritik des eingebrachten Entwurfs. Indessen darf sich der den Augen und den Ohren des Publikums ohnehin entzogene, geradezu inkommensurabel große Teil der all­

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täglichen politischen Praxis – die Beratungen im Kabinett, in den Verzweigungen der Ministerien, in den alltäglichen Beratungen des Parlaments und seiner Ausschüsse – in einem wohlgeordneten poli­ tischen Gemeinwesen mit hinreichend langer und stabiler Tradition auf ein hinreichend bewährtes und insofern relativ festes Grundver­ trauen und -zutrauen des Publikums verlassen – auf das Vertrauen und Zutrauen, daß die mit der politischen Praxis unmittelbar betrau­ ten Institutionen die klassische praktische Zentralorientierung am Gemeinwohl teilen, also Legitimität erworben haben. Die Sorge um das Gemeinwohl, also um das für alle Bürger eines Gemeinwesens gemeinsame Gute bildet von alters her die Aufgabe, durch deren Wahrnehmung sich die politische Praxis von allen anderen Formen der Praxis unterscheidet, in denen sich Menschen tagtäglich um ihr individuelles wie um ihr soziales Wohl sorgen müssen. Diese Aufgabe ist unabhängig davon aktuell, unter welchen verfassungsrechtlichen, administrativen, organisatorischen und sonstigen technischen Rah­ menbedingungen die Inhaber der zuständigen öffentlichen Ämter diese Aufgabe wahrnehmen. Sogar die in jüngerer Zeit vieldiskutierte Legitimität der politischen Praxis in Gemeinwesen mit parlamentari­ schem Regierungssystem und einer die private Kapitalmaximierung begünstigenden verfassungsrechtlichen Ordnung276 ist ausschließ­ lich davon abhängig, dass sich die zuständigen politischen Instanzen in humanen moralischen und rechtlichen Formen sowie in öffentlich allgemein erkennbarer Weise so um das bonum commune sorgen, dass die spontane Gesetzestreue und ganz allgemein die spontane Rechtstreue der Bürger in hinreichendem Maß gesichert ist. Umso beunruhigender ist es, wenn im fragwürdigen Schutz eines medial erblindeten Zutrauens und Vertrauens der Bürger Erosionen des parlamentarischen Regierungssystems einreißen, die zentrale parlamentarische Normen für die Kontrolle der Regierung deformie­ ren: Wenn ein parteipolitisches Angstkartell das mehr als hundertjäh­ rige Amt verunstaltet, das der Alterspräsident eines Parlaments mit seiner einmaligen Rede zur Eröffnung des noch regellosen neuen Par­ laments ausübt; wenn die Parteienfinanzierung von den Mehrheits­ fraktionen ohne Beteiligung einer Expertenkommission pauschal in erheblichem Maß und gegen die Stimmen der Opposition mit dem Ziel erhöht wird, empfindliche Stimmverluste der vergangenen Wahl Vgl., sowie die verfassungspolitisch und -geschichtlich orientierte Kritik durch Hennis, Legitimität.

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und dadurch drohende finanzielle Ausfälle auszugleichen, also sich gegen Stimmverluste zu immunisieren; wenn durch das jahrelange Verschleppen einer Wahlrechtsreform das Parlament mit jeder neuen Wahl so aufgebläht wird, daß seine bewährten Arbeitsmethoden leiden; und wenn schließlich die Regierungsfraktionen gegen den Widerstand der Oppositionsfraktionen das Recht des Parlaments beschneiden, Regierungsvertreter spontan Rede und Antwort stehen zu lassen.277 Gewiß hat die von Hegel diagnostizierte ›ungeheure Macht der bürgerlichen Gesellschaft‹ auch dazu geführt, daß sich die politische Kunst des Regierens zu einer immer schwieriger werdenden Kunst ausgewachsen hat. Doch das ändert auch unter den Bedingungen der modernen parlamentarischen Regierungssysteme nicht das geringste daran, daß es diese Kunst ist, die nach wie vor das Zentrum aller praktischen Politik bildet. Es ist allerdings kein Zufall, daß eine der bedeutendsten gegenwärtigen Studien zur Kunst des Regierens mit Bedacht die kognitiven Aufgaben des Staatsmanns und Politikers, das Erkennen dieser Aufgaben – und zwar in jeder neuen praktischen Situation von neuem – an der Spitze aller politischen Agenden stehen sieht.278

Zum Schluß Ein eigenes Schlußkapitel sollte ursprünglich die gesellschaftlichen Voraussetzungen politischer Urteilsbildung erörtern. Das Thema gehört traditionell zu den charakteristischen Aufgaben der Politischen Soziologie. Doch für eine zwischen Politischer Philosophie und Politi­ scher Wissenschaft angesiedelte Untersuchung mag ein grobmaschi­ ger Aufriß es rechtfertigen, die im Grunde mikro-soziologischen empirischen Untersuchungen der gesellschaftlichen Voraussetzungen politischer Urteilsbildung dieser wichtigen Zwitter-Disziplin zu über­ lassen. Ein frühes Schlüsselwerk auf diesem thematischen Feld bildet das Buch von Sigmund Neumann Die deutschen Parteien. Wesen und Vgl. hierzu den trefflichen Artikel von Christoph Schönberger, Machenschaften im Maschinenraum, in: FAZ vom 28. Februar 2019, S. 11. 278 Vgl. Hennis, Aufgaben, bes. Anhang, Grundzüge einer modernen Regierungs­ lehre, S. 100–104.

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Wandel nach dem Kriege.279 Vor allem zwei typologische Unterschei­ dungskomplexe sind bedeutsam geblieben: Zum einen die funktio­ nale Unterscheidung zwischen Volksparteien und Integrationspar­ teien und anderseits die politische Unterscheidung zwischen liberalen, konservativen und post-liberalen Parteien. Das Grundge­ setz der Bundesrepublik Deutschland hat den politischen Parteien indirekt sogar einen funktionalen Verfassungsrang verliehen, indem sein Art. 21 (1) ihnen die Aufgabe zuschreibt, zur »politischen Wil­ lensbildung des Volkes« (ebd.) beizutragen. Doch da Willensbildung Urteilsbildung voraussetzt – nämlich Bildung des Urteils vor allem über den praktischen Zweck des Gewollten280 – und da die Parteien für die organisatorische Mediatisierung beider Bildungsformen sor­ gen, sind sie es, die die gesellschaftlichen Voraussetzungen der poli­ tischen Urteilsbildung am zuverlässigsten repräsentieren. Politisch gewichtige Degenerationen des sozialen Status‘ von Bürgern eines Gemeinwesens mit parlamentarischem Regierungs­ system bilden in der kurzen westlichen Geschichte dieser Regierungs­ systeme glücklicherweise bis heute immer noch Ausnahmen. Die gewichtigste jüngere Ausnahme ist aus der fahrlässigen Vernachlässi­ gung der sozial-ökonomischen und der bildungsförmigen Lebensbe­ dingungen hervorgegangen, denen die US-amerikanische Regierung bis 2016 beträchtliche regionale Teile der Mittelschicht und der Unter­ schicht ausgesetzt hat281 – also ein klarer Fall der Vernachlässigung von Bedingungen des Gemeinwohls. Trotz ihrer relativen Seltenheit kommt solchen Ausnahmen eine paradigmatische, also aufschlußrei­ che exemplarische Rolle zu, wenn es um die spezifisch gesellschaft­ lichen Voraussetzungen politischer Urteilsbildung geht. Denn sie machen durch ihren Ausnahme-Charakter lediglich nachträglich, wenngleich in skeptisch stimmenden Formen darauf aufmerksam, was auch normalerweise der Fall ist – daß nämlich die politische Urteilsbildung der Bürger solcher Gemeinwesen regelmäßig direkt auch von ihrem sozialen Status abhängt. In diesem Normalfall zeigen Sigmund Neumann, Die deutschen Parteien. Wesen und Wandel nach dem Kriege, Berlin 1932. 280 Deswegen hat Hennis, Politik, zu Recht schon von Anfang an Die teleologische Orientierung der politischen Wissenschaft und den Unterschied zwischen Teleologischer Orientierung und empirischer Staatsbeschreibung betont, S. 56–88. 281 Vgl. hierzu die eindringlichen Untersuchungen durch die Soziologen bzw. den Amerikanisten Patrick Horst, Philipp Adorf und Frank Deppert (Hg.), Die USA – eine scheiternde Demokratie?, Frankfurt/Main 2018. 279

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sich die öffentlichen Konsequenzen dieser Urteilsbildung lediglich nicht in den beunruhigenden Formen wie in den Fällen, in denen Verluste des sozialen Status in gravierenden Maßen um sich greifen. Die im Anschluß an Parlamentswahlen regelmäßig empirisch erho­ benen proportionalen Größenordnungen der Wechselwähler bilden wichtige Indikatoren für Formen und Maße der spezifisch parteipoli­ tischen Unzufriedenheiten, die den politischen Urteilen der Wähler – ihren praktisch wichtigsten politischen Urteilen während einer Legis­ laturperiode – zugrunde liegen. Die zahlreichen und gravierenden sozialen Statusverluste, die die Wiedervereinigung für Bürger der ehemaligen DDR mit sich gebracht hat, bilden in Deutschland das jüngste, wenngleich atypische Muster dafür, wie auch die politische Urteilsbildung der Betroffenen in Mitleidenschaft gezogen werden kann. In derselben Zeitspanne sind sogar die ehemaligen Volkspar­ teien CDU und SPD in eine degenerative Tendenz ihrer traditionellen Größenordnung geraten. Doch trotz dieser gewichtigen, eher regio­ nal-spezifischen sozialen Status-Veränderungen in den Klientelen der traditionellen Volksparteien hat die Legitimität des deutschen Regierungssystems zu keinem Zeitpunkt in ernst zu nehmenden Formen und Maßen in Frage gestanden. Allerdings hatten parteipoli­ tische Egoismen schon während der Regierungszeit der ersten Großen Koalition verhindert, daß die im Koalitionsvertrag von 1966 verab­ redete Reform des Wahlrechts zugunsten des Mehrheitswahlrechts durchgesetzt werden konnte.282 Damit war verhindert worden, daß in einer stets zur gesellschafts-spezifischen Vervielfältigung tendieren­ den Parteienlandschaft ein Wahlmodus etabliert wurde, der – neben der 5%%-Hürde – auch in einer unübersichtlicher werdenden Par­ teienkonstellation die Legitimitätsbeschaffung für eine amtierende Regierung optimiert hätte. Der Normalfall ist ja gerade dadurch charakterisiert, daß eine hinreichend große Mehrheit der Bürger im Rahmen der Parlaments­ wahlen das Bewußtsein signalisiert, durch die Praxis der aktuell amtierenden Politik einen ausreichend großen Nutzen zugunsten ihrer alltäglichen Lebensbedingungen, also des Gemeinwohls davon­ zutragen – und damit objektiv zur Legitimität des Regierungssystems beizutragen. Doch dieser Normalfall läßt auch die mehr oder weniger großen Unterschiede verblassen, die gleichwohl stets zwischen den sozialen Haltungen, Einstellungen und Motiven bestehen, die die fak­ 282

Vgl. Hennis, Große Koalition.

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tische Zustimmung zur jeweils aktuell amtierenden Politik begünsti­ gen. Indessen bilden gerade diese sozialen Haltungen, Einstellungen und Motive das Medium, in dem die gesellschaftlichen Voraussetzun­ gen der politischen Urteilsbildung zu Hause sind. Berücksichtigt man den für die Klärung dieser Zusammenhänge wichtigen Unterschied zwischen subjektiven und objektiven Interessen,283 dann sind die subjektiven Interessen kollektiv in den diversen sozialen Milieus, Gruppen und Organisationen repräsentiert. Die objektiven Interessen einer Gesellschaft in einer Legislaturperiode herauszufinden – also die jeweils aktuellen Bedingungen ihres Gemeinwohls –, bildet die niemals optimal zu meisternde Aufgabe der amtlichen Politik in Regierung und Parlament. Das politisch relevante Urteil über die Art und den Grad des Gelingens bzw. Mißlingens dieser Aufgabe liegt in wohlgeordneten parlamentarisch regierten Gemeinwesen beim Votum der Wähler. Es war daher ein Glücksfall, daß das Buch von Ralf Dahren­ dorf Gesellschaft und Demokratie in Deutschland284 diesen Zusam­ menhängen mit Blick auf Deutschland schon 1965 eine der bislang bedeutendsten Untersuchungen gewidmet hat. Seine eindringlichen Rekurse auf empirische Untersuchungen der Verhaltensweisen und Einstellungen von Angehörigen repräsentativer sozialer Schichten, Gruppen, Milieus und Organisationen sowie seine souveränen Rekurse auf probate theoretische Erklärungsmuster und deren kon­ troverse Erörterung in der damaligen soziologischen community stempeln die Erörterungen seines Buchs zu einem methodischen Vorbild. Seine akademischen Anfänge auf einer Professur für Politi­ sche Soziologie an der Hamburger Akademie für Gemeinwirtschaft seit 1958 bildeten bereits prägende Vorzeichen für sein sieben Jahre später in der Politischen Soziologie einschlägiges Buch. Seine Selbst­ verortung in der liberalen Tradition des Engagements für die funda­ mentalen Freiheitsrechte der Menschen und für die nicht weniger fundamentalen, spezifisch politischen Freiheitsrechte der Angehöri­ gen politischer Gemeinwesen verleiht den Untersuchungen seines

Vgl. Günther Patzig, Der Unterschied zwischen subjektiven und objektiven Interessen und seine Bedeutung für die Ethik, Göttingen 1978. 284 Ralf Dahrendorf, Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, München 1965.

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Buchs eine vorbildliche sozial-politische Liberalität,285 die durch ihren Respekt für politisch dissentierende Gelehrte über die methodologi­ sche Liberalität wissenschaftlichen Arbeitens hinausgeht. Dahrendorfs Untersuchungen bilden auch deshalb ein über sein Jahrzehnt hinausgehendes bedeutsames Muster, weil sie sogleich eine Diagnose Jürgen Habermas‘ provoziert haben, der den Untersuchun­ gen des Buchs das deutsche Muster einer ›verzögerten Moderne‹ meinte entnehmen zu können.286 Doch was hat der Auch-Sozio­ loge Habermas mit seinem Rückgriff auf den schon damals ebenso wohlfeilen wie nichts-und-alles-sagenden Aspekt der ›Moderne‹ und deren ›Verzögerung‹ im Auge? Solche geschichts-epochalen Diagnosen haben gerade auch mit Blick auf Deutschland schon länger ihre spezifischen Schwierigkeiten. Schon Helmuth Plessner hatte sich vergriffen, als er Deutschland mit Blick auf die Bismarcksche Reichsgründung als die verspätete Nation gekennzeichnet hatte. Viel treffender hätte er von der verzögerten Republik sprechen sollen. Erst fünf Jahrzehnte später wurde die erste Republik in Deutschland ins Leben gerufen, die aber durch ihre internen sozialen, ökonomischen und politischen Nachkriegs-Ver­ werfungen zum Scheitern verurteilt war. Als Dahrendorfs Buch 1965 erschien, war die verspätete Republik in Deutschland gerade auf dem Weg, ihre zweite und dritte wirklich kritische Bewährungsprobe zu bestehen – nach der ersten mit der sogenannten Westorientierung bzw. dem Beitritt zur Nato, der zweiten mit dem Wechsel zu einer Großen Koalition und der dritten mit der Überwindung des RAF-Ter­ rors und der Neutralisierung seines links-radikalen SympathisantenMilieus. Doch seinen Topos von der verzögerten Moderne erläutert Habermas in diesen Jahren durch das Moderne-Phantom eines »in Zukunft hervorzubringenden Bewußtsein[s] massenhafter Aufklä­ rung«287 und durch die entsprechende Forderung »einer langfristigen

285 Vgl. auch Dahrendorfs in dieser Hinsicht geradezu programmatische AufsatzSammlung: Gesellschaft und Freiheit. Zur soziologischen Analyse der Gegenwart, (11961), München 1962. 286 Vgl. Jürgen Habermas, Die verzögerte Moderne. Rezension von Ralf Dahrendorf, Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, in: Der Spiegel, 53/1965, S. 87f. 287 Jürgen Habermas, Die Scheinrevolution und ihre Kinder (11968), wieder abgedr. in: ders., Protestbewegung und Hochschulreform, Frankfurt/Main 1969, S. 188–201, hier: S. 201.

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Strategie der massenhaften Aufklärung«288 zur Beendigung ihrer Ver­ zögerung. Obsolet geworden ist für den noch jungen Fackelträger der Kritischen Theorie trotz aller verbalen Bekenntnisse zu Kants ›Critik‹ die einzige realistische, weil individualistische Aufklärungs-Maxime »Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!«289 Mit ihr hatte Kant in der Hochzeit der wahrhaft ›critischen‹ Epoche seines Denkens für die Bemühungen des Bürgers um Aufklärung das metho­ dischen Format der individuellen Selbstaufklärung vorgezeichnet – mit den beiden wichtigen Vorbehalten, daß man ›dem Publicum‹ die Freiheit lasse und daß ein Bürger von dieser Freiheit ›mit der Feder‹ Gebrauch macht.290 Von einer Aufklärung, die in dem schon von Kurt Schumacher perhorreszierten kriegswissenschaftlichen Jargon einer ›Strategie massenhafter Aufklärung‹ propagiert wird – zumal in einem relativ fest etablierten und wohlgeordneten sowie sozialpolitisch befriedeten republikanisch-demokratischen Gemeinwesen – hat sich der grund-irenisch, geradezu quietistisch gestimmte Aufklä­ rungs-Theoretiker Kant noch nicht einmal unter den wahrhaft desas­ trösen sozialen und rechts-politischen Vorzeichen der Französischen Revolution das mindeste träumen lassen.291 Was für paternalistische, wenn nicht sogar autoritär-indoktrinäre Phantasien darf man sich im Zusammenhang mit der Propagierung einer ›Strategie massenhafter Aufklärung‹ erlauben? Im Gegensatz zu dieser Pseudo-Strategie sucht die aktuelle Ausrufung eines Laboratorium der Aufklärung292 unserer Zeit das Publikum durch den schon lange attraktiven naturwissenchaftlichtechnischen appeal ihrer Laboratoriums-Propagierung für sich einzu­ nehmen. Die strukturelle, megalomane Irreführung dieses appeals zeigt sich sogleich, wenn man auch bloß fragt, wer eigentlich das Makro-Subjekt sein soll, das dieses Laboratorium leitet, und wer die Mikro-Subjekte sein sollen, die ihm für seine ›Experimente‹ (?) S. 199. Kant, Aufklärung, S. 35, Kants Hervorhebung. 290 Vgl. Kant, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, in: Ak. VIII, S. 304. 291 Auch in dem Sinne ist Kant »der größte Theoretiker der Aufklärung, daß seine Lehre streng individualistisch ist«, Max Horkheimer, Kants Philosophie der Aufklä­ rung, in: ders., Zur Kritik der instrumentellen Vernunft (amerik. 1947), Frank­ furt/Main 1967, S. 203–215, hier: S. 213. 292 Vgl. Reihe: Laboratorium Aufklärung, z.  B. Band: 1, Olaf Breidbach und Hartmut Rosa (Hg.), Leiden 2010. 288

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zu Diensten sein sollen. Ist dieses Makro-Subjekt die unkritische Wiedergeburt jenes in der Physik des neunzehnten Jahrhunderts fingierten und bald wieder ad absurdum geführten ›Geistes‹, dem die genaue Kenntnis sämtlicher Planetenbewegungen und die daraus resultierenden Prognosen aller ihrer zukünftigen Verlaufsformen zugetraut wurde? Oder ist dieses Makro-Subjekt nur der Organisator von thematischen literarischen Reihen zu diesem Thema? Sind seine dienstbaren Geister, die ›Laboranten‹ die aus diversen universitären Fächern und Fakultäten stammenden Autoren zu diesem Thema? Und sind ihre Labor-Techniken die historio-graphischen, die literarischen, die analytischen und die reflexiven Methoden ihrer Fächer? Doch wo bleiben die armen, stets aufklärungsbedürftigen Menschen in diesem Laboratorium? Sind sie dazu verurteilt, sich durch alltägliches Lesen von Texten aus dem ›Laboratorium der Aufklärung‹ statt im Medium ihres realen alltäglichen, kognitiven und praktischen Lebens aufzuklä­ ren? Der vorzügliche historische Kenner und analytische Interpret der klassischen Methoden-Traditionen der Hermeneutiken des siebzehn­ ten und des achtzehnten Jahrhunderts Oliver R. Scholz hat solche weit verbreiteten Trugbilder von Text-zentrierten Aufklärungsintentionen zu Recht durch die treffliche Rilke-Travestie parodiert: »Sein Blick ist vom Vorübergehn der Texte / so müd geworden, dass er nichts mehr hält. / Ihm ist, als ob es tausend Texte gäbe / und hinter tausend Texten keine Welt«.293 Jedenfalls war mit Hennis‘ eminent praktisch fundierter Wie­ derbelebung der politikwissenschaftlichen Aufgabenstellungen der Regierungslehre, mit Dahrendorfs soziologischem Entwurf einer libe­ ralen Theorie gesellschaftlicher Voraussetzungen parlamentarischdemokratischer Gemeinwesen und mit Habermas‘ eher ambitiösem Projekt, die ›Verzögerung der Moderne‹ durch ›Strategien massenhaf­ ter Aufklärung‹ zu beenden, ein zukunftsträchtiges Spannungsfeld für drei bis heute richtungweisende Kontroversen umrissen. Sozio­ logische Makro-Typologien wie Industriegesellschaft, Wohlstandsge­ sellschaft, Risikogesellschaft, Wissensgesellschaft u. ä. m. können seither erste grobe Orientierungen für Phasen mehr oder weniger zählebiger kollektiver subjektiver Interessenlagen einer Gesellschaft 293 Oliver R. Scholz, Was schlecht an Vorurteilen ist. Zur Kritik neuerer Rehabilita­ tionsversuche, in: Aufklärung und Aufklärungskritik. Perspektiven der Gegenwart. Gedenk-Band für Werner Schneiders, herausgegeben von Frank Grunert, Oliver R. Scholz und Kay Zenker (in Vorbereitung für den Druck).

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bieten. Allerdings warnte schon Dahrendorf zu Recht vor typologi­ schen Konstrukten eines sozialen Einheitsformats von Gesellschaften wie Indu-striegesellschaft und verwies sie zu Recht in den Bereich der freundlichen Legenden.294 In einer theoretisch anspruchsvollen Analyse hat der Soziologe Christian von Ferber wenig später abschließend eine tiefgehende Diagnose einer strukturellen Ambivalenz getroffen, die das moderne gesellschaftliche Bewußtsein in unseren parlamentarisch strukturier­ ten Regierungssystemen bis heute prägt: »Wer den fiktiven Einschlag unserer zentralistisch organisierten Sozialverhältnisse übersieht, dem fehlt es an der entscheidenden Fähigkeit, Erfahrungen des Alltags zu verarbeiten, der ist – so scheint es mir – an der Fassade der Orga­ nisationsformen erblindet. Wen dagegen das anarchische Element erschreckt, das an den soeben bezeichneten Stellen aus den Orga­ nisationsplänen des Sozialverkehrs ironisch lächelnd oder Rollen spielend hervorlugt, der hat, zu lange an den Tischen der Herrschen­ den sitzend, vergessen, daß die Gesellschaft eine Gesellschaft von Individuen ist«.295 Für eine Erörterung von Form und Funktionen des politischen Urteils könnte es unter dem Aspekt der gesellschaftlichen Voraussetzungen des politischen Urteils keinen besseren Anknüp­ fungspunkt geben als den Hinweis auf diese Ambivalenz. Denn für eine zuverlässige Bildung ihrer politischen Urteile könnte den Individuen unserer Gesellschaft nichts Günstigeres gelingen, als ihre Fähigkeit zu ertüchtigen, die Erfahrungen ihres Alltags zugunsten wohlabgewogener politischer Urteile zu verarbeiten. Das Erreichen dieses Niveaus ihrer politischen Urteilskraft mag utopisch sein. Doch immerhin ist die Ertüchtigung dieser Fähigkeit damit in dem Medium konzentriert, in das sie im Gegensatz zum Phantom einer ›Strategie 294 Vgl. Dahrendorf, Soziologie und industrielle Gesellschaft (11960), in: Gesellschaft und Freiheit, S. 13–26, bes. S. 18–19, 22f., 24–25; z.  B. »Der Begriff einer industriellen Gesellschaft enthält ein Element freundlicher Verallgemeinerung«, S. 23. 295 Christian von Ferber, Zum Begriff der gesellschaftlichen Konzentration. Kritische Bemerkungen zur soziologischen Begriffsbildung, in: Argumentationen. Festschrift für Josef König, Herausgegeben von Harald Delius und Günther Patzig, Göttingen 1964, S. 75–93, hier: S. 93. – Zu Recht macht Carlo Masala, Geflügelte Atombomben, Spiegel, Nr. 34 vom 20.8. 2022, S. 108-110, durch eine ausführrliche Struktur- und Funktionsanalyse der Politischen Pädagogik das bürgerschaftliche Publikum aktueller Fantasy-Serien wie House of Thrones und House of the Dragon darauf aufmerksam, daß in diesen grotesken Szenarien "Eine polarisierte Gesellschaft" inszeniert wird, "in der mit Desinformation, Lug und Trug sowie Gewalt um die Macht gekämpft wird und darüber das bonum commune vollständig aus dem Blick gerät", S. 108.

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massenhafter Aufklärung‹ gehört – in die individuelle Selbstaufklä­ rung jedes Menschen durch unaufhörliche kognitive und praktische Auseinandersetzung mit den Erfahrungen seines alltäglichen privaten und öffentlichen Lebens in seinem Gemeinwesen.

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