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German Pages 218 Year 2016
Leonhard Emmerling, Ines Kleesattel (Hg.) Politik der Kunst
Image | Band 91
Leonhard Emmerling, Ines Kleesattel (Hg.)
Politik der Kunst Über Möglichkeiten, das Ästhetische politisch zu denken
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Inhalt
Vorwort Johannes Odenthal | 7
Politik der Kunst. Zur Einleitung Leonhard Emmerling und Ines Kleesattel | 11
I. P olitik , P artizipation und K unst Kunst, Politik, Peinlichkeit Jörg Heiser | 21
Die teilnahmslose Kunst Alexander García Düttmann | 35
Dissensuelle Partizipation. Die Kunst des Scheiterns und die Stärke der Konfliktivität Sofia Bempeza | 51
Autonomie auf Probe Sabeth Buchmann | 67
II. Ä sthetik , F reiheit und S chönheit Das Paradox der Fähigkeit und der Wert des Schönen Christoph Menke | 85
Zur Ohnmacht der Kunst Leonhard Emmerling | 101
Adorno über das Glück an den Kunstwerken Gabriele Geml | 121
Zur Politik des Schönen, heute. Überlegungen zur aktuellen Ästhetik im Anschluss an Gadamer Christoph Bartmann | 143
Solidarische Mobilmachung. Kunst, Vokabularpolitik und Resolidarisierung nach Richard Rorty Alexander Koch | 157
III. K unsttheorie , K unstgeschichte und K unstkritik Kunst und Kritik. Das Problem in Rancières politischer Kunsttheorie und eine Erinnerung an Adorno Ines Kleesattel | 175
Zwischen Diffusionspathos und Quintessentialismus. Über waghalsige Bestimmungen des Politischen der Kunst Christian Janecke | 191
Gegen Kunsttheorie. Zur Frage nach dem politischen Charakter von Kunst Holger Kube Ventura | 199
Autorinnen und Autoren | 211
Vorwort Johannes Odenthal Das Thema Politik der Kunst betrifft im Kern, wenn auch bei weitem nicht ausschließlich, die Arbeit von Kunst- und Kulturinstitutionen, vor allem die von Kulturvermittlern. Unabhängig von Fragen künstlerischen Selbstverständnisses wie Autonomie, Abstraktion, Realismus oder politischem und gesellschaftspolitischem Engagement entsteht durch jede Sammlung, durch die Präsentationen in Museen, durch die Auswahl von Aufführungen und Texten, durch die Einladungspolitik von Festivals oder Mittlerorganisationen ein Raum, den wir als kulturpolitischen Raum definieren müssen. Während sich ein Künstler explizit zu politischen Themen äußern oder dies systematisch verweigern kann, kann sich keine Institution dieser notwendigen kulturpolitischen Reflexion entziehen. Sehr deutlich wird diese komplexe Situation insbesondere in Bezug auf die Konzepte von Nation, kultureller Identität oder dem Verständnis von religiösen Werten im Kontext staatlicher oder institutioneller Repräsentation und Vertretung. Viele Konfliktfelder in totalitären, halb- oder pseudo-demokratischen und nationalistisch gesteuerten Ländern (es sind zu viele, um sie namentlich zu nennen) verweisen derzeit darauf, dass der künstlerische Raum nicht als autonomer, unabhängiger Raum begriffen werden kann, sondern potentiell als politischer Raum, der sich, so die Forderung von Seiten der Politik, den nationalen, kulturellen oder religiösen Wertesystemen anzupassen hat. Die Problematik entzündet sich vor allem im Bereich der Satire, für die auf der einen Seite künstlerische Freiheit proklamiert wird, wo auf der anderen Seite Respekt vor kulturellen Werten eingefordert wird. Mit dem Terrorakt gegen die Redaktion von Charlie Hebdo hat sich die Kampfzone auf brutale Weise ins Zentrum der europäischen Wirklichkeit verlagert. Deswegen stehen wir vor einem schwer aufzulösenden Konflikt. Auf der einen Seite müssen wir die Positionen künstlerischer Freiheit mit allen Mitteln verteidigen, und auf der anderen Seite sehen wir, dass eine Autonomie des Künstlerischen nicht existiert. Diese Widersprüche prägen auch die kulturpolitische Arbeit der Institutionen. Ein wesentlicher Ansatz jeder Programmarbeit muss sein, der Instru-
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mentalisierung künstlerischer Arbeit entgegenzuwirken. Das geht nur durch die Reflexion der eigenen Positionen, durch die Aufklärung ideologischer Besetzungen.1 Mit dem Bezug auf die europäische Aufklärung gilt es heute allerdings zu fragen, auf welche Aufklärung wir uns beziehen. Es führt kein Weg daran vorbei, das Projekt der Aufklärung systematisch zu erneuern, so wie das in den Werken von Edward Said, Stuart Hall oder Jürgen Osterhammel, um nur drei Positionen zu nennen, geschieht. Auch die Aufklärung mit ihrem Anspruch auf universelle Geltung ist mit den Perspektiven aus Asien, Afrika und Lateinamerika weiter zu differenzieren und neu zu justieren. Denn betrachten wir die zeitgenössischen Kunstentwicklungen in den ehemaligen Kolonien, in Nordafrika, Südostasien oder Lateinamerika, dann verändert sich die Argumentation. In »Kultur und Imperialismus« hat Edward Said aufgezeigt, dass Kultur, und Kultur umfasst hier auch die Künste, keine Schonzone ist. Am Beispiel der europäischen Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts analysiert Said, wie die Kunst selbst zur Kolonisierung, zu Rassismus und Imperialismus beigetragen hat. Durch das Neu-Lesen der deutschen und europäischen Kunst- und Literaturgeschichte wird nachvollziehbar, wie eng der ästhetische Raum mit den gesellschaftspolitischen Machtstrukturen verknüpft ist. Aus dieser Perspektive gibt es keine unpolitische Kunst. Zahlreiche sehr exponierte Künstler, wie beispielsweise der Theaterregisseur und Schauspieler Rabih Mroué oder die bildende Künstlerin Hito Steyerl, reflektieren in ihren Werken diese komplizierten Verflechtungen von Bild und Bedeutung, die als versteckte Agenden den Kunstraum beherrschen. Es geht um die Dekonstruktion von Machstrukturen in den Künsten. Insofern müssen wir die Fragestellung nach der Autonomie des Ästhetischen in einen Kontext der Wissensproduktion und Wissensvermittlung in der Gesellschaft stellen. Dahinter verbirgt sich die Problematik, dass nach den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen der Renaissance und der Aufklärung der Wahrheitsgehalt der ästhetischen Erfahrung immer neu in Frage gestellt wurde. Der Philosoph Alexander Gottlieb Baumgarten hat diese Problematik im 18. Jahrhundert zum Ausgangspunkt der Ästhetik als Wissenschaft gemacht. Exemplarisch beschrieb er die Betrachtung eines Sonnenuntergangs als gleichberechtigte Erfahrung neben den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen wie Erdumdrehung oder Gravitation in der modernen Astronomie. Doch die mathematische Formel hat in unserer Wahrnehmung bis heute nicht die romantische Faszination eines Sonnenuntergangs ersetzt. Die ästhetische Erfahrung behauptet
1 | Vgl. Außenminister Steinmeiers Grundsatzrede vom 15.4.2016, www.auswaertigesamt.de/sid_D170A9E1B43B0F587000CC6BE7B9AAED/DE/Infoser vice/Presse/ Reden/2016/160415_BM_Forum_AKBP.html, (Stand 17.05.2016).
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bis heute trotz aller Infragestellungen und Angriffe eine eigene Relevanz und Autonomie. Zugleich erleben wir, wie sich ästhetische Erfahrung in den letzten Jahrzehnten durch die technologischen und medialen Möglichkeiten verändert hat. Mit Digitalisierung, Gentechnik und Anthropotechniken befindet sich die ästhetische Erfahrung im Sinne der Aufklärung im freien Fall. Die Versuche, das Ästhetische in der Aufklärung zu verankern, von Schiller bis zu Adorno, Gadamer oder Nancy, machen deutlich, wie die Künste um ihre Position im Wissenskanon kämpfen. Insofern ist die Perspektive der sich kritisch einmischenden oder analysierenden ästhetischen Theorie ein wichtiger Partner für die künstlerische Produktion und fester Bestandteil der aktuellen Entwicklungen. Mit der Aufarbeitung der europäischen Aufklärung, einer postkolonialen Perspektive oder einer Neudefinition künstlerischen Selbstverständnisses zwischen politischem Aktionismus und ästhetischer Strategie werden die zeitgenössischen Künstler zu relevanten Akteuren der Gegenwart. Für ihr Selbstverständnis ist dabei die ästhetische Theorie ein wichtiger und kongenialer Dialogpartner. Mit diesem Band zur Politik der Kunst soll insbesondere aus einer deutschen Wissenschaftsperspektive ein erster Baustein auf diesem umkämpften Feld gesetzt werden. Im Zentrum stehen nicht die künstlerischen Positionen und auch nicht die postkolonialen Reflektionen auf die westliche Moderne. Im Zentrum steht eine westliche theoretische Debatte zur Rolle und den Möglichkeiten ästhetischen Wirkens und Erfahrens. Wünschenswert wäre, diese hier bewusst gewählte Engführung in einem zweiten Schritt durch eine interkulturelle Perspektive aus Asien, Afrika, der Arabischen Welt und Lateinamerika zu öffnen. Aus der eigenen Programmarbeit ist die Akademie der Künste mit den hier geführten Debatten sehr vertraut, allerdings aus der Perspektive der Künstler. In Programmreihen wie »Kunst und Revolte« haben wir systematisch die gesellschaftspolitischen Wirkungen und Veränderungen durch künstlerisches Handeln in den 1960er und 1970er Jahren untersucht, aber auch auf die Gegenwart bezogen. In Ausstellungsprojekten wie Notationen oder Lens Based Sculpture ging es hingegen um die Wissensproduktion in den Künsten, die zum einen ihren autonomen Raum – auch aktuell – behaupten, um sich andererseits in die zentralen Fragen gesellschaftlicher und individueller Prozesse einzumischen. Die Veränderungen im Werkbegriff durch Performance, Tanz und Choreographie sowie durch die Einbindung des Betrachters im Sinne der Teilhabe verändern die Grenzziehungen zwischen politischem Raum, künstlerischer Recherche und Aktion. Diesen Veränderungsprozess reflektiert dieser Sammelband, der eine aktuelle Standortbestimmung für die ästhetische Debatte versucht.
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Insofern sind wir dem Goethe-Institut, und hier insbesondere Leonhard Emmerling sowie der Mitherausgeberin Ines Kleesattel, sehr dankbar dafür, dass mit diesem Band das Themenfeld aus einer theoretischen europäischen Perspektive abgesteckt wird.
Politik der Kunst. Zur Einleitung Leonhard Emmerling und Ines Kleesattel Die Verknüpfung von Gegenwartskunst und Politik hat Konjunktur. Was mit Catherine Davids documenta X 1997 zu neuer Brisanz gelangte, ist heute Selbstverständlichkeit. Nachdem sich unzählige Biennalen in Berlin, Istanbul, São Paolo und anderswo dezidiert gesellschaftspolitische Losungen auf die Fahnen geschrieben haben, wundert es kaum mehr, wenn der politische Gestus immer öfter auch im Galeriewesen gewollt1 und Karl Marx auf der Venedig Biennale vor kunstaffinen MilliardärInnen zum Künstler2 oder die Manifesta in der Finanzmetropole Zürich als ein globalisierungskritisches, kollaboratives »Joint Venture« ausgerufen3 wird. Auf den internationalen Großausstellungen überbieten sich aufklärerisch-dokumentaristische oder auch einnehmend attraktive Kunstwerke geradezu darin, ›Machtverhältnisse zu thematisieren‹, ›Verstrickungen zu enthüllen‹ und ›Ungerechtigkeiten zu kritisieren‹. Zugleich ›intervenieren‹ auf Publikumsbeteiligung abzielende künstlerische Aktionen direkt mikropolitisch, indem sie Orte für Auseinandersetzung, Engagement und Subversion ›realisieren‹. Gegenüber den begeisterten Proklamationen einer Politizität und/oder Kritikalität der Kunst macht sich jedoch auch Skepsis breit: Die ungezügelte Absorptions- und Transformationskraft des Kapitalismus, also seine Fähigkeit, sich durch Valorisation alles und jedes einzuverleiben, verdammt die kritischpolitische Kunst in der (neo-)liberalen Welt gerade durch ihren Erfolg zum
1 | So etwa wenn sich die von der Wirtschaftsagentur Wien unterstütze Galerienkooperation curated by_vienna 2012 kunst oder leben. ästhetik und biopolitik zum Thema macht oder 2015 unter dem Titel Tomorrow Today alternative Verbindungen von »Kunst und Kapital« verhandeln will (vgl. www.viennabiennale.org/ausstellungen/detail/cura ted-by-vienna-2015-tomorrow-today/?c=1 [Stand 24.04.2016]). 2 | Vgl. dazu Rauterberg, Hanno: »Wenn Marx zum Künstler wird«, in: Die Zeit, Nr. 20/ 2015 (13. Mai 2015), S. 45. 3 | http://m11.manifesta.org/de/m11/what-people-do-money (Stand 24.4.2016).
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Misslingen, so die Gegenstimmen.4 Eine immer lauter werdende und durchaus berechtigte Kritik-Kritik fragt, wie es eigentlich dazu kommen konnte, dass Kritikalität zum scheinbar allseits begrüßten Mainstream mutierte und dass KünstlerInnen sich als willige ZuträgerInnen und Integrations- und PartizipationsagentInnen von Kommunen, Unternehmen und anderen Institutionen einspannen lassen. Die ehemals für Teile der europäischen Avantgarde (Dadaismus, Surrealismus, Russische Revolutionskunst etc.) charakteristische Negierung der ästhetischen Differenz zugunsten der Verschmelzung von Kunst und Leben bringt es mittlerweile aber nicht nur zu einer beachtlichen Popularität innerhalb des Kunstfeldes, sondern findet ihre eigentliche Realisierung inzwischen in der weitverzweigten und längst nicht mehr nur ›die Kreativen‹ tangierenden Kreativwirtschaft. Kreativität mutierte vom Leitparadigma des sich selbst ermächtigenden Subjekts zur ersten Tugend des auf jede Arbeitssituationsveränderung flexibel, konstruktiv und produktiv reagierenden Ich-Unternehmers.5 So ist die Behauptung von der Kreativität jedes einzelnen Subjekts wohl in einer Form wahr geworden, von der Joseph Beuys sich nie hätte träumen lassen. Doch bündeln Subjekte ihre Kreativität nicht zur Ausbildung einer anderen Gesellschaft; sondern es ist der Markt, der in der post-fordistischen und nach-disziplinären Gesellschaft dem kreativen Subjekt abverlangt, sein individuelles Adaptions- und Innovationsvermögen der Ökonomie zur Verfügung zu stellen. Wenn der Kunst ein hoher Wert beigemessen wird, so ist das aus dieser Perspektive weniger Indiz für ihre Achtung als für den Grad ihrer Kommodifizierung: Der Geschmack für und das Informiertsein über das als kulturell relevant Geltende, sind Währungen, die für das konsumistische Subjekt im Wettbewerb um die feinsten Distinktionsmerkmale, um die am feinsten austarierte Verwendung symbolischen Kapitals gegenwärtig vielleicht mehr denn je zählen.6 Dementsprechend höher liegt der (symbolische und der sich in Kunstmarktpreisen auszahlende) Wert einer Kunst, die mit feinem Gespür die Erfordernisse aktueller Ökonomien bedient – und diese Erfordernisse sind nicht allein die des Marktes von Galerien und SammlerInnen, es sind auch die einer kunstaffinen Administration, die um die Bedeutung von Kunst als Standortvorteil weiß. 4 | Inzwischen viel zitiert: Boltanski, Luc/Chiapello, Éve: Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz: UVK 2006. 5 | Vgl. Bröckling, Ulrich: Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2007. 6 | Vgl. dazu Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede. Zur Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1987; siehe auch dessen Aktualisierung bzw. Fortführung bei Munder, Heike/Wuggenig, Ulf (Hg.): Das Kunstfeld. Eine Studie über Akteure und Institutionen der zeitgenössischen Kunst, Zürich: JRP/Ringier 2012.
Politik der Kunst. Zur Einleitung
Insbesondere partizipatorische Kunst scheint vor diesem Hintergrund anfällig für eine Ökonomie, die ein fein differenziertes System der Gegenfinanzierung etabliert hat: Was sonst chronisch unterfinanzierte Sozialarbeit wäre, kann durch den symbolisch wie finanziell gewichtigen Kontext Kunst valorisiert werden, während zugleich auch das, was sonst im Kontext Kunst bestenfalls Epigonentum wäre, durch moralisch wertvolle Ziele (wie eben dem der Partizipation) aufgewertet wird. Wo solche querfinanzierte Valorisation stattfindet, geschieht dies entlang der Bruchstelle der ästhetischen Differenz, die zugleich permanent negiert und permanent bestätigt werden muss. Denn so garantiert die ästhetische Differenz einerseits den AdministratorInnen die Folgenlosigkeit der künstlerischen Intervention und andererseits den KünstlerInnen, dass schlussendlich kaum jemand danach fragt, welche Folgen ihre Aktion nun tatsächlich nach sich zieht. Insofern sichert ›Bürokratie als Kunst‹, jene von der öffentlichen Hand gerne finanzierte Gutwollkunst der Partizipation und weltverbessernden Intervention, das unvermindert heitere Fortleben von Bürokratie und Kunst in Koexistenz ohne auch nur den Anschein einer Gefahr, irgendetwas könnte, sollte oder müsste sich tatsächlich ändern. Andererseits werden solche Fragen nach Folgen und Folgenlosigkeit mitunter dann doch gestellt. Und so hat in den letzten Jahren etwa die von Nicolas Bourriaud protegierte und zum Schlagwort gemachte »relationale Kunst« nicht nur einen Hype erlebt, sondern wurde sowohl aus autonomieästhetischer als auch aus politisch-engagierter Warte zum Gegenstand einer Vielzahl von Debatten. Die relationale Kunst zeichnet sich (Bourriaud zufolge) dadurch aus, dass sie einen Ort authentischer Begegnung schafft, einen Raum des Gemeinschaftlichen, in dem Entfremdung und Kapitalismus suspendiert und alternative soziale Beziehungen unmittelbar realisiert werden.7 Solche Proklamationen einer künstlerischen Mikropolitik blieben nicht lange unbestritten. Längst wird solchen Behauptungen vehement widersprochen, unter Verweis auf ästhethische Differenz und Autonomie – als dem Einzigen, was sich neoliberalen Verwertungslogiken widersetzten könne und darin unter Umständen nicht nur die Bedingung von Kunst, sondern auch von Emanzipation darstelle.8 Zum anderen wird mit begründeter Skepsis nachgefragt, welcher Art die hier hergestellten, angeblich alternativen Gemeinschaften eigentlich seien, und ob es nicht womöglich interessanter wäre, kunstfeldinterne Klüngeleien in einen Konflikt um Kunst und Politik zu überführen, statt ihnen einmal mehr einen gemütlichen Raum der Ungestörtheit einzurichten.9 7 | Bourriaud, Nicolas: Relational Aesthetics, Dijon: Les Presses du réel 2002. 8 | Unter anderen Rancière, Jacques: Das Unbehagen in der Ästhetik, Wien: Passagen 2007, insbes. S. 31f. 9 | Prominent etwa Bishop, Claire: »Antagonism and Relational Aesthetics«, in: October 110 (2004), S. 51-79.
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Eine Zurückweisung von ›relationaler‹, ›partizipatorischer‹, ›kritischer‹ oder ›politischer‹ Kunst kann aber nicht allein durch den allgemeinen Hinweis auf das Paradigma der Autonomie der Kunst begründet werden. So zu argumentieren hieße, scharf zwischen dem Bereich des Ästhetischen und jenem des Politischen zu trennen – als sei es ein Kategorienfehler, dass man beide miteinander in Verbindung setzt. Wie aber soll sich das Ästhetische als dem Politischen gänzlich entzogen begreifen lassen, wenn doch jedes Produkt der Kunst, Adorno folgend, »als ein […] freilich noch in seiner Autonomie sozial determinierte[s] Autonome[s] und ein […] Soziales«10 verstanden werden muss? Das Ineinanderverklammertsein von Kunst und Politik lässt sich mit Niklas Luhmann als eine Ko-Funktionalität autonomer Sphären in der funktional diversifizierten Gesellschaft – und damit als Vollzug des Gesellschaftlichen und Realisierung des Politischen – fassen.11 Oder es lässt sich mit Chantal Mouffe darin ausmachen, dass Kunst, als eine Akteurin der symbolischen Ordnung, zwangsläufig immer eine politische Rolle spielt, während umgekehrt politische Manifestationen kaum bar aller Ästhetik auftreten können.12 Die Grenzziehung zwischen Kunst und Politik erweist sich mit Blick auf die gesellschaftliche Realität folglich aus unterschiedlichsten Perspektiven als imaginär; die binäre Begriffskoppelung ist in sich selbst nicht nur inkonsistent, sondern für die Diskussion der sich aus dem Verhältnis von Kunst und Politik ergebenden Problemlagen auch nicht hilfreich. Nicht selten verknäueln sich Autonomie, Selbstzweck und Interesselosigkeit der Kunst zu einem Philosophem, das gerade darum so hartnäckig verteidigt wird, weil sich mit ihm nach wie vor Interessen politischer Natur so unverdächtig als selbstlose und apolitische ›Liebe zur Kunst‹ kaschieren lassen. Wie aber lässt sich das Verhältnis von Kunst und Politik jenseits der Dichotomie von Autonomie und Instrumentalisierung denken? Verpflichtet sich politische, kritische oder emanzipatorische Kunst zwangsläufig auf ein Nützlichkeitsparadigma? Wird so in jedem Fall Konformitätsdruck erzeugt, statt Mut zum Dissens und zur Freiheit gestärkt? Gibt es einen nichtverwertbaren Wert des Nutzlosen, des Eigensinnigen, Spielerischen, Schönen? Und wenn ja, wo lässt sich dieser finden? Wird Kunst durch die Infragestellung der ästhetischen Differenz mit anderen sozialen Praktiken austauschbar und dadurch womöglich überflüssig? Und wenn dem so wäre – warum wäre das so schlimm?
10 | Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1970, S. 312. 11 | Vgl. Luhmann, Niklas: Schriften zur Kunst und Literatur, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008, S. 142f. u.a. 12 | Mouffe, Chantal: »Artistic Strategies in Politics and Political Strategies in Art«, in: Florian Malzacher u.a. (Hg.): Truth is Concrete. A Handbook for Artistic Strategies in Real Politics. Berlin: Sternberg Press 2014, S. 66-75.
Politik der Kunst. Zur Einleitung
Anliegen der vorliegenden Publikation ist es, sich diesen und weiteren Fragen aus unterschiedlichen philosophischen, kunsthistorischen und kulturpolitischen Perspektiven anzunehmen – und wo nicht Antworten, so doch Positionierungen vorzustellen, die eine weitere Auseinandersetzung motivieren. Die Beiträge im ersten Abschnitt des Bandes beschäftigen sich mit dem gegenwartskünstlerischen Phänomen (und Begriff) einer durch Kunst intendierten Partizipation. Dabei sind die Perspektiven, Argumentationen und Schlussfolgerungen ihrer AutorInnen so verschiedenartig wie ihre Beispiele und Bezugspunkte. Jörg Heiser skizziert einige wesentliche Züge der Diskursund Kunstgeschichte des Politischen der Kunst und befindet, dass dieses Politische – anders als im Laufe der verschiedenen Traditionslinien immer wieder angenommen – weder in einer ausschließlich distanziert-freien noch in einer rein immersiv-partizipierenden Beziehung zwischen KünstlerIn, Werk und Publikum aufzufinden sei. Politik verortet er im Zwischenraum von Zwang und Freiheit, weshalb er vorschlägt, statt weiter um das Entweder-Oder von Autonomie und Partizipation zu streiten, vielmehr nach Momenten einer (bedingten und verstrickten) »agency« und einer (oppositionellen) »Unbehelligtheit« zu suchen. Alexander García Düttmann problematisiert die forcierte Politizität von Teilnahme und Reflexion in der Gegenwartskunst als eine naive und wirkungslose Wiederholung des ohnehin Bekannten. In seiner scharfen Polemik berichtet er, wie er selbst bei einer Aufführung von Rimini Protokoll zugegen war und dort ähnlich fatale Fehlannahmen erfuhr, wie er sie auch in den Theorien von Juliane Rebentisch und Peter Osborne ausmacht. Einer Kunst, die Teilnahme zum Programm erhebt, erteilt Düttmann ebenso deutlich eine Absage wie Kunsttheorien, welche die Aufgabe der Kunst darin ausmachen, die Gegenwart kritisch zu reflektieren. Sofia Bempeza hingegen spricht sich dafür aus, partizipatorische Kunstpraktiken nicht pauschal zu verwerfen, sondern ihre verschiedenen Erscheinungsformen und Situierungen differenzierter zu bewerten und insbesondere solche Formen zu verteidigen, die sich durch eine Konfliktorientierung und durch das Kunstfeld überschreitende Synergien auszeichnen. Am Beispiel eines 2013 auf der Athener Biennale realisierten Projekts des Künstler-Duos FYTA diskutiert Bempeza, inwiefern gerade Momente des Streitens und Scheiterns in partizipativen Zusammenhängen Formen des politischen Widerstands darstellen können. Sabeth Buchmann thematisiert in ihrem Aufsatz eine weit weniger offensichtliche Form der Partizipation: Mit vielfältigen kunsthistorischen Bezügen (von Courbet und Degas über Duchamp bis zu dem zeitgenössischen Filmkünstler Rashid Masharawi) erörtert sie den Topos der Probe-Bühne als einen im Bild (oder auf der Bühne) sichtbar gemachten Spannungsmoment von künstlerischer Freiheit und Notwendigkeit zur Entscheidung. Die Zur-Schau-Stellung dieses Moments deutet Buchmann als Ausdruck einer werkkritischen Partizipationsästhetik, die
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Darstellung und Rezeption institutionskritisch miteinander verschränkt und Freiräume für die deutende Partizipation seitens der BetrachterInnen eröffnet. Im Kontrast zu diesen Untersuchungen dezidierter Politik-, Partizipationsund Kritikalitätsrhetoriken beleuchtet das zweite Kapitel Aspekte, die der gegenwärtigen Kunsttheorie denkbar unzeitgemäß erscheinen mögen. Sich auf unterschiedliche philosophische Traditionen stützend, wenden sich die AutorInnen hier der Relevanz der Schönheit in Kunst und Ästhetik zu und eruieren Möglichkeiten der Reaktualisierung und Rehabilitierung des Schönen für den zeitgenössischen Diskurs. Christoph Menke entwickelt, ausgehend von Thomas Hobbes’ Bestimmung des Schönen als einem Wert, der das Gute verspreche, eine Kritik der Kategorie des Werts. In der bürgerlichen Gesellschaft indiziert der Wert Vermögen, erlernbar und verfügbar als Fähigkeiten. Schön ist dann, was brauchbar ist und auf Vermögen hinweist. Demgegenüber entwickelt Menke einen Begriff des Schönen, der an ein »Glücken«, ein durch kein Vermögen bewirkbares Gelingen gebunden ist und an der Macht der Kunst als einer anti-subjektiven »Kraft« teilhat, die sich jeder Wertbestimmung entzieht. Dann, so Menke, hat die Kunst möglicherweise Schönheit, aber keinen Wert, bzw. sie entzieht sich der Wertbestimmung. Der Kampf um die Schönheit als Bestimmung ihres gesellschaftlichen Standes und ihrer historischen Verfasstheit ist auch ein Kampf um die Grundbedingungen menschlichen Selbstverständnisses. Politisch sind Kunst und Ästhetik für Menke dort, wo sie diesen Kampf um die Schönheit führen. Leonhard Emmerling schreibt, ausgehend von Kants Bestimmung des ästhetischen als reflektierenden Urteils, eine kurze Geschichte der Aushöhlung des Begriffs der Autonomie: Konfligieren bei Schiller das Schöne und das Erhabene, wird bei Nietzsche das Schöne als Schein zur erlösenden Instanz. Diese Aufwertung und »Überfrachtung« der Kunst deutet Emmerling als unzulässige Ausweitung des Ethisch-Moralischen. Gegen die Selbstsicherheit der Moral, mit der sich die Kunst wappne, um ihrer eigenen Unbegründetheit zu entgehen, affirmiert er die Schwäche oder Ohnmacht der Kunst, eine Permanenz der Entzweiung, welche die Stilllegung des Kunstwerks durch seine Positivierung verhindert. Im Offenhalten der ästhetischen Differenz als Behauptung einer Position der Schwäche entfalten die Kunst und der sie begleitende Diskurs bei Emmerling eine Gegenposition zur Rhetorik der Macht. Gabriele Geml arbeitet in ihrem Aufsatz über Theodor W. Adorno (der vielen als rabenschwarzer Denker gilt) eine bislang unterbelichtete Seite von dessen ästhetischer Theorie heraus: Sie widmet sich seinen Ausführungen zu einer erhebenden, gar utopischen Glückserfahrung, die sich an »schönen Stellen« in der Kunst entzünden kann und die jenseits der potentiell verzweckenden Unterscheidung von Subjekt und Objekt liegt. Gegenüber einer umfassenden und seit Adornos Zeit die Kunst noch stärker betreffenden Verwertungslogik hält Geml die Vorstellung eines bloßen Glücks durch Kunst durchaus für subversiv. Christoph Bartmann unternimmt eine
Politik der Kunst. Zur Einleitung
Reaktualisierung von Hans-Georg Gadamers Aktualität des Schönen mit Blick auf Spiel, Symbol und Fest. Zeitgenössische Kunst, die heute anstelle von Fest und Spiel vor allem Arbeit und Aktivismus im Sinn habe, könne von Gadamers Idee des Schönen eine prä-kritische Bereitschaft zur Beschaulichkeit lernen, so die These dieses Beitrags. In Thomas Hirschhorns Gramsci Monument findet Bartmann schließlich einen bereits verwirklichten Beleg dessen, wie sich Gegenwartskunst und Schönheit durchaus wieder miteinander in Beziehung setzen lassen. Der dritte Abschnitt der Publikation widmet sich Diskursen und Theorien rund um ›die Politik der Kunst‹, wobei die Interessen und Konsequenzen dieser Diskurse kritisch unter die Lupe genommen werden und Kategorisierungen wie jene von ›der Kunst‹ oder ›der Politik‹ den AutorInnen problematisch oder zumindest diskussionsbedürftig erscheinen, so dass wiederholt Forderungen nach einer stärkeren Beachtung von spezifischen Situationen, konkreten Fällen und einzelnen Werken laut werden. Alexander Koch entwirft ausgehend von Richard Rortys antiessentialistischem Sprach- und Kulturverständnis die Position einer antirepräsentationalen Mobilmachung der Kunstwelt, die sich nicht länger dafür interessiert, ob Kunst (ihrem Wesen nach) politisch ist oder nicht, sondern vielmehr für die jeweilige »Vokabularpolitik« von künstlerischen Werken und Praktiken. In deren Sinne wünscht sich Koch kontingenzbewusste, aber solidarisch motivierte Auseinandersetzungen darüber, welche Kunst in welcher Form welche Wahrnehmungsweisen und Selbstbeschreibungen ermöglicht und welche besseren Gesellschaftsformationen dadurch vorstellbar werden. Ines Kleesattel setzt sich mit Jacques Rancières Kunsttheorie auseinander und rekonstruiert deren erfahrungsästhetisch-subjektivistische Grundlage als unvereinbar mit seinem Politik-Begriff zum einen und seiner eigenen kunstkritischen Praxis zum anderen. Sie weist Rancières allgemeinen, auf Unbestimmtheit gerichteten Autonomiebegriff zurück, um für eine intersubjektiv kommunizierende und konkretisierende Kunstkritik zu plädieren, die an einzelnen Kunstwerken kontextbezogen konkrete Kritik- wie Autonomiemomente wahrnimmt und diese stark macht gegen ein generalistisches Verabschieden jeglicher Politik der Kunst. Holger Kube Ventura bezweifelt die in aktuellen Kunstdiskursen verbreitete – und auch diesem Buch zugrundeliegende – These, dass es gegenwärtig einen den ›Eigenwert des Ästhetischen‹ negierenden Trend zu partizipatorischen und kritisch-aufklärerischen Kunstprojekten gebe. Nach Motiven wie Effekten dieser These fragend, deutet er das verallgemeinerte Interesse an ›der politischen Kunst‹ und das Bestreben, den weit gewordenen Kunstbegriff erneut auf eine bestimmte Ästhetik zu beschränken, als zwei Seiten derselben, kontextblinden Theorie-Medaille. Christian Janecke formuliert einen ähnlichen Einwand gegen zu Pauschalisierungen neigende Theorien der philosophischen Ästhetik. Er geht insbesondere mit Autonomie beschwörenden Ansätzen der Erfahrungs-
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ästhetik (von Rancière über Menke bis Rebentisch) hart ins Gericht, sofern diese mit einem generalisierenden Lob des Diffusen, ewig Offenen und Verunsichernden (unabhängig davon, ob sie dieses als politisch werten oder nicht) kaum mehr aussagen, als »dass Kunst sei«. Dementsprechend rät er auch, statt Debatten um ein politisches und/oder autonomes Wesen der Kunst zu führen, sich in genauen Einzellektüren den konkreten Qualitäten der jeweiligen künstlerischen Gestaltungen zuzuwenden.
*** Die Konzeption dieses Bandes basiert auf dem Symposium Politik der Kunst. Über Möglichkeiten, das Ästhetische politisch zu denken (eine Kooperation zwischen der Akademie der Künste und dem Goethe-Institut), welches vom 11. bis 13. Juni 2015 in Berlin stattgefunden hat. Ein großer Teil der Beiträge dieses Bandes geht auf Vorträge des Symposiums zurück, weitere Aufsätze sind auf Einladung neu hinzugekommen und speziell für diesen Sammelband entstanden. An erster Stelle sei allen ReferentInnen und AutorInnen gedankt. Ohne ihr Engagement und ihre Unterstützung wäre dieses Buch nicht möglich gewesen. Wir hoffen, dass wir die inspirierende Zusammenarbeit in anderen Konstellationen wieder aufgreifen können. Ein großer Dank gilt Sophie Rau, ehemalige Volontärin im Bereich Bildende Kunst im Goethe-Institut, die sowohl das Symposium als auch die Publikation in allen konzeptuellen und organisatorischen Belangen mit außerordentlichem Engagement hervorragend betreute. Johannes Odenthal, Programmbeauftragter der Akademie der Künste, gebührt ein besonderer Dank für die Bereitschaft, mit der er das ihm angetragene Thema aufgriff, und für die unproblematische, kollegiale Kooperation. Außerdem danken wir Nicola Beißner, Referentin des Programmbeauftragten der Akademie der Künste, für die unermüdliche Unterstützung, und Rainer Hauswirth, Bereichsleiter für Bildende Kunst in der Zentrale des Goethe-Instituts, für seine Großzügigkeit, die Drucklegung gemeinsam mit der Akademie der Künste zu finanzieren.
I. Politik, Partizipation und Kunst
Kunst, Politik, Peinlichkeit Jörg Heiser
Schauen wir uns den ideen- und kunstgeschichtlichen Verlauf der gegenwärtigen Diskussion um die Politik der Kunst einmal im Zeitraffer an: Seit Beginn der Aufklärung (mit in die Antike zurückführenden Vorläufen) ist die Beschwörung des Politischen in der Kunst wie ein ungleicher Zwilling mit der Behauptung ihrer Autonomie verbandelt. Gegenüber der Forderung nach Ethik, Engagement und politischer Explizität verwahrt sich zwar die Autonomie mit dem Hinweis auf die Gefahr der Instrumentalisierung. Zugleich wird aber die intrinsische gesellschaftliche Relevanz und das politische Potential – die Politizität – des Ästhetischen selber herausgestrichen. Bei Kant ist es das interesselose Wohlgefallen des urteilenden Betrachters, das eben in dieser Interesselosigkeit die emanzipative Idee nicht-instrumentalisierter Kunsterfahrung in Zeiten erodierender feudaler Strukturen schon erkennen lässt.1 Bei Adorno ist es die Autonomie der Kunst gegen die Zumutungen der Gesellschaft (sprich: die »zur Totalität aufgeblähte Kulturindustrie«2). Bei Luhmann wiederum ist es Autonomie in der Gesellschaft – die Selbstbezüglichkeit der Kunst erscheint als jene Qualität, die es ihr erst erlaubt, »Welt in der Welt erscheinen zu lassen.«3 Und bei Rancière, destilliert aus der Schiller’schen ästhetischen Erziehung, wird aus der rezeptiven Teilhabe an der ästhetischen Erfahrung der von emanzipierten – nicht belehrten – Betrachtern geführte Diskurs, in welchem diese sich über ihre prinzipiell individuellen und potentiell radikal
1 | Immanuel Kant sagt, dass man einen Palast schön finden kann, obwohl man mit Rousseau die Adeligen verabscheut, die »den Schweiß des Volkes auf so entbehrliche Weise verwenden«, Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1981, §2, S. 116. 2 | Adorno, Theodor W.: »Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit«, in: Ders.: Eingriffe. Neun kritische Modelle, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1963, S. 139. 3 | Vgl. Luhmann, Niklas: Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997, S. 241.
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unterschiedlichen Lesarten austauschen4 – wobei sich letztlich am Grad der Emanzipation das politische Potential dieses Diskurses bemisst.5 Verkürzt gesagt versichert sich die Philosophie also in dieser Traditionslinie (und in dieser Reihenfolge) einer Kunst, die sich gegen feudale, industrielle, bürokratische sowie didaktische Indienstnahmen immunisiert. Die Entgrenzung oder Zerfransung der Kunst hinein in andere Gattungen steht derweil unter dem Anfangsverdacht, ebensolchen Indienstnahmen zuzuarbeiten, auch dagegen also die Immunisierung.6 Ob diese Lesarten der Kunst entgegenkommen und nicht doch mehr dem Bedürfnis der Philosophie dienen, sie in »Ästhetik« (oder gar »Schönheit«) zurückzubändigen, bleibt zu fragen. Die signifikantesten Impulse zur Bildung einer komplementären Linie kamen jedenfalls nicht aus der Philosophie, sondern aus der Kunstpraxis und Kunsttheorie. Hier dominiert ein Unbehagen an der Selbstgewissheit der künstlerischen Autonomie, ohne dass man sich als Alternative mit politischer Auftragskunst begnügte oder gar einer bloß abstrakt behaupteten Politizität, d.h. prinzipiellen Politisierbarkeit der Kunst. Mindestens ebenso verkürzt wie oben ist hier der Schnelldurchlauf: In dieser Traditionslinie ist Kunst vor allem (ästhetischer) Modellfall einer (ethisch) besseren sozialen Praxis. Da gab es jenen Strang der historischen Avantgarden, die – etwa am Bauhaus – diese Modellhaftigkeit direkt zu verknüpfen suchten mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit, die also hineingingen in die Gestaltung der Lebenswelten. Und da gab es jenen anderen Strang der historischen Avantgarden, der sich gerade diesem Hinein verweigerte und einen taktischen Rückzug antrat, etwa lose, exilantische Gemeinschaften bildend wie am Monte Verità – ein Rückzug allerdings nicht in die ästhetische Autonomie, sondern die gelebte Utopie. Entscheidend ist bei beiden Strängen der Schritt vom Erzählen und Abbilden zum exemplarischen Machen – von
4 | Rancière schreibt dazu: »The collective power shared by spectators does not stem from the fact that they are members of a collective body or from some specific form of interactivity. It is the power each of them has to translate what she perceives in her own way, to link it to the unique intellectual adventure that makes her similar to all the rest in as much as this adventure is not like any other«, Rancière, Jacques: The Emancipated Spectator, London: Verso 2009, S. 16f.; siehe dazu auch S. 19, S. 22. 5 | Vgl. Rancière, Jacques: The Politics of Aesthetics, London/New York: Continuum 2004, sowie ders.: The Emancipated Spectator, London: Verso 2009. 6 | Adorno hat hellsichtig die Kehrseite dieser Verdachtsneigung benannt: Der Grundaffekt gegen Hybridisierung gilt ihm mit Verweis auf den Reinheitswahn der Nazis als kryptofaschistisch. Vgl. dazu Adorno, Theodor W.: »Die Kunst und die Künste« (1966), in: Ders.: Kulturkritik und Gesellschaft I, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1977, S. 434.
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Repräsentation zu Performativität. Künstlerisches Tun ist nun nicht mehr nur die Voraussetzung des Kunstwerks, sondern kann an dessen Stelle treten.7 Die bloße Tatsache, dass es dabei – mal mehr, mal weniger explizit – um den Modellfall einer besseren sozialen Praxis geht, beantwortet nicht die Frage, was überhaupt tatsächlich besser – beispielsweise freier, glücklicher, gerechter usw. – wäre. Aber dass es besser sein soll, lässt sich in diesem Paradigma stets ablesen. Die Spätavantgarden der 1960er Jahre (Fluxus, Konzeptkunst usw.) demonstrierten den Schritt vom Kunstobjekt zu künstlerischer Aktivität entsprechend, um sich Handlungsspielräume zu eröffnen, als taktische Kombination der beiden zuvor genannten Ansätze der historischen Avantgarden: Hineingehen in die Lebenswelt, sich dieser öffnen, dabei aber zugleich einen Rückzug oder eine Verweigerung gegenüber dieser einbauen. Etwa, indem man ein Restaurant aufmacht, in dem die Gäste zum Ende des Mahls die Knochen der verspeisten Fleischstücke als Ketten tragen.8 Oder, in dem man ein Gespräch führt, verstanden als künstlerisches Werk, den genauen Inhalt dieses Gesprächs aber nicht aufzeichnet.9 Oder gleich ganz die Kunst zugunsten der Welt verlässt, ebendiesen Akt aber als Kunstwerk definiert.10 In dieser zunehmend verschärften Dialektik deutet sich an, was die Kunsttheorie – etwa bei Thierry de Duve – vielleicht erst seit den 1990er Jahren wirklich nachvollzogen hat (und die Philosophie nur bedingt oder gar nicht): dass Kunst wie geschaffen ist, um die normativen Vorstellungen, die sie selber mit hervorbringt – was das Schöne, was das Politische, was das genuin Künstlerische sei – fortwährend wieder abzuwählen. Kunst fasst sich, wenn sie nicht zu fassen ist. Der Akzentverschiebung von Kunstwerk zu künstlerischer Aktivität entspricht eine Verschiebung von Künstler zu Rezipient. In Joseph Beuys’ Begriff der »sozialen Plastik«, zuerst 1967 geäußert, ist der Gedanke der Kunst als Modellfall einer besseren sozialen Praxis ebenso enthalten wie, genau dreißig Jahre später, in Nicolas Bourriauds »relationaler Ästhetik«. Der Unterschied besteht in den zugrundeliegenden Konzepten von der Beziehung zwischen Künstler und Gegenstand, Künstler und Publikum – wobei hier gerade das Publikum zum Gegenstand wird. Bei Beuys ist der Begriff »soziale Plastik« wörtlich bildhauerisch zu verstehen. Die Menschen erscheinen den Künstlern als zu bildende und knetende Figuren.11 Entsprechend ist das zugrundliegende 7 | Vgl. dazu Groys, Boris: »Künstlerische Selbstenthüllung«, in: frieze d/e, Nr. 1, Sommer 2011, S. 78-83. 8 | Gordon Matta-Clark, Matta-Bones, 1971, im Künstler-geführten Restaurant FOOD, SoHo, New York. 9 | Ian Wilson, Discussions (seit 1968), sowie Lee Lozano, Dialogue Piece (1969). 10 | Lee Lozano, Drop-Out Piece (ab ca. 1970). 11 | Der Ausspruch »Jeder Mensch ist ein Künstler« ist dazu kein Widerspruch, weil Beuys damit lediglich die Möglichkeit beschreibt, dass potentiell jeder die bildhauerische Bil-
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Konzept letztlich das einer antiken bzw. mittelalterlichen Hermeneutik: die priesterlich privilegierte Auslegung einer überbrachten oder noch zu überbringenden höheren Botschaft. Bei der Bourriaud’schen relationalen Ästhetik hingegen geht es nicht um Hermeneutik, sondern um eine paradoxe Hermetik. Paradox deshalb, weil das hermetische, d.h. abgeschirmte und okkulte Wissen – bestehend aus kodierten, connaisseuristischen Referenzen auf Subkultur und Kunstgeschichte – kombiniert wird mit einer demonstrativ einladenden Geste der sozialen Öffnung. Darin baut sie auf die zuvor erwähnte Logik der Spätavantgarden der 1960er Jahre des sich Öffnens und gleichzeitigen Zurückziehens auf. Der subtile, meist nicht explizite Verweis beispielsweise auf Konzeptualität von Duchamp bis Lawrence Weiner wird kombiniert mit performativen Gesten der Einladung (ein Gespräch, ein Essen, eine freundliche Gruppensituation mit Fremden usw.) zu Situationen, die selber das Kunstwerk bilden. Die relationale Ästhetik offeriert so kodiertes Wissen ›für alle‹ und stellt sich also in den Dienst des Ideals einer Kunst, die sich (vermeintlich) gegen die Massenkultur auflehnt, indem sie exklusives Wissen durch nichtexklusive Akte zu sozialer Verbundenheit aufführt. Damit wird zugleich eine gemeinsame Wurzel der Beuys’schen Hermeneutik und der Bourriaud’schen relationalen Ästhetik erkennbar. Sie ist, verkürzt gesagt, diejenige, die zu Figuren wie Rudolf Steiner führt. Steiner bildete einen ersten Höhepunkt einer sich in der Moderne anbahnenden Neubegründung der Vorstellung von mystischem, d.h. privilegiertem Wissen zu einer ›höheren‹ spirituellen Ebene außerhalb der Kirchen, welches zugleich aber wie die Kirchen Gemeinden bildet (erst theosophische, dann anthroposophische Gesellschaften, Waldorfschulen usw.). Dieser Gedanke setzte sich in der Kunst fort als noch einmal weiter säkularisiert, d.h. entkleidet von den Anwandlungen gläubiger Ehrfurcht, sich jedoch nicht weniger aus dem Paradox zwischen exklusivem Wissen und nichtexklusiver Einladung speisend. Nur der Akzent bleibt jeweils anders gesetzt in der Beuys’schen und Bourriaud’schen Konzeption. Wären Künstler Priester, so würden sie nach Beuys eher katholisch der Gemeinde rituell vorstehen, während sie nach Bourriaud eher protestantisch gemeinschaftlich mit allen Anwesenden ein Lied sängen (dessen scheinbar harmloser Text ein paar versteckte, weniger harmlose Anspielungen für Bibelkenner enthält). Im Begriff ›Teilhabe‹ verschiebt sich der Akzent hier zwischen diesen beiden Szenarien vom Teil zum Haben: Im ersten, Beuys’schen Szenario ist man zwar Teil der Gemeinde, aber erst im zweiten, Bourriaud’schen hat dung zum Künstler – z.B. durch Beuys – erfährt, bevor er oder sie selber an jedweder Stelle der Gesellschaft das so gewonnene Gestaltungswissen zum Wohle Aller einsetzen kann. Kippenbergers Entgegnung »Jeder Künstler ist ein Mensch« umschreibt das (produktive) Scheitern an diesem hehren Ziel.
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man sie auch verinnerlicht als vollends gemeinschaftliches Erlebnis. Anders und auf Kunst rückübersetzt gesagt: Der Partizipationsgrad des Publikums nimmt merklich zu. Ob diese Zunahme des Partizipativen auch eine Zunahme des Emanzipativen bedeutet oder gerade nicht (wenn nicht eine Abnahme hin zu Infantilisierung, Entmündigung usw.), ist bis heute umstritten. Etwa um die gleiche Zeit, als Bourriaud die relationale Ästhetik formulierte, also Mitte der 1990er Jahre, entwickelte Thierry de Duve die Begrifflichkeit des Whatever, des was-auch-immer.12 De Duve zufolge erfährt das Kant’sche Werturteil »das ist schön!« mit Duchamp und der impliziten Aussage »das ist Kunst!«, eine entscheidende Verschiebung13 (die als Bruch, nicht Kontinuität, anzuerkennen sich die Philosophie, von einschlägigen Theoretikern der Schönheit bis zu Rancière, bis heute schwer tut). Die Verschiebung ist so folgenreich, weil nicht alles schön, sehr wohl aber alles Kunst sein kann. De Duve benennt das sich daraus ergebende Dilemma – das Umschlagen von Freiheit der Wahl in Beliebigkeit der Wahl – als eines, dass an der grundlegenden (Selbst-)Legitimation von Kunst rüttelt. Wenn potentiell alles Kunst sein kann, sie sich also nicht mehr über ein Medium oder eine feste institutionelle Verankerung definiert, so kann sich die Kunst nur noch aus der Verankerung in einer verabsolutierten Souveränität der Kunst und des Künstlers begründen. Sie legitimiert sich in der Willkür des Künstlersubjekts (ich mache mir die Welt, wie sie mir gefällt); oder sie begründet sich über kunstgeschichtliche und kunstbetriebliche Flankierungen (ich mache mir die Welt, wie es die Geschichte oder/und der Markt von mir verlangt).14 Meist kommt es zu einer Melange aus beiden Legitimationen (doppelt gemoppelt hält besser). Reduziert sich Kunst jedoch über einen längeren Zeitraum auf diese beiden Legitimationsangebote, so verliert sie auch diese. Denn Notwendigkeit – warum braucht die Welt, oder auch nur die Kunst, gerade diese Kunst? – lässt sich durch tautologisch verkümmerte Selbstreferenzialität auf Dauer nicht vortäuschen. Auch wenn die Kunsttheorie in der Nachfolge Clement Greenbergs (Stichwort Medienspezifizität) und ein Gutteil der philosophischen Ästhetik es noch so sehr beschwören: Das säuberliche Modell einer aus sich selbst heraus relevanten Kunst, die auf sich und ihre Geschichte unablässig zurückverweist und sich im Zuge dessen sophistisch verfeinert, kommt einer entropischen Verkümmerung gleich. Wer auf Dauer alleine im Deadlock zwischen subjektiver Willkür und objektiver Getriebenheit von betrieblicher Konventionsbildung operiert, macht irgendwann zwangsläufig keine relevante Kunst mehr. Worin aber kann dasjenige Dritte bestehen, das die bloße Verankerung der Kunst in ihrer Geschichte und 12 | Duve, Thierry de: Kant after Duchamp, Cambridge, MA/London: MIT Press 1996, S. 327ff. 13 | Vgl. ebd., S. 304f. 14 | Vgl. ebd., S. 460.
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des Künstlers in sich selbst überwindet, ohne zugleich das Rad vor Duchamp zurückzudrehen; ohne also die Kunst wieder in den Dienst göttlicher und repräsentativer Aufträge oder einer normativen Ästhetik des Wahren, Schönen oder/und Guten (inklusive der kalkulierten Abweichung von dieser) zu stellen? Bevor diese Frage zu beantworten ist, sei gesagt, dass dieses Dritte nicht vorschnell mit dem Politischen oder auch nur der Politizität gleichzusetzen ist. Völlige Freiheit (die unmöglich erscheint) und völliger Zwang (der immer wieder droht) bedeuten beide das Ende der Politik. Umgekehrt heißt Politik zu machen, den Spielraum zwischen Freiheit und Zwang zu eröffnen und zu nutzen. Wenn nun die Kunst Notwendigkeit außerhalb ihrer selbst sucht – sich also vom Zwangsaspekt ihrer spezifischen Form von Freiheit zu befreien sucht – ist das Politische ein echter Wunschpartner. Wenn aber das Politische nicht gleichbedeutend sein soll mit der Rolle eines höheren Auftrags – durch eine Partei, einen Diktator, einen Gott, einen Genius, oder auch nur eine klar benennbare Ideologie – so muss dies Politische also in der sozialen Beziehung nicht höher oder vertikaler, sondern flach oder horizontal zur Kunst verortet sein: und zwar in der Beziehung zwischen Künstler, Kunstwerk, und (potentiell allen) Teilnehmenden der gesellschaftlichen Öffentlichkeit. Damit ist das Politische zugleich schon eingegrenzt auf ein tendenziell anti-hierarchisches, anti-autoritäres Ideal (egal, ob dieses im Einzelnen immer eingelöst wird oder nicht). Das Politische dringt ein in die Art und Weise, wie Kunst sich gesellschaftlich situiert. Der – vorschnelle – Schluss mag also sein, dass die Kunst voll aufgeht in einem Politischen, das gleichbedeutend wird mit einer eintauchenden, einbettenden, immersiven Partizipation, bei der die Grenze zwischen Künstler und Rezipient mehr oder minder fällt. Die Kunst wird aktivistisch, ähnelt den Aktivitäten von NGOs; sie fügt fiktionale Fragmente in nichtfiktionale urbane oder mediale Realitäten ein; sie delegiert künstlerische Produktion an ihre Teilnehmer; meist eine Mischung aus all dem. Aus der Perspektive immersiver Partizipationskunst – von den Aktionen der österreichischen Gruppe Wochenklausur in den 1990er Jahren, die beispielsweise 1998 mittels »Info-Tank« Kreuzberger Arbeitslose »motivieren« wollte, »ihre eigenen Vorstellungen von Arbeit zu entwickeln«,15 bis hin zu Assemble, dem Architektur- und Kunst-Kollektiv, dem 2015 der Turner Prize für ein Stadtteilprojekt in Liverpool zugesprochen wurde16 – kann die Behauptung einer intrinsischen Politizität des Ästhetischen leicht als Schutzbehauptung oder Selbstbetrug gelten. Stattdessen erscheint künstlerische Praxis nur durch die Intervention in reale Strukturen und Situationen gerechtfertigt, abzielend auf
15 | Vgl. www.wochenklausur.at/projekte/08p_kurz_dt.htm (Stand 02.04.2016). 16 | Vgl. www.tate.org.uk/whats-on/tramway/exhibition/turner-prize-2015/turner-prize -2015-artists-assemble (Stand 02.04.2016).
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signifikante Veränderung oder zumindest die Aktivierung der Möglichkeit von Veränderung, meist im Hinblick auf die soziale Stärkung der Teilnehmenden. Gerade mit diesem Stärkungsauftrag aber rückt die immersive Partizipation – man denke an die avantgardistische Kritik am Kino und Fernsehen der Immersion, welche mit Einlullung und Verdummung assoziiert ist – für manche verdächtig nah an Infantilisierung und Entmündigung; ausgedrückt in meist polemisch oder spöttisch verwendeten Begriffen wie Politkunst und Mitmachkunst. Ein weiterer Vorwurf gegen die immersive Partizipation könnte lauten, dass sie die ökonomischen Kalküle neoliberaler Prägung spiegele, den »Kreativitätsimperativ« (Andreas Reckwitz) verinnerlicht und auf ihr potentielles Publikum übertragen habe. Damit führe sie die Kunst und die an ihr Partizipierenden – und sei es noch so gut gemeint – der Vernutzung zu. Das Prinzip eines neoliberalen Evaluations-Bürokratismus, des ständigen Überprüfens auf Vernutz- und Ökonomisierbarkeit, schlüge so ausgerechnet dort auf die Kunst durch, wo sie sich ihm offiziell wiedersetzt. Tatsächlich ist die Gefahr eines vulgären Partizipationismus denkbar, der den eigenen Nutzen, den eigenen Erfolg beim ›Aktivieren‹ des kritischen Subjekts romantisiert oder verabsolutiert – und dadurch Schwundstufen und ideologische Linien produziert, die am Ende bis zu schlecht bezahlten Hilfskräften in Stadtteilprojekten verlaufen, die sich haben suggerieren lassen, sie hätten selbstverwirklichend an etwas Größerem teil. Halten wir vorläufig fest: Vermutlich ist immersive Partizipation im Verbund zwischen Künstlerin, Kunst und Rezipienten allein nicht die Antwort auf die Frage nach der künstlerischen Nutzung des politischen Spielraums zwischen Freiheit und Zwang. Wir dürfen aber vermuten, dass es allein die distanzierte Emanzipation der Betrachter vis-à-vis sich intrinsisch begründender Kunst auch nicht richtet. Mit der Entzauberung kollektiver »Kreativität« ist die Romantisierung oder Verabsolutierung der stillen Absorption des Einzelnen nicht aus dem Schneider. Es wird vielmehr deutlich, dass beide Modelle tendenziell Ausdruck habitueller Codes spezifischer Klassenlagen bleiben; der »Kreativitätsimperativ« und das Aktivierungsgebot gilt vor allem für jene, deren sozialer Ort aus welchem Grund auch immer prekär ist oder wird. Die stille Absorption des Einzelnen als emanzipierter Betrachter erscheint demgegenüber als Privileg jener, die Muße haben, ungetrieben sind, (noch) nicht um ihren gesicherten gesellschaftlichen Ort bangen. Es deutet sich schon an – so wie auch in der gesamtgesellschaftlichen Diskussion – dass die Gefahr gerade darin besteht, diese Modelle gegeneinander auszuspielen: den einen, die nach Absorption als Einzelner suchen, könnte dies pauschal als Ausdruck ihres uneingestandenen Privilegs und ihrer entpolitisierten Blasiertheit angekreidet werden; und den anderen, die sich schon in die immersive Partizipation stürzen, könnte selbstentmündigende Kapitulation vor dem Kreativitätsimperativ unterstellt werden. Gegenüber diesen Pauschalisierungen müsste
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eine systematische Aufschlüsselung der möglichen und unvorhergesehenen Kombinationen beider Vergesellschaftungsformen von Kunst Aufschluss darüber geben, was auf dem Spiel steht. Die Begriffe des Politischen in der Kunst lassen sich vielleicht auf sechs Grundmotive zurückführen, bei denen Autonomie und Partizipation auf jeweils andere Art ins Spiel kommen. Zuerst kommt die Frage nach dem Kontext der Kunst selbst: Wer macht was für wen? Die Erzählungen über den Markt, die Nation, die gesellschaftlichen Hegemonien und dominanten Ideologien (Religionen, Welterklärungsmodelle, Machtlegitimationen etc.) reichen weit in die Kunstgeschichte zurück, sie sind in gewisser Weise unabhängig von den konkreten Sujets und Formbildungen immer Begleitsound der Kunst gewesen. Mit der aus der Konzeptkunst erwachsenen Institutional Critique seit den 1970er Jahren ist dieser Begleitsound als Hauptsignal selber genuines Genre geworden. Zweitens: Aus der Erzählung über das Wer und das Was und das Für-wen erwächst zugleich, im Takt mit dem Entstehen von demokratischen und zivilgesellschaftlichen Strukturen das, was man im Idealfall eine ›kritische Öffentlichkeit‹ nennen kann. Denn die Kritik ist die Instanz, in der die vorgenannte Erzählung davon, wer was für wen künstlerisch gemacht hat, wiederum bewertet wird. Anders gesagt: Es ist die ästhetische Urteilskraft, aus der wiederum erst wieder die Erzählung von der Politizität der Kunst entstehen kann – als Vorstellungen davon, was die Kunst vermögen könnte oder sollte. Die Künstler selbst formulieren diese Vorstellungen in ihren Werken mit. Auch das dritte Grundmotiv, dass man vielleicht sonst intuitiv an den Anfang gestellte hätte – Repräsentation des Politischen selber als Sujet – erwächst aus dem ersten, also aus dem Wer-Was-Für-wen. Denn zuerst sind da die hegemonialen Bilder, die für jemandes spirituelle Legitimation oder/und irdischen Machterhalt gemacht sind, denen dann die Karikatur als vielleicht älteste aus dieser Konstellation erwachsene Form entgegentritt. Die Karikatur ist die Abspaltung einer subversiven Repräsentation aus der offiziellen in Auftrag gegebenen. Hier haben wir es mit dem klassischsten der landläufigen Begriffe politischer Kunst zu tun: die Produktion von Bildern und Erzählungen des Satirischen, der subversiven Kritik, des Agit-Prop. Es geht – von historischen Vorläufern über William Hogarth zu Charlie Chaplin, Bertolt Brecht und John Heartfield bis hin zu Martha Rosler und Banksy – um die Produktion von Gegen-Bildern und Gegen-Narrationen aus den hegemonialen Bildern und Narrationen heraus. Es hat der drei bisher genannten Grundmotive – Kontextreflektion, Kritikfähigkeit, subversive Abspaltung vom hegemonialen Diskurs – bedurft, bevor das vierte entstehen konnte: die Vorstellung einer zunächst impliziten, später expliziten Narration dessen, was gemeinhin unter dem Schlagwort ›Autonomie‹ läuft. Um im ästhetischen Spiel selber das potentiell Politische zu sehen,
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muss es erst die Vorstellung gegeben haben, das Ästhetische werde im Hinblick auf ein äußerliches Politisches eingesetzt. Hier gibt es mindestens fünf historisch gewachsene Untervarianten: 1. 2.
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Privilegierung oder Rehabilitierung von ›Schönheit‹ als Bruch mit dem bloß gesellschaftlich Nützlichen oder moralisch Guten; Daran anknüpfend Müßiggang, Überflüssigkeit, Amoralität als Qualität (Dandyismus, modernistische Befreiung von fixierten sozialen Identitäten); Intrinsische Konsistenz des universalistischen und modernistischen, meist abstrakten Kunstwerks mit fundamentalen Eigenschaften des Menschen (intensive Wahrnehmung und ästhetische Erfahrung als humanistische Utopie usw.) oder mit Eigenschaften des Mediums und des Materials im Sinne einer Greenberg’schen, dem marxistischen Muster folgende, jedoch ästhetisch sublimierte Inbesitznahme der Produktionsmittel. Dem Optimismus eines solchen möglichen Einklangs zwischen Kunstwerk und Mensch bzw. Kunstwerk und Medium/Material, stellt sich – mutmaßlich unter dem Eindruck von Kriegen und Menschheitsverbrechen, in denen Menschen zu bloßem Material wurden – die modernistisch-pessimistische Idee von ästhetischem Bruch, von Ruptur und Opazität entgegen, die sich über alle Unterschiede hinweg bei Bataille ebenso finden lässt wie bei Beckett, Adorno oder Ornette Coleman. Auch die fünfte Untervariante unseres vierten Grundmotivs ›Autonomie‹ erwächst aus den vorigen: Dem modernistischen Optimismus (Abstraktion, Medienspezifizität) und dem modernistischen Pessimismus (Bruch, Opazität) ringt sie eine postmoderne Metareflexion ab, die mit beiden Momenten spielt. Es geht um eine meta-reflexive Dialektik des Kommentierens von Kunst durch Kunst als Politik, etwa bei Louise Lawler, aber auch in manchen Aspekten von Camp oder (Proto-)Punk, etwa im Werk von Paul Thek.
Gegenüber diesem variantenreichen vierten Grundmotiv des ästhetischen Spiels als intrinsischer Politizität kommt fünftens das Grundmotiv der handlungsbetonten Partizipation und Intervention auf. Es geht in der Regel um das Erzeugen von kognitiv dissonanten Überlagerungen zwischen Fiktion und Realität: Kunst als Agit-Prop mit Betonung auf Agit im Sinne von Aktion, jenseits ›bloßer‹ Repräsentation; kollektive Utopien, von proto-Hippie-Reformbewegungen bis digitale Grassroots-Communities; ›Realkunst‹ seit den 1960ern, also Kunst als Mimikry von Alltag und Medien in ebendiesen; Kunst als Dienstleistung; Kunst als NGO-Hilfe, investigativer Journalismus als KunstEssay-Film usw.
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Die genannten vierten und fünften Grundmotive, in denen sich die jeweiligen Aspekte Autonomie und Partizipation besonders variantenreich auffächern (und stellenweise schon ineinander verhaken), legen längst nahe, dass die säuberliche Trennung mehr der Sehnsucht nach begrifflicher Klärung geschuldet ist als der künstlerischen Praxis. In einer Gegenwart angekommen, die im fahlen Mondlicht des de-Duve’schen »Was-auch-immer« nach Notwendigkeit und Relevanzgewinn sucht, bleibt keine Methode dogmatisch verworfen. Dies ist das sechste und vorläufig letzte Grundmotiv des Politischen in der Kunst: ein hybrides, multi-dialektisches (oder mit Merlau-Ponty gesprochen, chiasmisches) Knäuel aus all den vorgenannten Grundmotiven. Sich bewusst zwischen diesen Motiven zu verheddern – oder in der Vorstellung eleganter: sie spinnenhaft zu vernetzen – heißt, zu versuchen, nicht nützlicher Idiot politischer Nomenklaturen oder liberaler Schuldkomplexe zu werden, ebenso wenig wie Innenausstatter oder konformistischer Funktionär einer aufstrebenden Ideologie. Solange die Kunst den mit ihr verbundenen Behauptungen gewachsen ist, kann sie als ständige Überraschung vor ihrer eigenen Kanonisierung sich in die Gegenwärtigkeit retten: Und zwar nicht die Gegenwärtigkeit des marktförmig Neuen (das neuste Produkt etc.), sondern in die Gegenwärtigkeit von Politik – um Geschichte wissend und Folgen absehend, kann sie im Jetzt sich positionieren und handeln. Vielleicht ist es an der Zeit, vor dem Hintergrund dieser zahlreichen aufgefächerten möglichen Erzählungen über das politische Potential an und in der Kunst den Schwerpunkt der Diskussion zu verlagern. Vielleicht geht es nicht mehr um Autonomie versus Partizipation oder Schönheit versus Vernutzung oder emanzipierte Betrachter versus Infantilisierung. Ohne nun in Bausch und Bogen all diese Oppositionen zu Scheinkonflikten zu erklären (das wäre eine billige Finte), geht es darum, einen Schritt weiter zu gehen – oder besser, einen vor diese zurück. Denn vor den genannten Oppositionen gibt es zwei entscheidende neuralgische Punkte, welche diese allesamt mitorganisieren: Es sind dies die Frage nach der agency – der Handlungskompetenz – und jene nach der individuellen Unbehelligtheit. Agency fragt: Wer spricht/handelt/produziert im Namen von wem? Agency findet statt im politischen Spielraum zwischen Teilhabe und Verweigerung, Verknüpfen und Trennen. Ihre ad absurdum geführte Schwundstufe ist ein opportunistischer, unaufrichtiger Multioptionalismus, der den jeweiligen Akteuren des gesellschaftlichen Spektrums, mit denen man sich zu vernetzen sucht und von denen man sich Anerkennung oder/und gesellschaftliches Fortkommen verspricht, nach dem Mund redet: Dem neoliberal geführten Unternehmen, das man als Sponsor gewinnen will, erzählt man etwas von den innovativ-disruptiven Qualitäten des eigenen Schaffens – während man gleichzeitig sich kapitalismuskritisch gebenden Meinungsführenden im akademischen Diskurs ebendiese Eigenschaften als subversives Spiel mit den Erwartungen
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des Marktes zu verkaufen versucht. Die Frage nach der agency zu stellen, heißt, nach den Voraussetzungen zu fragen, unter denen eine künstlerische oder/ und politische Äußerung Einverständnis und Verweigerung markiert – sowie nach den zugrundeliegenden Verschämtheiten, Stigmatisierungen, Privilegien (was für die einen wohlfeil, mussten andere sich erkämpfen) und danach, inwiefern sie diese Äußerungen mitformatieren. Man könnte denken, dass die individuelle Unbehelligtheit – das Recht auf die persönliche Freiheit des Denkens, Wollens, und nicht zuletzt des künstlerischen Produzierens – einen Gegensatz, einen Rückzug vor politischer bzw. politisierbarer agency darstellt. Tatsächlich aber lässt sich mit Hannah Arendt sagen, dass das unbehelligte Vermögen des Denkens, Wollens und Herstellens das politische Handeln vielmehr »mitimpliziert«,17 ja deren conditio sine qua non sind. Leider lässt sich das am leichtesten durch das Negativbeispiel der in autokratischen bis totalitären Tendenzen – wo immer sie auftreten – angestrebten Einschränkung bis Vernichtung dieser persönlichen Freiheit belegen, die eben darauf abzielt, der oppositionellen Handlungskompetenz ihren Boden zu entziehen. Nichts ist aus dieser Machtperspektive verhasster als die öffentliche Zelebrierung der Verbindung, gar des Kurzschlusses zwischen individueller Unbehelligtheit und politischer agency. Vielleicht spüren wir diesen Zustand selber als Gefühl verletzter Unbehelligtheit, wenn übergriffige Formen der künstlerischen Intervention beispielsweise ihr Publikum hijacken und zu Handlungen oder Unterlassungen von Handlungen zwingen (wobei besonders dann Unmut entsteht, wenn diese ›Lektion‹ längst verstanden ist). Darin bleiben diese künstlerischen, unter Versuchs- und Fiktionsbedingungen lancierten Interventionen aber harmlos im Vergleich zu den ökonomischen und großpolitischen Entwicklungen, die über sie hinwegfegen. Es bleibt jedenfalls auch in vergleichsweise freien, zivilgesellschaftlichen Zusammenhängen eine zarte, verletzliche Lebensader, die zwischen Unbehelligtheit und agency besteht. Sie ausgerechnet aus der Kunst heraus zu kappen – ob im Namen verkürzter Begriffe von ästhetischer Introspektion oder politischem Engagement – wäre irrwitzig. Es hieße zu ignorieren, dass die Lebensader zwischen diesen beiden Aspekten politische Freiheit und Kunst gleichermaßen konstituiert. Was also ist das ›Dritte‹, das über die Selbstreferentialität der Kunst hinausweist, ohne sie vorschnell für etwas in Dienst zu nehmen? Die Künstlerin Amy Sillman – die vornehmlich als Malerin bekannt ist, aber auch mit anderen Medien wie Fanzine, Cartoon und Text arbeitet – benennt dafür in einem kürzlich erschienenem Text das Moment der awkwardness, der Peinlichkeit. Sie schildert ihr Unbehagen an bestimmten politischen wie ästhetischen Dis17 | Arendt, Hannah: »Freiheit und Politik«, in: Die Neue Rundschau 69, Heft 4 (1958), S. 670-694.
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kursen, etwa, wenn sie auf einem Panel in den 1990er Jahren saß, auf dem es um eine emanzipative Rückeroberung von Schönheit und visueller Lust gehen sollte und es irgendwann aus ihr herausplatzte: »Schönheit interessiert mich einen Dreck«.18 Oder wenn sie in der jüngeren Gegenwart einem Vortrag von Franco »Bifo« Berardi beiwohnt, in dem dieser dekretiert, »Kunst zu schaffen bedeute, etwas schön, bedeutsam, erotisch, empathisch zu machen – und wie immer, wenn jemand diese Sprache verwendet, um unsere Tätigkeit zu beschreiben, hätte ich am liebsten losgekotzt. Wir machen keine sexy Biester. Wenn überhaupt, sollte man von Libido statt von Erotik sprechen – und so oder so wollen wir eine Kunst, die auch von Hässlichkeit, Zerstörung, Hass und Kampf angetrieben wird.«19 Womit, fügt Sillman an, man zwar sofort Punk assoziiere, sie aber sehr wohl auch an künstlerische Tätigkeiten denke wie den spätnächtlichen Versuch, »ein ›besseres‹ Ölbild« zu malen.20 Das Bessere besteht oft in dieser Peinlichkeit – in etwas, das nicht vorgesehen ist und plötzlich vorfällt; etwas, das die Spannung zwischen Ideal und Wirklichkeit schlagartig (und keineswegs immer angenehm) vergegenwärtigt. Es geht Sillman also weder um das bloße Favorisieren von Affekten (Hass) oder Medien (Malerei) noch um das bloße Zurückweisen einer bildungsbürgerlich verklärten, normativen Ästhetik (erotisierende Schönheit usw.). Vielmehr geht es ihr – vermittelt über das Phänomen der Peinlichkeit – um die beschriebene Lebensader zwischen der intimen Sphäre des Denkens, Wollens und künstlerischen Herstellens und der Sphäre des sozialen Kampfes und politischer Positionierung. Bei Christoph Schlingensief etwa war in den gelungensten Aktionen meist das Moment der Peinlichkeit in seiner Person selber garantiert: Der Typ, der sich um Kopf und Kragen redet; der »Ausländer raus« als Slogan benutzt für einen bösen Medienstunt im öffentlichen Raum, reagierend auf den Rechtsruck in Österreich (Ausländer raus! Schlingensiefs Container, 2000); der behinderte oder anderweitig stigmatisierte Akteure ›vorführt‹ und sich dabei zugleich selbst stellvertretend kontaminiert mit Rassismus, Hass, Gewalt usw. All dies tat Schlingensief offenbar im Bewusstsein darum, dass er andernfalls zwangsläufig die Rolle des zynisch-souveränen, moralisch sauberen Helden eingenommen hätte, der die Missstände subversiv anprangert, ohne dabei wirklich an die eigene Position zu rühren (wie das tendenziell bei den selbst-
18 | Sillman, Amy: »Shit Happens«, in: frieze d/e, Nr. 22, Dezember 2015, S. 74-79, hier S. 77. 19 | Ebd. Vgl. auch Franco »Bifo« Berardi, www.e-flux.com/journal/running-along-thedisaster-a-conversation-with-franco-»bifo«-berardi/ (Stand 02.04.2016). 20 | Sillman, »Shit Happens«.
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erklärten Schlingensief-Adepten vom Zentrum für Politische Schönheit der Fall zu sein scheint 21). Der Moment der Peinlichkeit ist der, in dem – aus dem künstlerischen Produzieren zur Welt hin – die Lebensader zwischen Intimität und Politizität plötzlich auf konfrontative Weise offenbar wird, tragikomisch enthüllt als so existentiell robust wie angreif bar, fragil.
21 | Deren 2015er Video Die Jean-Monnet Brücke, wie einst Schlingensiefs Ausländer Raus! von den Wiener Festwochen in Auftrag gegeben, präsentiert einen (fiktiven) Staatsauftrag Österreichs, eine Brücke für Flüchtlinge zwischen Tunesien und Sizilien zu bauen. Es ist Ausdruck eines sich über ›Parodie‹ und ›Subversion‹ definierenden, dabei jedoch entleert bleibenden moralischen Heroismus, in dem Flüchtige nie anders als anonym, stumm oder/und tot vorkommen, www.politicalbeauty.de/rettung.html (Stand 02.04.2016).
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Die teilnahmslose Kunst 1 Alexander García Düttmann In jeder Praxis, selbst in der revolutionären, wirkt eine »unbefragte Vertrautheit«,2 stellt Herbert Marcuse in seinem Versuch über die Befreiung fest. Wenn ich an einem Kunstwerk teilnehme, wenn sich meine Teilnahme von der künstlerischen Arbeit nicht mehr trennen lässt, wenn ich nicht einmal mehr sagen kann, dass meine Teilnahme eine Teilnahme an etwas ist, an etwas, das ich unabhängig von meiner Teilnahme noch als Kunst bezeichnen kann, wenn sich also das Teilnehmen an Kunst und das Machen von Kunst nicht mehr unterscheiden lassen, wenn die Kunst gänzlich in die Teilnahme an ihr eingegangen ist, und wenn ich teilnehme, um etwas über die Gegenwartskunst und die Kunst der Teilnahme zu erfahren, um sie zu erkunden und zu erforschen, ist dann meine Einstellung eine reflexive, eine Teilnahme an der Teilnahme? Kann ich noch teilnehmen, dabei sein, wenn ich an der Teilnahme selber, am Dabeisein, teilnehmen will, um über es zu reflektieren? Wie kann ich die beiden Reflexionen auseinanderhalten, die Reflexion, die von der Teilnahme gezeitigt wird, etwa um eine politische Bewusstwerdung oder Selbstermächtigung herbeizuführen, und die Reflexion auf die Teilnahme selber und auf die von der Teilnahme gezeitigte Reflexion, auf die in der Kunst, in der praktischen Kunsterfahrung entsprungene politische Bewusstwerdung oder Selbstermächtigung? Wie viel Reflexion braucht und erträgt die Teilnahme, von der in der Gegenwartskunst die Rede ist, die Teilnahme, die als Praxis, folgt man Marcuse, einer »unbefragten Vertrautheit« bedarf? In dem Maße, in dem ich auf die Teilnahme und ihre reflexiven Auswirkungen reflektiere, nehme ich vielleicht gar nicht teil, löst die Teilnahme keine politische Bewusstwerdung oder Selbstermächtigung aus; in dem Maße, in 1 | Dieser Aufsatz geht auf einen Vortrag zurück, den ich im Juni 2015 an der Akademie der Künste in Berlin gehalten habe, auf einer von Leonhard Emmerling und dem GoetheInstitut veranstalteten Tagung zum Verhältnis von Kunst und Politik. Erschienen ist er zum ersten Mal in der Zeitschrift Lettre International (Herbst 2015). 2 | Marcuse, Herbert: Versuch über die Befreiung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1969, S. 64.
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dem die Teilnahme reflexive Auswirkungen zeitigt und eine politische Bewusstwerdung oder Selbstermächtigung herbeiführt, kann sie die Reflexion vielleicht nicht auf die Aktivierung eines Veränderungspotentials beschränken, weitet sich die Reflexion vielleicht schon aus und wird zu einer Reflexion, die auf sich reflektiert, auf das Teilnehmen als einem reflexiven Teilnehmen, das über die Teilnahme und die politische Bewusstwerdung oder Selbstermächtigung hinausgeht und ihr vielleicht dadurch die Kraft nimmt.
I. Ich weiß also nicht, was ich eigentlich getan habe, als ich am Freitag, den 8. Mai 2015, nachdem ich am späten Nachmittag auf einer Tagung von Bard College Berlin einen Vortrag über die Privatsphäre gehalten hatte, um neun Uhr abends in eine mir unbekannte Charlottenburger Privatwohnung gegangen bin, um an einer Theateraufführung teilzunehmen, die die Gruppe Rimini Protokoll Hausbesuch Europa genannt hatte. »Theateraufführung« war die Bezeichnung, die Sebastian, der Spielleiter, mehrfach verwendet hat. Auf meine Frage hin, ob es sich bei diesem Hausbesuch Europa, der es ganz und gar auf die Teilnahme angelegt hatte, auf eine Öffentlichkeit von vierzehn teilnehmenden Besuchern in einem Raum, den eine Privatperson zur Verfügung gestellt hatte, tatsächlich um eine Theateraufführung handelte, bestätigte der junge Mann den Gebrauch des Begriffs. Vielleicht hat er den Begriff bewusst und in Absprache mit Rimini Protokoll gebraucht, verwendet die Gruppe das Wort »Aufführung« doch auf der Internetseite, auf der sie Hausbesuch Europa ankündigt; vielleicht aber hat er es ganz ahnungslos getan, unbekümmert um Sprachreglungen des postdramatischen Theaters. Der extrovertierte, gutgelaunte Sebastian, der als ›Helfershelfer‹ von Rimini Protokoll harte Arbeit geleistet hat, um die Teilnahme in den vorgesehenen Rahmen zu rücken, trug einen Bowlerhut auf seinen blonden Locken und sah ein wenig wie ein sehr magerer Ninetto Davoli aus. Den naiven, lächelnden, blumengeschmückten, volkstümlich gutmütigen Lebensbejaher in Pasolinis Filmen kannte der Spielleiter nicht, wie sich am Ende der Theateraufführung herausstellte. Vielleicht bin ich wegen Sebastian bis zum Schluss geblieben und habe brav teilgenommen, vorausgesetzt, meine Teilnahme war überhaupt noch eine Teilnahme, nicht ein Abdriften. Hausbesuch Europa ist ein serielles Projekt, mit dem Rimini Protokoll sechs Monate lang durch den europäischen Kontinent reist, als würde es sich um eine Duchamp’sche Valise handeln, die man überall und jederzeit schnell ausund wieder einpacken kann, mag auch ein von der Inter- oder Transmedialität noch nicht ganz durchdrungener Diedrich Diederichsen bereits vor sieben Jahren der Gruppe vorgehalten haben, ihr Theater lasse zuweilen das »erzäh-
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lerisch-dramatische Potential« vermissen und nähere sich zu sehr der »bildenden Kunst« an.3 ›Aufführungen‹ finden mehrmals am Tag statt, manchmal parallel in verschiedenen Vierteln einer Stadt. So soll ein »Netzwerk« ohne Zentrum entstehen. Es geht also um eine »Aufführung, die sich im Handgepäck transportieren lässt und die uns so nahe kommt, wie es die großen Ideen sonst selten tun«.4 Lädt man Rimini Protokoll in das eigene Wohnzimmer ein, klingelt irgendwann eine ›große Idee‹ an der Haustür, die Idee Europas. Nun kann man die ›große Idee‹, die sich aufgrund ihrer Tragweite und ihrer Losgelöstheit, aber auch aufgrund ihrer Veränderbarkeit, gewöhnlich in der Ferne hält, weit weg von den kleinen Leuten, aus lebendiger Nähe betrachten und Tuchfühlung mit ihr aufnehmen. »Was ist Europa?«, fragt Rimini Protokoll. Und bietet dann mehrere alternative Antworten an: »Ist es eine geografische Grenze, eine kulturelle Identität, ein Staatenverbund? Europa, so wird immer wieder konstatiert, ist am ehesten eine sich ständig wandelnde Idee – zu theoretisch, als dass sie vom Einzelnen als Lebenswirklichkeit erfahren werden könnte.« Weil demnach Europa selbst dort, wo es einschneidend die Praxis bestimmt, eine Idee ist, die in einer unzumutbaren theoretischen Abstraktion befangen bleibt, kontrastiert Rimini Protokoll »diese abstrakte europäische Idee mit der Individualität einer Privatwohnung«. Die Idee wird vermenschlicht: »In einem Wohnzimmer werden 15 Menschen Teil einer Inszenierung, die persönliche Geschichten und die Mechanismen des politischen Europa miteinander verzahnt. Wie viel Europa steckt in einem Menschen?«5 Sebastian hatte unsere Gastgeberin gebeten, zum Auftakt ihre Lieblingsmusik aufzulegen, und so hörte ich die Musik zum Ballett Spartakus von Aram Khatschaturian, als ich die Charlottenburger Wohnung betrat, in der ich endlich einem Europa aus Fleisch und Blut begegnen sollte, dem Europa in mir und dem Europa der anderen. Natürlich konnte sich im Verlauf des Abends auch herausstellen, dass Europa gar nicht in uns steckte. Freundlich wurde ich gebeten, auf einer großen europäischen Landkarte, die auf einem langen Tisch ausgebreitet lag, um den herum fünfzehn Stühle standen, drei Punkte mit einem Filzstift einzutragen und sie zu einem Dreieck zu verbinden. Ich sollte die Stadt markieren, in der ich geboren worden war, einen Ort, an dem ich lange gelebt hatte, und einen Ort, an dem ich etwas erlebt hatte. Die anderen Teilnehmer, nicht alle Europäer, die meisten recht jung, wurden aufgefordert, meinem Beispiel zu folgen. Dann begann das Spiel. Ein eigens für die ›Theateraufführung‹ erfundener Apparat, dessen Signale Sebastian mit seinem Tablet 3 | Diederichsen, Diedrich: »Betroffene, Exemplifizierende und Human Interfaces«, in: Miriam Dreysse/Florian Malzacher (Hg.): Experten des Alltags. Das Theater von Rimini Protokoll, Berlin: Alexander Verlag 2007, S. 158-163, hier S. 163. 4 | www.rimini-protokoll.de/website/de/project_6692.html (Stand 22.12.2015). 5 | Ebd.
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steuerte, machte die Runde und spuckte, nachdem ein Alarmzeichen erklungen und man auf einen grünen Knopf gedrückt hatte, Papierfetzen aus, auf denen Fragen oder Anweisungen gedruckt waren, die man manchmal laut vorlesen musste, manchmal nicht. Man musste z.B. angeben, ob man Angst vor der Zukunft habe, der Funktionstüchtigkeit der Demokratie vertraue, sich als ein zur Solidarität bereiter Bürger einschätze, welche Strecke die längste sei, die man je zu Fuß zurückgelegt habe, und ob man sich zu Hause mit den Nachbarn vertrage, ob man schon gewalttätig gewesen sei, wie der Italiener, der seinen Freund geschlagen hatte, an welcher Demonstration man sich zuletzt beteiligt habe und ob man meine, in der eigenen Brieftasche stecke mehr oder weniger Geld als in der der Mitspieler. Man musste unter den Tisch kriechen und die Schuhe der anderen mustern, um zu ermessen, wer wohl gerne lief. Einmal mussten alle schweigen bis noch der Letzte nicht mehr schweigen wollte. »Hausbesuch Europa« von Rimini Protokoll (Haug/Kaegi/Wetzel)
© Pigi Psimenou
Das Schweigen wurde nach ein paar Minuten vom Spielleiter unterbrochen, um den Abend nicht unnötig in die Länge zu ziehen. Später mussten die Spieler darüber abstimmen, ob man das anhaltende Schweigen als Widerstandsleistung bewerten sollte, die Lob oder Strafe verdiente. Nach mehreren Runden, die sich jeweils durch wechselnde Perspektiven auf Europa voneinander abhoben und spiralförmig auf eine jeweils andere Ebene zusteuerten, wurde
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»Hausbesuch Europa« von Rimini Protokoll (Haug/Kaegi/Wetzel)
© Pigi Psimenou
ein Punktesystem eingeführt. Es wurden Teams gebildet, deren Mitstreiter ein Computerprogramm aufgrund der von den Spielern zuvor erteilten Antworten ausgewählt hatte, Teams, die gelegentlich entscheiden mussten, ob sie bereit seien, Punkte an die momentanen Verlierer abzugeben. Die Geschichte des wirtschaftlichen und staatlichen Zusammenschlusses von Europa nach dem zweiten Weltkrieg wurde stichwortartig rekonstruiert, und der griechische Mythos der von Zeus entführten Schönen wurde nacherzählt, weil die Spieler es sich so gewünscht hatten. Während des Spiels wurde im Ofen der Küche ein Kuchen gebacken, den die Sieger zum Schluss unter sich aufteilen sollten. Nach zwei Stunden war die Teilnahme vorbei. Unser Spielleiter schien erleichtert, wie ich einem unwillkürlichen Seufzer entnahm. Die Technik hatte ihn trotz einzelner Pannen nicht vollkommen im Stich gelassen, die Teilnehmer hatten seine Aufgabe nicht unnötig erschwert, so sehr sie gelegentlich schwer von Begriff waren. Nun konnten er und seine Assistentin Miriam einpacken. Sie hatten Feierabend. Im Gegensatz zu einer griechischen Freundin, die in Prenzlauer Berg nach kurzer Zeit Reißaus genommen hatte, war ich geblieben. Sebastian hat noch ein Gruppenfoto für das Archiv gemacht, das aus den vielen Aufführungen hervorgehen soll, ein Dokument mit namenlosen Teilnehmern für die Dokumentation eines dezentralen Netzwerks. Ich habe gelächelt. Und bin allein in meine Wohnung zurückgegangen. Ich war genauso dumm wie zuvor, hatte die
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Idee nicht zu Gesicht bekommen, hatte sie weder lokal gesichtet noch in mir und in anderen gefühlt. Mir war nichts eingefallen. Nichts an Europa war mir deutlich geworden, was zuvor meinem Bewusstsein entgangen war, nichts hatte mich als Europäer oder Anti-Europäer ermächtigt. Die Erfahrung der Teilnahme an Hausbesuch Europa hatte meine Reflexionen über die Bereitschaft zur Solidarität oder die Reaktion auf Widerstand nicht über die Grenzen des erwartbaren Urteils und des wiedererkennbaren Gedankens hinausgetrieben. Ich war wieder einmal durch die Maschen der Gegenwartskunst gefallen. Hausbesuch Europa hat auf mich wie eine ziemlich humorlose, psychotechnologisch aufgepeppelte und doch altmodische Abendunterhaltung für eine infantilisierte Gesellschaft mit netten und arglosen Mitgliedern gewirkt, die alle einem überraschenden und gewaltsamen Tod geweiht sind, einer spurlosen Auslöschung. Es war, als hätte Rimini Protokoll eine Fernsehsendung aus der Vorzeit wiederbeleben wollen, das Quiz EWG, und einen Moderator, der zu der inzwischen ausgestorbenen Spezies anzüglich geistreicher Charmeure gehörte. Das Sigel EWG stand sowohl für »Einer wird gewinnen« als auch für »Europäische Wirtschaftsgemeinschaft«. Statt mich zum Nachdenken anzuregen, hat Hausbesuch Europa also den Verdacht bestätigt, das Vorurteil bekräftigt, das mein Nachdenken über Teilnahme, Politik und Gegenwartskunst zuvor schon geprägt und mich zum Kauf einer Karte veranlasst hatte – den Verdacht, dass in der Gegenwart die künstlerisch politische Inszenierung der Teilnahme häufig einem Taschenspielertrick ähnelt. Dieser Taschenspielertrick besteht darin, dass man in dem Augenblick, in dem man nach der Kunst fragt, auf die Politik verwiesen, und in dem Augenblick, in dem man nach der Politik fragt, wiederum auf die Kunst verwiesen wird. In Wahrheit darf man gar nicht fragen, was an der Teilnahme Kunst und was an der Kunst politisch ist – denn in beiden Fällen verfehlt man die Teilnahme, wird einem bedeutet, dass man gar nicht begriffen hat, worum es der Gegenwartskunst zu tun ist, als hätte man eine allgemeine Verabredung getroffen, die besagt, dass Gegenwartskunst die Fragen ›Was macht die Gegenwartskunst zur Kunst?‹ und ›Was macht die Gegenwartskunst zur Politik?‹ als irrelevant entlarvt hat. Ist es ein Zufall, dass der Gegenwartskünstler, der sich der Teilnahme verschreibt, offene Türen einrennt, dass er sowohl die Teilnehmer, die dazugehören, als auch die Teilnehmer, die es nicht tun, kaum verändert, obwohl sich die meisten augenscheinlich darüber freuen, teilnehmen zu dürfen? Ist die Kunst der Teilnahme in Wirklichkeit eine teilnahmslose, stumpfe Kunst? Vielleicht hilft die Theorie, die Idee, nachdem eine ihrer Individualisierungen, eine ihrer Versinnbildlichungen, einer ihrer ästhetischen Materialisierungen in der Gegenwartskunst oder im postdramatischen Theater der Teilnahme leider versagt hat. Durch die Vorgabe eines vom Künstler geschaffenen Rahmens, zu dem im Fall von Hausbesuch Europa die Eingriffe eines Spielleiters ebenso zählen wie
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die Handhabung technischer Gadgets, unterscheidet sich die Teilnahme als Geschehen der Gegenwartskunst oder als Aufführung des postdramatischen Theaters von anderen Gestalten der Teilnahme. Ihre politische Dimension wächst dieser Teilnahme erst zu, soll sie doch durch den Rahmen, den der Künstler für sie schafft, eine Bewusstwerdung oder eine Selbstermächtigung der Teilnehmenden zeitigen, nicht schon voraussetzen, wie bei der Wahl einer Partei, die sich als Teilnahme im Sinne des Handelns von Bürgern begreift. Man muss demnach fragen, wie das Zuwachsen dieser politischen Dimension, also die Bewusstwerdung oder Selbstermächtigung der Teilnehmenden, gefasst wird – wie sie in der Theorie gefasst wird, die eine Idee von Gegenwartskunst entwickelt. Geht man nun der Frage nach, stößt man auf die entscheidende Rolle, die der Begriff der Reflexion spielt, vor allem in Theorien, die noch an dem ästhetischen Moment der Kunst festhalten, an einer Erfahrung, die von einer Form ermöglicht wird und die sich zumindest in ihrer kanonischen Behandlung in Kants dritter Kritik nicht auf den Begriff bringen lässt.
II. In seiner Philosophie der Gegenwartskunst definiert Peter Osborne die Gegenwartskunst als einen kritischen Prozess, d.h.: als »geopolitisch reflexive Kunst der geschichtlichen Gegenwart«,6 die »postkonzeptueller Art« ist, die also aus einer »antiästhetizistischen Verwendung« 7 eines grundsätzlich uneingeschränkten »ästhetischen Materials« hervorgeht und eine historisch veränderbare, funktionale Einheit für ihre Werke beansprucht, eine »relationale« und »distributive«, nicht eine substantielle Einheit. Die von Osborne advozierte Gegenwartskunst ist eine Kunst, die eine »reflexive und verklärend umgestaltende Ansicht« 8 eines »Netzwerks zeitlicher Verbindungen« bietet, die »psychischer, gesellschaftlicher, geschichtlicher Natur« sind. Sie ist eine Kunst, die »reflexiv«9 in der erweiterten zeitgenössischen Welt ihren Ort finden, ja die, will sie »gegenwärtig« bleiben, »reflexiv«10 den neuen global-transnationalen Kontext in ihre Verfahrensweisen einbinden muss. Sie darf sich der zunehmenden Integration autonomer Kunst in die Industrie, die sich inzwischen selber ›Kulturindustrie‹ nennt, nicht einfach entgegensetzen, sondern muss ihr durch Reflexion Rechnung tragen. Und so fragt Osborne: »Wie kann je6 | Osborne, Peter: Anywhere Or Not At All. Philosophy Of Contemporary Art, London: Verso 2013, S. 49, Übersetzung A.G.D. 7 | Ebd., S. 48. 8 | Ebd., S. 189. 9 | Ebd., S. 163. 10 | Ebd., S. 21.
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doch die ›Kunst‹ einen Raum besetzen, aufgliedern, kritisch reflektieren und verklärend umgestalten, der so global zu einem transnationalen Raum geworden ist?«11 Obwohl sich Osborne in seiner Philosophie der Gegenwartskunst nicht ausdrücklich und ausführlich der Teilnahme und ihrer politischen Dimension oder Tragweite zuwendet, könnte man aus seiner Insistenz auf der Reflexion und aus der wiederholten Paarung von Reflexion und Kritik, die er vornimmt, folgern, dass man zwischen zwei Formen der Teilnahme in der Gegenwartskunst einen Unterscheid machen muss, zwei Formen der Teilnahme, denen zwei Formen der Reflexion entsprechen. Einerseits gibt es eine Reflexion, die der Gegenwartskunst als solcher innewohnt, gleichgültig, ob es sich um eine ihrer spektakulären oder um eine ihrer diskreten, um eine ihrer globalen oder um eine ihrer lokalen Manifestationen handelt; eine Reflexion, die sowohl das Globale als auch das Lokale von sich fernrückt, in einen durchlöcherten Erwartungshorizont oder in eine radikal zukünftige Perspektive stellt und auf solche Weise politisch auflädt. Die Gegenwartskunst nimmt an sich teil, indem sie an allem teilnimmt, was sich in dem global transnationalen Raum ereignet. Andererseits gibt es eine Reflexion, die aus der Gegenwartskunst als Kunst der Teilnahme resultieren soll und die als Bewusstwerdung oder Selbstermächtigung eine Politisierung der Teilnehmenden zur Folge hat. Hängen beide Teilnahmen und beide Reflexionen zusammen? Man könnte die Frage bejahen. Denn der Teilnahme in der Gegenwartskunst kann lediglich eine politische Dimension zuwachsen, sie kann lediglich eine Bewusstwerdung oder Selbstermächtigung zeitigen, wenn die künstlerische Schaffung ihres Rahmens schon eine Reflexion zur Voraussetzung hat, von einer Reflexion durchzogen wird. Der Künstler muss der Kunst und der Welt gegenüber kritisch sein, soll auch der Teilnehmende sich selbst und der Welt gegenüber kritisch sein können. Er soll, folgt man Rimini Protokoll, sich fragen, wie viel Europa in ihm steckt, stecken kann, stecken soll, nicht davon ausgehen, dass er Europäer oder Nicht-Europäer ist. So gelangt man an den Punkt, an dem Jacques Rancière der Kunst oder dem Theater der Teilnahme eine zweifache Bevormundung vorwirft, die eine entpolitisierende Wirkung oder die Wirkung einer autoritären Politisierung hat. Die Künstler bevormunden die Teilnehmer an ihrer Kunst, weil sie zu wissen glauben, daß »man etwas tun« muss, den »Abgrund« überbrücken, der Aktivität und Passivität trennt.12 Und die Künstler bevormunden die Teilnehmer an ihrer Kunst, weil sie ihnen zwar nicht eine bestimmte Lehre aufdrängen oder eine besondere Botschaft vermitteln, aber doch eine »Bewusstseinsgestalt«13 erzeugen wollen, eine »Gefühlsinten11 | Ebd., S. 28. 12 | Jacques Rancière: »Le spectateur émancipé«, in: Ders.: Le spectateur émancipé, Paris 2008, S. 18. 13 | Ebd., S. 20.
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sität« oder eine »Handlungsenergie«, und dabei annehmen, dass das Wissen, Fühlen, Tun genau jenes Wissen, Fühlen, Tun sein wird, dessen Erzeugung sie durch ihre Kunst beabsichtigt haben – sie nehmen eine »Identität« von Grund und Wirkung an. In dem Kapitel über Teilnahme ihrer Theorien der Gegenwartskunst und in ihrer polemischen Replik auf Badious drittes affirmationistisches Manifest, in dem der französische Philosoph einen Begriff der Gegenwartskunst konstruiert, der weder von ihren gegebenen Erscheinungen seinen Ausgang nimmt noch von einem bekannten Zuschauer oder Teilnehmer, von dem menschlichen Tier mit seinen Eigenarten oder Partikularismen, und der Künstlern und künstlerischen Errungenschaften der Moderne die Treue hält, setzt Juliane Rebentisch ebenfalls, ja mehr noch als Osborne auf die Reflexion, um die Gegenwartskunst, wie sie sich gibt, in ihrer politischen Dimension zu bestimmen oder vielmehr: um, wie Osborne, die politische, ja die ethisch-politische Dimension als eine der Gegenwartskunst innewohnende Dimension zu charakterisieren. Was, so Rebentisch, die »ästhetische Operation der Reflexion«14 auslösen soll, ist eine inhaltlich-formale oder gegenständlich-kategoriale Distanzierung. Dabei geht es nicht bloß darum, dass die Kunst der Gesellschaft den »Spiegel«15 vorhält. Es geht vor allem um eine Selbstreflexion, um eine »selbstreflexive Abstandnahme und Infragestellung endlicher Rechtfertigungshorizonte, innerhalb deren wir unsere Bestimmungen des Guten vornehmen«.16 Die von der Kunst der Teilnahme hergestellte »reflexive Distanz zum Sozialen«,17 zur gesellschaftlich individuellen Lebensweise eines konkreten und partikularen Subjekts, verbindet Kunst und Politik, weil sie die Teilnahme an einer »sozialen Praxis« »politisiert«. Sie produziert nicht die »Intersubjektivität« einer integrativen Gemeinschaft, sondern »thematisiert« »reflexiv«18 die Möglichkeit und Wirklichkeit von Subjektivität und Intersubjektivität als Möglichkeit und Wirklichkeit von Teilnahme. Sie fördert ein »Gewahrwerden«19 der Situiertheit eines jeden Subjekts, auch des über die Gesellschaft und die Kunst urteilenden Subjekts. Das konkrete und partikulare Subjekt wird z.B. zu einer »Konfrontation«20 mit seinen »Vorurteilen« angehalten. Die Kunst der Teilnahme betreibt
14 | Rebentisch, Juliane: Theorien der Gegenwartskunst zur Einführung, Hamburg: Junius 2013, S. 84. 15 | Ebd., S. 76. 16 | Ebd., S. 67. 17 | Ebd., S. 70. 18 | Ebd. 19 | Ebd., S. 84. 20 | Ebd., S. 71.
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eine »Fremdwerdung«,21 die das Subjekt nie »vollständig« kontrollieren kann, schon deshalb nicht, weil sonst die Konfrontation keine wäre, das Vorurteil sich dem Subjekt entziehen würde, es sich seiner »lebensweltlich konventionalisierten Haltungen und Einstellungen«22 nicht durch die »reflexive Vergegenwärtigung« der Kunst bewusst werden, die »reflexive Vergegenwärtigung« der Kunst nicht eine praktische »Bewußtseinsänderung« in Aussicht stellen könnte. »An Kunst« könnte sich nicht, wie Rebentisch es will, »unsere Teilnahme als Frage [reflektieren]«,23 als Frage, die Inhalt und Form betrifft. Indem alle Teilnahme an Kunst, die Teilnahme an der Kunst der Teilnahme und die Teilnahme an Kunst überhaupt, auf die der Kunst unabdingbare »formale Vermittlung«24 stößt, auf das Ästhetische, auf die »Autonomie« der Kunst, rücken die »evaluativen Kategorien« ins Bewusstsein, »vor deren Hintergrund« wir die Welt erfahren. Lässt sich ein Vorurteil etwa nicht sowohl unter dem Aspekt eines Inhalts (›Gegenwartskünstler sind naiv und gleichzeitig durchtrieben – stimmt das wirklich?‹) als auch unter dem einer Form betrachten (›Meine Sicht auf die Gegenwartskunst wird von einem Vorurteil gefärbt, ohne dass ich mir bislang dessen bewusst gewesen bin‹)? Man reflektiert auf die »formale Vermittlung«25 der Gesellschaft, der Wahrnehmungs- und Erkenntnisweisen einer Gesellschaft, weil die »formale Vermittlung« der Kunst ihren inhaltlichen Aspekt fernrückt, dessen eigene ästhetische Vermitteltheit reflektiert. Ja, manchmal sind es, so Rebentisch, gerade »die Fälle, bei denen wir die Wirkungen der Kunst gewissermaßen am eigenen Leibe erfahren (und uns flau wird, wir Gänsehaut bekommen, rot werden oder Ähnliches)«, die uns »in besonderem Maße zu einem Bewusstsein über die gesellschaftliche Vermitteltheit noch des scheinbar Unmittelbaren führen«.26 Kurz, die »Reflexionen und Refraktionen der Kunst«,27 die zur Bildung von jeweils anderen »Assoziationsketten«28 anregen und sich durch »semantische Unausschöpf barkeit«29 hervortun, gestatten es den Subjekten, den Welten, in denen sie leben, »anders« zu begegnen und in einen Prozess der Selbstverständigung zu treten, in dem die eigene Situiertheit nie ganz abgestreift wird, sich aber doch, durch 21 | Ebd., S. 72. 22 | Ebd., S. 79. 23 | Ebd., S. 80. 24 | Ebd., S. 88. 25 | Ebd., S. 82. 26 | Ebd. 27 | Rebentisch, Juliane: »Negations. Against Aesthetic Affirmationism«, in: Armen Avanessian/Luke Skrebowski (Hg.): Aesthetics And Contemporary Art, Berlin: Sternberg Press 2011, S. 51-64, hier S. 62. 28 | Ebd., S. 56. 29 | Rebentisch: Theorien der Gegenwartskunst, S. 36.
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den Konflikt hindurch, auf ein Allgemeines hin öffnet, weshalb Rebentisch die politische Dimension der Gegenwartskunst als die der »Demokratie«30 ansieht. Gewiss, die entscheidende Rolle, die der Begriff der Reflexion, der Selbstreflexion, bei Osborne und Rebentisch spielt, ist nicht eine uneingeschränkte Rolle; die Einschränkungen, die sie vornehmen, ändern aber nichts daran, dass ohne den Begriff der Reflexion weder Osborne noch Rebentisch in der Lage wären, die kritische Pointe der Gegenwartskunst hervorzukehren, ihr »ethisch-politisches Potential«,31 und so einen Zusammenhang zwischen Gegenwartskunst und Politik, ja einen Zusammenhang zwischen Kunst und Gegenwart herzustellen. Die Einschränkungen ändern nichts an dem emotivkognitiven Idealismus der Gegenwartskunst, den Osborne und Rebentisch mit ihrem Gebrauch des Reflexionsbegriffs vertreten, ist doch die Funktion solcher Reflexion oder Selbstreflexion immer, Spannungen aufzulösen oder als auflösbar hinzustellen, Spannungen in der Kunst und Spannungen in der Politik, Spannungen im Zusammenhang zwischen Kunst und Politik, Spannungen im Zusammenhang zwischen Kunst und Gegenwart. Um welche Einschränkungen handelt es sich? Wo er nach der Vermittlung »individueller Werke der Gegenwartskunst« und der »kollektiven Dimension ihrer möglichen Bedeutungen« fragt, eine Frage, die man als Frage nach der gesellschaftlichen Form, aber auch als Frage nach der Teilnahme verstehen muss, verweist Osborne zum einen darauf, dass die Kunstwerke als Objekte auf das Undurchdringliche am Subjekt aufmerksam machen, auf den blinden Fleck, der das Subjekt in dem Maße auszeichnet, in dem es stets auch Objekt ist, ein Ding – wie und ob die Reflexion auf solche Dinghaftigkeit von deren Undurchdringlichkeit unterbrochen wird, ist eine Frage, die Osborne jedoch nicht beschäftigt; zum anderen verweist er darauf, dass »in kapitalistischen Gesellschaften Kollektivität weitgehend bereits formal ist, abstrakt und entfremdet durch Tauschverhältnisse und Warenform« – wie und ob die Reflexion auf solche Dinghaftigkeit von deren Undurchdringlichkeit unterbrochen wird, ist eine Frage, die Osborne jedoch ebenfalls nicht beschäftigt. Wenn ihre Beantwortung an der Abschaffung der Abstraktion und an der Aufhebung der Entfremdung liegt, hat man es in diesem Fall mit einer bedingten Unterbrechung zu tun, mit einer Unterbrechung der Reflexion, die nur so lange andauert, wie die Erzeugung von Kunst im Kapitalismus ihren Ort hat. Rebentisch spricht von der spannungsgeladenen »Unsicherheit«,32 in die performances die an Gegenwartskunst Teilnehmenden stürzen können, freilich nur, um dieser »Unsicherheit« eine Freisetzung »reflexiven Potentials« 30 | Rebentisch: »Negations. Against Aesthetic Affirmationism«, S. 63. 31 | Rebentisch: Theorien der Gegenwartskunst, S. 60. 32 | Rebentisch: Theorien der Gegenwartskunst, S. 78.
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abzugewinnen – wie und ob die Reflexion von der Unsicherheit unterbrochen wird, die sie freisetzen soll, ist eine Frage, die Rebentisch nicht beschäftigt, ebenso wenig wie die Frage nach der Unterbrechung der Reflexion, die in dem Doppelcharakter der Teilnahme selbst liegt, in dem auch von Rebentisch hervorgehobenen Umstand, dass an Kunst teilnehmen in einem unmittelbaren Involviertsein und in einem Gewahren von Kunst als Kunst besteht. Hat diese Unterbrechung einen anderen als einen stimulierenden Effekt auf die reflexiv demokratische Verhandlung, auf die sich das situierte Subjekt einlassen soll, das an der Gegenwartskunst teilnimmt? Hat sie einen a‑demokratischen Effekt, der sich in einen anti-demokratischen Effekt verwandeln kann? Die letztlich ununterbrochene, durch keinen blinden Fleck getrübte Reflexion führt bei Rebentisch den Teilnehmer, der an der Kunst der Teilnahme partizipiert, bis zu jener Grenze, wo er politisch tätig werden kann. Die Überschreitung dieser Grenze ist, wie Rebentisch betont, ein Schritt, der so wenig in die Kunst der Teilnahme fällt wie die Weigerung oder die Unfähigkeit, die Grenze zu überschreiten. Muss die Reflexion aber als eine unterbrochene gelten, als eine von der Gewalt immer wieder abgebrochene Reflexion, die einen blinden Fleck enthält, weil das Gewahren von Kunst als Kunst eine Zäsur im unmittelbaren Involviertsein setzt, während umgekehrt das unmittelbare Involviertsein eine Zäsur im Gewahren von Kunst als Kunst setzt, der Bezug zwischen beiden also immer auch eine Bezugslosigkeit ist, dann führt die Kunst nicht reflexiv an die Grenze von Politik und von politischer Handlung, dann verläuft zwischen Kunst und Politik nicht eine Grenze, die man überschreiten kann oder nicht. Vielmehr erfährt man in der doppelten Teilnahme an Kunst die Gewalt einer Unterbrechung, rennt gegen eine Wand, an der man nicht sehend wird wie an einer Grenze, von der aus sich ein Ausblick auf mögliche politische Handlungen eröffnet. Man weiß nie, ob man an der Kunst teilnimmt oder nicht, ob es eine Kunst der Teilnahme überhaupt geben kann. Je mehr man reflektiert, desto beschränkter ist man. Weder gibt es einen kausalen Zusammenhang zwischen Kunst und Politik noch eine Reflexion der Kunst, die an die Politik, an die politische Handlung heranführt. Vielleicht gibt es nur einen anarchischen Impuls, der von der Widerwendigkeit der Teilnahme an Kunst ausgeht und den eine politische Handlung auffangen kann oder nicht. Dass der Leser in Osbornes deutender Auseinandersetzung mit spezifischen, politischen Arbeiten der Atlas Group, die er für paradigmatische Arbeiten der Gegenwartskunst und für »emblematisch« für den von ihr eingenommenen und geschaffenen »transnationalen Raum« hält,33 so wenig findet, was ihm nicht schon bekannt vorkommt, was er nicht schon wiedererkennt, sodass diese spannungslose Auseinandersetzung den Eindruck weckt, jene Arbeiten würden sich an alle richten, die ihre Elemente schnell zuordnen können, als ginge 33 | Osborne: Anywhere Or Not At All, S. 28.
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es um die Vorhersehbarkeit einer Akzeptanz oder um die Akzeptanz, die in der Vorhersehbarkeit bereits liegt, hat, wenn nicht mit den Arbeiten sel-ber, so doch mit dem emotiv-kognitiven Idealismus zu tun, den der unreflektierte Gebrauch des Reflexionsbegriffs generiert. Nachdem er zwischen zwei Formen der Fiktionalisierung unterschieden hat, zwischen der Fiktion künstlerisch-kollektiver Urherberschaft und der Fiktion dokumentarisch-archivarisch-er Leistungen, und nachdem er die Einheit des Gegenwärtigen oder Zeitgenössischen als Fiktion bestimmt hat, als Projektion einer »nicht existieren-den Einheit«34 auf »disjunktive Beziehungen zwischen gleichzeitigen Zeiten«, schreibt Osborne: »In den Arbeiten der Atlas Group entspricht diese zweifache Fiktionalisierung dem fiktiven Charakter des Zeitgenössischen selber, den sie sichtbar macht. Sie macht ebenfalls einen gewissen allgemeinen fiktiven Charakter des postkonzeptuellen Kunstwerks sichtbar, der als eine kontrafaktische, seinem begrifflichen Umfang innewohnende Wirkung gelten kann.«35 Die Entsprechung und die Sichtbarmachung, von denen Osborne redet, dienen beide der Reflexion als der spiegelnden Verdoppelung, die etwas vorführt, was reflexionslos unbemerkt oder unsichtbar bleiben würde. Weil die Kunst der Atlas Group kohärent ist, kann sie sich selbst als Kunst reflektieren und zeigen, ist sie, gemessen an den Kriterien der Gegenwartskunst, ein sinnvolles und gelungenes Unternehmen. So kann die »fiktionale Kollektivität«36 der Atlas Group auch für eine »ausstehende politische Kollektivität« noch einstehen, reflektiert sich die Reflexion auf einer in die Zukunft verlängerten Bahn und bildet gleichsam einen Horizont, in den die Lücke einbezogen ist, die Lücke, die die Fiktion füllt, mag auch dahinstehen, wofür genau die Kunst einsteht, wie genau die »politische Kollektivität« verfasst sein wird. Rebentischs Versuche, Werke oder Arbeiten aus dem Bereich der Kunst der Teilnahme reflexiv zu retten, erweisen sich als ebenso wenig ästhetisch und politisch überzeugend, als ebenso vorhersehbar und spannungslos, als ebenso »überschaubar«37 wie Osbornes Reflexionen auf zeitgenössische Werke oder Arbeiten. Das ergiebige oder dürftige Material der Reflexion, die Kunst, scheint so gut zur Reflexion zu passen, zur Nähe und Ferne einer Teilnahme, es scheint sich so gut mit ihr zu vertragen, dass man sich fragen muss, warum man überhaupt noch reflektieren soll, ja ob man überhaupt noch etwas anderes tun kann als immer wieder zu reflektieren und sich wie eine schöne Seele ausgeglichen oder betroffen in der Reflektierbarkeit zu reflektieren. Findet in der Gegenwartskunst eine Teilnahme überhaupt statt, eine unmittelbare oder eine vermittelte Teilnahme? Ist diese Kunst und die Teilnahme an ihr häufig 34 | Ebd., S. 23. 35 | Ebd., S. 33. 36 | Ebd., S. 35. 37 | Rebentisch: Theorien der Gegenwartskunst, S. 68.
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nicht bloß ein äußerer Anlass für eine Reflexion, die ihn kaum mehr braucht und die deshalb ins Leere zu laufen droht, in die Leere einer Anhäufung von Gemeinplätzen, in die Leere der Logorrhö von kunstfremden oder kunstindifferenten Künstlern und Intellektuellen? Über den thailändischen Künstler Rirkrit Tiravanija, der »Ausstellungsbesuchern Suppe [servierte]«,38 liest man in Rebentischs Theorien der Gegenwartskunst: »Tiravanija ging es indes offenkundig nicht zuletzt um die soziale Struktur der sich konkret versammelnden Kunstwelt, sie wurde sich hier potentiell selbst zum Gegenstand (welche Positionen werden eingenommen – konkret im Raum und im übertragenen Sinne?); und es ging ihm zugleich darum, die faktische Partikularität einer sich als universal setzenden westlichen Kunstwelt anhand des von ihr Ausgeschlossenen sichtbar zu machen: Es wurde – so denn auch bezeichnenderweise der Titel der Serie dieser Aktionen – Pad Thai gereicht. Wovon sind wir also unter diesen Bedingungen Teil? Und wie nehmen wir teil?« 39
Über den kubanisch-nordamerikanischen Künstler Félix González-Torres und seine »aus aufgeschütteten Bonbons bestehende Installation« Untitled (Lover Boys) liest man wiederum in Rebentischs Theorien der Gegenwartskunst, die Einladung, sich von dem ausgestellten Haufen ein Bonbon zu nehmen, sei »im Kontext der verstörenden Information zu sehen, daß das (immer wieder angefüllte) Gewicht der Bonbon-Aufschüttung dem des Künstlers und seines Partners Ross Lacock entspricht«, also dem wohl kaum gleichbleibenden Gewicht eines Paars, das an den Folgen von AIDS starb. »Die unmittelbar praktische Bedeutung von Partizipation«, bemerkt die Autorin, »wird hier […] untergraben. Stattdessen wird die Möglichkeit der Partizipation selbst zum Material einer Reflexion, durch die sich der Besucher in einer Weise mit dem Werk verstrickt, die ihn weit intensiver berühren kann, als es die Reduktion ästhetischer Erfahrung auf praktische Partizipation zu fassen vermag.« 40
»Atmosphère, atmosphère! Est-ce que j’ai une geule d’atmosphère?« – »Atmosphäre, Atmosphäre! Sehe ich denn wie eine Atmosphäre aus?«, schimpft bekanntlich die Schauspielerin Arletty in Marcel Carnés Film Hôtel du Nord, als ihr missmutiger Liebhaber sie stets erneut zurückstößt und sich einen Atmosphärenwechsel wünscht. ›Reflexion, Reflexion! Sehe ich denn wie eine Reflexion aus?‹, könnte man bei manchen Begegnungen mit der Gegenwartskunst, mit der Kunst der Teilnahme und den theoretischen Reflexionen auf sie ausrufen. 38 | Ebd. 39 | Ebd., S. 69. 40 | Ebd.
Die teilnahmslose Kunst
In der Kunst, ob sie nun Gegenwartskunst, zeitgenössische Kunst der Teilnahme, Moderne oder, warum nicht, traditionelle Kunst ist, muss der Begriff der Reflexion, der Selbstreflexion, in dem Maße als unzulänglich betrachtet werden, als vor- oder unkünstlerisch, in dem er die Kunst mit einer »semantischen« Bestätigung gleichsetzt, mit der ausstellenden Bestätigung eines vorausgesetzten, ungewussten, sich selbst undurchsichtigen Wissens. Der Künstler, der Kritiker, der Theoretiker, der Philosoph, der Teilnehmende stoßen auf das, was sie schon wussten – was ›man‹ schon wusste, ohne es zu wissen, und bestätigen es, indem sie es ausstellen, sei es in der reflexiven künstlerischen Arbeit oder in der theoretischen Reflexion oder in beiden, wobei die beunruhigenden, unvorhersehbaren, unkontrollierbaren, ›ästhetischen‹ Implikationen des ›Ohne‹, der Blindheit oder Verblendung, der Undurchsichtigkeit, der Brechung oder des blinden Flecks zumeist von der der Reflexion zugesprochenen Kraft, die bewusstmachende Durchsichtigkeit eines Sinnzusammenhangs zu schaffen, ausgeblendet werden. Auch die angebliche »semantische Unausschöpf barkeit« der Kunst, auf die sich Rebentisch beruft, schlägt hier deshalb nicht zu Buche, weil zusätzliche Bedeutungen das grundsätzlich verfügbare Wissen erweitern, es nicht in Frage stellen. Oder gefährdet die Unendlichkeit an Bedeutungen am Ende das Bedeuten und das Wissen – und damit die Reflexion selber? In der Politik muss der Begriff der Reflexion, der Selbstreflexion, in dem Maße als unzulänglich betrachtet werden, in dem Reflexion allein nie ausreicht, um eine Veränderung herbeizuführen – eben weil Reflexion zunächst das Reflektierte bestätigt, das sie ins Bewusstsein hebt, so sehr sie dessen Beschränktheit auch aufzeigen und seine Einseitigkeit brechen mag. Dass die Teilnahme an Kunst, die es auf Reflexion abgesehen hat, politisch doch recht bescheidene Ergebnisse erzielt, dass sie sich zuweilen in der selbstgefälligen und verkindlichenden Idiotie eines Hausbesuchs Europa und seines reflektierenden Archivs erschöpft, ist also kein Zufall. Das Verhältnis von Kunst und Politik, die Teilnahme der Kunst an Politik, muss anders gedacht werden als im Sinne eines bewusstmachenden oder selbstermächtigenden Reflektierens. Sebastian soll trotzdem ein Bonbon bekommen.
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Dissensuelle Partizipation. Die Kunst des Scheiterns und die Stärke der Konfliktivität Sofia Bempeza
I ntro Partizipation oder mehr Partizipation zu fordern ist zunächst ein Resultat der Idee liberaler demokratischer Beteiligung. Partizipation wird als Leitmotiv mit Blick auf die Teilhabe an Entscheidungsprozessen in öffentlichen Organisationsmodellen angeführt. Partizipation soll demokratische Entscheidungen über die eigene Region, die Kommune, die Stadt ermöglichen. Zudem wird Partizipation jenseits ihrer politisch-gesellschaftlichen Dimension im kunst-institutionellen Rahmen als kulturelle Praxis des Teilens der ästhetischen Erfahrung verwendet. Ob Partizipation in politischen Zusammenhängen neben Mitwirkung auch Mitbestimmung gutheißt, ob sie als Fluchtwort im Ungewissen verhallt oder gar als konfliktorientierte Praxis in soziale Zusammenhänge eingreift, lässt sich jedoch nicht pauschal beantworten. Die dritte Option, also das konfliktorientierte Modell von Partizipation, soll im vorliegenden Text anhand eines konkreten Beispiels genauer betrachtet werden. Ich werde mich im Folgenden mit Blick auf das Kunstfeld mit einer im Dissens verhafteten Partizipation (also einer streitenden und streitbaren Form der Partizipation) auseinandersetzen. Dabei will ich kunstfeldspezifisch ausdifferenzieren, inwiefern Partizipation als kollaborative Methode gesellschaftsrelevante Möglichkeiten von Konfliktivität (als bestehendes Potential) und Dissens (als manifestierte Praxis) verschweigt oder aber verschärft. Dissens verstehe ich (im Sinne radikal-demokratischer TheoretikerInnen wie Chantal Mouffe oder Jacques Rancière) als notwendige Vorbedingung des Politischen und den Kernaspekt der Demokratie. Demzufolge wäre Partizipation, wo sie Streit und Dissens beinhaltet, demokratische Politik. Wenn ich den Dissens als Bestandteil der partizipativen Praxis akzentuiere, so um dafür zu plädieren, angesichts der im gegenwärtigen Kunstfeld allgegenwärtigen Strategien von Beteiligung und Mitwirkung die verschiede-
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nen Spielarten partizipativer Praxis differenzierter zu betrachten und insbesondere jenen mehr Beachtung zu schenken, die sich als konfliktuell bestimmen lassen. Gerade da, wo diverse Spannungsfelder scheinbar verhandelt werden, sprich auch dort, wo ein bestehender Konsens über künstlerische partizipative Praxis ins Spiel kommt, muss meines Erachtens ein dissensuelles Verständnis von Partizipation gestärkt werden. Insbesondere eine dissensuelle Partizipation bezieht sich als künstlerische und kuratorische Strategie auf institutionelle Machtkonstitutionen und greift als eine dezidierte Form politischen Handelns in diese ein. Ich werde dies anhand des Fallbeispiels Ficus Golden Jubilee (2013, Athen) erläutern. Mit Blick auf das im Rahmen der 4. Athener Biennale Agora verwirklichte kollaborative Projekt des Performance-Duos FYTA wage ich die These, dass Partizipation als Methode und Nährboden künstlerischer Produktion weder ausgeschöpft noch trivial oder per se ästhetisch-ethisch problematisch ist, wie es der aktuelle kunstwissenschaftliche Diskurs über weite Strecken behauptet. Des Weiteren werde ich verdeutlichen, dass die auf praktizierte Teilhabe zielenden Hoffnungen und integrativen Versprechen partizipatorischer Kunstprojekte ausschließlich vom kritischen Spezifikum der Partizipation her zu denken sind.
R ückblick – Partizipation im K unstkonte x t Partizipation wird mit einer reichen Palette künstlerischer und kuratorischer Praktiken assoziiert, die im Kunst-Jargon als partizipative Kunst, sozial engagierte Kunst, new genre public art, community based art usw. bezeichnet werden. Partizipative Ansätze in der Kunst, (verstanden als ergebnisoffene Praxis der Aktivierung von ästhetischen Bezügen, gesellschaftlichen Situationen und Handlungsräumen) versprechen in ihren verschiedensten Konzeptionen und Ausführungen die Position der Kunstproduzierenden mit jener der Rezipierenden zu vermischen und dabei jeweils ihre Gemeinsamkeiten wie Differenzen hervorzuheben. KünstlerInnen, KuratorInnen und RezipientInnen entwickeln durch den Austausch von Expertisen und durch die Einbeziehung, Mitwirkung und Co-Produktion kultureller Methoden partizipative Projekte, die orts-, zeit- und gruppenspezifisch bedingt sind. Aus künstlerisch-kollaborativen Arbeitsformen mit gesellschaftlichen Gruppen oder einzelnen Individuen – so stellte sich zumindest das kritische Partizipationsimperativ in der Kunst der späten 1980er und 1990er Jahre dar – entstehen Interventionen, die je spezifisch, d.h. sozio-historisch konkret kontextualisiert, in gesellschaftliche Prozesse eingreifen. Viele kuratorische/künstlerische Positionen dieser Zeit – so etwa Lucy Lippard, Mary Jane Jacob, Suzanne Lacy, Allan Kaprow, Suzi Gablik, Ann Hamilton oder Yolanda Lopez – vertraten einen Kunstbegriff, der Kunst prin-
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zipiell als Prozess sozialer Interaktion und/oder Intervention versteht. Ihr Ziel war es, sich durch künstlerische Verfahrensweisen sowohl konkreten gesellschaftlichen Problemfeldern anzunähern als auch institutionskritisch im eigenen Feld zu handeln. Die engagierten KünstlerInnen dieser Zeit versuchten feststehende Rollenzuweisungen zwischen AutorIn und KunstproduzentIn, Werk und RezipientIn in Frage zu stellen. Kritisiert wurde dabei insbesondere die Institution bzw. das Kunstmuseum als ein Ort von Kunstobjekten und kulturellem Wissen, der die Relevanz von künstlerischer Tätigkeit normiert und determiniert. Das Kunstmuseum wurde in seiner Funktion kritisch hinterfragt, bedingt verlassen oder nur noch teilweise benutzt. Als primäres Terrain der Intervention und Interaktion zwischen KünstlerInnen und RezipientInnen wurde stattdessen der urbane öffentliche Raum favorisiert (Culture in Action, Suzanne Lacy/Mary J. Jacob); in anderen Fällen wurde das Museum als Ausgangspunkt verwendet, um Zugang zu ortsspezifischen Arbeiten außerhalb des White Cube zu gewährleisten (When Faith Moves Mountains, Francis Alÿs), als Ort für die Erprobung des Verhältnisses zwischen Publikum und KunstproduzentIn benutzt (Museum Mosaik, Stephen Willats) oder gar als Ressource verwendet, um öffentliches kollektives Wissen zu begünstigen (Bataille Monument, Thomas Hirschhorn). Aus einigen der partizipativen Ansätze, die durchaus ein differenziertes Kunstpublikum ansprachen, ergibt sich jedoch ein problematischer Streitpunkt: Durch die emanzipatorische, pädagogische oder mitleidende Rolle, die KünstlerInnen im Auftrag von Institutionen oder aus eigener Initiative in partizipatorischen Projekten einnehmen, ergeben sich Fragen nach der Wirksamkeit dieser Projekte und der agency der handelnden AkteurInnen. Christian Kravagna problematisiert z.B. anhand künstlerischer Herangehensweisen der 1970er und 1980er Jahre, die sich für die und mit der Gemeinschaft engagierten, dass viele Modelle partizipativer Kunst Handlungsspielräume für zwischenmenschliche Interaktion und soziale Konfrontation eröffneten, ohne dabei jedoch tatsächliche Veränderungen in der Gemeinschaft zu bewirken.1 In diesem Kontext kann nur von auf symbolischer Ebene vollzogenen Veränderungen gesprochen werden. Darüber hinaus spielten frühere community-art-projects oftmals eine viel zu wenig beachtete Rolle im Prozess des othering, also dem Konstruieren von kulturellen Repräsentationen des Anderen. Eine weitere Problematik, auf die aus kunstinstitutioneller wie aus nichtkunstspezifischer Perspektive hingewiesen wird, ist die Tatsache, dass partizipative Kunstproduktion stark mit konventioneller Kunstvermittlung assoziiert ist. Indem KünstlerInnen im Spannungsfeld zwischen Auftrags1 | Vgl. Kravagna, Christian (1998): »Arbeit an der Gemeinschaft. Modelle partizipatorischer Praxis«, http://republicart.net/disc/aap/kravagna01_de.htm (Stand 20.03.2016).
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arbeit und eigenen Interessen verwickelt sind, wird der von ihnen propagierte offene Handlungsspielraum durch den Wunsch, ein funktionales Vermittlungsprofil zu liefern, oftmals in seiner kritischen Dynamik verändert oder eingegrenzt. Demgegenüber zeigen allerdings andere Beispiele aus dem Bereich der Kunstvermittlung und der kritischen Bildung (die mit dem sogenannten educational turn verbunden werden), dass bestimmte partizipative Kunstpraktiken in einem edukativen Umfeld durchaus einen kritischen Bedeutungsgehalt entfalten können.2 Vor diesem Hintergrund halte ich es nach wie vor für sinnvoll, partizipative künstlerische Praktiken und Methoden, die soziokulturelle Verhältnisse im eigenen Feld kritisch betrachten, als angebrachte Mittel der Dekonstruktion und Veränderung institutioneller Strukturen zu verteidigen. Eingrenzend ist hier zugleich hinzuzufügen, dass es natürlich höchst problematisch bleibt, Partizipation ent-kontextualisiert als kritische Methode zu feiern, solange es ›gängige Praxis‹ ist, dass Museen und andere Kunstinstitutionen Partizipation allzu oft als neuartiges Management-Konzept nutzen und Kunst und soziale Kreativität somit als Spektakel instrumentalisieren.
M öglichkeiten des H andelns Im Zusammenhang mit partizipativen (Kunst-)Praktiken erscheint mir wichtig, Möglichkeiten des Handelns hinsichtlich der Synergien, die in der Interaktion soziopolitisch engagierter AkteurInnen entstehen, ins Auge zu fassen. Zweierlei Ebenen der partizipativen Strategie möchte ich dabei akzentuieren: Einerseits findet die Entwicklung von lokalspezifischen Projekten (z.B. Park Fiction in Hamburg, Oda Projesi in Istanbul, Macao in Mailand, Green Park in Athen), die aus einer basis- und radikal-demokratischen Mitwirkung diverser AkteurInnen (u.a. KünstlerInnen, StadtplannerInnen, AktivistInnen) resultiert, nicht unbedingt im kunstinstitutionellen Rahmen statt. In diesen Fällen (ver)handelt eine dissensuelle partizipative Praxis vielmehr spezifisch lokalpolitisch. So fungiert Partizipation im Sinne einer Wunschproduktion3 als Kernelement einer nachhaltigen Strategie der Aneignung, Gestaltung und kulturellen Transformation von öffentlichen Gemeinschaftsplätzen und Lebensumfeldern.
2 | Siehe Rogoff, Irit: »Wenden«, in: Beatrice Jaschke/Nora Sternfeld: educational turn. Handlungsräume der Kunst- und Kulturvermittlung, Wien: Turia + Kant 2012, S. 27-54. 3 | Wunschproduktion meint Park Fiction die Praxis der kollektiven Aneignung, Gestaltung und kultureller Transformation von Gemeinschaftsplätzen bzw. öffentlichen städtischen Räumen.
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Andererseits werden die sozialen und politischen Möglichkeiten partizipatorischer Kunstpraktiken auch im Bezug auf spezifische Kunsthandlungen im konventionelleren institutionellen Rahmen fokussiert und ausgetestet. Ziel ist hier, Partizipation in Bereichen zwischen Kunstinstitution, Produktions- und Lebensräumen als künstlerische Methode zu etablieren. D.h. wiederum nicht, dass den entsprechenden Kunsthandlungen nur eine einzige Funktion – nämlich die der Herstellung sozialer Situationen und Interaktionen – zukäme,4 sondern dass sie die Möglichkeiten von Partizipation und Handeln zum Stoff ästhetischer Praxis werden lassen. Um in diesem Zusammenhang auf drei aktuellere Projekte zu verweisen: Im Rahmen des langfristigen Recherche-Projektes The Grand Domestic Revolution (Casco, Utrecht 2009-2014)5, der ortsspezifischen Arbeit The Bank von Superflex (Sharjah 2013) und des von Suzanne Lacy initiierten Projektes De tu puño y letra, diálogos en el ruedo/In My Own Hand (Ecuador 2015), wird deutlich, dass bestimmte Zielsetzungen der Kunst durch ästhetische Mittel ins Feld der soziopolitischen Praxis hineinreichen. Solche Kunstpraktiken sprechen gezielt Teil-Öffentlichkeit(en) an und verzichten somit oft auf den Spektakel-Faktor des Formats ›Ausstellung‹. Diese Art von Praxis reflektiert und benutzt (teils losgelöst von White Cube Settings oder im Verhältnis zu den Bedingungen dieses Settings) die Funktionsweisen des Kunstbetriebs, um die eigene Position zwischen den Standpunkten – von der ästhetisch-autonomen Erfahrung bis hin zur spezifischen Logik soziopolitischer Bedingungen – zu übersetzen.
Partizipieren : Teilnehmen , M it-W irken und M it-S treiten Der Ursprung des Wortes Partizipation liegt im lateinischen participatio und geht etymologisch auf pars (Teil) und cipere (nehmen) zurück. Partizipieren heißt also Anteil haben, an etwas teilnehmen, das kein in sich geschlossenes Ganzes ist. Partizipation ist als mitteilender Austausch unter Vielen zu verstehen und beinhaltet drei Ebenen: Ich bin ein Teil von etwas; ich nehme Teil an etwas; ich habe einen Teil von etwas. Die Dimension des Teilens unter Vielen, die im mitteilenden Austausch gemeinsam agieren, ist meines Erachtens entscheidend. Etwas muss gemeinsam sein, um geteilt werden zu können. Teilhabe an dem Gemeinsamen er4 | Vgl. Rebentisch, Juliane: Theorien der Gegenwartskunst, Hamburg: Junius 2013, S. 71. 5 | Initiiert von Casco – Office for Art, Design and Theory. Siehe dazu auch: Choi, Binna/ Tanaka, Maiko (Hg.): Grand Domestic Revolution, Amsterdam/Utrecht: Valiz/Casco 2014.
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gibt sich so unter Vielen, wenn ein Mit-, d.h. ein Austauschverhältnis oder eine Beziehung zueinander, entsteht. Dieses Mit- weist auf die Gemeinschaft hin, in dessen Rahmen das Partizipieren erfolgt. Die Frage nach Partizipation rückt also den Gemeinschaftsbegriff in den Blick. Dabei geht es nicht um ein mit dem Wort Gemeinschaft oft affirmiertes hermetisches Ganzes, also nicht um den zutiefst problematischen brüderlichen und naturalisierenden Gemeinschaftsbegriff, der über weite Strecken des 20. Jahrhunderts bestimmend war. Die Konzeption des Gemeinschaftsbegriffs als vorpolitische natürliche Gemeinschaftlichkeit (wie die Ursprünge des Wortes in der deutschen Sprache postulieren), genauso wie die Idee der Volksgemeinschaft sind hier also nicht gemeint. Gemeinschaft verstehe ich vielmehr als Resultat von kulturellen, historischen, politischen und ökonomischen Verhältnissen, durch die Viele und Andere im Prozess eines gemeinsamen Werdens gleichermaßen Anteil an der Entfaltung der Gemeinschaft haben. In Anlehnung an post-strukturalistische Argumente halte ich das Konzept einer Gemeinschaft mit und ohne Gemeinschaft für verteidigenswert. Poststrukturalistischen Theorien zufolge wird Gemeinschaft als Ort der Subjektivierung von Diskursen geprägt, die im Kontext historischer, politischer und kultureller (Kraft-)Verhältnisse Gemeinschaftsformen in unterschiedlicher Weise bestimmen. Soziale wie politische Formationen können daher als Konkurrenzfaktoren unter diskursiven Projekten aufgefasst werden. Ich erinnere an Konzeptionen, die Gemeinschaft als eine gesellschaftliche oder politische Kollektivierungsform fassen, die nur aufgrund antagonistischer Abgrenzungen konstituiert werden kann.6 Dementsprechend wäre Gemeinschaft wie jede Form von politischer Kollektivierung als niemals abschließbares Projekt zu verstehen. Die Unabgeschlossenheit von Diskursen ermöglicht unterschiedliche Subjektpositionen, Identifikationen und Diskursformationen, wodurch Momente der Unentscheidbarkeit und der temporären Fixierung situationsspezifisch entstehen.7 Gemeinschaft wäre demnach als ein soziales Gefüge zu verstehen, in dem jede Umwandlung innerhalb des Diskurses kontingent 6 | Siehe die diskursive Konstruktion des Antagonismus bei Laclau, Ernesto/Mouffe, Chantal: Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus, Wien: Passagen Verlag 1991, S. 172-173; sowie Derridas Konzept der Demokratie (bleibt) im Kommen. Jaques Derrida: Schurken, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, S. 123-124. 7 | In diesem Zusammenhang möchte ich auf das Zusammenfließen von drei Subjektanalysen verweisen: 1.) Artikulation und Diskurs bei Laclau/Mouffe: Hegemonie und radikale Demokratie, S. 141-152; 2.) Die diskursiven Formationen bei Foucault, Michel: Archäologie des Wissens, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1973, S. 48-60; 3.) Das Konzept der Teil-Fixierung und der Positionierung bei Hall, Stuart: Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften 2, Hamburg: Argument 1994, S. 180-222.
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ist. Dabei verläuft der Antagonismus innerhalb des Diskurses und kann den Stoff des Diskurses verändern. Mit Blick auf den konstitutiven und irreduziblen Charakter des Antagonismus möchte ich über das die Gemeinschaft auszeichnende Gemeinsame nachdenken, ohne dabei sämtlichen Formen der Identifizierung (identification) eine Absage zu erteilen. Gerade weil sich soziale Gefüge grundsätzlich durch Umwandlung von Machtverhältnissen, Diskursen, Positionen, Identitäten, Privilegien und Ressourcen, aber auch durch die Konsolidierung derselben vollziehen, scheinen mir vor allem jene Prozesse relevant, die die möglichen (Unter-)Teilungen des Gemeinsamen herausfordern. Partizipation, verstanden als Teilhabe an einer Gemeinschaft, ist der gemeinsame Prozess, durch den etwas diskursiv artikuliert oder (mit-)geteilt wird – ohne Partizipation ist kein Prozess des (Mit-)Teilens in der Gemeinschaft denkbar. Ich möchte durch das Präfix Mit- das Konzept der Partizipation mit zwei Momenten verbinden: dem Mit-Wirken und dem Mit-Streiten. Mein Vorschlag ist eine Gewichtsverschiebung vom Teilen zum Streiten bzw. zur Konflikt-Dynamik als konstitutivem Aspekt von Gemeinschaft oder anders gesagt: eine Gewichtsverschiebung von der Teilnahme zum Mit-Wirken, was In-etwas-involviert-Sein, Sich-an-dem-Gemeinsamen-Beteiligen bedeutet, und von dort aus weiter zum Streiten. Streiten wiederum verweist ebenso auf die MitstreiterInnen und somit Verbündeten im Streit für etwas wie auf den Streit selbst, also die Auseinandersetzung zwischen den Streitenden. Weil der Streit für oder gegen etwas immer auch ein Kampf mit anderen (zusammen) ist, widerspricht es sich nicht, das Streiten gleichzeitig als Streit mit anderen für etwas Gemeinsames und als ein Sich-mit-einander-Streiten (in Streit geraten) aufzufassen. Im Wechselverhältnis von Streiten mit und Streiten gegen liegt, so meine These, die politische Dynamik dissensueller Partizipation. Eine Auseinandersetzung mit der Dynamik dissensueller Partizipation kann meiner Meinung nach ausschließlich über die Spezifizierung des Settings, in dem sie vorkommt, funktionieren. Um die Streit-Dynamik zu konkretisieren, wende ich mich nun einem im Dissens praktizierten Kunstprojekt zu, das sich auf eine partizipative Gemeinschaft (genauer eine Teil-Gemeinschaft innerhalb einer Kunstbiennale) stützte.
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Performance von The Beggars Operas
© Vasiliki Polychronopoulou
Performance von FYTA
© Marianna Katsaouni
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F icus G olden J ubilee auf der AB4 Unter dem Titel Agora fand 2013 die vierte Athener Biennale (AB4) im ehemaligen Börsengebäude der Stadt Athen statt. AB4 verstand sich als kollaboratives Experiment, dass unter den prekären sozialen und politischen Gegebenheiten in Griechenland die Ansprüche des Formats ›Kunst-Biennale‹ verhandeln wollte. AB4 führte das Biennale-Format von Grund auf als kollektiven Prozess aus. In Rahmen der AB4 versammelten sich KünstlerInnen, TheoretikerInnen, KuratorInnen und AktivistInnen; es wirkte ein facettenreiches kreatives Sammelsurium verschiedenster ExpertInnen, Gruppen und Kollektive mit.8 Die Idee die Kunst-Biennale kollektiv und rhizomartig zu organisieren, entstand unter dem Einfluss von zahlreichen Aktivitäten, die in kleineren Zirkeln und Initiativen bereits zuvor bestanden hatten. Dies waren vor allem Aktivitäten, die während der Occupy-Bewegungen in politisch engagierten und selbstorganisierten Zusammenhängen entstanden sind, und die auch in der Kulturszene Spuren hinterließen. Agora nahm von der Erfahrung der »assembly« und der Idee der »assemblage« ihren Ausgang, um eine kollektive Form der Biennale zu entwickeln, deren Charakter partizipativ, prozesshaft und multipel sowie zugleich fragil, ephemer, karnevalesk und ambigue sein sollte. Im Folgenden werde ich das Projekt Ficus Golden Jubilee der Gruppe FYTA BiannelaTM als Beispiel eines Sub-Projektes diskutieren, das im Rahmen der Agora durch kollaborative und partizipative Interventionen entstand. Das SubProjekt Ficus Golden Jubilee wurde vom Performance-Duett FYTA (Griechisch: Pflanzen), das zwischen Musik, Performance und bildender Kunst transdisziplinär auch que(e)r-disziplinär operiert, ins Leben gerufen. In Anlehnung an den kollaborativen Charakter der Biennale wurden »practitioners« aus diversen Feldern eingeladen, an einem siebentägigen Event mitzuwirken. An Ficus Golden Jubilee, das in Form einer neo-situationistischen Burleske konzipiert war, beteiligten sich etwa sechzig Personen: SchauspielerInnen, Stand-up-KomikerInnen, MusikerInnen, BühnenbildnerInnen, ArchivarInnen, TheoretikerInnen, MalerInnen, KosmetikerInnen, AktivistInnen und WissenschaftlerInnen. Das Event rückte in sieben Tagesschwerpunkten die Themen Celebration, Identity & Chaos, Tradition & Family, Body & … ›the Body‹, Greeceland und The Inescapable of Capitalism in den Blick. Ausgehend von der Vision eines lebendigen, hybriden Ortes für Interaktion, dissensuellen Dialog und Absurdität wechselten FYTA in ihren Rollen zwischen Künstlersubjekten, Kuratoren, 8 | AB4 wurde von 42 ExpertInnen kuratiert. Im Rahmen der AB4 wurden 284 künstlerische Arbeiten gezeigt, 47 Performances aufgeführt, 24 kollaborative Projekte und 14 Workshops durchgeführt sowie diskursive Formate (Vortrag, Plenum, online Publikation) entwickelt. Siehe z.B.: das Kyklos Plenum (7 Assemblies), das Event as Process und die #AB4 in den sozialen Medien.
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Performern und Objekten ständig die Perspektive. So wurde die permanente Transformation zwischen Künstlerrollen, Medien und Gegenständen zur zentralen Richtlinie und Methode der Mitwirkenden. Durch Prozesse des doing und undoing the scenery bauten FYTA, im Versuch, mit der Vielfältigkeit der Positionen situationsspezifisch umzugehen, den ihnen zur Verfügung gestellten Raum des Börsensaales konstant um. Das Resultat war ein parasitäres und expansives Setting, dessen Komponenten (PerformerInnen, Objekte, Materialien) immer mehr Raum im Anspruch nahmen und immer mehr (Re-)Aktionen auslösten.
S chnit t und Z oom in die S zene Der Boden des großen Handelssaals ist von zu Quadraten arrangierten Mosaik-Teilen bedeckt, die von einem Mäander-Fries aus Marmor begrenzt werden. In der Mitte des Raums steht ein kreisförmiges Metallgitter, eines der Überbleibsel der ›Aktionsbühne‹ der ehemaligen Wertpapierbörse. An der Wand gegenüber hängt noch die Börsentafel; ihre unzähligen Magnetblättchen funkeln und glitzern. Die leuchtenden Zeichen auf der Maklertafel kennzeichnen Aktien, Prozente, Optionsanleihen und Kursveränderungen. Unter der Tafel setzen sich die BesucherInnen im Halbkreis auf Holzpaletten. Das FYTA-Duett bespielt als »tsolia«9 zusammen mit ihren Verbündeten den Handelsaal: Im Raum befinden sich u.a. Musikinstrumente, Mikrofone und Lautsprecher, Obstkisten, Gemüse und Blumen, Fotocollagen, Zeichnungen und Gemälde. FYTA spielen Musik und singen, geschmückt mit DekopflanzenKetten, Plastikblumen und Goldtüchern. Eine Performerin mit Hauspantoffeln aus Brotbaguetten wird auf einen mobilen Korb-Thron aus Trash-Material durch den Raum gezogen. Eine andere Performerin mischt sich mit einem Samurai-Schwert in der Hand unters Publikum. Auf dem Bildschirm wird eine
9 | Das Wort tsoli (im Plural tsolia) wird auf Griechisch umgangssprachlich für die abwertende Bezeichnung von Prostituierten und/oder Homosexuellen (meist schwule Männer) verwendet. Das Wort wird im Kontext von F Y TA verwendet, um insbesondere dessen queer Implikation herauszustreichen. Zudem bezeichnet das Substantiv tsoliasi eine kulturelle Praxis von F Y TA: »We are familiar with the dangers and trappings of the spectacle with which we have a primarily hate, occasionally love relationship. Our way of dealing with and against the complexities of the spectacle is by positioning humour and deconstruction as antipodes to both hipsterism, as well as over-seriousness.«, zitiert nach: http://fytini.com/en/(Stand 20.03.2016). Für die Subjekt-Position von F Y TA verwende ich die queere Bezeichnung Künstler* und Kurator* mit der explizit nicht das männliche Subjekt gemeint ist.
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Biomedical-Researcherin bzw. eine vermeintliche Expertin in »griechischer DNA-Forschung« live aus London zugeschaltet. Die ZuschauerInnen erwartete eine überwältigende Dosis an griechischer Tradition und ihren Symptomen, eine Gegenüberstellung von griechischen Mainstream-RealpolitikerInnen und IWF-RepräsentantInnen, LGBTIQ-Figuren, Fake-Skinheads und »moralistic Pagan-Rock« alias »nationalist Neo-FolkArt«. Die vielen Sub-Projekte des Fycus Golden Jubilee, die oft Irritation oder auch Verwirrung auslösten, luden kontinuierlich zur Partizipation ein. Die BiennaleBesucherInnen konnten drei pseudowissenschaftliche Fragebogen ausfühlen, sich eine Maniküre mit hellenisch-patriarchalen Symbolen gönnen oder gratis ein »Facebook unfriending device« bekommen. Außerdem konnte sich das Publikum im Kurs »Ideobics – postmodern aerobics« trainieren oder ein eigenes Lied von professionellen MusikerInnen vor Ort komponieren lassen. Diese mikro-partizipativen Kunstprojekte, die erklärtermaßen kritisch auf eine selbst-behauptete »Relational Aesthetics«-Methode und eine konsensuelle »community building«-Partizipationsethik Bezug nahmen, schufen vielfältige Momente der Provokation. In vielen Fällen führte die nähere Auseinandersetzung des Publikums mit dem queer-feministischen, körperlastigen, politisch-provokativen und karnevalesken Charakter des Events zu Antagonismen und Beschwerden vor Ort. Eine der Arbeiten, die das Publikum am meisten irritierte, war ein Wandteppich mit Fotoporträts der »100 schlimmsten GriechInnen«. Unter den Abgebildeten waren PolitikerInnen, JournalistInnen, Kleriker, MusikerInnen und DichterInnen, die in Griechenland als bedeutende Figuren gelten. In einer begleitenden Aktion im öffentlichen Raum wurden die 100 GriechInnen als lebendige Geister vertrieben. Zu diesem Zweck marschierte die mehrköpfige Performance-Gruppe The Beggars Operas vom Publikum begleitet in einer quasi-religiösen Prozession oder einem Protestzug nachts durch das Stadtzentrum, um die 100 schändlichsten Personen zu vergraulen und zu verehren.
D ie K unst des S cheiterns und die S tärke der K onflik tivität Ich führe das Fycus Golden Jubilee-Projekt hier als Beispiel an, weil mir die Art und Weise, wie dissensuelle Partizipation dort als künstlerische Praktik und politische Konzeption im kunstspezifischen Rahmen auftritt, beachtenswert erscheint. Ohne berechtigte Kritik an Partizipation als einem heute überstrapazierten Format deshalb zurückzuweisen, diskutiere ich FYTAs Projekt zu-
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gleich als »the art of conflictive participation and art of failure«.10 Das Projekt macht erstens die kontroversen Dynamiken sichtbar, die entstehen, wenn Partizipation als eine Arbeitsmethode, die spezifischen Einschränkungen einer Biennale und die multiplen Verhältnissen zwischen KünstlerInnen, KuratorInnen und Projektbeteiligten in den Blick zu nehmen, angewandt wird. Zweitens scheint mir FYTAs Umgang mit marginalisierten oder kunstfremden Positionen wie queer-politischen Haltungen und Subkulturen, die im konventionellen Biennale-Kanon kaum Aufmerksamkeit erhalten, potentiell ermächtigend zu sein. Viele der eingeladenen Projektbeteiligten waren mit FYTA verbunden oder befreundet. Während der viermonatigen Arbeit im Rahmen des Fycus Golden Jubilee entstanden eine Reihe von neuen Zusammenschlüssen und Kooperationen unter den Projektbeteiligten, die über das Event hinaus bis heute Bestand haben. Das Projekt Fycus Golden Jubilee verdeutlicht, wie aus ziemlich disparaten Kunstauffassungen über das Kunstfeld hinausreichende Do-ityourself-Strategien und subkulturelle ästhetische Praktiken als synergetische Manifestationen erwachsen können. Abschließend möchte ich die konfliktiven Handlungselemente von FYTAs partizipativem Projekt nochmals unterstreichen: die sich zwischen der Biennale-Institution und den an Fycus Beteiligten entfaltenden Interaktionen, die zwischen den Projektbeteiligten und dem AB4-Publikum auftretenden Kommunikationssituationen sowie die Handlungen zwischen dem Künstlerduo und der involvierten Projektgemeinschaft. Die Auseinandersetzung mit der Kunstinstitution Biennale, die immer durch materielle und strukturelle Gegebenheiten bedingt wird, war eine Herausforderung, die sich durch gewisse Paradoxien und Widersprüche auszeichnete. So ist etwa der Produktionskontext des Fycus-Projektes hervorzuheben. Aufgrund der Unterfinanzierung der AB4 hatte das Sub-Projekt von FYTA keinerlei Budget erhalten. Nichtsdestotrotz entschieden sich FYTA das DIY-Projekt mit ihren Verbündeten aus der Queer-Art-Community zu produzieren. In einem Interview11 benannten FYTA ein weiteres Spezifikum ihres Projektes, das für Konflikte sorgte: Sie stellten fest, dass die von ihnen parodierte Subjekt-Position, zugleich als Künstler* und Kuratoren* des Projektes zu agieren, zu Missverständnissen in Bezug auf die Kollaborationsebenen mit den anderen Beteiligten führte. Ihre Rolle verstrickte sich in einer Multifunktionalität, die einerseits die kritische Destruktion der AB4-Bedingung dirigieren und befeuern und andererseits ihre Verbündeten motivieren und so die Betreuung der eigenen Arbeit gewährleisten sollte. In welche Subjekt-Position versetzen sich FYTA also? Ihre künstlerische Strate10 | Zitat der Autorin aus unveröffentlichtem Gesprächsmaterial zwischen F Y TA und der Autorin im Oktober 2015. 11 | Unveröffentlichtes Interviewmaterial aus Gesprächen mit der Autorin im Oktober 2015.
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gie baute in erster Linie auf die Überidentifizierung und Unterwanderung der privilegierten Figur KünstlerIn und deren Loyalität gegenüber der Institution Kunst. FYTAs künstlerisches Tun entfaltet sich mithin insgesamt im Spannungsfeld zwischen dem institutionellen Charakter des Kunstbetriebs, der Anwendung von bekannten Praktiken aus politisch-autonomen Zusammenhängen und einem subversiven Ethos von Queerness. FYTAs Herangehensweisen erinnern hierbei an die Position von Adrian Piper, die diese in ihrem sich mit Kunstproduktion beschäftigenden Aufsatz Power Relations within Existing Art Institutions (1983) als »agency« bezeichnet. So schreibt Piper dort: »But there is no biological necessity about a socially conditioned disinclination to perform the difficult and often thankless task of political self-analysis. It is not as though artists are congenitally incapacitated by having right cerebral hemispheres the size of a watermelon and left cerebral hemispheres the size of a peanut. As women who have experienced the benefits of consciousness-raising collectives already know, the mere discovery that one’s ostensibly unique experiences in a certain role are in fact universal is itself a major step toward altering those experiences for the better.«12
Im Hinblick auf die Projektverantwortung und den gegebenen Spielraum gab es unausgeglichene Positionsverschiebungen im Verlauf des Events. Alle Projektbeteiligten erhielten zwar eine ›Carte blanche‹ für ihre Arbeit, dennoch produzierte FYTAs Standpunkt (als einem camp-artigen Tsoli-Kurator*-Künstler*-Standpunkt) Herausforderungen in Bezug auf das Biennale-Setting, bei dem besonders das Spannungsverhältnis zwischen Hierarchie und Mitbestimmung bzw. möglicher Autonomie der Kunstproduzenten* auszutesten war. Demgegenüber versprach die institutionelle Bedingung der Biennale durch die mit ihr verbundene Erhöhung der Sichtbarkeit zumindest symbolisches Kapital für alle Beteiligten. Die sichtbarkeitsökonomische Prominenz änderte jedoch wiederum nichts an der Tatsache der minimalen Infrastruktur und der No-Budget-Bedingungen. Gerade hinsichtlich des Fehlens von materiellen Ressourcen und der fließenden Spielregeln der Biennale ist allerdings auch anzumerken, dass viele der künstlerischen Positionen im Rahmen des Fycus-Projekts durch die Auseinandersetzung mit den institutionellen Verhältnissen und den Antagonismen vor Ort gestärkt wurden. Was sich am Beispiel von Fycus Golden Jubilee zeigen lässt, ist also eine dissensuelle Praxis, die ich als Kunst des wirksamen Streitens und Scheiterns gegen einen generalisierenden Abgesang auf künstlerische Partizipationsansätze verteidigen möchte. 12 | Piper, Adrian: Out of Order, Out of Sight, Vol. II, Selected Writings in Art Criticism 1967-1922, Cambridge, MA/London: MIT Press 1996, S. 88-89.
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Sofia Bempeza
D issensuelle Partizipation im K unstfeld Das Kunstfeld ist ein Gefüge dem Machtkonstellationen innewohnen; und diese Machtgefüge zu hinterfragen, zu verhandeln oder zu durchbrechen impliziert eine konfliktive Dynamik zwischen den involvierten AkteurInnen, also den OrganisatorInnen, KunstproduzentInnen und Öffentlichkeit(en). Das Kunstfeld ist zugleich ein Streitfeld, auf dem Macht- und Identitätsformierungen reziprok wachsen oder ›einfach geschehen‹, auf dem Perspektiven, Intentionen, Verhaltensmodi und Sichtbarkeitsordnungen unterschiedlich eingesetzt werden. Wenn man (was ich für fruchtbar halte) Partizipation im kunstspezifischen Rahmen als eine Methode versteht, die konfliktuelle Wechselwirkung zwischen künstlerischen Positionen, übergeordneten Strukturen und Handlungsabläufen erzeugt, dann muss man ihre Politik und die sie konstituierenden sozialen Prozesse in ihrer Interdependenz denken. Im Gegensatz zu einer kategorischen Ablehnung aller partizipativen Herangehensweisen – weil diese eventuell anachronistisch wirken oder ihrer Bestimmung als ›Kunst‹ wenig gerecht erscheinen – wäre dies die Voraussetzung dafür, das Kunstfeld insgesamt stärker von einem dissensuellen Denken her zu betrachten. Dissensuelle Partizipation wäre meines Erachtens jene Praxis, die ohne Scheu eine Durchmischung von Politischem und Ästhetischem erprobt und dabei innerhalb ihrer sozialen wie künstlerischen Strukturen die Stärke des Konflikts begrüßt. Dass Konfliktivität und Dissens als kritische Komponenten partizipativer Praxis angesehen werden können, macht Partizipation nicht einfach als eine bestimmte Methode leicht verständlich und handhabbar. Gerade wenn Partizipation nicht als habituelles Management-Tool oder als pseudo-politische Als-ob-Teilhabe an Kunstproduktionen eingesetzt wird, sondern vielmehr neuralgische Stellen etablierter Mitwirkung anspricht, besitzt sie keine Erfolgsgarantie. Als sicher gelten kann nur, dass die korrelative Artikulation und Anerkennung von Interessenkonflikten zwischen den unterschiedlichen AkteurInnen eines Projekts (oder auch in einer Institution) zum Wesen der Partizipationspolitik gehört. Es ist also gerade die vermeintlich negative oder vielleicht sogar für destruktiv erachtete Charakteristik partizipativer Praxis, die ich innerhalb ihrer umstrittenen Rezeption im Kunstkontext verteidigen möchte. Mit der Anerkennung einer negativen Dimension der partizipativen Praxis postuliere ich aber natürlich nicht, dass dissensuelle Partizipation als blinde Polemik oder zum Sprengen von Kooperationen einzusetzen sei. Es ist vielmehr das Moment des Streitens – verbunden mit den Aspekten Wunschproduktion, Mitbestimmen statt Mitwirken, ästhetische Erfahrung teilen, dissensuelle Zusammenarbeit erproben – innerhalb von Prozessen der Teilhabe an gemeinsamen Anliegen, für dessen Anerkennung ich plädiere. Wenn man von Kunstformaten, die sich einer Partizipationsmethodik bedienen, nicht zuletzt verlangt, dass sie gesellschaftliche Transformationen sichtbar machen
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oder Brüche politisieren, darf konfliktuelles Handeln im Kunstfeld nicht ›hinter den Kulissen‹ stattfinden, sondern muss als normative Qualität in den Vordergrund treten.
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I. U nter - als E ntscheidung Ausgehend von der Beobachtung, dass die (Theater-)Bühne als Ort der Konfrontation von Kunst und Politik prädestiniert zu sein scheint, fragt der vorliegende Aufsatz nach deren historischer und aktueller Bedeutung für Kategorien der Autonomie und Partizipation. Genauer gesagt ist es weniger die Bühne in einem buchstäblichen Sinn, als vielmehr das programmatisch zur Schau gestellte Erproben bzw. Ausprobieren von Darstellungsregeln, das dazu angetan ist, das Verhältnis von Autonomie und Partizipation als ein Verhältnis von künstlerischer und rezeptiver Handlungsfähigkeit zu vermessen. Gerade die in der zeitgenössischen Kunst populäre Appropriation von Strategien des (post-)dramatischen Theaters legt hierbei den Akzent auf die wechselseitige Bedingtheit von ästhetischer Freiheit und sozialer Teilhabe: Zu denken wäre in diesem Zusammenhang an Arbeiten von Martin Beck, Pauline Baudry/Renate Lorenz, Keren Cytter, Omer Fast, Harun Farocki, Mathilde ter Heijne, Ana Hoffner, Wendelien von Oldenborgh, Yvonne Rainer, Constanze Ruhm, Maya Schweizer, Clemens von Wedemeyer, Katarina Zdjelar u.v.m. Insofern die hierin zu Tage tretenden Improvisations- und Probentechniken auch als krisenbewusster Ausdruck der Notwendigkeit einer öffentlichen Neuverhandlung hergebrachter Autonomie- und Partizipationsbegriffe begriffen werden können, werfen sie zugleich die Frage nach ihrem Status auf: Handelt es sich um ergebnisoffene Produktions- oder um distinkte Werkformate? Was die mit dem Topos der (Probe-)Bühne verknüpften künstlerischen Verfahren an dieser Stelle für mich so signifikant macht, ist das performative Austesten tradierter und neuer Rollen- und Handlungsmodelle: Partizipation wird hier zum Gegenstand eines mehr oder weniger fiktionalisierten Narrativs, das aus der sichtbaren Interaktion zwischen Künstler_innen/Regisseur_ innen und Darsteller_innen/Akteur_innen resultiert. Die Kunst soll also nicht als eine dem Leben entfremdete Sphäre ästhetischer Autonomie, sondern als eine ganz und gar in der Wirklichkeit der ästhetischen Arbeit an sozialen Be-
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ziehungen angesiedelte Praxis erscheinen. Daher ist die (Probe-)Bühne auch als ein immanent politischer Topos in dem Sinn zu verstehen, in dem ihn Jacques Rancière am Modell des Volkstheaters1 als eine Möglichkeit aufzeigt, die Bühne auch aus der Warte souveräner Zuschauer_innen her zu entwerfen; als solche ist sie dazu angetan, bestehende Grenzen zwischen Kunst und Leben in Bezug auf ihre zugleich künstlerische und politische Funktion zu interpretieren. Dementsprechend sind Methoden und Verfahren der Probe besonders bei jenen Künstler_innen beliebt, die den gemeinhin auf Hierarchie und Ausschluss beruhenden Strukturen des Kunstbetriebs einen Ort gleichberechtigter und kollektiver Erfahrung entgegenzusetzen suchen. Somit lässt sich das von Rancière bevorzugte Drama der Volksbühne auch auf jene Methoden und Praktiken beziehen, die, wie die ›öffentliche Probe‹, zum Repertoire des postdramatischen Theaters gehören, das ein Ort der »Vermischung von all dem (sein will), was im Leben vermischt ist; das wäre ein Aufstand hier und ein Gespräch über Liebe da.«2 Dabei sind es stets die scheinbaren Nebendarsteller_innen und Nebensächlichkeiten, das Insignifikante und Kontingente, welche in der Probe in den Vordergrund treten und so die bestehende Ordnung buchstäblich aufmischen sollen.
II. P roben in /mit der K unst Meine sich auf Rancières Diskurs der Vermischung beziehenden Betrachtungen zielen auf kunsthistorische Genealogien, die über das Volksdrama des 19. Jahrhunderts hinausweisen und zeigen, dass und auf welche Weise die (Probe-)Bühne zu einem historisch übergreifenden Ort und Medium der Aushandlung von Partizipations- als Autonomieansprüchen – sei es von Seiten der Künstler_innen, sei es von Seiten des Publikums – avancieren konnte. Doch was heißt dies im Sinne jener ästhetischen Theorie, die im Rahmen des vorliegenden Bandes Rancières Modell gegenüber steht? Ines Kleesattel zitiert in ihrem Beitrag Adornos Diktum, demzufolge »die Wahrheit« eines
1 | Siehe Rancière, Jacques: »Das Theater der Gedanken«, in: Ders.: Der verlorene Faden. Essays zur modernen Fiktion, Wien: Passagen Verlag 2015, S. 115-136, hier: S. 117. Rancière referiert hier auf Victor Hugos Vorstellungen der »erweiterten Bühne, auf der die romantische Poetik, die die Konventionen der klassischen Ordnung zerstört, mit einer politischen Bühne übereinstimmen sollte, die ihr bis dahin fremd oder sogar feindlich war, der Bühne des souveränen Volks, die durch die Juli-Revolution um 1830 neuen Schwung erhalten hatte.« 2 | Ebd.
Autonomie auf Probe
Werks in seiner immanenten »Notwendigkeit«3 liegt. Die Vorstellung einer inneren Notwendigkeit von Kunst ist werkkritischer Partizipationsästhetik zweifelsohne fremd, aber sie verleitet mich hinsichtlich der Funktion, die dem Topos der (Probe-)Bühne in der Kunst zukommt, zu der These, dass gerade in den sichtbar gemachten Momenten künstlerischer Entscheidung Spielräume für selbstbestimmte Partizipation seitens der Betrachter_innen liegen. Dies lässt sich auf exemplarische Weise an Duchamps emblematischem Bild der halb geöffneten/halb geschlossenen Tür von 1927 festmachen: »Il faut qu’une porte soit ouverte ou fermée«, was laut Sarah Kolb nichts anderes besagt, als dass man »sich für das eine oder das andere entscheiden« muss.4 Duchamps Allegorie bemüht zwar nicht das Modell der (Probe-)Bühne, ist für dieses im Sinne des (post-)dramatischen Theaters aber insofern relevant, als sie die Grenzen zwischen Atelier, Schlaf- und Badezimmer, d.h. zwischen Sphären der Produktion (Kunst/Arbeit) und Sphären der Reproduktion (Leben/ Alltag) zugleich markiert und ›deterritorialisiert‹. Dem korreliert somit laut Rancière auf zweierlei Weise, nämlich im Leben und in der Kunst Vermischten, eine Ambivalenz aus Freiheit und Notwendigkeit der Entscheidung – sowohl auf Seiten des/der Künstler_in als auch auf Seiten der Rezipient_innen. Die Praxis des Vermischens setzt demnach eine Praxis des Unterscheidens des einen vom anderen voraus. So wie der/die Künstler_in gleichermaßen frei und gezwungen ist zu entscheiden, wie er/sie eine Arbeit machen will, muss und darf der/die Betrachter_in entscheiden, ob und wie er/sie diese Arbeit lesen will. D.h., dass wir in Duchamps Bild eine Dramatisierung von Autonomie- als Partizipationsästhetik erkennen. Die Evokation eines quasi-szenischen Raums stellt somit jede neue Betrachtung vor eine Wahl, die Autonomie als ein partizipatives und Partizipation als ein autonomes Verhältnis von Werk und Betrachtung zu begreifen.
3 | Adorno postuliert eine »Wahrheit« des gelungenen Kunstwerks aus, »die darin beruht, daß in allen seinen Momenten das Kunstwerk noch in seiner Widersprüchlichkeit als so notwendig sich ausweist, daß diese Notwendigkeit als ein Zwang von Wahrheit erfahren wird«, vgl. Adorno, Theodor W.: Ästhetik 1958/59, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2009, S. 257. Ausführlicher dazu: Siehe den Beitrag von Ines Kleesattel in diesem Band. 4 | Ich danke Sarah Kolb für diese Referenz, die sie im Rahmen ihrer noch unveröffentlichten Dissertation Bildtopologie. Spielräume des Imaginären nach Henri Bergson und Marcel Duchamp an der Akademie der bildenden Künste Wien, behandelt.
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III. V om (B ild -)D r ama zur (B ühnen -)P robe Die in Duchamps Bild als Zwiespalt erfahrene Notwendigkeit sowohl künstlerischer als auch rezeptiver Entscheidungsfreiheit ist, wie ich in einem historischen Exkurs ausführen möchte, Grundelement jenes (Bühnen-)Dramas, das nicht erst in dem von Rancière zum Paradigma (v)erklärten Volkstheater des 19. Jahrhunderts in Erscheinung tritt. Die Analogie von Entscheidung und Handlung ruft laut Ivan Nagel bereits in der Malerei der Frührenaissance eine Vorliebe für Szenen und Bühnen auf den Plan, die im Theater erst sehr viel später auftauchen werden. Wie der Theaterwissenschaftler in seiner 2009 erschienenen Studie Gemälde und Drama am Beispiel von Giotto, Masaccio und Leonardo zeigt, unterscheidet sich die damalige Malerei mit der Inszenierung von Figuren, die sich für etwas entscheiden, von bis dato vorherrschenden Konventionen des Historiengemäldes als einem repräsentativen Narrativ: »Darstellen heißt für die Malkunst wie für das Theater: eine Handlung als Gegenwart vor uns hinstellen.«5 Dass sich zwischen 1300 und 1500 die Regelwerke des Historiengemäldes auf grundlegende Weise ändern sollten, begründet Nagel mit einem neuen, im Geist des Humanismus entstandenen Bürgertum. In diesem erkennt er den Grund für die Popularität von szenischer Bildgestaltung, die schließlich das Ideal selbstständig handelnder Akteure widergespiegelt habe. Im Unterschied zu den von traditionellen Auftraggebern wie Kirchen und Fürsten bevorzugten Göttern, Heiligen und Helden handelte es sich bei den neuen Protagonist_innen um »Tätige und Wirkende«.6 Mit anderen Worten: Es war nicht die epische Nacherzählung vergangener Geschichten, sondern deren am Drama orientierte Vergegenwärtigung, in der Nagel »erste Vorentwürfe innerweltlicher Autonomie« 7 als Pendant eines selbstbewussten Publikums erkennt. Ich will in Bezug auf die Darstellung von szenischen Räumen in der frühen Renaissancemalerei nicht von (Probe-)Bühnen in einem modernen Sinn sprechen, aber von der Nagel zufolge wesentlichen Konstruktion eines gegenwärtigen Entscheidungs- und Handlungsmoments, die das Bildfeld weniger als Geschichtserzählung, denn als szenisches Geschehen fassen lässt: Genau hierin konnte das bürgerliche (strukturell männliche) Individuum von ihm begehrte Rollenmodelle finden. Nagel weist darauf hin, dass Albertis idealtypische Modelle – »der geschlossene Saal«, die »rechteckige, von Häusern umstellte Piazza«, die »Seitenwände oder -mauern in schroffer Tiefenverkürzung«, »die Bodenfliesen […] mit überdeutlichen Fluchtlinien« – jene »[Guck-] 5 | Nagel, Ivan: Gemälde und Drama. Giotto Masaccio Leonardo, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2009, S. 18. 6 | Ebd., vgl. S. 16. u. S. 39. 7 | Ebd., S. 13.
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Kastenbühne« vorweggenommen haben,8 die erst sehr viel später im Theater gebräuchlich wurden. Nagel ist überzeugt, dass solche Bild-Szenen (wie etwa im Fall von Giottos Arena-Fresken) die Künstler dazu befähigt hätten, der »Machtstellung« ihrer Auftraggeber die »freie Wahl« von Handelnden entgegenzusetzen.9 Die Verknüpfung von Malerei und Drama habe, wie Nagel glaubt, bis zum 18. Jahrhundert und damit bis zum (vor-)aufklärerischen Zeitalter Diderots angedauert: Denn dieser habe – Dichtung und Schauspiel einander angleichend – »als erster der europäischen Kunsttheorie[] das Drama zum Modell des Historiengemäldes« erhoben. Die Funktion der Schauspielkunst, das Mitgefühl auf Seiten des/der Betrachter_in zu evozieren, sollte »das Historienbild aus der Huldigung vor spezifischer Herrschaft hinüber in die Pflicht zu universaler Moral [führen]«.10 Auch bei Diderot dient die Gleichsetzung von Entscheidung und Handlung der Verschränkung von Darstellung und Rezeption, also einem Moment, das gegen die von Rancière mit Beginn des 19. Jahrhunderts datierte Ablösung des repräsentativen durch das ästhetische Regime11 in Anschlag gebracht werden kann: »Die dargestellte Entscheidung im gewählten Moment verpflichtet die Personen der Handlung – und die Handlungen des Betrachters. Diderots Ästhetik ist Ethik: Vorahnung des kategorischen Imperativs. Sein Denken kreist […] um eine Frage: Wohnt in den Menschen eine Kraft, die ihr Zusammenleben auch ohne göttliche, fürstliche Fügung und Kontrolle ermöglicht? […] Der neue Bund aus Dichtung und Malerei erwächst im Bereich moralischer Immanenz.«12
Im Widerstreit mit der seit der Antike vorherrschenden Vorstellung, dass es sich bei der Malerei und beim Drama um bloß imitierende Künste handelt, welche die Arbeitskraft und Moral der Menschen untergrabe, sind diese Diderot zufolge dazu da, Tugendhaftigkeit zu fördern: In Jean-Baptiste Greuzes Fall durch die in sich gekehrte und moralisch unterweisende Bibellektüre, die der effektheischenden Sinnlichkeit etwa eines François Boucher entgegengesetzt wird.
8 | Ebd., S. 115. 9 | Ebd., S. 15. 10 | Ebd., S. 37. 11 | Siehe Rancière; Jacques: Die Aufteilung des Sinnlichen, Berlin: b_books/PoLyPen 2006, S. 25ff. 12 | Nagel: Gemälde und Drama, S. 37.
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Jean-Baptiste Greuze, »Vater, der seinen Kindern die Bibel erklärt«, 1755, Öl auf Leinwand, Paris, Privatsammlung
Schiller, der Gewährsmann Rancières, macht 1797 Diderots Salons genau jene Instrumentalisierung der Kunst zum Vorwurf, die Rancière knapp 200 Jahre später an der Soziologie kritisieren wird: »Er [Diderot] sieht mir bei ästhetischen Werken noch viel zu sehr auf fremde und moralische Zwecke, er sucht mir diese nicht genug in dem Gegenstande und seiner Darstellung. Immer muss ihm das schöne Kunstwerk zu etwas anderem dienen.«13
Nagel verteidigt Diderot: »Ästhetik ist fortan keine Sammlung mehr von Regeln und Restriktionen für (oder gegen) die Künstler. Diderot spürt auf, was im Sujet, Ausdruck, Kolorit eines Gemäldes sich unerkannt zu rühren beginnt.«14 Bemerkenswerterweise stellt sich in dieser Lesart die auf moralische Unterweisung verpflichtete Engführung von Malerei und Drama als Plädoyer für eine antitheatrale Werkautonomie dar, die der »Bilddramaturg Diderot« voller »Hoffnung auf einen bürgerlich-moralischen Entscheidungsmoment«15 eingefordert habe. An dem von Diderot bei Greuze erkannten »Bürgerdrama« zeigt sich demnach jene Vermischung von Historie und Genre, die bereits Mitte des 18. Jahrhunderts (und nicht erst, wie Rancière behauptet, zu Beginn des
13 | Ebd., S. 20. 14 | Ebd., S. 36. 15 | Ebd.
Autonomie auf Probe
François Boucher, »La Toilette«, 1742, Öl auf Leinwand, 52.5 x 66.5 cm, Madrid, Sammlung Thyssen-Bornemisza
© Foto SCALA, Florence 19. Jahrhunderts) eine enthierarchisierende Verflechtung von Produktions- und Rezeptionsästhetik vorantreibt.16 Statt »ut pictura poesis« habe nun »ut pictura theatrum«17 gegolten – und dies zu einem Zeitpunkt, als das Theater in England und Frankreich dabei gewesen sei, »den immensen Vorsprung der Malerei in der Schaffung von Szenen und Bühnen [einzuholen]«18. Angesichts einer solchen Argumentation erstaunt Nagels These, dass es nicht »autonome Kunst« war, sondern »die beginnende Bürgerauflehnung um 1760-70«, die »der Gattungshierarchie ein Ende« gesetzt habe.19 Denn im Widerspruch dazu zeigen seine Werk- und Textanalyen, dass der Konnex aus Malerei und Drama im Zusammenhang steht mit den Wechselwirkungen künstlerischer und politischer Entwicklungen, mithin der Untrennbarkeit von Autonomie- und Partizipations16 | Ebd., S. 37. 17 | Ebd,. S. 38. 18 | Ebd., S. 39. 19 | Ebd.
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ansprüchen – sowohl auf Seiten des Kunstdiskurses als auch auf Seiten der Öffentlichkeit.
IV. A utonomie der B ühne ? Wohingegen also Diderots moralisch motivierte Verknüpfung von Malerei und Drama zwischen Autonomie- und Funktionsästhetik oszilliert, wird der USamerikanische Kunsthistoriker Michael Fried in Absorption and Theatricality. Painting and Beholder in the Age of Diderot (1980) intermediale Theatralität bekanntlich in Bausch und Bogen verwerfen und in seinem Aufsatz Art & Objecthood (1967) gegen den wahrnehmungsästhetisch begründeten Partizipationsbegriff der Minimal Art in Stellung bringen. Juliane Rebentisch hat Frieds Kurzschlüsse in ihrem 2003 erschienenen Buch Ästhetik der Installation20 zu Recht kritisiert – dem könnte man hinzufügen, dass ironischer Weise gerade jener von Diderot bevorzugten Rhetorik mit sich selbst beschäftigter Figurendarstellung, auf die Frieds Begriff der Absorption rekurriert, die Verknüpfung von Bild und Bühne programmatisch eingeschrieben ist. Nagels Überzeugung, dass Diderot zufolge »die Malerei […] mit ihren Steineklopfern, Wäscherinnen, Sonntagausflüglern, Absinthtrinkern, den namenlosen Menschen [gehöre]« und somit die Bildbühne ihr Ende gefunden habe,21 möchte ich die These entgegensetzen, dass der Topos der Bühne sich im post-Diderot’schen Zeitalter im Bewusstsein um die Entscheidungsambivalenz zwischen ästhetischer Autonomie und politischer Revolution fortschreiben und transformieren wird. Betrachtet man Gustave Courbets emblematisches Gemälde Das Atelier des Malers. Eine wirkliche Allegorie, die sieben Jahre meines Künstlerlebens zusammenfasst (1854-1855), so ist die Bühne keine idealtypische Piazza, keine imaginäre Landschaft und auch keine private Bürgerstube mehr: Sie ist nun Ort und Medium der Produktion selbst, an und in dem sich der Künstler – umringt von Bewunderer_innen und Gegner_innen – bei der Arbeit an der Staffelei zeigt. Handelt es sich, so die naheliegende Frage, bei dem Gemälde, das wir sehen, um ein vollendetes Meisterwerk oder wohnen wir (wie der die Vergangenheit allegorisierende weibliche Akt oder das auf die Zukunft verweisende Kind vor dem Bild-im-Bild) dem ›in-the-making‹ eines noch unfertigen Werks bei? Analog zu Diderots Greuze-Lektüre lässt sich spekulieren, dass Courbet die Freiheit und Notwendigkeit der künstlerischen Entscheidung aus jenem revolutionären Volksdrama bezieht, von dem Rancière spricht: Politische Haupt- und Nebendarsteller_innen treffen auf Wegbegleiter_innen und mit sich selbst beschäftigten Ästhet_innen. Bezeichnender Weise ist es ausgerechnet Baudelaire – ein enger 20 | Rebentisch, Juliane: Ästhetik der Installation, Frankfurt a.M.: 2003, S. 40-78. 21 | Nagel: Gemälde und Drama, S. 49 u. S. 50.
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Mitstreiter Courbets – der hier, wie der greise Bibelleser die Pose des in seine Lektüre versunkenen Dichters einnehmend, am rechten Rand des Tableaus platziert ist: Das Zentrum konstituieren vielmehr das Dreieck aus Maler, Kind und Muse. Baudelaires von der gescheiterten Revolution ernüchtertes L’art pour l’art ist nun das, was – unter den prüfenden Augen von Courbets Weggefährt_innen – jener kontaminierten Sphäre der Revolution gegenübersteht, die die linke Bildseite bildet. Im Unterschied zu Rancières Behauptung, derzufolge das L’art pour l’art der Kunst darin bestehe, nichts als »die Identität einer selbstgenügsamen Performance mit ihrer Wirkung in einem materiellen Darstellungsraum [zu zeigen]«,22 ist Courbets Allegorie dazu angetan, den ästhetischen Raum der Malerei aus dissonanten Blickwinkeln zu vermessen: Dies geht, Nagels Studie zur Renaissancemalerei vergleichbar, durch Umprogrammierung des Historienbildes zu einem szenischen, von selbstbewusst Handelnden dramatisierten Geschehen vonstatten. Genau dies macht das Gemälde zu einer Allegorie, die beide Seiten – Autonomie und Partizipation – auf intrinsische Weise verknüpft. Somit repräsentiert die Arbeit am Bild keine ›selbstgenügsame Performance‹, sondern – wie im Fall der Duchamp’schen Tür – den Zwiespalt aus Freiheit und Notwendigkeit der vom Künstler in actu repräsentierten Entscheidung, in den er sein Publikum mit einbezieht. Die auf Autonomie drängenden Bürger_innen, die Nagel vor den Bildszenen der Frührenaissance vermutet, sind nun zu sichtbaren Begutachter_innen künstlerischer Handlungsperformance geworden.
V. P roben im A telier Stärker noch als bei Courbet lässt sich m.E. bei Rembrandt zeigen, dass das als ›in the making‹ präsentierte Motiv der Bühne dazu angetan ist, Entscheidungsfreiheit als Handlungskompetenz zu reklamieren: Wie Svetlana Alpers in Rembrandt als Unternehmer zeigt, agierte der Maler vorzugsweise als Schauspieler, was allein schon an dem 1635 entstandenen Bild Selbstbildnis mit Saskia (bzw. Selbstbildnis als der verlorene Sohn im Wirtshaus) deutlich wird, auf dem er sich im altertümlichen Kostüm porträtiert. Auf die szenische Gestaltung eines seiner berühmtesten Gemälde – Die Nachtwache (1642) – verweisend, spekuliert die Kunsthistorikerin, ob es sich hierbei um ein Tableau Vivant eines historischen Dramas Joost van den Vondels (1587-1679) oder einen der im damaligen Amsterdam beliebten Festumzüge handelt.23 In beiden Fällen wäre der Bezug zum Topos der Bühne auch insofern gegeben, als die Nähe zwischen Malerei und Theater im damaligen Holland nicht ungewöhnlich war. Alpers 22 | Rancière: Theater der Gedanken, S. 133. 23 | Alpers, Svetlana: Rembrandt als Unternehmer. Sein Atelier und der Markt, Köln: DuMont 2003, S. 80.
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führt in diesem Zusammenhang den Umstand an, dass der junge Rembrandt Rhetorik-Unterricht an einer Lateinschule genossen hatte, der dem theatralen Rollenspiel ähnlich war.24 Bezeichnenderweise stellt auch Alpers, vergleichbar mit Nagel, die Bedeutung von Gesprächssituationen und Wortwechseln in Rembrandts mehrfigurigen Zeichnungen mit biblischen Motiven heraus. So charakterisiert sie eine Reihe seiner Porträtstudien sogar als »Stellproben«: Hierbei habe der Maler »menschliche Akteure in seinem Atelier gruppiert, die Szene umkreist […], um sie mit seinen Blicken zu prüfen, die einzelnen Gesten aufeinander abzustimmen und festzulegen.«25 Genau dies sollte Degas, ein Zeitgenosse bzw. Nachfolger Courbets, in seinem in zahllosen Zeichnungen und Gemälden variierten Motiv der Ballettprobe zum Sujet machen. So ist es in die Die Ballett-Probe (1874) der Maître de ballet, der – sichtbar ins Bild gesetzt – die Tänzerinnen mustert und beurteilt. Als impliziter Betrachter ins Bildgeschehen integriert, ist er – dem Maler vergleichbar – jener exemplarische, dem Publikum vorgeschaltete Beobachter der (Bild-)Szene. Dass er auf diese Weise den Blick des ›realen‹ Betrachters als einer Instanz spiegelt, die über die Qualität des Werkes entscheidet, zeigt auch hier, dass Wahrnehmung weniger als kontemplativer, sondern vielmehr als partizipativer im Sinne von bedeutungs- und wertgenerierender Akt angelegt ist. Dass sich in diesem Fall die Regeln des Schauspiels mit jenen der Malerei vermischen, scheint – wie das Sujet der Ballettprobe nahelegt – mit dem Konnex aus Darstellen/Sehen und Bewegung/Performanz zusammenzuhängen. In Entsprechung zu Nagel ist Alpers überzeugt davon, dass Rembrandt der Einsatz szenischer Techniken dazu verholfen habe, »im Atelier als Zuschauer der Darbietungen anderer [zu fungieren]«.26 Als sei es ihm darum gegangen, dem Blick des Bildbetrachters jenen des Theaterbesuchers entgegenzustellen, habe er ein besonderes Interesse an der bildimmanenten Figur des Zuschauers gehabt. Laut Alpers lesen sich auch die handschriftliche Notizen des Künstlers wie Regieanweisungen, so als hätten diese weniger der Ausführung von Gemälden als vielmehr der Produktion von Szenen gedient und als sei »jede von Rembrandt und seinen Schülern gezeichnete Szene auch tatsächlich zuvor nachgestellt [worden]«.27 Zur Untermauerung ihrer These bezieht sich die Kunsthistorikerin auf eine berühmte Quelle:
24 | Ebd., S. 88. 25 | Ebd., S. 89. 26 | Ebd., S. 90. 27 | Ebd. u. S. 91.
Autonomie auf Probe
Edgar Degas, »Die Ballett-Probe«, 1874, Öl auf Leinwand, 66 x 100 cm, Glasgow, Burrell Collection
»Hoogstraten verweist darauf, dass der Künstler es durch entsprechende Übung lernen kann, solche Situationen vor seinem geistigen Auge nachzustellen, und deutet damit an, dass sie nicht immer realiter in Szene gesetzt wurden. Hoogstraten meint dies ganz wörtlich (wie das immer seine Gewohnheit war!), indem er den Geist des Künstlers mit einer Bühne vergleicht und unterstellt, dieser brauche nur den Vorhang zurückzuziehen, um dort eine Szene sich entfalten zu sehen. […] Wo die Gewohnheit, sich etwas szenisch zu vergegenwärtigen, dem Maler in Fleisch und Blut übergeht, bleibt die Fiktion des Inszenierten gleichwohl bestehen. Man könnte dies auch als Variante eines Lesedramas für Maler bezeichnen.« 28
Die Weise nun, in der Rembrandt seine »theatralische Praxis« als eine Kombination aus Probe und »Atelierdrama« betreibt,29 kommt dabei der von Rancière am historischen Modell der Volksbühne festgemachten Vermischung von Kunst und Leben ausgesprochen nahe: »Rembrandt und seine Schüler waren so geübt, dass es ein hoffnungsloses Unterfangen wäre, zwischen Zeichnungen, die – wie sie es genannt hätten – uyt den geest (aus dem Geist), und Zeichnungen, die naer het leven (nach dem Leben) entstanden, unterscheiden zu wollen. In Wirklichkeit geht es auch nicht so sehr um die Frage, ob diese oder jene Zeichnung nach dem Leben entstand, sondern darum, was Rembrandt im Rahmen seiner künstlerischen Praxis unter ›Leben‹ verstand. Es macht wenig Unterschied, wenn er in dem einen Fall nach wirklichen Schauspielern arbeitete und in dem andern sich eine Szene im Geiste ausmalte, denn in beiden Fällen war das Ziel ›reales‹ Leben, das neu in Szene gesetzt wurde.« 30 28 | Ebd., S. 91. 29 | Ebd. 30 | Ebd., S. 91.
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»Die eigentümliche Mischung aus Kunst und Leben« war, wie Alpers weiter ausführt, ganz wie beim »Spiel auf der Bühne an feste Regeln gebunden«.31 Diese waren dabei augenscheinlich dazu angetan, den Eindruck des Natürlichen und Lebendigen zu erzeugen,32 was es Rembrandt erlaubt habe, mit den Bildtraditionen, wie er sie anhand seiner umfänglichen Sammlung von Kunstwerken und Stichen antiker Statuen studiert hatte, experimentell umzugehen. Insofern seine Produktionsweise dem Versuch geschuldet war, möglichst frei von den Vorgaben kirchlicher und fürstlicher Mäzene, aber auch frei von den Erwartungen und Wünschen seiner bürgerlichen Auftraggeber zu agieren, kann mit Fug und Recht gefragt werden, welche Rolle der szenischen Praxis im Rahmen einer sich zwar autonom wähnenden, dabei jedoch ausgesprochen kostenintensiven Atelierproduktion zukam: Diese bedeutete laut Alpers das Betreiben eines eigenständigen Kunsthandels für einen nicht unbeträchtlichen Kundenkreis.33 In Kombination mit Rembrandts Markenzeichen, hochvirtuosen Pinselstrich mit offen-gestischer Malweise zu konterkarieren, hegten Auftraggeber und Käufer laut Alpers gelegentlich den Verdacht, der Künstler könnte seine Bilder aus Überlastung, Faulheit oder Habgier nicht zu Ende gemalt haben; das Angebot, die Werke zu überarbeiten, habe Rembrandt gelegentlich dazu ausgenutzt, höhere als die zunächst vereinbarten Beträge zu fordern. Alpers zufolge gestaltete Rembrandt seine Bilder zuweilen nur dann aus, wenn er triftige Gründe dafür hatte. Seine künstlerische Freiheit bezog er demnach nicht nur aus der Festlegung von Motiv, Format und Malweise, sondern aus der Entscheidung darüber, wann er die Arbeit an einem Bild unterbrach, diese wieder aufnahm und bis zu welchem Grad er es ausgestaltete.34 Mit anderen Worten: Rembrandts Werke basieren auf sichtbaren Entscheidungen, die – wie in dem 1654 entstandenen Porträt von Jan Six – den Betrachter/die Betrachterin mit der Entscheidung konfrontieren, es entweder als vollendetes Werk oder aber als szenische Figurendarstellung zu lesen. Die Entscheidung als Zwiespalt zwischen Freiheit und Notwendigkeit erscheint hier also als methodisches und strategisches Prinzip: Denn die (vermeintliche) Unvollendetheit der Bilder lässt diese auf ästhetische Erwägungen ebenso rückbeziehen wie auf die Mechanismen der Wertbildung, in welche der Künstler laut Alpers sowohl durch Massenproduktion als auch durch Verknappung eingriff und die ihn so zu einem Marktkünstler im modernen Sinn des Wortes machten. Tatsächlich resultierten die Freiheiten, die Rembrandt sich nahm, aus selbst auferlegten Produktionszwängen: So hatte er, um sich eine unabhängige bürgerliche Existenz zu sichern, ein System aus Schuldscheinen eingeführt, das ihn 31 | Ebd., S. 93. 32 | Vgl. ebd., S. 94. 33 | Ebd. 34 | Ebd.
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zum Auftragskünstler machte – eine Bedingung, die er augenscheinlich als Rolle begriff und in die Form seiner Werkproduktion integrierte.35
VI. V or der P robe ist nach der P robe Rembrandts Weise, Malerei und Schauspiel zu verknüpfen, stellt insofern ein Bindeglied zum Film in der Gegenwartskunst dar, als auch hier die Spannung von Autonomie und Partizipation zum Gegenstand (post-)dramatischer Szenen gerät. In Rashid Masharawis Kurzfilm Waiting aus dem Jahr 2002 treten nacheinander palästinensische Schauspieler_innen für ein Casting in einem Fernsehstudio auf, in dem sie vom Regisseur (Masharawi) vor laufender Kamera instruiert werden, statt Proben ihres Könnens zu geben einfach zu warten. Nichts aber ist offensichtlich schwieriger als das. So lehnen sich die Schauspieler_innen entweder gegen das ihnen aufgenötigte Dilemma auf oder sie unternehmen den zum offenkundigen Scheitern verurteilten Versuch, den Zustand des Nichtstuns zu spielen.36 Die Schauspieler_innen werden im Ungewissen 35 | Ebd., S. 199ff. Alpers erinnert in diesem Zusammenhang an die Echtheitsdebatte, die gegen Ende der 1990er Jahre um all die ›authentischen‹ Rembrandts entbrannte; vor diesem Hintergrund erahnen wir, dass und in welcher Weise der in seiner Malerei zum Vorschein tretende Topos der Probe in die auf Originalität und Einzigkeitartigkeit abonnierte moderne Wertlogik verstrickt ist. Gerade der in Rembrandts Malweise zum Tragen kommende Konnex aus ästhetischer Autonomie und ökonomischem Kalkül ist auch schon Thema der Renaissance. So handelt es sich, wie dies beispielhaft in Thomas Lochers 2013 entstandener Arbeit mit dem Titel Giotto I G-W-G und Giotto I W-G-W (Geld-Ware-Geld und Ware-Geld-Ware) deutlich wird, bei der Scrovegni-Kapelle in Padua, in der sich die zuvor genannten Fresken Giottos befinden, um eine Stiftung des Bankiers Enrico Scrovegni, der diese zur Erinnerung an seinen, in Dantes Göttlicher Komödie erwähnten und aufgrund von Wucher in die Hölle verbannten Vater errichten ließ. Genau hier verortet Locher eine Urszene des modernen Kreditwesens, das auf Glauben, im doppelten Sinn des Wortes, beruht: Auf den Glauben an Gott und das Versprechen eines Werts der Kunst als ein Versprechen auf die Zukunft. Hierauf baute auch Rembrandts Schuldscheinsystem. Drei Jahrhunderte später resultiert aus der Vermischung von Regeln des Schauspiels mit denen des Kreditwesens ein modernes Marktprinzip, das Rembrandt bekanntlich in den Ruin treiben sollte. Siehe hierzu meine Ausführungen in: Buchmann, Sabeth: »Modi im Verhältnis zwischen ästhetischer und semantischer Information«, in: Thomas Locher: Homo Oeconomicus (exh.cat. Wiener Secession), Berlin: Revolver Verlag 2013, S. 9-25. 36 | Siehe hierzu Ruhm, Constanze: Castingagentur. Casting as Agency, in: kolik.film – Sonderheft 21, 2014, S. 21-29, hier: S. 26f. sowie Buchmann, Sabeth/Ruhm, Constanze:
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darüber gelassen, was dieser Deal ihnen bringen soll. Schließlich erfahren sie nicht einmal, worauf sie warten sollen. Aus der Position der Zuschauer_innen erweist sich das Castingstudio so als Versuchslabor, in dem das Verhalten von Schauspieler_innen getestet wird, die daran gehindert werden, sich in ihrer gewohnten Rolle zu präsentieren. Die Künstlerin und Autorin Constanze Ruhm weist darauf hin, das Waiting als Auftragsarbeit für Fareed Armalys Beitrag »From/To« für die Documenta11 im Jahr 2002 und als Dokumentation eines Castings für Masharawis damals geplanten (und später realisierten) Langfilm gleichen Titels konzipiert wurde.37 Die vorgesehene Teilnahme von Schauspieler_innen aus Ramallah kam nicht zustande, da der Regisseur aufgrund der angespannten politischen Lage nicht rechtzeitig dorthin zurückkehren konnte; stattdessen fand das Casting in Jordanien statt, wo Masharawi sich zum damaligen Zeitpunkt aufhielt.38 Vor diesem Hintergrund erscheint die Ambivalenz von Freiheit und Notwendigkeit der Entscheidung als eine politisch erzwungene Bedingung, die die Schauspieler_innen durch die von Masharawi inszenierte Form der Konfrontation buchstäblich durchexerzieren – indes nicht im Sinne einer Aktivierung, sondern vielmehr als »Deaktivierung«39 von Handlung. So dokumentiert Masharawis Film die Verhaltensweisen von Darsteller_ innen, die keinen anderen Sinn als die Produktion eines Dramas haben, das von erzwungener Passivität handelt. Rembrandts und Degas’ Probenszenarien vergleichbar erweist sich die in Waiting entstehende Spannung zwischen Beobachtet-Werden und (Selbst-)Wahrnehmung nicht nur als konstitutiv für die dargestellte Handlung, sondern auch für die Darstellungspraxis als solche. So stellt sich dem/der Betrachter_in tatsächlich die Frage, wie sich die Schauspieler_innen entscheiden werden: Werden sie warten und so zu Schauspieler_innen, die spielen, als wären sie authentische Figuren, oder werden sie diese ›Rolle‹ zurückweisen und das Studio verlassen? Genau in dieser Frage erkennt der/die Zuschauer_in schließlich das ›reale‹ Drama – den Machtkampf zwischen Regisseur_innen und Darsteller_innen, der zugleich ein Kampf um die
»Subjekt auf Probe«, in: Texte zur Kunst, Heft 90 (2013), S. 89-107; in gekürzter und modifzierter englischer Fassung dies.: »Subject Put to the Test«, in: Carola Dertnig/Felicitas Thun-Hohenstein (Hg.): Performing the Sentence. Research and Teaching in Performative Fine Arts, Berlin: Sternberg Press 2014, S. 200-207. 37 | Ebd. 38 | Diese Informationen verdanke ich Constanze Ruhm. 39 | Diesen Begriff verdanke ich in diesem Kontext der Philosophin Kathrin Busch.
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Aus: Rashid Masharawi, »Waiting«, 2002, 1-Kanal-Video, Farbe, Ton, 14 min 47
© Rashid Masharawi
Frage nach der Verhältnisform von Beobachten und Beobachtet-Werden ist: ein klassisches Sujet zahlreicher Filme und Theaterstücke, in denen die gespielte Probe die Hierarchien und Ausbeutung, Erfolgserlebnisse und Scheitererfahrungen im Showgeschäft zum Thema haben. Das Casting-Studio fungiert hier also als fiktive Backstage-Bühne,40 auf der die Darsteller_innen vor laufender Kamera dazu gedrängt werden zu improvisieren, dass sie ›in Wirklichkeit‹ warten und nicht spielen. Es ist also die Darstellung der Unmöglichkeit der Darstellung, die Waiting zu einem politischen Statement macht. Das Drama der Wahl vollzieht sich hier als Negation von Handlungsmöglichkeit, die den Schauspieler_innen ironischer Weise die Entscheidungsfreiheit zwischen Mitmachen und Aussteigen einräumt. Zugleich könnte man in Rückbezug auf Ivan Nagel sagen, dass angesichts der politischen Bedingungen in den palästinensischen Lagern und dem damit einhergehenden Verlust »innerweltlicher Autonomie« die Behauptung künstlerischer Autonomie leer bleibt. Was die Schauspieler_innen demzufolge vorführen, ist weniger noch als eine Selbstbeschäftigung – vielleicht eher so etwas wie eine Übung in Nichtstun. Insofern die drei ›Betrachter‹-Positionen (Regie/Kamera/Publikum) ebenso zum 40 | Siehe hierzu Diekmann, Stefanie: Backstage. Konstellationen von Theater und Kino, Berlin: Kadmos 2013.
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Warten verdammt sind, gerät die Frage der Zeit zu einem expliziten Sujet: Wie lange werden sie/wir warten müssen, bis etwas passiert – bis etwa ein_e Schauspieler_in aus der Rolle/Nicht-Rolle ausbricht? Insofern der/die Beobachter_in in Gestalt der Regie/Kamera sichtbare_r Teilhaber_in der Szene ist, stellt sich der strukturelle Voyeurismus hier als ein reversibles Verhältnis zu/ mit den ›Objekten‹ der Beobachtung dar – etwas, das nur in der partizipativen in situ- und in actu-Performance, nicht aber im Modus der Repräsentation möglich ist. Und insofern es sich bei Waiting um alles andere als um eine virtuose Performance handelt, wird das nicht zustande kommende Casting in eine Probenszene transformiert. So erweist sich die hier vorgeführte Mischform aus Film und Theater gerade aufgrund ihres instabilen Zustands als ein der politischen Sphäre analoger, von Hierarchien, Trennungen, Stillstand und Ungewissheit beherrschter Raum. Es ist genau diese Struktur, die Performer_ innen und Betrachter_innen miteinander teilen – ebenso wie die Option, den Zustand des Wartens als Negation und Umdeutung jenes Akts der Darstellung zu begreifen, der (klassischerweise) von der Figur des Regisseurs repräsentiert wird: einen Akt, den der Regisseur klassischer- wie erzwungenermaßen repräsentiert. Er ist wie auch der Maler in der Renaissance und wie bei Rembrandt, Courbet und Degas, das (männlich verfasste) Subjekt der Bühne, das das zwiespältige Spiel zwischen Freiheit und Notwendigkeit der Entscheidung als eine Möglichkeit erprobt, sich selbst in jene Position des Betrachters zu versetzen, dessen Teilhabe das Bild zu einer prinzipiell alterierbaren und damit ästhetisch und politisch interpretierbaren Szene macht.
II. Ästhetik, Freiheit und Schönheit
Das Paradox der Fähigkeit und der Wert des Schönen Christoph Menke
I. Die Idee, der Begriff und die Wirklichkeit der Fähigkeit ist das Zentralproblem der Aufklärung (oder der Moderne). Die Fähigkeit ist das zentrale Problem der Aufklärung und sie ist das zentrale Problem der Aufklärung. Die Fähigkeit ist das zentrale Problem der Aufklärung – dasjenige, worum sich alles in der Aufklärung, worum sich alle Aufklärung dreht –, wenn Aufklärung nach ihrer Definition nichts anderes heißt als: Befreiung. Denn nur darum geht es in der Ausbildung und Anwendung von Fähigkeiten: darum frei zu sein (oder zu werden). So versteht es die Aufklärung – d.h. so versteht es die Aufklärung neu. Die klassische Tradition hat den Zweck der Fähigkeit im Guten gesehen. Damit bricht die Aufklärung: In der Ausbildung und Anwendung von Fähigkeiten geht es der Aufklärung nicht mehr darum gut, vollkommen oder tugendhaft, sondern darum frei zu sein (oder zu werden). In der Befähigung geht es um die Befreiung. Und Freiheit bedarf der Fähigkeiten. Denn Freiheit ist kein natürlicher Zustand, sondern Freiheit ist erworben im Bruch mit dem Naturzustand: durch Kultivierung, also durch die Verwandlung des Körpers in einen Leib, durch die Selbstaneignung, in der der eigene Körper zum Sitz von Fähigkeiten wird, die man anwenden kann – oder nicht; Fähigkeit bedeutet Negativität. Zugleich ist die Fähigkeit das zentrale Problem der Aufklärung. Das Problem der Aufklärung ist die Verschlingung von Freiheit und Herrschaft; die Tatsache, dass – und wie – der Ausgang aus der einen Knechtschaft eine neue, ganz andere, aber globalere und dadurch unheilvollere hervorgebracht hat. Und dieses Problem hat seinen Grund in nichts anderem als im ungelösten Problem der Fähigkeit. Es besteht, so Michel Foucault, in »dem Paradox (der Verhältnisse)
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zwischen Fähigkeit und Macht«.1 Liegt in dem Glauben an das »gleichzeitig[e] und proportional[e] Anwachsen der technischen Fähigkeit, auf die Dinge einzuwirken, und der Freiheit der Individuen im Verhältnis zueinander« nicht weniger als das Bewegungsgesetz, das »durch die gesamte Geschichte der abendländischen Gesellschaften […] die Wurzel ihres einzigartigen […] historischen Geschicks« ausgemacht hat, so zerbricht dieser schlechthin grundlegende Glaube – der Glaube, der unseren Grund bildet – an der ebenso grundlegenden Einsicht, dass »die Beziehungen zwischen dem Anwachsen der Fähigkeiten und dem Anwachsen der Autonomie nicht so einfach« sind.2 Das Paradox der Fähigkeit, des Könnens ist: Ohne Fähigkeit gibt es keine Freiheit – denn Freiheit ist die Macht der Selbstführung, die an den Erwerb von Fähigkeiten gebunden ist. Zugleich aber gilt: keine Fähigkeit ohne Disziplinierung und Normalisierung – ohne Unterwerfung unter die anonyme Macht sozial definierter Formen und Normen. »Je weiter der Prozess der Selbsterhaltung durch bürgerliche Arbeitsteilung [der Inbegriff der Steigerung von Fähigkeiten durch ihre Differenzierung / C.M.] geleistet wird, um so mehr erzwingt er die Selbstentäußerung der Individuen, die sich nach Leib und Seele nach der technischen Apparatur zu formen haben.«3 Die Fähigkeit verklammert Freiheit und Knechtschaft; sie ist der dialektische Umschlagspunkt im Zentrum und am Grund der Aufklärung. Deshalb sind es der Begriff und die Wirklichkeit der Fähigkeit, an die sich die entscheidende praktische Frage richtet, die das Projekt der Aufklärung – das, noch einmal, nichts anderes als das der Befreiung ist – stellt. Diese Frage lautet: »Wie lassen sich das Anwachsen der Fähigkeiten und die Intensivierung der Machtbeziehungen entkoppeln?«4 Ja, lassen sich Fähigkeit und Herrschaft (oder Knechtschaft) überhaupt »entkoppeln«? Gibt es freie Fähigkeiten, Fähigkeiten der Freiheit? Oder ist die Freiheit der Fähigkeit, also die Fähigkeit der Freiheit ein Paradox, das sich nur aushalten und vollziehen, aber nicht auflösen lässt? Die Ästhetik, also die moderne Theorie des Ästhetischen, ermöglicht eine vorbereitende Untersuchung dieser Frage. Denn die Ästhetik ist die Selbstreflexion der Aufklärung: In der Ästhetik reflektiert die Aufklärung ihre fundamentalen Kategorien der Fähigkeit, Macht und Subjektivität. Die Ästhetik ist damit nichts anderes, und nicht weniger, als die Ontologie der Moderne. Im Ästhetischen, d.h. im Schein, erscheint das Sein der Fähigkeit. Dabei erscheint es aber von Anfang an und durchgehend in entgegengesetzter, sich bekämpfender Weise. In der Moderne ist die Ästhetik, als Theorie und Praxis, das Feld, 1 | Foucault, Michel: »Was ist Aufklärung?«, in: Ders.: Dits et Ecrits. Schriften, Bd. IV, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005, S. 687-707, hier S. 704. 2 | Ebd. 3 | Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W.: »Dialektik der Aufklärung«, in: Theodor W. Adorno, Gesammelte Schriften, Bd. 3, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1981, S. 47. 4 | Foucault: »Was ist Aufklärung?«, S. 705.
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auf dem sich der Kampf darum abspielt, was Fähigkeiten, also Subjekte sind. Dieser Kampf entfaltet sich zwischen der einen Partei, die im Ästhetischen die Auflösung des Paradoxes sieht, und der anderen Partei, die im Ästhetischen eine neue Form der Lösung sieht: eine Lösung, die gerade in der Zuspitzung und Exposition des Paradoxes besteht. Ich möchte im Folgenden diesen Kampf der Ästhetik um die Fähigkeit bis zu der Stelle verfolgen, an der sich Foucaults Frage nach der Aufklärung – die Frage nach dem Verhältnis zwischen dem Anwachsen der Fähigkeiten und dem Anwachsen der Autonomie – wieder aufnehmen lässt, ohne diese Frage hier selbst noch diskutieren zu können.5
II. Die Ästhetik beginnt mit einer radikalen Neubestimmung der Schönheit. In der klassischen Tradition war die Schönheit die sinnliche Präsenz des Übersinnlichen; sie führt aus der endlichen Welt hinaus. Die Schönheit ist das Medium der Transzendenz. Die Ästhetik dagegen affirmiert das Diesseits. Die Grundformel dieser Neubestimmung der Schönheit in der modernen Ästhetik ist Stendhals »Die Schönheit ist nur ein Versprechen des Glückes.«6 »Nur«, d.h. »nichts als« (n’est que) dies: ein Versprechen unseres Glücks, des uns möglichen Gelingens. – Die genauere Erkundung dieser Bestimmung führt zu der ersten der beiden einander bekämpfenden Parteien im ästhetischen Kampf um das Sein der Fähigkeit. Ich nenne sie die ›bürgerliche Ästhetik‹. Stendhals Formel ist ein Zitat. Er übernimmt seine Grundbestimmung der Schönheit von Hobbes, dem »erste[n] Theoretiker der modernen Gesellschaft«.7 In De Homine und dann im Leviathan schreibt Hobbes, das lateinische Wort für schön, pulchrum, »signifies that, which by some apparent signes promiseth Good«. Ja, alle oder viele Wörter, mit denen wir auf ästhetische Weise loben (prächtig, anmutig, hübsch etc.), »signifie nothing els, but the 5 | Ich greife im Folgenden (v.a. in Abs. 2, 3 und 5) Überlegungen und Formulierungen auf, die ich zuerst veröffentlicht habe in: »Die Macht der Schönheit. Überlegungen zu ihrem geschichtlichen Stand«, in: Michael Krüger (Hg.): Was ist noch schön an den Künsten?, Göttingen: Wallstein 2015, S. 103-127. 6 | Stendhal (Henri-Marie Beyle): »Über die Liebe«, in: Ders.: Ausgewählte Werke, hg. von Arthur Schurig u.a., Jena: Diederichs 1911, Bd. 3, S. 35. Zum Folgenden siehe auch Menke, Christoph: Die Kraft der Kunst, Berlin: Suhrkamp 2013, Kap. I.2: »Die Schönheit: zwischen Anschauung und Rausch«. 7 | Henrich, Dieter: »Die Grundstruktur der modernen Philosophie«, in: Ders.: Selbstverhältnisse. Gedanken und Auslegungen zur klassischen deutschen Philosophie, Stuttgart: Reclam 1982, S. 83.
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Mine or Countenance, that promiseth Good«. »Good in the Promise, that is Pulchrum.«8 Das Schöne ist ein Schein, der durch seinen Bezug auf ein Sein, das Sein des Guten, definiert ist. Diesen Bezug denkt Hobbes praktisch: nicht bloß als Ausdruck, sondern als ein Versprechen. Das Schöne verspricht das Gute; es zeigt die praktische Möglichkeit des Guten an. Hobbes mag hier wie eine späte Variante von Platon klingen, der die Schönheit »eine einführende und geburtshelfende Göttin für die Erzeugung« genannt hatte.9 In Wahrheit aber gibt Hobbes dem Versprechenszusammenhang zwischen dem Schönen und dem Guten eine radikal neue Bedeutung. Sie erschließt sich, wenn man seine Definition des Schönen in unmittelbarem Zusammenhang mit seiner Neubestimmung des Guten sieht: der bürgerlichen Neubestimmung des Guten als Wert. Hobbes ist dessen erster Denker; vor der Neuzeit gab es, jenseits des engen ökonomischen Felds des Tausches, keine ›Werte‹.10 Die Einführung des Begriffs des Werts, d.h.: die Definition des Guten als Wert, kündigt daher nichts anderes als die Grundoperation der expansiven, prinzipiell totalen Ökonomisierung an, die den Begriff und die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft definiert. Hobbes’ Definition des Werts lautet so: »The Value, or Worth of a man, is as of all other things, his Price; that is to say, so much as would be given for the use of his Power: and therefore not absolute; but a thing dependent on the need and judgement of another.«11
Diese Definition hat zwei Elemente: (1.) Der Wert von etwas oder jemandem (dieser Unterschied ist für den Begriff des Werts irrelevant) besteht in seiner Brauchbarkeit, also darin, dass es ein Vermögen, eine Fähigkeit hat. Der Begriff des Werts ist ein praktischer, genauer: instrumenteller Begriff: Dass etwas einen Wert hat, heißt, dass es 8 | Hobbes, Thomas: Leviathan or The Matter, Forme, & Power of a Commonwealth, Ecclesiastical and Civil, Cambridge u.a.: Cambridge University Press 1996, Kap. VI, S. 39. Vgl. Ders.: »De homine«, in: Thomas Hobbes: Vom Menschen. – Vom Bürger, Hamburg: Meiner 1994, Kap. 11.5 und 11.13 (hier hat es Stendhal gelesen). Dazu Döring, Pia Claudia: »Die Schönheit – Nur ein Glücksversprechen? Hobbes, Stendhal, Baudelaire«, in: Karin Westerwelle (Hg.): Charles Baudelaire. Dichter und Kunstkritiker, Würzburg: Königshausen u. Neumann 2007, S. 115ff. 9 | Platon, »Symposion«, 206d, übers. v. Friedrich Schleiermacher, in: Platon, Sämtliche Werke, hg. von Karlheinz Hülser, Frankfurt a.M./Leipzig: Insel Verlag 1991, Bd. IV. 10 | Es gab das Gute, das Vollkommene, das Gelingen, aber keine Werte. Oder es gab Werte, aber das waren ausschließlich Tauschwerte. 11 | Hobbes: Leviathan, Kap. X, S. 63.
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den Vollzug praktischer Prozesse ermöglicht, dass es eine Ressource für Praktiken ist. Etwas ist wertvoll, weil man vermöge seiner etwas machen kann; weil man durch es befähigt und also erfolgreich wird. (2.) Der Wert von etwas besteht für jemanden. Ein Wert ist »nicht absolut« (Hobbes). Also ist er relativ: Der Wert von etwas bezieht etwas auf jemanden, der es bewertet oder abschätzt. Bei Werten muss man immer fragen: Wert für wen? Werthaben oder -sein heißt, auf etwas anderes bezogen zu sein, das damit als die Instanz der Bewertung definiert ist. Also gibt es Werte nur für Subjekte, und Subjekte sind perspektivische Instanzen des Bewertens (die nicht notwendigerweise Menschen sein müssen). Werte sind (1.) praktisch, ermöglichend, und sie sind (2.) relativ oder subjektiv. In Akten der Bewertung setzt sich ein Subjekt, indem es das ihm Begegnende daraufhin abschätzt, ob es ein Vermögen oder eine Fähigkeit hat, das bzw. die es gebrauchen kann. Wenn das Schöne das Gute verspricht, wenn das Gute ein Wert und der Wert eine für uns brauchbare Macht ist, wenn schließlich eine brauchbare Macht nichts anderes als ein Vermögen oder eine Fähigkeit ist – dann, so folgt daraus, ist das Schöne das Versprechen von Macht als brauchbarer Fähigkeit. Das ist Hobbes’ neue, bürgerliche Definition des Schönen: Es ist die Erscheinung – »Mine or Countenance« – von Vermögen oder Fähigkeiten. Dass das Schöne die Erscheinung des Guten ist, heißt, dass das Schöne nicht das Gute ist. Das Gute – als Wert, als brauchbare Fähigkeit, verstanden – ist das Angenehme eines erreichten Ziels oder das Nützliche eines Mittels. Das Schöne ist weder das eine noch das andere, es ist weder das Angenehme noch das Nützliche: Wir bewerten einen Gegenstand nicht deshalb als schön, weil er angenehm oder nützlich ist. Das Gute und das Schöne sind für Hobbes getrennt. Und doch verbunden – durch einen Akt des Versprechens: das Schöne verspricht das Gute; es verspricht, dass wir unsere Ziele erreichen und dafür nützliche Mittel finden werden. Es verspricht uns also, dass wir erfolgreich handeln werden. Genauer: Das Schöne verspricht uns, dass wir erfolgreich handeln können. Dass das Schöne das Gute verspricht, bedeutet: Das Schöne verspricht das Können (des Guten). Das Schöne sagt: Du kannst; du kannst erfolgreich handeln. Oder das Schöne sagt uns: Du vermagst, du hast Vermögen – subjektive Vermögen, also Fähigkeiten, und objektive Vermögen oder Ressourcen. Dass nach Hobbes das Schöne das Gute verspricht, bedeutet, dass es uns Vermögen verspricht. Oder in der Schönheit des Anderen geht es uns um uns selbst. Unsere Lust am Schönen des Anderen ist unsere (Vor-)Lust an unseren eigenen Vermögen, am Zueigenhaben von Fähigkeiten und Ressourcen. Eine Bemerkung in Klammern zur Terminologie: Macht ist die Möglichkeit oder das Potential der Wirkung. Vermögen ist eine zum Erreichen von Zwecken brauchbare Macht. Fähigkeit ist ein subjektives Vermögen, während
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Ressourcen objektive Vermögen sind. Eine Fähigkeit ist damit eine subjektive, brauchbare Macht, durch die etwas, oder jemand, einen Wert hat. Das stellt die Frage, ob es eine Form der Macht gibt, die nicht in ihrem Gebrauch als einer Fähigkeit besteht. Darauf komme ich am Ende zurück. Das Schöne verspricht also nicht nur Werte, das Schöne ist (oder hat) selbst ein(en) Wert. Es hat eine Macht, die wir gebrauchen können und für die wir bereit sind, einen Preis zu zahlen. Die Schönheit einer Sache oder Person verspricht uns, dass wir die Vermögen haben (oder haben können), um erfolgreich zu handeln. Im Schönen geht es um Werte, um Vermögen. Und das Schöne hat oder ist ein Wert, ein Vermögen. Das Schöne hat einen Wert, weil es das Vermögen, die ästhetische Macht hat, uns Vermögen, praktische Macht, zu versprechen. Das Vermögen zu versprechen als das Versprechen von Vermögen: das ist die radikal neue Definition der Schönheit, die Hobbes am Anfang der Neuzeit gibt.
III. In ihrer neuen, bürgerlichen Bestimmung ist die Schönheit durch ihren Bezug zur praktischen Welt – zur Welt dessen, was wir brauchen können, um erfolgreich zu sein – bestimmt. Dieser Bezug ist indirekt oder in sich gebrochen. Das definiert die Stellung des Ästhetischen in der bürgerlichen Gesellschaft. Das Schöne verhilft nicht dazu, erfolgreich zu handeln; es ist nicht selbst von praktischem Wert. Der ästhetische und der praktische Wert sind getrennt. Und gerade dadurch umso enger verbunden: Das Schöne trägt nicht zum erfolgreichen Handeln bei, sondern verspricht uns, dass wir handeln können. Das Schöne führt aus der Welt der Brauchbarkeit nur so – und soweit – hinaus, dass es uns diese Welt als unsere eigene zu erfahren gibt. In der Erfahrung des Schönen, außerhalb oder am Rande der praktischen Welt – am Abend oder Feiertag, nach der Arbeit, z.B. in Bayreuth –, erfahren wir uns selbst als fähige Teilnehmer dieser Welt. Unsere Lust am Schönen ist die Lust an uns selbst, an unseren Fähigkeiten, an uns als Subjekten. Darin liegt der besondere, ausgezeichnete Wert, den das Schöne für das Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft hat. Dass etwas wertvoll ist, heißt, dass es für uns brauchbar ist. Dass es brauchbar ist, heißt, dass in ihm die Möglichkeit des Erfolgs liegt. Alle Wertzuschreibungen sind hypothetisch; Bewertungen sind Wetten auf die Zukunft, Vermutungen darüber, dass etwas ein Vermögen ist oder hat, das wir gebrauchen können. Das Schöne dagegen verspricht das Gute und damit verspricht es, dass es Vermögen gibt. Denn das Schöne lässt Vermögen erscheinen. Im Schönen erfahren wir, wenn auch nur im Schein, unsere Fähigkeiten. Dafür braucht die bürgerliche Gesellschaft die Erfahrung der Schönheit: Das Schöne steigert die Wertvermutung zum Wert-
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versprechen, die Werthypothese zur Wertepiphanie. Der Wert der schönen Erscheinung liegt in der Erscheinung von Werten. Kant schreibt: »Die schönen Dinge zeigen an, dass der Mensch in die Welt passe und selbst seine Anschauung der Dinge mit den Gesetzen seiner Anschauung stimme.«12 Nur wenn unsere Anschauungen mit ihren Gesetzen zusammenstimmen; d.h. nur wenn unsere Sinnlichkeit und unser Verstand einander nicht äußerlich sind, sondern zueinander passen, sind sie Fähigkeiten oder zwei Teile einer Fähigkeit: der Fähigkeit, die Welt so zu erkennen, wie sie ist. Nur dann passt der Mensch in die Welt. Alltäglich, im praktischen Leben erscheint es so, dass unsere Sinnlichkeit und unser Verstand, also unsere Natur und unsere Kultur nicht zusammenstimmen, dass sie einander fremd und wir uns entfremdet sind; dass wir daher auch nicht in der Welt erkennen und handeln können; dass wir kein Können, keine Fähigkeiten haben. Das Schöne dagegen, darin liegt sein Wert, versetzt uns in einen Zustand – den Zustand ästhetischer Lust –, in dem es uns so erscheint und der uns dessen versichert, dass wir mit uns selbst und daher mit der Welt zusammenstimmen.13 Und das ist nicht nur irgendein gutes Gefühl, sondern es ist das Gefühl der Möglichkeit des Guten (dessen Wirklichkeit wir nie wissen können): In der ästhetischen Lust erscheinen wir uns und uns die Welt so, dass wir zueinander passen, dass wir daher in der Welt erfolgreich sein können; kurz: dass wir Subjekte, also im Besitz von Fähigkeiten sind. So bringt die bürgerliche Ästhetik das Paradox der Fähigkeiten zum Verschwinden. Darin liegt die schlechthin konstitutive Bedeutung, die der Begriff und die Erfahrung des Schönen für die bürgerliche Gesellschaft, das bürgerliche Subjekt haben: Sie bringen die tiefe Erfahrung des ›Unbehagens‹ in der Kultur, die Empfindung, dass unsere Natur in keine Kultur passt, zum Schweigen und heben die Entzweiung im Inneren des Menschen, zwischen seiner natürlichen Materie (Sinnlichkeit) und seiner gesellschaftlich-kulturellen Form (Verstand, Begriff), auf. Der Schein des Schönen sagt uns, dass wir wirklich Fähigkeiten haben, denn Fähigkeiten gibt es nur, wenn, und wo, Natur und Kultur zusammenstimmen. In der Ästhetik des Idealismus ist dieses Verhältnis zwischen dem Schönen und dem Subjekt und seinen Fähigkeiten ein indirektes: Das Schöne, so Kant, zeigt an, weist hin, legt eine Spur. Schon mit Stendhals Formel, »La beauté 12 | Kant, Immanuel: »Reflexion 1820a«, in: Kant’s Gesammelte Schriften, hg. v. der Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Berlin: De Gruyter, 1902-1956, Bd. XVI, S. 127. 13 | Dem – relativen, nie transgressiven – Hinausgehen des Ästhetischen über die Welt, das Praktische, entspricht daher die interne Dualität im Praktischen. Die Welt, das Praktische ist zweistufig: Sie erscheint als (Selbst)Entfremdung, aber ihr Wesen ist das mit sich übereinstimmende Subjekt. Das Subjekt liegt dahinter; deshalb muss das Schöne – das uns das Subjekt verspricht – (halb) über die Welt hinausgehen.
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n’est que la promesse du bonheur«, dagegen wird diese Verbindung offen und robust. Deshalb ist sie zur Programmformel der neodarwinistischen, evolutionären oder Bio-Ästhetiken geworden. Sie verstehen das Versprechen der Schönheit nicht mehr bloß als Anzeige des Glücks der Befähigung, sondern als Hinführung, ja Hervorbringung. Das Glück, das die Schönheit verspricht, wird als reproduktiver Erfolg verstanden und das Versprechen der Schönheit als ihr aktiver Beitrag zu diesem Reproduktionserfolg. Wir werden demnach von der Schönheit der anderen angezogen, weil deren Schönheit uns das Vermögen verspricht, etwas zu erzeugen, das besser, also erfolgreicher in Konkurrenz mit anderen ist. Die Auskunft der evolutionären, biologischen Ästhetik lautet: Wir lieben das Schöne, weil es uns etwas erzeugen zu können verspricht, das aufgrund der guten Anlagen, die wir ihm mitgeben, eine bessere Chance hat, sich im Kampf um knappe Ressourcen durchzusetzen; biologisch oder evolutionstheoretisch verstanden, verheißt uns das Schöne die Fitness des Erzeugten.14 Mehr noch und entscheidend: Das Schöne steht für seine eigene Verheißung selbst ein, denn im Umgang mit dem Schönen sind wir auch wirklich fitter; so erzeugen wir auch solches oder solche, die im Kampf ums (biologische oder ökonomische) Überleben erfolgreich sind. In dem Gebrauch, den die gegenwärtige Bioästhetik von Stendhals Formel macht, spiegelt sich damit das neue Schönheitsregime postmoderner oder postindustrieller Gesellschaften, in dem das Schöne nicht mehr bloß das Medium einer – ideologischen – Selbsterfahrung, sondern eine »zentrale Triebkraft«15 ist; die Biologisierung des Schönen ist nichts anderes als seine Ökonomisierung. Denn warum ist der ästhetische Geschmack, also die Fähigkeit, Schönes zu erfassen und zu genießen, von so entscheidender Bedeutung für das Funktionieren der gegenwärtigen Ökonomie, dass man von einer Verschmelzung von Ökonomischem und Ästhetischem, von einer Ästhetisierung der Ökonomie und einer Ökonomisierung des Ästhetischen sprechen kann? Zum einen deshalb, weil Massenkonsum und Massenkultur dasselbe sind. Ökonomisch Konsumierende müssen zugleich ästhetisch Teilnehmende sein; sie müssen ästhetisch Beurteilende sein. Ohne ästhetischen Geschmack zu haben, kann man gar nicht mehr ökonomisch konsumieren. Denn wir konsumieren den Schein. Aber gerade indem wir ästhetisch den Schein konsumieren, produzieren wir 14 | »Dies ist letztlich bereits Platos Lehre: Das Begehren nach dem Schönen zielt auf das schöne Objekt nicht um dessen selbst willen, sondern um in ihm und mittels seiner dem Begehrenden zu einer ›Zeugung‹, genauer: Selbstfortzeugung zu verhelfen.«, Menninghaus, Winfried: Das Versprechen der Schönheit, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, S. 217. Platon aber verstand die Geburtshilfe der Schönheit für die Erzeugung so, dass die Schönheit die Kraft hat, das Subjekt über sich hinaus zu führen. Siehe dazu Menke: Die Kraft der Kunst, S. 46-48. 15 | Menninghaus: Das Versprechen der Schönheit, S. 222.
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wirkliche Fähigkeiten: Im Konsum produzieren wir uns selbst als geschmacksfähige, beurteilungsfähige, ebenso kreative wie adaptive und deshalb universell verwendbare Arbeitskraft. Die Arbeitskraft selbst ist ästhetisiert. Die Arbeitskraft, die verwertbar und daher nachgefragt ist, besteht nicht mehr in dieser oder jener spezialistischen Fähigkeit, sondern in der unspezifischen oder Metafähigkeit, Chancen erfassen, Ressourcen, d.h. Werte erkennen und kreativ mit ihnen umgehen zu können. Das ist die Fähigkeit, in dessen Hervorbringung der ökonomische Wert des Schönen liegt. Das Schöne verspricht nichts anderes, als was es selbst unmittelbar einlöst.16 Der Kreislauf der Werte, zu dem Hobbes am Anfang der bürgerlichen Gesellschaft das Schöne mit dem Guten verband, hat sich geschlossen. Der ästhetische Wert und der ökonomische Wert fallen in eins.
IV. Die These lautet also: Die Fähigkeit, das fähige Subjekt, ist ein ästhetischer Effekt. Es gibt die Fähigkeit nur durch die ästhetische Erfahrung. Darin besteht die schlechthin grundlegende Rolle, die das Ästhetische in der bürgerlichen Gesellschaft spielt. Ohne das Ästhetische gibt es keine Fähigkeiten. Indem sie diesen Zusammenhang entfaltet, lehrt uns die bürgerliche Ästhetik etwas Wichtiges über die Fähigkeit. Sie lehrt uns, dass fähig zu sein – etwa: fähig zu sprechen – niemals nur bedeuten kann, regelmäßig bestimmte Effekte hervorbringen zu können, indem man eine bestimmte soziale Gewohnheit reproduziert; also etwa indem man in einer bestimmten Situation eine bestimmte Lautfolge hervorbringt und dadurch bewirkt, dass andere dieses oder jenes tun. Fähigkeit ist nicht bloß kausale Effizienz, und auch nicht bloß kausale Effizienz durch die Reproduktion sozialer Gewohnheiten und Muster. Fähigkeiten sind vielmehr angeeignete soziale Gewohnheiten: soziale Gewohnheiten, die zur Natur des Selbst – das dadurch ein Subjekt ist – geworden sind. Sie sind die zweite Natur des Subjekts (oder das Subjekt als zweite Natur). Aber damit Gewohnheiten zur zweiten Natur des Selbst werden können, müssen sie mit seiner ersten Natur ›zusammenstimmen‹ (Kant). Man muss – erste Natur – dazu fähig sein, fähig – zweite Natur – zu werden: (natürlich) fähig zur (kulturellen, sozialen) Befähigung; die Natur muss kulturelles Können werden 16 | Gerade darin liegt aber – weiterhin – der ideologische Gehalt des Ästhetischen (auf den auch Boltanski und Chiapello zielen, wenn sie vom »neuen Geist des Kapitalismus« sprechen, vgl. Boltanski, Luc/Chiapello, Ève: Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz: UKV 2006. Denn die ästhetische Produktion der Metafähigkeit kreativer Adaption produziert zugleich den Schein der Selbstbefähigung: dass das Individuum selbst und allein sich befähigen kann – und daher auch die Verantwortung für seine Unfähigkeit zu übernehmen hat.
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können. Die Fähigkeit ist daher die Übereinstimmung von Innen und Außen, Natur und Kultur, Eigenem und Erlerntem. Diese Übereinstimmung von erster und zweiter Natur oder von Natur und Kultur ist die Form der Fähigkeit: die Form, die die Fähigkeit ausmacht. Der Begriff der Fähigkeit ist der Begriff des mit sich selbst, zwischen seiner Natur und seiner Kultur, überein- oder zusammenstimmenden Subjekts. Das Denken der Aufklärung versteht die Fähigkeit als den Grund der Praxis. Die Praxis, das Handeln setzt also die Form der Fähigkeit – die Übereinstimmung des Subjekts mit sich – voraus. Ohne diese (Form-)Voraussetzung gibt es keine Praxis. Zugleich bleibt diese Voraussetzung im Praktischen immer hypothetisch: eine Annahme, eine Wette, die dem Zweifel ausgesetzt ist. Die ästhetische Erfahrung dagegen verwandelt sie in Gewissheit. Im ästhetischen Zustand, solange er dauert, haben wir die Form der Fähigkeit. Genauer: Durch die ästhetische Erfahrung geben wir uns die Form der Fähigkeit (denn die ästhetische Erfahrung ist selbstgemacht). Das Ästhetische ist die Hervorbringung der Fähigkeit. Wie gesehen, geschieht das in der traditionell-bürgerlichen Kultur und im postmodern-gegenwärtigen Konsumismus auf ganz unterschiedliche Weise. Aber beide Gestalten bürgerlicher Ästhetik haben gemeinsam, dass das Ästhetische die Selbsthervorbringung des Subjekts in der Form der Fähigkeit ist; d.h.: die Selbstformierung des fähigen Subjekts. Das Ästhetische ist die Fähigkeit der Fähigkeit – die Fähigkeit zur Fähigkeit. Die eingangs zitierte These von Foucault lautet, dass das Verhältnis zwischen der »Fähigkeit und der Macht« durch ein »Paradox« bestimmt ist. Wir können diese These nun so verstehen: Eine Fähigkeit, die noch in Verhältnisse zwischen der Fähigkeit und der Macht eingeschrieben ist, die noch im Verhältnis zur Macht steht, hat dadurch einen paradoxen Status. Denn eine solche Fähigkeit ist in Wahrheit keine; sie ist noch keine oder keine mehr. Auch, ja gerade die Ästhetik weiß, dass der Erwerb von Fähigkeiten nur in Machtverhältnissen erfolgt; Baumgarten hat die Ästhetik als Lehre von der »ästhetischen Disziplin«, disciplina aesthetica, begründet.17 Aber eine Fähigkeit zu haben, also fähig zu sein, heißt von äußeren Machtverhältnissen frei geworden zu sein. Wenn daher Foucault in dem Verhältnis zwischen Fähigkeit und Macht das Paradox der Fähigkeit sieht, so heißt dies, dass die Fähigkeit nicht nur so entsteht, sondern auch nur so besteht, dass sie im Verhältnis zur Macht steht – dass es daher, streng genommen, keine Fähigkeit gibt. Foucaults paradoxe These besagt: Es gibt keine Fähigkeit; nur so gibt es Fähigkeiten. Es gibt keine Fähigkeit außerhalb des Verhältnisses zur Macht; also gibt es die Fähigkeit nur im Verhältnis zur Macht; aber genau so, in diesem Verhältnis, gibt es die Fähigkeit nicht.
17 | Menke, Christoph: Kraft. Ein Grundbegriff ästhetischer Anthropologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008, Kap. II.
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Bisher habe ich das Paradox der Fähigkeit in seinem kritischen Gehalt betrachtet: als eine Kritik der ästhetischen Ideologie. Die ästhetische Ideologie, die Ästhetik als Ideologie, behauptet die innere Übereinstimmung, die den Begriff, die Form der Fähigkeit ausmacht. Sie behauptet also, dass die Fähigkeit jenseits der Macht steht. Diese Behauptung ist keine zufällige, die man auch weglassen kann und doch weiterhin von Fähigkeiten sprechen. Diese (ästhetisch-ideologische) Behauptung ist vielmehr das Wesen der Fähigkeit. Die Kritik der ästhetischen Ideologie besteht in dem Nachweis, dass das Jenseits der Macht, also die Form der Fähigkeit ein (notwendiger) Schein ist. Sie ist ein ästhetischer Effekt; d.h.: ein Effekt der ästhetischen Wiederholung und dadurch Verdeckung der Selbstformierung, die die Fähigkeit ausmacht. Ästhetisch erscheint die Selbstformierung zum fähigen Subjekt als Selbstübereinstimmung, als ›Harmonie‹. Die Selbstformierung des fähigen Subjekts ist aber selbst eine Ausübung von Macht: der Macht des Subjekts auf und gegen sich selbst; der Macht der Selbstermächtigung als Selbstübermächtigung.18 Der Satz ›Die Fähigkeit ist ein ästhetischer Effekt‹ bedeutet: Die Fähigkeit als das Jenseits der Macht ist selbst ein Effekt der Macht. – So weit, noch einmal, der kritische Gehalt der These vom Paradox der Fähigkeit. Aber diese These hat auch noch eine zweite, genau entgegengesetzte, affirmative Bedeutung. Die These: ›Die Fähigkeit ist ein Paradox‹ beschreibt zugleich den Schein der Fähigkeit – dass sie eine Übereinstimmung des Subjekts mit sich selbst jenseits der Macht ist – und die Wahrheit der Fähigkeit: ihre gute, wahrhaft geglückte oder glückliche Gestalt. Denn dass die Fähigkeit im Verhältnis zur Macht, also niemals außerhalb dieses äußeren Verhältnisses, niemals jenseits des Verhältnisses zum Äußeren steht, ist die Bestimmung ihres Gelingens. ›Die Fähigkeit ist ein Paradox‹ heißt: Die Fähigkeit glückt nur oder ist nur frei, wenn sie im permanenten Verhältnis zu ihrem Anderen, zur Unfähigkeit steht. – Das ist die andere Lehre der Ästhetik, die Lehre der anderen Ästhetik, die der Ideologie des Schönen, sei sie bürgerlich oder postmodern verstanden, widerstreitet.
18 | »[…] der Wille will seinen Willen. Sein Wille ist sein Gewolltes. Der Wille will sich selbst.«, Heidegger, Martin: »Nietzsches Wort ›Gott ist tot‹«, in: Ders.: Holzwege, Frankfurt a.M.: Klostermann 1950, S. 216. Und weiter: »Zum Wesen der Macht gehört die Übermächtigung ihrer selbst. […] Wille für sich gibt es so wenig wie Macht für sich. Wille und Macht sind daher auch nicht erst im Willen zur Macht aneinandergekoppelt, sondern der Wille ist als Wille zum Willen der Wille zur Macht im Sinne der Ermächtigung zur Macht. Die Macht aber hat ihr Wesen darin, daß sie als der im Willen stehende Wille zu diesem steht. Der Wille zur Macht ist das Wesen der Macht. Er zeigt das unbedingte Wesen des Willens an, der als bloßer Wille sich selbst will.«, ebd., S. 217.
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V. Wir haben gesehen, dass Stendhals Bestimmung der Schönheit – nichts als ein Versprechen des Glücks – ins Zentrum der ästhetischen Ideologie führt. Stendhals Formel zitiert Hobbes’ radikale Neubestimmung des Schönen: Das Schöne ist ein (oder hat einen) Wert, d.h. eine für uns brauchbare Macht, also ein Vermögen oder eine Fähigkeit, weil es uns Vermögen oder Fähigkeiten verspricht und uns dadurch die Form der Fähigkeit verschafft; der Wert der Schönheit liegt in der Macht der Selbstformierung zum fähigen Subjekt. Aber Stendhal selbst hat seine Formel gar nicht als Programm, sondern als Kritik verstanden. Dass die Schönheit nichts als ein Versprechen des Glücks ist – diese Bestimmung, die Stendhal in seiner Theorie der Liebe entwickelt, gilt im Feld der Künste nur für das Theater, das für Stendhal eine niedrige, verfehlte Kunst ist, genauer vielleicht: das Paradigma der entstehenden Kulturindustrie. Es ist nur diese Schönheit, die einen Wert und also das Vermögen hat, Vermögen oder Fähigkeiten anzuzeigen. Davon unterscheidet er die »ideal[e] Schönheit« (die er in der Skulptur und Malerei findet).19 Die Absicht von Stendhals Formel (und das gilt erst recht für ihre Lektüre durch Baudelaire) ist also die Kritik: der kritische Nachweis, dass das Schöne dadurch relativiert, historisiert, kulturalisiert, moralisiert, sozialisiert und letztlich ökonomisiert wird, dass ihm ein Wert zugeschrieben wird – ein Vermögen, von dem wir in und zu unseren kulturellen, moralischen, sozialen, ökonomischen Praktiken Gebrauch machen können. Aber von woher wird diese Kritik geübt? Worin liegt der Gegenbegriff zur Schönheit als ein Wert und damit als Schein der Fähigkeit? Stendhals Gegenbegriff der idealen Schönheit, die »außerhalb jeder Leidenschaft« und damit außerhalb des Lebens steht,20 scheint die Alternative zum Ökonomismus der Werte in der Rückkehr zur Metaphysik des Schönen zu sehen, mit der Hobbes gebrochen hatte. Man kann Stendhals Einführung des Gegenbegriffs der idealen Schönheit aber auch als die Aufforderung verstehen, Hobbes’ Definition, mit dem er die moderne Ästhetik auf den Weg bringt, noch einmal und ganz anders zu lesen. Wir müssen also den Weg der modernen Ästhetik, der bis zum gegenwärtigen Biologismus und Ökonomismus geführt hat, noch einmal zum Anfang zurück gehen und die beiden zentralen Begriffe, um die Hobbes’ Bestimmung des Schönen kreist, einer erneuten Betrachtung unterziehen: die Be19 | Stendhal: »Über die Liebe«, S. 81. Und so hat auch Baudelaire die Wahrheit von Stendhals Formel darin gesehen, nur für das »relativ[e], von den Umständen abhängig[e] Element« der Schönheit zu gelten, »das, wenn man so will, eins ums andere oder insgesamt, die Epoche, die Mode, die Moral, die Leidenschaft sein wird«, Baudelaire, Charles: »Der Maler des modernen Lebens«, in: Ders.: Sämtliche Werke/Briefe, hg. v. Friedhelm Kemp und Claude Pichois, München und Wien: Carl Hanser 1989, S. 215. 20 | »[…] denn ›wir […] leben von der Leidenschaft‹«, Stendhal, »Über die Liebe«, S. 78.
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griffe der Macht, power, und des Versprechens, promise. Was ist die Macht des Schönen, worin besteht sein Versprechen? Zu beidem abschließend eine kurze, skizzenhafte Bemerkung. Hobbes’ entscheidender Zug besteht darin, power durch use zu erläutern: Dass etwas eine Macht hat oder ist, heißt, dass wir es gebrauchen können. Und d.h.: Die Macht ist ein Vermögen, subjektiv verstanden: eine Fähigkeit. Fähigkeiten sind – teleologisch oder instrumentell – auf das Gute, den Erfolg einer Handlung bezogen; durch meine Fähigkeiten kann ich etwas: etwas erfolgreich tun, etwas gut ausführen. Weil dies, wenn ich handle, in meiner Absicht liegt, sind Fähigkeiten und ihr Gebrauch bewusst. Die moderne Ästhetik entwickelt einen Gegenbegriff der Macht – der Macht nicht als Fähigkeit, sondern als Kraft.21 Kraft wie Fähigkeit sind Potentiale des Wirkens, aber sie wirken auf ganz verschiedene Weise. Fähigkeiten werden in Handlungen aktualisiert, die ein Subjekt mit Wissen und Wollen ausführt. Kräfte dagegen wirken von selbst, ohne Wissen und Wollen des Subjekts, also unbewusst. Sie entfalten sich in einem Spiel, das frei, weil ziel- und regellos ist. Als Wirken von Kräften ist das Spiel eine unendliche Hervorbringung und Überschreitung des Hervorgebrachten – ohne Produkt oder Ergebnis, auf das diese Bewegung gerichtet wäre. Die Wirkungsweisen der Kraft zeigen der Traum, der Rausch und die Imagination. Die Fähigkeit ist eine Macht des Wirkens, die ein Subjekt in Übungen erworben hat und in Handlungen ausübt. Die Kraft ist eine Macht des Wirkens, die wir (von Natur aus) haben, ohne sie gelernt zu haben und ohne sie daher lenken zu können. Die Macht als Kraft ist menschlich, aber nicht subjektiv. Sie ist die subjektabgewandte – und gerade dadurch subjektermöglichende22 – Seite im Menschen. Oder das, was wir den Menschen nennen, ist der Ort und die Zeit, die Szene, auf der die Macht als Vermögen oder Fähigkeit und die Macht als Kraft einander begegnen, bekämpfen und ermöglichen. Die Einsicht der Ästhetik, die sie der Kunst abgewinnt, lautet: Es gibt die Macht, die Potentialität des Menschen nur in der paradoxen Einheit von Fähigkeit und Kraft; Macht ist nicht (d.h. nicht nur, ist also nicht identisch mit) Fähigkeit. Oder es gibt Gelingen nur durch die paradoxe Einheit von Fähigkeit und Kraft; Gelingen ist nicht (d.h. nicht nur, ist also nicht identisch mit) Aktualisierung von Fähigkeiten. Wann immer uns etwas gelingt, dann stellt sich dies niemals nur deshalb ein, weil wir unsere Fähigkeiten ausgeübt haben; niemals ohne Können, aber niemals allein durch Können. Es bedarf eines
21 | Zum Folgenden siehe Menke: Kraft, Kap. III. 22 | Denn das Subjekt kann nur dort durch Disziplinierung hervorgebracht werden, wo die Macht der natürlichen Bestimmungen über den Menschen durch das Spiel ästhetischer Kräfte unterbrochen und ausgesetzt wurde: Die Kraft ist das Andere und der Grund der Fähigkeit.
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»Hinzutretenden«.23 Die Schönheit der Kunst ist der Inbegriff eines Glückens, das die Praxis der Fähigkeit überschreitet. Schön ist die Kunst in dem, worin sie mehr als die Ausübung einer Fähigkeit ist. Die Schönheit der Kunst ist Ausdruck der Einheit, also des Widerstreits von Fähigkeit und Kraft, von Fähigkeit und Unfähigkeit; in ihr erscheint das Können des Nichtkönnens. Durch die Schönheit der Kunst erlangen wir nicht die Form der Fähigkeit. Die Schönheit der Kunst führt vielmehr unsere Fähigkeiten an ihre Grenze und damit uns über uns selbst hinaus. Das ist die Macht der Schönheit – nicht die Macht, die sie für uns ist, sondern die sie über uns hat: Die Macht der Schönheit bewirkt, dass unsere Macht den Zustand, die Form als bloße Fähigkeit überschreitet und sich in uns der Widerstreit von Fähigkeit und Kraft entfaltet. Damit gewinnt auch Stendhals Formel von der Schönheit als einem Versprechen des Glücks eine ganz andere Bedeutung als diejenige, die von Hobbes vorgeprägt wurde und der sie ihre gegenwärtige Popularität verdankt. Sie folgt aus einem Unterschied, der klein erscheint und zugleich unendlich ist: der Unterschied zwischen dem Guten (Hobbes’ Good in the Promise) und dem Glück (Stendhals promesse du bonheur). Das Gute ist der bezweckte Erfolg der Handlung, den wir durch die Ausübung von Fähigkeiten hervorbringen können. Das Glück dagegen – das Glücken einer Tat – geht über alles durch die Ausübung von Fähigkeiten Machbare hinaus. Das Gute ist die Verwirklichung von Zwecken, das Glücken die Überschreitung der praktischen Ordnung von Zwecken, Fähigkeiten und Handlungen. Nichts kann ohne Bezug auf die Zwecke, die unsere Handlungen leiten, als Glücken erfahren werden. Und zugleich geht das Glücken über jeden Zweck hinaus; das Glücken ist eine Übererfüllung, die Erfüllung und Überschreitung der Zwecke, die unsere Praktiken antreiben. Das erfahren wir im Schönen: Schön sind Dinge, und schön sind Taten, in denen etwas gelingt, was niemand kann, was daher auch niemand wollen kann, aber in allem Wollen erhofft und erträumt wird. Die Schönheit der Kunst ist die Negation des immanenten Prinzips der Praxis. Sie negiert die begriffliche Korrelation, den kriteriellen Zusammenhang von Handlung, Zweck und Fähigkeiten, ohne den keiner dieser Begriffe irgendeine Bedeutung hätte und ohne den es gar keine Praxis gäbe. Aber gerade durch diese Negativität gegenüber der Praxis ist die Kunst affirmativ. Durch ihre Negativität ist die Kunst die Affirmation eines Glückens, das praktisch unmöglich ist, weil es nicht durch die (selbstbewusste) Ausübung von (eigenen) Fähigkeiten 23 | »Das Hinzutretende ist ein Impuls, Rudiment einer Phase, in der der Dualismus des Extra- und Intramentalen noch nicht durchaus verfestigt war, weder willentlich zu überbrücken noch ein ontologisch Letztes. […] Der Impuls, intramental und somatisch in eins, treibt über die Bewußtseinssphäre hinaus, der er doch auch angehört.«, Adorno, Theodor W.: Negative Dialektik, in: Theodor W. Adorno, Gesammelte Schriften, Bd. 6, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1973, S. 227f.
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gemacht werden kann. Die Schönheit der Kunst lässt erscheinen, was wir nicht können – nicht machen und daher auch nicht bezwecken können –, worauf aber alles Machen und Bezwecken hofft: »des affirmativen ineffabile«.24 Die Schönheit der Kunst ist daher unauflösbar zweideutig: Sie ist die Lüge und die Kraft der Kunst, die Schönheit ist Ideologie und Imperativ zugleich. Durch ihre Schönheit lügt die Kunst, weil sie die Wirklichkeit eines Glückens behauptet, das zugleich praktisch unmöglich ist; das also dort, wo es um unser Glück geht, in unserem Leben und in unserer Praxis, nicht wirklich ist. Aber eben darin liegt zugleich der Imperativ der Kunst: Sie verpflichtet uns, es ihr in der Praxis nachzumachen. Die Schönheit der Kunst treibt über sich hinaus zu einer Veränderung der Praxis. In dem Versprechen der Schönheit liegt nicht ihr Wert, sondern ihr Antrieb – ihre Kraft.
VI. Wenn also die Macht der Schönheit kein Vermögen ist, das wir gebrauchen können; und wenn der Wert eines Menschen oder einer Sache nach Hobbes’ Definition darin besteht, eine Macht zu haben, die wir gebrauchen können und für die wir daher einen Preis zu bezahlen bereit sind, eine Macht also, die eine Fähigkeit oder ein Vermögen ist – dann ist die Schönheit nicht der Wert der Kunst; dann hat die Kunst Schönheit, aber keinen Wert; dann ist die Kunst vielmehr gerade durch ihre Schönheit ohne Wert. Die Kunst ist wertlos. D.h. umgekehrt: Wer der Kunst aufgrund ihrer Schönheit Wert zusprechen will, will sie ihrer Kraft berauben; er will ihre Macht und damit unsere Macht auf ein bloßes Vermögen, eine bloße Fähigkeit reduzieren. In Abwandlung einer Formulierung Heideggers kann man sagen: »Allein indem die Schönheit oder die Kunst als ein Wert gewürdigt wird, ist sie schon zu einer vom Willen zur Macht selbst gesetzten Bedingung herabgesetzt. Vordem schon ist die Schönheit oder die Kunst selbst, insofern sie überhaupt geschätzt und so gewürdigt wird, um die Würde ihres Wesens gebracht.« 25
24 | Adorno, Theodor W.: »Ästhetische Theorie«, in: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 7, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1974, S. 347. 25 | Heidegger spricht jedoch nicht über die Kunst und ihre Schönheit, sondern über das Sein: »Allein indem das Sein als ein Wert gewürdigt wird, ist es schon zu einem vom Willen zur Macht selbst gesetzten Bedingung herabgesetzt. Vordem schon ist das Sein selbst, insofern es überhaupt geschätzt und so gewürdigt wird, um die Würde seines Wesens gebracht.«, Heidegger: »Nietzsches Wort ›Gott ist tot‹«, S. 238.
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Heidegger drückt dies auch so aus, dass das Denken in Werten Nihilismus ist. Der Kunst einen Wert zuzusprechen, ist eine nihilistische Aussage. Sie reduziert die Macht auf ein Vermögen. Das gilt der Macht, die die Kunst durch ihre Schönheit hat, aber dadurch zugleich der Macht überhaupt. Der Kunst einen Wert zuzusprechen, ihre Schönheit als einen Wert zu behandeln, ist die Ökonomisierung des Ästhetischen, um die es in der angeblichen Ästhetisierung der Ökonomie eigentlich geht. Im (theoretischen und praktischen) Widerstand gegen die ökonomische Definition der Schönheit als Wert geht es also zuletzt um den Kampf um die Macht. Das ist nicht der Kampf darum, wer die Macht hat, sondern was und wie Macht ist; ein ontologischer (und dadurch auch politischer) Kampf. Die Ästhetik, in Theorie und Praxis, ist der Kampfplatz um die Bestimmung des Schönen. Aber weil die Auseinandersetzung darüber, was das Schöne ist – ein Wert oder eine Kraft –, zugleich der Kampf darum ist, was die Macht ist, was also das Handeln, das Gelingen, das Subjekt sind, deshalb ist die Ästhetik, im Denken und Tun oder Erfahren, der Platz eines Kampfes darum, wer wir sind: ob wir Subjekte, nichts als Instanzen von Fähigkeiten, oder zugleich weniger und damit mehr als Fähige und darin frei sind. Durch diesen Kampf ist die Kunst politisch. Die Kunst ist also nicht politisch, indem sie politische Inhalte oder politische Absichten hat. Sie ist politisch, indem sie – immer schon – Partei ergreift in dem Kampf um die Schönheit. Die Kunst ist politisch, indem sie ästhetisch ist. Denn ästhetisch zu sein heißt, das Schöne zu denken, es zu machen oder zu erfahren. Das Schöne zu denken aber verlangt nicht weniger als ihren geschichtlichen Stand zu begreifen; als »ästhetischer Zentralbegriff«26 ist die Schönheit ein gesellschaftlicher Begriff. Sie ist gesellschaftlich definiert. Niemand, der über die Schönheit der Kunst nachdenkt, keiner, der ein Kunstwerk erfährt oder macht, kann diesen Stand ignorieren; niemand ist unabhängig von ihm. Aber weil der geschichtliche Stand der Schönheit kein Zustand ist, der geschlossen und einheitlich, sondern ein Feld des Kampfes ist, ist die Kunst an jeder Stelle in einen Kampf verstrickt. Dieser Kampf ist rein ästhetisch – es ist ein Kampf um die Schönheit – und dadurch politisch: Es geht in ihm um die Grundbestimmungen unseres Selbstverständnisses und daher unseres Lebens. Die Kunst ist nie politischer als wenn sie den ästhetischen Kampf um die Schönheit führt.
26 | Adorno, Theodor W.: Ästhetik 1958/59, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2009, S. 139.
Zur Ohnmacht der Kunst Leonhard Emmerling
E inleitung Unter den Kunstvermittlerinnen und Ausstellungsmacherinnen, Künstlerinnen, Kuratorinnen, Biennalespezialistinnen, Theoretikerinnen und Diskursproduzentinnen (und ihren männlichen Entsprechungen) auf dem Gebiet der zeitgenössischen westlichen Kunst scheint eine Sache ausgemacht zu sein: dass insbesondere die zeitgenössische bildende Kunst in besonderem Maß dazu geeignet sei, gesellschaftliche, politische, ökonomische, ökologische und sämtliche anderen Missstände adäquat zu thematisieren, Bewusstsein zu verändern, Konventionen zu durchbrechen, den Kunstbenutzern sowie den anderen Teilnehmern an Gesellschaft den Weg aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit und Verblendung zu weisen und die Welt final zum Guten zu wenden. Es muss dieser soteriologischen Gewissheit1 die Annahme zugrunde liegen, dass Kunst (und hier insbesondere die Gegenwartskunst westlicher Prägung) auf einzigartige Weise in der Lage sei, Wahrheit zur Anschauung zu bringen. Diese Annahme wiederum ist nur möglich, sofern man davon ausgeht, dass Kunst anderes sei als Schein. Denn Wahrheit kann nicht scheinhaft sein. Um diesen Konflikt zwischen dem Wahrheitsanspruch der Kunst und ihrem Status als Schein zu lösen, arbeitet die Kunst seit mehr als 150 Jahren daran, ihren eigenen Begriff zu subvertieren. Kunst heute ist, was den Begriff von Kunst demontiert. Sie tendiert mit unablässigem Furor dazu, ihren Scheincharakter abzulegen, um ganz Wirklichkeit zu sein und als ihr Teil verändernd in ihr wirken zu können. Über den Status dieser Wirklichkeit muss Übereinstimmung herrschen. Aus diesem Grund appelliert Kunst, die verändern will, an die Gemeinschaft. Es ist nicht, wie bei Rilke, das einzelne Subjekt, das die An-
1 | Zum Kunstwerk als »soteriologischer Maschine« vgl. Agamben, Giorgio: Die Zeit, die bleibt (2000), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006, S. 96.
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rufung aus dem Stein erlebt, es müsse sein Leben ändern;2 sondern es ist das vergemeinschaftete Subjekt, das mit anderen Subjekten an der Verbesserung der Welt arbeitet. Die Kunst dient als Modell eines gelungenen sozialen Seins; nur in dieser Hinsicht ist sie von Belang. Gelungenes soziales Sein bedarf der Gewissheit und des Konsens’ über die Richtigkeit der Ziele und Wertungen, der Moralvorstellungen und Ethiken, die die Individuen teilen. Das subjektive Urteil genügt hier nicht. Aus dem ästhetischen Urteil des Einzelnen vor dem jeweiligen Werk wird ein Erkenntnisurteil, in welchem sich die Richtigkeit der Erkenntnis wie die der daraus zu ziehenden Konsequenzen als Adäquation des Denkens mit seinen Gegenständen ergibt. Das moralische Urteil, das Normativität reklamiert, setzt sich über das ästhetische, dem keine objektive Zweckhaftigkeit und damit auch keine normative Kraft zukommt. Das ästhetische Urteil ist gleichbedeutend mit dem lediglich geschmäcklerischen, elitären Schönfinden einer Sache. Nichts könnte aber weniger relevant sein als Schönheit. Ihr gesellschaftlicher Stand ist der des lügenhaften schönen Scheins. Dem Konflikt zwischen Wahrheit und Schein entspricht der Konflikt zwischen einem ästhetischen Urteil, das notwendigerweise subjektiv ist, und dem Anspruch einer Kunst, die objektiv analysieren, beurteilen und realiter eingreifen und verändern will; daher ihr Anspruch, Forschung zu sein, und der Verzicht auf Autonomie. Autonomie wird aufgegeben in jeder Form der relationalen Kunst, in jeder Form, in der sich der »erweiterte Kunstbegriff« manifestiert, als Stigma politischer und gesellschaftlicher Folgenlosigkeit. Worum es geht, ist die Entfaltung von Wirkung und von Kraft. Dem Verschwinden des ästhetischen Urteilens entspricht die Konjunktur des Moralischen. Die ästhetische Insignifikanz einer Vielzahl von Produktionen der zeitgenössischen Kunst soll aufgehoben werden durch moralische Relevanz. Es existiert eine Art der Gegen- oder Querfinanzierung in einer Ökonomie von Werten, in denen gesellschaftlicher »Impact« zugleich mit dem symbolischen Kapitalwert von Kunst den ersten Platz belegt. Was die Moral zur Kunst zu sagen hat und mit welchen Argumenten sie reklamiert, ihr Verhältnis zu den sozialen Tatsachen beurteilen zu können, ist selbst wiederum Gegenstand einer Praxis der Beobachtung, die darüber Klarheit zu schaffen versucht, wann der Einsatz der Moral moralisch gerechtfertigt ist. Eine Ethik der Ästhetik beobachtet, wie sich die Gesellschaft zur Schwäche der Kunst verhält. Daraus formuliert sie keine Moral, doch bewertet sie, auf welche Weise die Gesellschaft das Ergebnis der ästhetischen Leitunterscheidung zwischen Wirklichkeit und Schein, die ästhetische Differenz, das Stigma der Schwäche, den Makel der gesellschaftlichen Folgenlosigkeit bewer2 | Vgl. Rilke, Rainer Maria: »Archaischer Torso Apollos« (1908), in: Ders.: Sämtliche Werke, Bd. 1, Wiesbaden und Frankfurt a.M.: Insel 1955, S. 557.
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tet. Ästhetik beobachtet, in welcher Weise die Kunst diese Leitunterscheidung prozessiert. Der Ethik der Ästhetik obliegt, die Ästhetik dabei zu beobachten, wie sie welchen Sinn aus dieser Beobachtung in die Gesellschaft vermittelt, und ob sie dabei sachgerecht verfährt. Wenn im Folgenden von Kants Bestimmung des ästhetischen Urteils als reflektierendem ausgegangen und anschließend eine kurze Geschichte der Aushöhlung dieser Bestimmung geschrieben wird, ist die Absicht nicht, der zeitgenössischen Kunst einen irgendwie gearteten normativen Begriff des Ästhetischen, des Schönen, der Kunst entgegenzuhalten und sie von dort aus zu kritisieren. Zentrales Argument ist vielmehr die Nicht-Hintergehbarkeit des sich selbst ungewissen, sich selbst befragenden Denkens und Urteilens, das sich in kein Erkenntnisurteil ummünzen lässt, und der Fundierung von Reflexion auf Zweifel. Das ästhetische Urteil als reflektierendes kann sich seiner Schwäche nicht entledigen. Es entspricht darin seinem Gegenstand. Die Kunst ist schwach. Und es bedarf einer Umwertung des Begriffs der Schwäche, der sich dem Diskurs der Wirkung und der Macht verschließt, um eine Politik der Kunst zu ermöglichen, in deren Zentrum die Emergenz von Form als das Ereignis des Neuen steht.
I. U nbegründbarkeit als G rund Zweckmäßigkeit ohne Zweck und interesseloses Wohlgefallen bilden bei Kant die komplementären Fundamente bei der Beurteilung des Schönen. Der formalen Zweckmäßigkeit des Werks auf der Produktionsseite entspricht auf der Rezeptionsseite die Interessefreiheit. Die Abwesenheit jedes partikularen Interesses, jeder privaten Neigung, jeder individuellen Beimischung von Reizen und Rührung3 bei der Betrachtung des Schönen begründet, warum in diesem Wahrnehmen des Schönen der Betrachter das Wohlgefallen, das er empfindet, auch bei jedem anderen voraussetzen kann. Das Geschmacksurteil ist zwar »[…] kein Erkenntnisurteil, mithin nicht logisch, sondern ästhetisch, worunter man dasjenige versteht, dessen Bestimmungsgrund nicht anderes als subjektiv sein kann«, da aber, wer etwas als schön empfindet, dieses Urteil auch den anderen »ansinnen« zu können Grund hat, ist mit dem Geschmacksurteil der Anspruch auf subjektive Allgemeinheit verbunden.4 Es ist die mit Interesselosigkeit gepaarte, im reflektierenden Urteil sich äußernde Subjektivität, welche die Voraussetzung dafür darstellt, dass an einen gemeinschaftlichen Sinn zu appellieren, auf die Beistimmung der anderen 3 | Vgl. Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft, hg. von Gerhard Lehmann, Stuttgart: Reclam 1963, § 13, S. 99. 4 | Vgl. ebd., § 1, S. 68, § 8, S. 88, § 6, S. 80.
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(idealiter: jedes anderen) hoffen zu dürfen, überhaupt berechtigt erscheint. Die Notwendigkeit, das reflektierende Urteil zu überprüfen, indem man es immer wieder »an die gesamte Menschenvernunft«5 hält, bedingt den Gemeinsinn, welcher sich herstellt durch die sich selbst gegenüber zweifelsvolle und diesen Zweifel überprüfende Reflexion, die Rücksichtnahme auf das Urteil anderer. Die Zweckmäßigkeit ohne Zweck als ästhetische Zweckmäßigkeit, der das interesselose Wohlgefallen entspricht, repräsentiert die Gesetzmäßigkeit der Urteilskraft in ihrer Freiheit. Die Freiheit der Urteilskraft korrespondiert der Freiheit, welche das Werk in seiner Selbstgesetzlichkeit, als rein formale Zweckmäßigkeit, selbst setzt, selbst etabliert, zur Anschauung bringt, exemplifiziert. Das Werk ist die einzige Formulierung jener Gesetzlichkeit und Zweckmäßigkeit, der es folgt, weshalb das Urteil, indem es dem Werk darin korreliert, reine Formulierung der Freiheit wie der Gesetzlichkeit des (reflektierenden) Urteilens ist. Da dieses Werk als einziges jene Gesetzmäßigkeiten zur Anschauung bringt, denen es sich verdankt, kann das reflektierende Urteil sich immer nur auf einen spezifischen Gegenstand beziehen.6 In der reinen Bestimmung der ästhetischen Zweckmäßigkeit erhebt das reflektierende ästhetische Urteil Anspruch auf Autonomie. An das Werk andere, beispielsweise moralische Urteile anzulegen, wäre Heteronomie und aufgrund dessen, dass »man (dann) einen Verstand haben würde, der sinnlich urteilt, oder einen Sinn, der durch Begriff seine Objekte vorstellte«,7 in sich widersinnig. Es ist zugleich evident, dass das interesselose Wohlgefallen nicht den Endpunkt der Beurteilung des Schönen darstellt, sondern dessen Voraussetzung, seinen Anfangspunkt.8 Denn aus der Betrachtung des Schönen kann Lust an der Existenz des betrachteten Gegenstandes entstehen, ein Interesse am Genuss seiner Schönheit. Nichts spricht dagegen, dass aus dem Wohlgefallen Interesse am Fortbestand des Gegenstandes der Betrachtung erwächst. Das reflektierende Urteilen über den ästhetischen Gegenstand und die Achtung moralischer Ideen lassen sich als verschiedene Wege identifizieren, auf denen der Einzelne zu einem Verständnis seiner selbst als Mitglied der gesamten Menschheit zu gelangen vermag, Subjektivität sich in Einklang mit Allgemeinheit begibt. Sind es die reflektierenden Urteile über das ästhetische Objekt, welche, indem sie gegen die gesamte Menschenvernunft gehalten werden müssen, den Gemeinsinn herstellen, so sind es die »geistigen Gefühle der 5 | Ebd., § 40 S. 214. 6 | Vgl. ebd. § 33, S. 142: »In der Tat wird das Geschmacksurteil durchaus immer als ein einzelnes Urteil vom Objekt gefällt.« 7 | Ebd., § 15, S. 47. 8 | Vgl. ebd., § 23, S. 75: »Auch ist das letztere [das Wohlgefallen am Schönen – L. E.] der Art nach von dem ersteren Wohlgefallen gar sehr unterschieden: indem dieses (das Schöne) direkt ein Gefühl der Beförderung des Lebens bei sich führt […].«
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Achtung für moralische Ideen«, die eine »Selbstschätzung der Menschheit (in uns)«9 hervorrufen. In der Achtung für moralische Ideen erfährt der Mensch sich als Mitglied der gesamten Menschheit. Er findet in sich, was er an anderen achtenswert findet, und beginnt sich selbst zu achten, da er in sich findet, was an anderen Achtung verdient. Im reflektierenden Urteil über das Kunstwerk vergewissert sich das urteilende Subjekt seiner Zugehörigkeit zur Menschheit, deren Wertmaßstäbe es mit den eigenen in Vergleich setzt. Die Wertzumessung an das ästhetische Urteil wie die Erfahrung des Schönen geschehen, wenn durch den Genuss des Schönen das Gefühl der »Beförderung des Lebens« sich einstellt. Das Schöne aber zu suchen, weil man von ihm zu hoffen wagte, es trage zur Steigerung von Lust bei, gehörte in den Bereich der Barbarei. Das Urteil würde trübe, da, bevor es getroffen werden könnte, die Wahrnehmung des Schönen durch einen Reiz, eine Rührung, gar ein erotisches Interesse verunklärt sein könnte.10 Zugleich ist das Schöne Symbol des Sittlich-Guten. Das Schöne gefällt zwar unmittelbar, erwirbt seinen Anspruch auf Beistimmung aller anderen aber durch Vermittlung der Reflexion. Das Sittlich-Gute gefällt »notwendig mit einem Interesse, aber nicht einem solchen, was vor dem Urteile über das Wohlgefallen vorhergeht, […] sondern was dadurch allererst bewirkt wird.«11 Das Schöne kann somit als Symbol, als indirekte Darstellung des Guten gelten, insofern in beiden Diskursen – dem ästhetischen wie dem moralischen – die Urteile auf die Beistimmung jedes anderen zielen. Im ästhetischen Urteil waltet eine Vernunft, die zwar von der theoretischen unterschieden, doch weit entfernt ist von dem Solipsismus einer lediglich subjektiven Behauptung einer Qualität am Kunstwerk, die sich der Argumentation verschlösse. Das Urteilen über das Artefakt vollzieht sich in einem Prozess des Zweifels und Vergewisserns. Nicht Übereinstimmung im schon immer Gewussten oder Behauptung von Übereinstimmung mit allen anderen, sondern die Unabsicherbarkeit dieses Prozesses des tastenden, zweifelnden Urteilens begründet Gemeinsinn. Es ist, in anderen Worten, gerade die Autonomie des Kunstwerks und die moralisch indifferente Haltung des interesselosen Betrachters, welche eine bestimmte Moral implizieren, welche aus der durch nichts aufzuhebenden Ungesichertheit des ästhetischen Urteils und der Permanenz des Zweifels resultiert. Gerade darum muss das Subjekt das Urteil immer der gesamten Menschenvernunft ansinnen, weil es sich des eigenen Urteils nicht sicher sein kann. In der Aufdeckung der subjektiven Allgemeinheit und der Allgemeinheit der subjektiven Vereinzelung, seiner Entzweiung, entdeckt das Subjekt 9 | Vgl. ebd., § 54, S. 280. 10 | Zu derartigen pygmalionesken Verirrungen vgl. Liebrecht, Felix: Zur Volkskunde, Heilbronn: Gebrüder Henninger 1879, S. 138f. 11 | Kant: Kritik der Urteilskraft, § 59, S. 308.
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seine Zugehörigkeit zur Allgemeinheit der Menschheit. Nicht semantische Substanzialitäten produzieren den sensus communis, sondern die Allgemeinheit des Zweifelns, die Unabschließbarkeit des reflektierenden Prozesses, die Unbestimmtheit des Urteils.
II. D as U ngenügen an der S chönheit Das Schöne ist Medium einer Einübung in das Lieben.12 Das Lieben kennt kein Interesse am Gegenstand im Sinne einer partikularen Neigung; das Lieben geschieht einzig um der Schönheit des geliebten Gegenstandes willen. Das Schöne befindet sich in Übereinstimmung mit dem Lebensinteresse des Menschen; die Welt in ihrer Schönheit wird Gegenstand einer Liebe, die, obzwar kein Interesse sie lenkt, im Menschen die Einsicht begründet, dass er sich im Einklang mit ihr befinden möge. Eine ähnliche Position hatte Kant 1771 formuliert, als er schrieb: »Die Schöne Dinge zeigen an, daß der Mensch in die Welt passe und selbst seine Anschauung mit den Gesetzen seiner Anschauung stimme.«13 Es gibt eine Korrespondenz zwischen den Anschauungsmöglichkeiten des Menschen und der Erscheinung der Welt in der Anschauung des Menschen. Das Schöne zeigt dem Menschen an, dass seine Anschauung richtig sei. Die Welt öffnet sich und bestätigt dem anschauenden Subjekt, dass die Natur nicht nur mit seiner auf Erkenntnis gerichteten Absicht übereinstimmt, sondern er in der Gesamtheit seiner Existenz willkommen ist. Das Gefühl des Erhabenen als »negative Lust«14 hingegen lehrt den Menschen die Kunst der Selbstübersteigung als Übersteigung der eigenen sinnlichen Interessen, da die Prinzipien der Moral gebieten, bestimmten Tatsachen die Achtung auch dann nicht zu versagen, wenn diese Achtung die Gefährdung der eigenen Unversehrtheit bedeutet. Während das Schöne das Lieben lehrt, lehrt das Erhabene Achtung und führt den Menschen in seine Bestimmung ein, sich über die äußere Natur und über sich selbst als Natur zu erheben. Das Erhabene impliziert Moral.
12 | »Das Schöne bereitet uns vor, etwas, selbst die Natur, ohne Interesse zu lieben; das Erhabene, es, selbst wider unser [sinnliches] Interesse, hochzuschätzen.«, Kant: Kritik der Urteilskraft, § 29, S. 171. 13 | Kant, Immanuel: »Reflexion 1820a«, in: Ders.: Kant’s Gesammelte Schriften, hg. v. der Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Berlin: De Gruyter, 1902-1956, Bd. XVI, S. 127. 14 | Kant: Kritik der Urteilskraft, § 23, S. 76.
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In Schillers Texten über die ästhetische Erziehung,15 den Kallias Briefen16 und dem Text über das Erhabene17 wird die Unterscheidung zwischen dem Schönen und dem Erhabenen verschärft. »Das Schöne macht sich bloß verdient um den Menschen […].«18 »Durch die Schönheit allein würden wir […] ewig nie erfahren, dass wir bestimmt und fähig sind, uns als reine Intelligenzen zu beweisen.«19 Es ist durch das Nicht-Schöne, das Erhabene, wodurch der Mensch zu seiner wahren Bestimmung »unendlich erhoben« wird.20 Die Erhabenheit ist die Erhabenheit des Helden, der es wagt, »Stirn an Stirn mit dem bösen Verhängnis«21 seiner Bestimmung, der Freiheit, entgegenzuschreiten. Das Schöne wirkt erschlaffend, und nur das Erhabene erinnert den Menschen an seine unveränderliche Bestimmung, seine Würde und sein wahres Vaterland.22 Sofern aber die Kunst das Schöne mit dem Erhabenen vereint,23 vermag sie den Menschen zum wahren Bürger der Natur und der intelligiblen Welt zu erheben.24 Zugleich schreibt Schiller dem Schönen zu, was Platon der Kunst im Allgemeinen vorwirft (Politeia 595a): lügenhaft und scheinhaft zu sein. Wie er das Schöne als das bloß dem Menschen Dienliche apostrophiert, ordnet er es
15 | Vgl. Schiller, Friedrich: Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, 1795, zit.n. ders.: Schillers Werke, Nationalausgabe, hg. von Lieselotte Blumenthal/Benno von Wiese, Bd. 20, Weimar: Böhlau Nachfolger 1962, S. 309-412. 16 | Schiller: Briefe an Körner vom 25.01., 25.02. und 01.03.1793, S. 174-176 bzw. 219-228, in: Ders.: Schillers Werke, Bd. 26, Weimar 1992, S. 174-176 bzw. 219-228. 17 | Schiller: »Über das Erhabene« (1801), in: Ders.: Schillers Werke, Bd. 21, Weimar 1963, S. 38-56. 18 | Ebd., S. 52. 19 | Ebd., S. 43. 20 | Vgl. ebd. 21 | Ebd., S. 52. 22 | Vgl. ebd., S. 53: »Ohne das Erhabene würde uns die Schönheit unsrer Würde vergessen machen.« 23 | Vgl. ebd.: »[…] und weil es einmal unsre Bestimmung ist, auch bei allen sinnlichen Schranken uns nach dem Gesetzbuch reiner Geister zu richten, so muß das Erhabene zu dem Schönen hinzukommen, um die ästhetische Erziehung zu einem vollständigen Ganzen zu machen und die Empfindungsfähigkeit des menschlichen Herzens nach dem ganzen Umfang unsrer Bestimmung, und also auch über die Sinnenwelt hinaus, zu erweitern. […] Nur wenn das Erhabene mit dem Schönen sich gattet und unsere Empfänglichkeit für beides in gleichem Maß ausgebildet worden ist, sind wir vollendete Bürger der Natur, ohne deßwegen ihre Sklaven zu sein und ohne unser Bürgerrecht in der intelligibeln Welt zu verscherzen.« 24 | Vgl. ebd.
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dem Sinnlichen zu, worin das Schöne den Menschen gefangen halte und aus welchem Gefängnis das Erhabene einen Ausgang verschaffe.25 Das Schöne dient einem lediglich menschlichen Interesse; dies ist in Zeiten, da die Menschheit als tragische Gattung über sich hinaus zu ihrer Bestimmung gelangen will, nicht genug. »Die Schönheit ist für ein glückliches Geschlecht, aber ein unglückliches muss man erhaben zu rühren suchen.«26 Die Vorstellung, der Mensch könne sich in der Welt heimisch fühlen, erscheint Schiller grotesk angesichts der Welt, in der er lebt. Schiller schleust in den Diskurs über das Schöne und über die Kunst das Paradigma der adaequatio wieder ein,27 indem er das Schöne als einem unglücklichen Geschlecht unangemessen bezeichnet. Schiller disqualifiziert das Schöne als lügenhaft und weist der schönen Kunst eine (negative) Position bezüglich der Frage zu, ob das Kunstwerk Wahrheit produzieren könne.28 Das Urteil über das Werk entnimmt aus dem Bereich der Moral die Kategorien von Lüge und Wahrheit, um dem Schönen eine Stellung in einer heterogenen Ökonomie von Werten zuzumessen. Da Schiller an der Rechtfertigung der Schönheit scheitert (ist sie ihm doch zu human) und den Freiheitsbegriff29 aufzugeben in Gefahr ist, wenn er das Erhabene zu sehr forciert, entwickelt er den Begriff des Spiels,30 der jedoch
25 | Vgl. ebd., S. 45. 26 | Schiller, Friedrich: Brief an Süvern vom 26.07.1800, in: Ders.: Schillers Werke, Bd. 30, Weimar 1961, S. 177. 27 | Vgl. Heidegger, Martin: »Platons Lehre von der Wahrheit«, in: Ders.: Wegmarken, Frankfurt a.M.: Klostermann 1978, S. 216: »Wahrheit bedeutet für das abendländische Denken seit langer Zeit die Übereinstimmung des denkenden Vorstellens mit der Sache: adaequatio intellectus et rei.« 28 | Vgl. allerdings Schiller: Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen, S. 377. Dort schreibt er: »[…] denn die Schönheit giebt schlechterdings kein einzelnes Resultat weder für den Verstand noch für den Willen, sie führt keinen einzelnen weder intellektuellen noch moralischen Zweck aus, sie findet keine einzige Wahrheit, hilft uns keine einzige Pflicht erfüllen. […]«, doch fügt er S. 378 hinzu: »Eben dadurch aber ist etwas unendliches erreicht. Denn sobald wir uns erinnern, dass ihm durch die einseitige Nöthigung der Natur beym Empfinden, und durch die ausschließende Gesetzgebung der Vernunft beym Denken gerade diese Freyheit entzogen wurde, so müssen wir das Vermögen, welches ihm in der ästhetischen Stimmung zurückgegeben wird, als die höchste aller Schenkungen, als die Schenkung der Menschheit betrachten.« 29 | Vgl. Schiller: Brief an Süvern vom 26.07.1800, S. 177: »Freyheit zu geben durch Freyheit ist das Grundgesetz dieses Reichs.« 30 | »Mitten in dem furchtbaren Reich der Kräfte und mitten in dem heiligen Reich der Gesetze baut der ästhetische Bildungstrieb unvermerkt an einem dritten fröhlichen Reiche des Spiels und des Scheins, worin er dem Menschen die Fesseln aller Verhältnisse
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genau jene Harmlosigkeit des Ästhetischen repräsentiert, gegen die in Folge revoltieren musste, wer Anspruch darauf erheben wollte, Avantgarde zu sein.
III. S chönheit als V ersprechen – K unst als R e t tung Was Schiller verwirft, ist die Idee, Schönheit verspreche Glück, wie sie sich bei Kant angedeutet hat. Das Subjekt erlebt in beiden Formen des Urteilens – dem über das Schöne wie dem über das Sittlich-Gute – die beglückende, von jedem Zwang befreite, auf Freiheit beruhende und Freiheit hervorrufende Übereinstimmung seines Urteilens mit den Gegenständen des Urteils und mit den Menschen, mit denen es sich über die mit ihnen geteilte Welt reflektierend verständigt. Stendhal führt das bei Kant sich abzeichnende Glücksmotiv im größeren Zusammenhang einer Abhandlung über die Liebe erneut ein. Er schreibt: »La beauté n’est que la promesse de bonheur«.31 Doch das Versprechen des Glücks ist ein in sich problematisches. Denn der Satz lässt sich in zwei Weisen lesen. Entweder: Die Schönheit ist ausschließlich und nichts anderes als das Versprechen von Glück. Oder: Die Schönheit ist lediglich ein Versprechen von Glück.32 Die von Stendhal geknüpfte Verbindung von Schönheit und Glück wird zentral bei Nietzsche.33 Sie ist bei ihm von aller Ambivalenz befreit. Der Kunst als schöner Kunst wird eine zentrale Rolle zugeschrieben beim Versuch des Menschen, sich in der Welt und in seinem Leben zu verorten.34 Das Hässliche ist nicht Teil der Kunst: Es ist das Gegenteil der Kunst.35 Kunst ist immer abnimmt, und sich von allem, was Zwang heißt, sowohl im physischen als im moralischen entbindet.«, Schiller, Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen, S. 410. 31 | Stendhal, De L’Amour (1857), edition établie et commentée par Henri Martineau, Paris: Le Divan 1957, S. 39. 32 | Vgl. hierzu Menke, Christoph: »Die Schönheit zwischen Anschauung und Rausch« (2011), in: Ders.: Die Kraft der Kunst, Berlin: Suhrkamp 2013, S. 41ff. 33 | Nietzsche, Friedrich: Zur Genealogie der Moral, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari (Sämtliche Werke, Kritische Studienausgabe [KSA], Bd. 5), Berlin: De Gruyter 1988, S. 348f. Im Folgenden wird nach der Studienausgabe als KSA zitiert. 34 | Vgl. Nietzsche, Friedrich: Nachgelassene Fragmente. November 1887 bis Anfang Januar 1889, KSA 13, S. 194: »Die Kunst und nichts als die Kunst. Sie ist die große Ermöglicherin des Lebens, die großer Verführerin zum Leben, das große Stimulans zum Leben …«. Und Nietzsche: Nachgelassene Fragmente. Anfang 1875 bis Ende 1879, KSA 8, S. 432: »Das Schöne und die Kunst geht auf das direkte Erzeugen möglichst vieler und manichfaltiger Lust zurück.« 35 | Vgl. Nietzsche: Nachgelassene Fragmente, KSA 13., S. 296: »Das Häßliche d.h. der Widerspruch zur Kunst, das, was ausgeschlossen wird von der Kunst, ihr Nein – je-
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schöne, da bejahende, die Lebenskraft des Menschen, seine physische und psychische Konstitution stärkende, lebenssteigernde, stimulierende, den Willen zur Macht bestärkende Kunst. Das Problem einer nicht-schönen Kunst stellt sich bei Nietzsche nicht, da er Kunst nur in ihrer Wirkung begreift: Was den Menschen niederdrückt, ist hässlich, und da es den Menschen niederdrückt, ist es nicht Kunst. Nietzsche bricht mit der Unterscheidung zwischen Schein und Wahrheit, da er Wahrheit als anthropologische Notwendigkeit, als biologisch nützliche, menschlichem Bedürfnis entspringende Konstruktion auffasst. Statt der Unterscheidung zwischen Wahr und Falsch etabliert er die Unterscheidung zwischen jener Form der Lüge, die die Welt verwirft, und jener Form der Lüge, die als Stimulans des Lebens die Welt zu bejahen lehrt. Es gilt, durch den Pessimismus hindurchzugehen, um am Ende zu finden, was stärker ist als der Pessimismus und »göttlicher als die ›Wahrheit‹: die Kunst.«36 Angesichts der Ununterscheidbarkeit von Wahrheit und Lüge, Wirklichkeit und Schein bzw. nach der Eliminierung dieser Unterscheidung kann es, so Nietzsche, nur darum gehen, den Wert neu zu bestimmen, den eine bestimmte Perspektive hinsichtlich der Steigerung der Lebenskraft oder des Willens zur Macht zu entwickeln vermag. Der Wert der Kunst bemisst sich nach ihrer Fähigkeit, den Menschen zu lehren, die Welt zu bejahen. Ihr kommt die Aufgabe der Erlösung in dreierlei Hinsicht zu: als Erlösung des Erkennenden, des Handelnden und des Leidenden.37 Alleine die Kunst kann als Gegenkraft zur Verneinung des Lebens fungieren. Sie vermag, als großer Stil38 gleichgültig gegen jede Frage nach der
des Mal, wenn der Niedergang, die Verarmung an Leben, die Ohnmacht, die Auflösung, die Verwesung von Fern nur angeregt wird, reagirt der aesthetische Mensch mit seinem Nein. Das Häßliche wirkt depressiv, es ist der Ausdruck einer Depression. Es nimmt Kraft, es verarmt, es drückt …« Vgl. auch ebd., S. 499: »Alles Häßliche schwächt und betrübt den Menschen; es erinnert ihn an Verfall, Gefahr, Ohnmacht. Man kann den Eindruck des Häßlichen mit dem Dynamometer messen. Wo er niedergedrückt wird, da wirkt irgend ein Häßliches. Das Gefühl der Macht, der Wille zur Macht – das wächst mit dem Schönen, das fällt mit dem Häßlichen.« 36 | Ebd., S. 227; vgl. ebd., S. 500: »Die Wahrheit ist häßlich: wir haben die Kunst, damit wir nicht an der Wahrheit zu Grunde gehen.« Vgl. auch ebd., S. 193. 37 | Vgl. ebd., S. 226. 38 | »Dieser Stil hat das mit der großen Leidenschaft gemein, daß er es verschmäht zu gefallen; daß er es vergißt zu überreden; daß er befiehlt; daß er will […] Über das Chaos Herr werden das man ist; sein Chaos zwingen, Form zu werden; Nothwendigkeit in Form: logisch, einfach unzweideutig, Mathematik werden; Gesetz werden – : das ist hier große Ambition.«, ebd., S. 247.
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formalen Disposition, den Menschen zu erlösen, indem sie ihn lehrt, das Dasein auch in seiner tragischen Form als Leiden zu bejahen.39 Was Kant als Folge des Wohlgefallens am Schönen gestattet – die Steigerung des Interesses am Fortbestehen des Objekts des Wohlgefallens und die »Beförderung des Lebens« – wird bei Nietzsche Ziel der Kunst. Wo Kant in der Anwendung des bestimmenden Urteils objektive Zweckmäßigkeit sieht, findet Nietzsche durch biologische Notwendigkeit determinierte Perspektivik, deren Ergebnisse, ganz gleich, ob sie auf dem Gebiet der Erkenntnis, der Religion, der Metaphysik oder der Kunst angesiedelt sind, sich kategorial nicht voneinander unterscheiden: Sie sind Konstruktionen des menschlichen Geistes in seinem Bedürfnis nach Ordnung und Regularität. Die Kunst zeichnet unter diesen Praktiken der Welterzeugung aus, dass sie nie anders denn als Produktion von Schein angesehen wurde und angesehen werden kann, das Prinzip der Konstruktion von Schein aus perspektivischer Bedingtheit ungeleugnet mit sich trägt, unbestritten nichts als Schein ist und in dieser Hinsicht weniger lügenhaft als andere Formen der Konstruktion von Welt, die an der Produktion von Wahrheit im Gegensatz zur Produktion von Schein teilzuhaben behaupten. Nietzsche geht es um die Wiedergewinnung der wirklichen Welt, nachdem sie in eine zweifach scheinbare sich aufgespalten hat;40 um die Rückgewinnung einer von keiner Dialektik zerspaltenen Einheit des Seins. Statt einer Ästhetik entwickelt Nietzsche eine Moral der Kunst. Es gibt keinen der Kunst spezifischen Zugang zu ihren Manifestationen, den Werken. Sie verlangen (oder verdienen) keine spezifische Form der Reflexion auf ihre spezifische Verfasstheit als Artefakte oder Ergebnisse eines Tuns, das seinen Zweck sich setzt und seinen Zweck in sich selbst findet. Schön ist, was dem Glück förderlich ist. Schönheit ist das eingelöste Versprechen von Glück. Die Befrachtung der Kunst mit der Welterlösungsaufgabe erfolgt bei Nietzsche und in der Kunstrhetorik seit der Mitte des 20. Jahrhunderts in ähnlichen Worten, aber mit unterschiedlichen Vorzeichen. War Kunst bei Nietzsche die »einzige Möglichkeit des Lebens« und das Dasein überhaupt nur ästhetisch gerechtfertigt,41 geht es nun (beispielsweise bei Beuys) um die Rechtfertigung der Kunst, die, soll sie weiter bestehen wollen, die ganze Menschheitsauf bauarbeit verrichten soll – dies allein, und sonst gar nichts.42 39 | »Die Kunst bejaht. Hiob bejaht.«, ebd., S. 241. 40 | »Die ›wahre Welt‹, wie immer auch man sie bisher concipiert hat, – sie war immer die scheinbare Welt noch einmal.«, ebd., S. 24. 41 | Nietzsche: Nachgelassene Fragmente. Herbst 1869 bis Ende 1874, KSA 7, S. 76 sowie Nachgelassene Fragmente, Juli 1882 bis Herbst 1885, KSA 10, S. 238. 42 | »1. Die Zerstörung des Menschengemäßen verhindern; 2. Das Menschengemäße aufbauen. Nur das ist Kunst und sonst gar nichts.«, Joseph Beuys, Nur dieses ist Kunst, o.J., 11,4 x 16,2 cm, Joseph Beuys Estate. Vgl. Voigt, Kirsten Claudia: »›Artivismus‹,
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Was Nietzsche und die relationale Ästhetik,43 jenseits dieser Differenzen, miteinander verbindet, ist die Einschätzung, der Wert der Kunst bemesse sich aus dem Beitrag, den sie für die Verbesserung des Lebens bzw. für die Einrichtung und Aufrichtung der Menschenwürdigkeit des menschlichen Lebens zu leisten in der Lage sei. Der relationalen Ästhetik ist an der Kunst als Kunst der zentrifugalen Grenzüberschreitung nur von Belang, was sie an sozialem Wert produziert, in der partizipativen Kunst als direkter Eingriff in das soziale Gefüge, in der Theorie von Bourriaud als Modell eines besseren sozialen Miteinanders, an dem sich die Gesellschaft orientieren soll. Bezeichnet man die Verhandlung über die Relation der durch die Begriffe »Schein« und »Wirklichkeit« konnotierten Ideen als Verhandlung über den Wert von Ästhetik und Moral, so scheint die Moral ihren Geltungsbereich kontinuierlich auszudehnen. Die Entgrenzung der Künste gilt weniger den Künsten als vielmehr der Moral. Die Künste mögen Formen und Bereiche besetzen, die bislang als nicht der Kunst würdig angesehen worden sind und zur Umwertung von Werten durch Prozesse der Profanierung und Valorisierung44 beitragen; doch diese Prozesse initiieren keine Erweiterung des Geltungsbereichs des Ästhetischen, sondern einen der Gültigkeit der Moral. Nietzsches neuer Begriff der Kunst ist der Begriff des Lebens als Kunst, und zwar eines Lebens, das die Idee von Kunst ersetzt, indem es selbst deren Potenz, das Leben zu überbieten, übersteigt: »An Stelle des Genies setze ich den Menschen, der über sich selber den Menschen hinausschafft (neuer Begriff der Kunst (gegen die Kunst der Kunstwerke).« 45 Nietzsches erlösende Kraft der Kunst als Kraft des Scheins erlöst schließlich die Kunst von ihren Werken; sie wird Kunst jenseits der Kunst der Kunstwerke. Das Leben selbst wird zum Werk als Realisierungsform des Glücks- und Erlösungsversprechens des Scheins. Der Künstler schafft nicht mehr Werke, sondern den Menschen, der einen neuen Begriff von Kunst als neuen Begriff vom Menschen hervorbringt, indem er sich selbst seines Nur-Menschseins entledigt, sich hinausschafft und über sich selbst, indem er sich hinwegschafft, neu schafft, als »Wesen jenseits von Gut und Böse.«46
Pragmatismus und Narrativierung«, in: Kunstforum International, Bd. 231, Februar– März 2015, S. 58. 43 | Vgl. Bourriaud, Nicolas: Relational Aesthetics (1998), Dijon: Les presses du réel 2002. 44 | Vgl. Groys, Boris: Über das Neue, München/Wien: Fischer 1992. 45 | Nietzsche: Nachgelassene Fragmente, KSA 10, S. 503. 46 | Nietzsche: Nachgelassene Fragmente, KSA 13, S. 487.
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IV. E nt z weiung Die Erweiterung des Kunstbegriffs, die Grenzüberschreitungen der Kunst, ihre Expansion in ihr bislang verschlossenes oder unbekanntes Gelände sowie ihre Fähigkeit zur Appropriation jedes zur Verfügung stehenden Materials hatte bereits Hegel festgestellt bzw. vorhergesehen.47 Hegel konstatiert die Möglichkeit, dass sich die Künste über jede Grenze, die eine normative Ästhetik würde ziehen wollen, hinausbewegen und neue Territorien sowohl inhaltlicher als auch formaler Art einer Umformatierung unterziehen. Schönheit als »sinnliches Scheinen der Idee«48 impliziert bei ihm keine irgendwie »idealistische Ästhetik«,49 sondern hält die Relationalität des Werks der Kunst zu etwas aufrecht, was nicht mit ihm identisch ist; im Aufscheinen von etwas (der Idee) ist die Differenz beibehalten zwischen der Sache und ihrer Erscheinung. Die Schönheit besteht in der Wahrhaftigkeit, mit der das Werk, welches selbst immer der Sphäre des Scheins als der Sphäre des Nicht-Wahren angehört, die Sache zur Erscheinung bringt. Der Schein als von der Wahrheit Unterschiedenes bringt die Wahrheit zur Erscheinung, und in dieser Darstellung und Enthüllung besitzt die Kunst ihren alleinigen Endzweck.50 Die von Hegel genannte Möglichkeit der Kunst, alle Inhalte zu besetzen und sich dabei jeder Form, jedes Materials, jedes Mediums zu bedienen, das geeignet ist, die künstlerische Bearbeitung zu ermöglichen, hat ihren Preis: Die Kunst ist seit dem Ende der klassischen Kunst nicht mehr das privilegierte Medium, in dem die Wahrheit sich zeigt. »Uns gilt die Kunst nicht mehr als die höchste Weise, in welcher die Wahrheit sich Existenz verschafft.«51 Das Ende der Kunst in ihrer Funktion als Medium der Produktion von Wahrheit52 ist nicht das Ende jeder Kunst – denn diese kann sich sehr wohl in neue Höhen weiterentwickeln –,53 sondern das Ende der Unmittelbarkeit und Notwendigkeit des Erscheinens der Wahrheit in Schönheit. Der Geist, dessen höchstes Bedürfnis nicht mehr die Kunst ist, wendet sich der Wahrheit zu. Dass diese 47 | Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Ästhetik I und II (1842), hg. von Rüdiger Bubner, Stuttgart: Reclam 1971, S. 676. 48 | Vgl. ebd., S. 179, vgl. ebd., S. 154f. 49 | Vgl. ebd., S. 240: »Aus dieser Anerkennung [der klassischen Kunst – L. E.] nun aber ist eine Sucht nach idealischer Darstellung hervorgegangen, in der man die Schönheit gefunden zu haben glaubte, doch in Fadheit, Unlebendigkeit und charakterlose Oberflächlichkeit verfiel.« 50 | Ebd., S. 108. 51 | Ebd., S. 169. 52 | Vgl. ebd., S. 50. Vgl. hierzu Demand, Christian: Die Beschämung der Philister, Springe: zu Klampen! 2007, S. 18ff. 53 | Vgl. ebd. S. 170.
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sich notwendigerweise in der Kunst als Schönheit enthülle, gehört der Vergangenheit an.54 Die Entkoppelung von Schönheit und Wahrheit ist das Erscheinen einer Wahrheit bezüglich der Seinsweise der bürgerlichen Gesellschaft, der Wahrheit der Entzweiung. Entzweiung ist das Signum der bürgerlichen Gesellschaft.55 Entzweiung ist zugleich die Grundbedingung für die Existenz des sein objektives Dasein gewinnenden Geistes, der, als Gegenstand seiner selbst, sich in sich selbst entzweit.56 Es ist das Werk des Geistes, der sich zum Werk des sich Freiheit gebenden Bewusstseins macht, sich in den eigenen Gegenstand und sein bleibendes Sein aufzuspalten.57 Der sich zum Werk machende Geist ist zugleich, was er ist, immer nur werdend.58 In sich selbst repräsentiert er die Entzweiung zwischen seinem Werden und seinem Sein,59 der Selbsttätigkeit und ihrem Gegenstand, dem Ansich und Fürsich, Bewusstsein und Selbstbewusstsein. Entzweiung ist mehr und anderes als Reflex eines Auseinanderdriftens der Interessen von Subjekt und Gesellschaft. Entzweiung liegt vielmehr in der Verfasstheit des Subjekts selbst begründet: »Ich ist nämlich zugleich das Einzelnste und das Allgemeinste.«60
54 | »Ist es aber das Bewusstsein der Wahrheit, worum es sich handelt, so ist die Schönheit der Erscheinung und die Darstellung das Nebensächliche und Gleichgültigere, denn die Wahrheit ist auch unabhängig von der Kunst für das Bewusstsein vorhanden.« Ebd., S. 586. 55 | Hegel, Georg Friedrich Wilhelm: Grundlinien der Philosophie des Rechts (1820) (Werke in 20 Bänden, Bd. 7), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1986, § 33, S. 87. Vgl. Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik I und II, S. 286f. 56 | Ebd., § 187, S. 344. 57 | Hegel, Georg Friedrich Wilhelm: Phänomenologie des Geistes (1807) (Werke in 20 Bänden, Bd. 3), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1986, S. 434. 58 | Vgl. ebd., S. 585. 59 | Siehe auch Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte (1830) (Werke in 20 Bänden), Bd. 12, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1986, S. 30f.: »Zweierlei ist zu unterscheiden im Bewusstsein, erstens, dass ich weiß, und zweitens, was ich weiß. Beim Selbstbewusstsein fällt beides zusammen, denn der Geist weiß sich selbst, er ist das Beurteilen seiner eigenen Natur, und der ist zugleich die Tätigkeit, zu sich zu kommen und so sich hervorzubringen, sich zu dem zu machen, was er an sich ist.« 60 | Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 184, S. 340, § 275, S. 441, Zusatz.
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V. O hnmacht Die reflektierende Urteilskraft ist gekennzeichnet durch die Unmöglichkeit, das Urteil auf objektiver Zweckmäßigkeit zu gründen. Die Unmöglichkeit des objektiven Urteilens bedingt, das jeweilige subjektive Urteil der gesamten Menschenvernunft ansinnen zu müssen und hierbei sowohl Rücksicht anwenden zu müssen als auch einfordern zu dürfen. Mit dieser Vorsicht und Rücksicht und der Gleichzeitigkeit von Recht und Pflicht geht die Absicht einher, im Abwägen und Ansinnen, Reflektieren und Argumentieren eine Form des Humanen zu etablieren, die gegen das Totalitäre des normativ-moralischen Urteils zu wenden ist. Die »Argumentationsgemeinschaft«61 als Gemeinschaft zuvor nicht vergemeinschafteter Subjekte, die ihr Urteil als Einzelne vor dem jeweils singulären Objekt entwickeln, stellt sich her durch das vergleichende Gegeneinanderhalten von Urteilen. Gemeinschaft ist diesem Gespräch nicht vorgängig, Übereinstimmung nicht schon beschlossene Sache und lediglich besiegelt durch den Diskurs. Vielmehr konstituiert der Diskurs erst eine fragile und temporäre Übereinstimmung der am Gespräch teilnehmenden autonomen Subjekte. Im Vorgang des vergleichenden Ansinnens stellt sich gegenseitige Achtung her. In ihm erkennt das Subjekt, was der Andere an ihm zu achten lernt und was zu achten der Andere erwartet.62 Das reflektierende Urteil produziert Übereinstimmung nicht bezüglich seiner Inhalte, sondern aufgrund der den Subjekten gleichermaßen eigenen Fähigkeit, diese Urteile zu bilden. Es handelt sich um eine lediglich formale Übereinstimmung von Fähigkeiten. Die »Mitteilbarkeit einer Lust«,63 nicht der Charakter oder Gegenstand der Lust rufen Übereinstimmung zwischen Subjekten hervor, die im Vorgang der Kommunikation die Moral des Kommunikativen erst bilden. Nicht normiert Moral die Kommunikation, sondern Moral ist das Ergebnis der Rücksichtnahme der Subjekte im Mitteilungsprozess der sich auf keiner Objektivität gründenden Urteile. Subjektive Allgemeinheit stellt sich her durch die Anstrengung der Subjekte, ihre Urteile intersubjektiv zu plausibilisieren. Die Zugehörigkeit des ästhetischen Gegenstandes sowohl zur Wirklichkeit als auch zum Schein verlangt eine Moral, die seine Doppelnatur in Form des Sowohl-als-auch und die ästhetische Differenz in Form des Als-ob berücksichtigt. In der Leere der ästhetischen Differenz liegt die Möglichkeit begründet, dass in der Fülle und Positivität der Welt das Neue geschieht. Die ästhetische 61 | Bätschmann, Oskar: Einführung in die Kunstgeschichtliche Hermeneutik (1984), Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2001, S. 82, 161. 62 | Vgl. Plessner, Helmuth: Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus (1924), Frankfurt a.M., Suhrkamp 2015, S. 107ff. 63 | Kant: Kritik der Urteilskraft, § 44, S. 233f.
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Differenz verwandelt, was aus dem Schein in die Wirklichkeit hinüberreicht, in das Neue. Als dieses produziert es im Bereich der Wirklichkeit eine neue Erfahrung, die das Subjekt in der Form eines ästhetischen Urteils zu prozessieren versuchen muss. In der Erfahrung wird, was bislang als wahr angesehen wurde, ersetzt durch den Gegenstand eines Wissens und ein Wissen, das von nun an als wahr zu gelten hat.64 Erfahrung setzt bislang Gewusstes außer Kraft.65 Der Prozess der Erfahrung als Prozess des Erkennens des Neuen produziert ein neues Subjekt, und dies nicht, weil der Gegenstand der Erfahrung dies erzwingt, sondern weil die Erfahrung als Außerkraftsetzen des Gewussten, als Ereignis, in ihrer formalen Leere dem Subjekt eine Neukonstitution abverlangt. Sollte die Erfahrung des Neuen einen Wahrheitsprozess in Gang gesetzt haben (nicht jede Erfahrung des Neuen muss dies notwendig tun),66 so besteht die Aufgabe darin, diese Wahrheit zu bewahren, indem man sie gegen ihre Positivierung und Verfestigung bewahrt, gegen ihr Absinken in das Gewebe der Meinungen als dem Bindemittel des Sozialen jenseits von Wahrheit und Falschheit.67 Die Positivierung des Inhalts der Wahrheit, die für alle und immer zu gelten hat,68 und der Versuch der Durchsetzung der Wahrheit ist, so Badiou, eine der Formen des Bösen: »Das Gute ist nur das Gute insofern, als es nicht vorgibt, die Welt zum Guten zu wenden. Ihr einziges Sein ist die Herankunft (advenue) als Situation einer einzigartigen Wahrheit. Es ist also nötig, dass die Macht einer Wahrheit auch eine Ohnmacht ist. Jede Verabsolutierung der Macht einer Wahrheit bereitet ein Böses vor.«69 Wenn das Subjekt sich aufgrund der Erfahrung des Neuen neu zu konstituieren hat, findet diese Erfahrung, sofern sie am Kunstwerk geschieht, immer noch am Medium des Scheinhaften statt, am ästhetischen Schein des Kunstwerks, das bestenfalls ein reflektierendes, aber kein bestimmendes Urteil erlaubt. Die Erfahrung
64 | »Diese dialektische Bewegung, welche das Bewusstsein an ihm selbst, sowohl an seinem Wissen als an seinem Gegenstand ausübt, insofern ihm der neue wahre Gegenstand daraus entspringt, ist eigentlich dasjenige, was Erfahrung genannt wird.«, Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 78. 65 | Max Imdahl fand für den Charakter dieses Neuen den Begriff der Unvordenklichkeit, Imdahl, Max: Giotto – Arenafresken (Theorie und Geschichte der Literatur und der schönen Künste, Bd. 60), München: Fink 1980, S. 91f. 66 | Badiou, Alain: Ethik. Versuch über das Bewusstsein des Bösen (1993), Wien: Turia + Kant 2003, S. 131. 67 | Ebd., S. 72. 68 | Ebd., S. 43. 69 | Ebd., S. 110.
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lässt sich nicht mit Positivität füllen, der Riss, der durch das Subjekt geht,70 lässt sich nicht schließen, indem man statt der rein formalen Mitteilbarkeit das Mitzuteilende setzt, die Doppelgesichtigkeit des ästhetischen Gegenstandes und der an ihm gemachten Erfahrung durch die Parteinahme für die Wirklichkeit zu beseitigen versucht.
S chluss Die Anwendung der Moral auf die Kunst hat ihren Ursprung in ihrer Überfrachtung als der großen Erlöserin. Aus dieser Überfrachtung resultiert, ganz gegen Nietzsches Intention, eine totalitaristische Moralisierung der Kunst, die Macht verlangt, wo von Ohnmacht, Fragilität, Ungesichertheit, Zweifelhaftigkeit zu reden wahrhaftiger wäre. Das von moralischer Inbrunst aufgeblähte Gerede über Kunst leidet nicht nur an einer Beliebigkeit, derer sich die Inbrünstigen, die stets das Beste wollen, ohne je am Guten mitzuwirken,71 sehr wohl bewusst sind, sondern auch am Umstand, dass es seinen Gegenstand verfehlt; denn Relevanz künstlerischer Praxis und sie begleitender Reflexion kann nicht hergestellt werden dadurch, dass man die Scheinhaftigkeit des Kunstwerks und die ästhetische Differenz löscht und dem Kunstwerk den Charakter einer einsinnig verfassten Realie zuweist, über die es keinen Zweifel mehr gibt. Was mit dem Kunstwerk anzufangen ist, lässt sich kaum sagen. Es ist, anders als der Begriff von Kunst, nicht Medium sondern Form, keine lose Koppelung,72 sondern bestimmte und in seiner Bestimmtheit sich selbst notwendige Formung. Als semantisch Überdeterminiertes produziert es aufgrund der ihm innewohnenden Unbestimmtheitsstellen 73 Sinn, der sich erst in der Zeit er70 | Vgl. Adorno, Thoedor W.: Ästhetische Theorie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, S. 401: »Das von Kunst erschütterte Subjekt macht reale Erfahrungen; nun jedoch, kraft der Einsicht ins Kunstwerk als Kunstwerk solche, in denen seine Verhärtung in der eigenen Subjektivität sich löst, seiner Selbstsetzung ihre Beschränktheit aufgeht. Hat das Subjekt in der Erschütterung sein wahres Glück an den Kunstwerken, so ist es eines gegen das Subjekt; darum ihr Organ das Weinen, das auch die Trauer über die eigene Hinfälligkeit ausdrückt.« 71 | Vgl. in diesem Zusammenhang Hegels ironische Bemerkungen in: Phänomenologie des Geistes, S. 455: »Weil das allgemeine Beste ausgeführt werden soll, wird nichts Gutes getan.« 72 | Heider, Fritz: Ding und Medium (1927), Berlin: Kadmos 2005. 73 | Vgl. Ingarden, Roman: Prinzipien einer erkenntnistheoretischen Betrachtung der ästhetischen Erfahrung, S. 70-80 (Actes du IV. Congrès International d’Esthétique, Athènes, 1960, Athen 1962, S. 622-631), zit.n. Henrich, Dieter/Iser, Wolfgang (Hg.), Theorien der Kunst, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1982, S. 70f.
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schließt. Es bildet, gerade aufgrund dieser Unbestimmtheitsstellen, funktional kurze und ineffektive, hinsichtlich der zeitlichen Verfügbarkeit aber außerordentlich lange Selektionsketten. Dem reflektierenden Urteil schließt das Werk über die Dauer seiner Verfügbarkeit unterschiedliche Aspekte auf. Es verändert sich mit der Zeit und mit dem Diskurs, der sich um das Werk und die Reflexion über dieses Werk bildet; Reflexion als Offenhalten der Spaltung des Subjekts durch das Ereignis des Werks. Was das Subjekt am Werk erkennt, ist die Entzweiung, die das Werk wie das Subjekt gleichermaßen kennzeichnet, und es ist Entzweiung, welche die Dynamik bewirkt, die das Werk über die Zeit hinweg entfaltet. Seine Autonomie besteht in der Art und Weise, das Heteronome zu prozessieren, das ihm Fremde in seine Form zu integrieren, es als gegen seine Autonomie Widerständiges in seine selbstgesetzliche, autonome Konstruktion einzubauen. Was im Werk wirkt, ist die dem Werk eingelagerte und sich in ihm entfaltende Entzweiung. Das Werk ist schwach. Es ist, als Werk der Entzweiung, ein Verlangsamer. Das ist es nicht, weil es auf irgendeine mysteriöse Weise, von der die Kunstkritik gerne spricht, Gewohnheiten herausfordere und Konventionen irritiere usw., sondern weil der Übergang von einer Seite der Differenz zur anderen, von einer Seite der Unterscheidung zur anderen Zeit verbraucht, ebenso wie die Wiederauffindung der getroffenen Unterscheidungen als Gehalt des Unterschiedenen im Werk selbst. Wie sich Schein als wirklicher in die Wirklichkeit vermittelt und diese ihren Scheincharakter als ihre Wirklichkeit im seine Entzweiung affirmierenden Werk repräsentiert, zur Erscheinung bringt als Abwesendes, oder Repräsentation verweigert durch Anwesenheitsbehauptung im Schein usw. – der Nachvollzug dieser Konstellationen verlangt Zeit und verändert sich mit der Zeit. Was das Werk, einerseits Werk gewordenes Modell von Komplexitätsreduktion, andererseits Entfaltung paralleler Komplexität und Neuproduktion von Kontingenz, durch sein idiosynkratisches In-SichVerschraubtsein und Hochtreiben seiner eigenen Unwahrscheinlichkeit, in seiner Doppeltverfasstheit als wirkliches Scheinhaftes und scheinhaftes Wirkliches verweigert, sind schnell zu identifizierende Anschlussmöglichkeiten. Das Werk eröffnet zunächst keine Anschlussmöglichkeiten, es verschließt sie vielmehr, und zwar auf beiden Seiten der Unterscheidung. Ein permanentes Verfehlen des Charakters der ästhetischen Tatsache, ein notwendiges Missverstehen, ein unausweichliches Fehlgehen beim Versuch der Einordnung in die verschiedenen möglichen Register von Wirklichkeit und Schein produziert auf der Seite des Rezipienten das Versagen des sich aufs Rubrizieren beschränkenden Erkennens,74 eines lediglich auf Bestimmung abzielenden Urteilens, das an beiden Oberflächen, jener der Wirklichkeit und jener des Scheins, abprallt. Wie das Kreuzen der ästhetischen Differenz Zeit verbraucht, verbraucht das 74 | Nietzsche: Nachgelassene Fragmente, KSA 7, S. 498, 500.
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Prozessieren der eigenen Reflexion im ästhetischen Urteil Zeit. Die Abständigkeit 75 des Werks ist auch bestimmte Abständigkeit von bestimmten Weisen der Reflexionsproduktion, die sich gar nicht einlassen will auf die mühsame und zeitraubende Vergleichung des eigenen Urteilens mit der »gesamten Menschenvernunft«, um die Validität zu überprüfen, die im mühelosen Wortgeklapper immer schon reklamiert wird. Dass der Schein der Wirklichkeit zugehört, bedeutet nicht, dass beide, Schein und Wirklichkeit, dialektisch miteinander »vermittelt« wären. Das sind sie nicht. Das Sowohl‑als‑auch der Wirklichkeit (und des ihr zugehörigen Scheins) ist nicht bestimmbar durch Dialektik, sondern begreif bar als Entzweiung, unvermitteltes Gegen- und Miteinanderstehen des sich ineinander verklammernden, unversöhnten Verschiedenen. Der Modellfall dieses unversöhnt Verschiedenen als Einheit des Differenten ist das Werk, das weder Streit schlichtet noch Entzweiung löscht, sondern auf Differenz insistiert. Dies tut es als das Schwache gegenüber der Macht, mit der es keine Versöhnung will. Als Modellfall zeigt Kunst (als Werk und als Begriff) der Gesellschaft, wie sie sich ihrer selbst entzieht, indem sie dort, wo sie sich ganz ihrer selbst sicher sein will, sich selbst fiktionalisiert. Ihr steht keine Wirklichkeit gegenüber außer jener, die sie durch die Beobachtung ihrer selbst und die Kommunikation dieser Beobachtungen produziert. In dem Diskurs der Macht, den die sich selbst fiktionalisierende und damit ihre Wahrheit über sich zur Sprache bringende Gesellschaft produziert, welche Macht und Kraft ebenso fetischisiert wie jene Ästhetik, die sie doch angeblich kritisiert, produziert sie den Diskurs der Schwäche als ihren blinden Fleck. Eine Ethik der Ästhetik arbeitet an der Selbstbeschreibung der Gesellschaft mittels des Modellfalls der Kunst als Diskurs der Schwäche. Ein solcher Diskurs ist, indem er sich als Diskurs der Entzweiung der Dialektik verschließt, der Kern einer Politik, die das Unvereinnahmbare, das sich Verschließende, das Nicht-Rückführbare, das Inkommensurable in ihr Zentrum stellt. Insofern, als diese Politik die positive Identifizierung der Gesellschaft mit sich selbst verweigert und den Ort der Macht als Leerstelle freihält, instituiert sie den Riss der Entzweiung als Differenz zwischen ihrer Repräsentation und sich selbst. Die demokratische Gesellschaft konstituiert sich, indem sie die »Grundlagen aller Gewissheit auflöst«.76 Dieses Gründen der eigenen Praxis auf Unbegründbarem und als Befestigen des Zweifels, als Permanenz der Reflexion ohne Halt verbindet eine Kunst, die anderes will als das nur dem Menschen Dienliche und anderes als den Terror der Totalität, mit einer Politik, die das Totale des Gemeinschaftlichen verwirft zu75 | Badt, Kurt: »Die Idee der Welt und das Sein als fundamentale Wesenheit bildender Kunst«, in: Ders.: Kunsttheoretische Versuche, Köln: DuMont 1968, S. 35. 76 | Lefort, Claude: »Die Frage der Demokratie«, in: Ulrich Rödel (Hg.): Autonome Gesellschaft und libertäre Demokratie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1990, S. 296.
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gunsten der permanenten Bewegung der Selbstgründung der Gesellschaft auf ihrer Selbsteinsicht. Das reflektierende Urteil, praktiziert am Werk der Kunst, ist politische Praxis als Einübung in eine Praxis der Kommunikation, die das Singuläre, den Riss im Kontinuum des Gesellschaftlichen, die in Schwäche sich offenhaltende, zu keiner Identität gerinnende Differenz der Positivierung entzieht. Das Insistieren auf Reflexion ohne Halt, auf Autonomie des Urteilens in Selbstgesetzlichkeit, auf dem jeweiligen, singulären Bedenken des sich seiner selbst vergewissernden Subjekts gegenüber dem jeweiligen Singulären etabliert das Bedenken der Kunst als politische Praxis der Freiheit.
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Ins Zentrum seiner Vorlesung über Ästhetik, gehalten im Wintersemester 1958/59 und ein halbes Jahrhundert später aus dem Nachlass in Buchform veröffentlicht, hat Adorno die Erörterung eines Begriffs gestellt, dessen exponierte Stellung im gegebenen Zusammenhang beinahe ebenso erwartbar wie überraschend ist. Mehr oder weniger explizit, durch eine Reihe von Brüchen hindurch, kreisen Adornos Ausführungen um den Begriff des Schönen sowie, mit diesem engstens verbunden, um die Vorstellungen des sinnlich Wohlgefälligen, des Begehrenswerten und Glückvollen. Kaum überraschend ist dies, insofern die Ästhetik eine nicht unbedeutende Zeit ihres Bestehens als eigenständige Disziplin nahezu synonym gesetzt worden war mit der »Lehre vom Schönen« – eine Identifikation, die auch die Vorlesung aufgreift.1 In Anbetracht der Entwicklungen der modernen Kunst jedoch und mit dem Wissen um Adornos vehementen Einsatz für diese, mag der Nachdruck, den die Vorlesungen auf den Begriff des Schönen legen, gleichwohl etwas Unvermutetes haben – war doch, wie Adorno hervorhob, die ernst zu nehmende Kunst seiner Zeit als eine gesellschaftskritische Instanz wesentlich »von der Grundfarbe schwarz«.2 Auch in den Vorlesungen wird Adorno nicht müde darzustellen, wie die moderne Kunst als ein Reflexionsmedium der gesellschaftlichen Verhältnisse dem Begriff der Schönheit fortschreitend opponiert und vielfach geradezu eine Allergie gegen das sinnlich Wohlgefällige ausgeprägt hat.3 Hieraus wäre jedoch für die Theorie der Kunst nicht einfach die Konsequenz zu ziehen, fortan auf den Begriff der Schönheit zu verzichten, der für die Ästhetik in einem ähnlichen Sinn relevant wäre wie der Begriff der Seele für die Psychologie oder der Begriff der Freiheit für die Moralphilosophie. Während die zunehmende Ver1 | Vgl. Adorno, Theodor W.: Ästhetik (1958/59), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2009, S. 35. 2 | Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, S. 65. 3 | Adorno: Ästhetik, S. 63, S. 226f.
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wissenschaftlichung die Tendenz habe, jene obersten Begriffe der Disziplinen als empirisch nicht nachweisbare metaphysische Restbestände zu eliminieren, gälte es, sie im Sinne einer vernunftgeleiteten Aufklärung zu verteidigen: »Es gehört ja überhaupt zu der Signatur des heute herrschenden positivistischen Geistes, daß die fortschreitende Aufklärung der entscheidenden Begriffe der einzelnen Disziplinen sich bemächtigt und diese Begriffe gewissermaßen auflöst; damit aber, daß sie diese Begriffe selbst auflöst, auch gleichsam der Kraft sich begibt, aus der die Aufklärung selber eigentlich gelebt hat, so daß dann die Aufklärung in einer außerordentlich ernsten Gefahr sich befindet, sich zu bescheiden zur Kapitulation vor dem, was nun einmal bloß der Fall ist. So gibt es also einen bestimmten Typus positivistischer Ästhetik, der etwa sich daran halten will, das ästhetische Erlebnis zu beschreiben, ohne daß ein Begriff wie der der Schönheit dabei überhaupt vorkommt. Was dabei dann aber herauskommt, wäre in der Tat nur noch eine Tatbestandaufnahme von irgendwelchen Relationen zwischen ästhetischen Objekten und dem Subjekt und wäre eigentlich gleichbedeutend […] mit dem Verzicht auf den Geist, der nun einmal doch das Medium der Kunst und darum notwendig auch einer jeglichen Theorie von der Kunst ist.«4
Gegenüber den unmittelbaren sinnlichen Effekten der Kunstwerke akzentuiert der Begriff des Kunstschönen, den Adorno festhalten will, das Geistige in der Kunst; die Einheit der künstlerischen Form, die jedem einzelnen Detail eine neue, an ihm selbst nicht zu registrierende Bedeutung verleihen kann. Wiewohl Adorno in seinen Ästhetik-Vorlesungen ebenso wie in der Ästhetischen Theorie mit einer Pauschalität, die wohl jeden anderen Schriftsteller des zwanzigsten Jahrhunderts ins trüb Diffuse hätte abstürzen lassen, vorzugsweise vom ›Kunstwerk‹ überhaupt sprach, tut man gut daran, sich trotz der gegebenen Übertragbarkeit zu vergegenwärtigen, dass Adornos Begriff des ›Kunstwerks‹ wesentlich durch die Musik geprägt war; spezifisch durch die hoch differenzierte Musik der Wiener Klassik und Moderne, in deren Tradition sich Adorno auch als Komponist verortete. Mit Blick auf jene Werke leuchtet jedenfalls insbesondere ein, was dann auf andere Kunstformen übertragbar sein mochte: dass das ›Kunstwerk‹, wie es Adorno bestimmt, einen Prozess dynamischer Spannungsverhältnisse darstellt, der intellektuell zu durchdringen ist – im Fall der Musik durch das Studium der Partitur und ein ›strukturelles‹ Hören der Werke.5 Mit seinen Ansprüchen, die er an die Rezeption von Kunst stellte, hat Adorno nicht wenig Schrecken verbreitet und sich vor allem auch in der Kunstwelt 4 | Adorno: Ästhetik, S. 229. 5 | Vgl. Adorno: »Der getreue Korrepetitor. Lehrschriften zur musikalischen Praxis«, in: Ders: Gesammelte Schriften, Bd. 15, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998, S. 157-402; hier S. 245ff.
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selbst – milde gesagt – nicht nur beliebt gemacht.6 Indessen wäre seine ästhetische Konzeption missverstanden, wollte man deren intellektuelle Dimension zu einseitig akzentuieren. Zwar hat Adorno mit Kategorien wie »Stimmigkeit«, »Logizität«, »Wahrheitsgehalt« und »Rätselcharakter« die geistige Seite der Kunst betont, und schon die vielen tausend Seiten, die er der Analyse spezifischer Kunstwerke gewidmet hat, geben Zeugnis von der Wichtigkeit, die er der Bemühung um ein begriffliches Verständnis der Werke beimaß. Doch ging es ihm, indem er die Kunstwerke als Formen der Erkenntnis begriff, keineswegs darum, die spezifisch ästhetische Dimension der Kunsterfahrung zu ignorieren – nicht zufällig heißt seine Philosophie der Kunst Ästhetische Theorie. Vielleicht blieben aufgrund der gängigen, eingleisigen Hierarchisierung von Körper und Geist manche Aspekte des materialistischen Gehalts von Adornos Ästhetik einigen Lektüren verborgen. Nicht unwesentlich nämlich enthält Adornos ästhetische Theorie – in der gleichnamigen Schrift wie in anderen Texten und den Vorlesungen – eine Apologie des sinnlichen Glücks. Bei allen Einschränkungen, die vom Erfahrungsstand der Kunst seiner Zeit aus gegenüber einer Kategorie wie dem Beglückenden zu machen waren, betrachtete Adorno das sinnliche Glück in der Kunst nicht als akzidentiell. Die obersten geistigen Bestimmungen der Kunsterfahrung – zu denen für ihn die Ideen der Freiheit und der Transzendenz, die Hoffnung und der Wahrheitsgehalt gehörten – sah er nicht als freischwebende, ›ideale‹ Gehalte bloß imaginärer Art, sondern, entgegen der üblichen Vorstellung, als durchdrungen von jenem sinnlichen Moment: »Durch die Bestimmung der Kunst als eines Geistigen indessen wird das sinnliche Moment nicht bloß negiert. […] Was den obersten Kunstwerken als metaphysische Gewalt darf zugeschrieben werden, war über die Jahrtausende hin verschmolzen mit einem Moment jenes sinnlichen Glücks, dem autonome Gestaltung immer entgegenarbeitete. Allein dank jenes Moments vermag Kunst, intermittierend, Bild von Seligkeit zu werden. […] Äußerste Beseeltheit schlägt um ins Physische. Die traditionelle Ästhetik hat in ihrem parti pris für die sinnliche Erscheinung etwas seitdem Verschüttetes gespürt, aber es viel zu unmittelbar genommen. [… D]as Versprechen einer Wirklichkeit des Ge6 | Vgl. etwa die Bemerkung des Adorno durchaus zugetanen Heinz Steinert: »Nach seiner [Adornos, GG] Hörer-Typologie (in der ›Einleitung in die Musiksoziologie‹) kann sich fast niemand mehr dem Musikhören gewachsen fühlen. […] Die Anforderungen an den Intellektuellen werden fast unerreichbar hochgeschraubt.« Steinert, Heinz: Die Entdeckung der Kulturindustrie oder: Warum Professor Adorno Jazz-Musik nicht ausstehen konnte, Wien: Verlag für Gesellschaftskritik 1992, S. 13. Vgl. auch Adornos Reaktion auf Leserzuschriften nach einem Spiegel-Interview: Adorno, Theodor W.: »Antwort des Fachidioten«, in: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 19, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, S. 570-572.
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Gabriele Geml halts, die zum Wahrheitsgehalt ihn macht, haftet am Sinnlichen. Darin ist Kunst ähnlich materialistisch wie alle Wahrheit an der Metaphysik. Daß darauf heute das Verbot sich erstreckt, involviert wohl die wahre Krisis der Kunst. Ohne Gedächtnis an jenes Moment wäre Kunst so wenig mehr, wie wenn sie ans Sinnliche außerhalb ihrer Gestalt sich zediert.« 7
E nthobenheit Wiederholt hält Adorno in den Vorlesungen fest, dass »die genuine ästhetische Erfahrung« von einem Kunstwerk »unmittelbar mit Genuß eigentlich sehr wenig zu tun hat« – eine Beobachtung, die auch zu Beginn der Ästhetischen Theorie die Grenzen absteckt.8 Im Gegenzug jedoch versucht Adorno eine Vorstellung von der eindringlichen Erfahrung intensiver Glücksmomente zu geben, die an den Kunstwerken zu machen ist. In vielerlei Hinsicht entspricht Adornos Abgrenzung dieser Glücksmomente vom Genussvollen Kants kategorialer Unterscheidung des Schönen vom Angenehmen – und auch in weiteren Zusammenhängen wird deutlich, wie sehr sein Denken von grundlegenden Intentionen wie Intuitionen der kantischen Philosophie durchpulst ist. Das Glück an den Kunstwerken ist für Adorno weder ein bloß abstrakt in Aussicht gestelltes, utopisches und vertröstendes Versprechen (»Promesse du bonheur«), noch ein schlechterdings vorfindliches und beliebig abruf bares Genussmoment – wenngleich beide Aspekte, die Hoffnung und die »Schönen Stellen«, ineinander verschränkt, für die beglückende Erfahrung konstitutiv sein mögen.9 Anders als das Genussvolle, das beispielsweise als Hintergrundmusik mit unserem Alltag leichte Allianzen eingeht, haftet das Glück an den Kunstwerken für Adorno an der höchst instabilen Sphäre dessen, was er in den Vorlesungen als eine Erfahrung der »Enthobenheit« charakterisiert hat.10 Die spezifische, an bedeutenden Kunstwerken zu machende Erfahrung, gliedert sich nicht in den Alltag ein, sie hebt uns aus diesem heraus. Das Entscheidende, worin sich die Kunsterfahrung vom bloßen Eskapismus unterscheidet, ist allerdings, dass uns die Kunst nicht nur aus dem Alltag heraushebt, sondern dass sie uns vor allem auch ein Stück über uns selbst hinaushebt; in einer Weise, in der Selbstvergessenheit und Selbsterkenntnis unwillkürlich konvergieren. In diesem Sinne charakterisierte Adorno die Glückspotentiale 7 | Adorno: Ästhetische Theorie, S. 412. 8 | Adorno: Ästhetik, S. 187; ders.: Ästhetische Theorie S. 27ff. 9 | Vgl. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 279f. sowie ders.: »Schöne Stellen«, in: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 18, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998, S. 695-718. 10 | Vgl. Adorno: Ästhetik, S. 193. Mit Rekurs auf »die ältere Ästhetik« spricht Adorno hier alternativ auch von der »Erhobenheit«, dem Erhabenen.
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insbesondere der modernen Kunst und der Kunst seiner Gegenwart in seinen Ästhetik-Vorlesungen mit der Formel einer »Entfremdung des Entfremdeten«: Beglückend könnten die Kunstwerke insbesondere dadurch wirken, dass sie den Rezipienten der entfremdeten, im Zeichen der fortschreitenden Natur- und Selbstbeherrschung stehenden Welt, ihrerseits entfremden und dabei »die Unmittelbarkeit oder das unbeschädigte Leben« zumindest ein Stück weit wieder herstellen.11 Dies hat man sich gewiss nicht bruchlos zu denken – und insbesondere ist zu betonen, dass sich nach Adorno die Kunstwerke, die ihres Begriffs würdig waren, technisch auf der Höhe ihrer Zeit befanden, sich also ihrerseits der verfügbaren Mittel der ›Naturbeherrschung‹ bedienten. Als wesentlich erachtete Adorno dabei allerdings die künstlerische Bemühung, mittels der fortgeschrittenen Techniken letztlich auf befreiende Momente zu zielen – anstatt Natur- und Materialbeherrschung den Charakter eines Selbstzwecks annehmen zu lassen. Die Kraft und damit die Gelungenheit eines Kunstwerks danach zu bemessen, »wie sehr es uns aus der bloßen Existenz, sei’s auch nur temporär, herausnimmt«, war eine für Adornos Ästhetik grundlegende Vorstellung, die für ihn mit der Glückserfahrung koinzidierte: »Das Glück an den Kunstwerken ist jähes Entronnensein«.12 Die Art der Selbstvergessenheit dachte er allerdings nicht als eine zerstreuende Ablenkung von den jeweiligen persönlichen Lebensumständen, sondern als einen von äußerster Aufmerksamkeit geleiteten Nachvollzug der Werke, wie ihn einmal der Begriff der ›Versenkung‹ bezeichnete. Das Entscheidende ist dabei jedoch, dass Adorno damit nicht einfach, nach gängigen Hierarchien, das Geistige über das Sinnliche stellte und die intellektuelle Erfassung des Werkganzen über den ›naiven‹ Genuss einzelner schöner Stellen. Anstatt das Verhältnis von Sinnlichem und Geistigem nach dem Modell einer Einbahnstraße zu denken, die von den einfachen sinnlichen Wahrnehmungen zu den obersten geistigen Gehalten aufsteigt, ging es ihm darum, die Dynamik eines Umschlags hervorzuheben, der sich in der Musik besonders eindringlich erfahren lässt. Zumal in der Sonatenform der klassischen Symphonik ist eklatant, wie sich der musikalische Prozess nicht nur aus Einzeldetails auf baut, sondern wie auch umgekehrt die Kraft der Totale an die Einzeldetails zurückerstattet wird, wodurch sie eine sinnliche Intensität erhalten, die ihnen an sich selbst keineswegs zukommt. So heißt es in der Ästhetischen Theorie, wobei die politische Allegorie mitzulesen ist: »Intensität ist die durch Einheit bewerkstelligte Mimesis […]. Daß in manchen seiner Momente das Kunstwerk sich intensiviert, schürzt, entlädt, wirkt in erheblichem Maße als sein eigener Zweck; die großen Einheiten von Komposition und Konstruktion schei11 | Adorno: Ästhetik, S. 192f. 12 | Adorno: Ästhetik, S. 193, S. 30.
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Gabriele Geml nen nur um solcher Intensität willen zu existieren. Danach wäre, wider die gängige ästhetische Ansicht, das Ganze in Wahrheit um der Teile, nämlich seines χαιρóς [kairos; Anm. GG], des Augenblicks wegen da, nicht umgekehrt; was der Mimesis entgegenarbeitet, will schließlich ihr dienen.«13
E rschüt terung In besonderem Maße hat Adorno in seinen Ästhetik-Vorlesungen jenen Aspekt der Intensivierung der ästhetischen Erfahrung darzustellen versucht. Ausführlich charakterisiert insbesondere die 12. Vorlesung die enthusiastischen Momente der Kunsterfahrung. Für seine Erläuterung rekurriert Adorno auf jene Kategorie, die dann in seiner im Folgejahr veröffentlichten Mahler-Monographie von entscheidender Bedeutung sein wird, die Idee des »Durchbruchs«:14 13 | Adorno: Ästhetische Theorie, S. 279. Der in Adornos Kunst- und Erkenntnistheorie zentrale Begriff der »Mimesis«, der den Begriff des ›Mimen‹, d. i. des Schauspielers in sich enthält und in der Biologie als ›Mimese‹ geläufig ist, meint eine Form der Anverwandlung im Rezeptionsprozess: etwa ein ›Mitgehen‹ mit der Musik. Auch wenn Adorno hierbei nicht an eine unmittelbar sinnliche Rezeption von Musik wie etwa den Tanz denkt, sondern an eine sublimierte Sinnlichkeit, vertritt das Mimetische in seiner Theorie die sinnliche Dimension ästhetischer Erfahrung. Im konkreten Zitat ließen sich, etwas brachial paraphrasiert, anstelle von »Mimesis« auch die Begriffe ›Sinnlichkeit‹ oder ›Unmittelbarkeit‹ einsetzen. Vgl. zu Adornos Begriff der Mimesis ausführlich: Früchtl, Josef: Mimesis. Konstellation eines Zentralbegriffs bei Adorno, Würzburg: Königshausen & Neumann 1986. 14 | Vgl. Adorno: »Mahler. Eine musikalische Physiognomik«, in: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 13, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998, S. 149-319, hier S. 153ff. In seiner »musikalischen Physiognomie« des Werkkosmos Gustav Mahlers entwickelt Adorno in Abgrenzung von der akademischen Musikwissenschaft eine »materiale Formenlehre« (S. 193), die mit Kategorienpaaren wie »Weltlauf und Durchbruch« (S. 156) oder »Suspension und Erfüllung« (S. 193) operiert. Im ersten Abschnitt des Buchs, »Vorhang und Fanfare«, entwirft Adorno in der Analyse des ersten Satzes von Mahlers Erster Symphonie einen Eindruck von der Gewalt des Durchbruchs als einer Figur der Befreiung: »Die Erste Symphonie beginnt mit einem langen Orgelpunkt der Streicher […]. Gleich einem dünnen Vorhang hängt er vom Himmel herunter, verschlissen dicht; so schmerzt eine hellgraue Wolkendecke in empfindlichen Augen. […] Plötzliches più mosso: eine Pianissimo-Fanfare von zwei Klarinetten im unteren, fahlen Register, die dritte Stimme dazu in der schwächlichen Baßklarinette, matt, als ertönte es hinter dem Vorhang, wollte vergebens hindurch und hätte nicht die Kraft dazu. […] Auf der Höhe des Satzes dann […] bricht die Fanfare in den Trompeten, den Hörnern, den hohen Holzbläsern […] durch, außer aller Proportion zum Orchesterklang zuvor, auch zu der Steigerung, die zu ihr geleitet. […] Der Riß erfolgt von drüben, jenseits der eigenen Bewegung der Musik.
Adorno über das Glück an den Kunstwerken »Wenn ich also auf die eigene Erfahrung mich hier nochmal beziehen darf, dann will es mir so vorkommen, als ob in der eigentlichen künstlerischen Erfahrung […], wo die Beziehung zu dem Kunstwerk aufs äußerste intensiviert ist, wo man – man könnte fast sagen: in dem Puls, in dem Rhythmus des eigenen Lebens ganz und gar eins wird mit dem Leben des Kunstwerks, […] daß es dann Augenblicke des Durchbruchs gibt. Unter Durchbruch verstehe ich dabei, daß es dann Augenblicke gibt – es können zufällige Augenblicke sein, es können aber auch die höchsten und intensivsten Augenblicke eines Kunstwerks sein –, in denen jenes Gefühl des Herausgehobenseins, jenes Gefühl, wenn Sie wollen, der Transzendenz gegenüber dem bloßen Dasein, sich intensiv zusammendrängt, sich aktualisiert, und in denen es uns so vorkommt, als ob das absolut Vermittelte, nämlich eben jene Idee des Befreitseins, doch ein Unmittelbares wäre, wo wir glauben, sie unmittelbar greifen zu können. Diese Augenblicke sind die höchsten wohl und die entscheidenden, deren die künstlerische Erfahrung überhaupt mächtig ist; und es ist wohl denkbar, daß von ihnen eigentlich die Vorstellung, daß Kunstwerke sich genießen ließen, abgezogen ist, weil diese Augenblicke ja wirklich eine Art von Beglückung mit sich führen, die wohl was es sonst an Glück gibt – ich will nicht sagen: in den Schatten stellen, aber jedenfalls doch dem obersten, was es sonst an Glücksaugenblicken gibt, durchaus gewachsen sind, die dieselbe Gewalt haben, wie die höchsten realen Augenblicke, die wir kennen. Aber merkwürdigerweise sind nun gerade diese Augenblicke, in denen – ja, wie soll man sagen? – der Geist des Kunstwerks oder seine Bedeutung sich aktualisiert und so ist, als ob wir sie unmittelbar, fast körperhaft an uns selber erführen, diese Augenblicke sind kaum solche des Genusses, sondern vielmehr solche des Überwältigtwerdens, der Selbstvergessenheit, eigentlich der Auslöschung des Subjekts in einem ganz ähnlichen Sinn, [wie] Schopenhauer, freilich unter den Voraussetzungen seiner Metaphysik, diese Wirkungen des Kunstwerks […] beschrieben hat.«15
In Hinblick auf jene Augenblickskonzeption, den Nervenpunkt von Adornos spezifisch ästhetischer Theorie, wird besonders deutlich, wie sehr seine Ästhetik von der Musik her gedacht ist. Die beschriebene Erfahrung der intensivierten Augenblicke lässt sich gewiss auch an anderen Kunstformen machen – aber es ist kein Zufall, dass Adorno dort, wo er in dem Zusammenhang exemplarisch wird, wiederholt auf einen ganz bestimmten Werkkosmos rekurriert – nicht ohne Grund hätte sein lebenslanges Projekt, das geplante Buch über Beethoven, schließlich den recht generellen Titel »Beethoven. Philoso-
In sie wird eingegriffen. Für ein paar Sekunden wähnt die Symphonie, es sei wirklich geworden, was ängstlich und verlangend ein Leben lang der Blick von der Erde am Himmel erhoffte. Dem hat Mahlers Musik die Treue gehalten […]. Verheißt alle Musik mit ihrem ersten Ton, was anders wäre, das Zerreißen des Schleiers, so möchten seine Symphonien endlich es nicht mehr versagen, es buchstäblich vor Augen stellen […].« 15 | Adorno: Ästhetik, S. 196f.
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phie der Musik« tragen sollen.16 So verweist der im Rahmen der Augenblickskonzeption zentrale Abschnitt der Ästhetischen Theorie über »Erschütterung« auf Beethovens Neunte Symphonie; die oben zitierte Passage aus den Paralipomena der Ästhetischen Theorie, nach der der Wahrheitsgehalt der Kunstwerke mit einem Moment des sinnlichen Glücks verschmolzen ist, bezieht sich exemplarisch auf die »Des-Dur-Stelle des langsamen Satzes von Beethovens op. 59,1« und der ebenfalls bereits zitierte Abschnitt der Ästhetischen Theorie über »Intensität«, auf den in der Schrift ein Abschnitt über die Schönheit folgt, beruft sich auf Beethovens Klaviersonate 31,2 als Beispiel dafür, wie die Details ihre Leuchtkraft weniger aus sich selbst heraus besitzen, als vielmehr vermöge des Ganzen empfangen: »Manche Takte Beethovens klingen wie der Satz aus den Wahlverwandtschaften ›Wie ein Stern fuhr die Hoffnung vom Himmel hernieder‹; so im langsamen Satz der d-moll-Sonate op. 31,2. Man muß lediglich die Stelle im Zusammenhang des Satzes spielen, und dann allein, um zu hören, wie sehr sie ihr Inkommensurables, das Gefüge Überstrahlende, dem Gefüge verdankt.«17 Beethoven, dessen Symphonik seit E. T. A. Hoffmanns enthusiastischer Rezension von dessen Fünfter Symphonie aus der Perspektive einer Ästhetik des Erhabenen rezipiert worden war, ist für Adorno in Hinblick auf das berückende Gefühl des Überwältigtseins von der Schönheit des Kunstwerks jedenfalls eine entscheidende Referenz, wenn auch gewiss keineswegs die einzige.18 Adorno selbst wies auf den Präzedenzcharakter der Zeitkunst Musik für das Schönheitserleben hin: Vom »Gefühl des Überfallen-Werdens […] empfangen alle Kunstwerke, gleich dem Naturschönen, ihre Musikähnlichkeit, deren einst der Name der Muse eingedenk war.«19 Zu den philosophischen Referenzen für Adornos Konzeption der Kunsterfahrung gehört außer dem bereits erwähnten Arthur Schopenhauer die Enthusiasmus-Lehre in Platons Phaidros, ein Werk, dem Adorno in den Vorlesungen aufgrund seiner Bedeutung für eine dialektische Theorie des Schönen, in der sich Schönheit und Schmerz durchdringen, immerhin zwei Einheiten 16 | Vgl. Adorno, Theodor W.: Beethoven. Philosophie der Musik. Fragmente und Texte, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004: Aus der 1948 noch angedachten Titelüberlegung »entweder: Beethovens Musik, oder ›Die Musik Beethovens‹« (S. 30) wurde zuletzt, 1969, der nunmehrige Titel des Buchs (vgl. S. 286). Die Ausführungen des Buchs machen deutlich, dass sich der durchaus prätentiös angelegte Titel aus Adornos Sicht nicht in derselben Weise für Schriften über andere Komponisten angeboten hätte (vgl. S. 31). 17 | Adorno: Ästhetische Theorie, S. 364, S. 412, S. 280. Vgl. auch Adorno: »Schöne Stellen«; dabei spezifisch zu Beethoven S. 706-709 sowie zur Kritik an Beethoven S. 698. 18 | Vgl. Hoffmann, E. T. A.: »[Ludwig van Beethoven, 5. Sinfonie (April/Mai 1810)]«, in: Ders.: Schriften zur Musik. Nachlese, München: Winkler 1963, S. 34-51. 19 | Adorno: Ästhetische Theorie, S. 124.
Adorno über das Glück an den Kunstwerken
widmet.20 Maßgeblich für Adorno wie für Schopenhauer ist neben Platons Philosophie aber insbesondere die Kritik der Urteilskraft Immanuel Kants.21 Es ist nicht nur Kants kategoriale Trennung des Schönen vom Angenehmen, an die Adornos Differenzierung des durch die künstlerische Form vermittelten Glücksempfindens vom kulinarischen »Kunstgenuss« kritisch und dialektisch angelehnt ist.22 Es waren insbesondere auch die Bedeutung des Naturästhetischen in der Kritik der Urteilskraft und, damit verbunden, Kants sensible Beschreibungen der ästhetischen Erfahrung, die bei Adorno – und Schopenhauer – auf Resonanz stießen: das in der Erfahrung des Schönen erweckte »Lebensgefühl« und die zwischen Lust und Schauer, Metaphysischem und Existentiellem oszillierende Erfahrung der »Erschütterung« angesichts des Erhabenen.23 So ist es auch ein Charakteristikum der von Adorno als »Erschütterung« beschriebenen Kulminationspunkte ästhetischer Erfahrung, in sich Gegenteiliges zu vereinen. Signifikant trifft dies auf die Idee der Freiheit zu – die uns, als der metaphysische Zentralbegriff des aufgeklärten Zeitalters, Adorno zufolge in jenen Augenblicken »fast körperhaft« überfällt – analog zur Beobachtung: »Äußerste Beseeltheit schlägt um ins Physische.«24 Die erfahrungsstiftende Crux ist hierbei die Bewegung des plötzlichen »Umschlags« oder »Durchbruchs«, die den Effekt einer Erschütterung bewirkt; wie eine kurze Arhythmie des Herzschlags, während und indem man in eine Sache geistig versunken ist. Anstelle der zahllosen willentlichen oder psychosomatischen Übersetzungen des Geistigen ins Physische – ich denke ich sollte die Hand heben und ich hebe sie; ich stelle mir etwas Unangenehmes vor und meine Nackenmuskulatur verspannt sich – ist die Erschütterung ein abruptes und dadurch aufdringliches Erleben der Vermitteltheit von Körper und Geist. Mit dieser Aufdringlichkeit verbindet sich eine weitere Gegensätzlichkeit in der Struktur der intensivierten ästhetischen Erfahrung: das Ineinander von Selbstvergessenheit und einer gesteigerten Form der Selbstwahrnehmung. Geht man von der Freiheit im negativen Sinn des »Befreitseins von etwas« aus, so ist die Selbstvergessenheit vielleicht eine besonders schöne Gestalt der 20 | Vgl. Adorno: Ästhetik, 139-169. 21 | Vgl. zu Schopenhauers Berufung auf Kant und Platon, in deren Tradition er sein Werk verortete: Schopenhauer, Arthur: »Die Welt als Wille und Vorstellung I«, in: Ders.: Sämtliche Werke, Bd. 1, Stuttgart: Cotta/Frankfurt a.M.: Insel 1976, S. 11, S. 21. 22 | Vgl. etwa Adornos doppelte Kritik an der Kulinarisierung wie an der Intellektualisierung von Kunst: Adorno: Ästhetik S. 166 f; zur Kulinarisierung des Weiteren S. 178. 23 | Vgl. Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft, Hamburg: Meiner 2009. Vgl. zum »Lebensgefühl« S. 48 [B 4]; zur »Erschütterung« S. 124 [B 98]. 24 | Vgl. Adorno: Ästhetik S. 197; ders.: Ästhetische Theorie S. 412.
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Freiheit. Entsprechend heißt es in der Ästhetischen Theorie, im Abschnitt über »Erschütterung« hinsichtlich der Versenkung ins Kunstwerk: »Das Ich bedarf, damit es nur um ein Winziges über das Gefängnis hinausschaue, das es selbst ist, nicht der Zerstreuung sondern der äußersten Anspannung«.25 Lässt sich die konzentrierte ästhetische Erfahrung aber auch als ein Zustand tiefer Selbstvergessenheit charakterisieren, so bewirkt schließlich die Erschütterung zugleich eine erhöhte Aufmerksamkeit auf sich selbst, die allerdings von sehr spezifischer Art ist. So heißt es in einem Stück der Paralipomena der Ästhetischen Theorie: »Erschütterung reißt das distanzierte Subjekt wieder in sich hinein. Während die Kunstwerke der Betrachtung sich öffnen, beirren sie zugleich den Betrachter in seiner Distanz, der des bloßen Zuschauers; ihm geht die Wahrheit des Werkes auf als die, welche auch die Wahrheit seiner selbst sein sollte. Der Augenblick dieses Übergangs ist der oberste von Kunst. […] Das von Kunst erschütterte Subjekt macht reale Erfahrungen; […] solche, in denen seine Verhärtung in der eigenen Subjektivität sich löst, seiner Selbstsetzung ihre Beschränktheit aufgeht. Hat das Subjekt in der Erschütterung sein wahres Glück an den Kunstwerken, so ist es eines gegen das Subjekt; darum ist ihr Organ das Weinen, das auch die Trauer über die eigene Hinfälligkeit ausdrückt. Kant hat davon etwas in der Ästhetik des Erhabenen gespürt, die er von der Kunst ausnimmt.« 26
L ebensgefühl Ein Schlüssel zu der womöglich etwas enigmatisch anmutenden Passage ist der unter anderem von Kant für das Schönheitserleben geltend gemachte Begriff des »Lebensgefühls«, jenes Gefühls, das uns einen Eindruck von unserer Lebendigkeit gibt.27 In Bezug auf die soeben zitierten Ausführungen: Wird uns der Wahrheitsgehalt des Kunstwerks nicht zuletzt dadurch zuteil, dass wir die Relationen und Spannungen des Werks durch unsere Aufmerksamkeit zu neuem Leben erwecken, so mag im Augenblick der Erschütterung jene Erfahrung der ›Lebendigkeit‹ des Kunstwerks mit dem momenthaft überhellen Bewusstsein von unserer eigenen Existenz zusammentreffen. Paradigmatisch für jenes ›Zum-Leben-Erwecken‹ der Werke sind Adornos Formulierungen in der Ästhetischen Theorie, in denen metaphorisch das Bild – das Objekt der Betrachtung – zum Blick wird: Die Kunstwerke »schlagen die Augen auf« heißt es und »Ausdruck ist der Blick der Kunstwerke«.28 25 | Adorno: Ästhetische Theorie, S. 364. 26 | Adorno: Ästhetische Theorie, S. 401. 27 | Vgl. Kant: Kritik der Urteilskraft, S. 48 [B4]. 28 | Adorno: Ästhetische Theorie, S. 104 und S. 172.
Adorno über das Glück an den Kunstwerken
Aus der subjektiven Erfahrung ist festzuhalten, dass man ein Bild auf andere Weise ansieht als die Augen eines Gegenübers: weniger betrachtet man die Augen, als dass man ihren Blick erwidert. Von Spezialfällen, wie etwa augenärztlichen Untersuchungen abgesehen, ist der Blick in das Auge eines Gegenübers weniger objekthaft als intersubjektiv verfasst. Die besondere, quasi taktile Dimension des Blicks hat sich auch in Redewendungen wie ›sich von einem Blick getroffen fühlen‹ oder ›jemanden mit Blicken erdolchen‹ sedimentiert. Wo das Kunstwerk zum ›Blick‹ wird, sind schließlich auch die Grenzen von Subjekt und Objekt durchlässig geworden: »Das von Kunst erschütterte Subjekt macht« in der Erschütterung keine bloß bildhaften, imaginären Erfahrungen, sondern »reale Erfahrungen; […] solche, in denen seine Verhärtung in der eigenen Subjektivität sich löst, seiner Selbstsetzung ihre Beschränktheit aufgeht.« – Das »wahr[e] Glück an den Kunstwerken […] ist eines gegen das Subjekt«. Wo sich das Lebensgefühl vernehmbar macht, wie in der ästhetischen Erfahrung des Schönen, fühlen wir, dass wir fühlen – im Gegensatz zur alltäglichen Wahrnehmungsweise, in der unsere Aufmerksamkeit auf die Verarbeitung objektiver Wahrnehmungsinhalte fokussiert ist.29 Das Lebensgefühl ist eine besondere Art der Selbstwahrnehmung. Etwas, das sonst nur unauffällige Grundbedingung unserer vielfach überbeschäftigten Art des ›FortschritteErzielens‹ ist – der bei näherer Erwägung einigermaßen kuriose Umstand, dass wir leben, empfinden, wahrnehmen – kann in der ästhetischen Erfahrung plötzlich in den Blick fallen.
G emeinsinn Der Sinn, der uns ein »Lebensgefühl«, einen unmittelbaren Eindruck von unserer Existenz vermittelt, wurde in der philosophischen Tradition als »innerer Sinn«, aber auch als »Gemeinsinn« (sensus communis) bestimmt, als derjenige Sinn, der, indem er die Einzelsinne übergreift, einen existentiellen Eindruck vom Empfindenkönnen und damit Lebendigsein überhaupt gibt.30 Vielleicht nicht ganz zufällig, vielleicht auch durch einen schönen Zufall, hat sich die Doppeldeutigkeit in dem Begriff ergeben, die den Gemeinsinn zugleich zu einem politisch bedeutsamen Begriff gemacht hat. Denn dort, wo sich uns wie in der ästhetischen Erfahrung in einer nicht lebensbedrohlichen Situation ein Bewusstsein unseres Lebendigseins aufdrängt, das sich mit dem 29 | Vgl. hierzu ausführlich: Heller-Roazen, Daniel: The Inner Touch. Archeology of a Sensation, New York: Zone Books 2009. 30 | Vgl. Heller-Roazen: The Inner Touch, S. 157ff. Vgl. zu Kants Verbindung der Schönheitserfahrung mit dem Gemeinsinn: Kant: Kritik der Urteilskraft, S. 95ff [B63ff].
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Gedanken an die Labilität dieses Lebens und dessen Hinfälligkeit tief durchdringen mag, gewinnen wir nicht so sehr einen Eindruck von unserem eigenen, persönlichen Leben, als vom Leben überhaupt: der gemeinsamen Existenz von Lebewesen in einer Welt, deren verschwindend geringfügiger Teil wir mit unserer je individuellen Person sind.31 Auf diese Weise ist die Erfahrung, die Adorno unter dem Begriff der »Erschütterung« zu beschreiben versucht hat, eine Erfahrung der Freiheit nicht nur in dem negativen Sinn eines momentanen Befreitseins aus dem ›Gefängnis, das wir selber sind‹, sondern auch der Anstoß zu jener positiven Gestalt der Freiheit, die auf Solidarität zielt und deren Begründung ein zentrales Anliegen der kantischen wie der auf Kant folgenden Philosophie war.
N atur ähnlichkeit und U topie Eine wesentliche Übereinstimmung der ästhetischen Theorien von Kant, Schopenhauer und Adorno liegt in der Bedeutung, die dem Natürlichen und Naturschönen in ihrem Denken zukam, während jene Sphäre in anderen bedeutenden ästhetischen Werken des 19. und frühen 20. Jahrhunderts kaum mehr thematisch wurde, indem sich das Interesse wesentlich auf die Kunst beschränkte. Auf diese ›Verdrängung‹ des Naturschönen reflektiert Adornos Ästhetische Theorie, ausgehend von der Bedeutung, die der Natur als »vermittelte[m] Statthalter von Unmittelbarkeit« Adorno zufolge auch für eine jede Kunsttheorie zukäme.32 Pointiert heißt es hierzu in den Vorlesungen, dass im Sinne solcher Unmittelbarkeit Natur in der Kunst wiederkehrt und »Kunst in einem gewissen Sinn die Wiederherstellung von Natur« meint – die Herstellung von etwas noch nicht Erfasstem, von etwas, das den gängigen Kategorien entgleitet, von »Neuschnee« im verhärteten Firn des Bewusstseins.33 Doch 31 | Schopenhauer, der sich selbst in der Nachfolge Kants begriff, hat in seiner Ästhetik den Akzent dann nachdrücklich auf »das Vergessen seiner selbst als Individuum« als subjektive Bedingung der spezifischen Art des ästhetischen Erkennens gelegt. Vgl. Schopenhauer: »Die Welt als Wille und Vorstellung I«, S. 283f. sowie hinsichtlich der Berufung auf Kant S. 11, S. 21. Vgl. auch die vorsichtige, aber wesentliche Bestimmung in Adornos letzter Ästhetik-Vorlesung des Wintersemesters 1958/59: »Ich bin mir der Kontamination mit finsteren Begriffen wie dem des sogenannten ›Weltgefühls‹ […] bewußt, wenn ich riskiere, Ihnen zu sagen, daß der Inbegriff von Reaktionen auf Kunstwerke, wie er überhaupt vielleicht als einigermaßen angemessen betrachtet werden dürfte, der eines Gefühls von der Welt wäre, das das Kunstwerk herstellt, und zwar des Wesens der Welt in ihrer konkreten Verfassung und nicht etwa in abstracto.« (S. 323). 32 | Adorno: Ästhetische Theorie, S. 98 bzw. ausführlich S. 97-134. 33 | Adorno: Ästhetik, S. 69, S. 66.
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nicht nur auf der Objekt- oder Werkseite lässt sich die Kunst als eine Wiederherstellung von Natur begreifen. Die Kunst produziert nicht nur Dinge, »von denen wir nicht wissen, was sie sind«, sie verleitet uns auch zu Weisen der Wahrnehmung und Selbstaktualisierung, die im Zuge des gesellschaftlichen Rationalisierungsprozesses zunehmend obsolet geworden sind.34 Bekanntermaßen zielt die fortschreitende Naturbeherrschung nicht nur auf die äußere Natur, sie erfasst zugleich auch die innere Natur des Menschen. In dem Bemühen, den jeweiligen zivilisatorischen Anforderungen zu entsprechen, werden eine Reihe von Trieben und Regungen in uns unterdrückt und ein erhebliches Potential innermenschlicher Fähigkeiten fällt den kulturellen Anpassungsleistungen zum Opfer. Adorno hatte dabei unter anderem die mimetischen Verhaltensweisen vor Augen, in denen die Trennung von Subjekt und Objekt weniger scharf vollzogen ist als in den rational-operativen Handlungen, in denen wir einen Gegenstand begrifflich bestimmen oder instrumentell bearbeiten.35 Mit Bezug auf die Kunst wird hierbei wiederum an der Zeitkunst Musik besonders deutlich, was sich in ähnlicher Weise von der Rezeption anderer Kunstformen feststellen lässt: dass die ästhetische Erfahrung in Adornos Worten »ein Mitvollzug oder ein Drinsein ist« und mithin ein Typus des Verhaltens, in dem die Distanz und Dinglichkeit abgemildert oder zeitweilig aufgehoben sind, die das rationale Erkennen prägen.36 Ein Kunstwerk »verstehen« meint damit für Adorno wesentlich den ästhetischen Nachvollzug seines Sinnzusammenhangs – und nicht die stichworthafte Zusammenfassung seiner symbolischen Bedeutung: »dem Kunstwerk folgen, nicht aber erraten, was es meint«.37 Die Einschätzung gibt freilich recht einseitig nur einen Aspekt der ästhetischen Erfahrung wieder; hat doch Adorno an anderen Stellen mit Nachdruck auf eben den Rätselcharakter der Kunstwerke und ihre »Bedürftigkeit« nach philosophischer Interpretation hingewiesen. Ebenso allerdings auf das, was eine solche Kunstinterpretation aus heutiger, auf betitelbare Erkenntnisge34 | Theodor W. Adorno: »Vers une musique informelle«, in: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 16, Frankfurt a.M. 1998, S. 493-540, hier S. 540. 35 | Vgl. Adorno: Ästhetik, S. 78f. 36 | Adorno: Ästhetik, S. 198. 37 | Adorno: Ästhetik, S. 199. Vgl. hierzu Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung I, S. 268f: »Der gewöhnliche Mensch […] heftet […] seinen Blick nicht lange auf einen Gegenstand; sondern sucht bei allem, was sich ihm darbietet, nur schnell den Begriff, unter den es zu bringen ist, wie der Träge den Stuhl sucht, und dann interessiert es ihn nicht weiter. Daher wird er so schnell mit allem fertig, mit Kunstwerken, schönen Naturgegenständen und all dem eigentlich überall bedeutsamen Anblick des Lebens in all seinen Szenen. Er aber weilt nicht: nur seinen Weg im Leben sucht er, allenfalls auch alles, was irgendeinmal sein Weg werden könnte, also topographische Notizen im weitesten Sinn: mit der Betrachtung des Lebens selbst als solchen [sic!] verliert er keine Zeit.«
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winne und effiziente Lösungen ausgerichtete Perspektive unnütz macht: »Das Rätsel lösen ist soviel wie den Grund seiner Unlösbarkeit angeben: der Blick, mit dem die Kunstwerke den Betrachter anschauen.«38 Wer sich von jenem Blick getroffen fühlt, den mag, in Adornos Worten, ein »mimetischer Impuls« durchzucken: »[…] denn das geistige Moment der Kunst ist nicht, was der idealistischen Ästhetik Geist heißt; eher der festgebannte mimetische Impuls als Totalität«.39 Unter dem »mimetischen Impuls« lassen sich hier eine Reihe unwillkürlicher, aber aufdringlicher körperlicher Phänomene verstehen, wie eine kurze Irregularität im Herzschlag, ein Zucken der Muskeln, die Gänsehaut oder das In-die-Augen-Steigen von Tränen.40 Gerade in solchen, durch intensive geistige Aufmerksamkeit unwillkürlich herbeigeführten und aufgrund ihrer Unwillkürlichkeit vegetativ genannten Körperreaktionen, aktualisiert sich nach Adorno ein Bewusstsein von Freiheit. Diese »regt sich« für ihn gerade im Bewusstsein der Naturähnlichkeit des Subjekts, der inneren Verbundenheit von Ich und Nicht-Ich, vom Ich und der Welt.41 Von den somatischen Reaktionsformen, die sich mit eigensinniger Auffälligkeit in die Konzentration auf die Kunstwerke drängen können, waren es zumal das Weinen und der »Schauer«, die Adornos Aufmerksamkeit auf sich zogen.42 In den Vorlesungen charakterisiert er die Glücksaugenblicke auch 38 | Adorno: Ästhetische Theorie, S. 185; vgl. auch S. 113: »Deshalb bedarf Kunst der Philosophie, die sie interpretiert, um zu sagen, was sie nicht sagen kann, während es doch nur von Kunst gesagt werden kann, indem sie es nicht sagt.« 39 | Adorno: Ästhetische Theorie, S. 139. 40 | Vgl. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 140, S. 411. 41 | Vgl. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 410: »Weniger wird der Geist, wie Kant es möchte, vor der Natur seiner eigenen Superiorität gewahr als seiner eigenen Naturhaftigkeit. Dieser Augenblick bewegt das Subjekt vorm Erhabenen zum Weinen. Eingedenken von Natur löst den Trotz seiner Selbstsetzung […]. Darin tritt das Ich, geistig, aus der Gefangenschaft in sich selbst heraus. Etwas von der Freiheit leuchtet auf, welche die Philosophie mit schuldhaftem Irrtum dem Gegenteil, der Selbstherrlichkeit des Subjekts vorbehält. Der Bann, den das Subjekt um Natur legt, befängt auch es: Freiheit regt sich im Bewußtsein seiner Naturähnlichkeit. Weil das Schöne der vom Subjekt den Phänomenen aufgezwungenen Naturkausalität nicht sich unterordnet, ist sein Bereich eines möglicher Freiheit.« In seinen Vorlesungen zur Moralphilosophie weist Adorno darauf hin, dass wir gerade in jenen Momenten, in denen uns bewusst wird, dass wir selbst nur ein Stück Natur sind, der blinden Befangenheit in (gesellschaftlichen) Naturzusammenhängen zumindest um ein Minimales entragen: »Das, was Natur transzendiert, […] ist die ihrer selbst innegewordene Natur.« Vgl. Adorno: Probleme der Moralphilosophie (1963), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2010, S. 155 42 | Vgl. zur »Gänsehaut » und zum »Schauer«: Adorno: Ästhetische Theorie, S. 489f.: (Der in Folge zitierte Abschnitt beschließt die Paralipomena und damit die Ästhetische
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als »Augenblicke des Weinens«, in denen »das Subjekt erschüttert in sich zusammenstürz[t]«.43 Besonders im »Schauer« koinzidieren Naturähnlichkeit und Sakralsphäre. Wiederholt hat Adorno, der die »schroffe Scheidung« der Metaphysik der Kunst von der Religion für geboten hielt, auf die religiösen Ursprünge der Kunst hingewiesen.44 Mit den Fortschritten der instrumentellen Vernunft ist die metaphysische Dimension der Kunst weiter neutralisiert worden und Adornos Rede von einer »metaphysische[n] Gewalt« der Kunstwerke in noch weitere Ferne gerückt.45 Für Adorno kristallisierte sie sich in der utoTheorie, sieht man ab von der im Anschluss noch gedruckten Frühen Einleitung und den editorischen Angaben): »Am Ende wäre das ästhetische Verhalten zu definieren als die Fähigkeit, irgend zu erschauern, so als wäre die Gänsehaut das erste ästhetische Bild. […] [N]ichts ist Leben am Subjekt, als daß es erschauert, Reaktion auf den totalen Bann, die ihn transzendiert. Bewußtsein ohne Schauer ist das verdinglichte. Jener, darin Subjektivität sich regt, ohne schon zu sein, ist aber das vom Anderen Angerührtsein. Jenem bildet die ästhetische Verhaltensweise sich an, anstatt es sich untertan zu machen. Solche konstitutive Beziehung des Subjekts auf Objektivität in der ästhetischen Verhaltensweise vermählt Eros und Erkenntnis.« 43 | Adorno: Ästhetik, S. 197. 44 | Adorno: Ästhetische Theorie, S. 201. Vgl. zum religiösen Ursprung der Kunst Adorno: Ästhetik, S. 75f: »Und der Schauer vor dem Kunstwerk, der Begriff des Erhabenen also […] hat fraglos seine genetische Wurzel eben darin, daß etwas von diesem sakralen Wesen des Unberührbaren, etwas von der Gegenwart des Mana, […] der großen göttlichen Macht in einem solchen Bereich, in der Kunst eben übriggeblieben ist. […] Die Idee, also das Gefühl vom Leben überhaupt, das aus einem Kunstwerk schließlich uns anspringt, das ist die durch das Subjekt, durch die Reflexion, durch die Freiheit des Menschen hindurchgegangene Sakralsphäre, in der eben dieses Mana, diese Kraft, die sich auf alles Seiende verteilt, sich dann gewissermaßen konzentriert.« 45 | In seiner Kritik der instrumentellen Vernunft hat Max Horkheimer eindringlich dargelegt, wie die religiösen Ursprünge, die der Idee einer objektiven Wahrheit Gestalt verliehen, unser Alltagsbewusstsein zwar weiterhin prägen, als Sinnhorizont allerdings in Vergessenheit fielen: »Das Vergnügen, einen Garten zu pflegen, geht auf alte Zeiten zurück, in denen die Gärten den Göttern gehörten und für sie bebaut wurden. Der Sinn für Schönheit in der Natur wie in der Kunst ist durch tausend zarte Fäden mit diesen abergläubischen Vorstellungen verknüpft. […] Wenn der moderne Mensch die Fäden zu ihnen durchschneidet, indem er sie entweder verspottet oder mit ihnen prunkt, so mag das Vergnügen noch eine Weile anhalten, aber sein inneres Leben ist ausgelöscht. […] Wir können unsere Freude an einer Blume oder an der Atmosphäre eines Zimmers nicht einem autonomen ästhetischen Instinkt zuschreiben. Die ästhetische Empfänglichkeit des Menschen ist in ihrer Vorgeschichte mit verschiedenen Formen der Idolatrie verbunden; sein Glaube an die Güte oder Heiligkeit eines Dinges geht seiner Freude über seine Schönheit voraus. Das gilt nicht weniger von solchen Begriffen wie Freiheit
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pischen Dimension der Kunstwerke; in der Idee der Freiheit, die uns »als Gefühl vom Leben überhaupt […] aus einem Kunstwerk schließlich anspringt«,46 sowie, damit verbunden, im Maß des durch das Werk eröffneten Anlasses zur Hoffnung auf einen humaneren Zustand. Der Eindruck der Schönheit ist die »Erscheinung der Utopie«, die allerdings matt und kraftlos bliebe, wenn sie nicht zugleich »Mehr als Erscheinendes« wäre und wenn sie nicht »alles Leiden und alle Widerspruchshaftigkeit des Daseins in sich selbst aufnimmt« und uns nicht »zugleich die Utopie und die Distanz von der Utopie verkörpert«.47 Entscheidend ist, dass sich die utopische Dimension nicht abstrakt offenbart, sondern an den spezifischen gesellschaftlichen Gehalten der Kunstwerke und deren Kritik aufgeht, so wie nach Adorno in aller großen Kunst Gesellschaft wiederkehrt: »verklärt, kritisiert und versöhnt, ohne daß diese Aspekte mit der Sonde sich trennen ließen«.48 Die entscheidenden Motive sind bereits in einer der frühesten Arbeiten Adornos, mit der er sich auch in späten Jahren noch identifizierte, versammelt; in dem bedeutenden Aufsatz über Franz Schubert, den er zu dessen hundertstem Todesjahr 1928 verfasste. Am Ende des Aufsatzes des 25-Jährigen heißt es, in einer Formulierung, die von der tiefen Bedeutung von Schuberts Musik für den Autor Zeugnis ablegt: »Vor Schuberts Musik stürzt die Träne aus dem Auge, ohne erst die Seele zu befragen: so unbildlich und real fällt sie uns ein. Wir weinen, ohne zu wissen warum; weil wir so noch nicht sind, wie jene Musik es verspricht, und im unbenannten Glück, daß sie nur so zu sein braucht, dessen uns zu versichern, daß wir einmal so sein werden.«49 Das Utopische realisiert sich nicht durch ein Idealbild vom Anderen, seine Realisierung beginnt mit einem kritischen Blick auf uns selbst.
und Humanität.« Horkheimer, Max: »Zur Kritik der instrumentellen Vernunft«, aus dem Englischen von Alfred Schmidt, in: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 6, Frankfurt a.M.: Fischer 2008, S. 19-186, hier S. 55. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 412. 46 | Adorno: Ästhetik, S. 75f. 47 | Adorno: Ästhetik, S. 162. Vgl. zum »Mehr als Erscheinendes« und zum Begriff der »apparition« Adorno: Ästhetische Theorie S. 122ff. 48 | Adorno: »Einleitung in die Musiksoziologie. Zwölf theoretische Vorlesungen«, in: Ders: Gesammelte Schriften, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997, Bd. 14, S. 169-447, hier S. 413. 49 | Adorno, Theodor W.: »Schubert«, in: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 17, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998, S. 18-33, hier S. 33.
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E instand Ist die »apparition«, die ephemer aufleuchtende Himmelserscheinung, das schönste Bild, das Adorno zur Charakterisierung der Augenblicke des Kunstwerks gefunden hat, so ist sein geglücktester Begriff zur Bezeichnung der komplexen, von Gegensätzen geprägten Struktur dieser Augenblicke der recht wenig geläufige Begriff des Einstands, der in der Ästhetischen Theorie eine eher hintergründige Schlüsselstellung hat.50 Dem Hegel’schen Begriff der Aufhebung in Intention und semantischem Reichtum nicht unähnlich, verweist ›Einstand‹ zunächst auf das Einstehen der Waage, den Zustand des Ausgleichs der beiden Waagschalen alter Balkenwaagen. Von dieser Vorstellung übertragen, meint das Wort in der Sprache des Sports, im Tennis, einen Punktegleichstand. Sodann bezeichnet es einen Beginn (wie im Wort Einstandsfeier) und eine Repräsentanz (etwas steht für etwas anderes ein). Assoziierbar sind die Vorstellungen des Standhaltens: eine Waagschale hält der anderen stand; des Instandsetzens: man setzt etwas Kaputtes wieder instand; und des Imstandeseins: man ist imstande etwas zu tun. Die Jägersprache kennt den Einstand als einen Rückzugsort für Wildtiere, an dem sie Sicherheit und Ruhe finden. Und schließlich verweist ›Einstand‹ lautlich auf das französische Wort für Augenblick, ›instant‹. In diesem Sinn heißt es gleich auf den ersten Seiten der Ästhetischen Theorie: »Jedes Kunstwerk ist ein Augenblick; jedes gelungene ein Einstand, momentanes Innehalten des Prozesses, als der es dem beharrlichen Auge sich offenbart.«51 Der Augenblick, der die Kunstwerke sind, ist wesentlich der des »Durchbruch[s] von Objektivität im subjektiven Bewußtsein«, eine Erfahrung, in der Subjekt und Objekt nicht mehr absolut getrennt sind.52 In diesem Augen-Blick sind wir nicht länger – beharrlichen Auges – distanzierte Betrachter eines Bildes, vielmehr fühlen wir uns plötzlich von der Erfahrung des Kunstwerks getroffen wie von einem Blick. Wieder instandgesetzt mögen wir uns durch diesen Blick fühlen, indem er uns in Form einer mehr oder weniger minimalen Körperreaktion daran erinnert, dass wir selbst Teil jener Welt sind, die wir gewöhnlich als die Außenwelt wahrnehmen.
50 | Vgl. zur »apparition« Adorno: Ästhetische Theorie, S. 125ff. 51 | Adorno: Ästhetische Theorie, S. 17. Die Realisierung des Einstands – des Ausgleichs oder der Homöostase – von Prozess und Augenblick, von symphonischer Totale und musikalischem Detail, von Teil und Ganzem, von Individuellem und Allgemeinem kann als Idee der Beethovenschen Symphonik gelten. Nicht zuletzt in diesem Sinn waren die Beethovenschen Symphonien »Volksreden an die Menschheit«, Adorno: Beethoven, S. 172. 52 | Adorno: Ästhetische Theorie, S. 363.
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D u musst dein L eben ändern . Mit eindrücklicher Drastik hat Rainer Maria Rilke den ästhetischen Blickwechsel in seinem Gedicht Archaïscher Torso Apollos aufgefangen, worauf auch die Ästhetische Theorie rekurriert.53 Mit poetischen Mitteln wie dem heftigen Rhythmuswechsel und dem Zeilenumbruch in der letzten Strophe, der dem Leser den Boden unter den Füßen wegreißt, realisiert das Gedicht etwas von dem Bruch in der ästhetischen Erfahrung, von dem es handelt. Was in kontemplativer Distanz und kritischer Reflexion anhebt, die Betrachtung des Torsos, entgleist in ein Erlebnis, von dem sich das Subjekt unmittelbar angesprochen und in Frage gestellt fühlt: Archaïscher Torso Apollos Wir kannten nicht sein unerhörtes Haupt, darin die Augenäpfel reiften. Aber sein Torso glüht noch wie ein Kandelaber, in dem sein Schauen, nur zurückgeschraubt, sich hält und glänzt. Sonst könnte nicht der Bug der Brust dich blenden, und im leisen Drehen der Lenden könnte nicht ein Lächeln gehen zu jener Mitte, die die Zeugung trug. Sonst stünde dieser Stein entstellt und kurz unter der Schultern durchsichtigem Sturz und flimmerte nicht so wie Raubtierfelle; und bräche nicht aus allen seinen Rändern aus wie ein Stern: denn da ist keine Stelle, die dich nicht sieht. Du mußt dein Leben ändern. 54
In einer Reihe von Lichtmetaphern reflektiert sich, wie der Torso unter den Blicken des Betrachters zum Leben erweckt wirkt. Was zunächst nurmehr am Glühen ist, beginnt zu glänzen, blenden, flimmern. All diesen Verbformen entspringt zuletzt ein selbständiges Substantiv, der Vergleich mit einem Stern, der als solcher nicht mehr länger wie die Skulptur vor dem Betrachter steht, sondern über ihm erscheint und der präziser noch als ein Stern eine 53 | Vgl. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 172f. 54 | Rilke, Rainer Maria: »Der Neuen Gedichte anderer Teil«, in: Ders.: Die Gedichte, Frankfurt a.M./Leipzig: Insel 1996, S. 481-539, hier S. 483.
Adorno über das Glück an den Kunstwerken
Sternschnuppe ist – eine »apparition«.55 Einem schönen europäischen Aberglauben zufolge bringen Sternschnuppen Glück – weshalb es Brauch wurde, sich unter Sternschnuppen etwas zu wünschen. Der Betrachter des Torsos allerdings richtet keinen Wunsch mehr gen Himmel, als Kind der Aufklärung durchzuckt ihn der an keine andere Instanz als sich selbst gerichtete Appell: »Du musst dein Leben ändern«.56 »Du musst dein Leben ändern« – aber was soll ich tun? Nach Adorno war es nicht Sache der Kunst, Anwendungswissen zu vermitteln oder sich durch pädagogische Leistungen zu qualifizieren. Seine Ausführungen, die um das Beglückende an den Kunstwerken kreisen, lassen sich nicht zuletzt als Bemühung verstehen, an den Kunstwerken jene Dimension ins Licht zu rücken, in der sie der Sphäre der Nützlichkeitsrelationen entragen – ohne dabei sinnlos zu sein. Der Begriff des Sinns, der auf der Schwelle von Geistigem und Sinnlichem steht, indem das Wort ebenso den gedanklichen Gehalt, die Bedeutung eines Sachverhalts meint wie das körperliche Wahrnehmungsorgan, die fünf Einzelsinne, repräsentiert im Gefälle der Verweisungen, in der jede Sache für eine andere gut sein soll, einen gewissen Halt, einen »Einstand« und Widerstand, in dem das Drängen der Nützlichkeitsmotive aufgehoben ist: Was in sich sinnvoll ist, braucht zu nichts weiterem zu nützen. 55 | Vgl. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 125ff. 56 | Seit Kants eindringlicher Formulierung »Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmenden [… sic] Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: Der bestirnte Himmel über mir, und das moralische Gesetz in mir.« (Kant, Immanuel: Kritik der praktischen Vernunft, Werkausgabe Bd. VII, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1974, S. 103-302, hier S. 300 [A 289]) findet sich in der Literatur eine enge Assoziation von Sternen und Moralgesetz in der Form eines kategorischen Imperativs. Hierbei ist auch Kants an den bekannten Satz anschließende Formulierung von Relevanz: »Beide darf ich nicht als in Dunkelheiten verhüllt, oder im Überschwenglichen, außer meinem Gesichtskreise, suchen und bloß vermuten; ich sehe sie vor mir und verknüpfe sie unmittelbar mit dem Bewußtsein meiner Existenz.« Dass Rilke kurze Zeit vor der Abfassung des Archaïschen Torsos (1908) eine intensivere Kant-Lektüre betrieben hat (1905), ist bekannt, wobei sein Interesse in dieser Zeit offenbar der Kritik der reinen Vernunft galt und sich über weitere Einflüsse nur spekulieren lässt, vgl. Schnack, Ingeborg: Rainer Maria Rilke. Chronik seines Lebens und seines Werkes. 1875-1926. Erweiterte Neuausgabe, Frankfurt a.M.: Insel 2009, S. 222f. Vgl. zum Naheverhältnis von Sternenhimmel und Sittengesetz auch die mit dem Geist von Rilkes Gedicht verwandten Strophen des Kant-Lesers Franz Grillparzer: »Denn etwas ist, du magsts wie weit entfernen,/Das dich umspinnt mit unsichtbarem Netz,/Das, wenn du liebst, du aufschaust zu den Sternen,/Dich unterwerfend dasteht als Gesetz.«, Grillparzer, Franz: [Wieviel weißt du, o Mensch], Gedichte, in: Ders.: Sämtliche Werke, Bd. 1, München: Hanser 1960, S. 7-366, hier S. 293.
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Die Kunstwerke sind nicht selbstgenügsam; durch kritische Gehalte, Rätselcharakter und utopische Intentionen weisen sie über sich hinaus und wecken die Sehnsucht nach einem Anderen. Zugleich aber sind sie doch auch ein ganz bestimmter, uneintauschbarer »Augenblick« – keine noch so gelungene Analyse eines Kunstwerks macht dasselbe ersetzbar. Wenn heute ein Akzent auf jene Ausführungen von Adornos Ästhetik zu setzen ist, die sich mit dem Beglückenden an den Kunstwerken befassen, so nicht zuletzt aus dem Grund, weil der von ihm und Horkheimer beschriebene Entwicklungszug der instrumentellen Vernunft im letzten halben Jahrhundert durchaus an Fahrt aufgenommen hat: »Das Wissen, das Macht ist, kennt keine Schranken, weder in der Versklavung der Kreatur noch in der Willfährigkeit gegen die Herren der Welt. […] Technik ist das Wesen dieses Wissens. Es zielt nicht […] auf das Glück der Einsicht, sondern auf Methode, Ausnutzung der Arbeit anderer, Kapital. […] Das unfruchtbare Glück aus Erkenntnis ist lasziv für Bacon wie für Luther. Nicht auf jene Befriedigung, die den Menschen Wahrheit heiße, sondern auf ›operation‹, das wirksame Verfahren komme es an; nicht in ›plausiblen, ergötzlichen, ehrwürdigen oder effektvollen Reden, […] sondern im Wirken und Arbeiten und der Entdeckung vorher unbekannter Einzelheiten zur besseren Ausstattung und Hilfe im Leben‹ liege ›das wahre Ziel und Amt der Wissenschaft‹ […]. Auf dem Weg zur neuzeitlichen Wissenschaft leisten die Menschen auf Sinn Verzicht.« 57
Man fragt sich, leicht eingeschüchtert, wozu das alles? Längst hat die instrumentelle Logik nicht nur die einzelnen Wissenschaften in der Art ihrer Organisation und der Ausrichtung ihres Erkenntnisinteresses minutiös modelliert, sie hat in vergleichbarer Form auch die Kunst erfasst. Haben nun einerseits motivierte »Human Resources« Gelegenheit, die Kreativanteile ihres Persönlichkeitsportfolios in »arts based trainings« zu optimieren, so zielen komplementär weite Teile der Kunst, inspiriert vom Ethos der Arbeit und Forschung, auf »Wissensproduktion« und vorzeigbare »Erkenntnisgewinne«. Dem genialischen Manager entsprechen der »edelgraue Seminarismus« wie das kalkulierte Eventmarketing der Kunstwelt.58 So wenig gegen Erkenntnisse einzuwenden ist: Im Dickicht der Verwertungslogiken gewinnt die Vorstellung eines bloßen Glücks an den Kunstwerken etwas Subversives.59 Nicht, dass Adorno die Kunst als eine rein autonome Angelegenheit betrachtet hätte – seine Ausführungen zum gesellschaftlichen und insbesondere gesellschaftskritischen 57 | Horkheimer, Max und Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, S. 20f. 58 | Vgl. den Beitrag von Christoph Bartmann in diesem Band. 59 | Vgl. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 475: »[D]ie Funktion der Kunst in der gänzlich funktionalen Welt ist ihre Funktionslosigkeit«.
Adorno über das Glück an den Kunstwerken
Charakter der Kunstwerke können als bekannt gelten, und ebenso dokumentieren die vielen tausend Seiten, die er zu einzelnen Kunstwerken verfasst hat, wie sehr ihm an einem begrifflichen Verständnis der Werke gelegen war. Doch beides blieb für ihn mit der Vorstellung eines widerständischen Eigensinns der künstlerischen Gebilde eng verknüpft. In der Kartographie der Nützlichkeiten bezeichnet das Glück einen weißen Fleck. Adorno sah es wesentlich »an der Stelle beheimatet«, wo man etwas tut, was einen handfesten »Sinn im Betrieb der Selbsterhaltung des Einzelnen und der Gesellschaft nicht nachweisen kann«.60 Rechtfertigen lässt sich das Selbstzweckhafte freilich schwer: »[V]or dem Wozu das alles, dem Vorwurf ihrer realen Zwecklosigkeit, verstummen hilflos die Kunstwerke.«61
60 | Adorno: Ästhetik, S. 28. 61 | Adorno: Ästhetische Theorie, S. 183.
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Zur Politik des Schönen, heute. Überlegungen zur aktuellen Ästhetik im Anschluss an Gadamer Christoph Bartmann Eine Auseinandersetzung mit der »Politik der Kunst« muss achtgeben, dass sie nicht der üblichen Verengung des Kunst-Begriffs auf eine bestimmte, gegenwärtig dominierende Biennalen-, Galerien- und Kunstdiskurs-Kunst das Wort redet. So wenig man die hegemoniale Stellung der contemporary art im System der Künste bestreiten kann, so wenig hilfreich ist die Bestätigung dieses Anspruchs durch eine allzu kunstnahe, ja komplizenhafte Theorie. Es lohnt sich deshalb, das gegenwärtige Kunstgeschehen aus größerer Ferne zu beobachten und es an Begriffen zu messen, die ihm nicht affin sind. Ich greife hierzu auf einige ältere, auf den ersten Blick unzeitgemäß wirkende Überlegungen von Hans Georg Gadamer zur Aktualität des Schönen zurück und frage, von ihnen ausgehend, wie es in der Gegenwartskunst um das Schöne bestellt ist. Ohne eine energische Wiederbelebung des Schönen, so in äußerster Kürze meine These, wird es auch mit der Politik der Kunst nichts werden. 1974 hat Gadamer in Salzburg einen Vortrag gehalten, der 1977 bei Reclam unter dem Titel Die Aktualität des Schönen. Kunst als Symbol, Spiel und Fest erschien.1 Vielleicht ist dieser Text auch deshalb nützlich, weil er ohne tiefere Kenntnis der damaligen und ohne Ahnung von der kommenden Gegenwartskunst geschrieben wurde. Das Neueste für Gadamer ist eine abstrakte Kunst, die ihm zwar nicht zusagt, die er aber in Bezug auf das Schöne auch nicht gänzlich verloren geben will. Gadamer räumt gelassen ein, dass es viele künstlerische Gegenwartsereignisse gibt, die ihn nicht mehr erreichen. Kunstereignisse jener Jahre wie die documenta 1972, bei der Performance, Konzeptkunst, Fotorealismus und Beuys’ soziale Plastik den Ton angaben, sind an Gadamer offenbar spurlos vorbeigegangen, ebenso wie schon Jahre früher die theoretische Diskussion um die »nicht mehr schönen Künste« im Kontext der Gruppe 1 | Gadamer, Hans-Georg: Die Aktualität des Schönen. Kunst als Spiel, Symbol und Fest, Stuttgart: Reclam 1977.
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Poetik und Hermeneutik (1966, als Buch 1968).2 Das nimmt seinen Überlegungen nichts von ihrer Aktualität, im Gegenteil: Sie sind als Kontrastmittel zur Betrachtung der heutigen Kunst dadurch erst recht von Nutzen. Gadamers Vorstellung vom Schönen will »anthropologisch« verstanden sein, nicht etwa kulturell oder gar soziologisch. Ich werde hier nicht Gadamers Gang durch die philosophische Ästhetik seit Platon nachzeichnen, sondern beschränke mich auf die drei Begriffe, mit denen das Schöne für ihn Aktualität annimmt. Aktualität, soviel ist klar, heißt nicht journalistische oder politische Aktualität, sondern die Modalität, in der uns, bei ausreichender Empfänglichkeit, das Schöne begegnet oder gegenwärtig wird. Die drei Begriffe sind, in Gadamers Worten, »der Rückgang auf das Spiel, die Ausarbeitung des Begriffes des Symbols, d.h. der Möglichkeit der Wiedererkennung unserer selbst, und schließlich das Fest als der Inbegriff wiedergewonnener Kommunikation aller mit allen«.3 Beginnen wir mit dem Spiel. Man solle sich, sagt Gadamer, das Spiel nicht nur als Freiheit von Zwang und Zweck vorstellen, sondern als »freien Impuls«. Es geht um Spiel- und Bewegungsgeschehen ohne Ziel, so wie im »Spiel der Wellen« oder, so könnte man ergänzen, um eine bestimmte Toleranz, die zum Funktionieren eines mechanischen Werks erforderlich ist – ein Uhrwerk hat in diesem Sinne ein Spiel. Spiel ist, so Gadamer, »Selbstdarstellung des Lebendigseins« und Ausdruck eines »elementaren Überschußcharakter[s]« im Biologischen, über den Menschen hinaus.4 Deswegen die Freude, die das Spiel mit sich bringt. Spiele haben, wie man weiß, bewusste oder unbewusste Regeln, sie sind iterativ und, wenn auch zwecklos, dennoch ernst gemeint und oft kompetitiv. Spielen braucht Mitspielende und eine Form der Teilnahme, die auch dann gegeben ist, wenn ich nur zuschaue. Gadamer ist sich der Tatsache bewusst, dass in der modernen Kunst (sein Beispiel ist Brechts Episches Theater) der »Abstand des Beschauers in das Betroffensein der Mitspieler« verwandelt werden soll.5 Das aber heiße nicht, dass der Werkbegriff in der Moderne keine Geltung mehr habe. Nicht die Gegenständlichkeit entscheide über den Werkcharakter, sondern die hermeneutische Identifikation des Betrachtenden. Das gelte sogar für ein Kunstwerk, dessen Schöpfer Gadamer nicht nennt – »es war wohl ein Flaschenständer« – der nun »mit großem Effekt als ein Werk angeboten wurde«.6 Auch ein Duchamp könne gar nicht anders als Werk sein, weil über den Werkcharakter 2 | Jauss, Hans R. (Hg.): Die nicht mehr schönen Künste. Grenzphänomene des Ästhetischen, München: W. Fink 1983. 3 | Gadamer: Zur Aktualität des Schönen, S. 14f. 4 | Ebd., S. 30. 5 | Ebd., S. 32. 6 | Ebd., S. 33.
Zur Politik des Schönen, heute
das Erkennen entscheidet und nicht das Objekt. Der Mitspieler gehört zum Spiel, seine Ko-Aktivität ist auf die ausdrückliche Rolle des Ko-Akteurs nicht angewiesen, sondern erfüllt sich schon oder erst in der Betrachtung. Gadamer nennt diese Betrachtungsleistung »Reflexionsspiel«, ein Spiel, das die Kunst gleich welcher Epoche auslöst und erfordert. Dieses Reflexionsspiel lässt sich weder auf das sinnlich oder formal Ästhetische des Kunstwerks reduzieren noch auf die abgebildeten Sachgehalte. Es erfüllt sich im Glücksfall in einer, wie Gadamer sagt, »ästhetischen Nichtunterscheidung« zwischen Form und Inhalt, wodurch das freie Spiel »zwischen dem bilderschaffenden und dem begreifend-verstehenden Vermögen« sich erst auf baut.7 Die Kunstwerke, so kann man ergänzen, müssen freilich auf der Höhe der reflexiven Potenz des Publikums sein (und umgekehrt). Weder dürfen sie zu hermetisch sein noch zu eindeutig, sie müssen idealerweise genau das ›Spiel‹ haben, das einem das Schauen zum intellektuellen Vergnügen werden lässt. Gadamers zweiter Begriff ist das Symbol. Wie er sich beim Spiel an Schiller anlehnt, so beim Symbol an Goethe. Goethe hat bekanntlich in seiner klassizistischen Phase Symbol und Allegorie nach dem Verhältnis von Besonderem und Allgemeinen unterschieden. »Die Symbolik verwandelt die Erscheinung in Idee, die Idee in ein Bild, und so, daß die Idee im Bild immer unendlich wirksam und unerreichbar bleibt und, selbst in allen Sprachen ausgesprochen, doch unaussprechlich bliebe./Die Allegorie verwandelt die Erscheinung in einen Begriff, den Begriff in ein Bild, doch so, daß der Begriff im Bilde immer noch begrenzt und vollständig zu halten und zu haben und an demselben auszusprechen sei.« 8
Das wahre Schöne kann demnach nie allegorisch sein, denn die Allegorie bietet stets die Möglichkeit, das Bild begrifflich zu überbieten – eine Chance, von der von Friedrich Schlegel bis zur heutigen Konzeptkunst viele Gebrauch gemacht haben. Das Symbol, so Gadamer, ist ein Bruchstück des ganzen Seins, ja einer heilen und haltbaren Welt, die ohne Symbol unzugänglich bliebe. Und dann weiter: »Die Erfahrung des Schönen, und insbesondere des Schönen im Sinne der Kunst, ist die Beschwörung einer möglichen heilen Ordnung, wo immer es sei.«9 Keine Kunst kann bestimmte oder unbestimmte Sinnerwartungen komplett erfüllen, sie soll es auch nicht, wenn sie Kunst sein will, aber sie kann symbolisch die Totalität der Welt zur Gestalt bringen. Es ist nicht klar, welche Kunst Gadamer da vor Augen stand, sicher nicht Duchamp, vielleicht 7 | Ebd., S. 39. 8 | Goethe, Johann Wolfgang von: Maximen und Reflexionen Nr. 750, Hamburger Ausgabe, Bd. 12, München: C.H. Beck 1981, S. 471. 9 | Gadamer: Die Aktualität des Schönen, S. 43.
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Cézanne oder Rodin. Nicht von ungefähr taucht bei ihm in dieser Passage Rilke als Zeuge auf, mit dem archaischen Torso Apolls und dem Appell »Du mußt dein Leben ändern«. Das Kunstwerk repräsentiert und vergegenwärtigt die Tatsache von ›Bedeutendem‹ überhaupt; und dieses Bedeutende kann nur symbolisch sein, wenn oder da es anders nicht repräsentiert werden kann. Es ist die nicht übersetzbare Erscheinung des Wahren und gibt uns, wenn wir seiner gewahr werden, einen »Stoß«.10 Schließlich als dritter Begriff das Fest, ein Phänomen, das dem Spiel verwandt ist, weshalb es bekanntlich Festspiele gibt. Fest ist vor allem, so Gadamer, Gemeinsamkeit, communio. Fest heißt doch, wenigstens für den Festgast: frei haben, nicht arbeiten, ausgelassen sein und trotzdem bestimmten Regeln folgen. Von der »Zeitstruktur des Festes« führt bei Gadamer ein Pfad zur »Festlichkeit der Kunst« und zur »Zeitstruktur des Kunstwerks«.11 Das Fest lebt, wie das Spiel, von der Wiederholung. Die Festzeit löst das Zeiterleben aus dem üblichen disponierenden Kalkül (›Zeitbudget‹) und bringt es aus dem gewohnten Takt. Diese festtägliche Zeiterfahrung ist dem Kunsterleben nah. Wir sind, bei dieser Art von ästhetischem Erleben, »lost in focused intensity«.12 Aber dies tolerantere Zeitregime des Schönen ist nicht nur eine Eigenschaft der Betrachtung, sondern der Kunstwerke selbst. Gadamer nimmt wie häufig ein Beispiel aus der Musik, wo die Tempoangaben bewusst vage sind, damit sie richtig ›genommen‹ werden können. »Es ist die Eigenzeit des Musikstückes, es ist der Eigenton eines dichterischen Textes, was man finden muss, und das kann nur im inneren Ohr geschehen.«13 Das Kunstwerk erlegt uns Eigenzeit auf, und wenn wir diese Eigenzeiten teilen und kommunizieren, dann entsteht idealerweise ein Kunst-Fest, von dem niemand ausgeschlossen ist. Gadamer denkt dabei weniger an Ereignisse vom Typus der Salzburger Festspiele als an das attische Theater. Ihm ist bewusst, dass solche Erwartungen an das Kunsterleben unter den Voraussetzungen der Massenkultur und Kulturindustrie schwer einzulösen sind. Es gebe, so endet sein Vortrag, jetzt allerlei Schrumpfund Verelendungsformen des Schönen: den Kitsch ebenso wie das »ästhetische Geschmäcklertum«. Das ändere nichts am Imperativ der Kunst, »die Aktivität unseres eigenen Wissenwollens und Wählenkönnens angesichts von Kunst […] einzusetzen.«14 Das könne mit jeder Kunst gelingen, sogar noch mit der gegenstandslosen Kunst der Moderne, für die Gadamer ansonsten nicht viel übrig hat. 10 | Ebd., S. 45. 11 | Ebd., S. 54. 12 | Gumbrecht, Hans-Ulrich: The Re-Enchantment of the World. Secular Magic in a Rational Age, Palo Alto: Stanford University Press 2009, S. 149ff. 13 | Gadamer: Die Aktualität des Schönen, S. 58. 14 | Ebd., S. 68.
Zur Politik des Schönen, heute
Man wird vom Standpunkt heutiger Kunstproduktion und -theorie Gadamers Betrachtungen zunächst bestenfalls einen gewissen Retro-Charme zubilligen. Zwischen seinem in Spiel, Symbol und Fest artikulierten Schönen und der contemporary art, wie sie sich, jedes Mal ganz anders und ohne übergreifende Tendenz, auf der letzten documenta oder Venedig-Biennale präsentiert, klafft ein Graben. Wo Fest war, könnte man kulturkritisch beklagen, ist jetzt vielleicht Festival, wo Spiel war, ist jetzt bloß noch Game, und wo einmal Symbol war, ist was? Vielleicht das künstlerische ›Statement‹? Vielleicht ist ja, wo Symbol war, jetzt tatsächlich vorwiegend Statement. Jedenfalls hat sich die allegorische Begriffsarbeit als langlebiger erwiesen als Goethes und Gadamers Theorie vom Kunst-Symbol. Die Konzeptkunst hat kein Problem damit, nein, sie lebt davon, ihr Anschauliches ohne Verlust in Begriff und Reflexion zu verwandeln und umgekehrt. Aber ich will hier nicht auf ein pauschales GegenwartskunstBashing hinaus. Der erwähnte Graben zwischen Gadamer und der letzten oder nächsten documenta ist da, weil Gadamer zum einen schon die Kunst seiner Zeit nicht für eine Theorie des Schönen braucht, und zum anderen, weil schon Gadamers und jede spätere Gegenwartskunst andere Sorgen hat als ausgerechnet das Schöne. Für eine anthropologische Fundierung des Schönen ist dieser Kunst nicht all zu viel abzugewinnen, wie es aussieht. Ich würde diesen Graben nicht gern einseitig zu Lasten Gadamers oder zu Lasten der Gegenwartskunst schließen: es gibt das Gadamer’sche Schöne (es ist nicht bloß eine idealistische Illusion, man kann es bei entsprechender Begabung erleben), das jederzeit eine Aktualisierung verdient, und es gibt eine Gegenwartskunst, die aus Gründen, die man ernst nehmen muss, mit dem Schönen uneins ist, quer zu ihm liegt, und die jedenfalls nicht in Spiel, Fest und Symbol ihre Bezugsgrößen hat. Man muss nicht Gadamer heißen oder sonst eine konservative Einstellung zur aktuellen Kunst haben, um der Gegenwartskunst eine eher ›schwache‹ Praxis des Schönen zu attestieren. Es gibt zwar noch dem Namen nach die ›Schönen Künste‹, ›Fine Arts‹ oder ›Beaux Arts‹, aber diese Beiwörter stehen für keine bestimmte ästhetische Praxis mehr. Was sind die Gründe für diese relative Nicht-Aktualität des Schönen heute? Ohne Anspruch auf Vollständigkeit nenne ich hier einige davon. Erstens: Im Zeitalter der Bilder hat sich das Schöne als ›Telos‹ der Kunst überflüssig gemacht. Mit dem technischen, optimierbaren Alltagsbild hat sich das Schöne derart universalisiert, dass jede künstlerische Praxis nur aus dem Abstand dazu Profil erwerben kann. Wenn Ästhetik der Normalfall ist in Design, schöner Form, Lifestyle und Kreativitätsindustrie, hilft nur entschiedene An-Ästhetik, nicht Anti-Ästhetik weiter, gepaart mit einer Analyse und Kritik der dominanten Bildpraxis. So etwa verstehe ich Fredric Jameson, den marxistischen Kritiker der Postmoderne, wenn er schreibt:
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Jameson fühlt sich sichtlich unwohl bei dem, was die postmoderne Ästhetik nach dem Exodus des Schönen umtreibt: Installationen, relational art, Schock- und andere Einmal-Effekte, Kuratoren und Konzepte, vor allem und insgesamt: ›Singularitäten‹, präsentistische Form-Ereignisse ohne Regeln und Genres. Zusammengefasst: Das Schöne hat seine politische Aufgabe schon seit mehr als hundert Jahren eingebüßt, ist nun aber in eine Ära des postmodernen Turbo-Leerlaufs eingetreten, in der sie sich mimetisch dem Finanzmarkt angepasst hat: Das Gestaltideal der postmodernen Kunst sei das Derivat, das ist Jamesons Urteil über Künstler wie Damien Hirst. Zwischen den Symbolisten und Hirst liegen allerdings hundert und mehr Jahre, in denen die Kunst weder symbolistisch-ästhetizistisch operierte noch bereits postmodern, sondern modern und d.h. stets auch: Sie war auf Schönheit schlecht zu sprechen. Das war die Zeit der Avantgarden, in der neue Kunst ihre jeweiligen Vorgänger überholte und für ungültig erklärte. So wie es exemplarisch 1939 der Kritiker Clement Greenberg tat, als er dekretierte, dass Figuration nach Art von Edward Hopper bürgerlich und von gestern, und dass abstrakter Expressionismus die Kunst von morgen sei.16 Diese progressive Ideologie der Überholung und Entwertung einer Kunstepoche durch eine nachfolgende ist, und das ist mein zweiter Punkt, noch immer wirksam. Der moderne Imperativ der nicht mehr schönen Künste wirkt fort. Das Schöne steht aus dem Blickwinkel einer evolutionären oder revolutionären, jedenfalls geschichtsphilosophisch-dynamischen Kunstidee weiterhin unter Ideologieverdacht. Man denke an die Diskussionen um Gerhard Richters und anderer Künstler Kirchenfenster: Darf man so etwas? Weniger verdächtig scheint im Vergleich das Revolutionsschöne, mit Agitprop und der Allianz von AvantgardeFormalismus und politischer Pädagogik. Was sich bis heute nicht wieder von den Schlägen der Moderne erholt hat, ist das Schöne als scheinbar verharmlosender Advokat des Harmonischen und Beschaulichen. Dieses Schöne wird man auf einer documenta nicht erleben. Solche Spiel- und Festformen des Schönen, etwa das Bild eines Déjeuner sur l’herbe, erfreuen sich zwar lebensweltlich größter Beliebtheit, in der Kunst haben sie aber anscheinend nichts mehr verloren. Gadamers freie Zeit, nicht dasselbe wie ›Freizeit‹, wird von der 15 | Jameson, Fredric: »The Aesthetics of Singularity«, in: New Left Review 92 (2015), S. 101-132, hier S. 107. 16 | Greenberg, Clement: »Avant-Garde and Kitsch«, in: Partisan Review 6:5 (1939), S. 34-49.
Zur Politik des Schönen, heute
Kunst selten in Anspruch genommen. Ich plädiere nicht für Kunst als Agentin einer ›Entschleunigung‹, sondern meine eher eine bestimmte Bereitschaft zur Passivität, zur Rezeptivität und Trägheit, also eigentlich das Fehlen eines Fehlens (von Aktivität). So etwas scheint schwierig in einem Zeitalter, in dem alles zum Aktivismus drängt und niemand übrig bleibt, der geduldig nach Gadamers Art auf den Anruf und die Erscheinung des Schönen wartet. Wahrscheinlich sind für jetzt tätige Künstler und Künstlerinnen Vorstellungen von Spiel und Fest in weite Ferne gerückt. Nicht umsonst bezeichnet man künstlerische Produkte heute so gerne als ›Arbeiten‹. Ich komme zum dritten Punkt: Gegenwartskunst hat, pauschal gesprochen, ihre Perspektive von Fest und Spiel auf Arbeit verlagert, sie hat sich zu einem guten Teil hinter einer Bürokratie-Fassade verschanzt, um dem vorherrschenden lebensweltlichen Ästhetik-Syndrom möglichst unähnlich zu sehen. Wenn sich draußen in der Welt die kulturindustrielle Schönheit zu Tode siegt, muss man wenigstens in den eigenen vier Atelierwänden das Ethos der Arbeit, des Fleißes und der Unscheinbarkeit pflegen. Wer heute durch Ausstellungen läuft, begegnet einer drückenden Dominanz von Themen aus der Arbeitswelt – Harun Farockis Projekt Eine Einstellung zur Arbeit (2011-2014) kann dafür als prominentes Beispiel stehen. Künstlerinnen und Künstler ›erforschen‹, ›untersuchen‹ und ›dokumentieren‹ Arbeit, vorwiegend schlecht bezahlte, prekäre, neoliberal-proletarische ›Scheißarbeit‹, dabei nicht sozialkritisch engagiert auf die alte Weise, sondern eher in einer Art kritischer Parallel-Soziologie, die mehr beschreibt als interpretiert. Wir gehen auf eine Biennale und sehen Leuten bei der Arbeit zu, bei einer Arbeit, die mit unserer Arbeit und der Arbeit der meisten anderen Ausstellungsbesucher wenig Ähnlichkeit hat. Viel Aufmerksamkeit wird auf die Präsentationsform der Arbeits- und Rechercheergebnisse verwendet: Schaukästen, Poster, Materialien zum Mitnehmen. Man fühlt sich auf Biennalen immer häufiger auf ein akademisches Meeting, eine Messe oder einen Kongress versetzt, was die These stützt: Weil die Ästhetik zum Normalfall unseres Alltags geworden ist, wappnet sich die Kunst dagegen mit einem betont grauen, edelgrauen Seminarismus, der durchaus für konzeptuelle Schönheitseffekte zweiter Ordnung gut ist. Wer sagt, dass es nicht auch das Diskurs-Schöne gibt? Freilich spiegelt sich in der Obsession für das Fleißige und Arbeitsame auch die eigene prekäre Ökonomie des heutigen Kunstproduzenten. An Freizeit ist ebenso wenig zu denken wie an freie Zeit, noch weniger als vielleicht bei den prekären Dienstleistungsjobs, die der Gegenstand dieser Kunst sind. Die Kunst steht im Bann der Arbeit, sie ist selbst Arbeit und sie schaut auf anderer Leute Arbeit. Worauf, könnte man fragen, sollte sie sonst schauen, es gibt, anders als zu Gadamers seligen Zeiten, keinen Raum jenseits der Arbeit, schon gar nicht die sogenannte Freizeit, in der die arbeitende Menschheit nun zum Workout ins Gym geht und sich modelliert, reproduziert und optimiert. So gesehen bestätigt die Kunst die
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Diagnose einer postmodernen Depression, oder eher eines Burnouts; sie ist authentisch ausgebrannt und kommt ihrer diagnostischen Wahrheit durch den Einsatz schwacher Mittel eher nahe als durch die Behauptung starker Mittel, die allesamt verbraucht, besetzt oder anders unverfügbar sind. Diese Situation nennt man postheroisch. Kein heroischer Kunst-Berserker kann uns gegenwärtig retten, wir müssen unser Heil, so scheint es, in der Schwäche suchen, daher der vierte Punkt: Das Schöne ist nicht tot. Es zeigt sich gegenwärtig aber am ehesten in postmodernen Schrumpf- und ›Mock‹-Formen. Es zeigt sich unter medialen, ökonomischen und technischen Bedingungen, von denen Gadamer nichts wissen wollte. Nur einmal kommt in seinem Text am Rande die Schallplatte vor. Spiel, Symbol und Fest suggerieren eine Unmittelbarkeit des ästhetischen Zugriffs, die unter jetzigen Bedingungen unwahrscheinlich ist. Über wahrscheinlichere ästhetische Kategorien der Gegenwart lässt sich Aufschluss in Sianne Ngais Buch Our Aesthetic Categories gewinnen.17 Wie Gadamer schlägt auch sie drei Kategorien vor, in denen sich das Schöne zeigt, nicht anthropologisch fundiert, sondern kulturell gegeben. Was also ist das Ästhetische unter unseren »hypercommodified, information-saturated, performance-driven conditions«? Es sind »the zany«, »the interesting« und »the cute«, also das Komisch-Schräge, das Interessante und das Niedlich-Süße. Es geht hier also um den Rückstoß einer voll entwickelten Warenästhetik auf die Kunst, auf eine Kunst, die ihrerseits die Schranke zum Trivialen und Irrelevanten weitgeöffnet hat und sich von dieser Öffnung etwas verspricht. »In dieser hyper-ästhetisierten Welt«, so Ngai, »bleiben weder Kunst noch schöne/erhabene Natur als klare Bezugsgröße für eine Reflexion über ästhetische Erfahrung als Ganze bestehen.«18 Der Aufstieg des Schwachen und Trivialen vollzieht sich nach Ngai im Zeichen einer Habitualisierung ästhetischer Neuheit, einer zunehmenden Überlappung von Kunst und Theorie sowie dem Verlust der hergebrachten Spannung zwischen Kunstwerk und Warenform. Das stellt sich in der Bildenden Kunst, wo es nach Jamesons nur noch Singularitäten und keine Gattungen mehr gibt, offenbar als größeres Problem dar als in anderen Künsten, in denen es noch kommerziell und ästhetisch tragfähige Genre-Modelle (den erzählenden Film oder den mehr oder minder realistischen Roman) gibt. Die drei Kategorien, die Ngai nennt, entstammen im Wesentlichen dem Fernsehen und haben von dort den Weg in die Imagination von Künstlern gefunden: die News Show ist für das Interessante zuständig, Reality TV und Soap für das Groteske und das Entzückende, je nachdem ob der Fokus mehr auf der Arbeits- oder der häuslichen Sphäre liegt. Man könnte sich fragen, ob dies nicht die zeitgenössischen, tie17 | Ngai, Sianne: Our Aesthetic Categories. Zany, Cute, Interesting, Cambridge, Mass/ London: Harvard University Press 2012, S. 1. 18 | Ebd., S. 18 (Übersetzung C.B.).
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fer gelegten, aber soziologisch wahrscheinlichen Wiedergänger von Gadamers Spiel- und Fest-Schönem sind. Hier nun wird indes nicht mehr nach Betrachtenden und Betrachtetem, Kunstwerk hier und reflexivem Subjekt dort unterschieden, sondern Publikum und Gegenstand sind in eine gemeinsame, nicht besonders angenehme, nicht besonders aufregende Situation verstrickt, in der man tatsächlich so etwas wie das Symbol (nicht die Allegorie) einer größeren, begrifflich nicht auflösbaren gesellschaftlichen Desorientierung erblicken kann. Durch solche oft bewusst sehr privatistischen Inszenierungen (man denke an Videos auf Biennalen, die einen nicht regelrecht interessieren, aber auch nicht unbedingt langweilen) schaut man wie durch Gadamers Symbolscherbe nicht aufs heile Seinsganze, sondern auf eine ziemlich desorientierte Welt. Fünftens und letztens: Kunst erfindet sich derzeit als Partizipationsfest neu. Kommen wir noch einmal auf Gadamers Begriff des Fests zurück. Ist nicht das Fest heute eine allgegenwärtige Erscheinungsform des Sozialen, vom Bürgerfest übers Weinfest zum Kunstfest? Vergeht noch ein Wochenende, an dem nicht auf Straßen und Plätzen gefeiert wird – und das oft unter tatkräftiger Mitwirkung von Künstlerinnen und Künstlern? Das klingt erfreulich nach der Kommunikation aller mit allen, die Gadamer vorschwebte. Aber auch für das Fest gilt, was schon über das Ästhetische insgesamt gesagt wurde: Es hat sich normalisiert, es ist nicht mehr Ausnahmezustand, sondern Alltag, ein kulturell-gesellschaftliches ›Format‹. Wie anders war das noch bei Hermann Nitschs Orgien-Mysterientheater oder bei den subversiv gemeinten und tatsächlich die Bürger erschreckenden Happenings der sechziger Jahre. Hinter dem neuen Typ Bürger- und Partizipationsfest lauert der uneingestandene Imperativ der sozialen Mobilmachung. Wer nicht mitmacht, dem kann auch politisch nicht geholfen werden. Ein dem Fest verwandtes Phänomen ist die Eroberung von Stadtraum für künstlerische Intervention, im Regelfall mit Partizipation. Mit dieser Art erweiterter Sozialpolitik qualifiziert sich die Kunst heute für Relevanz und Subventionen. Zur Ästhetisierung der Lebenswelt gehört auch die Bespielung von öffentlichem und nicht-öffentlichem Raum mit künstlerisch-partizipativer Aktion. Die ehemaligen Zuschauer werden auf diese Weise zu Ko-Akteuren promoviert, sie werden, ganz wie in der Welt des Managements, ›empowert‹, wobei das Skript für solche Ermächtigungen meistens von oben kommt. Die Künstler oder ›Artivisten‹ sind nun als Moderatorinnen, Sozialarbeiterinnen und Gruppendynamiker gefragt. Eigentlich aber erzeugt diese Art Aktivierung auch der ehemaligen Rezipienten im ästhetisch-sozialen Erleben genau an der Stelle der passiven Kompetenzen und Kapazitäten eine Lücke. Alle sind gekommen, um etwas zu machen, und niemand ist da, um zu schauen, schon gar nicht mit dem inneren Auge. So entsteht eine hochdrehende Betriebsamkeit an Stelle der benötigten »focused intensity«. Interessanterweise ist dieses partizipative Verändern-Wollen der Welt durch Aktivismus ein Megatrend geworden. Dann wundert es nicht, wenn man in einer aktuellen Rede des Bundesaußenminis-
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ters einen deutschen Schriftsteller mit dem Satz zitiert findet: »Wir möchten die soziale Kraft der Kultur mobilisieren. Denn Kunst und Kultur sind nichts anderes als gelebte Humanität.«19 Wenn Minister das sagen, ist das in Ordnung, wenn es Schriftsteller sagen, ist es bedenklich. Bei Gadamer ging es lediglich darum, dass der Einzelne, von Kunst beseelt und erschüttert, sein Leben ändert. Bei Albert Ostermaier soll es gleich die ganze Menschheit sein. Die Kunst ist seit Gadamer nicht etwa bescheidener geworden, im Gegenteil: Sie greift nun gleich nach der partizipativen Weltmacht. Niemand darf nicht nicht mittun, wobei doch erst mit dem Nichtmittun die ästhetische Freiheit beginnt. Ich schließe diese kurze Liste von Gründen für die Unverträglichkeit des Schönen mit der Gegenwartskunst an dieser Stelle ab und bin mir bewusst, dass ich vielen anders gestimmten Einzelphänomenen nicht gerecht worden bin. Ganz generell darf man festhalten, dass auch im Kunstdiskurs des 21. Jahrhunderts (im Gegensatz zu den sich bestverkaufenden Kunstwerken selbst) eine Re-Aktualisierung des Schönen nicht abzusehen ist. Der Neigung zum Schönen gehen wir anderweitig im Leben unbeirrt nach, und nicht nur dann, wenn wir uns von schönen Konsumgegenständen, gehobener Küche oder bezaubernden Landschaften ansprechen lassen. Im Zweifel ist uns eine ästhetisierte Welt lieber als eine nicht-ästhetisierte. Sonst werden nämlich gleich Klagen laut, es gebe da oder dort ja nichts Anständiges zu essen. Als Privatpersonen sind wir weiter ansprechbar für Freude, Vergnügen und Schönheit der genießenden wie der reflexiven Art. Warum sollte man sich nicht, angeleitet etwa von Proust, in einen Lese- und Erlebniszustand gesteigerter Aufmerksamkeit für die Welt versetzen lassen? Wäre daran irgendetwas nicht von heute, und was sollte mich am Heute interessieren, wenn es mir solche Erfahrungen nicht ermöglicht? Das Vorbild für solche privaten Freuden-Exerzitien liefert einem, wie schon Gadamer sagt, oft das Kunstschöne: Man muss das Schöne einmal als Kunst erlebt haben, bevor man es in eine Art ästhetischer Alltagspraxis überführt und dort wiederholt. Es wäre allerdings verkehrt, seine Erwartungen an das Schöne allein und vor allem an die Kunst zu adressieren. Dass sie die meisten Ansprüche dieser Art abweist, ist zugleich eine Chance zur Selbsttätigkeit, zum ›Do It Yourself‹ und ästhetischen Eigenbau. Es ist merkwürdig, dass solche emphatischen und enthusiastischen Praktiken ästhetischer Eigenerfahrung weniger von der Bildenden Kunst beflügelt werden als von Literatur und Film. Auch wenn immer wieder behauptet wird, die Gegenwartskunst regiere nun über die anderen Künste und sei nun zur Leitdisziplin avanciert, würde ich dagegen halten, dass andere Kunstgattungen von Schönheitserfahrungen sprechen können, die im gegenwärtigen Diskurs über 19 | Rede von Außenminister Frank-Walter Steinmeier bei der Konferenz des Goethe-Instituts »Dialog und die Erfahrung des Anderen«, 23.2.2015, www.auswaertiges-amt.de/ DE/Infoservice/Presse/Reden/2015/150223-BM_Konf_GI.html (Stand 02.04.2016).
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contemporary art eher unterdrückt werden. Vielleicht ist in der Literatur mehr Platz für die Beschaulichkeit, von der ich schon gesprochen habe, weil sie sich nicht auf die selbe Weise auf einem präsentistischen Marktplatz exhibitionieren muss. In dieser weniger vom ›Hype‹ bedrohten Zone ist vielleicht eher das Selbstgespräch möglich, das im Glücksfall jeder Kommunikation mit anderen vorausgeht. Bevor ich teile, tausche, partizipiere, aktiviere, zeige, präsentiere und anderes, habe ich erst einmal einsame ästhetische Erfahrungen gehabt. In solchen Erfahrungen spricht sich der elementare Überschusscharakter des Lebendigen aus, von dem Gadamer sprach. Das muss die Kunst noch gar nicht unbedingt einschließen und interessieren und kann gut im Bezirk ästhetischer Selbsttätigkeit verbleiben. Man will sich andererseits keine Kunst vorstellen, die an solchen Erfahrungen uninteressiert wäre, die zu solchen vorbewussten Reizund Erleuchtungsmomenten schon ein Urteil, eine These oder Inszenierung parat hätte. Das ist es, was auch noch die contemporary art von Gadamers Idee des Schönen lernen kann: eine prä-kritische Bereitschaft zur Beschaulichkeit. Was kann nun aus einer solchen Rückbesinnung auf Beschaulichkeit und Nicht-Aktivismus herausspringen für eine Politik der Kunst? Der alte idealistische Gegensatz zwischen einer Lebenssphäre des Zwangs und der Zwecke und einer Kunst- und Gegensphäre der Zwang- und Zwecklosigkeit ist aufgehoben, und zwar seit langem. Dennoch hat eine politische Kunst nichts zu verlieren, sondern nur zu gewinnen, wenn sie Impulse aus Spiel, Symbol und Fest bezieht. Politische Missstände dürfen nie ein Argument gegen hoch gestimmten Idealismus sein. Eine Politik der Kunst muss sich am Schönen ihre Maßstäbe besorgen, ansonsten würde sie das anthropologische Potential einer schönen Freiheit, wie es Gadamer, sicher mit heute unzureichenden Begriffen, skizziert hat, ungenutzt lassen. Wie sähe aber eine solche schöne politische Kunst heute aus? Ich möchte das abschließend an einem Beispiel verdeutlichen, nämlich an Thomas Hirschhorns Gramsci Monument (2013, New York). Das Gramsci Monument ist Hirschhorns vierte Konstruktion in einer Folge, die mit Spinoza 1999 in Amsterdam begann und sich dann über Deleuze 2000 in Avignon und Bataille 2002 in Kassel fortsetzte. Jedes Mal bettete Hirschhorn seine Monumente in eine betont ärmlich soziale Umgebung ein, diesmal war es ein Housing Project in der South Bronx, die Forest Houses. Dort errichtete er eine Art Bretterstadt, inklusive einem kleinen Museum mit Gramsci-Memorabilien und einer Bücherei, einer Bühne für Vorträge und Performances (die mit Namen von Intellektuellen wie Alexander Kluge, Gilles Deleuze und Heiner Müller beklebt war – die in der South Bronx natürlich keiner kennt – und von der Berliner Philosoph Marcus Steinweg Vorträge hielt), einer Zeitungsredaktion und -presse, einer Radiostation, einem Klassenzimmer, einem Planschbecken für Kinder, einem Essens-Kiosk und anderem mehr – insgesamt eine richtige Stadt in der Stadt, errichtet von den Bewohnern und Bewohnerinnen der Forest Houses aus billigstem Bauholz, Plexiglas, geteerter Leinwand. Neben
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vielem anderem war das Gramsci Monument auch ein Idyll, beinahe ein locus amoenus der politischen Beschaulichkeit. Hirschhorn hat ja stets betont, es handle sich beim Gramsci- und den früheren Monumenten nicht etwa um Sozialarbeit oder auch nur sozial engagierte Kunst, sondern um »reine Kunst«, ja um eine Feier der Form und nicht etwa um politische Botschaften und eine irgendwie messbare Veränderung der Welt. Thomas Hirschhorn »Gramsci Monument«, 2013, Running Event: Glenn Ligon, Forest Houses, Bronx, New York
© VG Bild-Kunst, Bonn 2016 | Foto: Dia Art Foundation, Romain Lopez
Der Kritiker des New Yorker, Peter Schjeldahl, schrieb in seiner ansonsten sympathisierenden Besprechung: »The monument is art in the mind rather than of the eye. Hirschhorn has a slogan: ›Energy = Yes! Quality = No!‹ His penchant for wrapping things in miles of irredeemably ugly packing tape neatly exemplifies both principles. Beauty has no evangelist in Hirschhorn. Nor does humor …«20
20 | Schjeldahl, Peter: »House Philosopher. Thomas Hirschhorn and the ›Gramsci Monument‹«, in: The New Yorker, 29.07.2013, www.newyorker.com/magazine/2013/07/29/ house-philosopher (Stand 02.04.2016).
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Thomas Hirschhorn »Gramsci Monument«, 2013, Gramsci Bar, Forest Houses, Bronx, New York
© VG Bild-Kunst, Bonn 2016 | Foto: Dia Art Foundation, Romain Lopez
Das fand ich nur zum Teil berechtigt. Das Monument ist politische Kunst par excellence, es repräsentiert, in Stein gemeißelt, den Willen des Souveräns. Und es war nicht Hirschhorns Absicht, sich über das politische Kunstobjekt ›Monument‹ kritisch oder distanzierend hinwegzusetzen, im Gegenteil: Er restituierte an unwahrscheinlicher Stelle und in Gestalt einer, man könnte sagen, Bruchbude, den politischen Ernst und die schöne Sittlichkeit des Monuments. Das Gramsci Monument, das man nur einen Sommer hindurch sehen konnte, ehe es für immer verschwand, unterschied sich vorteilhaft von vielen anderen Manifestationen der Gegenwartskunst: sowohl von den geldgetriebenen, fetischistischen Praktiken der Messen und Märkte, wie auch von den vielen konzeptuell getriebenen, seminaristischen Forschungspraktiken, die tausend Fragen aufwerfen, ohne ihnen eine Form zu geben. Das Gramsci Monument stand auch, trotz aller scheinbaren Verwandtschaft, weit entfernt von der üblichen Partizipationskunst. Zwar durften hier alle mitmachen wie selten irgendwo sonst, aber doch nicht im Sinne einer ›empowernden‹ social practice, sondern, um nochmals Gadamer aufzurufen, wie bei einem Fest, bei dem der Festmeister natürlich viele Helferinnen und Helfer braucht. Das Gramsci Monument war sicher eines der unzynischsten und hochgestimmtesten Ereignisse der neueren Gegenwartskunst, und zugleich eines der
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formvollendetsten. Insofern würde ich Schjeldahl widersprechen: Hirschhorn ist ein Evangelist der Schönheit, freilich nicht des Material- und InstallationsSchönen, sondern ein Evangelist der politischen Schönheit, die allerdings Politik und Schönheit gleichermaßen auf verlorenem Posten zeigt. Mit Gramsci ist politisch in der Bronx überhaupt nichts zu gewinnen. Die politische Aussichtslosigkeit erhöhte die Schönheit seiner Aktion beträchtlich. Nie ist man dem zeitgenössischen Kunstschönen als Spiel, Symbol und Fest näher gewesen als bei Thomas Hirschhorns Gramsci Monument in New York. Das lässt für eine künftige Politik des Schönen hoffen.
Solidarische Mobilmachung. Kunst, Vokabularpolitik und Resolidarisierung nach Richard Rorty Alexander Koch Kontingenz, Ironie und Solidarität, dieses Buch von Richard Rorty, erschienen 1989, ist seit fast zwanzig Jahren die wichtigste Quelle für mein Denken über die soziale Funktion der Kunst. Und seit fast zwanzig Jahren wundere ich mich, wieso dieses Buch in der Kunstwelt so wenig gelesen wird.1 Denn es hilft uns ein großes Stück weiter dabei, die Frage in ein sinnvolles Licht zu rücken, warum – und wie – die Kunst an der Gestaltung sozialer Wirklichkeit beteiligt ist. In Diskussionen über das Politische der Kunst, über ihre gesellschaftliche Relevanz und ihren gesellschaftlichen Auftrag, falle ich immer wieder auf Rorty zurück. Oft kopfschüttelnd, weil mir nicht einleuchtet, warum diese Diskussionen noch einmal um Probleme kreisen, die man nach Rorty nicht mehr haben muss und nicht mehr haben sollte. Ich will zeigen, warum. Ich werde Rortys Position rekapitulieren, um vorzuschlagen, dass nach ihm über Kunst zu sprechen für mich bedeutet, über Solidarität zu sprechen.
1 | Dass meine Vorliebe für Rorty in der Kunstwelt bislang nur begrenzt auf Gegenliebe traf, lag vielleicht daran, dass sich der US-Intellektuelle zu Hause zum Liberalismus bekannte, im europäischen Kontext also zur Sozialdemokratie, und von dieser politischen Lagerzuschreibung erhofft man sich heute wenig Gutes. Vielleicht stand seiner Rezeption auch im Wege, dass er kaum je ein Wort über die bildende Kunst geschrieben hat, sein Bezugspunkt war die Literatur. Vielleicht fand der Vertreter des Neo-Pragmatismus aber auch deshalb in der Kunstwelt nicht viele Anhänger, weil ihn kaum jemand gelesen hat. In den einschlägigen Kunst- und Theoriebuchhandlungen findet man ihn bis heute genauso selten wie in den Fußnoten der dort gehandelten Schriften. Bemerkenswert, denn in den Vereinigten Staaten gilt er als einer der einflussreichsten und kontroversesten Denker der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, auf Augenhöhe mit Habermas, Derrida und Foucault.
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D ie K ontingenz des G emeinwesens Rorty beschrieb in dem besagten Buch eine dreifache Kontingenz: die Kontingenz der Sprache, die Kontingenz des Selbst und die Kontingenz des Gemeinwesens. Kontingenz meint, dass sich über diese drei Dimensionen des Sozialen nicht mehr sagen lässt, als dass sie aus bestimmten historischen Gründen wurden, was sie sind, ohne Notwendigkeit, letztlich ein Produkt der Zeit, das auch anders hätte ausfallen können. Rorty beschrieb die abendländische Kultur als eine lange Reihe von Versuchen, dieser Kontingenz ein Schnippchen zu schlagen, indem sich kluge Köpfe gegenseitig versicherten, sie könnten, da sie rationale Wesen seien, durch ausreichendes Nachdenken und Debattieren zu wahren und endgültigen Aussagen über die Welt, das Sein und den Menschen gelangen: zu letzten Gründen, zu finalen Sätzen über das Wesen der Dinge, zu einem »abschließenden Vokabular«.2 In Rortys Augen war es Platon, der alle seine Nachkommen mit dem faszinierenden Gedanken ansteckte, einigen besonders begabten Denkern könnte es gelingen, so vernünftig zu sprechen und zu schreiben, dass ihre Worte nicht nur eine Beschreibung der Wirklichkeit lieferten, sondern eine Beschreibung der Wirklichkeit, wie sie wirklich ist. Dieser verdoppelte Wirklichkeitsbegriff eines privilegierten Zugangs zu Wahrheit und Objektivität hat von der klassischen Metaphysik bis zur Analytischen Sprachphilosophie abendländische Intellektuelle dazu verleitet, in ihren Gesprächen mehr sehen zu wollen als nur die Wiederholung und Erneuerung von Symbolen und Metaphern, die sich vorangegangene Generationen ausgedacht haben, um kommunikativ miteinander klar zu kommen. Rorty teilte die Faszination für Platons Idee. Geschult an Wittgenstein und an Deweys Pragmatismus meinte er aber, wir sollten Platons Gedanken fallenlassen und unsere metaphysische Begeisterung bändigen. Er fand, wir wären besser dran, wenn wir das Konzept sprachlicher Repräsentation eintauschten gegen die schlichtere Vorstellung, dass wir Worte gebrauchen, um Probleme zu lösen. Rorty sah in dem abschließenden Vokabular einer Person oder einer Gemeinschaft nicht mehr als deren aktuelle Fähigkeit, aus einem kontingenten Reservoir ererbter und neu hinzugefügter Sätze Aussagen zu bilden, mit denen sie sich bis auf Weiteres identifizieren können und die so lange Verwendung finden, wie sie relativ reibungslos funktionieren. Ändern sich die Erfahrungen, die Herausforderungen und die Ziele einer Gemeinschaft oder eines Individuums, ändert sich deren abschließendes Vokabular. Sie nehmen Abstand von Aussagen und Überzeugungen, die sich überlebt haben, und beginnen, sich selbst und ihre Lebensumstände anders zu beschreiben als bislang. Rortys Antiessentialismus lief darauf hinaus, das Verständnis unserer eigenen 2 | Rorty, Richard: Contingency, Irony, and Solidarity, Cambridge: Cambridge University Press 1989, S. 73ff.
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Sprache von dem Phantasma zu befreien, sie verdanke sich höheren Instanzen als unseren eigenen Bedürfnissen und Absichten. Er votierte dafür, dass wir an Vokabularen arbeiten sollten, die diesen Bedürfnissen und Absichten gerecht werden, ohne so zu tun, als ginge es dabei um etwas Grundsätzliches. Was für die Sprache gilt, gilt auch für das Selbst. Für Rorty war das Selbst ein variables Netz aus idiosynkratischen Überzeugungen und Hoffnungen, die nirgends objektive Wurzeln besitzen und die wir größtenteils irgendwo aufgeschnappt haben. Eine Ansammlung von Erlebnissen und von erinnerten Bildern und Sätzen, die uns teils bewusst sind, teils nicht, und die wir unser Ich nennen. Subjektivität verstand er nicht als des Menschen inneren Kern, der sich ausgraben ließe, vorausgesetzt man kenne die Stelle, an der man zu graben hätte. »Tief unten in uns ist nicht mehr als das, was wir selbst [und andere, A.K.] dorthin gelegt haben«.3 In dem Streben nach persönlicher Autonomie sah Rorty den Wunsch eines Subjekts, sich die Erzählungen anzueignen, in denen es vorkommt und die die Grenzen seines Selbstverständnisses markieren, und diesen Erzählungen neue Wendungen zu geben. Wir emanzipieren uns nicht von den Beschreibungen, die andere von uns verfasst haben, indem wir auf die vermeintliche Essenz unseres Daseins stoßen, sondern indem wir diese Beschreibungen umdeuten, variieren, und unvorhergesehene Passagen hinzufügen. Die Neubeschreibung des Selbst ist nicht die Geburt einer autonomen Subjekterzählung, sondern Kritik an den Motiven und Stilen all jener, die an unserer Geschichte mitgeschrieben haben. Gleiches gilt für das Gemeinwesen. Wie wir sehen werden allerdings mit Konsequenzen, die schwieriger zu akzeptieren sind als die narzisstische Kränkung eines Selbstbewusstseins in Anbetracht seiner eigenen Kontingenz. Auch Gemeinschaften stehen Rorty zufolge auf nicht mehr als auf den Schultern beweglicher Erzählungen darüber, an welcher Stelle sie die Grenzen zwischen solchen Menschen ziehen, zu denen sie »Wir« sagen, und anderen Menschen, die sie »die Anderen« nennen. Aus antiessentialistischer Sicht gibt es keine Handhabe, bestimmte Formen von Gemeinschaft deshalb zu privilegieren, weil sie rational besser begründbar seien als andere und beim ziehen ihrer Grenzen dem Wesen des Menschen gerechter werden. Das gilt auch für die Demokratie. Vorstellungen von Gleichheit, Gerechtigkeit und Selbstbestimmung sind nicht Ausdruck einer Vernunft, der es gelungen ist, die Prinzipien wahrer Humanität zu erkennen und auf der Höhe des richtigen Lebens anzukommen. Diese Vorstellungen sind Kulturgüter, die ihre Entstehung einer langen Reihe von sozialen Kämpfen und politischen Prozessen, Büchern und Kunstwerken, Disputen und Übereinkünften verdanken – und nicht etwa philosophischen Belegen dafür, dass Demokratien die richtige Art und Weise kollektiver Orga3 | Rorty, Richard: Consequences of Pragmatism. Essays 1972-1980, Minneapolis: University of Minnesota Press 1982, S. xiii.
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nisation verkörpern, während Nichtdemokraten diese Belege nicht wahrhaben wollen. Berühmt wurde in diesem Zusammenhang Rortys Dissens mit Jürgen Habermas über die Universalität der Menschenrechte. Während Habermas annahm, in einer vernünftigen Kommunikationssituation würde jedwede Gruppe von Gesprächsteilnehmern zwangsläufig zu der geteilten Einsicht gelangen, dass jeder Mensch über unveräußerliche Rechte verfüge, sah Rorty in solchen Rechten nicht mehr und nicht weniger als die normative Entscheidung einer relativ großen Gruppe von Leuten, in einer Welt leben zu wollen, in der solche Rechte von geeigneten Institutionen garantiert werden. Universell an ihnen ist nicht, dass sie jenseits von Raum und Zeit und unabhängig von juristischen Diskursen existieren, sondern dass wir uns darauf geeinigt haben, sie voraussetzungslos allen Menschen zuzuschreiben. Vertretern anderer Überzeugungen entgegenzuhalten, sie lägen falsch und würden uns früher oder später beipflichten, wenn sie nur unbehelligt und lange genug grübelten, hielt Rorty für aussichtslos. Er ersetzte die Unterscheidung zwischen richtigen und unrichtigen Auffassungen darüber, wie wir miteinander umgehen sollten, durch die Unterscheidung zwischen solchen Arten des Umgangs miteinander, die in den Augen einer Gemeinschaft in Einklang mit ihren Vorstellungen von einer lebenswerten Welt stehen, und anderen Arten des Umgangs, die diesen Vorstellungen widersprechen. In den Augen mancher Kritiker gab Rorty damit die Chance auf, einen verbindlichen moralischen Standpunkt einzunehmen, mit dem sich etwa demokratische Werte unabhängig vom jeweiligen historischen Kontext gegen Totalitarismen verteidigen ließen. Worauf könnte Solidarität mit Menschen fußen, die von anderen Menschen grausam behandelt werden, wenn es keine verbindliche Basis gibt, von der aus sich solcher Grausamkeit entgegentreten ließe? Tatsächlich glaubte Rorty nicht nur daran, dass sich keine ahistorischen Prinzipien ausmachen lassen, in denen wir unsere Worte, unser Selbstbild und unseren kollektiven Zusammenhalt ein für alle Mal verankern können; er fand auch, dass wir solche Prinzipien nicht benötigen, ja, dass es ein Angriff auf die Demokratie sei, sie zu fordern. Die Beantwortung der Frage, wer wir sind, was wir denken sollen und wie wir handeln können, wird ohne den Rückgriff auf letzte Gewissheiten nicht etwa aussichtslos. Im Gegenteil. Wenn wir uns die Sehnsucht nach solchen Gewissheiten abgewöhnen, beginnt das offene Gespräch, in dessen Verlauf wir die für uns entscheidenden Fragen selbst beantworten und dabei zu dem Schluss kommen können, ein solidarisches Gemeinwesen für so wünschenswert zu halten, dass wir bereit sind, leidenschaftlich dafür zu streiten. Warum aber sollten wir überhaupt zu diesem Schluss kommen? Wenn nicht durch Gewissheit, wie sonst sollten wir zu der
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Auffassung gelangen, solidarisch sein zu wollen und Metaphern der Solidarität in unseren Wortschatz aufzunehmen?4 Erstens: Rorty beschrieb die intellektuelle Position, die ihm für eine demokratische und postmetaphysische Kultur vielversprechend schien, indem er die Figur der »Liberalen Ironikerin«5 einführte. Ironikerinnen sind in Rortys Vokabular Menschen, die in ihren tiefsten Überzeugungen nicht mehr sehen als kontingente Artefakte und die dennoch Willens sind, unerschrocken für diese Überzeugungen einzustehen. Ironikerinnen glauben nicht daran, dass sie irgendwo ein Buch finden werden, in dem sich finale, ewig gültige Sätze darüber nachlesen lassen, wie sie mit sich und anderen umzugehen haben. Das hindert sie nicht daran, bestimmte Formen des Umgangs zu fordern und andere abzulehnen. Liberale Ironikerinnen treten laut Rorty für die Idee ein, dass die Vorstellung einer Gemeinschaft von Menschen, in der Freiheit, Macht und Vermögen ungefähr gleich verteilt sind, die beste Gemeinschaft wäre, die sich vorstellen lässt, und dass diese Gemeinschaft so viele Menschen umfassen sollte, wie irgend möglich. Liberale Ironikerinnen verschreiben sich dem Ziel, die Anzahl der Menschen, denen sie sich verbunden fühlen, so weit zu fassen, wie sie können. Dass dieses Ziel ›nur eine Idee‹ ist, tut der Überzeugung keinen Abbruch, diese Idee so gut zu finden, dass man sie zur Prämisse erklärt. Zweitens: Damit das gelingt, schlug Rorty vor, sollten wir unser privates Bedürfnis nach Autonomie und Gewissheit – die Hoffnung auf ein abschließendes Vokabular, das der eigenen Sprache, dem eigenen Selbst und den eigenen Zugehörigkeitsempfindungen eine unverrückbare Grundlage gibt – von dem öffentlichen Projekt einer sozialen Welt unterscheiden, in der Solidarität und Gleichheit die höchsten Güter sind. Er sah weder eine Chance noch eine Notwendigkeit dafür, unsere idiosynkratischen Begehren, Vorlieben und Glaubensgrundsätze in Einklang zu bringen mit den Begehren, Vorlieben und Glaubensgrundsätzen aller anderen. Die Mitglieder der durch und durch säkularen Kultur, die ihm vorschwebte, würden in der Lage sein, ihre intimen Fantasien und metaphysischen Sehnsüchte als Privatsache zu betrachten und darauf verzichten, andere damit zu behelligen. Stattdessen würden sie es als vordringliches Ziel eines Gemeinwesens betrachten, Leiden jedweder Form 4 | Das große Thema der Empathie und ihrer evolutionären und neuronalen Hintergründe lasse ich hier aus. Ohne Zweifel gibt es Gründe dafür, warum wir Solidarität empfinden. Und die gleichen Gründe enthalten auch Argumente dafür, warum Solidarität zu kleineren, näheren Gruppen von Individuen selbstverständlicher ist als Solidarität zu größeren und ferneren Gruppen von Individuen. Der Rekurs auf biologische oder psychologische Grundlagen von Solidarität würde an der Stoßrichtung meines Textes aber nichts ändern und schlimmsten Falls als Versuch gelesen, essentialistische Gründe für diese Stoßrichtung anzuführen. 5 | Rorty: Contingency, Irony, and Solidarity, S. 93ff.
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und zu jedweder Zeit als das Schlimmste anzusehen, das Menschen einander antun können, und an einer Gesellschaftsformation zu arbeiten, die dieses Leiden minimiert. Drittens: Man kann nicht sagen, dass derzeit viele Gesellschaften de facto auf dem Weg sind, dieses Ziel anzusteuern. Was die USA betrifft, machte sich Rorty wenig Illusionen. 1996 schrieb er: »Wenn ich zu wetten hätte, welches Land als nächstes faschistisch wird, würde ich wohl auf die Vereinigten Staaten wetten.«6 Der entscheidende Punkt für unser Thema ist aber, dass wir Rortys Ansicht nach soziale Grausamkeit nicht dadurch überwinden, dass wir objektive, rationale Gründe dafür finden, warum sie falsch ist, sondern dass wir eine Leidenschaft für die Vorstellung entwickeln, in einer Welt zu leben, in der Grausamkeit nicht vorkommt. Eine solche Leidenschaft werde nicht dadurch entfacht, dass einige Leute anderen Leuten weismachen wollen, sie hätten Beweise dafür gefunden, warum bestimmte Überzeugungen und Lebensweisen besser sind als andere. Entfacht werde sie vielmehr durch eine gesteigerte Sensibilität für die Gewalt und Entwürdigung, die uns und anderen widerfährt. Diese Empfindlichkeit mache es schwerer, fremde Menschen als Personen zu betrachten, die anders fühlen als man selbst und deren Glück weniger schwer wiegt als das Glück von Freunden und Nachbarn. Viertens und letztens: Aus diesem Grund kann Rorty zufolge die Philosophie wenig zum Projekt eines solidarischen Gemeinwesens beitragen, solange sie sich als rationale Begründungsdisziplin begreift anstatt als ein Genre inspirierender Literatur: als eine Sorte von Texten zwischen anderen Sorten von Texten, deren Relevanz nicht darin liegt, dass die einen der Wahrheit näher kommen als andere, sondern dass manche von ihnen eine Passion für soziale Veränderung entfachen und andere nicht. Rorty traute Romanen wie Vladimir Nabokovs Lolita und George Orwells 1984 zu, mehr Menschen empfindsam für das Leben, die Leidenschaften und die Qualen anderer Menschen zu machen als erkenntnistheoretische Schriften. Deshalb sollten Philosophen damit aufhören, in solchen Schriften nach Anhaltspunkten für etwas zu suchen, das unseren Ideen und Taten übergeordnet ist. Sie sollten ihre Arbeit stattdessen dem widmen, was Rorty Kulturpolitik nannte: Debatten darüber, welche Vokabulare ihnen brauchbar erscheinen für die Umsetzung gemeinsamer sozialer Ambitionen, welche Kräfte auf diese Vokabulare Einfluss nehmen, und wie sich diesen Kräften beispringen oder entgegentreten lässt. Zusätzlich sah Rorty in »starken Dichtern« 7 (Beispiele sind für ihn u.a. Sigmund Freud und Karl Marx) die Urheber neuer Vokabulare, von denen viele anfangs auf Ablehnung 6 | Rorty, Richard: »Emancipating our Culture«, in: Jozef Niznik/John T. Sanders (Hg.): Debating the State of Philosophy: Habermas, Rorty, and Kolakowski, Westport: Praeger 1996, S. 29. 7 | Rorty: Contingency, Irony, and Solidarity, S. 28ff.
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stießen und manche im historischen Prozess zum Allgemeingut wurden. Damit ist in diesem Text die gedankliche Absprunghöhe erreicht, auf die ich es abgesehen hatte.
V ok abul arpolitik Rortys philosophischer und politischer Antiessentialismus ging einher mit einer antirepräsentationalen Auffassung von Sprache und von Texten, die wir getrost auf eine antirepräsentationale Auffassung von Praxen und Objekten übertragen können, auch (und gerade) von ästhetischen.8 Diese Auffassung läuft darauf hinaus, in der Kunst nicht mehr und nicht weniger zu sehen als einen Ausschnitt des kontingenten Vokabulars, mit dessen Hilfe wir uns ein Bild davon machen, wer wir sind und was wir tun, und welcher Art unsere Beziehungen sind zu den Ideen, den Menschen und den Dingen, die uns begegnen oder die wir hervorbringen, einschließlich der Dinge, die wir nicht verstehen. Aus antirepräsentationaler Perspektive habe ich keine Mühe mit dem Umstand, dass künstlerische Praxen und Objekte dies auf spezifische Weise tun, kann aber nicht erkennen, warum dieser Weise etwas von besonderer Tiefe und Wahrheit zu eigen sein soll, etwas, das mehr wäre als nur unser eigenes Produkt, ein Produkt von Zeit und Zufall. Aus dieser Perspektive kann ich auch nichts mit der Unterscheidung zwischen solchen ästhetischen Verfahren oder Gegenständen anfangen, die die Wirklichkeit ›nur beschreiben‹, anderen, die sie ›beschreiben, wie sie wirklich ist‹ und wieder anderen, die sie kritisieren, transzendieren, hinterfragen, herstellen, dekonstruieren und was sonst man der Kunst noch so nachsagt. Ich kann hingegen einen großen Unterschied erkennen zwischen solchen ästhetischen Verfahren und Gegenständen, die uns gegen unsere eigene Grausamkeit und die anderer Leute aufbringen und ein solidarisches Vorstellungsvermögen mobilisieren können, und anderen, die das nicht können oder nicht wollen. Mit anderen Worten: Der Witz an der Kunst ist aus antirepräsentationaler Sicht, dass sie die Vokabulare mitverfasst, mit denen wir uns identifizieren und in denen wir uns und unser Gemeinwesen beschreiben. Vokabulare, die unserer Wahrnehmung, unserem Denken und unserem Tun eine Richtung geben, und die Künstlerinnen und Künstler aufgreifen, variieren und manchmal verwerfen, um neue vorzuschlagen. Was immer sich an diesen Vokabularen und 8 | Rorty selbst tat das nicht oder kaum. Das erschien mir immer als Mangel, weil die eigentliche Relevanz seiner Position für die Kunst erst dann Gestalt annimmt, wenn man seine Argumente vom Gegenstandsbereich der Philosophie und Literatur auf den Gegenstandsbereich der Kunst transponiert. Und das hat seine Tücken, von denen es mir lieber gewesen wäre, Rorty selbst hätte sich mit ihnen beschäftigt.
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an ihrem Gebrauch verändert, ändert die Art und Weise, wie wir uns und andere sehen und wie wir letztlich leben. Deshalb betrachte ich Interventionen in das Metaphernwerk, mit dessen Hilfe sich ein Gemeinwesen ein Bild von sich macht, als Interventionen in dessen Realität. Aus der Sicht eines antirepräsentationalen Kunstbegriffs ist die Frage folglich nicht, ob die Kunst am gesellschaftlichen Prozess teilnimmt und dessen Verlauf beeinflusst, sondern ob sie das auf eine Weise tut, die uns der Vorstellung einer Gesellschaftsformation näher bringt, die uns lieber ist als die aktuelle. Meist geht ein Gemeinwesen nur Wege, die zu gehen es sich bereits ausmalen kann.9 Ohne einen imaginativen Horizont sind eine andere Zukunft, ein anderes Selbst, eine andere Gemeinschaft kaum denkbar und schwer machbar. Und der Entwurf solcher Horizonte liegt innerhalb des Möglichen ästhetischer Praxen, Objekte und Diskurse. Die Pointe des von mir mit Rorty vorgeschlagenen Kunstverständnisses liegt also darin, in ästhetischen Gegenständen und Handlungen Mitspieler dessen zu sehen, was ich Vokabularpolitik nenne:10 die soziale Auseinandersetzung um kontingente und widerstreitende Varianten gesellschaftlicher Selbstbeschreibung, die auf verschiedene Möglichkeiten des Zusammenlebens hinauslaufen. In dieser Sichtweise ist für mich die Frage nach der gesellschaftlichen Funktion der Kunst und nach ihrer möglichen Politisierung hinreichend beantwortet. Eine tiefere Ebene – oder eine bessere theoretische Fundierung – des Poltischen der Kunst, oder ihrer ›Kritikalität‹, brauche ich nicht. Ich bin vollauf zufrieden damit, die Kunstwelt als eine der Arenen zu betrachten, in denen unsere Wirklichkeit umkämpft und unsere Zukunft ausgehandelt werden. Und ich finde die Vorstellung überaus hilfreich, dass in diesen Verhandlungen unterschiedliche Vokabulare subjektiver und gesellschaftlicher Imaginationskraft im Spiel sind – unter anderem in Form von Werken, deren Präsentationen und der Kommunikationen über sie – von denen keines behaupten kann, mehr rechtens zu sein als ein anderes, und von denen wir dennoch manche hilfreich und nützlich, andere unnütz, und einige ärgerlich finden werden. Was wir hilfreich und was wir ärgerlich finden sollten, darüber lässt sich streiten. Ich stelle mir mit Begeisterung eine (Kunst-)Welt vor, in der dieser Streit geführt wird und in der niemand mehr meint, es ginge dabei um etwas anderes als um Vergleiche, Revisionen und Ergänzungen bestehender Vokabulare und deren Fähigkeiten, unseren sozialen Ambitionen und Visionen auf 9 | Vgl. Castoriadis, Cornelius: Gesellschaft als imaginäre Institution. Entwurf einer politischen Philosophie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1990. 10 | Vgl. Koch, Alexander: »Kunstfeld 4. Die Privatisierung der Subjektivation und die taktische Öffnung des Feldes«, in: Beatrice von Bismarck/Alexander Koch (Hg.): Beyond Education. Kunst, Ausbildung, Arbeit und Ökonomie, Frankfurt a.M.: Revolver 2005, S. 145-164.
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die Sprünge zu helfen. Rorty hatte nicht den Eindruck, dass es dabei möglich oder hilfreich sei, Konflikte zwischen konkurrierenden und sich einander widersprechenden Vokabularen auszuräumen, indem man sie an vermeintlich objektive Instanzen wie den Lauf der Geschichte, den rationalen Konsens oder die menschliche Vernunft erinnert und so auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen meint. Der Antagonismus zwischen den Anhängern verschiedener sozialer Vorstellungswelten und Ziele war in seinen Augen unauflösbar. So sieht es auch Chantal Mouffe,11 die wie Rorty den Vorzug demokratischer Kulturen als deren Fähigkeit beschrieben hat, Antagonismen zu akzeptieren und institutionell zu legitimieren. Im demokratischen Dissens werden Mouffe zufolge Kontrahenten dadurch zu Gegnern statt zu Feinden, dass sie ihren Konflikt in einer gemeinsam anerkannten Arena gewaltfrei austragen können, anstatt sich irgendwo die Köpfe einzuschlagen. Als liberale Ironikerin und Antiessentialistin pflichtet Mouffe Rorty bei, dass eine emanzipative Vokabularpolitik in nicht viel mehr bestehen könne als dem Versuch, starke Gefühle und Leidenschaften für solidarische Ideale zu entfachen und das eigene liberale, pluralistische Vokabular so attraktiv zu machen, dass es Aussicht auf Verbreitung hat. Damit bekommt der Begriff der Vokabularpolitik sein eigentliches Profil. Ob bei der Aushandlung unserer Zukunftsaussichten Metaphern und Visionen die Oberhand gewinnen, in denen Solidarität eine zentrale Rolle spielt, entscheidet sich daran, ob eine ausreichend große Zahl von Menschen ihre Vorstellungskraft und Passion für solche Visionen mobilisieren kann, und ob wir Metaphern verwenden, die diese Mobilisierung voranbringen. Rorty fand, dass wir dabei weiterkommen, wenn wir eine gerechtere Welt in Worten und Bildern beschreiben, die für möglichst viele Menschen so ergreifend, anziehend und plausibel sind, dass diese sich eine weniger gerechte Welt nicht mehr vorstellen mögen und vielleicht nicht mehr vorstellen können, und entsprechend denken, handeln und sich organisieren. Zugleich sollten wir eine Sprache für unsere eigenen und anderer Leute Grausamkeiten finden, die uns diese ein für alle mal verleidet. Produzierende und Beobachtende der Kunstwelt sollten sich nicht zu schade sein, die Mobilisierung und Verbreitung solidarischer Fantasien als ihr vordringliches Ziel zu betrachten und ihm alle anderen Ziele unterzuordnen.
11 | Vgl. Mouffe, Chantal: »Dekonstruktion, Pragmatismus und die Politik der Demokratie«, in: Chantal Mouffe (Hg): Dekonstruktion und Pragmatismus, Wien: Passagen Verlag 1999, S. 26ff.
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R esolidarisierung Wer nun argwöhnt, mein Plädoyer für eine Solidarische Mobilmachung wolle ästhetische Praxen vor den Karren kommunitaristischer Propaganda spannen, kann unbesorgt sein. Genau solche Fehlschlüsse hoffe ich dank Rorty aus dem Weg schaffen zu können. Auch wenn die Kunst ein vokabularpolitisches Werkzeug ist, liegt mir fern, sie zu instrumentalisieren, noch sollte uns die Kunst vorbuchstabieren, wie wir zu leben haben. Ich denke auch nicht, dass wir weiterkommen, indem wir solidarische Werke und Kunstformen von nichtsolidarischen per se unterscheiden. Ich denke nicht, dass wir das können, noch sollten wir es. Ich glaube aber, dass sich Mitglieder einer postmetaphysischen Kultur, die ihre Vokabulare und Gemeinschaftsformen als kontingent betrachten, normativ entscheiden müssen, welche Kunst sie für gut und richtig, sinnvoll und bedeutsam halten, und welche nicht. Für Antiessentialisten kann diese Entscheidung auf nichts anderem beruhen als auf ihren eigenen Bedürfnissen, Überzeugungen und Absichten. Antiessentialisten, die zugleich Ironikerinnen sind, verzichten darauf, abschließende Gründe für diese Entscheidung anzugeben und raffen sich dazu auf, sie selbstbestimmt zu treffen. (Antiessentialisten, die z.B. Freud oder Foucault gelesen haben, fügen hinzu, das diese Selbstbestimmung Grenzen hat.) Liberale Ironikerinnen werden für eine Kunst plädieren, die sie und andere dem Ziel näher bringt, fairer, aufmerksamer, und weniger sadistisch zu sein; und sie werden diejenigen künstlerischen Formen und Ausdrucksweisen gut und bedeutsam finden, die mit ihren solidarischen Ambitionen in Einklang stehen, und alle anderen als verzichtbar oder als ärgerlich betrachten. Deshalb sagte ich eingangs, dass nach Richard Rorty über Kunst zu sprechen, für mich darauf hinausläuft, über Solidarität zu sprechen. Nicht, weil Kunst und Solidarität automatisch auf dem gleichen Blatt stehen, sondern weil ich finde, dass sie es sollten. Denn wenn unsere Wirklichkeit abhängt von unserem Vorstellungsvermögen, wenn unser Vorstellungsvermögen abhängt von dem Vokabular, das ihm zur Verfügung steht, und wenn Vokabulare von uns gemacht werden, auch mittels Kunst, dann trifft das Gleiche auf unsere Wirklichkeit zu – und dann ist jede solidarische Wendung im Reservoir gesellschaftlicher Vorstellungskraft ein Schritt in eine Welt, die sich von Grausamkeiten distanziert. Und darauf will Emanzipation meines Erachtens hinaus. Rortys Antiessentialismus steht meinem Gefühl nach völlig im Einklang mit der Art, wie immer mehr Menschen heute die Dinge sehen. Der Kontingenz der Sprache, des Selbst und des Gemeinwesens werden nur wenige ernstlich widersprechen. Und denen, die es tun schlage ich vor, die Öffentlichkeit mit ihrer Sehnsucht nach universeller Gewissheit zu verschonen und sie als Privatsache zu behandeln. Aber den Konsequenzen aus Rortys Position werden nicht alle gleich zustimmen. Für unseren Umgang mit Kunst bedeuten sie
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einen Perspektivwechsel. Ein großer Teil der künstlerischen Diskurse und Produktionen sowie der Texte und Gespräche, die sich mit ihnen befassen, trägt immer noch essentialistisches Erbgut. Was denn nun wirklich das Wesen der Kunst und ihr Verhältnis zur Wirklichkeit sei, was die eigentliche politische Bedeutung oder die wahre Qualität eines Werkes ausmache, worum es ›in‹ einer Arbeit ›geht‹ oder was ihr Autor wohl ›in Kopf hatte‹, all das sollten wir nach Rorty als Versuche auffassen, die Zwecke und Ziele unserer Argumente und Beziehungen zu verdunkeln und das Gespräch über sie mit dem Verlangen nach objektiven Aussagen, letzten Antworten und abschließenden Vokabularen abzuwürgen. Wer nach dem Politischen der Kunst fragt, sollte dabei nicht mitmachen. Die Kunstwelt wäre eine gänzlich andere, würde sie das Erbe rationaler Begründungsdiskurse über Bord werfen, so wie es Rorty für die Philosophie tat, und auf antiessentialistischen und antirepräsentationalen Prämissen auf bauen. Dann würden ihre Mitglieder jedes mal das Gespräch wechseln, wenn etwas von dem ins Spiel kommt, was wir üblicherweise tiefschürfend, elementar oder grundsätzlich finden. Fragen wie ›Was sind die Grenzen der Malerei?‹, ›Wie realistisch ist ein Dokumentarfilm?‹, oder ›Ist Jeff Koons wirklich ein guter Künstler?‹ würden dann hohl. Ich habe nicht den Eindruck, dass uns irgendetwas Entscheidendes entgeht, wenn wir sie im Wesentlichen unbeantwortet lassen. Nicht, dass uns keine Unterschiede zwischen Malerei und NichtMalerei, Dokumentarfilmen und Realität, oder zwischen guten und schlechten Künstlern einfallen würden. Ich denke nur, dass wir uns aus oben genannten Gründen nicht gemeinsam darüber die Köpfe zerbrechen sollten, ob diese Unterschiede grundsätzlicher Natur sind. Können wir deshalb schlecht schlafen, können wir Fragen dieser Art im Kreis von Freunden nachgehen. Öffentlich hingegen können und sollten wir beispielsweise darüber sprechen, wie wir zwischen der konzeptuellen Plausibilität einer Skulptur von Jeff Koons und den sozialen Zielen, die sie verfolgt, unterscheiden können, und ob wir diesen Zielen zustimmen. Ich halte es für eine hervorragende Idee, uns auf solche oder ähnliche Weise darüber zu streiten, welche Kunst wir gut finden und welche nicht. Dabei könnte eine Sozial- oder gar eine Solidargeschichte der Kunst hilfreich sein, die uns zu verstehen hilft, auf welchem Wege bestimmte Formen und Stile, Verhaltens- und Sichtweisen in die Welt kamen, für welche Gesellschaftsformation sie einstanden, warum sie sich durchsetzten und warum wir uns schließlich an sie gewöhnt haben. Und wie wir sie wieder loswerden können, falls uns das ratsam scheint. Wir sollten künstlerische Werke und Praxen, unseren Umgang mit ihnen und unsere Gespräche über sie, von diesem Ende her denken: An welchen sozialen Anordnungen wirken sie mit? Bringen sie Leute und Dinge, die sich fern liegen, gegenseitig komisch vorkommen, antagonistisch gegenüberstehen oder zu vermeintlich verschie-
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denen Ordnungen gehören, zusammen, belassen sie sie dort, wo sie sind, oder treiben sie sie weiter auseinander? Ich sehe mit Freude einer Kunstwelt entgegen, deren Mitglieder leidenschaftlich darüber diskutieren, welche Ausdrucksweisen eine Welt vorstellbar machen, die sie wollen, anstatt einer, die sie nicht wollen. Das erscheint mir nicht nur wünschenswert, sondern auch dringlich. Denn augenscheinlich erleben wir derzeit eine Krise der Solidarität, deren Verlauf für viele brenzlich wird und die nach neuen Sichtweisen und Verhaltensweisen, nach neuen Vokabularen und Metaphern verlangt, die den Radius der Leute, die sich gegenseitig als Ihresgleichen betrachten, erweitert statt verengt. Die aktuellen Muster sozialer Repräsentation und solidarischer Praxen und Empfindungen passen offensichtlich nicht mehr zu den Veränderungen während der letzten Jahrzehnte, von denen mir die Errichtung eines globalen Finanzfeudalismus, der gesellschaftlichen Zusammenhalt zerstört und zugleich immer gewaltsamer bürokratisch konstruieren muss, die wichtigste scheint. Es gibt viele Gründe dafür, warum wir eine historische Phase der Emanzipation unseres Gemeinsinns durchlaufen, der sich aus historischen Dispositiven und Institutionen verabschiedet. Familie, Glaubensgemeinschaft, Klassenbewusstsein, Staatsbürgerschaft, all diese Gravitationszentren für empfundene Mitgliedschaft und praktizierten Beistand verlieren ihre Anziehungskraft. Ich meine wir kommen weiter damit, wenn wir diesen Prozess nicht als Entsolidarisierung beklagen, sondern ihn als einen Epochenumbruch begrüßen und vorantreiben: als eine Ära der Resolidarisierung. Mit Resolidarisierung meine ich nicht die Reparatur zerrissener sozialer Bande und ihrer alten Ordnungen, sondern deren Wandel. Solidarität, Einfühlungsvermögen und Zugehörigkeitsbedürfnisse, Kooperationssinn und Kollektivität verschwinden nicht. Sie siedeln um in vorübergehende Milieus, in neue kommunikative Praxen, Projekte und Technologien, in eine Vielzahl neuer privater und öffentlicher Weisen, miteinander in Beziehung zu stehen, und in diverse neue Gründe, das zu tun. Sie ändern ihren Horizont und ihren Fokus, ihre Kriterien und Organisationsweisen, ihre Orte und ihre Temporalität. All das scheint zurzeit in Transformation. Die Kontingenz des Gemeinwesens ist eine global geteilte Erfahrung von immer mehr Menschen (von denen manche gerade deshalb zu Backlash-Bewegungen neigen), die andere Bezugspunkte und Narrative für die Neuausrichtung ihrer solidarischen Begehren und Kapazitäten suchen und finden. Allein das Internet, die OccupyBewegung oder aktuelle Migrationsbewegungen würden lange Exkurse darüber erlauben, wie sich das planetare soziale Gewebe restrukturiert. Was dabei herauskommt, ist offen.
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M obilmachung In dieser Situation ist die Kunst(-welt)12 in der Lage, Neubeschreibungen verschiedener Möglichkeiten des Zusammenlebens in die vokabularpolitische Arena zu tragen, die eine solidarische Mobilmachung beschleunigen statt bremsen. Dafür ist Rortys Erinnerung an die »starken Dichter« der Vergangenheit kein schlechter Beitrag. Er las Autoren wie Nietzsche und Proust als Menschen, deren Wunsch nach persönlicher Autonomie sie dazu veranlasst hatte, Bücher und Ereignisse der Vergangenheit nicht immer genauer und ›philosophischer‹ zu studieren, sondern immer phantasievoller. So lange, bis sie diese Bücher und Ereignisse in einer Sprache neubeschreiben konnten, die ihrem eigenen Willen entsprach, und die immer weniger mit der Vergangenheit zu tun hatte und immer mehr mit den Erfordernissen einer neuen Zeit, die nach ihrer Sprache suchte. Einer Sprache, die sich in Texten wie denen von Nietzsche und Proust erstmals zusammensetzte, ehe sie dann um sich griff. Auf ein Beispiel aus der bildenden Kunst übertragen, besteht diese Vorstellung von starker Dichtung darin, etwa die Werke von Paul Cezanne oder Kasimir Malewitsch als Versuche beider Künstler zu betrachten, alte Vokabulare der Repräsentation loszuwerden, indem sie diese so lange variierten und an veränderte Herausforderungen anpassten, bis beide schließlich ein jeweils neues Vokabular in Händen hielten, ein neues Werkzeug, das der aktuellen Situation besser gerecht wurde als die alten Werkzeuge, und das daher Schule machte. Von Thomas S. Kuhns Struktur wissenschaftlicher Revolutionen13 lieh sich Rorty die Idee, dass neue Werkzeuge dabei nicht nur bestehenden Zwecken besser dienen, sondern auch neue Zwecke hervorbringen, weil sich mit ihnen Dinge anstellen lassen, auf die man vorher gar nicht gekommen war. Solche »Revolutionen« oder »poetischen Augenblicke«,14 die wir heute wohl als performativ bezeichnen würden und die man früher auch Avantgardismus genannt hätte, machen einen Unterschied in der Weise, wie manche, und dann vielleicht viele, sich und andere sehen und beschreiben. Zu solchen Augenblicken, so Rorty, komme es vor allem in Situationen, in denen die Dinge nicht mehr richtig funktionieren, eine bisher gebräuchliche Sprache nicht 12 | Es fällt mir immer schwerer, zwischen Kunst und Kunstwelt (oder Kunstfeld) zu unterscheiden. Ich kann ästhetische Objekte und den gesellschaftlichen Gebrauch, in dem sie stehen, aus vielerlei Gründen immer erfolgloser als zwei verschiedene Dinge betrachten. 13 | Kuhn, Thomas S.: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1973 14 | Vgl. Rorty, Richard: »Deconstruction and circumvention«, in: Ders.: Essays on Heidegger and Others. Philosophical Papers, Bd. 2, Cambridge: Cambridge University Press, S. 88.
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mehr weiter hilft und plötzlich alles gleichzeitig zur Debatte steht, einschließlich der eigenen Sprache selbst.15 In diesen krisenhaften Situationen, und in einer solchen befinden wir uns, »beginnen die Leute, alte Wörter in neuer Bedeutung auszuprobieren, hin und wieder einen Neologismus einzustreuen und auf diese Weise eine neue Sprechweise zusammenzuzimmern«,16 von der Anfangs niemand wirklich sagen kann, wozu sie taugt, bis sie immer mehr Zeitgenossen so plausibel und hilfreich erscheint, dass sie sich diese Sprechweise zu eigen machen und sie irgendwann zum Common Sense wird. Rortys Idee von starker Dichtung mag einen altmodischen Autorenbegriff wiedergeben und kann und will ihre romantischen Wurzeln nicht verbergen. Trotzdem kann sie uns weiterhelfen hinsichtlich der offenen Resolidarisierungsprozesse unserer Zeit. Und sie nimmt Fahrt auf, wenn wir sie in Zusammenhang bringen mit den wenigen Seiten, auf denen Rorty über Philosophie, Kunst und Ästhetik mehr oder weniger in einem Atemzug schreibt. Rorty hatte die humanistische Idee zurückgewiesen, unser Gemeinsinn könne sich faktisch auf die ganze Menschheit erstrecken oder gar auf alles darüber hinaus. Es sei unwahrscheinlich, dass wir an irgendeinem Punkt damit aufhören würden zwischen Leuten zu unterscheiden, mit denen wir bestimmte Ansichten teilen und die wir als Teil unserer eigenen Wir-Gemeinschaft betrachten, und anderen Leuten, deren Ansichten wir beim besten Willen nicht nachvollziehen können und die in unseren Augen nicht zu ›Uns‹ gehören.17 Sich mit dieser Tatsache im Grunde abzufinden und unsere Anstrengungen darauf zu verwenden, innerhalb gegebener Verhältnisse »eine immer bessere, also auf ein menschfreundlicheres Leben zielende Umordnung jetzt bestehender menschlicher Beziehungen und Institutionen anzustreben«, das nannte Rorty das (politisch und moralisch) Schöne. Das Kunstschöne wäre demnach eine möglichst harmonische Anordnung ästhetischer Dinge und Momente, die diese Beziehungen und Institutionen in ein verständliches Licht rücken und sie auf eine Weise kritisieren, verbessern und umgestalten, die im Rah-
15 | Ebd. 16 | Ebd. 17 | Man hat Rorty zu Recht dafür kritisiert, dass er die Werte und Ziele seiner eigenen Wir-Gemeinschaft der liberalen US-Demokraten zu derjenigen sozialen Phantasie erklärte, die es emanzipatorisch weiter gebracht hat als andere Phantasien und daher Schule machen sollte. Zwar leuchtet es ein, dass wir für diejenigen Metaphern und Überzeugungen, die wir für großartige Errungenschaften halten, wie z.B. Gleichberechtigung oder Gesinnungsfreiheit, werben sollten um andere dazu zu bewegen, sie ebenso großartig zu finden. Aber es reicht nicht aus, sich zu der Gemeinschaft zu bekennen, deren Ideen einem am nächsten stehen, gleich wie großartig man sie findet, und diese Ideen anderen schmackhaft zu machen.
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men unserer Möglichkeiten (und unserer Sagbarkeit) liegt. Ein anderes Wort für dieses Schöne ist Reformismus. Dem gegenüber sah Rorty in dem Erhabenen etwas, das der Radikalität des revolutionären Ereignisses gleicht: »Die Suche nach Menschen und Institutionen von einer Art, über die wir keinerlei Einzelheiten angeben können, weil sie frei von Bedingungen sind, die wir uns noch nicht wegdenken können.«18 Die Unterscheidung zwischen Reformismus und Radikalismus, zwischen Schönem und Erhabenem, fällt dabei »ungefähr zusammen mit der Grenzlinie zwischen […] der Beteiligung an sozialen Verhaltensweisen, deren Normen man begreift, und Einladungen, diesen Verhaltensweisen den Rücken zu kehren«.19 Einladungen also zu performativen Momenten, von denen sich mit Kuhn sagen lässt, dass sie neue Zwecke und Ziele, neue Leidenschaften und Ordnungen in die Welt setzen. Für die solidarische Mobilmachung, die mir vorschwebt, birgt das Erhabene der Kunst demzufolge das Versprechen auf ästhetische Ereignisse eines universellen Wir, eines nicht sagbaren Unseresgleichen, einer unbegründbaren Solidarität irgendwo jenseits bestehender Normen und Verhaltensweisen. Einer Solidarität, deren Praxen, Objekte und Metaphern sich auf nichts berufen, das grundsätzlicher wäre als die Sehnsucht mancher Leute, selbst die Sorten von Grausamkeit und Trennung befremdlich zu finden, die wir uns heute noch nicht wegdenken können und die daher zu viele als normal erachten.
18 | Rorty, Richard: Die Schönheit, die Erhabenheit und die Gemeinschaft der Philosophen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2000, S. 33. 19 | Ebd. S. 16f. Eine solche Einladung kommt z.B. von Autoren wie Bruno Latour, die vorgeschlagen haben, wir sollten die Unterscheidung zwischen Objekt und Subjekt dahingehend überdenken, dass wir Gegenstände, Gebäude und Städte, Technologien und Algorithmen, den Anstieg des Meeresspiegels, das Ozonloch, und vieles mehr als soziale Akteure und als Subjekte begreifen können, mit denen wir interagieren und in Beziehung stehen. Bringen wir diese Einladung mit der Vorstellung zusammen, dass wir in einer Zeit der Resolidarisierung leben, ergibt sich ein ungewohnter, aber vielversprechender Horizont für die Frage, wie weit der Kreis all derer und all dessen reicht, zu denen und zu dem wir ›Wir‹ sagen, bzw. wie groß der Radius all jener Dinge und Geschehnisse ist, in denen wir vorkommen.
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III. Kunsttheorie, Kunstgeschichte und Kunstkritik
Kunst und Kritik. Das Problem in Rancières politischer Kunsttheorie und eine Erinnerung an Adorno Ines Kleesattel Sich mit der Frage nach dem Verhältnis von Kunst und Politik heute Jacques Rancière zuzuwenden, scheint überaus naheliegend. In den letzten zehn Jahren avancierte Rancière zum vielzitierten Stichwortgeber und regelrechten Theoriestar in Kunstdiskursen und Kunsthochschulen; er gilt als Gewährsmann der These, dass Kunst aus sich selbst heraus (und nicht etwa durch bestimmte Funktionen, die man ihr aufträgt) politisch ist und dass der ästhetischen Erfahrung ein revolutionär emanzipatorischer Wert eignet. Ich möchte seine diesbezügliche Argumentation hier trotz (oder besser: aufgrund) ihrer Geläufigkeit nochmals in einigen Details nachzuvollziehen und auf ihre Konsequenzen befragen. Dazu werde ich Rancières sehr spezifisches Verständnis von Politik rekapitulieren, mich seiner Verknüpfung von Politik und Ästhetik widmen und zwei Konzepte in den Fokus rücken, die mir für die gegenwärtigen Debatten um politische Kunst besonders interessant scheinen: seinen Begriff der künstlerischen Fiktion und sein Konzept der emanzipierten Zuschauer_in. Im Anschluss daran lässt sich ein erhebliches Problem aufzeigen, das die Rancière’sche Kunsttheorie mit sich bringt – und das mich veranlasst dafür zu plädieren, dass wir über den Hype um Rancière Adorno nicht vergessen sollten.
D ie P olitik des A ls -O b Politik ist für Rancière per se eine Angelegenheit der Ästhetik – Ästhetik, zunächst nicht im kunstbezogenen Sinne, sondern in dem von griechisch aisthesis (Wahrnehmung). Gegenüber dem Alltagssprachgebrauch von Politik als Parlamentarismus, Staatsgeschäft, Regierungstechnik oder die Ausübung von Herrschaft versteht er sie als eine radikale »Neuaufteilung des Sinnlichen«. Das Sinnliche meint dabei nicht das bloß Sensorische reiner Sinnes-
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eindrücke; gefasst wird darunter vielmehr ein »aufgeteilter Sinn (sens): Sinn in Verbindung mit Bedeutung (sens), Sichtbares als Sagbares artikuliert, was interpretiert, evaluiert wird usw.«1, d.h. die Wahrnehmung als immer schon von Sinngehalten und Bedeutung durchdrungene. Politische Neuaufteilung des Sinnlichen betrifft folglich Veränderungen der in Wahrnehmungsakte eingelassenen Konstruktionsweisen des Sinnvollen, Erkennbaren und Legitimen. Als eine »Intervention in das Sichtbare und Sagbare«2 bringt Politik, wie Rancière sie denkt, bestehende, hierarchisch strukturierte Ordnungen durcheinander und stellt dasjenige in Frage, was bislang als ›notwendig‹, ›normal‹ und ›natürlich‹ gilt. Sämtliche gesellschaftliche Funktionen, die Identitäten definieren, Kompetenzen und Strukturen bestimmen und die Realität als zwingend hierarchisch angelegt behaupten, nennt Rancière dagegen »Polizei«. Diese sogenannte Polizei reguliert als konservative, hegemoniale Aufteilung des Sinnlichen den sozialen wie symbolischen Raum und bestimmt durch »die Organisation der Mächte, die Verteilung der Plätze und Funktionen und das System der Legitimierung dieser Verteilung«,3 was eigentlich in den Bereich des Wahrnehmbaren fällt. Wo dergestalt vorhandene Hierarchien abgesichert und naturalisiert werden, kommt nun die Politik als eine enthierachisierende und destrukturierende Dynamik zum Einsatz und verteidigt antipolizeilich eine radikal unbedingte Gleichheit. Als illegitime, eröffnende und verunordnende Bewegung facht sie einen Streit (»Dissens«) darüber an, wer und was im gemeinschaftlichen Raum vernehmbar ist und damit überhaupt als existent und möglich gilt. Derart politische Situationen ereigneten sich beispielsweise, als Jeanne Deroin 1849 in Frankreich bei der Wahl zur gesetzgebenden Versammlung antrat, obwohl sie als Frau de facto kein Recht auf einen dortigen Sitz hatte. Oder als sich die dunkelhäutige Rosa Parks 1955 in Montgomery in den für Weiße reservierten Bereich eines Busses setzte. Beide Frauen nahmen konsequent ein Recht in Anspruch, das prinzipiell bestand, aber eben nur für einen bestimmten Teil der Menschheit (nämlich für Bürger männlichen Geschlechts bzw. für Buspassagier_innen heller Hautfarbe); in beiden Fällen behauptete eine Person, die einem gewissen Teil der Menschheit als ungleich galt, ihre rechtmäßige Gleichheit mit eben diesem Teil. Rancière betont, dass solche Behauptungen von Gleichheit gerade angesichts faktischer Ungleichheit möglich und nötig sind. Als polemisch-performative Akte setzen sie eine universelle Gleichheit strategisch in Szene, als ob diese Gleichheit tatsächlich bestünde. Die Inszenierung dieses Als-Ob geschieht unterdessen vor dem Hintergrund, 1 | Rancière, Jacques: Ist Kunst widerständig?, Berlin: Merve 2008, S. 43. 2 | Rancière, Jacques: Zehn Thesen zur Politik, Zürich/Berlin: diaphanes 2008, S. 32. 3 | Rancière, Jaques: Das Unvernehmen. Politik und Philosophie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002, S. 40.
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dass diese Gleichheit gegenwärtig nicht realisiert ist, was zu einer Verdopplung der Realität führt: Neben der wirklichen Ungleichheit rückt eine noch nicht wirkliche Gleichheit in den Raum des Möglichen und Vorstellbaren. Der politische Dissens ereignet sich folglich durch ein ästhetisches Moment – das realitätsverdoppelnde Als-Ob, das dem Konsens normaler Wahrnehmung widerspricht.
P olitische Ä sthe tik und die R olle der K unst Nun ist es freilich keinesfalls so, dass es für Rancière nur diese allgemeine Verbindung von Politik und Ästhetik gibt. Die Neuaufteilung des Sinnlichen und das paradoxe Als-Ob findet er spezifisch auch im Bereich der Kunst wieder. Im 19. Jahrhundert macht Rancière eine »ästhetische Revolution« aus, die maßgeblich ist für unser heutiges Verständnis von Kunst, d.h. nach Rancière: für eine autonome Kunst, die auf Freiheit und Gleichheit ausgerichtet ist. Er begründet das auf zwei Ebenen: Zum einen kommt es mit dem Realismus in Literatur und Malerei zu einer Demokratisierung der Darstellungsweisen und -gegenstände; erstmals in der Kunstgeschichte wird auch das Niedere und Alltägliche darstellungswürdig, wodurch Regelpoetiken, die Darstellungsgepflogenheiten bislang mit sozialen Hierarchien verbanden, verabschiedet oder zumindest angegriffen werden. Zum anderen argumentiert Rancière im Rückgriff auf Kant und Schiller, dass die ästhetische Revolution nicht lediglich künstlerische Darstellungsformen betrifft, sondern sich auf eine ästhetische Erfahrung des Subjekts bezieht, die politisch schwerwiegende Konsequenzen hat. Kants Kritik der Urteilskraft hatte die ästhetische Erfahrung bekanntlich als eine von allen Zwecken und Begriffsbestimmungen losgelöste Erfahrung vorgestellt, in der Sinnlichkeit und Verstand in ein gleichberechtigtes, offenes Spiel miteinander treten – als eine Erfahrung, zu der alle Menschen ungeachtet von Bildung und sozialem Stand in der Lage sind. Diese von Dienst- und Herrschaftsverhältnissen befreite Ästhetik sollte für Schiller dann gar den Weg ebnen für eine neue, bessere Menschheit, da die subjektive Fähigkeit, Sinnliches und Geistiges harmonisch zusammenspielen zu lassen, sich einem verabsolutierten Rationalismus ebenso widersetzt wie blinder Gefühlsraserei (und so verspricht, die Rückschläge der Französischen Revolution zu überwinden). Daran schließt Rancière an. Auch für ihn liegt das politische Potential von Kunst darin, dass sie einen Erfahrungsraum bereitstellt, der sich polizeilichen Identifizierungen und Verwertungslogiken entzieht. Gerade durch ihre ästhetische Autonomie verspricht Kunst deshalb eine freie, gleichheitliche Gemeinschaft. Die Realisierung dieser Gemeinschaft allerdings, das betont Rancière
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immer wieder, kann von der Kunst nicht kontrolliert oder intentional herbeigeführt werden. Denn Kunst macht ihr Emanzipationsversprechen gerade aus der Distanz zu Intention und Kausalität. Entsprechend hält Rancière nichts von einer explizit ›politischen Kunst‹, die mit entlarvendem Fingerzeig aufklären will oder konkrete Vorschläge für ein besseres Leben macht. Denn: »[W]o sich der Schein in Wirklichkeit auflöst, verschwinden auch Kunst und Politik. Denn beide sind an den Schein gebunden, an dessen Macht, das ›Gegebene‹ der Wirklichkeit und sogar den Bezug zwischen Schein und Wirklichkeit neu zu konfigurieren. In diesem Sinne haben Kunst und Politik gemeinsam, dass sie Fiktionen produzieren, was nicht bedeutet, erfundene Geschichten zu erzählen. Fiktion meint vielmehr, einen neuen Bezug zwischen Schein und Wirklichkeit […] zu stiften.« 4
K ünstlerische F ik tion Der Begriff der Fiktion hat für Rancière also nichts mit Unwahrheit oder Illusion zu tun; er meint kein von der Realität unabhängiges Spiel der Fantasie. Stattdessen bezeichnet er damit in Anschluss an Aristoteles Poetik5 die bedeutungsgenerierende Konstruktion, die jedem Sinnzusammenhang zugrunde liegt. Rancière fasst Realität und ihre Wahrnehmung prinzipiell als Gegenstand von Fiktion auf. D.h. natürlich auch, dass Realitätskonstruktionen keinesfalls immer politische Neuaufteilungen des Sinnlichen sind. Dementsprechend unterscheidet er zwischen einer politisch-künstlerischen Fiktion und einer 4 | Rancière, Jacques: Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien, Berlin: b_books 2008, S. 88f. 5 | Während Platon die Fiktion noch mit der Illusion und damit der Unwahrheit gleichsetzt (was ihn dazu veranlasst die Dichter aus seinem idealen Staat zu verbannen) konzipiert Aristoteles in seiner Poetik ein Regelwerk dessen, wie die Dichtung Handlungen und Sinnzusammenhänge schlüssig gemäß den Gesetzen von Wahrscheinlichkeit und Notwendigkeit anzuordnen habe. Da die Dichtung dabei nicht an die Zufälligkeit des Empirischen gebunden ist, ist die Dichtung für Aristoteles der chronikalischen Geschichtsschreibung sogar überlegen. Anders als die Geschichtsschreibung kann die Dichtung kausale Bedeutungslogiken so herstellen, dass diese den größtmöglichen Sinn ergeben und so aussagekräftige Wahrheiten bilden: »Denn der Geschichtsschreiber und der Dichter unterscheiden sich nicht dadurch voneinander, daß sich der eine in Versen und der andere in Prosa mitteilt […], sie unterscheiden sich vielmehr dadurch, daß der eine das wirklich Geschehene mitteilt, der andere, was geschehen könnte. Daher ist Dichtung etwas Philosophischeres und Ernsthafteres als Geschichtsschreibung […].«, Aristoteles: Poetik, Stuttgart: Reclam 1994, S. 29 [1451b].
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»konsensuellen Fiktion«. Die konsensuelle Fiktion leugnet den grundsätzlich konstruierten Charakter von Realität und gibt sich unkritisch als das Tatsächliche selbst aus. Solche Fiktionen, die Realität dem hegemonialen Konsens entsprechend nachzeichnen, gibt es in der gesellschaftlichen Sphäre ebenso wie im Bereich von Bildern und Darstellungen, etwa in Dokumentar- oder Spielfilmen, die sich an bekannte Erzählschemata halten, um einen möglichst überzeugenden und in sich geschlossenen Realitätseindruck zu erzielen. Gegenüber solchen naturalisierenden Evidenzbehauptungen problematisiert die künstlerische Fiktion mit fremdartigen Verknüpfungen, auf welche Weise eine Realität konstruiert wird oder werden könnte. Wie das politische Als-Ob verdoppelt die künstlerische Fiktion herrschende Realitätsfassungen und lässt die Grenzen zwischen dem, was ist, und dem, was nicht ist, durchlässig werden. Als Neuanordnung ist die künstlerische Fiktion nicht völlig unabhängig von der bestehenden Realität; aber als politische Fiktion hält sie sich – im Gegensatz zur konsensuellen Fiktion – in Distanz zu dieser Realität auf. Politisch sind künstlerische Fiktionen also, insofern sie sich in ihrem Realitätsbezug kritisch zur herrschenden Realität positionieren. Rancière konkretisiert diesbezüglich: »In seiner ursprünglichen Bedeutung heißt ›kritisch‹ das, was die Trennung, die Unterscheidung betrifft. Kritik ist die Kunst, die die Trennlinie verschiebt, die in das konsensuelle Gewebe des Realen eine Trennung einführt, und die gerade dadurch die Trennlinien, die das konsensuelle Feld des Gegebenen gestalten, durcheinander bringen: z.B. die Trennlinie zwischen Dokumentation und Fiktion, einer Genreunterscheidung, die gerne zwei Typen von Menschen trennt: jene, die leiden, von denen, die handeln, jene, die Objekt sind, von denen, die Subjekt sind.« 6
Rancières Lieblingsbeispiel einer solcherart kritischen Fiktion sind die Filme des portugiesischen Regisseurs Pedro Costa. Costas Film Juventude em marcha beispielsweise handelt von migrantischen Bewohner_innen eines Barackenstadtviertels in Lissabon, die aus ihren illegal gebauten Hütten zwangsweise in eine Sozialwohnanlage umgesiedelt werden sollen. In seinem dokumentarischen Spielfilm, in dem die Menschen des Quartiers sich selbst spielen, folgt Costa nicht gängigen Elendsdarstellungen, sondern verwandelt den Schauplatz in eine theatrale Szenerie und seine Bewohner_innen in tragödienhafte Figuren. Costa erklärt die Ursachen des Elends nicht soziologisch oder globalökonomisch. Was er stattdessen tut, könnte man eine »Ästhetisierung des Elends« nennen. Darin sieht Rancière allerdings nichts Verwerfliches, sondern im Gegenteil eine Methode, simple Oppositionen von Hochkultur und banalem Elend zu verunordnen und jene, die meist als passive Opfer gezeigt 6 | Rancière, Jacques: Der emanzipierte Zuschauer, Wien: Passagen 2009, S. 92.
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werden, als Akteure eines eigenen, wertvollen Lebens vorzustellen. Er schätzt Costas Filme als kritische Fiktionen, die Konventionen auf brechen und eine Distanz zu selbstverständlichen Normalitäten errichten. Im Gegensatz zu konsensuellen Fiktionen, die Feststehendes untermauern, halten sie an einer Unbestimmtheit des Realen fest – an einer Unbestimmtheit, die das Definitive in Frage stellt und Raum für Neues eröffnet. Diese Unbestimmtheit ist bei Rancière zentral für das politische Moment der Fiktion. Erst aufgrund der ästhetischen Revolution, die regelpoetische Bestimmungen aufhebt, wird diese Form der künstlerischen Fiktion möglich, die Sinn nicht mehr normalisierend produziert, sondern das Sinnliche durch andersartige Verknüpfungen zum Dissens macht. Aus dieser prinzipiellen Unbestimmtheit des Ästhetischen ergibt sich aber eben auch: Die Wirkung der Kunst wird ungewiss. Und damit komme ich zur Rolle der Rezipient_in in Rancières Kunsttheorie.
D ie emanzipierte Z uschauer _ in Rancière wendet sich vehement gegen ein Verständnis von Kunstrezeption als einem passiven Empfangen. Er unterstreicht, dass das Verhältnis Künstler_in – Werk – Betracher_in keine direkte, kausallogische Übertragung ist. »[Das Kunstwerk] ist nicht die Übermittlung des Wissens oder des Atems vom Künstler zum Zuschauer. [Es] ist eine dritte Sache, die niemand besitzt, und deren Sinn niemand besitzt, die sich zwischen ihnen hält und jede identische Übertragung, jede Identität von Ursache und Wirkung unterbindet«.7
Direkt engagierte Kunst, die zur Revolution erziehen will wie Bertolt Brecht, die Machtverhältnisse spektakulär vorführt wie The Yes Man oder die unmittelbar gemeinschaftsstiftend sein will wie Relational Art, weist Rancière scharf zurück. Er hält solche Ansätze nicht schlicht für unwirksam, sondern für antipolitisch und anti-emanzipatorisch, da sie auf einer polizeilichen Aufteilung zwischen aktiven und passiven Positionen und der strukturell hierarchischen Annahme basieren, dass die Künstler_in im Besitz eines Wissens sei, das die Zuschauer_in erst noch zu empfangen habe. Diese Unterscheidungs- und Übertragungslogik brandmarkt Rancière als »verdummend«. Verdummend ist sie deshalb, weil sie paternalistisch entmündigt. Statt radikale Gleichheit zu verteidigen und statt vorauszusetzen, dass alle Menschen gleichermaßen zu Sinnschöpfung begabte Wesen sind, bestätigt sie einen hierarchischen Abstand zwischen Wissenden und Unwissen7 | Rancière: Der emanzipierte Zuschauer, S. 25.
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den und agiert so nicht politisch, sondern entmächtigend. Politische Kunst dagegen muss Rancière zufolge anerkennen, dass sie weder entschlüsselbare Botschaft noch kausale Wirkungsintention sein kann. Erstens stellt gerade die Unabhängigkeit von Repräsentation und Übermittlung den neu eröffneten Erfahrungshorizont der künstlerisch-politischen Fiktion her. Wenn Kunst als emanzipatorische Politik wirkmächtig ist, dann nur aufgrund ihrer Distanz zu polizeilichen Funktionsbestimmungen. Zweitens ermöglicht es die Unbestimmtheit der Kunst, die Relation von Künstler_in, Werk und Betrachter_in auf eine nicht hierarchisch verdummende, sondern egalitär ermächtigende Weise zu denken. Nur wenn das Kunstwerk nicht auf ein Übertragungsmedium reduziert wird, muss die Betrachter_in nicht passive Empfänger_in bleiben, sondern kann als aktive Interpret_in und emanzipierte Zuschauer_in herrschende Kompetenzeinteilungen durchkreuzen. Rancière begründet und verteidigt diese generell gegebene Emanzipationsmöglichkeit damit, dass der Mensch ein genuin zur Fiktion begabtes Wesen sei. Deswegen brauchen wir keine Kunst oder sonstige Information und Anleitung, um eine emanzipierte und kritische Stellung zur Welt einzunehmen. Jedes Individuum ist eigenmächtig dazu fähig, seinen »eigenen Weg durch den Wald der Dinge, Handlungen und Zeichen [zu] gehen«; jedes Individuum ist immer schon im Besitz einer »Macht, die jeder oder jede hat, das, was er/sie wahrnimmt, auf seine/ihre Weise mit dem besonderen intellektuellen Abenteuer zu verbinden, die sie jedem anderen ähnlich macht, insofern dieses Abenteuer keinem anderen gleicht«.8 Alle Menschen sind darin gleich, dass sie per se in der Lage sind, ihre Welt wahrnehmend zu deuten – auf je eigene, unvergleichliche Weisen. Kunst darf diese kreative Eigenmacht des Menschen Rancière zufolge nicht abschneiden, indem sie alle Rezipient_innen in einen Topf wirft und ihnen intentional etwas vorschreibt. Kunst, die politisch sein will, darf ihren Betrachter_innen nicht diktieren, was sie wahrzunehmen haben. Stattdessen muss sie durch ihre Unbestimmtheit den Raum offenhalten für je eigene, aktive Aneignungen und Abenteuer der Rezipient_innen.
D as P roblem In meinen Augen ergibt sich aus der Rancière’schen Kunsttheorie, soweit ich sie nun rekonstruiert habe, ein Problem. Zwei Konzeptionen stehen sich hier einander unvermittelt gegenüber. Einerseits definiert Rancière eine kritische künstlerische Fiktion. Und er selbst tritt immer wieder als Kunstkritiker auf, der politisch neuaufteilende Kunstwerke argumentativ von solchen unterscheidet, die bloß pseudo-politisch und in Wirklichkeit konsensuell seien. Anderer8 | Rancière: Der emanzipierte Zuschauer, S. 27.
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seits denkt er Kunstrezeption als die Aktivität einer emanzipierten Zuschauer_in, die sich in einem individuellen Abenteuer ihren je eigenen Weg durch den Wald des Wahrzunehmenden bahnt. Er sagt explizit: »Die ästhetische Autonomie des Werks ist nicht seine künstlerische Autonomie, […] sie ist vielmehr ein Verfügbarmachen für jeden Beliebigen.« 9
Und: »Das, was der Kunst ›eigen‹ ist, ist eine Sphäre einer spezifischen Erfahrung, und leitet sich nicht aus den Gesetzen oder den Eigenschaften ihrer Objekte her.«10
Kunstrezeption interessiert Rancière also als die kreative Aktivität einer Betrachter_in, die über das Kunstwerk eigenmächtig verfügt, und weniger als etwas, das sich auf einen objektiven und intersubjektiv platzierten Bezugspunkt richtet. Völlig ungeklärt bleibt, wie sich aus dieser Warte ein Kunstwerk überhaupt als kritisches bestimmen lässt. Wie kann Rancière immer wieder erklären, dass Costas Filme politisch-kritische Neuaufteilungen seien und dabei teils detailliert ausführen, wie, wo und warum sie das seien? Wie kann er kunstund filmkritisch argumentieren, wenn seine Filminterpretation eine beliebig verfügende Eigenkreation unter x-beliebigen anderen ist, die sich nicht aus Eigenschaften des Objekts ableitet? Ich denke nicht, dass Rancières Kunstkritiken dermaßen als beliebige Kreationen gedacht sind. Ich meine, dass sein Sprechen – und Urteilen – über einzelne Kunstwerke sehr wohl einen weiter gefassten Anspruch verfolgt als bloß persönliche Meinungsäußerung zu sein. Er benennt die kritische Relevanz künstlerischer Fiktionen nämlich durchaus so, dass andere Betrachter_innen dies im Bezug auf das jeweilige Werk nachvollziehen oder vielleicht auch widerlegen können. Ein solches intersubjektives Sich-auf-den-Kunstgegenstand-Beziehen geht mit Rancières Theorie einer autonom verfügenden Rezeption aber nicht schlüssig zusammen. Wenn man Kunstrezeption wie Rancière als das individuelle Abenteuer einer eigenmächtigen Betrachter_in denkt, und die Politik der Kunst hauptsächlich in ihre Unbestimmtheit verlegt, dann lässt sich Kunstkritik nicht mehr schlüssig formulieren. Rancières Version von ästhetischer Autonomie schafft Objektivitätsansprüche ab – und damit auch die Möglichkeit, an einem 9 | Rancière, Jacques: »Eine andere Art von Universalität. Gespräch mit Markus Klammer, Stéphane Montavon, Stefan Neuner und Mladen Gladic«, in: Ders.: Die Erfindung des Möglichen. Interviews 2006-2009, Wien: Passagen, S. 179-190, hier S. 186; Hervorhebung I.K. 10 | Rancière: Ist Kunst widerständig?, S. 41f.; Hervorhebung I.K.
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Objekt kommunizierbare Differenzierungen vorzunehmen. Damit kann weder ein kunstkritisches Sprechen über einzelne Werke Relevanz für sich beanspruchen, noch lässt sich so die spezifische Kritik, die ein konkretes Werk selbst ausdrückt, differenziert nachvollziehen. Rancières Ablehnung von Objektivitätsansprüchen folgt konsequent aus seinem emanzipatorisch-politischen Engagement: Die Unterscheidung zwischen einem vorgebenden (Kunst-)Objekt und einem nachvollziehenden (Rezeptions-)Subjekt vermeidet er absichtlich, um keiner Hierarchisierung oder Verdummung Vorschub zu leisten. Deswegen beharrt er auch darauf, dass es keine ›hinter‹ den Kunstwerken liegende Wahrheit zu bergen gebe, sondern dass jede Person ihre eigene, gleichermaßen legitime Erfahrung an Kunst machen könne. Die Kehrseite dieser emanzipatorischen Bewegung ist allerdings, dass sie einen Dissens, der sich an Kunst entzündet, eigentlich verunmöglicht. Denn Dissens kann es nur dort geben, wo es intersubjektiv um etwas geht, wo zwischen verschiedenen Positionen etwas auf dem Spiel steht. Bei Rancières politischem Als-Ob zeigt sich das deutlich; dort gibt es einen spezifischen Streitgegenstand, nämlich die jeweils konkret umstrittene Situation sozialer Gleichheit. Dem politischen Als-Ob geht es immer um die Kritik von bestimmtem Unrecht und um spezifische Emanzipationsmöglichkeiten. Bei der künstlerischen Fiktion hingegen verhält sich das anders, insbesondere deshalb, weil Rancière sich so stark auf ihre Unbestimmtheit konzentriert, die Raum für individuelle Aneignungen lassen soll. Aufgrund dessen bleibt die Kritik, die Kunst selbst an der Realität übt, hier eine sehr allgemeine; sie bleibt die formale Kritik an naturalisierten Realitätskonstruktionen sowie an der strukturell verdummenden Aufteilung zwischen aktiv Sendenden und passiv Empfangenden. Es geht mir nicht darum, diese formale Kritik an polizeilichen Strukturen per se zurückzuweisen. Doch ich meine, dass diese allgemeine Kritik nicht ausreicht, wenn wir uns für ein kritisch-politisches Moment im gegenwärtigen Kunstgeschehen interessieren. Rancières eigene Besprechungen von Kunstwerken benennen konkrete Kritikpunkte und spezifische Eröffnungspotentiale – beispielsweise die Kritik an einer Darstellung von Migrant_innen, die diese zu Opfern stilisiert, sowie den Gegenvorschlag, migrantisches Leben auf eine dekoloniale Art vernehmbar zu machen. Aber wo Rancières Kunsttheorie die künstlerische Fiktion der eigenmächtigen Betrachter_in überlässt, löst er die je besonderen Kritik- und Ermächtigungspotentiale in der generellen Unbestimmtheit von Kunst auf. Vor diesem Hintergrund halte ich es für wichtig, Rancières Begriff der künstlerischen Fiktion als ein werkästhetisches Konzept, das in Verwandtschaft zu seinem politischen Als-Ob steht, gegen die individualistische Erfahrungsautonomie, die er ebenfalls vertritt, entschieden zu verteidigen. – Allerdings ohne deswegen die identitätskritischen, emanzipatorisch neuaufteilenden Potentiale des Ästhetischen über Bord zu werfen.
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K onkre te K unstkritik Die Frage nach kritisch-politischer Kunst ist im zeitgenössischen Kunstfeld ein heißes Eisen, das seit der documenta X (1997) nicht mehr abkühlen will. Überall und längst auch dort, wo massiv ökonomische Interessen im Spiel sind, wird sie gefeiert und gefordert. Gleichzeitig hat sich ein Abgesang auf Kritik breit gemacht: Luc Boltanski und Ève Chiapello wurden berühmt mit ihrer These, dass die sogenannte Künstlerkritik, die gegen eine entfremdete, unfreie Arbeitswelt Autonomie, Flexibilität und Kreativität forderte, feindlich übernommen wurde vom neoliberalen Kapitalismus und dessen Anforderungen an das sich selbst managende Subjekt.11 Aus institutionskritischer Perspektive betonen Andrea Fraser, Tom Holert, Helmut Draxler und andere zudem immer wieder den ökonomischen und ideologischen Charakter der im Kunstfeld omnipräsenten Kritikansprüche, der »Konjunktur einer vagen ›criticality‹«.12 Gerade angesichts dieser Situation von Kritik-Hype einerseits und Kritik-Enttäuschung andererseits, erweist es sich als herber Verlust, dass Rancière mit der emanzipierten Zuschauer_in die Möglichkeit spezifischer Kritik verschenkt. Denn eine Kunstkritik, die nach den konkreten Potentialen einzelner Werke sucht, diese intersubjektiv verhandelt und sie soziogeohistorisch kontextualisiert, kann hier eine entscheidende Aufgabe übernehmen.13 Eine solche Kunstkritik kann gleichzeitig Pseudo-Kritik zurückweisen, problematische Verstrickungen ausweisen und Kritik- und Autonomiepotentiale aufspüren, die sich eben doch nicht so bruchlos ökonomisch verwerten lassen – und die vielleicht gerade deswegen viel zu wenig Beachtung finden. Dabei geht es, wie gesagt, nicht etwa darum, dass eine reflektierende Differenzierung die ästhetische Erfahrung ausbooten soll. Und ich meine, dass Adorno uns ein diesbezüglich anschlussfähiges Modell von Kunstkritik an die Hand gibt.
11 | Vgl. Boltanski, Luc/Chiapello, Ève: Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz: UVK 2006. 12 | Draxler, Helmut: »Der Habitus des Kritischen. Über die Grenzen reflexiver Praxis«, http://eipcp.net/transversal/0308/draxler/de (Stand 20.03.2016). 13 | Vgl. dazu Kleesattel, Ines/Müller, Pablo: »Engagierte Kunstkritik – 7 Thesen«, in: Brand-New-Life Magazin für Kunstkritik, http://brand-new-life.org/de/artikel/enga gierte-kunstkritik/ (Stand 15.05.2016).
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E rinnern wir uns an A dorno Anders als Rancière beharrt Adorno dezidiert darauf, dass gelungene Kunstwerke einen je eigenen »Wahrheitsgehalt« besitzen. Und für ihn ist es Aufgabe der Rezipient_in, diese singulären Wahrheitsgehalte zu bergen. Adorno wurde deshalb Objektivismus vorgeworfen und nachgesagt, dass er die Rezipient_in zu passivem Nachvollzug verdamme und so das aktivierende Potential ästhetischer Erfahrung ausschalte.14 Ich halte diese Vorwürfe für verkürzte und vor allem unproduktive Lesarten seiner ästhetischen Theorie. Demgegenüber sehe ich in Adornos Werkästhetik einen nach wie vor fruchtbaren Ansatz, den gegenwärtig virulenten Befragungen, Behauptungen, Anrufungen und Zurückweisungen einer (kritischen) Politik der Kunst zu begegnen. Dazu will ich abschließend umreißen, wie Adorno meiner Ansicht nach den Wahrheitsgehalt der Kunst denkt; was er daraus für die Rezeption bzw. Kunstkritik ableitet; und weshalb ich meine, dass diese Überlegungen für uns heute relevant sind. Adorno wendet sich heftig gegen ein direkt politisches Engagement von Kunst und verteidigt, durchaus ähnlich wie Rancière, eine ästhetische Autonomie, die in Distanz geht zu Zwecklogik und identifizierendem Denken. Auch für ihn darf Kunst keine erklärenden oder agitatorischen Funktionen einnehmen, sondern soll durch ihren ästhetischen Schein etwas zum Ausdruck bringen, das aus dem gegenwärtigen Dasein ausgeklammert bleibt. Kunst interessiert Adorno, sofern sie eine Erfahrung ermöglicht, die Eindeutigkeits- und Verwertungszwänge suspendiert und auf diese Weise ein Glücks- und Utopieversprechen macht. Dieses gesellschaftskritische und glückverheißende Andere artikuliert Kunst durch ihre autonome, je besondere Gestalt – »indem sie sich als Eigenes in sich kristallisiert, anstatt bestehenden gesellschaftlichen Normen zu willfahren«.15 Interessant ist nun, wie es den Kunstwerken Adorno zufolge gelingt, sich als Eigenes zu kristallisieren, also Autonomie (d.h. bei ihm wesentlich: Selbstgesetzgebung) auszubilden. Denn daran knüpft sich nicht nur die Utopie der Kunst, sondern auch ihre heteronome Verstrickung mit dem schlechten Bestehenden. Adorno erklärt unmissverständilich, dass an der Kunst nichts ist, »was nicht aus der Welt stammt«.16 Denn Kunst nimmt ihr »Material«17 aus der herrschenden Realität, aus der sich auch künstleri14 | Vgl. u.a. Rebentisch, Juliane: Ästhetik der Installation, Frankfurt a.M.: 2003, insbes. S. 235 u. S. 288f. sowie dies.: »Fortschritt nach seinem Ende. Adorno und die Kunst der Postmoderne«, in: Christoph Menke/Juliane Rebentisch (Hg.): Kunst Fortschritt Geschichte, Berlin: Kadmos 2006, S. 229-241, insbes. S. 236f. 15 | Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1970, S. 335. 16 | Adorno: Ästhetische Theorie, S. 209. 17 | Mit »Material« ist dabei all jenes Materiell-Physikalisches und Ideell-Geistiges gemeint, »womit die Künstler schalten«, was ihnen in ihrer soziohistorischen Realität zur
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sche Produktion nie völlig lossagen kann. Künstlerische Produktion ist deshalb keine creatio ex nihilo, kein »Zauberschlag«,18 sondern eine Auseinandersetzung mit gesellschaftlich Geformtem und historisch Gewordenem. Da die künstlerische Produktion ihr Material aber eigenlogisch ins Werk setzt, und es nicht rationalistisch kategorisiert oder nutzbar macht, findet die ganze Widersprüchlichkeit des Daseins Eingang ins künstlerische Objekt, inklusive gegenwärtig verstellter Möglichkeiten und noch unergriffener Chancen. Und genau das begründet den kritisch-utopischen Wahrheitsgehalt eines Kunstwerks; er lässt sich nicht von der autonomen Gestalt des Werks ablösen und kommt erst durch deren sinnliche Form zum Ausdruck; aber weil das künstlerische Material aus der Welt stammt, weist der Gehalt immer über die sinnliche Erscheinung hinaus auf Gesellschaft und Geschichte. Adorno denkt das Kunstwerk als ein dynamisches Kraftfeld von sinnlichen und geistigen Momenten und als gleichzeitig autonome Gestalt und soziales Produkt. Der Wahrheitsgehalt des Werks zeigt sich so als eine bestimmte Uneindeutigkeit; das Werk stellt in seiner jeweiligen Komplexität ein konkretes Gefühl von Welt her, kein bloß formal-abstraktes. »So komplex, wie jenes Gefühl von der Welt ist, das ein bedeutendes Kunstwerk hervorruft, so komplex ist die Welt in der Tat. Während die üblichen Urteile, die für oder gegen etwas sind, […] die ganze Verflochtenheit von Wahrheit und Unwahrheit, die Verflochtenheit des Lebendigen gewissermaßen zerstören, stellt das Kunstwerk dadurch, dass es diese Momente nun nicht willkürlich scheidet, und zu Entscheidungen fortschreitet, sondern sie in ihrem Ineinander gibt, gleichsam das von der Wahrheit wieder her, was an der Wahrheit durch die Form eben des bloßen Urteils uns im allgemeinen verlorengeht.«19
Durch seine urteilsoffene Vielschichtigkeit bringt das Kunstwerk eine Wahrheit über die Welt zum Ausdruck, die durch Identitätslogik und Zweckrationalität ausgespart bleibt. Darin sind sich Adorno und Rancière weitgehend einig. Im Unterschied zu Rancière betont Adorno aber, dass die Unbestimmtheit eines Werks nicht gänzlich unbestimmt und vage ist, sondern dass sie »alle möglichen außerordentlich konkreten Momente in sich enthält«.20 Konkret sind das Material und die geformte Gestalt des Kunstwerks; konkretisierbar Verfügung steht »an Worten, Farben, Klängen bis hinauf zu Verbindungen jeglicher Art bis zu je entwickelten Verfahrensweisen«, Adorno: Ästhetische Theorie, S. 222. Adornos Materialbegriff umfasst Rohstoffe, Formprinzipien, Produktionsverfahren, Sujets und Stilelemente ebenso wie die gegebenen Bedingungen in Alltag, Technik, Wissenschaft und Theorie. 18 | Adorno: Ästhetische Theorie, S. 129. 19 | Adorno, Theodor W.: Ästhetik (1958/59), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2009, S. 327. 20 | Adorno: Ästhetik, S. 327.
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(obgleich komplex) ist außerdem die Stellung, die das Werk in der Welt und gegenüber der Welt einnimmt. Diese Gleichzeitigkeit von formbedingter Urteilsoffenheit und materialbezogener Konkretion muss Adorno zufolge von der Rezipient_in wahrgenommen werden. Insofern das Kunstwerk sinnlich und uneindeutig ist, kann sie dabei nicht rein analytisch-intellektuell verfahren, da ein solches Vorgehen die komplexe Wahrheit des Werks wieder rationalistisch zustutzen würde. Sie muss sich dem Kunstwerk unvoreingenommen emphatisch überlassen, kann dabei aber auch nicht einfach kulinarisch genießend verfahren, da sie sonst den gesellschaftlichen Charakter des Werks verpassen würde. Adorno zufolge muss die Rezipient_in strukturanalog zum Werk sinnlich und geistig verfahren und das Werk auf diese Weise in seiner je konkreten Besonderheit nachvollziehen. Darüber hinaus muss sie jedoch zudem eine Aktivität an den Tag legen, die sich vom bloßen Nachvollzug emanzipiert. Über den Wahrheitsgehalt muss nämlich kritisch entschieden werden. Dies tut Not, weil der Wahrheitsgehalt, statt gänzlich von der Welt abgekapselt zu sein, über das Material der Kunst doch stets auf die soziohistorische Realität bezogen bleibt. Und daraus folgt, dass der Gehalt eines Kunstwerks sich mit dessen temporaler und lokaler Situierung immer wieder verändern kann. Laut Adorno hat der Wahrheitsgehalt einen »Zeitkern«,21 und ich würde hinzufügen, dass Wahrheit stets auch ortspezifisch ist. Aufgrund dessen kann der Wahrheitsgehalt gar nicht schlicht passiv nachvollzogen werden (und deshalb impliziert er auch keinen Objektivismus); er muss in jedem Rezeptionsakt situativ überprüft und, sofern möglich, erneuert und reaktiviert werden. Die Rezipient_in hat für Adorno also immer auch zeit- und gesellschaftsreflexive Kritiker_in zu sein. Sie befragt die Utopie und Gesellschaftskritik, die ein bestimmtes Werk durch seine konkrete Gestalt ausdrückt, nach deren Zeitgemäßheit; dazu muss sie sich vorurteilsfrei und erfahrungsoffen auf die Besonderheit des Kunstwerks einlassen, es jedoch auch spezifisch situieren und sich zu ihm positionieren. D.h.: Während das Kunstwerk seine rationalitätskritisch-utopische Wahrheit durch urteilslose Vielschichtigkeit ausdrückt, muss Kunstrezeption diese Wahrheit durch ein »Urteil über das urteilslose Werk«22 nicht nur artikulieren, sondern in aktuelle Kritik überführen. »Das Werk urteilt nicht«,23 lässt Adorno verlauten, und er ergänzt komplementär:
21 | Adorno: Ästhetische Theorie, S. 50, S. 286 u. S. 339. 22 | Adorno: Ästhetische Theorie, S. 364. 23 | Adorno: Ästhetische Theorie, S. 152. Insofern ist aus Adornos Perspektive auch Christoph Menke zu widersprechen, der erklärt, ästhetische Kritik habe angesichts der Nichtbeurteilbarkeit gelungener Kunstwerke eine »Aporie des Urteils« zu exponieren. Vgl dazu Menke, Christoph: Die Kraft der Kunst, Berlin: Suhrkamp 2013, S. 64-79.
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Ines Kleesattel »Kritik muss urteilen. […] Der Wahrheit, der die Kritik dient, jener in der Zeit sich entfaltenden Wahrheit, von der ich sprach, wird geholfen nur durch Parteinahme in der Zeit.« 24
Für Adorno ist entscheidend, dass Kunsterfahrung sich als Dynamik zwischen Subjekt und Objekt abspielt und kein individuelles Erleben ist, mit dem man sich aus der herrschenden Realität herauskatapultiert. Es gibt durchaus subjektiv erhebende Glücksmomente in der ästhetischen Erfahrung, die von ganz entscheidender Relevanz sind,25 wichtig bleibt aber dennoch, dass auch dieses Glück kritisch reflektiert wird als die Erfahrung eines gesellschaftlichen Wesens, dem dieses Glück andernorts untersagt bleibt. Dies ist die Stelle, an der eine institutionskritische Perspektive gefordert ist – auch wenn Adorno nicht von Institutionskritik spricht, sondern von der schuldhaften Verstrickung der Autonomie in Heteronomie.
V on hier aus weiter Meines Erachtens ließe sich Adorno hinsichtlich aktueller Debatten um Politik und Kritikalität der Kunst für eine sehr zeitgemäße Institutionskritik fruchtbar machen, die vermeintliche Autonomiebehauptungen problematisiert und gleichzeitig immer wieder zu bestimmende Autonomie- und Kritikmomente auslotet und verteidigt. Die Gleichzeitigkeit von Problematisieren, Ausloten und Verteidigen erscheint mir unverzichtbar, wenn wir gegenwärtig nach einem kritisch-politischen Potential der Kunst fragen. Ästhetische Unbestimmtheit reicht nicht aus, um kritisch oder emanzipatorisch zu sein. Angesichts überbordender, neoliberaler Kreativitäts- und Criticality-Forderungen bedarf es der einzelfallspezifischen Konkretisierung und Positionierung – nicht ein für alle Mal, sondern immer wieder neu. Der Bezug auf Rancière liefert hierfür Anknüpfungspunkte, läuft aber an entscheidender Stelle Gefahr, ins Leere zu greifen. Rancières Politik positioniert sich konkret, indem sie herrschaftskritisch streitend in je spezifisch verfassten Gemengelagen für bedingungslose Gleichheit eintritt; und zwar für eine von unten in Anspruch genommene radikale Gleichheit, die von oben verkündete Behauptungen von Chancengleichheit Lügen straft. Rancières Kunsttheorie impliziert solche Stellung beziehenden Konkretion zum Teil, tendiert letztlich aber dazu, sie in einem generalisierenden Lob des Unbestimmten aufzulösen. Adorno hingegen bleibt auch als ästhetischer Theoretiker zuvorderst Gesellschaftskritiker. Nach meinem Dafürhalten ist an seine Verbin24 | Adorno, Theodor W.: »Reflexionen über Musikkritik«, in: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 19, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997, S. 573-591, hier S. 582. 25 | Vgl. dazu den Beitrag von Gabriele Geml in diesem Band.
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dung von ästhetischer Erfahrungsoffenheit und kritischer Entscheidung anzuschließen, um künstlerische Kritik weder an undifferenzierte Criticalitiy noch an resignierte Kritikverabschiedungen zu verlieren. Dazu wäre freilich zudem nicht länger von einer ›Politik der Kunst‹ zu sprechen, als vielmehr von den temporären und perspektivierten Politiken verschiedener Werke. Und deshalb kann auch Adorno (trotz seines werkästhetischen Einsatzes für das Besondere und Singuläre) nicht das letzte Wort behalten; seine Schwachstelle ist, dass er Kunstkritik als monologisches Geschäft eines Fachmanns denkt. Weil kritische Wahrheit aber nicht nur einen Zeitkern, sondern auch eine standortspezifische Situierung hat, sollte Kunstkritik über Adorno hinaus als mehrstimmiges Streitgespräch aus verschiedenen Positionen gedacht werden. In revidierter Form – hinsichtlich Objektbezug, Intersubjektivität und Gesellschaftsreflexivität – ließe sich hier die emanzipierte Zuschauer_in wieder ins Boot holen.
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Zwischen Diffusionspathos und Quintessentialismus. Über waghalsige Bestimmungen des Politischen der Kunst Christian Janecke Gegenstand dieses Aufsatzes ist eine neuerlich auftrumpfende Haltung in Ästhetik und Kunsttheorie, die gleichermaßen das sphärisch nicht dingfest zu machende ›Vielleicht‹ der Kunst beschwört wie auch deren ›Inbegrifflichkeit im Werden‹. Nach einer kurzen Rekapitulation der Entstehungsumstände dieser Haltung (I), will ich hier deren Folgen für das etwaige Politische der Kunst erörtern (II) und schließlich einen Ausblick auf allfällige Umorientierung gegeben (III). Der vorliegende Text betreibt dabei keine Kunstwissenschaft, ist aber verfasst aus der Warte dieses Faches – gewissen philosophisch-ästhetischen Einlassungen gewisse Auslassungen vorhaltend.
I. Dass zwei große, offenkundig miteinander zusammenhängende Aspekte, nämlich die Autonomie der Kunst und das Politische der Kunst, im Hinblick sowohl auf Faktisches als auch auf Normatives eigentlich immer noch von jeder und jedem ein wenig anders gesehen werden können und alle munter aneinander vorbeireden – ein derart entfesseltes Uneins gibt es wahrscheinlich nur im Feld der Kunst: Von zwei angenommenenfalls ›emanzipativen‹ Typen könnte daher, um jetzt nur von der Autonomie zu sprechen, ein erster behaupten, die Kunst sei autonom, und das solle auch so sein, während sein pessimistischeres Gegenüber einwenden dürfte, die Kunst sei bei genauerer Betrachtung eher nicht autonom, worin allerdings ihr Verhängnis gründe. Würden sich diesen beiden nun zwei weitere, eher ›konservative‹ Gemüter hinzugesellen, so könnte deren erstes meinen, die Kunst sei zwar durchaus nicht autonom, genau dies aber habe ihr wertvolle Wirklichkeitsbindungen belassen, während sein Gegenüber kontern würde, noch nie sei die Kunst so autonom und unbehelligt
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gewesen wie heutzutage, was indes gerade ihre Beliebigkeit und Weltlosigkeit gefördert habe! (Unschwer sich auszumalen, wie das nämliche Spiel nun auch mit dem Politischen der Kunst verliefe und alsdann das eine mit dem anderen Spiel noch wacker sich kombinieren ließe.) Rekapituliert man daraufhin die gegenwärtige Situation, so könnte eine allseits konsensfähige Diagnose wohl auf kaum mehr denn Autonomie in trivialer Hinsicht hinauslaufen: Niemand muss hierzulande mehr Repressalien, nicht einmal Kaltstellung fürchten, der einfach darstellt, was er will, der, wie es heute heißt, ›sein Ding macht‹. Die Einflussmöglichkeiten der einst mächtigen Kirche, anders des Staates sind dahin. Wo die öffentliche Hand noch Kunst in Auftrag gibt, sind es heute nicht die Künstler, die sich in Rücksichtnahme auf Gepflogenheiten und Tabus üben müssten. Eher schon wäre es am Auftraggeber, für ein möglichst hohes Maß an ›criticality‹ zu sorgen, wenn er sich nicht den Vorwurf des Reaktionären, des Hinterwäldlerischen, mindestens der Naivität einhandeln wollte. Wie immer wieder einmal beklagt wird, steht ›repressive Toleranz‹ auf der Agenda all jener, die längst begriffen haben, dass der Imagegewinn durch das Lancieren kritischer Kunst größer ist als der Imageverlust durch Nestbeschmutzung. Das besiegelte denn auch das ein wenig komische Schicksal der Institutional Critique wie auch jener Künstler, die in den 1990er Jahren angetreten waren, Gutes zu tun durch und mit Kunst – und deren Agenten ihnen für ihren Pyrrhussieg immerzu neue Wirkstätten des Problemlösungstourismus besorgen mussten. Ich bin nun der Meinung, die Diskussion um die Frage nach dem Politischen der Kunst im Verhältnis zu deren Autonomie sei zwar weiter gewälzt worden, aber nicht sonderlich vorangekommen. Es bleibt immer noch eine ideologische Vorentscheidung oder Geschmackssache, es bleibt mit anderen Worten kontingent, ob man aus der oben skizzierten Trivial-Autonomie unbehelligten Kunstschaffens die Möglichkeit, gar die Verpflichtung zu oder doch lieber die Enthaltung von politischer Bekundung durch Kunst ableiten will.
II. Diese prinzipielle Offenheit hat aber nicht das letzte Wort. Genauere Beobachtung offenbart, was sich im Kunstbetrieb in den letzten Jahrzehnten verschoben hat. Während die 1990er Jahre und der Millenniumswechsel grob gesagt noch von Weltverbesserungsattitüden dominiert wurden, es manchen Kuratoren samt ihren intellektuellen Stichwortgebern ausgemachte Sache schien, dass Kunst ›praxisrelevant‹ oder, etwas bescheidener, ›Modell besserer Praxis‹ sein sollte und Großausstellungen das Elend der Welt vergleichsweise unsublimiert darboten, hat sich das mittlerweile doch verändert, allerdings in zwei gegenläufigen Richtungen:
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Auf der einen, gefühlt linken Seite frohlockt man zwar, wenn das Zentrum für Politische Schönheit durch medienwirksame Coups wieder einmal den Kulturbetrieb beschämt – doch das ist eher die Schadenfreude (oder die Wehmut) der Veteranen. Denn solch plakativem Politaktivismus in seiner alle Aufmerksamkeitsregister ziehenden Spektakularisierung jeweils aktuellen Elends begegnet selbst der linke Diskursrand nur dank Retro-, ja Trashfaktor wohlwollend. Auch in diesem Lager weiß man die in die Jahre gekommenen Legitimationsstrategien der 1990er-bis-um-2000er-Phase mittlerweile als eher ›inhaltistisch‹ plump, als zwar gut gemeinte, aber die Kunst preisgebende Instrumentalisierungen auf Abstand zu halten. Dementsprechend haben Tom Holert und Helmut Draxler denn auch darauf hingewiesen, inwiefern das vollmundige Spielen von künstlerischer Zuständigkeit für Weltprobleme die Kunst in Teufels Küche bringe.1 (Und übrigens aus genau diesem Grund haben es heute die einst in den 1990er Jahren hofierten Projektkünstler schwer, wo sie ihre Weltverbesserungsattitüde weiterhin unsublimiert vor sich her tragen: beispielsweise die Gruppe WochenKlausur,2 die seit 1993 »kleine, aber sehr konkrete Vorschläge zur Verringerung gesellschaftspolitischer Defizite« umzusetzen sucht oder das auf problematische Entwicklungen im Stadtraum projektinitiierend reagierende Künstlerduo Adam Page und Eva Hertzsch.3) Dementsprechend ist Hoffnungsträger solch linken Kunstdiskurses denn auch eher ein (laut Oliver Marchart et alteri) der Jouissance verpflichteter Politaktivismus – der, obwohl mitunter gar nicht als Kunst angetreten, dennoch womöglich Kunst sein könnte. Auf der anderen, im Kunstfeld zweifellos ausschlaggebenden und uns im Folgenden eingehender beschäftigenden Seite wird indessen aktuell ein hoher Tonfall immer vernehmbarer, der das Politische der Kunst in letztlich nichts anderem als im Künstlerischen der Kunst aufgehoben wissen will. Das klingt irgendwie konservativ, und was das ›Künstlerische‹ hier wäre, steht noch aus; doch diskreditiert man sich in diesem Lager keineswegs durch dogmatische, ernstfallsüchtige, ungeschminkt essentialistische Haltungen. Eher treten neuromantische Grundierungen zutage, kommt der Glaube auf an die ›dunkle Kraft der Kunst‹4 und gibt man sich ausgestattet mit der Emphase unentwegter Beirrbarkeit durch, aber eben auch einer Niemalsfestlegbarkeit der Grenzen 1 | Vgl. Draxler, Helmut/Gurk, Christoph im Gespräch mit Jessica Páez: »Im Zweifel für den Zweifel«, in: Phantasma und Politik # 11, hg. vom HAU Hebbel am Ufer 2015, S. 1419, sowie Holert; Tom: Gegen die Verantwortungsethik, in: ebd. S. 6-9. 2 | Vgl. die offizielle Website: www.wochenklausur.at (Stand 24.04.2016). 3 | Zu Projekten noch bis 2006 vgl.: www.infooffspring.de; weitere Daten und Links unter: www.kunst-im-untergrund.de/station/team/(Stand 24.04.2016). 4 | Vgl. Menke, Christoph: Die Kraft der Kunst, Berlin: Suhrkamp 2013, S. 12, 35f. u. 68; sowie: Reflektieren/Transzendieren. Eine Diskussion über die dOCUMENTA (13)
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von Kunst. All dies spannt sich heute vom argumentativen Mitte-links-Lager von Texte zur Kunst bis zur schöpfungsdemütigen Kunstesoterik der letzten documenta. Doch statt sich sektiererisch zu Inkunabeln, Ikonen der eigenen ästhetischen Anschauung zu bekennen, gibt diese Richtung sich in den letzten Jahren lieber dem institutionalisierten Zweifel eines ›Vielleicht Kunst‹ oder ›Vielleicht Vermittlung‹ hin. Es sind also nicht, wie naiv Außenstehende vermuten könnten, ganz normale Betrachter die, durch immer neue Leitbegriffe des Kunstbetriebs mürbe geklopft, sich solch neuerlicher Skepsis befleißigen. Vielmehr sind es die präpotenten Akteure und Leitbegriffler der Kunstwelt selbst, die sich gefallen in der franziskanischen Geste des Nicht-Besserwissens, die nun programmatisch Demut entfalten vor den unergründlichen Einwänden, welche aus der Noch-nicht-Kunst-Sphäre jederzeit aufzusteigen berechtigt wären. Der skrupulöse Antidogmatimus eines an Intersubjektivität interessierten Kunsturteils, der den Zweifel gegenüber selbstgerechter Kennerschaftlichkeit und Kunstbetriebsblindheit hochhält, hat sich hier freilich zur jovialen Figur der Selbstinfragestellung von Kunst schlechthin gesteigert, ja verstiegen. Das intellektuelle Pathos, einst auf die Frage gerichtet, ob diese oder jene Kunst realistisch sei oder nicht, ob, und falls ja, inwiefern sie politisch sei, sucht Erregungspotential nurmehr am ›Überhaupt‹ von Kunst, also bloß schon daran, dass Kunst sei. An dieser Stelle nun erfolgt die entscheidende – verschwörungstheoretisch müsste man ätzen: raffinierte – Amalgamierung: nämlich derart kultivierter Skepsis mit einer dunklen Dionysik. Solch leidenschaftlicher Ratlosigkeit hat Jacques Rancière seine vernehmbare Stimme verliehen. In Aisthesis umkreist er genau das an der Kunst, was im Aufgeben der Form dem Ereignis des Erscheinens zugute kommen soll.5 Momente der Untätigkeit (der Protagonisten Stendhals in Rot und Schwarz) sind ihm gleichermaßen wichtig wie Momente des Auf begehrens. Und die Auflösungen Loïe Fullers in ihrem Tanz sind ihm der wahre Tanz. Man fühlt sich daran erinnert, wie Paul Valéry in Die Seele und der Tanz (1921) die Wortklauberei alternder Philosophen in die Schranken weisen ließ durch den Auftritt einer jungen Tänzerin: Indes hatte sie, indem ihr Tanz ganz »Wirbel«, eine »Bewegung, außerhalb aller Dinge« wurde,6 nicht in erster Linie den Begriffswollenden ein Schnippchen geschlagen, sondern der Repräsentation. Hierin hatte Valéry sich als Kind seiner Zeit erwiesen, die im Tanz
zwischen Christoph Menke, Susanne Leeb und Sven Beckstette, in: Texte zur Kunst, Heft 87 (2012), S. 85-109, hier insbes. S. 107. 5 | Rancière, Jacques: Aisthesis. Vierzehn Szenen, Wien: Passagen 2013. 6 | Valéry, Paul: Gedichte. Die Seele und der Tanz. Eupalinos oder der Architekt. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1962, S. 100.
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die noch nicht mortifizierte, die noch nicht ins Bild kristallisierte Kunstform verzückt pries. Rancières Programm – »Eher das Auffliegen als de[r] Vogel, eher das Wirbeln als die Welle, eher das Erblühen als die Blume« 7 – könnte uns indessen, wo wir nicht zu Valéry zurück, sondern entnervt aufs Heute blicken, an die um sich greifende Ersetzung von Haupt- durch Tuwörter in eventisierten Supermärkten erinnern, die ein entsprechendes Produktsegment dann in Großlettern nicht mehr mit »Süßigkeiten«, sondern lieber mit »Naschen« überschreiben. Der Preis, den Rancière zu zahlen bereit ist für die Vermeidung jener Art Kunst ungeschminkt politischen Anspruchs, die ihm bloße Ethik wäre, ist hoch: Der stolze Schritt zurück vor die Gestalt eines Werkes (und gleichsam in dessen Werden) führt nämlich in die Gestaltlosigkeiten, die sich tummelnden dunklen Kräfte. Es zeigt sich dabei die, zumal hierzulande, ungeheuer anschlussfähige Seite dieser Ästhetik – anschlussfähig für schwärmerische, transgressionssüchtige Mentalitäten in der Kunstwelt. Ihr Pfingsten war zweifelsohne Pierre Huyghes Arbeit Untilled zur dOCUMENTA 13 (2012). Den in der Kompostieranlage der Kasseler Karlsaue eintreffenden Besuchern eröffnete sich ein stellenweise sprödes, teils auch schillerndes Gewebe von Eingriffen: eine steinerne Skulptur mit Bienenschwarm am Kopf, halluzinogene Pflanzen, zwischen allerlei Brachenvegetation betont kunstindifferent bzw. eher abholbereit gelagerte Steinplatten, ein Tümpel zwischen weiteren Anhäufungen von Ausbesserungs- oder Baumaterial, mitunter durchtrabende bunt bepfotete Hunde nebst einem Tierpfleger, der sich um sie kümmerte. Nicht so recht klar war wohl den meisten Besuchern, und so auch den intellektuellen Bewunderern dieser Arbeit, wo genau eigentlich die zeitlichen, kontextuellen, räumlichen Grenzen dieses Ausstellungsbeitrags verliefen. Genau diese Unklarheit war es aber, von der sich die Kunstdeuter enthusiasmiert gaben.8 Die Frage nach etwaigen politischen Inhalten wich also en passant derjenigen nach den latenten Sphären von Kunst. Das Politische verteidigen solche Apologeten dann im diskursiven Opferwurf: Der politische Anspruch müsse selbst zu Boden gehen, Kunst müsse fraglich werden, ja ihre Grenzen oder ihr Status überhaupt müssten in nimmermüder Vakanz sich läutern, um noch etwas zu reißen. Die Tugend, die der adäquate Besucher mitbringen soll, beläuft sich dann auf ästhetische Irritierbarkeit. Und wer wollte schon, zumal auf ästhetischem Gebiet, als ›nicht irritierbar‹ gelten? Gegenüber einer einst maßgeblichen Werkerfahrung als unabschließbarem Ineinander von Anschauung und Reflexion erhebt sich solche Irritierbarkeit bzw. Empfänglichkeit als schiere Disposition. Die von Menke 7 | Rancière: Aisthesis, S. 137. 8 | Vgl. insbes. Joselit, David: »Against Representation/Gegen Repräsentation«, in: Texte zur Kunst, Heft 95 (2014), S. 92-103.
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gegen ein, wie er meint, ›erwerbbares‹ und ›austauschbares‹ Vermögen des Subjekts angerufene dunkle Kraft der Kunst – »zu können, nicht zu können; fähig zu sein, unfähig zu sein«9 – deckte in Kassel für hundert Tage (aber später auch im Kölner Museum Ludwig) den Massenromantizismus und die kollektive Selbstergriffenheit der in Irritierbarkeit einander unablässig Übertreffenden. Irgendwie würde man sich demgegenüber einfach mehr Humor wünschen – etwa Nestroys »Kunst ist’s, wenn man’s nicht kann; denn wenn man’s kann, ist’s keine Kunst«. Doch zurück zu Argumenten. Die bei Rancière et alteri gegen das Instrumentalisierende von Politkunst gerichtete Verlegung der Bedeutsamkeit auf ein uns ereilendes ›Überhaupt‹ von Kunst bereitet eben dieser Kunst ein Danaergeschenk. Man stelle sich – zum Vergleich – nur einmal Musik vor, der gegenüber entsprechende Ästhetiker uns empfehlen würden, im Bedeutsamen an ihr allein jenen Augenblick zu küren, da uns durcheilt, dass jetzt gerade Musik statthabe (eben ihr Überhaupt) statt vielmehr nichts, so dürfte völlig klar sein, dass eine solche Ästhetik kaum zur Wertschätzung und schon gar nicht zur Differenzierung musikalischer Sprache taugen würde. Bezeichnenderweise zeigt sich wohl nur die bildende Kunst für solch eine Dekadenzfigur anfällig – die in ihrer Erpichtheit auf den Nektar der Kunst so weit über Kunst hinausschießt, wie der kulturprotestantische Versuch, die Kunst erfahrungsästhetisch in Schach zu halten, unter ihr verharrt. Womit man die hier infrage stehende Art der Kunstwertschätzung wahrscheinlich am ehesten vergleichen könnte und wo ein ähnliches Verfahren auch nach wie vor einigermaßen ramponierungsfrei über die Bühne ginge, das wäre die seit jeher gebeutelte Theologie. Denn dort glauben gleichermaßen aufgeklärte wie leidgeprüfte Gottesvermittler ja schon seit langem, im geschürten Zweifel daran, ob Gott, ob Göttliches sei, schimmere bereits die Offenbarung.
III. Im Hinblick auf das Politische scheinen die Kunstwerke mithin zugleich überwie unterfordert zu werden. Soweit ich sehe, rächt sich hier die in den letzten Jahren um sich greifende Verabsolutierung eines an sich und in Maßen durchaus berechtigten erfahrungsästhetischen Ansatzes.10 In dessen Windschatten konnten die Begehrlichkeiten auf Rezipientenseite ins Kraut schießen, war das Gebilde, in das Einlass begehrt und reichlich genommen wurde, gar nicht 9 | Menke: Die Kraft der Kunst, S. 14. 10 | Vgl. Rebentisch, Juliane: Theorien der Gegenwartskunst zur Einführung, Hamburg: Junius 2013, S. 26.
Zwischen Diffusionspathos und Quintessentialismus
mehr so recht zum Zuge gekommen. Der darauf nun reagierende Gestus, die Kunstwerke lieber bei ihrem Inneren und – hierin den denkbaren Essentialismusvorwurf durch Dynamisierung abwendend – vermeintlich beim Werden desjenigen an ihnen zu packen, was unvorgängig, was ihr Eigentliches wäre, hat in diesem Szenario zweifellos etwas Kompensatorisches. Doch auch was man sich hier genehmigte – man meint einen Rappel à l’Œuvre zu vernehmen – bleibt dezent, tritt nun keineswegs mit Genugtuung auf. Denn der hier auf den Plan tretende Quintessentialismus paart (und dekontaminiert) sich mit einer abenteuerlichen Entsicherung zeitlicher, räumlicher, kontextueller Konturen des ›Werkes‹ sondergleichen. An Pierre Huyghes oben erwähnter documentaArbeit Untilled (2012) wird also einerseits (und eigentlich nach kunsthistorischer Altväterart) so etwas wie ein originärer Impetus als das Vermächtnis, als das in die Waagschale Geworfene bewundert. Zugleich bescheinigt man dieser künstlerischen Arbeit aber auch, uns über das Wo, das Was, das Wann, das Bis-wohin, ja das Ob-überhaupt von Kunst verunsichert zu haben. Unnötig zu erwähnen, dass diese Verunsicherungen als durch Kunst veranlasste Produktionen ästhetischer Subjektivität der vielen und immer anders sich einbringenden Einzelnen zu würdigen sein sollen, so als sei der Eindruck eines jeglichen Wesens hier potentiell kostbar. Diese Verquickung lässt die Sache also unverdächtig erscheinen und macht, dass der Vorwurf verhohlener Kunstmetaphysik irgendwie verpufft. Auf die berechtigte Frage, wie anders denn das Politische und die Autonomie der Kunst zusammengehen könnten – also ohne die hier vorgeführte Verschränkung aus Quintessentialismus und Diffusionspathos zum verquälten ›Überhaupt‹ von Kunst –, würde ich antworten: dass nicht nur dem Emphatischen, sondern vor allem auch dem Gekonnten, Routinierten, der durchwirkten Vielgestalt von Kunst wieder zu trauen wäre; nicht nur dem hochfahrend Selbstverglühungsbereiten, sondern ebenso der investierten Form, dem moderat Instituierten: Unsere Gunst wäre also, um Rancière zu paraphrasieren, nicht vorrangig dem Erblühen, sondern auch der Blüte und der Blume zu erweisen. Walter Benjamins Einsicht, die Rede erobere den Gedanken, die Schrift beherrsche ihn, gilt es mithin auf ganzer Linie zurückzugewinnen – für die bildende Kunst als Leitbild ihres Deutens wie auch Erlebens! Also: dass statt links-dekontaminierter Ereignismetaphysik wieder die Lektürewonnen das letzte Wort haben, dass vor allem und letztlich der komplexen Gestalt des Werkes Aufmerksamkeit entgegengebracht wird – dem Resultat statt nur dem Impetus von Kunst. Nur und genau in der irreduziblen Vielgestalt des Werkes wirkt die bedrohte und widerrufliche Autonomie der Kunst, nicht in einem vermeintlichen Inbegriff der Werke, wie es den aktuellen Stürmern, Drängern und Neoexpressionisten ästhetischen Denkens vorschwebt. Und erst in dieser irreduziblen
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Vielgestalt des Werkes gewinnt eine politische Aussage der Kunst jene Intensität, die bloß Ignoranten wie Banausen kalt ließe. Richtungsweisend erscheint mir dafür der ernüchternde – nicht zufällig aus anderem Felde als dem der bildenden Kunst stammende – Gedanke des Rhetorikers Gert Ueding:11 mit Friedrich Nietzsche sei Sprache per se nie als natürliche, nur als so oder so tropische zu haben, wir hülfen uns quasi von Metapher zu Metapher, außerhalb derer nichts sei. Wenn das stimmt – und vor den hart und unsentimental entwickelten Bildfindungen in Picassos Guernica (1937) merken wir ja auf beunruhigend klare Weise, dass es stimmt –, dann sind solcher Einsicht sich verweigernde philosophisch ästhetische oder kunsttheoretische Wege unratsam. Wer von der letztgültigen Gestalt des Werkes absehend zurück in dessen verheißungsvolles Werden und zugleich voraus in das blicken will, was es mit uns anrichtet (oder wir mit ihm), der hat die Kunst aus dem Blick verloren, und mit ihr das Politische der Kunst.
11 | Ueding, Gert: »Indirekte Kommunikation. Über die stumme Rede der Bilder«, in: Andreas Beyer/Laurent Le Bon (Hg.): Silence. Schweigen. Über die stumme Praxis der Kunst, Berlin/München: Deutscher Kunstverlag 2015, S. 17-30.
Gegen Kunsttheorie. Zur Frage nach dem politischen Charakter von Kunst Holger Kube Ventura
Was KünstlerInnen im Kunstfeld machen und PolitikerInnen in politischen Arenen, findet eigentlich in völlig verschiedenen Welten statt. Dennoch scheinen Kunst und Politik einige Ähnlichkeiten aufzuweisen: Beide wollen modellhaft, progressiv und gültig sein und gelten dementsprechend als wichtig; Kunst oder Politik überflüssig zu finden, ist gemeinhin verpönt. Idealistisch gesehen haben beide als gemeinsames Gegenteil die Unterhaltung, die – anders als die vermeintlichen Antipoden Kitsch (zu Kunst) und Religion (zu Politik) – keine höheren Werte suggeriert. Jenseits davon ist alles Kunst bzw. kann künstlerisch gelesen werden und alles ist Politik bzw. kann politisch gelesen werden. So wären z.B. zahlreiche Demonstrationsprojekte von Greenpeace oder der Youth International Party genauso wenig von kunstbetrieblicher Aktionskunst abgrenzbar wie die Interventionen von The Yes Men oder vom Zentrum für politische Schönheit von außerparlamentarischer Opposition. Und letztlich wäre es ebenso leicht (nämlich per Machtwort oder persönlicher Meinung) wie schwierig (nämlich per theoretischem oder empirischem Beweis), ein Produkt oder eine Handlung als künstlerisch bzw. als politisch zu indizieren. Erst mit der Verbindung beider Begriffe in Gestalt einer ›politischen Kunst‹ – ein Name, der heute noch öfter gemeint als explizit ausgesprochen wird – kommt es zur Behauptung von Zuständigkeitsbereichen, deren Grenzen durch konsequentes Handeln auch anzuerkennen seien. Kunst und Politik erhalten dadurch eine vermeintliche Trennschärfe, die sie vorher nicht besaßen. Wo die Gesinnungsfrage, ob in künstlerischen Werken ein politisches oder ob in politischen Aktionen ein künstlerisches Potential stecke, bejaht wird, da ist die Entgegnung meist nicht weit, dass es sich entweder nicht um richtige Kunst oder nicht um richtige Politik handeln könne. Praxisformen, die sich an beide Sphären zugleich wenden, wird schon immer gern vorgeworfen, sie verrieten durch mangelnde Funktionalität ihre politischen Ansprüche oder durch mangelnde Eigenständigkeit ihre künstlerischen Ambitionen und seien deswegen letztlich entweder doch bloß (schlechte) Kunst oder eben nur
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(schlechte) Politik. Das Zusammengehen von Kunst und Politik scheint beiden gegenüber einen Verrat darzustellen. Politische Kunst ist ketzerisch, vielleicht wegen der religiös bestimmten Herkunft von Kunst und einer in ihr auch heute noch vitalen Spur des binären Codes heilig/profan.1 »Die Frage nach dem politischen Charakter der Kunst« (die auch der Ankündigungstext zum Symposium Politik der Kunst. Über Möglichkeiten, das Ästhetische politisch zu denken stellte) verdrängt oft jene konkreten Inhalte und Kontexte, ohne die doch weder das Politische noch das Künstlerische zu haben ist. Aus kunstwissenschaftlicher Perspektive wären bei dieser Frage zwei Seiten zu unterscheiden: Man kann entweder das Politik-Machen mit Kunst durch ihre AuftraggeberInnen, BesitzerInnen und ErmöglicherInnen betrachten (z.B. bei Stifterporträts, höfischer Historienmalerei, Denkmälern, Staatskunst, Corporate Sponsoring, thematischen Förderprogrammen, Kunst am Bau) oder Vermutungen über die politischen Potentiale von Kunst selber anstellen. Letzteres geschieht am häufigsten dort, wo Kunst gesellschaftliche Zu- oder Missstände aufzeigt und so etwas wie Gegenöffentlichkeit herstellt (man denke etwa an John Heartfield, Hans Haacke, Klaus Staeck): Umso direkter Kunst kritisiert oder anklagt, desto schneller wird sie als politische erkannt (und ggf. darauf reduziert). Über politische Potentiale spekulieren kann man außerdem, wenn Kunst in öffentlichen Räumen interveniert (z.B. Joseph Beuys, Thomas Hirschhorn, Christoph Schlingensief), wenn sie den White Cube oder den Kunstbetrieb als gesellschaftliches Stellvertretersystem thematisiert (z.B. Andrea Fraser, Gerwald Rockenschaub, Rirkrit Tiravanija) oder allgemeine Erwartungen an Kunst durchkreuzt, indem sie keine Originale mehr liefert (z.B. Copy-Art), die Autorenschaft verweigert (z.B. anonymisierte oder kollektive Produktionen) oder Neuartigkeit ablehnt (z.B. Appropriationen). Alle diese künstlerischen Methoden können als Renitenz oder Dissidenz gelesen werden – und zugleich (bloß) als Ausdruck des freien, selbst bestimmten Individuums. Dass diese via Kunst vorgeführte Selbstbestimmung als Politikum gilt oder behauptet werden kann, liegt an der historischen Entwicklung des Kunstbetriebs: Seit Kunst aus der Abhängigkeit von AuftraggeberInnen wie Adel und Kirche entlassen wurde, muss sie sich auf einem Markt durchsetzen, wo sie von einem progressiven Bürgertum eben dafür gekauft und gefördert wird, dass sie für die modernen Grundwerte steht, nämlich für Freiheit, Neuartigkeit und Individualität. Seit sie in diesem historisch konkreten Sinne auto-
1 | Dazu Pierre Bourdieu: »Alles, aber auch alles […] besagt schließlich nur das Eine: daß nämlich die Welt der Kunst im selben Gegensatz zur Welt des alltäglichen Lebens steht wie das Heilige zum Profanen.«, Bourdieu, Pierre: »Elemente zu einer soziologischen Theorie der Kunstwahrnehmung«, in: Jürgen Gerhards (Hg.): Soziologie der Kunst: Produzenten, Vermittler und Rezipienten, Opladen: Westdeutscher Verlag 1997, S. 333.
Gegen Kunsttheorie
nom ist, kann man ihr diesbezüglich politische Dimensionen beliebig zu- oder absprechen – was bis heute insbesondere für PhilosophInnen interessant ist. Die Frage nach dem Politischen von Kunst ist ein stetig wiederkehrendes Gespenst der Moderne. Obwohl Kunstgeschichte bereits Ende des 18. Jahrhunderts zur Disziplin wurde, prägte sich dort der Topos einer möglichen politischen Relevanz von Kunst erst zum Anfang des 20. Jahrhunderts deutlicher aus. Ein Ursprung der kunsthistorischen Suche nach gesellschaftlichen Funktionen kann in der Ikonologie Aby Warburgs und Erwin Panofskys angenommen werden: »Kunst, die man bis dahin so gerne in Stilen kontempliert hatte, stand nun nicht mehr im Vordergrund, dagegen eine Typengeschichte, die an den Werken die Tendenzen des menschlichen Geistes ablesen wollte, die sich in bestimmten Themen und Vorstellungen ausdrücken.«2 Mit den späteren Sozialgeschichten der Kunst wurde solch eine kulturgeschichtliche Symptomforschung intensiviert: Hatte man sich zuvor eher um die Deutung und Klassifizierung der Werke bemüht, so ging man mit ihrer Kontextualisierung nun den dahinterliegenden Machtworten nach: Unter welchen Bedingungen hatte ein Werk entstehen können; welchen in Auftrag gegebenen Funktionen unterlag es; wo wich es davon ab und inwiefern waren solche Abweichungen kritisch oder künstlerisch intendiert?3 Seit der Mitte des 20. Jahrhunderts wurde die Machtfrage nicht mehr nur in die Vergangenheit gerichtet, sondern auch an die VertreterInnen des eigenen Fachs: Kunstgeschichtsschreibung sollte von den spezialisierten Einzelinterpretationen hin zur diskursiven Gesellschaftstheorie verschoben werden und mehr Bodenkontakt bekommen – auf der Ulmer Kunsthistorikertagung von 1970 wurde das massiv eingeklagt.4 Seit dieser Zeit ist das Feld aus Kunstgeschichte, Kunsttheorie, Kunstphilosophie und allerlei Hybridwissenschaften im Zuge seiner Ausdifferenzierung zwar selbstreflexiver und methodenbewusster geworden, bleibt aber hinsichtlich der Frage nach dem Politischen von Kunst von traditionell konkurrierenden Ideologien bestimmt, die man wie folgt sortieren könnte: ›Kunst ist immer politisch!‹ – so lautet das Axiom von Theorien, die auf eine allgemeine, unhintergehbare Korrektivkraft jeder Kunst abheben. Das Politische liegt hier in der idealistischen Annahme, dass die geniale Ästhetik und Freigeisterei von Kunstschaffenden auf eine Gesellschaft irgendwie
2 | Belting, Hans: Das Ende der Kunstgeschichte. Eine Revision nach zehn Jahren, München: Beck 1995, S. 147. 3 | Vgl. Beyme, Klaus von: Die Kunst der Macht und die Gegenmacht der Kunst: Studien zum Spannungsverhältnis von Kunst und Politik, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998, S. 8ff. 4 | Eine Relativierung von Kunstgeschichte forderte dort z.B. Martin Damus, der 1973 sein Buch mit dem vielsagenden Titel Funktionen der Bildenden Kunst im Spätkapitalismus veröffentlichte.
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abfärbe.5 Dieses Axiom findet sich z.B. in Schul-Curricula oder Richtlinien für künstlerische Studiengänge und in der schwärmerischen Lobbyarbeit von KulturpolitikerInnen.6 Auf dem Berliner Symposium Politik der Kunst leuchtete es in Christoph Menkes philosophischen Vortrag über eine geheimnisvolle »Macht der Schönheit« 7 durch sowie in den Statements der Filmregisseurin und Akademie-Präsidentin Jeanine Meerapfel, die heute politische Tätigkeit (anders als in den 1970er Jahren) eher in einem von Kunst ausgelösten Nachsinnen vermutet als in ihrem Verstehen. ›Kunst darf nie politisch sein!‹ ist ein ästhetizistisches Axiom, das sich besonders gegen alle Formen des kritischen Aufzeigens richtet und stattdessen für eine Kunst um der Kunst willen wirbt.8 Für den US-amerikanischen Kunstkritiker Clement Greenberg z.B. durfte der Abstrakte Expressionismus keine figürlichen, realistischen Komponenten haben, um so als von Themen bereinigte Malerei eine freiheitliche Absage an die während des Kalten Kriegs im Ostblock geförderte Politisierung der Ästhetik zu formulieren.9 Während Greenberg eher dogmatisch argumentierte, war die Ausschlussfigur von Adorno dialektisch, als er die Funktion der Kunst in ihrer Funktionslosigkeit lokalisierte:
5 | So erläuterte Friedrich Schiller 1795 im zweiten Brief über die ästhetische Erziehung der Menschen, dass die Kunst selbst das Medium ist, durch das die Menschen sich zur wahren politischen Freiheit bilden und dass öffentliche Kunst als eine kommunikative Kraft die Lebensformen verwandelt. Vgl. dazu Bätschmann, Oskar: Ausstellungskünstler. Kultur und Karriere im modernen Ausstellungssystem, Köln: DuMont 1997, S. 72. 6 | »Die Freiheit der Meinung ist zwar im Grundgesetz garantiert, aber nicht das Privileg, sie öffentlich und offiziell zu äußern. Indem die Kunst über Institutionen verfügt, die ihr dieses Privileg verschaffen, behält sie in unserer Gesellschaft ihre Funktion. Diese Gesellschaft ist nicht so tolerant, wie sie sich gibt, und erkennt außer der Kunst keine andere Autorität an, die es sich leisten dürfte, umstrittene Themen öffentlich zur Diskussion zu stellen und vor allem selber Stellung zu beziehen.«, Belting: Das Ende der Kunstgeschichte, S. 57f. 7 | Anm. d. Redaktion: Vgl. dazu auch Christoph Menkes Beitrag in diesem Band. 8 | 1836 formulierte der Philosoph Victor Cousin seine Theorie einer L’art pour l’art, nach der Kunst keinen ihr äußeren Funktionen folgen dürfe. Bereits 1804 forderte Benjamin Constant eine »Kunst für die Kunst, und ohne Zweck, denn jeder Zweck verdirbt die Kunst« und Nietzsche erläuterte 1888: »L’art pour l’art heißt: ›der Teufel hole die Moral!‹« – was als Prinzip der sich ab 1830 in Paris bildenden Bohème interpretiert werden kann (zitiert nach Bätschmann: Ausstellungskünstler, S. 75). 9 | Benjamin Buchloh bezichtigte Greenberg, mit seinen Ausschlussforderungen »nicht weniger als die systematische und flagrante Verfälschung der gesamten Geschichte der Historischen Avantgarde im Denken der Nachkriegszeit« betrieben zu haben, Buchloh, Benjamin: »Perestroika in der Kunst?«, in: Texte zur Kunst, Heft 2 (1991), S. 69.
Gegen Kunsttheorie »Gesellschaftlich ist Kunst weder nur durch den Modus ihrer Hervorbringung […] noch durch die gesellschaftliche Herkunft ihres Stoffgehalts. Vielmehr wird sie zum Gesellschaftlichen durch ihre Gegenposition zur Gesellschaft, und jene Position bezieht sie erst als autonome. Indem sie sich als Eigenes in sich kristallisiert, anstatt bestehenden Normen zu willfahren und als ›gesellschaftlich nützlich‹ sich zu qualifizieren, kritisiert sie die Gesellschaft, durch ihr bloßes Dasein, so wie es von Puritanern aller Bekenntnisse mißbilligt wird.«10
Benachbart dazu sind Jacques Rancières Plädoyer für eine Unentschlüsselbarkeit der Kunst und die in Berlin von Alexander García Düttmann vorgetragene Schelte jeglicher partizipatorisch konzipierter Projekte (wie z.B. Rimini-Protokoll), die auch von Leonhard Emmerling (Goethe-Institut München) geteilt wurde. ›Kunst muss immer politisch sein!‹ – auch mit diesem Axiom wird für die Durchsetzung einer bestimmten Kunst gekämpft. Darauf gründeten sich z.B. die Forderung des ungarischen Philosophen Georg Lukács nach einem Sozialistischen Realismus sowie nach ästhetischen Theorien, die im Zuge von Revolutionszeiten entstanden oder sich auf solche beriefen.11 Es bestimmte ebenso die von Nicolas Bourriaud propagierte Esthétique relationnelle (1998); und wenn man Rufe nach dem gesellschaftlich integrierenden Potential von Kunst als Rufe nach einer politischeren, einer lebensweltlich relevanteren Kunst versteht, dann ging sogar Hans Sedlmayr in Verlust der Mitte (1948) von diesem
10 | Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1970, S. 475. 11 | So hatten Maxim Gorki und Andrej Zdanov 1934 von der Kunst Parteilichkeit und Volksverbundenheit gefordert: »Die wahrheitsgetreue und historisch konkrete künstlerische Darstellung muß mit der Aufgabe verbunden werden, die werktätigen Menschen im Geiste des Sozialismus ideologisch umzuformen und zu erziehen. Das ist die Methode, die wir als die Methode des Sozialistischen Realismus bezeichnen«, zit.n. Sterneck, Wolfgang: Der Kampf um die Träume – Musik und Gesellschaft. Von der Widerstandskultur zum Punk, von der Geräuschmusik zum Techno, Hanau: KomistA 1998, S. 90. Auf die Malerei bezogen erläuterte dazu Georg Lukács in seinem Aufsatz Kunst und objektive Wahrheit (1954): »Fertige Vorbilder nützen den kämpfenden und ringenden Menschen relativ wenig. Eine wirkliche Hilfe, eine wirkliche Förderung bietet ihnen das Erlebnis, wie diese vorbildlichen Helden aus zurückgebliebenen Bauern, aus verkommenen Besprisorni usw. zu diesen vorbildlichen Helden geworden sind; aber nur, wenn dieser Prozeß wirklich umfassend, wirklich lebendig, wirklich in allen seinen wichtigen objektiven Bestimmungen, mit der richtigen objektiven Verteilung von Licht und Schatten gestaltet wird.«, Heinrich, Dieter/Iser, Wolfgang (Hg.): Theorien der Kunst, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1992, S. 310f.
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Axiom aus.12 Hegels These vom Ende der Kunst variierend erzählte Sedlmayr damals eine an der Kunst abzulesende Verfallsgeschichte der Zivilisation, in deren Folge der Mensch sich von sich selbst abwende, wofür auch die Kunst verantwortlich zu machen sei. ›Kunst kann nie politisch sein!‹ – auf diesem Axiom basieren kulturpessimistische Theorien, nach denen jede Kunst nur der Ausdifferenzierung einer Kultur- bzw. Bewusstseinsindustrie diene (Hans-Magnus Enzensberger) und damit die bestehenden Machtverhältnisse konsolidiere: Opposition werde stets nur in genau abgezirkelten Bereichen zugelassen, begradigt und dann als Nachweis demokratischer Selbstkritik vorgeführt; eine kulturelle Gegenmacht sei Illusion. Insofern stehe Kunst immer im Dienst eines Herrschaftssystems, das – z.B. als Kapitalismus subjektiviert und als alle gesellschaftlichen Bereiche bestimmend angesehen – stets unangreif bar bleibt. Dass Ästhetik heute ein Lifestyle und Kunst zum allgemeinen Normalfall und deshalb zahnlos geworden ist, war auf dem Berliner Symposium sowohl in den Vorträgen von Christoph Bartmann (Goethe-Institut New York) als auch des Kunsthistorikers Christian Janecke zu hören. Eine gesellschaftliche Relevanz kann einem Kunstwerk jederzeit herbeikonstruiert werden, gleichzeitig können jegliche politischen Dimensionen einer künstlerischen Praxis als »nur Kunst« entschärft werden.13 Werner Hofmann zog in Kunst und Politik (1969) daraus den Schluss, dass tatsächlich politische Kunst nur in totalitären Gesellschaften entstehen könne. Er dachte damals an den Ostblock und an Gesellschaften, deren erste Prämisse eben nicht individuelle Freiheit, sondern kollektive Funktion war. Demgegenüber stellte Boris Groys heraus, dass die osteuropäischen, nach 1990 im Westen als Dissidentenkunst eingestuften Arbeiten von Ilya Kabakov und anderen eben nicht oppositionell-politisch waren, sondern die Kunst endlich entpolitisieren, d.h. 12 | Dazu Hermann Glaser: »Die sozialistische Kunstdoktrin sah in der Abstraktion modernistische Unverbindlichkeit, Ausdruck eines dekadenten Kapitalismus, der das eigentlich Humane versäume – übrigens in Übereinstimmung mit einer westlich-konservativen Kunstkritik (Max Picard, Arnold Gehlen, Hans Sedlmayr), die eine ›bildlose‹ Kunst als Verlust menschlicher Mittel interpretierte.«, Glaser, Hermann: Deutsche Kultur. Ein historischer Überblick von 1945 bis zur Gegenwart, München/Wien: Hanser 1997, S. 456. 13 | Wo die Präsentation von Kunst ein Politikum darstellt, kann ebendieses auch als künstlerische Freiheit hingestellt werden: »Die Kunst ist frei!« postulierte 1981 ein Kulturbeauftragter anlässlich der heftigen Proteste gegen eine Ausstellung von Skulpturen von Arno Breker in einer Berliner Galerie, woraufhin die Demonstrierenden konterten: »Nein, die Kunst ist ein Politikum!« Vgl. dazu Lorenz, Renate: »Kunstpraxis und politische Öffentlichkeit«, in: BüroBert (Hg.): CopyShop. Kunstpraxis & politische Öffentlichkeit, Berlin: Edition ID-Archiv 1993, S. 7.
Gegen Kunsttheorie
von staatlichem Missbrauch befreien wollten. Deutlich wird an solchen Gegenüberstellungen (genauso wie an den oben genannten Axiomen), dass es genauso seltsam wäre, der Kunst auf allgemeiner Ebene eine politische Dimension per se zuzuschreiben, wie sie ihr abzusprechen. Da sowohl Kunst als auch Politik stets kontextabhängig sind, kann das Politische von Kunst auf allgemeiner oder philosophischer Ebene nur behauptet werden. Insbesondere dort sind kunsttheoretische Konstruktionen also selbst ein Politikum – auch dann, wenn sie etwas als unpolitische Kunst heraus stellen. So wurde z.B. wenige Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs auf dem ersten Darmstädter Gespräch (1950) über das politische Handeln jener deutschen KünstlerInnen gerichtet, die eben nicht ins Exil gegangen waren (und wie z.B. Hans Hartung als französischer Fremdenlegionär gegen Nazideutschland gekämpft hatten), sondern in die ›innere Emigration‹ (wie etwa Willi Baumeister).14 Weil jede Kunsttheorie zum Politischen in der Sphäre Kunst zwangsläufig immer selbst politisch ist, sollte stets auch nach ihrer Funktion gefragt werden. »Sie muß brauchbar sein und funktionieren. Und zwar nicht für sich selbst«, antwortete Gilles Deleuze im Gespräch mit Michel Foucault 1972 unter dem Titel Die Intellektuellen und die Macht.15 Heute ließe sich zuspitzen: Jede Kunsttheorie ist gebrauchbar und erfüllt – auch unbeabsichtigt – Funktionen. Konstruktionen zur Politik der Kunst sind zwar möglicherweise immer nur Variationen im traditionellen Feld der oben genannten Axiome. Ihr gesellschaftliches und geistiges Bezugsfeld und die konkreten Gründe aber, weshalb dieses oder jenes Axiom zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt in Kunsttheorien wieder Konjunktur hat, wandeln sich und lassen sich untersuchen. Zum Bezugsfeld des Symposiums Politik der Kunst in Berlin 2015 muss z.B. das diskursive Erdbeben gezählt werden, das drei Jahre zuvor die 7. Berlin Biennale ausgelöst hatte und das bis heute nachhallt. Ihr Ausgangspunkt war die Unterstellung des Künstlerischen Leiters Artur Żmijewski, dass sich zeitgenössische KünstlerInnen aus Angst vor beruflichem Scheitern nur noch »an die Vorgaben des Kunstsystems mit seinen wechselnden Trends und Interessen anpassen« und ihre »Kunstobjekte genauso zum Dekor des neoliberalen Systems verkommen« seien wie »der dazugehörige intellektuelle Rahmendiskurs.« Kunst begnüge sich »mit der Präsentation von Ideen, die ohnehin niemand umzusetzen gedenkt«. Unter dem Appell »Forget Fear« wollte die 7. Berlin Biennale deshalb einen »künstlerischen Pragmatismus« ausstellen: 14 | Vgl. Wyss, Beat: »Willi Baumeister und die Kunsttheorie der Nachkriegszeit«, in: Eckhard Gillen (Hg.): Deutschlandbilder. Kunst aus einem geteilten Land, Köln: DuMont 1997, S. 532f. 15 | Foucault, Michel/Deleuze, Gilles: »Die Intellektuellen und die Macht«, in: Michel Foucault: Von der Subversion des Wissens, Frankfurt a.M.: Fischer Wissenschaft 1991, S. 108f.
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»konkrete Handlungen, die zu greif baren Ergebnissen führen.« Statt »merkwürdige und schwer verständliche Kunst« sollten Werkzeuge vorgeführt werden, »die aktiv in die Welt eingreifen.«16 Das Ergebnis war verheerend und die Berichterstattung darüber mit weit über tausend Artikeln in der Tagesund Fachpresse so umfangreich wie nie zuvor: Fast unisono empörten sich KünstlerInnen, KritikerInnen, KuratorInnen, KunsthistorikerInnen und die breite Öffentlichkeit über allerlei Instrumentalisierungen und unerträglich blöde Ausstellungsbeiträge, die weder künstlerisch noch politisch interessant, reflektiert oder produktiv seien.17 Die 7. Berlin Biennale wird noch lange als ein in jeder Hinsicht außergewöhnlich misslungenes Ausstellungsprojekt in Erinnerung bleiben; bedeutsamer ist aber der Bärendienst, den Żmijewski damit jenen politischen Kunstpraxen erwiesen hat, die er doch eigentlich befördern wollte. Denn mit ihrem grandiosen Scheitern unter dem Axiom »Kunst muss immer politisch sein!«18 hat diese Biennale wohl stark dazu beigetragen, dass in der Folge wieder mehr und aggressivere Stimmen zu hören waren, die der Kunst politische Potentiale grundsätzlich absprechen oder sich solche nur in einer allgemeinen Rätselhaftigkeit und unspezifischen Widerborstigkeit vorstellen können. Ausgangspunkt der 11-teiligen Veranstaltungsreihe Phantasma und Politik (2013-2015) im Berliner HAU war nur ein »vages Unbehagen an den Formen in und den Umständen unter denen Politik […] in vielen Großausstellungen und Festivals […] heute als eine Art von Etikett [fungiert], das gesellschaftliche Relevanz und ein spezifisches Differenzierungspotential zu einem als etabliert vorgestellten Kulturbetrieb ankündet.«19 Auf dem Berliner Symposium Politik der Kunst (2015) hingegen machte sich solches Unbehagen bei mehreren ReferentInnen schon als entschiedene Absage an politische Kunst Luft. Das Symposium ging von der Annahme aus, dass es gegenwärtig einen starken Trend zu engagierten, partizipatorisch konzipierten, mithin politischen Kunstpraktiken gebe, analog zu einem Trend zu Kulturförderungsinstrumenten, die gesellschaftliche Zwecke der Kunst zur Bedingung machten. In der Folge werde – so die These der VeranstalterInnen – zunehmend bloß noch über die politische Relevanz von Kunst reflektiert, der Eigenwert des Ästhetischen 16 | Ar tur Žmijewski, 2012, www.ber linbiennale.de/blog/komment are/forgetfear-ein-vorwort-von-artur-zmijewski-19526 (Stand 07.01.2016). 17 | Vgl. z.B. die umfangreiche Dokumentation von Boecker, Susanne: »An der Realität gescheitert«, in: Kunstforum International, Heft 216 (2012), S. 158-212. 18 | So postulierte die von Žmijewski als Co-KuratorInnen benannte russische Künstlergruppe Voina: »Alles, was keine Politik ist, ist keine Kunst, sondern nur eine tote Vogelscheuche gefüllt mit Scheiße und Reflexion.« http://de.free-voina.org/ (Stand 07.01. 2016). 19 | http://berlinergazette.de/phantasma-und-politik/(Stand 07.01.2016)
Gegen Kunsttheorie
gerate in den Hintergrund oder sei sogar bedroht durch allerlei Forderungen nach einer neuen Nützlichkeit von Kunst und durch systemische Kommodifizierungen. Die Mehrheit der TeilnehmerInnen schien dieser These zu folgen. Viele sangen das allzu bekannte Lied der Kritik an Nicolas Bourriaud (ohne dessen Namen zu nennen), und Alexander García Düttmann ging in seinem Auftaktvortrag sogar so weit, politisch-künstlerische AkteurInnen als TrickbetrügerInnen zu bezeichnen, die jeder Frage nach dem Künstlerischen oder dem Politischen jeweils mit Verweis auf das Andere ausweichen würden. Ihre »Teilnahmskunst« – Düttmann reduzierte hier »politisch« auf »partizipatorisch« (obschon doch politische Kunst nach wie vor meistens in Formen des frontalen Aufzeigens vorliegt) – sei stets vorhersehbar, der angestrebte Dialog bloß Selbstbestätigung und dies die finale Verunmöglichung von (politischem) Handeln. Überhaupt diene die Reflexion von Kunst immer nur zur Auflösung von eigentlich produktiven Spannungen und müsse deshalb am besten ganz ausgesetzt werden.20 Wenn es eine sozialwissenschaftliche Studie zum behaupteten aktuellen Trend zu politischen Kunstpraxen gäbe, dann würde sie – so nun meine These – keinen solchen bestätigen. Stattdessen würde diese Studie zeigen (z.B. anhand des Vergleichs von Programmen in Ausstellungshäusern oder von Themenschwerpunkten in Periodika des letzten Vierteljahrhunderts), dass politische Kunst ein Dauerbrenner im Kunstbetrieb ist. Nur gefühlt wird dessen Politisierung jeweils dann stärker, wenn entsprechende Großveranstaltungen wie z.B. Catherine Davids documenta X (1997) oder Robert Storrs 52. Biennale di Venezia (2007) oder viel diskutierte Kunstprojekte von beispielsweise Christoph Schlingensief (bis 2010) oder Chto Delat? (ab 2003) die Medien bestimmen. Im Umfeld des Symposiums Politik der Kunst waren insbesondere die extrem medienwirksamen und polarisierenden Projekte des Zentrum für politische Schönheit zu Bezugspunkten geworden – manche als »Politische Pornographie!« (Süddeutsche Zeitung), manche als »Eine großartige Aktion!« (Zweites Deutsches Fernsehen) beurteilt, oft beides zugleich. Ich nehme an, dass der Mehrheit der Symposiums-TeilnehmerInnen solche Projekte ein Gräuel sein dürften. Als Reflexe erklärbar wären in diesem Fall ihre Kassandrarufe, dass der Eigenwert des Ästhetischen bedroht sei, weil politisch-künstlerische Projekte – die bloß Effekte eines neoliberalen Kreativitäts- und Partizipationsimperativs seien – dem vermuteten Trend zu Effizienz- und Resonanz-orientierter Kulturförderung noch zusätzlichen Auftrieb verschafften. Solche Kassandrarufe erinnern mich an die Debatten der mittleren 1990er Jahre um ›political correctness‹. Damals wurden die in politisch-künstlerischen Praktiken geforderten oder vorgenommenen Inklusionen von ihren GegnerInnen zuweilen gerne als inakzeptable Exklusionen stigmatisiert (z.B. 20 | Anm. d. Red.: Vgl. auch Alexander García Düttmanns Beitrag in diesem Band.
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sei Gleichberechtigung von Frauen doch eigentlich Diskriminierung von Männern und die Forderung nach gewaltfreiem Sprechen ein Redeverbot). Gerne wiesen KritikerInnen damals auch die realpolitische Irrelevanz von symbolpolitischen Aktionen nach, um sodann genüsslich das vollumfängliche Scheitern solcher Projekte oder gar ihre entpolitisierende Funktion als Surrogat zu behaupten.21 Die feministische Philosophin Frigga Haug versuchte ›pc‹ vor zwanzig Jahren phonologisch zu entwerten und beschrieb Beweisführungen in dessen Namen adäquat als »Gegenoffensive von rechts, die stigmatisierend alle Vorstellungen, eine bessere Gesellschaft für möglich zu halten, mit dem Virus Pießie impft und der allgemeinen Abwehr preisgibt.«22 Der autonomen Kunst wird stets im Konjunktiv die Möglichkeit von Aufklärung, Ermächtigung, Weltverbesserung usw. zugesprochen, dies sei – wie abstrahiert oder verschlüsselt auch immer – ihr Telos. Der sozial oder politisch engagierten Kunst hingegen wird Aufklärung, Ermächtigung, Weltverbesserung usw. gern als real zu erreichendes Ziel aufgebürdet. Andernfalls sei sie heuchlerisch, weil sie ja eben diese außenpolitischen Ziele, die der kunstbetrieblichen Innenpolitik entkommen wollten, zu ihrer Funktion erklärt habe. Nicht-künstlerischen Handlungs- und Ausdrucksformen wie einer Demonstration, einer journalistischen Recherche oder einer selbstorganisierten Struktur würde wohl niemand kategorisch vorwerfen, sie könnten selbst gesteckte Ziele ja doch nie erreichen und seien deswegen hinfällig. Der Kunst hingegen kann ebendies passieren. Meinem Eindruck nach schien sich vor etwa zehn Jahren im Kunstbetrieb das Interesse an politischer Kunst zu verallgemeinern. Vorschläge für kulturelle Interventionen im öffentlichen Raum wurden in der Regel von Vielen begrüßt und von fast allen geduldet – von GraffitiFormen (wie z.B. Backjumps), über Bewegungsdokumentationen (von z.B. Oliver Ressler) bis hin zu kuriosen Plänen für allerlei selbstgestaltete Öffentlichkeiten (als z.B. Evolutionäre Zellen). Unter Kulturschaffenden sprach man politischen Kunstprojekten im Zweifelsfall die emanzipatorische Kraft lieber zu als ab, selbst dann noch, wenn etwa ihre Beweisvideos nur als Trophäen des Gemacht- und Gestört-Habens daher kamen. Diese Zeit ist einstweilen offenbar vorbei. Heute scheint es gerade unter KunsttheoretikerInnen eher wieder en vogue zu sein, vielstimmige, partizipatorische Projekte als ästhetische Spektakel zu lesen, die sich bloß selbst bestätigen und auf den Konsum politischer Gesten beschränken würden. Welches Motiv könnte sich dahinter verbergen? Früher – in einer bezüglich Medien und Formen noch stärker von Konventionen geprägten Zeit – konnte und musste man mit dem Diktum, dass Kunst 21 | Vgl. Kube Ventura, Holger: Politische Kunst Begriffe – in den 1990er Jahren im deutschsprachigen Raum, Wien: Selene 2002, S. 34-36. 22 | Haug, Frigga: »Editorial: Pießie«, in: Das Argument, Heft 213(1996), S. 3.
Gegen Kunsttheorie
eben all das sei, was im Kunstbetrieb erscheint, zuweilen auch unkonforme oder allzu brisante Werke in Schutz nehmen. Heute wäre dies nicht mehr nötig. Denn es gilt nun umgekehrt: Alles, was im Kunstbetrieb ist, erscheint als Kunst, auch dann, wenn es reines Mittel, reine Ware, Werbung oder Dekoration ist. Es muss nur seine InteressentInnen finden oder den Eindruck erwecken, dass dies jemals passieren könnte. ›Kunst‹, ›Kunstausstellung‹, ›KünstlerIn‹, ›KunstvermittlerIn‹ usw. sind zu multiplen Produkten geworden, die stets antagonistisch sind: autonom und heteronom, ernsthaft und unterhaltend, politisch und schön, kommerziell und ideal (schlagende Beispiele liefert 2016 die von der New Yorker Kreativgruppe DIS kuratierte 9. Berlin Biennale oder die derzeitige Programmierung des Düsseldorfer NRW-Forum). Die gewohnten Distinktionen sind dahin und deswegen kann der Sieg der Kunst – d.h. ihre allgemeine Verbreiterung und Wertschätzung, ihr Gebraucht- und Gewollt-Werden – auch als ihre totale Niederlage erlebt oder behauptet werden: Weil Kunst nun aufgrund ihrer Omnipräsenz tatsächlich jederzeit alles sein kann und jede/r potentiell auch KünstlerIn ist, könnte das, was man zuvor Kunst nannte, verschwinden. Kunsttheoretische Plädoyers für eine autonome Kunst, für die radikale Negation des Gesellschaftlichen im Mysterium, scheinen diesen für sie zu weit und zu unübersichtlich gewordenen Kunstbegriff heute wieder verengen zu wollen. Meinen sie, mit der Forderung nach Rückzug in die Rätselhaftigkeit etwas retten zu müssen wie z.B. die »Macht der Kunst als Kraft der Schönheit« (Menke)? – Es hält doch aber kein politisches Kunstprojekt irgendjemanden davon ab, über abstrakte Malerei zu kontemplieren. Oder unterliegt solchen Plädoyers eher die Sehnsucht nach verloren gegangenen Distinktionsmöglichkeiten und fakultativen Deutungshoheiten? Der Kunstwissenschaftler Roland Meyer schreibt dazu: »Nur innerhalb des ästhetischen Regimes, als autonome nämlich, konnte Kunst auch als philosophischer Gegenstand zentral werden. Diesseits des ästhetischen Regimes wäre die Kunst vielleicht ein ebenso bedeutsamer, aber nicht mehr exklusiver Bereich. Sie wäre nicht mehr grundsätzlich unterschieden von Architektur, Design, Bildung, und allen anderen Formen sozialen Lebens und gesellschaftlicher Produktion, in denen sich eine erste Ästhetik im Sinne der Aisthesis und eine Politik als Modus der Aufteilung des gemeinsamen Raumes überschneiden.« 23
23 | Meyer, Roland: »Politik der Unbestimmtheit. Jacques Rancière und die Grenzen des ästhetischen Regimes«, in: kritische berichte (Marburg), Heft 1/2010: Das Politeske, S. 30.
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Holger Kube Ventura
Mir scheint, es gibt eine Parallele zwischen der Kunst-wollenden Zurückweisung von Funktionalisierung und der gesellschaftlich funktional denkenden Zurückweisung von Kunst. Theorien über Kunst und politische Kunst verallgemeinern und instrumentalisieren ebendiese und kommen zu Handlungsanweisungen, Aporien und Appellen, weil sie Leitplanken sein und gebieten wollen. Mit der Frage, was eine spezifische politisch-künstlerische Praxis in einem spezifischen Kontext auslöste (oder auslösen könnte), haben sie nichts zu tun. Das EntwederOder aus einerseits einem Eigenwert des Ästhetischen und andererseits einem Funktionieren von Kunst existiert ausschließlich in der Theorie – nicht in der Praxis von irgendeiner Kunst und auch nicht im Alltag von irgendeiner Einrichtung des Kunstbetriebs. Besonders deutlich wird das dort, wo okzidentale, modernistische Denktraditionen von der Gegenwart überholt oder mit Kontexten konfrontiert werden, in denen es die handliche Dichotomie autonom/ heteronom nie gegeben hat oder wo sie sehr unwichtig (geworden) ist – und der eurozentrische, elitäre Blick aus dem akademischen Elfenbeinturm selbst erkennbar wird.
Autorinnen und Autoren
Christoph Bartmann studierte Germanistik und Geschichte und arbeitet seit 1988 für das Goethe-Institut, unter anderem in Santiago de Chile, Prag, Kopenhagen und München. Seit 2011 ist er Leiter des Goethe-Instituts New York, ab Herbst 2016 Leiter des Goethe-Instituts Warschau. Er ist daneben als Literaturkritiker tätig, vor allem für die Süddeutsche Zeitung. 2012 erschien sein Buch Leben im Büro. Die schöne neue Welt der Angestellten im Hanser Verlag. Sofia Bempeza ist Künstlerin und Kunstwissenschaftlerin. Sie ist Vorstandsmitglied der Shedhalle Zürich und unterrichtet an der Zürcher Hochschule der Künste. Sie studierte bildende Kunst in Athen und Berlin und promoviert derzeit an der Akademie der Bildenden Künste Wien zum Verhältnis von Hegemonie, Agonismus und künstlerischer Praxis mit Blick auf künstlerische und aktivistische Positionen nach der Jahrtausendwende. Ihre künstlerische wie theoretische Arbeit baut auf Themen wie die politische Fundierung von Öffentlichkeit(en), Kunstproduktion und Performativität sowie Repräsentationen des Politischen. Sabeth Buchmann ist Kunsthistorikerin, Kunstkritikerin und Professorin für Kunstgeschichte der Moderne und Nachmoderne an der Akademie der bildenden Künste Wien. Zusammen mit Helmut Draxler, Clemens Krümmel und Susanne Leeb gibt sie PoLYpeN, eine bei b_books erscheinende Reihe zu Kunstkritik und politische Theorie heraus. Publikationen (Auswahl): Hélio Oiticica & Neville D’Almeida, Experiments in Cosmococa (mit Max Jorge Hinderer Cruz, 2013), Film Avantgarde Biopolitik (hg. mit Helmut Draxler und Stephan Geene, 2009), Denken gegen das Denken. Produktion, Technologie, Subjektivität bei Sol LeWitt, Yvonne Rainer und Hélio Oiticica (2007) und Art After Conceptual Art, Generali Foundation Collection Series (hg. mit Alexander Alberro, 2006), art works. Ästhetik des Postfordismus (Co-Ed. of Netzwerk Kunst & Arbeit, Berlin 2015), Textile Theorien der Moderne. Alois Riegl in der Kunstkritik« (hg. mit Rike Frank, Berlin 2015).
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Politik der Kunst
Alexander García Düttmann ist Professor für Ästhetik an der Universität der Künste in Berlin. Er wurde in Barcelona geboren, studierte bei Alfred Schmidt und Jacques Derrida Philosophie, und hat zwanzig Jahre lang in England gelebt und gelehrt. 2011 erschien Teilnahme. Bewusstsein des Scheins bei Konstanz University Press, im Jahr darauf im August Verlag Naive Kunst. Ein Versuch über das Glück. Im Februar 2015 veröffentlichte er Was weiß Kunst? Für eine Ästhetik des Widerstands bei Konstanz University Press. Zurzeit bereitet er die Veröffentlichung eines weiteren Buchs mit dem Titel Gegen die Selbsterhaltung. Ernst und Unernst des Denkens (August Verlag 2016) vor. Leonhard Emmerling arbeitete als Kurator am Museum Pfalzgalerie Kaiserslautern, als stellvertretender Direktor an den Krefelder Kunstmuseen und Direktor des Ludwigsburger Kunstvereins, bevor er 2006 den Posten des Direktors von ST PAUL St Gallery der Auckland University of Technology übernahm. Zu seinen Publikationen zählen Gotik und Renaissance in der Pfalz, Jackson Pollock, Jean-Michel Basquiat, zahlreiche Ausstellungskataloge und Katalogbeiträge. Er unterrichtete an diversen Hochschulen in Deutschland. Ab 2010 arbeitete er als Bereichsleiter für bildende Kunst in der Zentrale des Goethe-Instituts in München, seit 2015 ist er in Delhi für das Goethe-Institut als Leiter der Programmarbeit Südasien tätig. Gabriele Geml ist Philosophin und Lehrbeauftragte am Institut für Philosophie der Universität Wien. Gemeinsam mit Han-Gyeol Lie ist sie Gründerin und Vorstand von akut. Verein für Ästhetik und angewandte Kulturtheorie, der 2015 ein konzertantes Symposion über das musikalische Werk Adornos veranstaltete. Ein Band mit den Beiträgen wird 2017 im Metzler-Verlag erscheinen. Neben ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit absolviert sie eine Psychotherapieausbildung. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der Ästhetik, in der Sozialphilosophie, Zeittheorie und in den Grenzbereichen von Philosophie und Literatur. Jörg Heiser ist Co-Chefredakteur der Londoner Kunstzeitschrift frieze und Herausgeber von frieze d/e, außerdem Kunstkritiker unter anderem für die Süddeutsche Zeitung. Er ist Gastprofessor an der Hochschule der Bildenden Künste Hamburg. Nach dem Studium der Philosophie ist seine Dissertation in Kunstgeschichte (Humboldt-Universität zu Berlin) als Doppelleben Kunst und Popmusik (Fundus/Philo Fine Arts, 2016) erschienen. 2007 erschien Plötzlich diese Übersicht. Was gute zeitgenössische Kunst ausmacht (Ullstein/Claassen), sowie 2015 der Band Sculpture Unlimited II (Sternberg Press, hg. mit Eva Grubinger). Heiser kuratierte u.a. die Ausstellung Romantischer Konzeptualismus (Kunsthalle Nürnberg und Bawag Foundation Wien, 2007, Katalog). Er lebt in Berlin.
Autorinnen und Autoren
Christian Janecke ist Professor für Kunstgeschichte an der Hochschule für Gestaltung Offenbach. Seiner Dissertation zu Zufall und Kunst (1995) folgten mehrere Bücher zur Modetheorie. Zu Verhältnissen von Kunst und Theater erschien der Fundus-Band Performance und Bild/Performance als Bild (2004). Zudem legte er eine Monographie zu Johan Lorbeer (1999) vor. Zuletzt erschien Maschen der Kunst (2011). Derzeit arbeitet der Autor an einem Buch über Schauseitigkeit. [www.hfg-offenbach.de/de/people/christian-janecke] Ines Kleesattel, Kunstwissenschaftlerin und Philosophin, ist Dozentin an der Zürcher Hochschule der Künste sowie an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien. Ihre Dissertation Politische Kunst-Kritik. Zwischen Rancière und Adorno erschien 2016 bei Turia + Kant; als freie Kunstkritikerin schreibt sie unter anderem für springerin und Texte zur Kunst. Sie lebt in Zürich und forscht aktuell zu Vermittlungspolitiken der recherchebasierten Gegenwartskunst. Kontakt: [email protected] Alexander Koch, Kurator, Galerist und Autor, studierte bildende Kunst. Von 2000 bis 2005 war er Dozent an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig. Er ist Mitbegründer der Galerie KOW Berlin (2009) und seit 2008 Co-Initiator und Leiter der deutschen und afrikanischen Initiativen des internationalen New Patrons-Programms (»Neue Auftraggeber«). Unter seinen Ausstellungen ist Antirepresentationalism (2009) hervorzuheben, dem ersten Überblick über konzeptionelle und gesellschaftlich orientierte Kunst in Leipzig nach dem Fall der Berliner Mauer. Seit 2004 publizierte Koch Grundlagentexte zum Ausstieg aus der Kunst (u.a. General Strike, 2011). Holger Kube Ventura ist Kunstwissenschaftler, Ausstellungsmacher und Künstlerischer Vorstand der Stiftung Kunsthalle Tübingen. 2009-2014 war er Direktor des Frankfurter Kunstvereins, 2004-2009 Programmkoordinator bei der Kulturstiftung des Bundes, 2001-2003 Direktor der Werkleitz Gesellschaft, zuvor Kurator im Vorstand des Kasseler Kunstvereins und beim Kasseler Dokumentarfilm- & Videofest. Kube Ventura ist u.a. Autor der bekannten Studie Politische Kunst Begriffe (2002) und seit 1996 Kurator zahlreicher Großprojekte. Kontakt: [email protected] Christoph Menke ist Professor für Praktische Philosophie an der Goethe-Universität Frankfurt a.M.. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Politische Philosophie, Rechtsphilosophie und Ästhetik. Buchveröffentlichungen (Auswahl): Die Souveränität der Kunst (1988), Tragödie im Sittlichen (1996), Spiegelungen der Gleichheit (2000, 2004), Die Gegenwart der Tragödie. Versuch über Urteil und Spiel (2005), Kraft. Ein Grundbegriff ästhetischer Anthropologie (2008), Recht und Gewalt (2011), Die Kraft der Kunst (2013) und Kritik der Rechte (2015).
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Politik der Kunst
Johannes Odenthal, Kunsthistoriker, Publizist und Kurator. Seit 2006 Programmbeauftragter der Akademie der Künste, Berlin. Er studierte Kunstgeschichte und Archäologie in Köln, Bonn und Paris. 1986 gründete er die Zeitschrift Tanz Aktuell, 1993 Ballett International/Tanz Aktuell. Parallel dazu initiierte und organisierte er zahlreiche europäische Kulturprojekte. Von 1997 bis 2006 Künstlerischer Leiter des Bereichs Musik, Tanz und Theater im Haus der Kulturen der Welt in Berlin und unter anderem Initiator des PerformingArts-Festivals IN TRANSIT.
Image Annette Jael Lehmann Environments: Künste – Medien – Umwelt Facetten der künstlerischen Auseinandersetzung mit Landschaft und Natur Mai 2018, ca. 250 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1633-0
Sabiene Autsch, Sara Hornäk (Hg.) Material und künstlerisches Handeln Positionen und Perspektiven in der Gegenwartskunst April 2017, ca. 240 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3417-4
Astrit Schmidt-Burkhardt Die Kunst der Diagrammatik Perspektiven eines neuen bildwissenschaftlichen Paradigmas Dezember 2016, ca. 280 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3631-4
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Image Werner Fitzner (Hg.) Kunst und Fremderfahrung Verfremdungen, Affekte, Entdeckungen September 2016, 260 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3598-0
Goda Plaum Bildnerisches Denken Eine Theorie der Bilderfahrung Juli 2016, 328 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3331-3
Lilian Haberer, Annette Urban (Hg.) Bildprojektionen Filmisch-fotografische Dispositive in Kunst und Architektur Juni 2016, 324 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-1711-5
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Image Henry Keazor, Christiane Solte-Gresser (Hg.) In Bildern erzählen Frans Masereel im intermedialen Kontext
Anna Grebe Fotografische Normalisierung Zur sozio-medialen Konstruktion von Behinderung am Beispiel des Fotoarchivs der Stiftung Liebenau
Juli 2017, ca. 250 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2821-0
September 2016, 262 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3494-5
Julia Bulk Neue Orte der Utopie Zur Produktion von Möglichkeitsräumen bei zeitgenössischen Künstlergruppen
Birgit Wudtke Fotokunst in Zeiten der Digitalisierung Künstlerische Strategien in der digitalen und postdigitalen Phase
März 2017, ca. 320 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 33,99 €, ISBN 978-3-8376-1613-2
September 2016, 210 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3280-4
Judith Bihr Muster der Ambivalenz Subversive Praktiken in der ägyptischen Kunst der Gegenwart
Franziska Koch Die »chinesische Avantgarde« und das Dispositiv der Ausstellung Konstruktionen chinesischer Gegenwartskunst im Spannungsfeld der Globalisierung
Januar 2017, ca. 360 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3555-3
Susi K. Frank, Sabine Hänsgen (Hg.) Bildformeln Visuelle Erinnerungskulturen in Osteuropa Dezember 2016, ca. 350 Seiten, kart., ca. 38,99 €, ISBN 978-3-8376-2717-6
Johanna Gundula Eder Homo Creans Kreativität und Kreativitätsbildung im Kontext transmedialer Kunst November 2016, ca. 400 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3634-5
August 2016, 746 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 49,99 €, ISBN 978-3-8376-2617-9
Jesús Muñoz Morcillo Elektronik als Schöpfungswerkzeug Die Kunsttechniken des Stephan von Huene (1932-2000) August 2016, 376 Seiten, kart., zahlr. Abb., 44,99 €, ISBN 978-3-8376-3626-0
Sabine Flach Die WissensKünste der Avantgarden Kunst, Wahrnehmungswissenschaft und Medien 1915-1930 Juni 2016, 354 Seiten, kart., zahlr. Abb., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3564-5
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