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German Pages 442 Year 2013
Olivier, Weisser-Lohmann (Hg.) Kunst – Religion – Politik
Elisabeth Weisser-Lohmann and Alain Patrick Olivier - 978-3-8467-5320-0
H EGEL F ORUM
herausgegeben von
ANNEMARIE GETHMANN-SIEFERT MICHAEL QUANTE ELISABETH WEISSER-LOHMANN
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Alain Patrick Olivier, Elisabeth Weisser-Lohmann (Hg.)
Kunst – Religion – Politik
Wilhelm Fink Elisabeth Weisser-Lohmann and Alain Patrick Olivier - 978-3-8467-5320-0
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Alexander von Humboldt-Stiftung
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte, Zeichnungen oder Bilder durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 UrhG ausdrücklich gestatten. © 2013 Wilhelm Fink Verlag, München (Wilhelm Fink GmbH & Co. Verlags-KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn) Internet: www.fink.de Lektorat und Druckvorlage: Dora Tsatoura Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München Printed in Germany Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn ISBN 978-3-7705-5320-4
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INHALTSVERZEICHNIS
EINLEITUNG ..................................................................................
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Bernard Bourgeois Der ontologische Status des Hegelschen Weltgeistes ................................. 23
I. KUNST / RELIGION / POLITIK Paolo D’Angelo Der menschliche Körper in Hegels Ästhetik .............................................. 37 Erzsébet Rózsa Liebe und Kunst bei Hegel ......................................................................... 53 Elio Matassi Funktion der Kunst und absoluter Idealismus bei Hegel ............................ 73 Lu De Vos Das Ideal. Zu den Konstitutionsproblemen des spekulativen Begriffs des Kunstschönen .............................................. 79 Francesca Iannelli Würde die zeitgenössische Kunst Schlegel und Hegel gefallen? ................ 93 Alberto L. Siani Das unmögliche Mosaik des Menschlichen. Zur Überwindung des Romantischen durch den Formalismus der Subjektivität in Hegels Ästhetik ........................................................... 103 Bernard Mabille Idéalisation et épiphanie (Hegel – Joyce) ................................................... 117 Bruno Haas Symbol und symbolische Kunstform bei Hegel ......................................... 137 Karsten Berr Hegel über Gartenkunst. Ein Aktualisierungsversuch ................................ 151 Julien Labia Hegel et Hanslick ........................................................................................ 163
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II. RELIGION / POLITIK / KUNST Jean-François Kervegan Die „politische Theologie“ Hegels ............................................................. 179 Ernst-Otto Onnasch Die Quellen der Frühphilosophie Hegels .................................................... 193 Riccardo Dottori Die Nacht des Selbstbewusstseins und das absolute Wissen ...................... 209 Claudia Melica Vom Griechentum zum Christentum. „Die Religion der Menschlichkeit“ bei Hegel ............................................ 235 Gilles Marmasse Hegels Konzept der bestimmten Religion als Vorstufe zur vollendeten Religion ........................................................ 251 Myriam Bienenstock Gibt es eine Pflicht zur Erinnerung? Überlegungen zu einer Debatte in Frankreich ............................................ 267 Bruno Pinchard Hegel et la Chine. Essai dialectique ........................................................... 285 Aurélien Merle Hegel avec Dumézil: Le syllogisme du système trifonctionnel et son procès dialectique ............................................................................. 297 Alain Patrick Olivier Hegel und der Geist des Islamismus ........................................................... 309
III. POLITIK / RELIGION / KUNST Michael Quante Bruno Bauer, Karl Grün und Karl Marx zur Emanzipation der Juden ........................................................................ 321 Leonardo Amoroso „Die Philosophie des Geistes ist eine ästhetische Philosophie“ ................. 337 Michael Städtler Die säkulare Rückkehr des Widerstandsrechts bei Fichte .......................... 347 Jean-Marie Lardic Ethicité et religion. Les fondements hégéliens de la politique ................... 361
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Jean-Louis Vieillard-Baron Politique et religion. La puissance de la vérité et la communauté, communio sanctorum .................................................... 371 Norbert Waszek Moses Mendelssohn und die Haskala in zwei innerjüdischen Rückblicken des 19. Jahrhunderts: Moritz Daniel Oppenheim und Heinrich Heine .......................................... 385 Douglas Moggach Kunst, Politik, Selbstbewusstsein: Die Krise des Hegelschen Subjekts ............................................................ 405 Christophe Bouton Das Problem der „Machbarkeit der Geschichte“ im deutschen Idealismus ............................................................................. 419 Elisabeth Weisser-Lohmann Politikkonzeptionen im deutschen Idealismus ............................................ 431
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Einleitung Die Auseinandersetzung um die drei Kultursphären „Kunst, Religion und Politik“ nimmt in der nachkantischen Philosophie eine zentrale Rolle ein. Wie bereits im „älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus“ gefordert, geht es dabei weniger um die Etablierung dieser Sphären als eigenständige Einzelwissenschaften, als vielmehr um die Bewältigung des gesellschaftlichen Wandels im Rückgriff auf die in diesen Sphären etablierten Orientierungen: Die Diskussion um das Konzept einer politischen Theologie ist wie die Forderung nach einer autonomen Kunst paradigmatisch für die Selbstverständigung der Moderne in der Auseinandersetzung mit den Revolutionen des 19. Jahrhunderts. Ein zentrales Anliegen der Arbeiten von Annemarie Gethmann-Siefert ist die Frage nach der gesellschaftlichen Funktion der Kunst. Dabei bleibt der Rückbezug dieser Gestalt des absoluten Geistes auf die Sphäre des objektiven Geistes nicht auf die Kunst beschränkt, sondern erfolgt in gleicher Weise für Religion und Wissenschaften: Die geschichtliche Perspektive zeigt, dass sowohl die Darstellungsmittel der Kunst als auch die der Religion begrenzt sind. Für die Moderne ist das Politische auf die wissenschaftliche Darstellung angewiesen. In der Konsequenz bedeutet dies, dass Kunst nicht nur unter der Kategorie der Autonomie, sondern vor allem geschichtlich-gesellschaftlich zu denken ist. Perspektiven, die für die Bestimmung der Gegenwart, d.h. der Moderne heranzuziehen sind. Das Kolloquium „Kunst, Religion, Politik“, das im Juni 2010 anlässlich der Emeritierung von Annemarie Gethmann-Siefert an der Fernuniversität in Hagen durchgeführt wurde, griff diese Fragen auf. Die dort erörterten Beiträge werden hier – um ergänzende Darstellungen erweitert – veröffentlicht, um die interdisziplinäre und internationale Debatte um diese Fragen zu dokumentieren. Im Rekurs auf Hegel und die Konzeptionen des deutschen Idealismus diskutieren die Beiträge exemplarische Versuche einer Bestimmung der Moderne am Leitfaden ästhetischer, religiöser und politischer Reflexion – nicht ohne nach dem Ertrag für die Gegenwart zu fragen. Das Systemprogramm verbindet Kunst und Religion mit dem Ziel, eine neue politische Ordnung zu ermöglichen. Im Ausgang von Kant wird die Freiheit des Individuums als Faktum bestimmt und eine Gottheit postuliert, die dafür einsteht, dass das Scheitern des Guten in der Welt keinen Endpunkt bildet. Dabei wird die Ethik in eine Ästhetik überführt, die eine sinnliche Religion fordert, um das politische „Werk der Menschheit“ zu vollenden. „Eine schöne Religion zu stiften, das Ideal davon? Findet man es?“ mit diesen Worten beginnt Hegel seine Schrift über den Geist des Christentums. Mit Kant fasst Hegel hier das Ideal als Idee in individuo, die mit allgemeinen Begriffen nicht zu begreifen ist. In seiner Kritik an der Faust-Szene „Wald und Höhle“ vollzieht
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Hegel allerdings, so Otto Pöggeler, einen Bruch mit diesem Konzept des Ideals, denn die „poetische Forderung“, in „Busch, Luft und Wasser“ Brüder zu erkennen, führt zu vereinzelten Gestalten, die als Individuen einander stören und zur Gleichgültigkeit führen: das Verbindende ist allein für die Philosophie aussprechbar und darstellbar. Wie A. Gethmann-Siefert zeigt, setzt Hegel an die Stelle der Individualität das Dasein, die Existenz und Lebendigkeit der Idee.1 Mit der Zurückweisung der Kantischen Konzeption des Ideals verlieren aber auch die alten Prinzipien an Bedeutung: „Eine Zukunft, die maßgeblich durch Schönheit und Kunst gestaltet wird, wird nicht mehr erwartet“.2 Vor dem Hintergrund des Systemprogramms stellt sich die Frage, welchen Beitrag Kunst und Religion für das politische „Werk der Menschheit“ noch zu leisten vermögen? Die systematischen Verschiebung, die die Abwendung von Kants Konzeption des Ideals vollzieht, ermöglichen einen geschichtlichen Blick auf die Phänomene ‘Kunst’ und ‘Religion’. Der Wandel der künstlerischen Gestaltungsformen wird über die Erschließung neuer (religiöser) Inhalte erklärbar. Die plastische Gestalt der Skulptur etwa, wird erst dann zur tragenden Form, wenn das Göttliche – wie bei den Griechen – in der schönen Gestalt des Menschen erfahrbar wird. Die Frage nach der ‘heiligen Mitte’, d.h. die Frage nach derjenigen Kunstform die im Zentrum der religiösen-politischen Selbstverständigung steht, bildet den Leitfaden für die Systematik und Geschichte der Kunst. Für die orientalische Welt bildet die Architektur diesen Mittelpunkt, an ihre Stelle tritt in der griechischen Welt die Plastik der griechischen Welt, diese wird in der christlichen Zeit vom Altarbild abgelöst. Im Systemfragment von 1800 unterscheidet Hegel zwischen einer Kunst, die den Menschen ihre Gottes- bzw. Göttervorstellung und damit die Sittlichkeit des gemeinschaftlichen Lebens stiftet, und einer Kunst „die die Religion … als geschichtliche Sinnstiftung als gegeben voraussetzen muß.“3 Die etwa zeitgleich entstandenen Arbeiten zur Verfassung des deutschen Reiches machen deutlich, der moderne Staat fordert die Trennung der politischen Sphäre von den Sphären der Kunst und Religion: Die allgemeine Sittlichkeit von Familie, bürgerlicher Gesellschaft und Staat kann weder durch Kunst noch durch Religion gestiftet werden. Die Funktion dieser Sphären erschließt die Bildungskonzeption, die Hegel im Zusammenspiel mit Niethammer für das Gymnasium entwickelt. Dieser Bildungsentwurf ersetzt die Verpflichtung des tradierten Erziehungskonzepts auf festgesetzte Ziele durch die Beförderung der schöpferischen Vermögen. Vor diesem Hintergrund wird die politische Sphäre einerseits zum Garant für die Ermöglichung der Bildung der Einzelnen zum anderen werden die sittlichen Gestalten an einen bestimmten allgemeinen Bil1 2
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A. Gethmann-Siefert, Einführung in Hegels Ästhetik. München 2005, 30. O. Pöggeler, Die Frage nach der Kunst. Von Hegel zu Heidegger. Freiburg, München 1984, 65. A. Gethmann-Siefert, Einleitung. In: Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Kunst. Berlin 1823. Nachgeschrieben von H.G. Hotho. Hrsg. v. A. Gethmann-Siefert. Hamburg 1998. XV-CCXXIII, LVI.
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EINLEITUNG
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dungsgrad gekoppelt.4 Die mit dieser Bestimmung vollzogene Verschiebung der Relevanz von Kunst und Religion verweist auf einen Wandel in Hegels Verständnis der Moderne, der auf die Auseinandersetzungen mit der Querelle des Anciens et des Modernes zurückgeht und mit der Absage an eine Erneuerung der Mythologie die Entstehung der Ästhetik mit der Triadik von symbolischer, klassischer und romantischer Kunstform erst ermöglicht. Grundlegend für die Klärung von Fragen nach dem Status einzelner geschichtlicher Gestalten erweist sich, wie Bernard Bourgeois zeigt, die Beantwortung der Frage nach dem ontologischen Status des Weltgeistes. Bourgeois fragt, ob es möglich ist, dem Weltgeist mehr als die falsche Realität einer bloßen Metapher einzuräumen und verweist auf die Notwendigkeit, die Realität des Weltgeistes zwischen einerseits der sinnlich-empfindlichen Erfahrungsrealität des einzelnen bzw. den besonderen Geistern und der sich selbst beweisenden gedachten Realität des sich als absoluten setzenden allgemeinen Geistes andererseits zu erfassen. ‘Realität’ hat dieses Allgemeine in der Erfüllung dreier Bedingungen: In einem ersten Schritt zeigt sich, dass die geschichtliche, der Vernunft angemessene Verwirklichung des Rechts allein ein wahrhafter Geist zu vollziehen vermag; zweitens wird deutlich, dass ein solcher Geist notwendig individueller Weltgeist ist. Drittens macht Bourgeois deutlich, dass dieses geistige allgemeine Individuum, so sehr es innigst beim absoluten Geist wirkt, doch ganz und gar für sich selbst reell ist. In den Gestalten und der Einheit des absoluten Geistes wirkt der objektive Geist, während dieser auf seine bestimmte oder eigene Weise durch jenen bestimmt ist. Um als selbständig fassbar zu sein, lässt jeder der beiden Geister den anderen in ihn selbst eingreifen. So fixiert zum Beispiel der absolute Geist die Stufen der objektiven Weltgeschichte zu festen Staaten, umgekehrt aber stellt die Weltgeschichte die Bedingungen für die Geschichte des absoluten Geistes bereit und verhilft so diesen Gestalten selbst zu ihrer Wahrheit. Bourgeois macht deutlich, der Weltgeist ist das innige Andere des höchsten Geistes, durch dessen absolute Realität allein alles, was ist, reell ist. Die dem Weltgeist zugestandene Realität macht ihn zu einem Vermittler, der zwischen absolutem und objektivem Geist den einheitlichen Sinn der Geschichte sichert, indem er die menschlichen Vereinigungen vom absoluten oder göttlichen Eins ausgehen lässt. Diese Deutung wird zwar, so Bourgeois, vielfach zurückgewiesen, indem die Rede vom Weltgeist als metaphorisch oder illusorisch negiert und die Beziehung zwischen dem Einen Sinn der wirklichen Einigung der Weltgeschichte allein in das gleichmachende Element der menschlich-geschichtlichen Wirklichkeit hinein verlegt. 4
Vgl. den § 32 der Grundlinien, „So hat die Idee, wie sie als Familie bestimmt ist, die Begriffsbestimmungen zur Voraussetzung, als deren Resultat sie im Folgenden dargestellt wird. Aber daß diese inneren Voraussetzungen auch für sich schon als Gestaltungen … vorhanden seyen, dieß ist die andere Seite der Entwicklung, die nur in höher vollendeter Bildung es zu diesem eigenthümlich gestalteten Daseyn ihrer Momente gebracht hat.“ Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts. Gesammelte Werke Bd 14.1. Hrsg. v. K. Grotsch u. E. Weisser-Lohmann. Hamburg 2009, 48.
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Die Analyse dieser im Rahmen der Bestimmung der Moderne vollzogenen Verschiebungen der gesellschaftspolitischen Funktion von Kunst und Religion steht im Zentrum der nachfolgenden Beiträge. Die Unterteilung des Bandes in drei Themenschwerpunkte bildet die unterschiedliche Akzentsetzung der Beiträge ab: Den Schwer- und Ausgangspunkt bildet zunächst die Kunst und der Wandel der gesellschaftlichen Funktion dieser Orientierungsform vor dem Hintergrund des Wandels der Religion. Die Konzeption des Systemprogramms bildet für diese Überlegungen die Folie, die geeignet ist, die zentralen Neubestimmungen auszuloten und deren erschließende Kraft für die Präzisierung der Moderne transparent zu machen. Die zentrale Rolle die die vollendete Gestaltung des menschlichen Körpers in der Ästhetik des deutschen Idealismus im Anschluss an Winkelmann einnimmt, steht, so Paolo D’Angelo in krassem Gegensatz zur Darstellung des menschlichen Körpers in der gegenwärtigen Kunst, wo Verletzung und Deformation des Körpers das klassische Streben nach Vollkommenheit, Ruhe und Gelassenheit zerstören. Der systematische Ort für die Auseinandersetzung mit dem Phänomen ‘Körper’ ist das Naturschöne. Wie problematisch allerdings die Frage nach Hegels Behandlung des Naturschönen ist, wird beim Blick in den von Hotho herausgegebenen Text der Ästhetik deutlich. Zeigt dieser Text doch, was die Behandlung des Naturschönen anbelangt eine große Diskrepanz: Die Einleitung hebt mit dem expliziten Ausschluss des Naturschönen an, der Leser stößt dann aber auf ein relativ langes der Schönheit der Natur gewidmetes Kapitel. Der Vergleich mit den Nachschriften zeigt allerdings, so D’Angelo, dass es sich bei diesem Kapitel um eine Montage Hothos handelt, die verschiedene Aussagen Hegels zusammenstellt, um das Naturschöne systematisch auf derselben Ebene wie das Kunstschöne präsentieren zu können. Wie wenig Hegel in den Vorlesungen dieser Option folgt, verdeutlicht D’Angelo an Hegels Auseinandersetzung mit der menschlichen Gestalt. Die bei den Indern und Ägyptern verbreitete Verehrung natürlicher Gestalten begreift das Tun des Menschen oder Tiers nicht als Symbol, sondern als unmittelbar göttlich in seiner Existenz. Diese Mischung von Tierischem und Menschlichem bei der Verehrung eines göttlichen Daseins manifestiert sich in der ägyptischen Kunst noch deutlicher, insbesondere beim Tierkult (Katzen, Schakale, Stiere) und beim Brauch, Menschen Masken mit tierischen Gesichtszügen aufzusetzen. Das Symbolische endet dort, wo Osiris eine von dem bloßen Naturleben losgelöste Bedeutung, in welcher das Innere und Geistige selber Inhalt der menschlichen Gestalt wird, erhält. Der Körper stellt an diesem Punkt etwas Fremdes, etwas Naturgegebenes, dem Geist Entgegengesetztes dar. Hegels Lobrede auf die Praktiken der primitiven Völker werden von hier aus verständlich, dienen deren Praktiken des Tätowierens, der Entstellung und Verstümmelungen doch dazu, die Fremdheit des Körpers zu beseitigen und ihn zum „eigenen Körper“ zu machen. Kunst hat ihr notwendiges und unüberwindbares Moment in dieser sinnlichen Vermittlung. Die Kunst steht im Widerspruch zu sich selbst, weil ihr Bemühen darauf zielt, zwei Seiten zu homogenisieren, die nicht homogen sein können, Ein Dilemma
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das sich auch bei der Behandlung der Gartenkunst zeigt, wie Karsten Berr in seinem Beitrag zeigt. Für D’Angelo führt diese Polarität dazu, dass die Schönheit eher der Schleier ist, der die Wahrheit bedeckt, als dass sie eine Darstellung der Wahrheit ist. Diese Einsicht erklärt die zentrale Rolle der symbolischen Kunstform für Hegels Bestimmung der Kunst: die symbolische Kunstform thematisiert diese Beziehung der Unangemessenheit. Das Romantische ist vor diesem Hintergrund nichts anderes als die Rückkehr zu der Situation des Ungleichgewichts, die bereits das Symbolische thematisiert hatte. Die tiefe Ambivalenz, die Hegel der Kunst der Gegenwart konstatiert, ist der spezifischen Konstellation der Moderne geschuldet. Systematisch erschließbar wird diese Konstellation auf der Grundlage der Rechtsphilosophie von 1820 in Verknüpfung mit der Kunst- und Religionsphilosophie, wie sie Hegel in den Berliner Vorlesungen sukzessive entwickelt. Exemplarisch veranschaulichen läßt sich der konzeptionelle Rahmen der Hegelschen Theorie der Moderne an der Auseinandersetzung mit der Liebesthematik. Erst vor dem Hintergrund einer entwickelten Theorie der Moderne wird Hegels Rede, dass das Höchste in der Liebe wie auch das Niedrigste in ihr in der widersprüchlichen Natur der Moderne und deren Auswirkung auf die Individuen, ihre Gefühle, Leidenschaften, Handlungen und Beziehungen wurzelt, verständlich. Erzsébet Rozsa rekonstruiert die vielfachen Ambivalenz unter dem Fokus der Liebe als Gegenstand der Kunst. Die Verknüpfung von kunst- und religions-philosophischen mit soziokulturell-geschichtlichen und rechtsphilosophischen Aspekten fixiert den für Hegels Theorie der Moderne komplexen Interpretationshorizont. Dieser Horizont erschließt sich im handlungstheoretischen Zugang zu den Phänomenen. Dies hat für das Phänomen der Liebe zur Folge, dass Liebe als Motivation und Inhalt bestimmter Tätigkeiten von Individuen in bestimmten Situationen und Umständen erscheint. Im Unterschied zu den Romantikern ist für Hegel das Phänomen „Liebe“ kein reines Gemütsphänomen. Ist doch die innere Welt des Gemüts nicht von der Sphäre der Wirklichkeit der handelnden Akteure abzuschneiden. Hegels Handlungsmodell gestattet es, die gefühls- und motivationstheoretischen, die sozial- und gesellschaftstheoretischen Aspekte des Phänomens zu erfassen und sie zur Grundlage der ästhetischen Analysen machen. Als eine Konsequenz dieser Herangehensweise vermag Hegel etwa – gegen das romantische Selbstverständnis – eine große Nähe zwischen Achill und Romeo auszumachen. Rozsa exemplarische Aufarbeitung der Liebe als Gegenstand der Kunst zeigt, wie die Analyse der Gegenwart am Leitfaden des Handlungskonzepts die Prinzipien des objektiven mit denen des absoluten Geistes zu vermitteln vermag. Inwiefern das im Moralitätskapitel der Rechtsphilosophie entwickelte Handlungskonzept geeignet ist, relevante Implikationen von Hegels Begriff des „absoluten Geistes“ zu erfassen, die eine rein ‘metaphysische’ Lesart bzw. Interpretation nicht wiederzugeben vermag, fragt Elio Matassi in seinem Beitrag. Mit diesem Interpretationsansatz folgt Matassi Jauss und Marquard, die den hegelschen Begriff des absoluten Geistes unter Einbeziehung poietischer Prinzipien erschließen. Matassi kontrastiert
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diesen Deutungsansatz mit der Interpretation des jungen Lukács, die der hermeneutischen Lesart diametral entgegengesetzt sich letztlich als nicht schlüssig erweist. Die Absolutheit des Geistes ergibt sich für Hegel zwar durch die radikale Emanzipation von jeglicher Form der Bestimmung der Natur, diese Befreiung darf jedoch keinesfalls auf einer rein metaphysischen Ebene erfolgen, wie Matassi deutlich macht. Lu de Vos analysiert die Systematik des Begriffs Kunst in den Vorlesungszyklen zur Philosophie der Kunst vor dem Hintergrund der Darstellung der Sphäre der Kunst in der Erstauflage (1817) der Enzyklopädie. Die Vorlesungen erweisen sich als Einlösung eines philosophischen Programms, das Hegel sukzessiv in den einleitenden Teilen der einzelnen Vorlesungszyklen entwikkelt und das seinen Endpunkt in der Darstellung der zweiten Auflage der Enzyklopädie von 1827 erreicht. Ausgehend von den frühen Vorlesungszyklen, in denen Hegel die konstitutiven Begriffe dieser Sphäre aus dem sich aufhebenden Gegensatz zum natürlichen Wissen gewinnt und wo die Darstellung des kunstphilosophischen Stoffes ganz in der Tradition des transzendentalphilosophischen Denkens steht, wird der konzeptionelle Wandel explizit: Die späteren Einleitungen sind nicht mehr auf die Abgrenzung bzw. Negation des natürlichen Wissens fokussiert sondern entwickeln einen spekulativen Begriff des Schönen, der lediglich vorläufig und vorbereitend ist. Eine Bestimmung der Idee ist zu Beginn der Darstellung zwar möglich, die Entwicklung der Idee, die Verwirklichung des spekulativen Begriff der Kunst kann aber erst in der nachfolgenden Darlegungen erfolgen. Dieser einleitend bestimmte spekulative Begriff ist konstitutiv nicht nur für die Idee des Schönen sondern gilt in gleicher Weise für die Idee des Erhabenen, Interessanten und Charakteristischen. Kategorien, die für die Rezeption der zeitgenössischen Kunst eine große Bedeutung haben. Über die Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Video und Performancekunst erfasst Francesca Iannelli in ihrem Beitrag die Differenzen zwischen der Hegelschen und Schlegelschen Ästhetik mit dem Ziel, Reichweite und Grenzen einer idealistischen Ästhetik auszuloten. Dieser Aktualisierungsversuch demonstriert allerdings auch die Grenzen einer Rezeption der Gegenwartskunst mit den Instrumenten der idealistischen Ästhetik: Wenn für Hegel das Wahre nur das Ganze ist, so gibt es für uns das Ganze nicht mehr. An seine Stelle treten im Kunstschaffen der Gegenwart Zufall und die Willkür. Dass diese Begrenzung allerdings auch positiv zu werten ist, zeigt Alberto Siani. Die konstitutiven Prinzipien der romantischen Kunstform verdeutlichen, Hegels Rede vom „formellen Subjekt“ ist geeignet – über Hegel hinausgehend – die Funktion der Kunst in der Moderne als formelle Bildung zu präzisieren. Als Konsequenz ergibt sich für die moderne Kunst die Forderung, zur symbolischen Kunstform zurückzukehren. Das Kunstwerk wird zum Zeichen für die Unzulänglichkeit, die Mannigfaltigkeit der Welt in einer anschaulichen Einheit zu vergegenwärtigen bzw. Erscheinen zu lassen. Der Beitrag von Bernard Mabille ergänzt den Blick auf die Hegelsche Kunstphilosophie um das Phä-
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nomen des Erscheinenlassens (Epiphanie) mit dem Ziel, über diese ästhetische Kategorie Hegels Bestimmung der Kunst mit den Überlegungen von James Joyce in Verbindung zu bringen. Insbesondere Hegels Theorie der schönen Kunst der Niederländer, die das Alltägliche in vollendeter Schönheit erscheinen lässt, macht deutlich um welche Form von Epiphanie es sich hier handelt: Es geht um die Repräsentation der Errungenschaften einer Kultur durch Arbeit – als Form der Naturbewältigung – und durch die frei gewählte Religion, die eine Idealisierung des Gewöhnlichen und Alltäglichen ermöglicht. Es handelt sich mit Joyce um eine Epiphanie des Geistigen im Natürlichen, Wertlosen, Gewöhnlichen. Wie das Phänomen des Erscheinenlassens weiter bestimmt werden kann, zeigt Bruno Haas im Rekurs auf Hegels Bestimmung der symbolischen Kunstform. Hegels Analyse der Parsenreligion rekurriert, so Haas, auf einen Symboltyp der sich dadurch auszeichnet, dass er zu keiner eigentlichen Kunstgestalt Anlass gibt, weil hier Alles im voraus schon gestaltet ist. Mit Derrida steht dieser Symboltyp für eine Funktion des Symbols, die der symbolischen Differenz geradezu entgegengesetzt ist: die Dimension der Gabe. Die Gabe ist ein symbolisches Objekt, insofern sie als solche in nichts anderem als in der Bedeutung des Gegebenseins der Gabe besteht: Das Erscheinenlassen verweist hier auf nichts als den Akt des Gebens selbst, dieser Akt aber umfasst alles Ausdrückbare. Nach 1848 wurde der deutsche Idealismus als politisch gefährliche Ideologie an den Pranger gestellt und mit dem Sieg des Positivismus auch wissenschaftlich an den Rand gedrängt. Diese Tendenzen wirken im österreichungarischen Einflussgebiet besonders stark: philosophische Debatten über Religion und Politik waren dort in höchstem Maße unerwünscht. Gleichwohl lässt sich ein versteckter Einfluss des Hegelianismus auch bei den Gegnern nachweisen. Dies gilt insbesondere für die Ästhetik, wie Julien Labia am Beispiel der Musikphilosophie von Eduard Hanslick zeigt: Der antihegelianische Vertreter des Formalismus und des Empirismus kommt zu ähnlichen Urteilen und Stellungnahen wie die Vertreter der spekulativen Philosophie. Folgt man dem Aufbau der Enzyklopädie so bildet die Wissenschaft den Höhepunkt der Gestalten des absoluten Geistes und hebt als letzte Gestalt Kunst und Religion auf. Vor dem Hintergrund der Programmatik des Systemprogramms steht hier allerdings weniger das Verhältnis der drei Gestalten des absoluten Geistes als das Verhältnis zum objektiven Geist im Zentrum des Interesses: Welche Beziehung besteht zwischen den Sphären der Kunst, Religion und den Gestalten des objektiven Geistes, d.h. den Gestalten der Sittlichkeit? Systematisch auffällig erweist sich die Einführung des Idee-Begriffs: Wie L. De Vos für die Ästhetik zeigt, ist für Hegel eine ‘umrisshafte’ Darstellung der Idee des Schönen losgelöst von der Darlegung dieses Phänomens einleitend zu den Vorlesungen möglich. Die Darstellung der Idee des Rechts fordert eine andere Herangehensweise: Ohne Darstellung des Begriffs des Rechts ist eine Darstellung der Idee des Rechts nicht möglich. Die Gründe für diese unterschiedliche Herangehensweise sollten Klarheit auch darüber bringen, wie
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Kunst und Religion und Wissenschaft die Gestalten der Sittlichkeit konstituieren. Für die Sittlichkeit der Moderne ist es vor allem die Wissenschaft die die Darstellung des Daseins der Freiheit auf den Weg bringt. Die konstitutive Rolle die die Religion für die Handlungsorientierung in oikos und polis einnimmt, übernimmt in der Moderne die Wissenschaft. Aus dem Blickwinkel der frühen Forderung, wie sie das Systemprogramm und die frühen Frankfurter Arbeiten zum Ausdruck bringen, vollzieht die enzyklopädische Unterscheidung zwischen objektivem und absolutem Geist zwischen polis und Religion eine unüberbrückbare Trennungslinie. Jean-Francois Kervégan rekonstruktiert die Genese dieser Trennung und zeigt, dass die Philosophie der Geschichte der Ort ist, an dem beide Prinzipien aufeinandertreffen: wo der (christliche) Konflikt zwischen Gewissen und Polis ausgetragen wird. Zwar ist unbestreitbar, dass Hegel die Religion in das Zentrum des absoluten Geistes stellt, dessen Gestalten daher die politisch und sozial verfasste Welt des objektiven Geistes übersteigen. Gleichwohl formulieren die Grundlinien, so Kervégan, einen politisch-theologischen Standort. Damit behalten die Überlegungen des jungen Hegels über Volksreligion und die Positivierung des Christentums im Spätwerk ein Echo. Ein Echo, das freilich in einer völlig transformierten begrifflichen Landschaft erklingt. Grundlage für diesen Widerhall der frühen Überlegungen, bildet die Voraussetzung, dass Staat und Religion auf „Ein[em] Begriff der Freiheit“ beruhen. Allerdings deklinieren sie diesen Begriff nicht in derselben Weise. Das Feld, wo dieser Zusammenhang analysiert werden kann, ist die „Philosophie der Weltgeschichte“. Vom Standpunkt der Philosophie der Geschichte zeigt sich, so Kervégan, dass es sich hier um zwei Institutionen handelt deren Verhältnis als Beziehung zweier in steter Wechselwirkung stehender institutioneller Gestaltungen gedacht werden muss. Vor diesem Hintergrund erweist sich die Selbsterweckung des Menschen als Bürger für das Dasein der Freiheit in der bürgerlichen Gesellschaft zentral. Hegel teilt hier die Auffassung Reinholds, dass hiermit eine neue Phase der Menschheit beginnt, wo nämlich der Mensch sein Schicksal in die eigene Hand nimmt, indem er durch Vernunft selbst die Verbindung mit dem Absoluten herstellt und aus dieser Verbindung sein Leben in Freiheit gestaltet. Diese Verbindung mit dem Absoluten ist allerdings nicht im Sinne des ethikotheologischen Gottesbeweises zu denken. Wie der Beitrag von Otto Onnasch zeigt, nimmt Hegel die Tübinger Kontroverse um den Kantischen ethikotheologischen Gottesbeweis ganz im Sinne der Storr-Schule auf. Der angestrebte physikotheologische Gottesbeweis fordert die Anerkennung ewiger Offenbarungswahrheit. Reinhold wie Hegel teilen die Einschätzung, dass die Offenbarungswahrheiten im Laufe der Menschheitsgeschichte abhandengekommen und durch die Kantische Vernunftkritik erst wieder erneuert seien. Für Hegel aber muss eine Religion, die für den Menschen praktische Wirksamkeit haben soll, Volksreligion sein. Nur eine Volksreligion vermag es, den Geist des Volkes zu bilden und „grosse Gesinnungen“ in ihm zu erzeugen.
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In diesem Problemfeld verweist Hegels Begriff des absoluten Wissens auf die entscheidenden Aporien. In seinem Beitrag rekonstruiert Riccardo Dottori den Begriff des absoluten Wissens im Rückgriff auf Hegel Phänomenologie des Geistes. Der Grundsatz, dass in der Wissenschaft des Wissens (Wissenschaftslehre) das Absolute von Anfang an als erste Voraussetzung und zugleich als Ziel dieses Weges schon vorhanden ist, bedeutet, dass das Selbstbewusstsein in sich selbst das Prinzip der absoluten Gewissheit seiner selbst hat und absolutes Selbstbewusstsein ist. Die Erfahrung der dialektischen Bewegung ist Reflexion des Bewusstseins in sich selbst. In ihr vollzieht sich die Selbstbegründung des Wissens, welche den wahren Gegenstand konstituiert und dadurch das wahre Wissen von der bloßen Meinung scheidet. Wie aktuell Hegels Konzeption des Bewußtseins ist, verdeutlicht Dottori an der Art und Weise wie in der jüngeren Diskussion etwa von Paul Ricoeur auf Hegel zurückgegangen wird. Wie sehr in geschichtlicher Perspektive das Zentrum dieser Diskussion die Bewertung der griechischen Religion bildet, macht Claudia Melica deutlich. Die Debatte konzentriert sich hier insbesondere auf den zweiten Teil der Hegelschen Vorlesungen zur Philosophie der Religion. Dieser Abschnitt stellt nämlich keine historische Entwicklung dar, sondern „eine Typologie oder Geographie der Religion“ (Jaeschke), die eine Sonderstellung einzelner Religionen erlaubt und zwar losgelöst vom einem Geschichtsmodell, demgemäß alle Religionen der christlichen Religion zustreben, um sich in ihr zu vollenden. Melica klärt diesen Konflikt durch die Präzisierung des Begriffs „Religion der Menschlichkeit“. Ein Begriff, der den Neu-Humanismus der deutschen Klassik in zentraler Weise prägt, der von Hegel aber im Rückgriff auf das Christentum neu gefasst wird und Hegels Abwendung vom Klassizismus verdeutlicht. Gilles Marmasse geht es um die Aufklärung des Wesens der bestimmten Religion. Seine Überlegungen sind fokussiert auf die Klärung der Frage, inwiefern es sich bei der bestimmten Religion um eine authentische Offenbarung des göttlichen Geistes handelt. Marmasse macht deutlich, für Hegel ist die bestimmte Religion keine beliebige oder willkürliche Konstruktion des menschlichen Geistes, sondern die Selbstdarstellung Gottes. Allerdings ist der Gott der bestimmten Religion einseitig objektiv, indem er ohne echte Subjektivität und echte Freiheit ist. Einer der ersten der in Frankreich in den letzten Jahrzehnten Zweifel an der Berechtigung, die Erinnerung in eine „Pflicht“ zu verwandeln, erhoben hat, dürfte Paul Ricœur (1913-2005) gewesen sein. In seinem Buch La mémoire, l’histoire, l’oubli warf Ricœur Fragen über die Erinnerung und das Vergessen auf, die in den französischen Medien eine breite Diskussion auslösten. Die Anweisung sich zu erinnern oder auch die „Pflicht zur Erinnerung“, von der heutzutage so oft gesprochen wird, erschienen ihm bei genauerem Hinsehen problematisch. In ihrem Beitrag verweist Myriam Bienenstock auf Hegel, der besser als Nietzsche geeignet sei, die Frage der Verbindung des Sittlichen mit dem Historischen zu klären, weil Hegel im Bereich des politischen Denkens
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die Unterscheidung zwischen Moralität und Sittlichkeit durchgesetzt hat. Die politische Verpflichtung, die Verpflichtung zu einem Staat, hat er nicht mit der Moral, sondern mit der Sittlichkeit, d.h. mit einer sittlichen Verpflichtung, assoziiert. In diesem Sinne erweist sich die Pflicht zur Erinnerung als eine politische Pflicht par excellence und dies bedeutet, dass sie Verpflichtungen beinhaltet, die für Franzosen, für Deutsche und für Israelis nicht dieselben sind. Die Hegelsche Dialektik ist über den Marxismus zur Staatsphilosophie des modernen China geworden. Auf ganz andere Weise möchte allerdings Bruno Pinchard China mit Hegel verbinden: Als Möglichkeit eines Denkens der Totalität und der Universalität des Geistes, die sich abgrenzt vom Schema der Dualität wie es die Husserlsche Phänomenologie mit der Gegenüberstellung von China und Europa postuliert. Pinchard folgt Hegel, wenn er den systematischen Ort Chinas in der Tradition der westlichen Vernunft und der klassischen Philosophie als die „Nacht des Ichs“ bestimmt und mit Spinoza die Einheit der menschlichen Vernunft reklamiert. Die Mythologie als Wissenschaft ermöglicht nicht nur, Religion und Mythos mit ihrer Nähe zum Epos und zur Gründung der politischen Gemeinschaft als etwas Vergangenes zu begreifen. Sie dient auch zur Erklärung der Erschaffung der Moderne und des abendländischen Selbstverständnisses. Aurélien Merle vergleicht die Arbeiten des Mythologen und Strukturalisten Georges Dumézil, die Lehre von der Dreiteiligkeit der Funktionen in den germanischen Gesellschaften und Ideologen mit der Hegelschen Dialektik. Dabei zeigen sich nicht nur Analogien, vielmehr formuliert Dumézil prüfenswerte Alternativen. Unter dem Begriff des ‘Islamismus’ versteht Alain Patrick Olivier ein Phänomen, das Hegel in den verschiedenen Gebieten unterschiedlich thematisiert hat: als Religion der Erhabenheit, als revolutionärer Prozess und als pantheistische Poesie. Diese unterschiedliche Thematisierung gestattet es, das Hegelsche Konzept des „Geistes“ strukturell zu erschließen. Islamismus muss vor diesem Hintergrund vor allem als ein – wenn auch negatives – Moment der praktischen Vernunft verstanden werden. Keineswegs würde die Identifikation von Islamismus und Fanatismus ein irrationales, unsittliches Phänomen identifizieren. Vielmehr wird Hegel dazu veranlasst, den Islamismus – wie die Französische Revolution – als eine Erscheinung der sittlichen Vernunft in der Geschichte zu begreifen. Die Diskussion in den 40 Jahren des 19. Jahrhunderts um die Emanzipation der Juden ist fokussiert auf die bürgerliche und politische Partizipation der Juden. Die Kontroverse zwischen Bauer, Grün und Marx, wie sie Michael Quante in seinem Beitrag rekonstruiert, ist geeignet, die Struktur möglicher Argumente mit Blick auf die Frage nach den Bedingungen der Emanzipation religiöser Gruppen im modernen Staat zu formulieren. Bauer und Grün teilen das Projekt der politischen Emanzipation, divergieren allerdings in der Einschätzung der Rolle der Religion. Für Grün ist die Spannung zwischen dem Selbstverständnis als Bürger eines demokratischen und weltanschaulich neutralen Staates und der Bindung an eine Religion mit Autonomie verträglich. Für
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Bauer dagegen ist diese Spannung ein Ausdruck von Entfremdung, religiöse Überzeugungen sind mit der Autonomie als dem normativen Grundprinzip des demokratischen Staates unvereinbar. Für Karl Marx sind Religion und Staat Entfremdungsphänomene der bürgerlichen Gesellschaft. Die Spannungen zwischen religiösem und weltlichem Subjekt sind erst durch die menschliche Emanzipation lösbar, die die durch Privateigentum, Geld und Privatrecht geschaffenen Strukturen auflöst. Die Rede des Systemprogramms von einer „Mythologie der Vernunft“ bildet den Ausgangspunkt für Leonardo Amorosos Rekonstruktion jenes Bindegliedes das zwischen Philosophie und Poesie vermittelnd besseren Verhältnisse den Weg bereitet. Die Rekonstruktion des Programms einer neuen Mythologie macht deutlich, es handelt sich bei diesem Anliegen keineswegs um ein Alleinstellungsmerkmal des Hegelschen Denkens. Das Projekt der „Mythologie“ wird – wie der Streit um die Urheberschaft des Systemprogramms zeigt – von vielen Zeitgenossen wenn auch mit unterschiedlicher Ausgestaltung verfolgt. Die Rekonstruktion des Diskussionszusammenhangs um eine neue Mythologie veranschaulicht allerdings auch die bereits früh (um 1800) bestehenden Differenzen, die in der Folge zu unversöhnlichen Gegensätzen zwischen den Protagonisten führen sollten. Die rechtliche Möglichkeit eines Widerstandsrechts in dem Sinne, dass geprüft wird, ob ein rechtsförmiger Anspruch auf politischen Widerstand denkbar ist, prüft Michael Städtler. ‘Widerstand’ wird dabei als Aktivitäten der Bevölkerung gefasst, die gewaltsam auf die Unwirksamkeit von Herrschafts-, Regierungs- oder Verwaltungsakten, bis zur Absetzung oder Tötung der diese vertretenden Personen gerichtet sind. Gewalt ist hierbei vorausgesetzt, weil die Aussetzung politischer Macht nicht in Konformität mit dieser Macht selbst erfolgen kann, sondern gegen sie erzwungen werden muss. Der Versuch einer säkularen Begründung des Widerstandsrechts ist abzugrenzen von den religiösen Begründungsversuchen, die so alt sind, wie Herrschaft selbst. Städtler geht es um die Reflexion darauf, ob ein rechtsförmiger Anspruch auf politischen Widerstand denkbar ist. Diese Frage stellt sich insbesondere vor dem Hintergrund des Naturrechts, für das der die Rechtsinhalte bestimmende Sachgrund zugleich Geltungsgrund ist. Göttliche Gebote sind von Gott formuliert und deshalb gelten sie auch. Da im Vernunftrecht Sachgrund und Geltungsgrund auseinanderfallen, fehlt den vernunftrechtlichen Bestimmungen die Wirklichkeit. Was Vernunft für Recht erkennt, kann der politischen Wirklichkeit widersprechen. Daraus folgt allerdings nicht unmittelbar ein vernunftrechtliches Widerstands- oder gar Revolutionsrecht, sondern zunächst lediglich die Einsicht, dass Positivität, die Setzung von Recht als Gesetz durch eine politische Macht zum notwendigen Moment des vernunftrechtlichen Rechtsbegriffs gehört. Das Fehlen eines Widerstandsrechts bei Kant und Hegel erklärt sich aus dieser Konstellation. Da sich der Rückgriff auf ein Naturrecht für Fichte verbietet, entwickelt Fichte ein Programm das das positive Recht in sich selbst kontrollierbar und korrigierbar macht. Vorbild für Fichtes prozedural geregeltes Widerstandsrecht könnte der 1793 von Condorcet der Nationalversamm-
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lung vorgeschlagene Verfassungsentwurf gewesen sein. Die politischen und verfassungsrechtlichen Entwicklungen seiner Zeit wären damit konstitutiv für die Fichtesche Widerstandslehre. Sittlichkeit und Religion bilden die Grundlage der Hegelschen Politik, wie Jean-Marie Lardic an der Entwicklung des Hegelschen Denkens veranschaulicht. Die Freiheit des Subjekts bildet dabei sowohl das Fundament der modernen Religion wie des modernen Staates. Es obliegt dem Staat, die Partikularität der Einzelnen ohne Partikularisation aufrecht zu erhalten. Lardic macht deutlich, dass zwischen Kirche und freier Subjektivität ein Chiasmus besteht, der das konfessionell gebundene individuelle Gewissen und den Staat der Moderne prägt. Hegel sucht die theoretische Balance zwischen Sittlichkeit als Form freier Selbstfindung und an Freiheit orientierter institutioneller Organisation. Wie problematisch sich diese Balance allerdings in der Gegenwart erweist, zeigt für Jean-Louis Vieillard-Baron insbesondere Hegels strikte Entgegensetzung von Protestantismus und Katholizismus. Dieser Gegensatz bildet in der Moderne keine angemessene Form der religiösen und politischen Orientierung. Vieillard-Baron zeigt, wie diese Entgegensetzung als besondere Bestimmung der Freiheit ihren Ort in der Auseinandersetzung Hegels mit Kants Bestimmung der Freiheit hat. Dem Verhältnis von Aufklärung und Religion geht Norbert Waszek in seinem Beitrag zu Oppenheimers und Heines Rückblick auf die jüdische Haskala nach. Wie die Aufklärung in anderen Gegenden Europas ist auch die Haskala vorzugsweise eine urbane Erscheinung, ein günstiger Nährboden bildet daher Berlin, das Zentrum der deutschen Aufklärung. Die innerhalb der Haskala vollzogene Entwicklung entspricht durchaus dem Wandel, den die drei Generationen der Aufklärung vollziehen. Waszek veranschaulicht die Differenzen an den jeweils leitenden philosophischen Grundpositionen, deren Einheit mit Hegel im Sinne des Aufhebens zu denken ist. Bruno Bauer hat seine These vom Zerbrechen der Hegel-Schule auf den inneren Widerspruch zwischen Spinozas Substanz und Fichtes Ich in Hegels System zurückgeführt. Dieser innere Widerspruch ist auch für die Topographie der Hegelschule konstitutiv, wie Douglas Moggach in seinem Beitrag zeigt: Diejenigen, die wie Bauer selbst, Fichtes Weg folgen, betonen die Prinzipien von Singularität und Autonomie. Der spinozistische Weg, dem D.F. Strauss und Ludwig Feuerbach folgen, vernachlässigt das Element des individuellen Wollens zugunsten der Behauptung von Allgemeinheit als Gemeinschaft. Für Moggach geht diese Kontroverse wesentlich auf Leibniz und dessen Konzeption der Beziehung zwischen den Grundtätigkeiten des Subjekts und dem Bereich der objektiven Formen zurück. Leibniz’ Konzeption der Monade ist nicht nur für den Formbegriff der neuzeitlichen Ästhetik fruchtbar geworden, sondern stellt mit der Betonung des subjektiven Ursprungs der tätigen Gestaltung einen zentralen Baustein der neuzeitlichen Handlungs- und Gesellschaftstheorie dar. Die Spannung zwischen der ursprünglichen Intention des Subjekts und der Bedeutung der objektiven Gestalten ist wie Moggach zeigt, für die Unterschiede
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zwischen den romantischen und idealistischen Konzepten entscheidend. Die Spannweite der Deutungen dieses Verhältnisses reicht von Herders Bestimmung der Volksgeister als authentische Gestaltungen und Vergegenwärtigung von wesentlich subjektiven Inhalten des gestaltenden Selbst bis zur NichtEntsprechung in der Kantischen Imperativ-Lehre. Für Moggach trägt Hegel und der Deutsche Idealismus diesen Konflikt in einer nach wie vor fruchtbaren Weise aus. Es ist die Frage nach der Konkretheit der Philosophie, die in der Nachfolge von Kant die Auseinandersetzung um eine idealistische Rechtsbzw. Politikkonzeption bestimmen und die zentral wird in der Frage nach der Machbarkeit der Geschichte durch den Menschen. Eine These die, wie Christophe Bouton zeigt, für Hegel ohne Zweifel am schwierigsten zu beantworten ist. Der Anspruch der Konkretheit, wie ihn die aristotelische Politik für die Polissittlichkeit einlöst, scheint für die neuzeitlich kontraktualistischen Theorie unerreichbar. Dass die oberflächliche Zuordnung der idealistischen Politiktheorien zu einem kontraktualistischen bzw. neoaristotelischen Theoriemodell die komplexen Sachverhalte nur schwer erfasst, zeigt Elisabeth Weisser-Lohmann in ihrem Beitrag. Die Rekonstruktion zeigt, wie die idealistischen Politik-Konzeptionen durch eine komplexe Verarbeitung der beiden alternativen Theoriemodelle, den Herausforderungen der Moderne gerecht zu werden suchen. Im Namen der Autoren danken die Herausgeber Annemarie GethmannSiefert und der Fernuniversität in Hagen für die Möglichkeit, diese Fragen in einem internationalen Rahmen zu diskutieren. Der Dank gilt auch der Deutschen Forschungsgemeinschaft, welche das Kolloquium im Rahmen der Förderung des Forschungsprojekts „Hegels Vorlesungen zur Philosophie der Kunst“ unterstützt hat. Nicht zuletzt gilt der Dank auch der Alexander-vonHumboldt-Stiftung, die mit der Publikation des Bandes den internationalen wissenschaftlichen Austausch und die Kooperation zwischen Deutschland und Frankreich fördert, sowie Dora Tsatoura für die sorgfältige Gestaltung der Druckvorlage. Bochum, Paris Oktober 2012
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Der ontologische Status des Hegelschen Weltgeistes Hegels Begriff des Weltgeistes als eines Prinzips der Weltgeschichte hebt ebenso die Vorstellung vom transzendent-providentiellen Grunde solcher Geschichte auf, als die von einer derart derselben immanenten Macht, dass diese (natura sive deus) keinen anderen Inhalt als die bloße Welt haben könne. Dieser Weltgeist ist weder reine Welt noch reiner Geist, sondern die Einheit beider. Dies ist die typisch Hegelsche Einheit als Synthese eines Widerspruches, da der Geist wesentlich echte Einheit ist, wogegen die Welt, als die „Kollektion des Geistigen und Natürlichen“,1 kein Inhalt eines wahrhaften Begriffes oder einer eigentlichen Kategorie in der spekulativen Enzyklopädie, sondern nur derjenige eines beschreibenden, empirischen Gedankens sein kann. Ebenso ist bei Hegel eine solche widerspruchsvolle Einheit der geistigen Einheit und des weltlichen Nebeneinanderseins prototypisch. Hier nämlich ist der Widerspruch der prinzipielle, damit der größte, weil er dem selbst absoluten Geist die in sich alle verschiedenen weltlichen Realitäten zusammensammelnde Geschichte entgegensetzt. Er spitzt sich zum innersten Widerspruch darum zu, weil der Weltgeist sich in seinem Sinne, d.i. als allgemeinen Geist weiß – und dadurch ist – da er sich als denkenden, somit nicht mehr als bloß weltlichen, sondern als an sich schon selbst absoluten, im Innigsten vollends mit sich identischen Geist setzt. „Es ist“, so schreibt Hegel, „der in der Sittlichkeit denkende Geist, welcher die Endlichkeit, die er als Volksgeist [...] hat, in sich aufhebt [...]. Der denkende Geist der Weltgeschichte aber, indem er zugleich [...] seine eigene Weltlichkeit abgestreift, erfasst seine konkrete Allgemeinheit und erhebt sich zum Wissen des absoluten Geistes“.2 Wenn dem so ist, muß der Widerspruch des Weltgeistes sich in einen auch den absoluten Geist mit hineinverwickelnden Widerspruch vertiefen und dadurch zu einem innersten Widerspruch machen. Dadurch aber, dass, wo der Widerspruch der innerste ist, eben da sich auch die innigste Versöhnung vollbringt, so scheint es, als ob die alleinige jenen bemeisternde Vereinigung so vom absoluten Geist selbst hervorgebracht wäre, dass nur diesem eine Realität mit vollem Recht zukäme. Ist es aber dann noch möglich, dem Weltgeist mehr als die falsche Realität einer bloßen Metapher einzuräumen, zwischen einerseits der sinnlich-empfindlichen Erfahrungsrealität des einzelnen oder besonderen Geistes und anderseits der sich selbst beweisenden gedachten Realität des sich als absoluten setzenden 1
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Hegel, System der Philosophie II. Die Naturphilosophie. In: Sämtliche Werke. Jubiläumsausgabe. Hrsg. v. H. Glockner. Bd 9. Stuttgart 965. § 247, 51 Zusatz. Hegel, Enzyklopädie der Philosophischen Wissenschaften (1830), Hrsg. v. F. Nicolin u. O. Pöggeler. Hamburg 1959, § 552, 431.
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allgemeinen Geistes? Ich glaube, es ist nicht nur möglich, sondern notwendig. Ich möchte die volle Realität des Weltgeistes im Sinne Hegels im folgenden Vortrag in drei Schritten aufweisen. Zunächst werden die Bedingungen hervorgehoben, welchen die geschichtliche, zugleich der Vernunft angemessene Verwirklichung des Rechts oder des objektiven Geistes nachkommen muß, die allein ein wahrhafter Geist durchführen kann; zweitens ist zu erweisen, dass ein solcher Geist notwendig ein individueller Weltgeist ist, und drittens ist zu beweisen, dass dieses geistige allgemeinen Individuum, so sehr es innigst beim absoluten Geist wirkt, doch ganz und gar für sich selbst reell ist. In spekulativer Hinsicht ist es durchaus nötig, den Begriff des Weltgeistes, im Sinne eines Geistes der Welt auszulegen (im Gegensatz dazu, ist bei Hegel – am Anfang der Lehre vom subjektiven Geiste – der „Naturgeist“ kein Geist der Natur). D.h. der Weltgeist muss als ein immanentes, somit eigentlich weltliches Vereinigungsprinzips der Welt zu setzen. Dies hat zunächst seinen Grund darin, dass derselben als zweiter Natur eine beschränkte ontologische Seinsweise zukommt. Die geistige Ergänzung und Ausbildung, in der Welt (der ersten Natur) kann nicht, im objektiven – als solchem sich selbst entgegensetzten – Geiste, das der ersten Natur wesentliche Außersichsein restlos überwinden. Solch ein Außersichsein erlaubt der Natur nicht, sich zur alleinigen Totalität zu vollenden, und damit zu einer inneren Einheit ihrer selbst als einer „Weltseele“ zu gelangen. Die höchste vollkommene Einheit ist hier die einzelne jedes lebendigen Organismus, aber es gibt darin kein organisches Ganzes der einzelnen Organismen. Gleichermaßen ist, selbst an der Spitze des (nur) objektiven, als solchen noch – wie vorhin gesagt – an den natürlichen Voraussetzung haftenden Geistes, eine staatliche Vereinigung der Staaten auf immer unmöglich. Dieser Unmöglichkeit wegen, und weiter weil es keinen rechtlichen machtvollen allgemeinen Prätor zwischen Staaten geben kann, ist und bleibt das äußere Staatsrecht oder Völkerrecht ein bloßes Sollen. Selbst vorausgesetzt, dass die sittliche Vernunft im Inneren alle Staaten regierte, könnten sie sich gegeneinander so sehr unvernünftig, d.i. widerrechtlich verhalten, dass alles Recht verschwinden und das menschliche Geschlecht zum gewaltsamen Naturzustande zurückkehren würde. Deshalb gebietet die Vernunft dem spekulativen Philosophen des Rechts, an dessen Gipfel einen solchen schon zugleich überrechtlichen Prozess anzunehmen, der das ganze System des objektiven Geistes notwendig verwirklicht. Die logich-ontologisch selbstbegründete Vernünftigkeit des wirklichen Verhaltens der Staaten fordert also, dass im Bereich des Völkerrechtes, wo die rechtlich-politische staatliche Herrschergewalt ohne Grenzen entscheidet, sie dennoch dem Rechte gemäß gemacht werde – und zwar mindestens in den Folgen und Wirkungen ihrer Entscheidungen, somit im Verlauf einer durch die Vernunft geleiteten Geschichte. Das geschieht auch, weil seit dem Beginn der Staaten, d.h. der gesetzlichen – räumlich und zeitlich vereinenden – Verallgemeinerung des ganzen Tuns und Lassens der Individuen und Völker, die zunächst einfachen oder abstrakten, dann immer konkreteren Forderungen der
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Vernunft immer weiter in der Welt erfüllt worden sind. Da diese Forderungen zuerst an Einem bestimmten Ort und Zeit erfunden und erfüllt werden, bedeutet dies, dass das erste staatlich organisierte Volk, welches sie zum Prinzip seines Lebens macht, eben dadurch die Kraft gewinnt, sie den anderen Völkern als das geltende Recht aufzuerlegen. Solche von Vernunft geschenkte ursprüngliche Verstärkung des dieselbe Vernunft jeweils verkörpernden Staates eröffnet eine geschichtliche Entwicklung, welche sich am Ende in ihren Untergang umkehren muss. Der jeweilige Staat identifiziert sich nämlich hartnäckig mit jenem Prinzip, das ein einseitiges, beschränktes, somit vergängliches Moment der Vernunft ausmacht. Aber das Selbstnegieren dieses abstrakten Momentes und damit des Volkes, das sich ihm dienend angeglichen hat, soll zugleich das Setzen eines konkreteren Momentes derselben Vernunft durch ein anderes zur solchen Konkretisierung fähiges Volk sein. Deswegen muß dieses neue Volk an das erste angrenzen, auf dass es zunächst von diesem zwangsweise ein Recht empfangen kann, womit es sich nicht gänzlich identifiziert, indem es seine eigene Energie zur Bestimmung und Errichtung des neuen, konkreteren, versöhnenderen Rechts verwendet. Hinzu kommt, dass es ihm möglich sei, sich selbst und sein Recht objektiv zu bestätigen und bewähren, indem er, als seinen nächsten Nachbarn, das vorige die Welt beherrschende Volk besiegt und dadurch die ganze Welt beherrscht. Man sieht also, dass die geschichtliche Objektivierung der rechtlichpolitischen Vernunft verlangt 1) dass diese Vernunft ein ideell-notwendiges konkretes System ihrer nacheinander ans Licht kommenden Momente sei, und 2) dass sie sich selbst systematisch, an der Raum-Zeitlichkeit als dem Elemente des objektiven Geistes, in eine reale Welt verwirkliche. Doch ist die geforderte umfassende Totalisierung der logischen Totalisierung und der objektiv-geistigen Totalisierung nicht hinreichend. Denn der objektive Geist wird selbst im Kreise des realen Seins durch das bedingt, was unterhalb und oberhalb seiner liegt und wirkt, d.h. durch, einerseits, die noch nicht geistige, aber nur natürliche Objektivität und, anderseits, den nicht mehr objektiven oder noch relativ-natürlichen, sondern rein geistigen oder absoluten Geist. Zwar bestimmt die Natur den objektiven Geist, worin sich die von Grund aus vernünftige Geschichte abspielt, nicht, doch bedingt sie denselben und zunächst dessen erscheinendes Hervorgehen. Es ist auch die Natur selbst, die das geschichtliche sich Losreißen des endlichen Geistes von ihr ermöglicht, aber damit begrenzt. Gewisse Orte sind dafür, dass in ihnen ein echt geschichtliches Leben auftaucht, nicht günstig, obgleich überall auf Erden alle Menschen in ihrer Natürlichkeit nicht bloße Naturwesen sind, sondern als an sich ganz geschichtlich-geistige Wesen unmittelbar sind. Weitergehend zeigt die Entwicklung der Weltgeschichte immer wieder eine erstaunliche Übereinstimmung dieser Geschichte mit der Geographie auf dieser Erde, die „unter allen
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Planeten der vortrefflichste ist“.3 Der harmonische Reichtum, die Konkretheit eines solchen Planeten prädestinierte denselben dazu, der Ort für die Inkarnation des Geistes, des Logos, zu sein. Die dialektische Kontinuität der Weltgeschichte, die zum Mittelpunkt den Mittleren Osten hat, muss qualitativ mit derjenigen der Geographie übereinkommen, in dem beiden gemeinsamen Weg vom Osten zum Westen. Weil aber Bedingen und Bestimmen nicht dasselbe ist, fordert das Zusammenspiel, das die Entfaltung der geschichtlichen Vernunft ermöglicht, als einen Grund, die Synthese der natürlichen mit der geistigen Objektivität. Obwohl er höher steht als der zur Weltgeschichte vollendete objektive Geist, soll sich auch der absolute Geist in ein enges Verhältnis zu demselben setzen, dessen Grund er ist und durch dessen Werden er selbst zu seiner eigenen Wahrheit wird. Das auch darum, weil weder – um ein Beispiel zu nennen – die Religion den Staat noch umgekehrt der Staat die Religion bestimmt, soll die dem festen Dasein beider notwendige Aneinanderführung durch das Prinzip der Weltgeschichte gesichert werden. Diese nährt sich also wie von dem äußeren, natürlichen und geistigen Sein auch vom inneren, absolut geistigen, göttlich-menschlichen Sein, welches sich wesentlich aus seinem religiösen Herzen entfaltet. Die Weltgeschichte hat zum Element „die geistige Wirklichkeit in ihrem ganzen Umfange von Innerlichkeit und Äußerlichkeit“4 oder, anders gesagt, ihr reeller Inhalt ist derjenige der Welt – aufgefasst als die gleichfalls den überweltlichen Geist mobilisierende Totalität. Die Geschichte der Kunst, die Geschichte der Religion, die Geschichte der Philosophie drücken ein Absolutes aus, dessen Sein, weil es in die wirkliche Geschichte der Welt eingreift, das Sein der Stufen oder Reiche derselben unterstützt und festhält. Reziproker weise reflektiert sich das reelle Werden der Weltgeschichte in das ideelle, erscheinende und zwar das nicht nur scheinende, der Bestimmungen des absoluten Geistes. Es zeigt sich also, dass das die Entstehung und Entwicklung der wirklichen, weltlichen Geschichte der an sich ewigen Vernunft beherrschende Prinzip in ihm selbst alle Prozesse zusammenknüpfen muß, welche die Verwirklichung der logischen Idee organisieren, indem sie sich zugleich durch diese allmächtige Idee in ihnen untereinander und mit derselben organisieren lassen. Hier stellt sich die Frage, welches denn ein solches totalisierende Prinzip ist, das, am Gipfel des Rechts oder des objektiven Geistes, dazu fähig ist, das ganze zu seiner Wahrheit gebrachte, geschichtliche System desselben fest zu sichern, indem es in diesem Prozess sowohl die unterrechtliche Natur als auch den überrechtlichen absoluten Geist auf zentrale Weise mitspielen lässt.
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Hegel, System der Philosophie II. Die Naturphilosophie. In: Sämtliche Werke. Jubiläumsausgabe. Hrsg. v. H. Glockner. Bd 9. Stuttgart 1965. § 339, Zusatz, 51. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts. Hrsg. v. J. Hoffmeister. Hamburg 1955. § 341, 288.
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* Das so gesuchte Prinzip der Weltgeschichte, das Hegel als den vollendeten – damit zugleich ganz seienden und nicht mehr seienden – objektiven Geist aufstellen will, ist folglich ein sehr komplexer Geist. Es ist darum am weitesten von der bloßen Abstraktion entfernt, wozu es verflüchtigt wird, wenn man es lediglich als verarmten weltlich-immanenten Ersatz der göttlichen Vorsehung ansieht. Diese nämlich wird allein durch ihre Funktion bestimmt, die darin besteht, das absolute, somit unbestimmte Setzen von allem, was geschieht, zu sein. Mehr noch, als ewiges ist solches Setzen so sehr abstrakte, inhaltslose Identität mit sich, dass man nicht imstande ist, es von einem – wie bei Spinoza – natur-kausalen Setzen zu unterscheiden, wenn es nicht gelingt, es von einer dogmatisch-formalen oder äußerlichen Rede als ein geistig-teleologisches Setzen abzugrenzen. Doch die Weltgeschichte, die den objektiven somit noch zum Teil äußerlichen Geist mit ihm selbst vereinigt, muss selbst von einer in ihrem inneren Tun sich mit sich selbst vereinigenden Macht, d.h. von einem Geist vereinigt werden. Ein solches inneres Tun fasst in und als die wirkliche Weltgeschichte den ideellen ewigen Prozess der logisch-ontologischen Idee – und dies auf Befehl dieser allmächtigen Idee – mit der selbst wirklichen Synthese 1) des geologischgeographischen räumlich aufgefassten Prozesses, 2) des zeitlichen Prozesses der unmittelbaren gesellschaftlichen staatlichen Geschichte, und 3) des ewigzeitlichen Prozesses der ideell-reflektierten, wesentlich religiösen Geschichte. Diese müssen in eins zusammen genommen werden. Weil aber die wirklichen Bestandteile – Natur und objektiver Geist – dieser komplexen Synthese sich räumlich-zeitlich notwendig verändern, muss sich auch diese selbst jedes Mal auf verschiedene, einzelne Weise ereignen. Deshalb muss sie, damit die Weltgeschichte zur Totalität werde, jede einzelne der aufeinanderfolgenden Synthesen mit allen anderen in Einen für sich seienden ewigen Akt des Selbst vereinigen. Als eine solche ganz in sich reflektierte Totalisierung der Weltgeschichte ist das Prinzip der letzteren die vollendete wirkliche Tätigkeit des vollendeten wirklichen Geistes selbst. Es ist also die dem Geist wesentliche Selbstbestimmung oder Freiheit, welche das Prinzip der geschichtlich-weltlichen Verwirklichung der streng nötigenden Vernunft ist. Die in der Geschichte arbeitende Vernunft ist so die Vernunft eines Geistes. Dies ist eine starke Behauptung gegen den – oft hinterhältigen – und wiederholt geäußerten Versuch, den Hegelschen Rationalismus so zu sagen zu „entgeisten“, indem man zum Beispiel meint, dass die Verwirklichung der Idee in der Natur und im Geist mittels eines allgemeinen Gesetzes vollbracht werde, das die bewährende Totalisierung der Geschichte regiert. Es ist aber spekulativ unmöglich, den Geist, als das vollkommen Konkrete oder Ganze, das zudem allein ein Etwas zum Ganzen machen kann, durch sein abstraktestes Moment (d.i. das dabei als Gesetz absolutierte Allgemeine) bestimmen lassen zu wollen. Das Denken – das die Vernunft oder das Wahre
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ausmacht – ist eben absolut wahr als sich-in-sich-selbst-reflektierendes Denken, als ein sich denkendes Selbst, das wie die Logik ihre letzte, damit höchste Kategorie setzt als „die reine Persönlichkeit“.5 Eine solche dann real gesetzte Persönlichkeit ist der Weltgeist. Dieser ist davon entfernt, nur die ungebührliche Personifikation einer ganz abstrakten substantiellen Macht oder eines ebenso abstrakten Urgesetzes zu sein. Denn der Geist ist für Hegel kein bloßes Attribut oder Prädikat – das Geistige – eines nur formellen, nicht subjektiven, sondern bloß substantiellen Subjekts; es ist nicht akzeptabel, beinahe am Gipfel des Hegelianismus angelangt, in einen Spinozismus zurückzufallen! Der Geist ist vielmehr in seiner Wahrheit die absolute Realität eines Subjekts, besser: einer Person. Auf diese Weise ist der Geist – das persönliche Subjekt, das sich selbst alles Übrige als ein Prädikat entgegengesetzt. Im Element des alles andere Sein tragenden und die Macht desselben seienden Denkens „ist der Geist wesentlich Individuum“.6 Darum wirkt er beherrschend auf die Natur und das sonstige geistige Dasein. An der Spitze aller Handlung, betont Hegel, steht ein Individuum, dessen in sich selbst reflektierte, damit in ihrer unendlichen Einzelheit bekräftigte Einheit sich als eine Entscheidungs- und Verwirklichungskraft bestätigt. Hegel preist die Macht des Geistes, dessen Individualität die zerstreuten, somit vor ihr kraftlosen natürlichen und geistigen Besonderheiten der Weltum- und Weltzustände meistert. Die allgemeinen vereinigenden Zwecke, welche der Weltgeist in der Geschichte solchen Völkern anweist, die, ihrer Natur und Kultur wegen, unfähig scheinen, sie zu erfüllen, werden dennoch erfüllt. Der Weltgeist ist – als wesentlich in sich selbst reflektiert – so mächtig, dass er – welch’ eine liberale Praxis der ontologischen Subsidiarität! – seine eigene Urvernunft durch das zufällige erscheinende Spiel der dem Weltlichen anhaftenden empirischen Verschiedenheit und Gegensätzlichkeit ausführen lässt. Seine listige Herrschaft also spielt mit diesem scheinbar anderen Spiele der geschichtlichen Empirie. In seiner ewigen Identität mit sich sicher ruhend, besitzt oder hat er an ihm die Zeit, da vor ihm tausend Jahre wie ein Tag sind. So kann er – ohne darin verloren zu gehen – sich einem langsamen Fortgang anvertrauen, der in sich allerlei Umwege, Pausen, ja Rückschritte enthält, kurz: die so zu nennende Unvernunft enthält, eine am Ende überwundene Unvernunft, die zur absolut gesicherten geschichtlichen Vernunft führt. Ein solches vollendet geistiges Statut des Prinzips der Weltgeschichte erlaubt und schreibt dem sich seiner als Wortführers dieser Geschichte spekulativ bewußt werdenden Philosophen vor, die ins Unendliche gehende positive Erforschung der empirischen Ursachen derselben insofern zu meistern, als er streng ihre systematisierten allgemeinen Gründe begreift. Als ein Philosoph der Weltgeschichte hat Hegel zwar die Aufgabe, welche ihm der dieselbe zum 5
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Hegel, Wissenschaft der Logik. Die subjektive Logik. In: Gesammelte Werke. Bd 12. Hrsg. v. F. Hogemann u. W. Jaeschke. Hamburg 1981, 251. Hegel, Die Vernunft in der Geschichte. Hrsg. v. J. Hoffmeister. Hamburg 1955, 59.
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Abschluss bringende Weltgeist zugewiesen hatte auf exzellente Weise erfüllt. Doch als der enzyklopädischer Denker des Seins und, genauer, des das Sein vollendenden Geistes, hat er vielleicht die Sache nicht soweit erklärt, als man es gewünscht haben würde. Ohne Zweifel hat er die Gliederung innerhalb des Geistes, die vier wesentlichen Gestalten desselben nicht zureichend expliziert. Diese Stufen müssen selbst als ebenso viele Geister und damit als Individuen erklärt werden: es sind der Geist des einzelnen Menschen, der Volksgeist, der Weltgeist und der göttliche oder absolute Geist. Besonders problematisch erscheint hier der Sinn der Beziehung des Weltgeistes auf den absoluten Geist. Beide nämlich sind allgemeine Geister und sie greifen, wie gesagt, so sehr ineinander, dass man die Frage stellen darf, ob etwa dem Weltgeist eine wahre Individualität zugegeben werden kann, die gegen den ontologisch kräftigeren absoluten Geist Bestand hat.
* Freilich, sind die vier soeben genannten Geister, jeder auf seiner Stufe als Individuen ganz und gar reell. Und sie sind – als geistige Individuen – zu einer solchen wirkenden Entscheidung fähig. D.h. sie wirkt in sich die Objektivität des theoretischen Geistes aus, dessen mit dem Können verknüpftes Wissen allen Erfolg bedingt, und vereinigt damit die Subjektivität des praktischen Geistes, dessen in sich konzentriertes Wollen alles Beginnen bedingt. Diese Entscheidungsfähigkeit gesteht Hegel (in der Welt) gleicherweise, dem einzelnen Geiste des Menschen, dem besonderen Geiste des Volkes und auch dem allgemeinen Geiste oder Weltgeiste zu. Nun konkretisieren aber diese weltlichen Entscheidungen die freie urtypische Entscheidung, wodurch der absolute Geist, als an sich vollendete logische Idee oder „reine Persönlichkeit“, frei aus sich selbst eine zu einer Welt bestimmte Natur entlässt. Solche Entscheidungen des weltlichen Geistes bringen die Vernunft zum objektiven Dasein, d.h. errichten ein Recht, dessen objektive Macht je nach der Dimension der geistigen es beschließenden Subjektivität bemessen wird. Infolgedessen überwiegt das Recht des Weltgeistes gegen das des Volksgeistes, und das Recht des Volksgeistes gegen das des menschlichen Individuums. Aber ein Wollen ist – in seiner Form genommen, als in sich reflektiertes, d.i. als unendliches – allem anderen gleich. So hat ein Geist insofern einen anderen in seiner Gewalt, als dieser andere – im Grunde – damit einverstanden ist. Die Rangordnung der vier Geister schafft daher keineswegs die absolute Entscheidungsfähigkeit oder die formelle Einheit derselben ab. Ebendarum können die allgemeinen obersten Entscheidungen des Weltgeistes den immer und überall besonderen, und letztlich einzelnen Weltzustand nur verändern, indem sie sich in den Willen der Völker und der Menschen integrieren. Dieser Wille wird so zum Mittel – ein Mittel aber, das für sich und auch für den Weltgeist ein an sich selbst freies Mittel bleibt, also mehr als ein
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bloßes Mittel ist. Seine Freiheit kann die natürlichen und kulturellen Interessen und Leidenschaften als bestimmende Beweggründe aufnehmen. Dieselben listig benutzend, verwirklicht die Weltgeschichte notwendig auf indirektere Weise durch mehr oder weniger lange und langsame Schleichwege hindurch die großen Zwecke des sich zunächst in den Volksgeistern aussprechenden Weltgeistes – dies aber in einer die Freiheit der einzelnen Individuen berücksichtigenden Immanenz. Denn die tätige Allgegenwart des Weltgeistes schließt weder die weite Gegenwart eines Volksgeistes noch die punktuelle des einzelnen Menschen aus. Die drei weltlichen Geister sind völlig reell, d.h. in ihrer sich abstufenden Individualität sind sie Subjekte, und nicht bloße Prädikate: aber als geistige Subjekte, schließen sie im Gegensatz zu den Körpern, einander nicht aus, sondern vielmehr einander ein. Weil nämlich der Geist die unendliche Negativität ist, kann irgendein Geist sich zugleich setzen, indem er den anderen negiert, und diesen anderen setzen, indem er sich selbst negiert. Deswegen können die so in ihrer Freiheit gesicherten Geister miteinander, in der Klarheit des Wissens ebenso wie in der Ahnung der Hellseherei, in Verbindung treten. Dass die Macht des allgemeinen Geistes in dem einzelnen Menschen, vor allem in dem welthistorischen Heros wohnt, der die Urentscheidung des Weltgeistes letztlich praktisch und vollends bewerkstelligt, kann dies aber keineswegs bedeuten, dass diese zwar nicht eigentlich wirkliche Entscheidung darum nicht schon für sich selbst, als absolute Entscheidung, völlig reell wäre, und somit der Weltgeist keine Realität als eine reine ideelle, illusorisch hätte. Allerdings setzt sich die für sich selbst gewisse Gegenwart des einzelnen menschlichen Geistes, der in seinem Wollen die unmittelbar vorhanden sinnliche Einheit seines körperlichen Individuums geistig erfährt, der problematischen Existenz des Willens eines Volkes entgegen. Dessen Individualität sollte die solcherart wirkliche sinnliche Vielheit der einzelnen Geister vereinigen. Noch problematischer scheint die Realität des Willens eines Weltgeistes zu sein, der die schon scheinbar ideellen mannigfaltigen Besonderheiten der Volksgeister in ein allgemeines Individuum zusammenfassen sollte. Für Hegel aber kann das schwächere sinnliche Dasein in der geistigen Individualität die wahre Realität derselben nicht treffen, weil das Sinnliche, als das Außersichsein, vielmehr das ist, was das wahre mit sich identische Sein negiert. Der Geist als absoluter, nur sich auf sich beziehender oder für sich seiender Geist, konzentriert sich gänzlich zum absoluten ewigen Sich-Entscheiden. Indem er sich aber zur Welt entäußert, wird sein Für-sich-sein für sich selbst objektiv, unterscheidet er sich in sich von sich selbst als Wissen von sich. Er wird zum eigentlichen Selbst-bewusst-sein, und insbesondere sein Wollen wird zum seiner bewusst seienden Wollen. Es gibt somit auch ein Selbstbewusstsein des Weltgeistes. Weil aber das Selbstbewusstsein überhaupt vom Unterschied behaftet ist, gibt es verschiedene Arten, je nachdem das weltliche durch jede derselben umfasste Sein so oder so weit gefasst ist. Und weil im Geiste, dem Innern selbst, die quantitativen, d.h. äußerlichen Unterschiede einen
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qualitativen, reell unterscheidenden Sinn erhalten, kann das einzelne eigentlich menschliche Selbstbewusstsein, schwerlich ein kollektives und weniger noch ein allgemeines Selbstbewusstsein erfahren und es sich selbst vorstellen. Sich aber zum Begriff, dem sich aufhebenden Bewusstsein, erhebend, soll es nicht nur die Möglichkeit, sondern die Notwendigkeit der echten Realität behaupten – und zwar im Verhältnis zum anderen weltlichen Geiste, dem Weltgeist als allgemeines Individuum. Allerdings kann das Selbstbewusstsein des in einer absoluten Gegenwart die ganze Weltgeschichte umfassenden Weltgeistes nicht in Einem einzelnen, selbst welthistorischen, immer zeitlich begrenzten Individuum existieren. In seinen Vorlesungen über die Ästhetik, erklärt Hegel daher, dass der unendliche Gehalt der ganzen Dialektik der Weltgeschichte „das immer beschränkte Kunstgefäß bestimmter Individualität zersprengen“7 müsse. Am Ende der Weltgeschichte aber denkt sich der Weltgeist im philosophischen spekulativen Selbstbewußtsein, das zugleich seinen wahren Sinn und ganzen Inhalt auffasst, als das wirkliche allgemeine Individuum. Es bleibt eine letzte Frage, die sich auf das Verhältnis des Weltgeistes zum absoluten Geist bezieht. Beide sind allgemein, und diese quantitative Gleichheit scheint nun eine solche qualitative Verbindung manifestieren zu können, die – natürlich – den absoluten allgemeinen Geist so begünstigte, dass dieser das Subjekt wäre, der Weltgeist aber nur dessen Prädikat. In Wahrheit ist für Hegel der Weltgeist nicht der absolute Geist selbst; wenn er „der Weltgeist überhaupt ist“, wenn „dieser Weltgeist gemäß dem göttlichen Geist ist, welcher der absolute Geist ist“, doch „ist dieser allgemeiner Geist, Weltgeist, nicht gleichbedeutend mit Gott“. Er ist von diesem absoluten Geist darin unterschieden, dass er der Geist ist, „wie er in der Welt existiert“, oder „wie er sich im menschlichen Bewusstsein expliziert“. Dieses menschliche Bewusstsein – der Weltgeist – ist selbst, als Gottmensch, auch zum Teil menschlich; er stuft sich – wie gesagt – von seiner Einzelheit zu seiner Allgemeinheit ab. Anders gesagt: Wenn man die menschlich bewährende aufsteigende Dialektik in die reelle, göttliche absteigende Dialektik umkehrt, geht es, um religiös zu sprechen, vom Gottmenschen zu den Menschen über. Vielsagend ist übrigens, dass Hegel sich die Menschwerdung Gottes vorstellt, als die „Angel, um welche sich die Weltgeschichte dreht“, damit als das, worin das Prinzip der Geschichte, i.e. der Weltgeist, sich offenbart. Und, um noch einen Augenblick im versinnlichten Begriffe zu verweilen, kann man sagen, dass das Verhältnis dieses Weltgeistes zum absoluten Geiste dasjenige des Sohnes zum Vater ist, und dabei bemerken, dass beide, in ihrer innigsten Rangordnung, die gleiche Realität von in „Personen“ sublimierten Individualitäten besitzen. Hegels spekulative Philosophie, die den christlichen Gedanken vernünftig auslegen wollte, hat wirklich den Weltgeist, als einen eng mit dem absoluten Geist verbundenen, als einen jener gottmenschlichen Person begriff7
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lich entsprechenden gefasst. So begriffen ist der Weltgeist ein wahrhaftes geistiges Individuum, das als solches vollkommen dazu fähig ist in ursprünglicher Gemeinschaft mit dem absoluten Geiste durch sich selbst ureigen zu handeln. In ihm selbst – da er sich selbst zu einem solchen Verhältnis macht – setzt der Geist so als absoluter Geist gesetzt, sich selbst dem zur Weltgeschichte vollendeten objektiven Geist entgegen. Es ist also der absolute Geist, in welchem als der herrschenden absoluten Einheit der objektive Geist wirkt und, weil jener dann als solcher bestimmt wird, selbst auch auf seine bestimmte oder eigene Weise mitwirkt. Jeder der beiden Geister, um völlig als er selbst zu existieren, lässt den anderen in ihn selbst eingreifen. Zum Beispiel fixiert der absolute Geist die Stufen der objektiven Weltgeschichte zu festen Staaten, aber, umgekehrt, lässt dieselbe die Geschichte des absoluten Geistes sich verwirklichen und so diesen selbst zu seiner Wahrheit kommen. Im umfassenden Kontext des die ewige Selbstsetzung der logisch-ontologischen Idee verwirklichenden absoluten Geistes setzt der Weltgeist den ganzen Geist daran, aber nach seiner zwar beschränkten, aber dennoch freigelassenen eigentümlichen Seinsweise. Diese Eigentümlichkeit ist einerseits darin positiv, dass der Weltgeist allein – in seinem realen gewaltsamen Tun – den Boden sichern kann, worin der ganze subjektive, objektive, ja auch absolute Geist alle seine Zwekke verwirklichen kann. Anderseits ist sie darin negativ, dass das reelle, unauswischbare, besondere und einzelne Böse, das der Weltgeist herbeiführen muß, nicht im Elemente des objektiven Geistes, sondern nur auf höherer Stufe überwunden werden kann. Der Weltgeist ist also das innige Andere des höchsten Geistes, durch dessen absolute Realität allein alles, was ist, reell ist. Dessen absolute Wirklichkeit manifestiert jener zugleich, seiner Positivität wegen, als möglich, und, seiner Negativität wegen, als notwendig.
* Die dem Weltgeist von Hegel zugestandene Realität ist also die eines Vermittlers zwischen dem absoluten und objektiven Geiste. In ihm macht sich insofern „der innere Werkmeister der Geschichte, die ewige absolute Idee, die sich in der Menschheit realisiert“ geltend,8 als er den einheitlichen Sinn der wirklichen Geschichte sichert, indem er die menschlichen Vereinigungen derselben vom absoluten oder göttlichen Eins ausgehen lässt. Nun ist aber ein solch geistig-ontologischer Ansatz in der Diskussion zurückgewiesen worden. Der Weltgeist wird als metaphorisch oder illusorisch negiert und so wurde die Beziehung zwischen dem Einen Sinn und der wirklichen Einigung der Weltgeschichte allein in das gleichmachende Element der menschlich-geschichtlichen Wirklichkeit hinein verlegt. So gesehen ist diese Beziehung eine Wechselwir8
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kung, worin die Einigung darum dem Eins vorsteht, weil sie, ebenso wie die Wechselwirkung, das Verschiedene oder Viele als Prinzip voraussetzt. So begreift Marx die Wechselwirkung zwischen der vereinigten Grundmasse von Produktivkräften und den menschlichen Individuen. Dass jedoch die Einigung das Eins trägt, dies ist ebenso wenig selbstverständlich, als dass jene von diesem getragen wird. Eine Ontologie des Vielen, die, um dessen Vereinigung zu erklären, den Zufall annimmt, der die Abweichung (clinamen) der menschlichen Atome, d.h. die damit Verbindungen hervorbringende Wechselwirkung derselben möglich macht, ist immerhin ebenso sehr problematisch wie eine Ontologie des Eins, deren Prinzip die Freiheit desselben ist, als welche Selbstbestimmung sich das dann versöhnende Eins eben bestimmt, d.h. unterscheidet. Vielleicht wird nun jemand sagen, solches zwiefache Bedenken entstehe daraus, dass man sich in eine allgemeine Philosophie oder Lehre der Geschichte einlässt, und es sei vielmehr weise, auf dieselbe zu verzichten. Dies ist aber – zweifellos – leichter, zu sagen, als zu tun!
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I. KUNST / RELIGION / POLITIK
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Der menschliche Körper in Hegels Ästhetik Der beste Weg zu einem Verständnis für die Verherrlichung der menschlichen Gestalt in der Kunst des Klassizismus und des Neoklassizismus sowie in den entsprechenden ästhetischen Theorien des 18. und 19. Jahrhunderts ist möglicherweise, sich im Gegenzug dazu die Behandlung zu vergegenwärtigen, die der menschliche Körper in der zeitgenössischen Kunst erfährt. In unserer Zeit, in der man nicht von ungefähr oft von post-human und post-organisch spricht, in der der Cyborg eine der Schüsselfiguren der Vorstellungswelt ist, wird der menschliche Körper als Opfer von Verletzungen und Schmerz dargestellt, beziehungsweise ausgestellt, vor Blut und Exkrementen triefend; so ist es in vielen Performances der body art von Vito Acconci über Marina Abramovic bis Franko B., oder im Theater von La Fura dels Baus und in den Aktionen von Hermann Nitsch; der menschliche Körper wird immer wieder dem Körper des Tieres gegenüber gestellt, wie in der Performance mit dem Kojoten von Joseph Beuys und in jener mit den Würmern von Gina Pane, oder bei den Selbstmord begehenden Eichhörnchen von Cattelan; oder mit diesem verschmolzen, wie im Zyklus Cremaster von Matthew Barney oder der Serie Humanoides von Aspassio Haronitaki und auf den Fotografien von Daniel Lee; er wird mit technischen Prothesen und elektronischen Geräten versehen, wie in manchen Filmen von Cronenberg oder in den Aktionen von Stelarc; er wird durchquert, geöffnet, unter seiner Oberfläche erforscht, wie es bei Orlan vorkommt oder bei den Häutungen Gunther von Hagens.1 Das genaue Gegenteil dominiert, mit vereinzelten Ausnahmen, lange Zeit in der bildenden Kunst, und sein Höhepunkt scheint im Neoklassizismus der zweiten Hälfte des 18. und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu liegen. Der menschliche Körper ist meistens in Ruhe dargestellt, frei von Kummer und Sorgen, frei sogar von einem durch den Ausdruck bedingten Minimum an Unausgeglichenheit; er ist intakt und gesund, strahlt in seiner vollkommenen Verschiedenheit von der Brutalität des Körpers des Tieres; und der Künstler achtet sorgfältig darauf, uns die Schwächen und die Materialität dieses Körpers vergessen zu lassen, die uns unendlich fern scheinen, wenn wir eine Skulptur von Canova oder einen Akt von Ingres betrachten. Diese Verherrlichung der menschlichen Gestalt und diese Befreiung von ihren Schwächen werden auf noch entschiedenere und konsequentere Art in den Schriften der Kunsttheoretiker und bei den deutschen Philosophen der Zeit von der zweiten Hälfte des 18. bis zur Hälfte des 19. Jahrhunderts zelebriert. 1
Vgl. von E. Agazzi und E. Kocziszky, Der fragile Körper. Göttingen 2005; Vergine/Verzotti (Hrsg.), Il bello e le bestie. Milano 2004.
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Um die Wahrheit zu sagen, hatte die von der klassischen antiken Kunst geerbte Zentralität des menschlichen Körpers nie ganz gefehlt und sie hatte sich jedenfalls von der Renaissance an wieder klar durchgesetzt; und es wäre nicht schwer, zahlreiche Belege für das unbestrittene Primat der menschlichen Gestalt zu finden, wenn man die Texte der Verfasser von Abhandlungen über Kunst des 16. und 17. Jahrhunderts durchginge.2 Aber es ist der Neoklassizismus, mit dem diese zum Objekt einer vollendeten theoretischen Betrachtung wird, der die menschliche Gestalt als angemessenen Sitz der Geistigkeit festlegt, und jenes Primat zum Prinzip erhebt, das ihr die vorhergehende Kunst, man könnte fast sagen, ohne zu reflektieren, geweiht hatte. Bei Winckelmann zum Beispiel hängt die Überlegenheit der griechischen Kunst direkt mit deren Fähigkeit zusammen, schöne Körper darzustellen, welche wiederum mit der dem günstigen Klima und den gesunden Lebensgewohnheiten, allen voran der Gymnastik, gezollten größeren Schönheit der antiken Griechen in Zusammenhang gebracht wird. „In dem Gestalt allezeit, sowie der Seele, also auch vielmals der Charakter der Nation gebildet sei“.3 Typischerweise manifestiert sich für Winckelmann jede Abweichung von der reinen Schönheit der griechischen Körper als das Eindringen tierischer Elemente; sein Kanon ist streng eurozentrisch und die Stumpfnasen oder schwülstigen Lippen der Schwarzen erscheinen ihm unvermeidlich als affenartig, so wie die Nasen der Juden „Adlernasen“ sind. Die philosophische Ästhetik wird dem von Winckelmann vorgezeichneten Weg folgen. Für Herder ist der Mensch eine Art Mittelgeschöpf zwischen dem Natürlichen und einem höheren geistigen Zustand, „ein Mittelgeschöpf unter den Tieren, d.i. die Ausgearbeitete Form, in der sich die Züge aller Gattungen um ihn her in feinsten Inbegriff sammeln“.4 Aus dieser zweideutigen Kollokation geht die Schönheit der menschlichen Gestalt direkt hervor, die umso größer bei jenen Völkern ist, bei denen die Geistigkeit fortgeschrittener ist, und deshalb sind wir also wieder in Hellas: „Endlich fand an den Küsten des mittelländischen Meers die menschliche Wohlgestalt eine Stelle, wo sie sich mit dem Geist vermählen und in allen Reizen irdischen und himmlischer Schönheit nicht nur dem Auge, sondern auch der Seele sichtbar werden könnte“.5 Bei Kant ist, wie wir wissen, nur der menschliche Körper fähig zu einem wahren Ideal der Schönheit, weil sichtbare Manifestation der moralischen 2
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Vincenzio Danti, um nur ein Beispiel zu nennen, schreibt in seinem Trattato delle perfette proporzioni (1567) „Come nelle cose naturali la più perfetta e più difficile composizione è il composto dell’uomo, così nelle artifiziali la figura di esso uomo è parimenti di tutte l’altre più perfetta e difficile“. Vgl. Barocchi (Hrsg.) Scritti d’arte del Cinquecento. Band II, MilanoNapoli 1973. 1569. J.J. Winckelmann, Geschichte der Kunst des Altertums, Darmstadt 1972, 35. J.G. Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. In: Ders., Sämtliche Werke. Hrsg. v. B. Suphan. Reprint Hildesheim, Georg Olms, 1967, Band XII, 68. Op. cit., 228. Ueber die aesthetische Anthropologie Herders vgl. M. Cometa, „Il paradigma estetico dell’antropologia di J.G. Herder“. In: Accarino (Hrsg.), Ratio imaginis. Uomo e mondo nell’antropologia filosofica, Firenze 1991.
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Ideen, während jener des Tieres sich damit zufrieden geben muss, höchstens eine Normalidee zu erreichen, als allgemeines oder Durchschnittsbild.6 Wilhelm von Humboldt formuliert in seiner Schrift Über die männliche und weibliche Form von 1795 eine Art Gesetz, das folgendermaßen lautet: „Wo sich daher die Menschheit zeigt, da wird auch Schönheit möglich sein: denn beide verhalten sich wie Wirklichkeit und Erscheinung, Urbild und Abbild zu einander“;7 August Wilhelm Schlegel hat in seiner Kunstlehre von 1801 ebenfalls keine Zweifel: der menschliche Körper ist „die oberste Sprosse“ der Natur, und deshalb ist „die menschliche Bildung […] die schönste, weil sie am vollkommensten symbolisch“8 ist. Seine Worte werden in den Vorlesungen über die Philosophie der Kunst von Schelling sofort übernommen: „der vorzüglich, ja der fast einzig würdige Gegenstand der bildenden Kunst ist die menschliche Gestalt“; „[die menschliche Gestalt] der letzte und vollkommenste Gegenstand der malerischen Darstellung ist“.9 Eine Art Schlusspunkt dieser Verherrlichung des künstlerischen Werts des menschlichen Körpers finden wir schließlich in Paragraph 41 von Schopenhauers Die Welt als Wille und Vorstellung, wo zu lesen ist: „Theils liegt jener Vorzug besonderer Schönheit eines Objekts darin, dass die Idee selbst, die uns aus ihm anspricht, eine hohe Stufe der Objektivität des Willens und daher durchaus bedeutend und vielsagend sei. Darum ist der Mensch vor allem Anderen schön und die Offenbarung seines Wesens das höchstes Ziel der Kunst. Menschliche Gestalt und menschlichen Ausdruck sind das bedeutendste Objekt der bildenden Kunst, so wie menschliches handeln das bedeutendste Objekt der Poesie“.10 Hegel fügt sich vollkommen in das Bild, das hier überblicksartig gezeichnet wurde, ein. In Hegels Werken kann man viele Bezugnahmen auf die Gedanken der eben erwähnten Autoren zum menschlichen Körper, seiner Schönheit und der Vorrangstellung, die er in der künstlerischen Darstellung einnimmt, finden; und einige dieser Gedanken spielten eine wichtige Rolle in Hegels Vorlesungen über Ästhetik, die er zwischen 1821 und 1829 in Berlin hielt, und die später von Heinrich Gustav Hotho bearbeitet und 1835-1838 sowie 1842 in den Vorlesungen über Ästhetik veröffentlicht wurden. Angesichts der besonderen und komplexen Quellenlage für Hegels Ästhetik gilt es natürlich, den Weg dieser Gedanken nicht nur mit Hilfe von Hothos Ausgabe darzustellen, sondern auch die überlieferten Nachschriften der einzelnen Vorlesungsjahre zu 6 7
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I. Kant, Kritik der Urteilskraft, § 17. W. v Humboldt, „Ueber die männliche und weibliche Form“. In: Ders., Werke. Hrsg. v. A. Leitzmann, Berlin 1903, Erster Band, 351; Photomechanischer Nachdruck, Berlin 1968. A.W. Schlegel, „Die Kunstlehre“. In: Ders., Kritische Schriften und Briefe. Hrsg. v. Edgar Lohner, Stuttgart 1963, 114-115. Schelling, „Philosophie der Kunst“. In: Schellings Werke, nach der Originalausgabe hrsg. v. M. Schröter, München, Oldenburg 1959. Dritter Ergänzungsband, 174 und 193. Schopenhauer, „Die Welt als Wille und Vorstellung“. In: ders., Sämtliche Werke. Hrsg, v. A. Hübscher. Mannheim 1988. Band II, 248.
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berücksichtigen, zumindest jene, die bereits ediert sind; es sei kurz an sie erinnert: für das Jahr 1820-21 die anonyme, von H. Schneider11 herausgegebene Transkription; für das Jahr 1823 jene von Hotho selbst, herausgegeben von A. Gethmann-Siefert;12 für das Jahr 1826 von Kehlers13 Mitschrift und jene von der Pfordtens, beide herausgegeben von Gethmann-Siefert und anderen.14 Dass es unbedingt gilt, diese (übrigens für viele Werke Hegels aus der Zeit der Berliner Vorlesungen geltende) heikle Quellenlage zu berücksichtigen, wird sofort bewusst, wenn man sich der gewissermaßen einleitenden Frage der Zugehörigkeit des menschlichen Körpers zur Naturschönheit zuwendet. Tatsächlich ist kaum zu bestreiten, dass der menschliche Körper abgesehen von seiner Darstellung in den Künsten ein Produkt der Natur ist, und dass deshalb sein systematischer Standort bei der Abhandlung der von der Natur produzierten Schönheit liegt. Aber gerade diese Schönheit stellt für Hegel ein Problem dar. Es ist in der Tat bekannt, dass der von Hotho herausgegebene Text diesbezüglich insofern eine große Diskrepanz aufweist, als die Einleitung mit dem expliziten Ausschluss des Naturschönen anhebt, während man dann auf ein ganzes, relativ langes, genau der Schönheit der Natur gewidmetes Kapitel stößt. Ein Vergleich mit den Nachschriften zeigt allerdings, dass es sich um eine Manipulation Hothos handelt, der Anmerkungen Hegels zu unterschiedlichen Themen vereint hat, indem er sie einer Art Montage unterwarf, die zur Folge hatte, dass eine Präsenz der Naturschönheit auf der selben Ebene mit der Kunstschönheit glaubhaft wurde, was genau das ist, was Hegel in seinen Vorlesungen über Ästhetik nicht gemacht hat. Trotzdem muss man sagen, dass Hegels Position diesbezüglich einige Ambiguität aufweist, auf die die Rettung der Naturschönheit durch Hotho sich stützen konnte und in der Hotho viele andere Hegelianer folgten, von K. Rosenkranz bis F.T. Vischer. Wenn es tatsächlich stimmt, dass Hegel nie darauf verzichtet, die Unzulänglichkeiten und Mängel des Naturschönen im Vergleich zum Kunstschönen zu unterstreichen, ist auch richtig, dass er eine gewisse Beziehung zwischen der Natur und der Schönheit und besonders zwischen dem Leben und der Schönheit nicht gänzlich leugnen kann. Wenn das Lebendige tatsächlich Vorhandensein des Begriffs ist, dann ist es der Begriff, der wirklich wird, dann ist es die Seele, die sich im Körper zu erkennen gibt; und dann gibt es auch keinen Zweifel, dass das Lebendige schön ist und dass, 11
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Hegel, Vorlesungen über Aesthetik, Berlin 1820-21. Eine Nachschrift, hrsg. v. H. Schneider, Frankfurt 1995. (hier zitiert als: Aesthetik 1820-21). Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Kunst, Berlin 1823, nachgeschrieben v. H.G. Hotho, hrsg. v. A. Gethmann-Siefert, Hamburg, Meiner, 1998. (hier zitiert als: Aesthetik 1823). Hegel, Philosophie der Kunst oder Aesthetik. Nach Hegel, im Sommer 1826 Mitschrift F.C.H.V. von Kehler, hrsg. v. A. Gethmann-Siefert, B. Collenberg-Plotnikov, F. Iannelli, München, Fink, 2004. (hier zitiert als: Aesthetik 1826 Kehler). Hegel, Philosophie der Kunst, Vorlesung von 1826. Hrsg. v. A. Gethmann-Siefert, Jeong-Im Kwon und Karsten Berr, Frankfurt, Suhrkamp, 2004. (hier zitiert als: Aesthetik 1826 Pfordten).
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insofern es gerade unser Thema betrifft, besonders jenes Lebendige schön ist, das die Spitze der scala naturae darstellt, nämlich der Mensch. Es ist alles in allem nicht zu bestreiten, dass für Hegel die natürliche Lebendigkeit (und jene höchste Form der natürlichen Lebendigkeit, die der menschliche Körper ist) schön ist, weil sich in ihr eine Ahnung oder Vorahnung des Begriffs manifestiert. Es gelte, was in Hothos Nachschrift von 1823 zu lesen ist: „Eine sinnvolle Naturbetrachtung ist nun also einerseits sinnlich, andererseits den Gedanken der Sache habend. Die sinnvolle Betrachtung schaut an mit einer Ahnung des Begriffs, der nicht als solche, sondern als Ahnung ins Bewusstsein kommt. [...] Die Gebilde in ihrer Ordnung des Begriffs zu fassen und zu ahnen, ist das Sinnvolle. Solche Betrachtung hat Goethe vielfach gemacht in der Ahnung des Begriffs, einer höheren Ordnung als der Aeusserlichen [...] So ist auch der menschliche Körper ein begriffsmässiger Organismus“. (Aesthetik 1823, 60)
Der Grund, aus dem sowohl das Natürliche als auch der Geist schön sind, ist die Lebendigkeit, die beide mit Leben erfüllt, die Anwesenheit des „Substantielle[n], Ewige[n], Göttliche[n]“ (Ästhetik 1823, 74) bei beiden (oder vielleicht wäre es besser zu sagen: beim ersten durch das zweite). Diese Substanzialität gibt sich bei den unterschiedlichen Lebensformen, der Pflanze, dem Tier, dem Menschen, jedoch auf sehr unterschiedliche Weise zu erkennen. Im Tier ist die Hauptsache das Verzehren des Anderen und die Selbsterhaltung, oder die Begierde; die Seele des Tieres ist nur begierlich, und der Verlauf der Begierde ist ein System der Gliederung des Organismus. Vergleichen wir das Tier mit der Pflanze, so fanden wir sie als die stete Produktion ihrer selbst als Individuen; das Tier hingegen ist nur ein Individuum. [...] Die Pflanze erhält also nicht sich als Individuum. Das Tier ist davon das Gegenteil, ist das Eins. [...] Vergleichen wir damit die menschliche Lebendigkeit, so steht sie drin höher, dass der Mensch das fühlende Eins zu sein überall vergegenwärtigt; denn die Pulsation des Blutes ist an der ganzen Oberfläche, das Herz, das Hirn ist gleichsam allgegenwärtig; der menschliche Körper schon in seiner Erscheinung zeigt sich als die Lebendigkeit; das Blut scheint überall durch, die Haupt ist überall empfindend, während beim Tier die Oberfläche vegetabilischer Natur ist (Aesthetik 1823, 75-76).15 Das Tier bedeckt seinen Körper mit Federn, mit Schuppen, mit Fell und Pelz. Es produziert sogar aus eigener Kraft Körperbedeckungen, die die Härte des Panzers haben, Muscheln, Schalen, Schilder. Dies verbirgt nicht nur die natürliche Lebendigkeit, die hingegen überall durch den menschlichen Körper hindurch scheint, sondern es stellt auch eine Art Überdauern des Pflanzlichen und des Mineralischen im Reich des Organischen dar, eine Art der manifesten Regression, von der sich die Nacktheit des Menschen abhebt in ihrer reinen Schönheit und ganzen Bedeutsamkeit. 15
Vgl. dazu Schelling, Philosophie der Kunst, § 123 sub 4.
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Dieses Thema kehrt in der Abhandlung über die Malerei wieder, in der begeisterten Lobrede Hegels auf das Inkarnat, auf jene außergewöhnliche Fähigkeit der Malerei, diese schwierigste unter den Erscheinungsformen wiederzugeben, nämlich die Färbung, die die Haut beim einzelnen Menschen annimmt: „Das Schwerste nun aber in der Färbung, das Ideale gleichsam, der Gipfel des Kolorits ist das Inkarnat, der Farbton der menschlichen Fleischfarbe, welche alle anderen Farben wunderbar in sich vereinigt, ohne dass sich die eine oder andere selbstständig heraushebt. [...] Dies Durchscheinen von innen besonders ist für die Darstellung von grösster Schwierigkeit. Man kann es einem See im Abendschein vergleichen, in welchem man die Gestalten, die er abspiegelt, und zugleich die klare Tiefe und Eigentümlichkeit des Wassers sieht“ (Hegel, Aesthetik, Hegel, Werke in zwanzig Bänden, Frankfurt, Suhrkamp, Bd XV, 78-79); vgl. auch Aesthetik 1823, 261-262; Aesthetik 1826 Pfordten, 214.
Wenn die menschliche Gestalt ein Höchstmaß der Natürlichkeit darstellt, den Punkt, an dem sie an ihre Grenzen gelangt und diese überschreitet, eröffnet sich ein thematischer Bereich, den Hegels gesamte Philosophie der Kunst sehr häufig beschreitet; jener des Gegensatzes oder der ästhetischen Polarität zwischen tierischem Körper und menschlichem Körper, der mit dem letzten Zitat bereits berührt wurde und der einige Entwicklungsphasen durchläuft. Ich denke tatsächlich nicht, dass man sich zu weit von der Wahrheit entfernt, wenn man behauptet, dass es sich dabei um eine der Hauptleitlinien jener philosophischen Geschichte der Kunst oder Philosophie der Kunstgeschichte handelt, die einen großen Teil von Hegels Ästhetik ausmacht. In jener Geschichte stellt der Übergang vom Tier zum Menschen, vom Körper des Tieres zur Darstellung des menschlichen Körpers, keineswegs etwas Beiläufiges dar, sondern er betont eine zentrale Passage in der Entwicklung der Kunst, nämlich nichts Geringeres als das Erreichen der für die klassische Kunst charakteristischen freien Form. Der Kern dieser Geschichte der Kunst war, wie O. Pöggeler16 klar gezeigt hat, schon in der Phänomenologie des Geistes anwesend, in der der Übergang von der Naturreligion zur Kunstreligion den Übergang von der symbolischen Kunst zur klassischen griechischen Kunst der Vorlesungen über Ästhetik vorzeichnet. Die Naturreligion ist die Anbetung der reinen Lichtessenz, einzelner als totemistisch anerkannter Pflanzen und Tiere, oder auch, in Ägypten, Produktion von regelmäßigen unbelebten Formen, die nicht organischen Kristalle der Pyramiden und der Obelisken etwa. Die erste Stufe der Kunstreligion ist dagegen die Plastik, die griechische Skulptur, die Statue des Gottes. Bei ihr endet das instinktive Arbeiten des ägyptischen Werkmeisters, und der Geist ist Künstler, „insofern er sich Gestalt und Gegenstand seines
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O. Pöggeler, „Die Entstehung von Hegels Aesthetik in Jena“. In: Hegel-Studien, Beiheft 20, Hegel in Jena, hrsg. v. D. Henrich und K. Düsing, 1980, 249-270.
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Bewusstseins ist“.17 In der griechischen Skulptur reinigen sich also „seine Vermischungen mit der bewusstlosen Weise der unmittelbaren Naturgestalt [le figure animali con le quali erano commiste le forme degli dei egizi]. Diese Ungeheuer an Gestalt, Rede und Tat lösen sich zur geistigen Gestaltung auf“.18 Etwas später heißt es in der Phänomenologie des Geistes noch deutlicher: „Die menschliche Gestalt streift die tierische, mit der sie vermischt war, ab; das Tier ist für den Gott nur eine zufällige Verkleidung; es tritt neben seine wahre Gestalt und gilt für sich nichts mehr, sondern ist zur Bedeutung eines Anderen, zum blossen Zeichen, herabsunken“.19 In den Vorlesungen über Ästhetik ist die symbolische Kunst, das heißt die Kunst des vorgriechischen Orients, jene Kunstform, bei der der Geist noch auf der Suche nach einer angemessenen Ausdrucksform ist, und die deshalb bisweilen als eine Vorkunst charakterisiert wird, die eben genau durch die Vermischung von tierischen und menschlichen Formen charakterisiert ist. Die indische Kunst bleibt zum Beispiel „bei der groteske[n] Vermischung des Natürlichen und Menschlichen stehen, so dass keine Seite zu ihrem Rechte kommt und beide sich wechselseitig verunstalten“.20 Die Inder verehren „Affen und Kühe“ und „die Verehrung einer natürlichen Gestalt – sei es eines Menschen oder Tiers – als unmittelbar Göttlichen sich an das Symbolische unmittelbar anschliesst, so dass das Tun des Menschen oder Tiers nicht als Symbol, sondern als unmittelbar göttlich in seiner Existenz genommen wird“.21 Diese Mischung von Tierischem und Menschlichem, diese Verwirrung und Hybridisierung manifestieren sich in der ägyptischen Kunst noch deutlicher, im Besonderen beim Tierkult (Katzen, Schakale, Stiere) und beim Brauch, Menschen Masken mit tierischen Gesichtszügen aufzusetzen. „Insofern nun überhaupt das Innere soll als ein äusserlich Vorhandenes angeschaut werden, sind die Aegypter [...] hin darauf gefallen, in lebendigen Tiere, wie in dem Stier, den Katzen und mehreren anderen Tieren, ein göttliches dasein zu verehren“. Darin wirkt natürlich schon ein Bemühen, das bereits Zeichen einer geistigen Arbeit ist, insofern als der lebende Organismus, der mit einem Inneren ausgestattet ist, wenn auch unzureichend auf den Unterschied zwischen Äußerem und Innerem, zwischen äußerer Form und Lebendigkeit, anspielt. „So muss der Tierdienst hier verstanden werden als die Anschauung eines geheimen Inneren, das als Leben eine höhere Macht über das bloss Äusserliche ist“, und das auch, wenngleich die unmittelbare Anbetung des Tieres uns, Trägern einer überlegenen Kultur, als etwas Verwerfliches und sogar Abstoßendes erscheinen mag. Auch der Brauch, die Gesichter von Menschen, wie zum Beispiel der für die Einbalsamierung Verantwortlichen, mit Tiermasken zu be17
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G.W.F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, in Hegel, Werke in zwanzig Bänden, Band 3, Frankfurt, 512. Ibidem. Hegel, Phänomenologie des Geistes, 516. Hegel, Vorlesungen über Aesthetik, Band I, 441. Vgl. Aesthetik 1823, 134. Hegel, Aesthetik 1823, 133.
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decken, bezeugt diesen Versuch, auf eine sogar jenen, die versuchen, sie zum Ausdruck zu bringen verborgene, dunkle Bedeutung hinzuweisen. Darüber hinaus wird die menschliche Gestalt mit der des Tieres vermischt, indem Löwen- oder Sperberköpfe auf Männer- oder Frauenkörper gesetzt werden.22 In der ägyptischen Religion findet man aber auch in Männer- oder Frauengestalt dargestellte Götter, ohne tierische Elemente, wie im Fall von Isis und Osiris. Damit sind wir laut Hegel aber schon dabei, den Bereich des echten Symbolismus zu verlassen, und das deshalb, weil, wenn Osiris zum Beispiel als der König des Reichs der Toten angesehen wird, „gewinnt dadurch eine von dem bloßen Naturleben sich ganz loslösende Bedeutung, in welcher das Symbolische aufzuhören anfängt, da hier das Innere und Geistige selber Inhalt der menschlichen Gestalt wird, die hiermit ihr eigenes Inneres darzustellen anfängt“.23 Der Übergang von der tierischen Gestalt zur menschlichen Gestalt ist der Übergang von Ägypten nach Griechenland, und er kann durch die Sphinxen exemplifiziert werden, die „das Symbol gleichsam des Symbolischen selber“24 sind, und auch wieder eine Mischung aus Raubtierhaftem und Menschlichem: „Liegende Tierleiber, an denen als Oberteil der menschliche Körper sich herausringt, hin und wieder ein Widderkopf, sonst aber grösstenteils ein weibliches Haupt. Aus der dumpfen Stärke und Kraft des Tierischen will der menschliche Geist sich hervordrängen, ohne zur Vollendeten Darstellung seiner eigenen Freiheit und bewegten Gestalt zu kommen, da er noch vermischt und vergesellschaftet mit dem anderen seiner selber bleiben muss“.25 Aber das allein ist nicht genug: es ist der Mythos der Sphinx, der Mythos von Ödipus, der diesen Übergang vollkommen verkörpert. Tatsächlich ist die Antwort auf die wohlbekannte Frage der Sphinx, jener Tierfrau, jener übrig gebliebenen Kreuzung von tierischer und menschlicher Natur, die Antwort auf die Frage „Welches Tier geht am Morgen auf vier, zu Mittag auf zwei und am Abend auf drei Beinen?“: der Mensch. Damit sind wir also in Griechenland angekommen, der Heimat des Klassischen, der Kunst und im Besonderen der Skulptur, deren besonderer Gegenstand eben gerade die Darstellung des menschlichen Körpers, des schönen menschlichen Körpers, ist. Das Klassische stellt für Hegel, wie man weiß, den Gipfel der Kunst, ihren Höhepunkt, dar: es hat niemals, noch wird es jemals, etwas Schöneres als die klassische Kunst geben. Und diese ganze Kunst ist eine Verherrlichung, eine Apotheose des menschlichen Körpers. Im wörtlichen Sinn insofern, als die griechische Kunst die griechischen Götter darstellt, und sie diese immer anthropomorph als meist außergewöhnlich schöne Männer-
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Hegel, Vorlesungen über Aesthetik, Band I, 460-461. Op. cit., 463. Op. cit., 465. Ebenda.
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und Frauenkörper darstellt. Apoll und Venus sind die Archetypen der männlichen und weiblichen Schönheit. Man meine jedoch nicht, dass die Zäsur bei der Mischung von Menschlichem und Tierischem auf einmal aufgehoben, gelöscht sei, wie der Mythos der Sphinx und von Ödipus vermuten lassen könnte. Diese benötigt einen langen Prozess der Reinigung vom Tierischen, den die Vorlesungen über Ästhetik über drei Momente einer umfassenden Degradation des Tierischen beschreiben; es sind diese zum einen das Tieropfer (indem man das Tier zu Ehren der Götter opfert, wendet man sich von der stumpfsinnigen Verehrung des Tierischen, des reinen biologischen Lebens, ab); des weiteren die Jagd (während die Inder die Tötung einer Kuh bestrafen, feiern die Griechen Herkules, der den nemeischen Löwen oder Jason, der das kaledonische Wildschwein tötet); und schließlich die Verwandlungen, die wir durch Ovids Werk genau kennen. Es könnte natürlich den Anschein haben, dass uns die Verwandlung wieder zur Verschmelzung des Tier-Seins und des Mensch-Seins bringt und zum Symbolischen zurückführt, aber Hegel zufolge handelt es sich hierbei um einen vollkommen falschen Eindruck: „Im allgemeinen kann man die Metamorphosen als Gegenteil der ägyptischen Tieranschauung und Tierverehrung betrachten, indem sie, von der sittlichen Seite des Geistes angesehen, wesentlich die Negative Richtung gegen die Natur enthalten, das Tierische und andere unorganische Formen zu einer Gestalt der Erniedrigung des menschlichen zu machen“.26 Durch Opfer, Jagden und Verwandlungen haben sich die Griechen von der Abhängigkeit vom nackten Leben befreit und können ihre gesamte Aufmerksamkeit und Fürsorge dem menschlichem Körper widmen, dem wahren Zentrum ihrer Kunst. Wir sehen, wie dies im Laufe des Jahres 1826 den Aufzeichnungen Kehlers zufolge ausgedrückt wird: „Die Herabsetzung des Tierischen und die Entfernung der Naturmächte gehören dazu, dass das Geistige in sein erhabenes, absolutes Recht eingesetzt werde, und diese Ideale sind Erzeugnisse aus dem Geist. Einerseits ist die menschliche Gestalt das Wesentliche der Gestaltung. Das ist schon überhaupt bemerkt worden: es ist die Sache einer tiefen Einsicht, die Notwendigkeit zu erkennen, dass das Geistige, sofern er existiert, diese Gestalt und nur diese haben muss, Lebendigkeit und menschliche Gestalt“.27 Das Menschliche, der menschliche Körper, bildet den Gehalt der wahren Schönheit. In Griechenland treten zum ersten Mal (und, wie wir sehen werden, gewissermaßen auch zum einzigen Mal) die menschliche Gestalt und die menschlichen Tätigkeiten als wahrer Gegenstand der Kunst auf. Damit eröffnet sich aber ein Problem. Ist der menschliche Körper selbst nicht etwas Natürliches, dem sich der Geist gegenübergestellt findet, und das alle Zufälligkeiten und Schwächen der Natur aufweist? Hegels Antwort ist, 26 27
Hegel, Vorlesungen über Aesthetik, Band II, 39. Aesthetik 1826 Kehler, 123.
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zumindest in diesem Teil der Ästhetik, die traditionelle Antwort aller Klassizismen und Neoklassizismen von Bellori bis Winckelmann: die Theorie des Idealschönen. Die Kunst stellt die Körper nicht dar wie sie sind, mit ihren Schwächen und Hässlichkeiten, sondern sie stellt sie so dar, wie sie sein müssten, wenn die Natur die Formen immer in absoluter Perfektion schaffen könnte. Die griechischen Götter sind nicht irgendwelche Körper, sondern sie sind von jedem Defekt bereinigte Körper, die den Archetyp und Prototyp jeder Schönheit verkörpern. Kein Mann, oder wenige glückliche, ist ein Apoll oder Herkules, keine Frau, oder nur sehr wenige, eine Venus oder Diana. Gerade deshalb sind diese Körper von unerreichbarer Schönheit für uns universale Modelle der Schönheit, besser noch das Bild des Schönen selbst, geblieben. Hegel scheint die Idealisierung der menschlichen Gestalt vor allem noch als eine Abkehr vom bzw. eine Negation des Tierischen im Menschen zu denken, eine Abwendung von allem, das an das erinnern kann, was wir, die Enkel Darwins, mittlerweile genau wissen: nämlich, dass der Mensch nichts anderes ist als ein Tier. Nur ein Beispiel, dafür umso aussagekräftiger, ist das, was Hegel über das so genannte griechische Profil sagt, also jenes Profil, bei dem sich Stirn und Nase zu einer geraden Linie verbinden, sodass die Nase praktisch ohne Unterbrechung die Stirn fortsetzt. Dem holländischen Physiologen Petrus Camper (der die Veränderung des Geschichtswinkels vom Affen mit Schwanz bis zu Apoll28 anthropologisch untersucht hatte) folgend und sich stark an das anlehnend, was Winckelmann in der Geschichte der Kunst des Alterthums schreibt, liest Hegel diese Gesichtsform als „eine sehr bezeichnende Unterscheidung des menschlichen und tierischen Aussehens“.29 Nell’animale il naso e la bocca sporgono dal piano del volto, quasi si protendessero verso il mondo alla ricerca di cibo, e con ciò esprimono irrimediabilmente quel rapporto pratico con le cose che è il proprio dell’animale, ma insieme il suo limite e la sua inferiorità rispetto all’uomo. „Der tierische Körper dient blossen Naturzwekken und erhält durch diese Abhängigkeit von der nur Sinnlichen der Ernährung den Ausdruck des Geistlosigkeit.30 Im Gegenzug kann man an die zoomorphen Menschenbilder denken, die man in der Fisionomia dell’huomo von Giambattista della Porta (Neapel 1598) findet oder an die physiognomischen Skizzen von Charle Le Brun, bei denen sich die Hässlichkeit gerade aus der Regression des menschlichen Gesichts zur Bestialität ergibt, oder auch an die Bildtafeln von Lavater, die in einer Bilderfolge den Übergang vom Frosch zu Apoll31 darstellen.
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P. Camper, Dissertation sur les variétés naturelles qui caractérisent la physionomie des hommes des divers climats et différents âges. Paris-La Haye, 1791. Vorlesungen über Aesthetik, Band. II, 384. Ebenda. Zum griechischen Profil vgl. die Nachschriften: Aesthetik 1823, 240; Aesthetik 1826 Pfordten, 201 und Aesthetik 1826 Kehler, 177-179. J. K. Lavater, Physiognomische Fragmente, vgl. F. Caroli, Storia della Fisiognomica, Milano 1954, 161.
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Während die physiognomischen Bildtafeln von Della Porta und Lavater uns aber an die Verbindung zwischen Mensch und Tier erinnern und den Menschen in die scala naturae wieder einzufügen scheinen, ist die Bedeutung von Hegels Lesart des griechischen Profils das Gegenteil: es geht in gewissem Sinn darum, den menschlichen Körper aus dem natürlichen Zusammenhang auszunehmen, ihn aus der Nähe zum Tier abzurücken. Als sich Hegel im Abschnitt über die Skulptur der Vorlesungen über Ästhetik das Problem der Natürlichkeit des menschlichen Körpers stellt, ist seine Antwort, dass die Frage zweideutig sei, oder zumindest zwangsläufig ihre Antwort, denn „dass die menschliche Gestalt der Natur angehöre, ist ein sehr unbestimmter Ausdruck, über den wir uns näher verständigen müssen“.32 Im Besonderen darf Hegel zufolge niemals vergessen werden, dass die menschliche Gestalt nicht nur Leiblichkeit der Seele, als Lebensprinzip, ist, sondern auch des Geistes, das heißt des menschlichen Verstandes und seiner Kultur. Eine Seite der Vorlesung von 1823 verdient es, diesbezüglich genau gelesen zu werden: „Die menschliche Gestalt ist nun nicht die Leiblichkeit allein der Seele, sondern des Geistes. Seele und Geist sind unterschieden. Der Geist hat sich zur Seele zu machen, denn er ist lebendig, und so hoch er über dem bloss Lebendigen ist, so macht er sich als Seele seinen Leib und dieser ist nur durch einen Begriff bestimmt. Die Geistigkeit als für-sich-seiende ist das denken [...] Der lebendigen Körper also ist durch den Begriff bestimmt; geht er zum Geist fort, ist er auch Körper und nur modifiziert. Der menschliche Leiblichkeit ist dem Künstler gegeben; sie ist der Ausdruck des Begriffs überhaupt; und höher: des Geistes als des für sich seienden Begriffs“.33
Es gibt ein sehr schönes und passendes Bild, das Hegel in einem anderen Zusammenhang verwendet, um diese Fähigkeit der Kunst, der Geistigkeit durch die Materialität des Körpers Ausdruck zu verleihen, zu demonstrieren. Er leiht es vom pseudoplatonischen Distichon ad Astro, das uns durch Diogenes Laertios überliefert wurde („du siehst die Sterne an, o mein Stern; wie wollte ich der Himmel sein, um dich dort oben mit tausend Augen anzusehen“). „Umgekehrt“ – sagt Hegel – „macht die Kunst jedes ihrer Gebilde zu einem tausendäugigen Argus, damit die innere Seele und Geistigkeit an allen Punkten gesehen werde“.34 Dass Hegel vor allem an den menschlichen Körper denkt, zeigen die vorangehenden Zeilen, in denen zu lesen ist: „Wie sich nun an der Oberfläche des menschlichen Körpers im Gegensatze des tierischen überall das pulsierende Herz zeigt, im denselben Sinne ist von der Kunst zu behaupten, dass sie jede Gestalt in allen Punkten der sichtbaren Oberfläche verwandle, welches der Sitz der Seele ist und den Geist zur Erscheinung bringt“.35 Genau wie in Rilkes Sonett Archaischer Torso Apollos hat sich die Innerlichkeit auf 32 33 34 35
Vorlesungen über Aesthetik, Band II, 366. Aesthetik 1823, 234. Vgl. Vorlesungen über Aesthetik, Band II, 367-368. Vorlesungen über Aesthetik, Band I, 203. Vorlesungen über Aesthetik, Band I, 203.
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den ganzen Körper verteilt – der ganz und gar Körper ist, ohne Kopf, ein Torso eben, und scheint überall durch: Wir kannten nicht sein unerhörtes Haupt, darin die Augenäpfel reiften. Aber sein Torso glüht wie ein Kandelaber, in dem das Schauen, nur zurückgeschraubt, sich hält und glänzt. [...] Sonst stünde dieser Stein entstellt und kurz Unter den Schultern durchsichtigem Sturz Und flimmerte nicht so wie Raubtierfelle; Und bräche nicht aus allen seinen Rändern Aus wie ein Stern: denn da ist keine Stelle, Die dich nicht sieht. Du musst dein Leben ändern.
An diesem Punkt angelangt scheint es, dass die Überlegungen abgeschlossen werden können. Die Darstellung des menschlichen Körpers ist nach allen Regeln des Klassizismus der Höhepunkt der Kunst; die Körper werden in ihrer Perfektion dargestellt, rein, gesund, jung, unverderblich, und der Körper des Menschen – sicher nicht jener des Tieres, von dem ihn inzwischen scheinbar ein Abgrund trennt – ist der angemessene Sitz des Geistes. Hegels Ästhetik scheint also mit einer alles in allem einigermaßen traditionellen Apotheose der schönen menschlichen Gestalt abzuschließen. Man sollte den Kreis aber nicht zu voreilig schließen. Der Stand der Dinge wäre tatsächlich so, wenn Hegels Ästhetik nur das System des Klassizismus wäre, als das sie einem ihrer maßgeblichen Interpreten erschien; nämlich Helmut Kuhn in der Abhandlung von 1931, die aus gutem Grund den Titel Die Vollendung der klassischen deutschen Ästhetik durch Hegel36 trägt. Aber Hegels Ästhetik ist nur zum Teil diese Verherrlichung des Klassizismus. Sicherlich ist die griechische Kunst der Höhepunkt des historischen Wegs der Kunst, und die griechische Statue ist gewissermaßen das Kunstwerk schlechthin. All das stimmt, ist aber nur ein Teil der Wahrheit. Die andere Seite der Wahrheit ist, dass Hegel, indem er das Klassische als zentralen Punkt einer Parabel setzt, die vom Symbolischen zum Romantischen geht, im Endeffekt das Klassische relativiert; das ist genau das Gegenteil einer erneuten Behauptung des Klassischen als Ideal für die Gegenwart oder als sogar überzeitliches, für alle Epochen gültiges Ideal. In Wirklichkeit können wir jetzt, da wir über die Nachschriften zu allen Vorlesungsjahren verfügen, eine einzigartige, an Implikationen reiche Tatsache verifizieren: die Abschnitte der Ästhetik, die ständig überarbeitet, neu organisiert, angereichert werden, sind genau jene über das Romantische und, vor allem, das Symbolische, während der Abschnitt zur klassischen Kunst nicht nur statisch und stark dem Einfluss Win-
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H. Kuhn, Die Vollendung des klassischen deutschen Aesthetik durch Hegel, Berlin 1931.
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ckelmanns verpflichtet ist, sondern allmählich unbedeutender wird, als ob die Probleme, die Hegel am Herzen lagen, andere wären. Wenn wir, ermutigt durch diesen äußerlichen Beleg, unsere Aufmerksamkeit also auch vom alles in allem klassischen Paradigma weg wenden, hin zu den anderen Kunstformen, wird uns bewusst, dass Hegels Interesse anderen Arten, Körperlichkeit zu betrachten, Platz einräumen kann. Wir haben schon gesehen, dass das Symbolische zum Großteil eine Phänomenologie der Hybridisierungen und der Mischformen zwischen menschlichem und tierischem Körper ist, die uns daran erinnert, wie die Untersuchung der uns zeitgenössischen Kunst der Überschneidungen zwischen Bestialität und Menschlichkeit sich an einer Unmenge von Beispielen aus der fernen Vergangenheit, längst vergangenen Kulturen und Kunstformen von Völkern am Anfang ihrer Geschichte inspirieren kann. Man wird sagen, und das trifft zweifelsohne zu, dass diese Formen für Hegel unvollkommen sind, dazu bestimmt, überwunden zu werden. Dann gilt es aber zu berücksichtigen, dass auch das Klassische eine Nachfolge und eine Zukunft hat, in der die Karten von Grund auf neu gemischt werden. Fangen wir mit einer weiteren Beobachtung Hegels zur griechischen Statue an, die diesmal jedoch geneigt ist, eine Grenze, ein Unvermögen zu unterstreichen. Mehrmals bemerkt Hegel, dass der griechischen Statue der Blick fehlt. Die Statue sieht nicht, sie ist blind. Das Auge ist aber gerade der am stärksten dafür zuständige Körperteil, die Innerlichkeit zum Ausdruck zu bringen. Der von der Statue dargestellte Körper, der dennoch immer wieder als angemessener Sitz des Geistes charakterisiert wurde, zeigt hier einen grundlegenden Mangel, eine unüberwindliche Grenze: „die plastische Göttergestalt drückt nicht die Bewegung und Tätigkeit des Geistes aus, der aus seiner leiblichen Realität in sich gegangen und zum innerlichen Fürsichsein durchgedrungen ist. [...]. Äußerlich zeigt sich dieser Mangel darin, dass den Skulpturgestalten der Ausdruck der einfachen Seele, das Licht des Auges abgeht. Die höchsten Werke der schönen Skulptur sind blicklos, ihr Inneres schaut nicht als sich wissende Innerlichkeit in dieser geistigen Konzentration, welche das Auge kundgibt, aus ihnen heraus. Das Licht der Seele fällt außerhalb ihrer und gehört dem Zuschauer an, der den Gestalten nicht Seele in Seele, Auge in Auge zu blicken vermag“.37
Über diese Fähigkeit, das Innere in seiner Innerlichkeit der absoluten Subjektivität darzustellen, verfügt hingegen die romantische Kunst. Aber, und das ist der entscheidende Punkt, nicht indem sie eine noch perfektere Körperlichkeit und angemessenere Darstellung der menschlichen Gestalt zeigt, sondern im Gegenteil, weil sie über diese hinaus geht, das Sinnliche erschöpft, es an den Rand der nicht-Sinnlichkeit führt, es unter Spannung stellt und, im äußersten Fall, negiert. Der in der romantischen Kunst gezeigte Körper ist kein triumphierender und perfekter Körper, er ist nicht der idealisierte Körper des Klas37
Vorlesungen über Aesthetik, Band II, 131-132.
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sischen, sondern er ist der leidende und negierte Körper. Er ist der verwundete und blutende Körper von Christus,38 der gekreuzigte Körper oder der verletzte und gefolterte der Märtyrer. Der Schmerz und der Tod nehmen Einzug in die romantische Kunst und sie zeichnen die von ihr dargestellten Körper zutiefst. „Der unendliche Schmerz diese Aufopferung der eigenen Subjektivität, Leiden und Tod, welche mehr oder weniger aus der Darstellung der klassischen Kunst ausgeschlossen waren oder mehr nur als natürliches Leiden hervortraten, erhalten erst im Romantischen ihre eigentliche Notwendigkeit“.39 Die Griechen wussten dem Tod keinen Sinn zu geben; dies geschieht erst mit der christlichen Kunst, die den Körper folglich zerstören kann, ohne den Geist zu vernichten: „In der romantischen Kunst ist der Tod nur ein Ersterben der natürlichen Seele, und endlichen Subjektivität, ein Ersterben, das sich nur gegen das in sich selbst Negative [...] negativ verhält [...], das Nichtige aufhebt und dadurch die Befreiung des Geistes von seiner Endlichkeit und Entzweiung [...] vermittelt“.40 Man wird jedoch sagen, dass das Bestehen auf Leiden und Schmerz auf die christliche Kunst beschränkt bleibt und nicht imstande ist, das Paradigma der Körperlichkeit als vollkommen angemessene Manifestation des Geistes anzutasten, das das Klassische vorwies. Und man könnte als Beleg auch einen bekannten Punkt der Anthropologie anführen, enthalten in der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften (§ 411), in dem man eine scheinbar entscheidende Formel liest, nämlich dass der Körper das Kunstwerk der Seele ist. Jedoch dürfen wir ein weiteres Mal nicht zu voreilig bei der Interpretation dieser Worte sein. Was bedeutet es, dass der Körper das Kunstwerk der Seele ist? Wenn Hegel an das Kunstwerk nur als perfekte Durchdringung von Innerem und Äußerem, Sinnlichem und Geistigem denken würde, könnten wir nicht anders, als darin eine Bestätigung der Fähigkeit des Körpers, vollkommener Ausdruck des Inneren zu sein, zu sehen. Aber Hegel hat nicht nur diese Sicht auf Kunst, die durch die falsche, das heißt in den Nachschriften nicht anwesende Formel „Sinnliches Scheinen der Idee“ geläufig wurde. Kunst hat ihr notwendiges und unüberwindbares Moment in der sinnlichen Vermittlung. Kunst ist dort, wo es sinnliche Form gibt, und damit es sinnliche Form geben kann, ist es unvermeidlich, dass der Inhalt durch Gefühl und Intuition führt. Aber das Sinnliche wird von Hegel keineswegs als frei gedacht, sich ohne Spuren in die Geistigkeit zu verwandeln, im Gegenteil wird es immer als gegen diese Transformation resistent und widerspenstig gesehen. Die Beziehung zwischen sinnlich und geistig wird von Hegel nicht unter dem Zeichen der Versöhnung und Angemessenheit gedacht, sondern vielmehr unter jenem des Kontrasts, des Kampfes und der Fremdheit, in einem Wort, der Unangemessenheit. Die Kunst steht im Widerspruch zu sich selbst, weil ihre Anstrengung 38 39 40
Über den Christus patiens :Vorlesungen über Aesthetik, Band III, 50-51. Ebenda, 134. Ebenda, 135.
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im Versuch besteht, zwei Seiten zu homogenisieren, die es nicht sind und die nicht ganz homogen sein können. Die Schönheit ist eher der Schleier, der die Wahrheit bedeckt, als ihre Darstellung, lesen wir in einer Schrift der Jenaer Zeit. Auch in diesem Sinn stellt sich das Symbolische als über seine angenommene Marginalität zentral heraus, weil es genau jene Beziehung der Unangemessenheit aufweist, die untrennbar von der Kunst ist. Und von diesem Blickpunkt aus macht das Romantische nichts anderes als zu der Situation von Ungleichgewicht zurückzukehren, die das Symbolische thematisiert hatte. Wenn das stimmt, bedeutet das also, dass der Körper das Kunstwerk der Seele nicht unbedingt, dass dieser ihr angemessener Ausdruck und vollendeter Sitz sei, sondern es bedeutet etwas ganz anderes, in gewissem Sinn geradezu Gegenteiliges: dass der Körper ein unvollkommener, immer mangelhafter Ausdruck der Seele ist. Und Tatsächlich lesen wir in der Anmerkung zu § 411, dass: „die Gestalt nach ihrer Äusserlichkeit [der menschliche Körper] ein unmittelbares und natürliches ist, und darum nur ein unbestimmtes und ganz unvollkommenes Zeichen für den Geist sein kann und ihn nicht wie er für sich selbst als allgemeines ist. [...] Für das Tier ist die menschliche Gestalt das Höchste, wie der Geist demselben erscheint. Aber für den Geist ist sie nur die erste Erscheinung, und die Sprache sogleich sein vollkommener Ausdruck“.41 Wie man sieht, sind wir also bei einer ganz anderen Situation anlangt als jener, die auf der Grundlage der Ausführungen zur klassischen Form die einzig mögliche schien. Der Körper, auch der menschliche Körper, gehört immer noch zur Natur, er ist immer noch ein Naturprodukt, das der Mensch in gewissem Sinn einfach findet und das er nicht von innen heraus vollendet gestalten kann. Wenn er es könnte, dann hätte die Physiognomik, der Anspruch, den Charakter des Individuums aus den Gesichts- und Körperzügen zu lesen, eine substanzielle Grundlage. Hegel wird dagegen nicht müde, gegen diese Pseudowissenschaft, für die er sie hält, zu polemisieren, und er zieht gegen sie nicht nur in der Phänomenologie des Geistes los, im langen Exkurs der Beobachtende[n] Vernunft,42 sondern auch im eben zitierten Paragraphen der Enzyklopädie. Der Körper steht uns an diesem Punkt also wieder als etwas Fremdes gegenüber, etwas Naturgegebenes, das sich dem Geist entgegensetzt. Und wir verstehen schließlich, wie Hegel auf einer schönen Seite der Vorlesungen über Ästhetik die Lobrede auf die Praktiken der primitiven Völker verfassen konnte, Praktiken, die dazu dienen, die Fremdheit des Körpers zu beseitigen und ihn zum „eigenen Körper“ zu machen, durch mitunter auch gewalttätige und scheinbar sinnlose Verfahren wie Tätowierungen, Schröpfungen, Entstellungen und freiwillige Verstümmelungen. Der Mensch verdoppelt sich, gibt den Dingen einen Sinn, indem er sie verwandelt und sie nicht bestehen lässt so, wie sie sind, „um als freies Subjekt auch der Außenwelt ihre spröde Fremdheit 41 42
Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, § 411 Anmerkung. Hegel, Phänomenologie des Geistes, 233-242.
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zu nehmen und in der Gestalt der Dinge nur eine äußere Realität seiner selbst zu genießen [...]. Und nicht nur mit den Außendingen verfährt der Mensch in dieser Weise, sondern ebenso mit sich selbst, seine eigenen Naturgestalt, die er nicht lässt, wie er sie findet, sondern die er absichtlich verändert. Dies ist die Ursache allen Putzes und Schmuckes, und wäre er noch so barbarisch, geschmacklos, völlig verunstaltend oder gar verderblich wie die Frauenfüße der Chinesen oder Einschnitte in Ohren und Lippen“.43
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Hegel, Vorlesungen über Aesthetik, Band I, s. 51-52. Andere Beiträge über den menschlichen Körper in der Aesthetik Hegels: F. Vitale, Natura morta. Arte e natura nell’estetica di Hegel, Napoli 2002, besonders 69-110 und 189-237; G. Pinna, „Il vincolo antropomorfo. Sulla rappresentazione della figura umana nell’Estetica di Hegel“. In: Vincoli-Constraints (Sensibilia 2, 2008), Milano 2009, 355-368; R. Bonito Oliva, „L’individuo moderno e la nuova comunità. Ricerche sul significato della libertà soggettiva“. In: Hegel, Napoli 2000, insbesondere 6394: „La concezione speculativa della natura dell’uomo“.
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Liebe und Kunst bei Hegel
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„Liebe Leidenschaft, nicht so sehr die eheliche, sittliche Liebe“ G.W.F. Hegel
1. Liebe und Kunst im Kontext von Hegels Werk Im Motto spricht Hegel Ambivalenzen in der Liebe an, die nur im vielschichtigen Kontext seiner Auffassung zu erläutern sind. Im folgenden werden einige Schwerpunkte von Hegels Theorie der Liebe bezüglich seiner Kunstphilosophie thematisiert. Ohne in diese Theorie nun einzugehen, sei daran erinnert: Im vielschichtigen kulturellen Horizont des Frühwerks hat Hegel der Liebe eine existentielle Bedeutung zugeschrieben, und zwar vor allem im interindividuellen Sinne.2 In dieser Deutung der Liebe erkennt man den ersten Kern seines intersubjektiven Modells. Die von Hölderlin inspirierte Vereinigung als existentielle Einstellung des Menschseins „im Leben“ ist bei ihm von der Liebe nicht abzuschneiden.3 Auf das frühe Modell der Intersubjektivität in der Liebe folgt das Modell der Anerkennung.4 Die spekulative Grundposition der 1
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Der vorliegende Beitrag entstand in dieser Form mit Unterstützung des Projekts TÁMOP – 4.2.1/B-09/1/KONV-2010-007. Das Projekt wurde im Rahmen des Entwicklungsplans Neues Ungarn entwickelt und teilweise durch den Europäischen Sozialfonds (ESF) sowie den Europäischen Fond für regionale Entwicklung (EFRE) finanziert. Zur Debatte über Hegels frühe Motiven vgl. O. Pöggeler, Hegels Idee einer Phänomenologie des Geistes. Zweite, durchgesehene und erweiterte Auflage, Freiburg/München, 1993, 22-23. Pöggeler führt aus, dass Hegel in seinen Begriff Geist die frühe Motiven, so auch die Liebe bzw. das Leben mit einholt. (Ebd. 414-415.) Das spricht auch für die Kontinuität der Motive in Hegels Werk, die D. Henrich in das Zentrum stellt. In: D. Henrich, Hegel im Kontext. Frankfurt a.M. 2010 (erste Auflage 1971), Vorwort, 7. Zum Hölderlinisch-Hegelischen Thema der Vereinigung vgl. D. Henrich, Hegel im Kontext. (Anm. 2), 9-41, bzw. Chr. Jamme, „Ein ungelehrtes Buch“. Die philosophische Gemeinschaft zwischen Hölderlin und Hegel in Frankfurt 1797-1800. Hegel-Studien, Beiheft 23. Bonn 1983, insbesondere 110-112. – Ch. Taylor verweist auf dem breiten ideengeschichtlichen Hintergrund der Vereinigung als Grundintention der deutschen Kultur. In: Ch. Taylor, Hegel. Frankfurt a.M. 1993 (erste Auflage: Cambridge 1975), 27. Dieses Modell ist in Hegels Prinzip und Theorie der Anerkennung zu finden, das heute eines der attraktivsten Themen von Hegel ist. Ludwig Siep hat einen entwicklungsgeschichtlichen Überblick über die Anerkennung bei Hegel gegeben, als er die „Vorformen“ wie Liebe in den frühen Frankfurter Fragmenten, die Vereinigung im „Geist des Christentums“ bzw. die Anerkennung als Synthese von Liebe und Kampf in den Jenaer Schriften rekonstruiert hat. Auf der zweiten Stufe der Anerkennung in der Phänomenologie des Geistes weist er auf die Einholung der Versöhnung von Selbst und Substanz hin. Vgl. L. Siep, Anerkennung als Prinzip der
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Philosophie, die in dem mit Hölderlin geteilten Gedanken der Vereinigung wurzelt, und die Idee einer ihr angemessenen Systematik binden sich dann in Jena zusammen, was zur Umdeutung der frühen Auffassung der Liebe führt. Auch die verändernde Terminologie verweist darauf: die Vereinigung wird mit der Versöhnung verbunden, die den spekulativen Charakter und den religionsnahen Inhalt auch der Liebe im Sinne des Christentums verstärkt.5 Die neue Konstruktion des Systems mit spekulativem Charakter bringt ein Gedankengut mit sich, das auch bezüglich der Liebesthematik zu rekapitulieren von inspirativ-theoretischer Bedeutung sein kann.6 Im Kontext der Systematik hat Hegel Bedeutungsebenen der Liebe eingeräumt, die inhaltlich weit über die Grenzen des äußeren Aufbaus des Systems hinaus führen. Wenn man hinter dem äußerlich-linearen Aufbau (Logik, Naturphilosophie, Philosophie des Geistes bzw. deren weitere Gliederungen) auch die intern-relationelle und zirkulär-dynamische Strukturen der Systematik erblickt, erkennt man die inhaltliche Vielschichtigkeit und den Gedankenreichtum der reifen Konzeption der Liebe.7 Man denke nur an die äußerliche, dreistufige, hierarchische Einteilung innerhalb des Geistes, die auch als drei interne Dimensionen der jeweiligen konkreten Thematik des Geistes – so auch der Liebe – aufzufassen sind, das eine Bereicherung auch für die Liebesthema-
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praktischen Philosophie. Untersuchungen zu Hegels Jenaer Philosophie. Freiburg 1979, 104105. – Honneth hat die Anerkennung reaktualisiert und zwar aus der individuellen Perspektive der modernen Freiheit. Vgl. A. Honneth, Leiden an Unbestimmtheit. Eine Reaktualisierung der Hegelschen Rechtsphilosophie. Stuttgart 2001. – S. noch: ders.: Von der Begierde zur Anerkennung. Hegels Begründung von Selbstbewußtsein. In: Hegels Phänomenologie des Geistes. Ein kooperativer Kommentar zu einem Schlüsselwerk der Moderne. Hrsg. von K. Vieweg und W. Welsch. Suhrkamp, Frankfurt a.M. 2008, 187-204. – Zur Anerkennung als intersubjektives Modell vgl. M. Quante, „Der reine Begriff des Anerkennens“. Überlegungen zur Grammatik der Anerkennungsrelation in Hegels Phänomenologie des Geistes. In: Schmidt am Busch/Zurn (Hrsg.), Anerkennung. Berlin 2009, 91-106. – Zur Bedeutung der Anerkennung für die zeitgenössische praktische Philosophie vgl. L. Siep: Anerkennung in der Phänomenologie des Geistes und in der heutigen praktischen Philosophie. Ebd. 107-124. Die Versöhnung ist auf christliche Motive nicht zu reduzieren. Sehr früh, bei dem in Tübingen studierenden Hegel findet man die Bedeutung der Versöhnung, dass sie als Verhaltensmuster auch im weltlich-alltäglichen Leben dienen sollte. Der reife Hegel schreibt der Versöhnung die Funktion zu, als Strukturierungsprinzip der Systematik zu dienen. Vgl. Erzsébet Rózsa, Versöhnung und System. Zu Grundmotiven von Hegels praktischer Philosophie. München, 2005, insbesondere 13-51. Die Einbindung des frühen Motivs der Liebe in systematisch dargestellte Komplexe von Gefühlen, und zwar in ihrer Verbindung sowohl mit verschiedenen Wissenschaften als auch mit dem Lebens- bzw. Wirklichkeitsfundament stellt eine grundlegende Intuition Hegels dar, die in heutigen Diskussionen methodologisch außerordentlich fruchtbar gemacht werden kann. Kimmerle verweist auf die entwicklungsgeschichtlichen Wurzeln der Doppelperspektive der Hegelschen Systematik. Vgl. H. Kimmerle, „Das Problem der Abgeschlossenheit des Denkens. Hegels System der Philosophie in den Jahren 1800-1804“. In: Hegel-Studien, Beiheft 8, 1982, 6, 284. – Es ist spannend, wie Henrich die Doppelperspektive der Philosophie als Wissenschaft und als „kulturbildende Macht“ thematisiert. Vgl. D. Henrich, Bewußtes Leben. Stuttgart 1999, 6.
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tik zur Folge hat!8 Diese konstitutive Rolle des Systems für konzeptionelle und inhaltliche Fragen seiner Philosophie scheint in der zeitgenössischen HegelRenaissance im amerikanischen Neopragmatismus in vieler Hinsicht verloren zu gehen.9 Aber Hegels Begrifflichkeit ist an sich auch nicht hinreichend, die Beliebigkeit der Methode des Neopragmatismus zu überwinden, wie es Hösle vertritt.10 Für die Rekonstruktion bestimmter Themen, so der Liebe ist auf die Berücksichtigung des Systemsgedankens nicht zu verzichten. Was ist nun darunter konkret gemeint? Auf der ersten Stufe des Geistes, im subjektiven Geist qua erster Dimension des Geistes werden epistemisch-epistemiologische und metaphysisch gefärbte existentielle Ebenen der Liebe angesprochen und eine systematische Theorie ausgeführt. Eine solche vielschichtige und umfassende Theorie der Gefühle, die Hegel unter den drei Disziplinen des subjektiven Geistes (Anthropologie, Phänomenologie, Psychologie) ausgearbeitet hat, findet man in der neuzeitlichen Philosophie bei keinem. Hier beruft sich Hegel nur auf Aristoteles: er findet keinen weiteren Vorläufer in diesem Bereich. Auf der zweiten Stufe, im objektiven Geist qua zweiter Dimension des Geistes hat Hegel die Liebe als konstitutive Komponente von entscheidenden soziokulturellen Institutionen des Privatlebens, der Ehe und der Familie, in das Zentrum gestellt. In der dritten Dimension des Geistes tritt die Liebe in verschiedenen kulturellen Formen und Gestalten des absoluten Geistes auf. In der Kunst hat sie einen systematischen Stellenwert erhalten, insofern Hegel der modernen-romantischen Kunst drei Formen (Motive) zugeteilt hat, unter denen auch die Liebe ist. Aber es sind auch konkret-inhaltliche Gewinne hier zu erkennen: phänomenologisch taucht die Liebe in der Kunstphilosophie häufig auf, wenn Hegel konkrete Werke oder bestimmte kunstphilosophische Probleme anspricht. In der Religion hat sich der Gedanke „Gott ist Liebe“ in den Mittelpunkt der christlichen Religion geschoben. In der Philosophie spielt die Liebe im modernen Sinne keine Rolle mehr, aber im antiken schon: Philosophie als Liebe der Weisheit betont Hegel im mehreren Zusammenhang. Aber die moderne Philosophie, ihrem Wesen nach ist bei Hegel ein Entfernungsprozeß von der Liebe und der Gefühlswelt als Einstellung zum 8
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Zu diesen methodologischen Deutungsvorschlag von Hegels System vgl. von der Verf.: Versöhnung und System (Anm.5), 72-87, bzw. „Glaube im Gefühl“. Hegels Auffassung der subjektiven Religiosität in Bezug auf die Selbstdeutung und die Selbstbestimmung des modernen Individuums. In: Nagl-Docekal/Kaltenbacher/Nagl (Hrsg.), Viele Religionen, eine Vernunft? Ein Disput zu Hegel. Wiener Reihe, Bd 14. Wien/Berlin, 2008, 135-154. Zur Hegel-Renaissance vgl. unter anderem die Arbeiten von R. Pippin, T. Pinkard, R. Brandom, D. Moyer. – Einen guten Überblick liefert die Aufsatzsammlung in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Berlin 49 (2001). Hösle hat unlängst die Unzulänglichkeit der neopragmatischen Hegeldiskussion zum Ausdruck gebracht und die Forderung aufgestellt, Hegels Begriffstheorie in die Diskussion miteinzubeziehen. Aber inwieweit kann es legitim sein, sich auf Hegels Theorie der Begriffe zu berufen, ohne die Gefahr zu erliegen, in eine „platonisierende Begrifflichkeit“ (Brandom) zu geraten? Vgl. V. Hösle: „Was kann man von Hegels objektiv-idealistischer Begriffstheorie noch lernen, was über Sellars, McDowells und Brandoms Anknüpfungen hinausgeht?“ In: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 30 (2005), 139-158.
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Sein überhaupt, damit aber auch von der Weisheit als grundlegender Orientierung im Leben. Das ist einerseits mit der Näherung der Philosophie den Kriterien der Wissenschaftlichkeit zu erklären. Hegels Stellungnahme ist seit der Jenaer Zeit im Grunde genommen ambivalent: er möchte beides, Kontextuierung und Funktion der Philosophie als Wissenschaft und als kulturelle Sphäre behalten. Diese Bestrebung verleiht interne Spannungen seiner reifen Philosophie. Darüber hinaus geht es ihm in erster Linie um die Thematik der modernen Welt, der er relativ früh in seinem Werk eine solche umfassende Aufmerksamkeit schenkt, durch die Status und Bedeutung der Liebe widersprüchlich beeinflusst werden. Die Philosophie hat externe kulturelle Bedeutungen und Funktionen, die sich nicht im Rahmen des absoluten Geistes als elitäre Form des Wissens über das Absolute und das „Höhere im Menschen“, sondern in der Bildungsfunktion der Philosophie, der Kunst und der Religion, die Hegel in Nürnberg in das enzyklopädische System eingebaut hat, auswirken.11 Diese Bestimmung der Philosophie hat sich in Hegels Gedanken über die „Bildung für Freiheit“ zugespitzt, worin die Umdeutung des zeitgenössischen Bildungsbürgertumsgedankens deutlich zum Vorschein kommt.12 Kunst, Religion und Philosophie sind Formen, in denen nicht nur das Wissen von Gott, dem Absoluten, sondern auch das „Höhere im Menschen“ thematisiert werden, und zwar nicht abgetrennt vom Niedrigen im Menschen. Diese Formen stellen neue Gestalten der Kultur dar, die auf die „unendlich subjektive Freiheit“ als Prinzip des Lebens in der Moderne fundiert werden.13 Die Einbeziehung der subjektiven Freiheit in die Struktur des absoluten Geistes eröffnet die Möglichkeit der philosophischen Reflexion der radikalen und widersprüchlichen Umstrukturierung und Umdeutung der Lebenswelt in der Moderne.14 Diese philosophischsystematische Deutung des Lebens in der Moderne bietet auch für die Indivi11
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Vgl. dazu Hegels Konzeption des praktischen Geistes, des praktischen Bewusstseins bzw. der praktischen Bildung in den Nürnberger Jahren. In: Hegel: Nürnberger und Heidelberger Schriften. Theorie Werkausgabe Frankfurt a.M. 1970 Hrsg. von E. Modenhauer u. K. M. Michel. [TWA] Bd 4. Frankfurt a.M. 1986, insbesondere: 57-69, 204-231, 258-264. Zur Funktion der Philosophie und der Kunst vgl. A. Gethmann-Siefert, Die Funktion der Kunst in der Geschichte. Hegel-Studien, Beiheft 25, Bonn 1984. – Vgl. noch von der Verfass.: „Bildung und der „rechtschaffene Bürger“. In: Gethmann-Siefert/Weisser-Lohmann (Hrsg.), Kultur-Kunst-Öffentlichkeit. München 2001, 81-94. Zum Thema „Neuer Humanus“ s. A. Gethmann-Siefert, Die Funktion der Kunst in der Geschichte. Hegel-Studien, Beiheft 25, Bonn 1984, 319-328. – In den Vorlesungen über die Philosophie der Kunst von 1823 ist in Bezug auf die romantische Kunstform folgendes zu lesen: „das Interessante bleibt der Humanus, die allgemeine Menschlichkeit, das menschliche Gemüt in seiner Fülle, seiner Wahrheit.“ Aber dies Interesse ist an keine Gestalt gebunden, der Stoff ist gleichgültig. Damit ist die Kunst vollendet. Sie ist an bestimmte Zeiten gebunden. In: Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Kunst. Berlin 1823. Nachgeschrieben von H G. Hotho. Hrsg. von A. Gethmann Siefert. Hamburg 1998 [VK]. Das Absolute ist ebenso Subjekt, wie es in der Vorrede der Phänomenologie des Geistes zu lesen ist. Diese allgemein-metaphysische Überlegung hat Hegel in wenigen Jahren mit der konkret-lebensweltlichen Dimension des Menschseins im enzyklopädisch-systematischen Rahmen der Philosophie verknüpft.
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duen der modernen bürgerlichen Gesellschaft kulturell neue Möglichkeiten der Selbstdeutung und Selbstbestimmung (mit Brandom: Selbstkonzeption und Selbstkonstitution) an, die zur praktischen Änderung der Lebensführung eines jeden durch „Bildung für Freiheit“ wesentlich beitragen kann und soll.15 Der besondere Status der subjektiven Freiheit in der Moderne wirkt sich auf die Liebesthematik vor diesem konzeptionellen Hintergrund aus.
2. Liebe in der Kunstphilosophie von 1823 Die verwendete Textstelle zur Liebesthematik der Kunst finden sich in Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Kunst von 1823.16 Die romantische Kunst erhält sowohl historisch als auch systematisch in dieser Fassung eine ausgezeichnete Bedeutung. Auch Hegels Beispiele, die er als anschauliche Darstellung bestimmter Phänomene der Liebesthematik reichlich nutzt, zeigen eine sehr nahe Verbindung zwischen der Historizität und der Systematizität. Mehr als interessant ist es zu erfahren, wie nah Achill und Romeo gerade durch ihre Liebe bzw. deren Hegelschen Deutung zueinander stehen. Die romantische Kunst hat aber doch einen ausgezeichneten Stellenwert in dem Gesamtkonzept. Ihr besonderes Kennzeichen ist die tiefe und umfassende Ambivalenz, die in ihren Kunstwerken durch die Verknüpfung von höchster Stufe und Untergang zum Ausdruck kommt.17 Diese besondere Widersprüchlichkeit in allen Hinsichten der modernen Kunst stellt ihr grundlegendes Kennzeichen dar, das auch für die Liebesthematik gilt. Diese tief angelegte Ambivalenz als eigene Natur der modernen Kunst hängt mit seiner Theorie der Moderne eng zusammen. In diesem Zusammenhang ist Hegels Rechtsphilosophie von 1820 konzeptionell mit der Kunstphilosophie von 1823 eng verwandt,18 und beide sind wiederum eng mit dem Konzept des Manuskripts über die Religionsphilosophie von 1821 verbunden.19 Die Hervorhebung der Moderne und deren Folgen in sozialen, ökonomischen, politischen Sphären und deren voraussichtlichen zukünftigen Auswir15
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Hegels Phänomenologie des Geistes thematisiert eine Reihe von kulturell-geschichtlichen Gestalten der Selbstdeutung und Selbstbestimmung des Menschen. Eine andere Konzeption vertritt die enzyklopädische Fassung des Geistes, in der die Selbstdeutung und die Selbstbestimmung in der Moralität ihren systematisch akzentuierten Status erhalten. Diese von Hotho nachgeschriebene Fassung der Kunstphilosophie Hegels ist als authentische Fassung seiner Kunstphilosophie bzw. Ästhetik anzunehmen. Vgl. A. Gethmann-Siefert, „Einleitung“. In: VK, insbesondere: LXXX-LXXXVIII. In Hegels Ästhetik, die Hotho herausgegeben hat, erweist sich diese markante und starke Ambivalenz bezüglich der Gegenwart („Hohe der Kunst“) und Zukunft („Schluss der Kunst“) der Kunst nicht. Zum Thema Ende der Kunst vgl. VK, 36-38, 198-200, zum Thema Hohe der Kunst vgl. 185, 37, 44, 179-180. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts. TWA Bd 7. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion. Manuskript von 1821. Hrsg. von W. Jaeschke. Hamburg 1993-1995. [VR].
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kungen auf Phänomenen und Bestimmungen der Kunst (und der Religion) haben auch die Liebesthematik im Rahmen der Kunst geprägt. In diesem Rahmen ist Hegels Stellungnahme zu verstehen, die darin besteht, dass das Höchste in der Liebe wie auch das Niedrigste in ihr in der widersprüchlichen Natur der Moderne und deren Auswirkung auf die Individuen, ihre Gefühle, Leidenschaften, Handlungen und Beziehungen wurzeln. Dieser mehrfachen Ambivalenz der Liebe in der Moderne soll im folgenden nachgegangen werden, mit der sich auch die Kunst auseinandersetzt.
2. 1. Subjektivität der Liebe und die Innerlichkeit als Prinzip der modernen Kunst In der romantischen Kunst als Kunst der Moderne basiert die Liebe auf dem Prinzip der Innerlichkeit, das auf die unendlich subjektive Freiheit der Moderne als ihr Grundprinzip zurückzuführen ist, dessen Folgen für die Liebe in Ehe und Familie Hegel im Konzept des objektiven Geistes ausführt.20 Damit setzt man sich aber auch in der Kunst auseinander. Die Innerlichkeit ist nicht nur Komponente des Grundprinzips der unendlich subjektiven Freiheit, sondern auch das eigene Prinzip der romantischen Kunst. Durch dieses Prinzip erhebt sich die Kunst auf ihre höchste Stufe und kann das „Höhere im Menschen“ im Blick auf das Absolute darstellen. Die Aufwertung der Innerlichkeit im absoluten Geist erhöht auch die Bedeutung der Liebe in der romantischen Kunst, die als Kunst der Innerlichkeit zu bestimmen ist.21 Dagegen spielt die Liebe, die auf der Innerlichkeit basiert, in der griechischen Kunst als Kunst der Schönheit keine besondere Rolle.22 Ausgenommen ein von Hegel ausführlich dargestelltes Beispiel: Homers Achill. Seine Deutung des Achill bringt zwar auf der theoretischen Ebene eine gewisse Inkonsistenz in Hegels Stellungnahme, aber kunstphänomenologisch ist es doch ein Gewinn, der sich in der wunderbaren Deutung von Achill Grösse eben in Bezug auf seine Liebensrelationen herausstellt. Dagegen ist Hegels Lieblingsfigur, Antigone keine Schlüsselfigur für die Liebesthematik. Es geht in der Tragödie von Sophokles um den Gegensatz der sittlichen Mächte von Familie und Staat bzw. um Ehre der alten Götter. (VK, 167-168) Die Ehre ist das erste Motiv der Kunst, die Liebe ist das zweite. In 20
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Vgl. dazu Hegels Stellungnahme über die Ehescheidung, die die Folge des Prinzips der subjektiven Freiheit, konkret des Rechts auf Selbstbestimmung ist. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts. TWA Bd 7, §. 159. Zum Prinzip der Innerlichkeit s. E. Rózsa, „Hegel über die Kunst der „neueren Zeit“ im Spannungsfeld zwischen der „Prosa“ und der „Innerlichkeit“. In: Gethmann-Siefert/Collenberg-Plotnikov (Hrsg.), Die geschichtliche Bedeutung der Kunst und die Bestimmung der Künste. München 2005, 121-142. Bei Antigone tritt zwar die Innerlichkeit der Liebe ein, aber ihre Gesamteinstellung ist den alten Göttern verpflichtet. VK, 168.
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der „hohen Tragödie der Alten“ ist „die Liebe nicht vorhanden“, so Hegel. „Äschylus und Sophokles stellen sie, wenn sie sie darstellen, erst untergeordnet dar. In der Antigone kommt auch eine Liebe zu Hämon vor, aber nur als ein untergeordneter Teil der Verwirklichung.“ Er setzt fort: „Die Alten kannten wohl das Interesse der Liebe, aber die Tragödie hat zu ihrem höchsten Gegenstand den höchsten Stoff, und die Liebe, als Zufälligkeit enthaltend, tritt daher zurück.“ (VK, 193) Die Innerlichkeit nicht als (zufälliges) Phänomen wie bei Antigone, sondern als Prinzip der romantischen Kunst bringt es mit sich, dass diese Kunst eindeutig über der griechischen steht, was Hegel an konkreten Beispielen aufzeigt. (VK, 179-185) Damit werden auch die Grenzen der Schönheit der griechisch-klassischen Kunst überschritten. Die Liebe als grundlegende Komponente der Innerlichkeit wird gerade vor dem Hintergrund dieser Konzeption der modernen Kunst akzentuiert, in der Hegel nicht nur die These über das Ende der Kunst, sondern auch die Annahme über die höchste Stufe und Gestalt der Kunst in ihrer romantischen Phase aufgestellt hat. Diese Thesen bringen Spannungen in die Kunstphilosophie hinein, die auch eine inhaltliche Bereicherung für die Liebesthematik mit sich bringt. In dem weltlichen Kreis der romantischen Kunst erwirbt die Liebe ihren höchsten systematischen Status in der Kunst überhaupt, wo sie als zweite Form und zweites Motiv zwischen Ehre und Treue eingeordnet wird (VK, 191). Die Liebe tritt auch in konkreten Phänomenen der Kunst als ihr Inhalt ein, der aber mit Zufälligkeit belastet ist, die in Phänomenen der Kunst insbesondere in ihrer romantischen Phase zu beobachten ist. Innerlichkeit und Zufälligkeit sind spezifisch Aspekte von Kunstphänomenen, so auch der Liebe als Motiv, Form und Inhalt der romantischen Kunst. Die Innerlichkeit ist nicht nur das Grundprinzip der romantischen, im Hegelschen Sinne modernen Kunst, sondern auch der angemessenste Ort der Liebe. Die Zufälligkeit ist eine strukturell der Subjektivität der Liebe als Gefühl, Gemüt und Gesinnung – Formen der Innerlichkeit – angehörende, aber dennoch zu überwindende Kennzeichnung, die sich vor allem in der schwankenden Haltung des modernen Individuums zeigt. Es stellt sich heraus: in der Liebe thematisiert Hegel die widersprüchliche Natur der inneren Welt und der zwischenmenschlichen Beziehungen der modernen Welt. Zugleich sucht er Wege, auf denen diese Widersprüchlichkeit doch in Grenzen zu halten ist. Dieser Deutung der ambivalenten Natur der modernen Kunst und deren Verbindung mit der widersprüchlichen Natur der modernen Welt hat zur Folge, dass die Kunst eine externe, d.h. die moderne Existenz stabilisierende Funktion erwirbt. Auch in der Liebesthematik geht Hegel nicht nur der Frage nach, wie authentisch die Ausbreitung und das Problemwerden der Gefühlswelt intern-künstlerisch dargestellt werden kann, sondern auch den Fragen, wie angemessen oder unangemessen mit dieser Problematik extern, d.h. im Leben umgegangen wird und werden sollte. Die stabilisierende Funktion für Menschen mit schwankender Haltung ist eine Forderung an die Kunst, die auch für
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die Liebesthematik gilt. Man erkennt in Hegels Stellungnahme von 1823 wieder, wie eng diese Thematik mit seiner Gesamttheorie der Moderne verbunden ist. Hegel hat diese Ambivalenzen nicht nur bezüglich der Innerlichkeit als Prinzip der modernen Kunst gedeutet, sondern auch in einem hochkomplexen Kontext. Die systematische Kontextuierung ist vor allem darin zu erkennen, dass die Liebe in begrifflichen Konstellationen eintritt, die nicht nur eine allgemein kunstphilosophische, sondern auch eine dramentheoretische und handlungstheoretische Bedeutung haben.23
2.2.
Liebe im handlungstheoretischen Kontext
Im allgemeinen Teil der Philosophie der Kunst, wo Hegel die Situation als Handlung erörtert, weist er auf die systematische Einbettung der Liebe im dramentheoretischen Kontext hin: „Die Situation kann ferner aber durch eine zufällige Leidenschaft, z.B. die Liebe veranlasst werden“ (VK, 92). „Es können also wohl Situationen vielfach eingeleitet werden, aber die Notwendigkeit der Reaktion muß nicht durch etwas Bizarres, Widerwärtiges veranlaßt sein, sondern durch etwas in sich Berechtigtes. – Wir sahen nun also, dass Umstände überhaupt, insofern sie vom Gemüt aufgefasst werden, Reaktion hervorbringen. Dies Auffassen ist die andere Seite zu den Umständen und durch diese wird erst die Handlung hervorgebracht. Die Handlung ist das, wodurch das Individuum sich zeigt (als das), was es ist, ist die wahrhafte Wirklichkeit der geistigen Individualität. Die Reihe von Taten zeigt die Natur des Individuums“ (VK, 95-96). Im dramentheoretischen Kontext wird der handlungstheoretische Aspekt des Gemüts und der Liebe akzentuiert. Die handlungstheoretische Bedeutung des Begriffskomplexes von Situation, Umständen, Gemüt, Auffassen, Reaktion und Handlung bzw. der all dies summierenden „wirklichen“ Individualität besteht darin, was Hegel so zusammenfasst: „Die Reihe von Taten zeigt die Natur des Individuums.“ Eben diese Natur des Individuums ist das „Hauptinteresse“ der Kunst. Die Kunst zielt nämlich auf die „wahrhafte Wirklichkeit der geistigen Individualität“ ab. Die Natur des Individuums zeigt sich nicht nur in der Innerlichkeit und in ihrer entfalteten, inneren Welt, sondern vor allem in der Reihe seiner Taten und Handlungen.24 Die Handlung und nicht die Innerlichkeit an sich eröffnet die Tür zu der Natur eines Individuums. D. h auch: Handlungen verbinden uns sowohl mit der Innerlichkeit des Gemüts, der inneren Welt von Individuen als auch mit Wirklichkeitssphären. 23
24
Zu Hegels Handlungstheorie siehe die Arbeiten von M. Quante, insbesondere: Hegels Begriff der Handlung. Stuttgart 1993. Zur Unterscheidung zwischen der Tat und der Handlung und zur reflexiven Natur der Handlung vgl. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts. TWA Bd 7, § 118. Anm. 219.
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Die Verknüpfung von dramentheoretischen, kunstphilosophischen und soziokulturell-geschichtlichen Aspekten unter dem Leitmotiv seiner Theorie der Moderne zeigt sich in diesem komplexen Interpretationshorizont, in dem der handlungstheoretische Aspekt einen ausgezeichneten Stellenwert hat. Der starken handlungstheoretischen Ebene dieser Konzeption zur Folge hat Hegel die Liebe als Motivation und Inhalt von bestimmten Tätigkeiten der Individuen unter bestimmten Umständen aufgefasst. Damit nähert er die Liebe dem zentralen Begriff des objektiven Geistes, der Wirklichkeit, die einen besonderen Status in Hegels Sozialphilosophie hat. Darin zeigt sich eine sozialphilosophische und handlungstheoretische Erweiterung der kunstphilosophisch und dramentheoretisch verankerten Konzeption der Liebe. Liebe entsteht bei Hegel nämlich nicht aus dem reinen Gemüt, wie es die Romantiker und eine „schöne Seele“ behaupten würden. Liebe wurzelt in ganz unterschiedlichen Umständen, die durch zufällige Momente und durch unterschiedliche Gefühle im Gemüt reflektiert, aufgefasst, aber vor allem erlebt wird. Diese mit Liebe erfüllte subjektive, innere Welt im Gemüt ist von den Sphären der Wirklichkeit nicht abzuschneiden. Darum gehört die Liebe auch bei Hegel zur spezifisch-menschlichen Existenzweise, wie S. Kierkegaard und später J. P. Sartre deutlich gemacht haben.25 Die reflektierten und erlebten, inneren und äußeren Umstände transformieren sich durch Gefühl bzw. Gesinnung im Gemüt, damit kristallisieren sich Motivationen heraus, zu denen auch die Liebe gehören kann, die dann Handlungen von unterschiedlichster Art veranlassen kann. Damit wird die Liebe – ebenso wie das Gemüt im subjektiven Geist als Inbegriff von Gefühlen – qua Reflexionsform und Existenzform des Individuums aufgefasst. Aber diese Aspekte der Liebe werden durch Handlungen vermittelt, für welche die Liebe zur Motivation und/oder zum Inhalt wird. Der Sinn der Liebe dreht sich in Handlungen um. Dieser Komplex von Begriffen vermag die „wahrhafte Wirklichkeit der geistigen Individualität“ zu erläutern. Und die „geistige Individualität“, als Grösse bei Homer, als grosser Charakter bei Sophokles, als reife, starke oder schwache Persönlichkeit eines Individuums bei Shakespeare ist es, die uns am meisten in der (dramatischen) Kunst interessiert. Die Liebe verbindet sich mit der Charakterfrage. Diese systematischen Überlegungen wirken sich auf die Liebesthematik der Kunstphilosophie unmittelbar aus. Auch für die Liebe gilt, dass darin das Individuum sich selbst, d.h. seinen Charakter, seine Grösse und/oder seine Schwäche zeigt und dadurch sich aufschließen lässt. Es „zeigt das“, was das Individuum ist: seine Taten sind es, die seine Natur, seinen Charakter aufschließen und bewerten lassen. In den Taten und Handlungen werden Gefühle, so auch die Liebe zu konstitutiven Elementen sowohl des Charakters, der Grösse und der Persönlichkeit der jeweiligen Individuen als auch der Handlungen, in und durch welche sich die Individuen konkret und komplex entfalten und auf25
Zur Liebe als Existenzweise des Menschen vgl. S. Kierkegaard: Enten-Eller I-II. Gyldendal, 1962, bzw. J. P. Sartre, Esquisse d’une théorie des émotions. Paris 1960.
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schließen. Durch diese besondere Bedeutung der Handlung hat Hegel der Liebe als Motivation eine wirklichkeitsstiftende Bedeutung eingeräumt. Durch mehrfache Transformation entfaltet sich aus einem zuerst zufälligen, rein inneren, verschlossenen Gefühl ein notwendiges, „etwas in sich Berechtigtes“. Auf diese Weise entsteht aus einem zufälligen, verschlossenen Gefühl eine reflektierte, bewusste und gewollte, d.h. praktizierte, wirkliche, darum auch „notwendige“, legitime Motivation. Die „immanente“ Entfaltung des Gefühls zur Motivation von Handlungen und die damit eintretende Wirklichkeitsrelation sind eine der spannendsten Überlegungen in Hegels Kunstphilosophie. Auf diese Weise werden Gefühle aus ihrer unmittelbaren, innerlichen Gegebenheit und Zufälligkeit herausgeholt und in höhere soziokulturelle Formen transformiert. So wird aus der Liebe als zunächst zufälligem Gefühl und kontingenter Leidenschaft in einem unmittelbaren Sein zu eine bewusst gewollte, mit Anderen geteilte, auch von Anderen miterlebte, bestätigte, anerkannte, legitime Motivation. Damit ist aber das Problem der Liebe für die künstlerische Darstellung noch nicht ganz gedeutet. Dies führt zur Frage nach der Substantialität der Liebe in der Kunst.
2.3.
Substantialität der Liebe in der Kunst
Die Substantialität der Liebe hat Hegel vor allem im objektiven Geist, und zwar im sittlichen Leben ausgeführt: Ehe und Familie bilden den institutionellen Rahmen der (sittlichen) Liebe als zwischenmenschlicher Beziehung.26 Im absoluten Geist wird die Liebe in erster Linie nicht in Bezug auf Institutionen von Ehe und Familie gedeutet. Weder die Kunst noch die Religion konzentrieren sich auf Institutionen der Liebe, wohl aber werden Ehe und Familie thematisiert. Eine solche Auffassung der Liebe, die in den Mittelpunkt eines Kunstwerkes (oder einer Religion) die moderne Ehe stellt, lehnt Hegel strikt ab: Ehe und Familie sind in der Kunst der Moderne wenig wenn überhaupt geschätzt.27 Die Liebesthematik der Kunst hat substantielle Aspekte von anderer Art. Im Vergleich mit der Religion ist diese Frage für die Kunst schwieriger. Die Religion thematisiert das Absolute als Gott, darum ist die Liebe dort als Beziehung des endlichen, sterblichen Menschen zu Gott als Absolutem zu verstehen. Die Kunst spricht aber das Menschliche an, und zwar unter dem Aspekt des Absoluten. Das „Höhere im Menschen“ ist Hegels Formulierung, 26
27
Vgl. dazu das Familienkapitel der Rechtsphilosophie. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts. TWA Bd 7, § 158-180. Hegel sieht die Komplexität dieser Frage. Er verweist darauf, dass die Griechen die alten Götter und die neuen Götter auf die Ehe bzw. Familie anders beziehen: „Die Eumeniden verfolgen den Orest wegen Muttermordes. Apollo hingegen hat ihm diese Tat befohlen“. VK, 167. – Aber die Darstellung der Liebe bezüglich der Subjektivität und Objektivität in der modernen Ehe und Familie ist für ihn doch „höchst prosaisch, höchst trivial, und langweilig.“ VK, 114.
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die die spezifisch-künstlerische Verbindung zwischen dem Endlichen und Unendlichen, dem Menschlichen und Göttlichen erläutert. Das Höhere im Menschen in seiner tiefen Widersprüchlichkeit stellt den eigenen Horizont der Liebesthematik in der Kunst dar. Darum ist es für die Kunst unmöglich, aber auch unnötig, die Liebe im religiösen Sinne oder im Sinne der Liebe im objektiven Geist darzustellen. Die Hegelsche Deutung der problematischen Darstellung der Christusköpfe belegt auch den grundlegenden Unterschied zwischen Kunst und Religion in der Liebesthematik.28 Die Handlungsproblematik, die für die künstlerisch dargestellte und kunstphilosophisch reflektierte Liebe fundamental ist, hat Hegel nicht nur in die Thematisierung der subjektiven, mit Zufälligkeiten belasteten Motivation der Liebe, sondern auch in die des Substantiellen in der Liebe mit einbezogen. Dieses Substantielle hat er als höheren Inhalt der Handlung aufgefasst. Die subjektiven Motivationen, wie Liebe und Leidenschaft von subjektiver, zufälliger Art machen nur die eine Gruppe der Motivationen von Handlungen aus. Als Beispiel ist die Liebe als Verliebtheit zu erwähnen, an dem die extrem subjektive Art der Liebe zu exemplifizieren ist.29 Über diese subjektiven Motivationen hinaus soll auch der höhere Inhalt dargestellt werden, der die substantielle Seite eines Individuums und seiner Handlungen ausmacht. Der höhere Inhalt ist „das Mächtige, welches das Substantielle der Individualität ausmacht: eine Macht (wie) z.B. die Familie, die Pietät, die Staatsgewalt, Macht, Ehre, Freundschaft, Liebe des Geschlechtes, des Vaterlands, Eigentum, Reichtum. Diese Mächte sind das Substantielle einer Handlung“. (VK, 97) Das in einem Kunstwerk erscheinende „Höhere im Menschen“ tritt nun als sittlich-substantieller Inhalt ein. Auch die Liebe kann „das Substantielle der Individualität“ ausmachen. Aber diese Art Liebe ist eine unter den „substantiellen Mächten“ im sittlichen Leben. Es ist auch spannend, dass die Liebe hier nicht mit der Ehe und Familie verknüpft wird, sondern Hegel sie auch in der Form der Geschlechterliebe hervorhebt. Wie ist dies zu erklären? Die Geschlechterliebe wird nun nicht wie im subjektiven Geist aufgefasst; im absoluten Geist und unter dem Aspekt des Substantiellen wäre das auch irrelevant.30 Aber sie wird auch nicht wie im objektiven Geist im Rahmen ihrer Institutionen, der Ehe und Familie angesprochen, wobei die Familie in die Reihe der substantiellen Mächte, die für die Kunst wichtig sind, eingeholt
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Zum Problematischen an der künstlerischen Darstellung von Christus vgl. VK, 186, bzw. A. Gethmann-Siefert: „Einleitung“. VK, CLVIII-CLIX. Zu Hegels Bewertung der Verliebtheit als zufällige Leidenschaft vgl. VK, 92, 103. Julias Gefühl ist auch „ein Einfall der Liebe“. (VK, 150) Ihrem Wesen nach ist die Liebe „Leidenschaft, nicht so die eheliche, sittliche Liebe“. (VK, 191). Hegel hat die Liebe im subjektiven Geist der enzyklopädischen Fassung der Philosophie des Geistes in drei Bestimmungen ausgeführt: 1. Liebe als Geschlechtsverhältnis; 2. Liebe als Gefühl; 3. Liebe als praktisches Gefühl.
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wird.31 Die Familie wird aber nicht mit der Geschlechterliebe verknüpft, und die Geschlechterliebe auch nicht mit der Ehe. In der Perspektive der künstlerischen Aufarbeitung und deren kunstphilosophischer Reflexion erwirbt die Thematisierung des Substantiellen in der Liebe andere Akzente. Nun geht es darum, dass die substantielle Seite der Liebe nicht in unmittelbar natürlichen Phänomenen oder in unmittelbar sittlichen Phänomenen dargestellt werden soll, wie es im subjektiven und im objektiven Geist der Fall war. Das Natürliche, das Subjektive und das Sittliche der Liebe, die sich in der Ehe als Institution summieren, sind für die Kunst uninteressant. Liebe ist für die Kunst weder eine nur zufällig-subjektive noch eine institutionell geregelte Beziehung. Die Liebe enthält zwar in der Kunst beide Aspekte, aber nicht in der Art und Weise des subjektiven oder des objektiven Geistes. Die Geschlechterliebe als Thema der Kunst führt zwar auch hier über die besondere Neigung hinaus und wird zur geistigen Liebe, wie es in der dritten Bestimmung der Liebe im subjektiven Geist war.32 Die auch dort eingeholten, aber erst im objektiven Geist ausgeführten sittlichen Mächte geben den Motivationen, Handlungen und der Gefühlswelt bzw. der gesamten inneren Welt der Individuen Substantialität was auch für die Geschlechterliebe gilt. Das Wichtigste ist aber, dass die Liebe nun als Geschlechterliebe Spannungen enthalten soll, die Interesse an ihrer Darstellung durch Kunst erwecken kann. Wenn dieses Interesse vorhanden ist, kann die Liebe in der Kunst – durch ihre eigenen Formen und Mitteln durchgearbeitet, transformiert, und auf ihre spezifische Art und Weise – dargestellt werden. D.h. diese künstlerische und kunstphilosophische Dimensionierung modifiziert die bisherigen Bedeutungen der Liebe. Durch die besondere Darstellung und die ihr angehörende Perspektive modifiziert sich der Inhalt: der gleiche Inhalt erscheint uns nun in Kunstwerken. Die Liebe erscheint uns in Charakteren, in ihren Handlungen, die künstlerische Formen ausdrücken. Die Kunst ist imstande alle Inhalte, die man im Rahmen des subjektiven und des objektiven Geistes findet und erkennt, aufzunehmen und auf spezifischer Weise zum Kunstwerk zu erheben. Vorausgesetzt, dass das Interesse daran vorhanden ist. In der Ehe, die wir alle aus dem Leben wohl kennen, ist es aber nicht der Fall. Wenn die „Lebensverhältnisse“ verengt und „beschlossen“ sind, ist das uninteressant für die Kunst. Ein „guter Hausvater“, ein „ehrlicher Mann“ oder eine gute Hausfrau sind für die künstlerische Darstellung von keinem Interesse.33 Dagegen ist hochinteressant, wenn das „Höchste im Menschen“ wie auch das Hässlichste und das Niedrigste in einem Kunstwerk dargestellt, angeschaut und genossen werden kann. Die Liebesthematik der Kunst erfasst sowohl das Höhere als auch das Niedrig31
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Zur Liebe im objektiven Geist vgl. E. Rózsa, „Subjektivitätsproblematik und Identitätsprobleme in Hegels Rechtsphilosophie: Systematische Überlegungen und das Beispiel des Mannes“. In: dies., Hegels Konzeption praktischer Individualität. Paderborn 2007, 103-120. Vgl. Anm. 30. Vgl. VK, 86-89.
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ste – nicht aber das Langweilige. Diese tiefe, interne Spannung ist es eben, die Interesse an künstlerischer Darstellung erwecken kann. Und die eheliche Liebe gehört nicht zu den für die Kunst interessanten Themenfeldern bei Hegel. Für die Darstellung der Widersprüchlichkeit der Gefühlswelt stellt Hegel folgende Forderung auf: „Das, was objektiv ist, muss auch subjektiv im Gemüt sein, muss sich diesem immanent zeigen.“ Die erforderte Verbindung zwischen den subjektiven und objektiven, bzw. substantiellen Elementen des Menschlichen ist in allen Formen des Geistes unausweichlich, und zwar auf die jeweilige, spezifische Weise. Diese „Immanenz“ der Verbindung vom Subjektiven und Substantiellen in der Kunst erweist sich in der „subjektiven Totalität“, in der einzelne, subjektive, zufällige Gefühle zusammengebracht und strukturiert werden.
2. 4. „Subjektive Totalität“ und das Ganze Das Gemüt ist eine strukturierte Gestalt von Gefühlen. Subjektive Elemente und einzelne Gefühle allein können es aber nicht bilden; dafür ist das Prinzip des Substantiellen von entscheidender Bedeutung. Diese These wurzelt sich in Hegels anthropologischer Stellungnahme: „Der Mensch ist subjektive Totalität“. (VK, 102) Die intern-komplementäre Struktur des Subjektiven und des Substantiellen in der subjektiven Totalität ist für die Erläuterung der Liebesthematik von Bedeutung. Es treten verschiedenartige, oft widersprüchliche Relationen in der subjektiven Totalität auf, in denen sich nicht nur „der Reichtum dieser vielfachen Beziehungen“ zeigt, sondern auch Spannungen und sogar Konflikte entstehen können. Auch bei den Griechen ist dies zu beobachten, wobei dort Harmonie in der Verbindung von Substantialität und Subjektivität herrscht und die Spannungen zu lösen sind. Hegel schreibt Folgendes: „Der Mensch ist subjektive Totalität, zu einem Menschen gehören alle Götter; er verschliesst in seiner Brust alle die Mächte, die im Kreis der Götter auseinandergeworfen sind, er ist der Reichtum des ganzen Olymps. Damit ist bestimmt, welche Stellung das Subjekt hat: daß es nämlich sich als der Reichtum dieser vielfachen Beziehungen zeigt“. (VK, 102-103)
Der Mensch zeigt sich als der Reichtum vielfacher Beziehungen: Seine Stellung zur Welt, zu Gott bzw. den Göttern, zu Anderen und zu sich selbst, all dies faßt sich im Gemüt als subjektive Totalität von Gefühlen und Leidenschaften zusammen. Wenn aber eine Leidenschaft den Charakter einseitig beherrscht, dann werden der Ausgleich und die Harmonie in der subjektiven Totalität wie auch in den vielfachen Beziehungen verletzt.34 Der angemessene 34
In solchen Fällen wird das Fundament der Freiheit des Charakters als Substantielles in Frage gestellt, wie es bei den Griechen zu beobachten ist: „Der Mensch in einer Leidenschaft ist in einem pathos, dessen hat ein Gott sich bemächtigt, er ist nicht mehr freies Subjekt als solches,
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Umgang mit seiner Subjektivität bzw. mit dem Reichtum seiner vielfachen Beziehungen ist für die Grösse eines Subjekts und seinen Charakter entscheidend. Diese Angemessenheit hat mit dem Ganzen des Individuums zu tun. Hegel stellt nun fest: „Die Subjektivität für sich und ihr Reichtum macht die Eigentümlichkeit, in welcher ein grosses Subjekt sich darstellt. Ein schwaches (Subjekt) ist das, wo nichts bestimmt hervortritt, kein gewaltiges Interesse (…) Aber das Subjekt muss die Fähigkeit zeigen, nach vielen Seiten ein Ganzes zu sein, so daß alle diese verschiedenen Punkte zur Lebendigkeit kommen“. (VK, 103)
Der Unterschied zwischen dem grossen und dem schwachen Charakter zeigt sich in dem Reichtum der Beziehungen zu seiner Lebenswelt und in der Art wie der Charakter mit diesen umgeht. Hegel hat die Forderung des angemessenen Umgangs aufgestellt: „Aber das Subjekt muss die Fähigkeit zeigen, nach vielen Seiten ein Ganzes zu sein“. Dies ist Hegels Maßstab, an dem die Grösse als substantielle Qualität eines (subjektiven) Individuums zu messen ist. Das Ganze als normative Qualität ist keine arithmetische Summe von subjektiven, zufälligen Beziehungen, Gefühlen, Leidenschaften. Das Ganze ist eine den Reichtum von Beziehungen bewertende und strukturierende Norm, die aber auch ermöglicht, das Scheitern eines Individuums durch den vielfachen, zerstreuenden Reichtum von Beziehungen, Gefühlen und Leidenschaften eben durch den angemessenen Umgang mit all dem zu verhindern. Dem Ganzen hat Hegel die Funktion zugeschrieben, die reichlichen Beziehungen und Gefühle als „verschiedene Punkte“ zusammenzuhalten. Die Beziehungen, Gefühle und Leidenschaften, so auch die Liebe soll in das Ganze des Lebens sowohl subjektiv, d.h. gefühlt und erlebt, als auch substantiell, d.h. reflektiert und legitimiert aufgenommen werden. Hegel redet im sittlichen Leben nicht ungefähr über die Liebe als „subjektiv-substantielle Gesinnung“. Diese enge Verbindung des Subjektiven und des Substantiellen im Ganzen als Qualität eines Individuums ist eine grundlegende Kennzeichnung der Liebe in der Ehe und der Familie. Das sittliche Leben bildet das letzte Fundament auch für die Geschlechterliebe, die aber für die Kunst, strikt abweichend von der Sozialphilosophie, in ihrer institutionellen Verortung in der Ehe und Familie der Moderne uninteressant ist. Die Liebe ist Leidenschaft, aber die eheliche, sittliche, „geordnete“ Liebe „nicht so“.35 Die Liebe als Leidenschaft, als extremes Gefühl ist von Interesse für die künstlerische Darstellung. Die Liebe ist gar nicht uninteressant für die Kunst. Die Grösse eines Subjekts bei den Griechen oder ein grosser Charakter kann sich an seiner Liebe messen. Achill von Homer ist „ein großes Subjekt“, dessen Entfaltung Hegel
35
ist außer sich“ (VK, 103). „Die bloße Leidenschaftlichkeit (…) ist eine Ohnmacht, eine Einseitigkeit“ (VK, 103). Die Leidenschaft, die das Wesen der Liebe ausdrückt, ist mit der „bloßen Leidenschaftlichkeit“ nicht zu wechseln. Vgl. Anm. 29. Vgl. Hegels Ausführung über die Liebe in: VK, 190-194.
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in dem vielschichtigen, auch widersprüchlichen Reichtum seiner Liebe aufzeigt. Achill „kommt in verschiedensten Situationen; er liebt seine Mutter Thetis; den Pelaus, den alten Vater, der daheim ist; steht im vertraulichen Verhältnis mit seinem alten Diener; er liebt die Briseis, und die Liebe zu ihr und seine gekränkte Ehre treibt ihn zum Streit mit Agamemnon an; Achill ist ebenso der engste Freund, liebt den Patroclus und Antilochus, er ehrt den alten Nestor, den er bei der Leichenfeier (des) Patroclus beschenkt. Ebenso ist Achill reizbar, tapfer, schnellfüßig (dazu jemand), der im Hasse gegen seinen Feind bis zur höchsten Grausamkeit fortgeht. Ebenso hart wie er ist, ebenso weich ist er, wie Priamus zu ihm kommt, die Hand fasst, die den Sohn umbrachte. In solchem Individuum liegt die ganze Vielseitigkeit der menschlichen Natur.“ (VK, 103)
Eine hochwertige, differenzierte, auch widersprüchliche Liebe steht auf der einen Seite, Haß und höchste Grausamkeit auf der anderen – in demselben Subjekt und sogar in einem der größten Subjekte, das in der Kunstgeschichte überhaupt dargestellt wurde. In dieser Deutung der Liebe von Achill erkennt man eine auf substantielle Normen basierende Qualifizierung als Muster, an dem Liebe gemessen werden kann. Auch das Phänomen des Reichtums der Beziehungen ist für die romantische Kunst und deren Liebesthematik von Bedeutung. Hegels Forderung ist, dass dieser Reichtum der Beziehungen den Charakter nicht gefährdet, sondern ihn zu einem Ganzen machen soll. Sein Beispiel ist Romeo und seine Liebe. „Der Romeo in Romeo und Julie ist auch in vielfachen Verhältnissen: zu Freunden, zum Mönch, zum Pagen, zum Apotheker, (zu) der Julie“. (VK, 104) „Wir sehen die ruhige Tiefe, die die Möglichkeit aller Mächte in sich faßt.“ (Ebd.) Der Reichtum der Beziehungen gefährdet den Charakter von Romeo darum nicht, weil er die „ruhige Tiefe“ in sich hat, die als zusammenhaltende Kraft das Zentrum seiner Persönlichkeit ist und darum alle Mächte und Beziehungen „in sich fasst“. Hamlet ist ein Charakter von ganz anderer Art.36 Vor diesem Hintergrund ist verständlich, wieso die Liebe von Achill und Romeo gar nicht unweit voneinander liegen, den trennenden Jahrtausenden zum Trotz. Die eine Einstellung des Charakters macht die den Reichtum der Beziehungen integrierende subjektive Totalität aus, die ein immanentes Fundament für ein grosses Subjekt wie Achill, einen grossen Charakter wie Antigone oder für eine reife Persönlichkeit wie Romeo mit seiner „ruhigen Tiefe“ ist.37 Eine andere Einstellung setzt auf eine Leidenschaft einseitig und unterwirft ihr alle Beziehungen. „Die andere Seite ist ein Toben der Leidenschaft.“ (VK, 104) 36
37
„Hamlet ist haltlos“ – so Hegel. Der Ausgang – sein Tod – ist zufällig. Die Innerlichkeit und die Schönheit des Gemüts beherrschen den Charakter, wie z.B. bei Julia, was einen „innerliche Notwendigkeit“ des Ausgangs nach sich zieht, der aber gleichzeitig zufällig ist. (VK, 309). Vgl. E. Rózsa, „Das Mittelmäßige im Tragischen. Hegels antike und moderne Antigone in der ‘Phänomenologie des Geistes’“. In: Gethmann-Siefert/Weisser-Lohmann (Hrsg.), Wege zur Wahrheit. München 2009, 195-210.
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Die Einseitigkeit einer „blossen“ Leidenschaft, so der „blossen“ Liebe als Verliebtheit kann für die Grösse des Subjekts schädlich werden. Daraus ergeben sich erhebliche Unterschiede auch in der Liebe als Motiv der Kunst. Achill und Romeo stehen nah einander in ihrer Liebe. Dagegen ist Julia einer einzigen Leidenschaft unterworfen, die unvermeidlich ihren Untergang nachzieht. Die extrem selbstreflexive und sogar selbstzerstörerische Einstellung des Charakters bzw. ihre einseitige Liebe wird in Julia am schönsten dargestellt. (VK, 309)
2.5.
Liebe vor der Prosa der Welt. Selbstidentität statt Liebe
Der moderne Mensch hat auch andere Beziehungen als die vorher erörterten. Er tritt mit der „ganzen gemeinen Wirklichkeit“ in tägliche Verbindung. Diesen Aspekt der Charakterbildung und der damit zusammenhängende Liebesthematik hat Hegel als „die Seite der ganz äußerlichen Bestimmtheit“ gekennzeichnet (VK, 104). An dem „Subjekt tritt auch – als einzelnem – die ganze gemeine Wirklichkeit ein, das Bedingstsein nach allen Seiten. Das Individuum tritt in eine endliche Welt, in bestimmte Lokalität, Zeit des Handelns, bestimmte Weise, Verhältnis der Wohnung, des Geräts, der physischen Bedürfnisse, die Art und Weise der Waffen, der anderen Bequemlichkeiten des Lebens, näher der Verhältnisse des Befehlens, Gehorchens, der Familie, des Reichtums, der Sitte, der zufälligen Verhältnisse – und alles in mannigfaltiger Verschiedenheit. Diese Seite ist es, wo das Ideale mit der Prosa des gemeinen Lebens in Berührung kommt.“ (VK, 105) Nun geht es nicht um die subjektive Totalität der Liebe, durch die der Reichtum der zwischenmenschlichen Beziehungen erlebt, reflektiert und aufgearbeitet werden kann. Es handelt sich auch nicht um die Substantialität der Liebe, die für die Reflexion und Aufarbeitung Maßstab anbietet, in dem die normative Forderung, „nach vielen Seiten ein Ganzes zu sein“, zum Ausdruck gebracht wurde. Und es geht auch nicht um subjektiv-substantielle Elemente, die dem Charakter Stabilität geben können, wie es die ruhige Tiefe dem Romeo gegeben hat. Hegel verweist jetzt auf eine Wende in der Kunst. Der Mensch tritt nun in die endliche Welt und kommt mit der Prosa des gemeinen Lebens in Berührung, die vor allem die moderne Welt kennzeichnet. Diese Prosa durchdringt auch die Liebe als eines der drei Motive der romantischen Kunst und bringt erhebliche Änderungen für die Liebesthematik in der neueren Kunst mit sich. Es verschwinden Phänomene aus der Kunst, in denen die Motive der romantischen Kunst (Ehre, Liebe, Treue) zu erkennen waren. Die Marginalisierung der Liebe (der Ehre und Treue) bringt mit sich die Einsetzung von neuen Motiven, so die extreme Subjektivität des Charakters oder den reinen Formalismus. Das kann dann zum „Schluss der Kunst“ führen. Für Hegel geht es aber vor allem darum, wie die Kunst in sich die gemeine Lebenswelt integriert und wie sie daraus auch profitieren kann. Denn auch die
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Prosa des gemeinen Lebens kann die Kunst inspirieren, Interesse in ihr erwekken, wie es von Homer bis zu den zeitgenössischen deutschen Dramen reichlich zu erfahren ist. Diese endliche Welt und Prosa des gemeinen Lebens sind bei ihm in der Kunst nicht beiseite zu stellen; sie sind für die Kunst nicht irrelevant, wie es sich „eine kranke Idealität“ vorstellt. (VK, 105) Auch diese Welt gehört zu der Gesamttotalität des Lebens: „Denn der Mensch ist subjektive Totalität, und als diese ist er ausschließend gegen eine unorganische Natur, gegen das Äußerliche, und indem er sich ausschliesst, verhält es sich dazu. Zum Subjekt gehört eine umschließende Welt wie zum Gott ein Tempel. Diese Welt ist keine zufällige, sondern eine in sich konsequent zusammenhängende Totalität.“ (VK, 105) „Der Mensch muß zu Hause in der Welt sein, frei in ihr haushalten, heimisch sich finden. Dies gehört zur Idealität, daß der Mensch heimisch sei in dieser Welt, in ihr frei sich bewege.“ (VK, 105) Hegel beschreibt nun sozialphilosophisch, wie diese „umschließende Welt“ des Individuums die subjektive Totalität, die unorganische Natur bzw. die Prosa der Welt in der Moderne in sich aufnimmt. Die sozialphilosophische Beschreibung der Lebenswelt scheint hier für Hegel wichtiger zu sein als die kunstphilosophische: in seiner Ausführung kommt er von der kunstphilosophischen Perspektive immer wieder zu der sozialphilosophischen zurück. Das hat weitgehende Folgen auch für die Liebesthematik. Unter dem Aspekt der prosaischen Welt und Lebenswelt wird nicht mehr die Grösse des Subjekts und des Charakters akzentuiert, der auch seine Liebe angehört, sondern die grundlegende Bestrebung des Menschen, in der Welt frei und heimisch zu sein. Diese Bestrebung zielt auf die in Frage gestellte Identität mit der Welt ab. Nach dieser Identität strebt man aber nicht unbedingt in der Geschlechterliebe, in einer Leidenschaft, sondern vor allem im täglichen Leben. Die zentral gewordene Bedeutung der Selbstidentität im Feld der gemeinen, prosaischen Lebenswelt und die Marginalisierung der Leitmotiven der Kunst, Liebe, Ehre, Treue sind zwei Seiten einer Münze. Diese Art von Selbstidentität, die durch die prosaische, gemeine Welt erreichbar ist, ist nicht mit der Vereinigung zu verwechseln. Die Bestrebung nach Selbstidentität kennzeichnet das moderne, in sich unsichere und verlorene, egozentrische Individuum, in dem die Bestrebung nach Vereinigung durch Liebe allmählich zurücktritt. Im Vordergrund dieser Problematik hat Hegel die Aufgabe der Kunst bestimmt: „Das Kunstwerk ist nicht für sich, sondern für uns und wir sollen darin zu Hause sein.“ (VK, 111.) Die Verknüpfung der identitätsbildenden Funktion der Kunst und der Thematik der realen, gemeinen, prosaischen Welt durchzieht seine Konzeption der modernen Kunst wie auch deren Motiven und Formen, so auch die Liebe. Die Identität ist durch „Zusammenstimmung“ der subjektiven und objektiven Seite, der subjektiven Totalität des Gemüts als innerer Welt und der Lebenswelt zu erreichen. „Durch diese Zusammenstimmung zeigen sich die Personen in ihrem Dasein zu Hause zu sein.“ (VK, 107) Im Rahmen der Lebens-
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welt unterscheidet Hegel zwei Formen der Zusammenstimmung. Die erste ist die mit der „elementarischen Natur“, die zweite ist die hervorgebrachte „im praktischen Zusammenhang“. (VK, 108) Die Zusammenstimmung im praktischen Sinne ist Hegels besondere Beobachtung, die aus dem eingehenden Studium der modernen Ökonomie herkommt.38 Er hat erkannt: die moderne Wirtschaft verändert das Praktische und die Praktiken.39 Die moderne Arbeitsteilung bringt neue Beziehungen in den Sphären der Wirtschaft und der Gesellschaft, die auch die individuelle Bestrebung nach Ganzheit ändert. An die Stelle der Liebe, die grundlegende Komponente des Ganzen als subjektiver Totalität war und eine hochwertige zwischenmenschliche Beziehung darstellte, tritt allmählich die Bestrebung nach Selbstidentität des vereinzelten Individuums, die die Norm des Ganzen der subjektiven Totalität nicht mehr innehat. Darum ist verständlich, warum Hegel die erforderte Zusammenstimmung von innerer Welt und Lebenswelt nicht auf die Arbeit, sondern auf die Handlung gebaut hat. Die Arbeit hat mit der Realität im täglichen Leben zu tun. Die Handlung hat ideelle Momente inne. Sein Handlungsmodell bietet einen breiten Spielraum, der für Hegels philosophische und gemeinschaftlich-politische Ambitionen von besonderem Wert sind. Eine spezifische Form der Handlung ist die Arbeit, der in der modernen Wirtschaft ein ausgezeichneter Status zugeschrieben wird. Im Einklang mit A. Smiths betont auch Hegel: der Mensch muss arbeiten und der Genuss des Menschen muss „kein tatloser“ sein. (VK, 109) Das Prinzip der eigenen Arbeit ist das Fundament der Lebenserhaltung und auch der höheren Sphären des modernen Lebens. In der einseitigen Bevorzugung des Genusses analysiert Hegel Konsumphänomene moderner Verhaltensweisen, die sich auch tiefgehend auf die Liebe auswirken. Die Liebe, insbesondere die Geschlechterliebe wird in die Konsumgesellschaft aufgenommen, wo sie dann instrumentalisiert wird, was er in seiner Religionsphilosophie anspricht. In einer Welt, in der „alles profaniert worden ist“, herrscht das „Privatwohl“ (und das Privatrecht). (VR, III, 95) Die „Sucht des Privatwohls und des Genusses“ ist an der Tagesordnung und „Liebe ohne Schmerz“ wird bevorzugt, „Liebe im unendlichen Schmerz“ dagegen aufgegeben. (VR, III, 95) Vor diesem theoretischen Hintergrund findet man immer noch Anstöße für die Deutung gegenwärtiger Phänomene der Liebe. Eben darum, weil sich seine Auffassung der Liebe in einer komplexen Methode wurzelt, die es 38
39
Zur Rezeption der Nationalökonomie bei Hegel vgl. M. Riedel: Studien zu Hegels Rechtsphilosophie. Frankfurt a.M. 1969, insbesondere: 91-98; Ch. Schmidt am Busch: Hegels Begriff der Arbeit. Berlin, 2002, insbesondere: 59-95, 143-159; E. Weisser-Lohmann, Rechtsphilosophie als praktische Philosophie. München 2011, 212-230; E. Rózsa: Das Prinzip der Besonderheit in Hegels Wirtschaftsphilosophie. In: Rózsa (Hrsg.), Hegels Konzeption praktischer Individualität. Paderborn 2007, 182-213. Das Praktische verbindet sich in der Moderne mit dem Ästhetischen auf eine besondere Weise. Diese Problematik hat E. Weisser-Lohmann erörtert, „„Tragödie“ und „Sittlichkeit“. Zur Identifikation ästhetischer und praktischer Formen bei Hegel“. In: Gethmann-Siefert/Collenberg-Plotnikov (Hrsg.), Die geschichtliche Bedeutung der Kunst und die Bestimmung der Künste. München 2005, 109-120.
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gestattet gefühlstheoretische, handlungstheoretische, sozialphilosophische, kunstphilosophische Aspekte der Liebe mit ihren spezifischen Kennzeichnungen zu erläutern. Diese Methode bietet die Möglichkeit die jeweilige, konkreten Spannungen der Liebe, z.B. die zwischen Leidenschaft und sittlicher Ehe als Strukturen von soziokulturellen Phänomenen zu verstehen, ohne aber deren individuell-selbstbezogene und selbstbestimmte Dimensionen aus den Augen zu verlieren.
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ELIO MATASSI
Funktion der Kunst und absoluter Idealismus bei Hegel Dieser Beitrag beruht auf der Hypothese, dass der Hegelianische Begriff des ‘absoluten Geistes’ relevante Implikationen beinhaltet, die eine rein ‘metaphysische’ Lesart-Interpretation nicht zu erfassen und wiederzugeben vermag. Zugrunde gelegt ist folgende Gliederung: a) Beginnend mit einigen entscheidenden Seiten der Einführung in die Vorlesungen über die Ästhetik, hier im Besonderen ab dem Abschnitt Das Kunstwerk als Produkt menschlicher Tätigkeit, wird der hegelsche Begriff des absoluten Geistes in Richtung einer Hinwendung zum poietischen Geist interpretiert; b) Hans Robert Jauss auf der einen Seite und Odo Marquard auf der anderen machen sich den hegelschen Begriff des absoluten Geistes unter Einbeziehung einer poietischen Interpretation der ästhetischen Funktion zu eigen; c) Von hermeneutisch diametral entgegen gesetzter Seite soll abschließend die aus Lukács Heidelberger Jahren stammende Interpretation des absoluten Geistes bei Hegel und dessen Beziehung zum objektiven Geist diskutiert und als nicht schlüssig aufgezeigt werden.
I Seiner Definition der absoluten Idee legt Hegel als Bezugspunkt die Beziehung zur Natur zugrunde, die jedoch nicht als ein notwendiges Gegenbild anzusehen ist und der auch nicht die ebenbürtige Würde des Geistes zugeschrieben werden kann. Es besteht aber die Notwendigkeit, die in diesem Gegenbild implizierten Annahmen zurückzunehmen, um schließlich zu einer Betrachtung der reinen Idee als alleinigem Mittelpunkt des Denkens zu gelangen. Diese radikale Emanzipation von jeglicher Form der Bestimmung der Natur, sei diese auch nur indirekt oder per contrappasso, zeigt das exakte Maß der Absolutheit des Geistes an. Eine derartige Umwälzung darf jedoch keinesfalls auf einer rein metaphysischen Ebene erfolgen, wie dies etwa bei Cassirer oder beim jungen Marx der Fall ist.1 Die erfüllte theoretische Legitimierung des Primats der absoluten Idee besteht in dem Bedürfnis, die äußere Bedingtheit der Natur und der Wirklichkeit im Allgemeinen zu überprüfen, d.h. sich der Grenzen, die die faktische, grundlegende Entfremdung, die unmittelbare Distanz von Subjekt und Welt aufzei-
1
Eine tragende Definition der ‘reinen Idee’ wird in den Vorlesungen über die Ästhetik I gegeben. In Hegel, Werke in zwanzig Bänden. Hrsg. Von Eva Moldenhauer und L. M. Michel, Frankfurt, 1970 (zitiert als TWA). Bd XIII, 128.
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gen, bewusst zu werden, mit dem Ziel, sie gemäß einer eigenen Ordnung, die diese ursprüngliche Entfremdung aufzuheben vermag, zu formen. Der objektive Geist und die Kunst besitzen wie alle anderen Formen des absoluten Geistes die Fähigkeit, diese Beschränkungen zu transzendieren und können damit den einzigen realen Urheber eines so gearteten formalen und formenden Prozesses hervorheben, nämlich das menschliche Subjekt, das hier durch seine autonome Dimension definiert ist.2 Die logisch-metaphysische Gleichung Geist-Natur, Idee-Realität, welche die hermeneutische Sichtweise des Neukantianismus in ihrer ganzen elementaren Radikalität übernimmt,3 bedarf unter Einbeziehung einer veränderten Vorstellung der zweckhaften Beziehung zwischen Idee und Natur einer Neuformulierung. Die Unterordnung der Natur attestiert wohl einfach, dass sie ihren Zweck im Begriff des Geistes wiederzufinden hat und nicht umgekehrt, um nicht nur ihre Würde und Legitimität, sondern auch die neue und erkannte Autonomie des Subjekts zu betonen. Die Absolutheit im Idealismus soll wohl keine hypothetische ‘Metaphysik’ der Realität unterstreichen, sondern die Möglichkeit des Menschen, die ihm von der Verfremdung auferlegten Grenzen als „denkendes Bewußtsein“ oder als „sich verdoppelnder Geist“ zu überwinden, indem sie gemäß einer eigenen formenden und geformten Sicht verändert werden.4 „Diesen Zweck vollführt er durch Veränderung der Außendinge, welchen er das Siegel seines Innern aufdrückt und in ihnen nun seine eigenen Bestimmungen wiederfindet“.5
Diese Rotation 180 Grad von der Natur zum Geist, zu der in ihrer historischpolitischen Valenz von der Französischen Revolution umschriebenen Idee, ist keineswegs ein abartiges, spekulatives Konstrukt, das den gewohnten Ablauf
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Im Unterschied zur Begierde, die das Objekt aufzehrt, beschränkt sich die menschliche Arbeit nicht darauf, das Objekt aufzulösen, sondern formt es dagegen und idealisiert es so entsprechend einem eigenen Zweck. Der Idealismus stellt sich als Wille dar, die Welt zu elaborieren und sie sich anzueignen, beständig die Grenzen zu überschreiten und nicht als einfache Neigung derselben. Hinsichtlich dieser subtileren Bedeutung von ‘Idealismus’, die streng an die intrinsische Beziehung von Geist und Arbeit gebunden ist, erweist sich der Essay von B. Lakebrink Geist und Arbeit im Denken Hegels als signifikant In: Philosophisches Jahrbuch. LXX (1962), 107-108. Die vereinfachende Gleichung zwischen Natur und Geist, wie sie die neukantische Methodologie festlegt, unterstreicht so bei Hegel insofern eine Art von gemeinem Idealismus, als er als Neigung der Außendinge gesehen wird. In der der neukantischen radikal entgegengesetzten und von J. Ritter ableitbaren Methodologie kann die Umkehrung in der Finalität des Begriffspaars Natur-Geist zugunsten des Geistes in ihrer Totalität nur unter Berücksichtigung der Französischen Revolution als hermeneutisch-historisches Unterscheidungsmoment in der Philosophie Hegels verstanden werden. Der Hegelsche Idealismus kann in seinen Auswirkungen nur durch die von der Französischen Revolution eröffnete historische Epoche verstanden werden. In den Ästhetikvorlesungen spricht Hegel vom Menschen als denkendes Bewusstsein und als „sich verdoppelnder Geist“ in: Vorlesungen über die Ästhetik, TWA, Bd XIII, 50-51. Vorlesungen über die Ästhetik, TWA XIII, 51.
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vom Abstrakten zum Konkreten umkehrt, sondern verweist auf die neue Zentralität des Menschlichen, seine Aktualität.
II Diesen Aspekt hat Hans Robert Jauss in seiner kritischen Auseinandersetzung gut erfasst. Er legt dar, dass jegliche geistige Dimension, Kunst wie auch Recht, auf der totalen Heterogenität des Geistes und der Natur gründet und es eine Einschränkung bedeutet, diese nur in metaphysischen Begriffen verdeutlichen zu wollen. Die ästhetische Funktion liefert in dieser Hinsicht laut Jauss einen privilegierten Standpunkt, von dem aus dieser heikle ‘Ort’ in Hegels Theorie richtig fokussiert werden kann. Das universale und absolute Bedürfnis, aus dem die Kunst entsteht, hat seinen Ursprung in der denkenden Natur des Bewusstseins und kann nicht mit einem Begriff von ‘Natur’ im Sinn von Unmittelbarkeit verwechselt werden: „Die Naturdinge sind nur unmittelbar und einmal, doch der Mensch als Geist verdoppelt sich, indem er zunächst wie die Naturdinge ist, sodann aber ebensosehr für sich ist, sich anschaut, sich vorstellt, denkt und nur durch dies tätige Fürsichsein Geist ist“.6
Diese Auffassung von Kunst erlaubt auch deren wesentlich ‘poietische’ Natur zu verdeutlichen. Die Kunst ist poietisches Wissen, weil sie gänzlich auf der geistigen Natur des Menschen gründet. Durch sie gelingt es dem Subjekt, die „spröde Fremdheit“ der Welt zu überwinden und eine Form von Wissen zu schaffen, das sich von den Denkmodellen der Wissenschaft wie auch von jeder an einen Zweck gebundenen Vorgehensweise unterscheidet und sich in der handwerklichen Arbeit selbst erschafft: „Der Mensch tut dies, um als freies Subjekt auch der Außenwelt ihre spröde Fremdheit zu nehmen und in der Gestalt der Dinge nur eine äußere Realität seiner selbst zu genießen“.7 Dieses Primat der poietisch-produktiven Form des Wissens war übrigens in Hegels Philosophie an der Stelle als zentrale Instanz präsent, wo die vollständige Übereinstimmung zwischen den Begriffen des Geistes und der Arbeit als Herstellungsprozess postuliert wurde. Hegel spricht oft von der unentwegten Tätigkeit des Geistes, einer Arbeit, die dem Geist, seiner Eigenheit intrinsisch ist.8 Der poietisch-produktive Ansatz des Wissens ist auch der Königsweg zum Verständnis des Hegelschen Begriffs des absoluten Geistes mit allen seinen
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Vorlesungen über die Ästhetik , TWA XIII, 50-51. Vorlesungen über die Ästhetik, TWA XIII, 51. Was die Analogie zwischen Geist und Arbeit betrifft, sollte der folgende Passus berücksichtigt werden: „Der Geist handelt wesentlich, er macht sich zu dem, was er an sich ist, zu seiner Tat, zu seinem Werk; so wird er sich Gegenstand, so hat sich als ein Dasein vor sich“. Hegel, Die Vernunft in der Geschichte. Hrsg. von J. Hoffmeister. Hamburg, 1970, 67.
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Implikationen. Er ist als ästhetische Funktion eine erste Weise, die abstrakte Unterscheidung zwischen ‘Theorie’ und ‘Praxis’ zu überwinden.9 Es ist allgemein bekannt, dass für Hegel das theoretische Verhalten dazu tendiert, die darin eingebundenen und teilhabenden Glieder10 gleich bleibend und frei zu belassen, während das im praktischen Verhalten eingebundene Objekt verbraucht und aufgelöst wird.11 Hegel spricht in diesem Zusammenhang in der Praxis von einem „Verhalten mit Begehrungsvermögen“ und in der Theorie von einem „Verhalten ohne Begehrungsvermögen“. Die Kunst, die ästhetische Funktion im strengen Sinne entspricht weder dem einen noch dem anderen, sie ist dagegen aus unterschiedlichen Blickwinkeln darin verflochten und bildet somit eine erste Form der Vermittlung. Die Kunst, die künstlerische Vorstellung entspricht nicht dem praktischen Sinn, denn sie lässt das Objekt selbst frei, unabhängig bestehen, während es vom Wunsch eingebunden und aufgrund seines Nutzens zerstört wird. Doch gibt es auf der anderen Seite auch keine totale Identität mit dem theoretischen Moment, denn die ästhetische Vorstellung bewertet die Besonderheit – Individualität des Objekts, ohne dass eine Verallgemeinerung notwendig würde. In diesem Sinne werden die „Betrachtung“ und das „Dasein der Objekte als schöner“ zur „Vereinigung beider Gesichtspunkte“ – mit anderen Worten zur objektbezogenen theoretischen und praktischen Beziehung – und das in dem Maße, in dem die Dimension der ästhetischen Schönheit die „Einseitigkeit beider in Betreff des Subjekts wie seines Gegenstandes und dadurch die Endlichkeit und Unfreiheit derselben ...“12 überwindet. Die Bedeutung der Jausschen Auslegung besteht gerade in der Vereinigung dieser beiden Instanzen, die auf den ersten Blick einander entgegen gesetzte Ansätze aufzuzeigen scheinen. Die Überwindung der „abstrakten“ Trennung zwischen Theorie und Praxis, oder mit anderen Worten der Trennung zwischen Subjekt und Objekt, also die metaphysische Überlegung Hegels13, hat in Wahrheit ihren Ursprung in der Betrachtung der Kunst als poietisches Wissen, somit in den humanistischen Gedankengängen Hegels und steht damit nicht im Widerspruch. Wenn Kunst in erster Linie poietisches Können ist, dann wird das bevorzugte Instrument zur Humanisierung der Welt auch die Natur sein. ‘Geist’ als ‘Absolutes’ ist deshalb nicht eine metaphysisch-hieratische, über das Menschliche hinausgehende Dimension, sondern die spezifische menschliche Dimension, die sich nicht mehr in der Korrelation mit der Natur 9 10
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Vgl. Vorlesungen über die Ästhetik, TWA XIII, 154. Vgl. M. Riedel, Naturphilosophie und Anthropologie. Grundzüge einer Theorie des Lebendigen bei Hegel und Marx. In: Zeitschrift für Philosophische Forschung. XIX (1965), 577-600. „Das theoretische und praktische Verhalten zur Natur ist für die Seinsverfassung des Lebendigen und für sein Verhältnis zum Seienden grundlegend; sein Sein konstituiert sich in diesen beiden Momenten“. So M. Riedel in: Theorie und Praxis im Denken Hegels. Interpretationen zu den Grundstellungen der neuzeitlichen Subjektivität. Stuttgart 1965, 36. Vorlesungen über die Ästhetik , TWA XIII, 154. Die, die in die absolute Idee münden.
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erschöpft, nicht mehr relativ und von daher abgegrenzt von der Natur und ihr untergeordnet ist.14 Der metaphysische und der humanistische Gedankengang sind zwei sich ergänzende Wege, die – ausgehend von einem unterschiedlichen Blickwinkel – den gleichsam beiden inhärenten Fokus auf den Menschen herausstellen, auf den Menschen als Geist und umgekehrt. Die daraus zu ziehenden Schlussfolgerungen sind um so bedeutender. Odo Marquard betont diesen „Fokus“ auf den Menschen in seiner ästhetischen Funktion gerade in unserer Zeit.15 Dem Begriff der ästhetischen Erfahrung kommt die neue Aufgabe zu, den Erfahrungsverlust in der modernen Industriegesellschaft auszugleichen.16 Je mehr sich in der hoch technisierten Welt der Abstand zwischen „Erwartung“ und „Erfahrung“ vertieft – denn die Erwartungen können immer weniger in Erfahrungen umgesetzt und immer weniger von einer historia docet vermittelt werden – desto weniger „real“ wird die Wirklichkeit eben aufgrund dieses Abstands, und umso mehr nähert sie sich der Fiktion und der Kunst und wandelt sich zu einer / Antifiktion. Indem sich die ästhetische Funktion von dem Erwartungsprinzip, von der Utopie entfernt, um sich der Erfahrung, dem Erfahrungsgenuss17 anzunähern, rettet sie jedoch „ästhetisch“ gesehen die reale und intersubjektive kommunikative Dimension, die durch die Abkehr von der Welt bedroht ist und die Krise der Erwartung18 proklamiert
III Auf der entgegengesetzten hermeneutischen Seite könnte ein Zusammenhang zu der Position von Lukács aus seinen Heidelberger Jahren hergestellt werden. Irreleitend wäre es jedoch, würde man die Frage des Zusammenhangs zwischen objektivem Geist und absolutem Geist ausschließlich mit der logistischen Methode zu klären versuchen.19 Denn der Übergang vom objektiven Geist zur Kunst, der ersten Form des absoluten Geistes, erscheint aus dialektischer Sicht unbegründet. Verfolgt man dagegen eine tiefer gehende Perspektive, deren implizite Hypothesen schon von J. Ritter vorweggenommen und von
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Vgl. Vorlesungen über die Ästhetik, TWA XIII, 129. O. Maquard, Krise der Erwartung. Konstanz 1982. O. Marquard, Kunst als Kompensation ihres Endes. In: Oelmüller (Hrsg.), Ästhetische Erfahrung Kunst und Philosophie I. Paderborn 1990, 167-168. O. Marquard, „Kunst als Antifiktion. Bemerkungen über den Weg der Wirklichkeit ins Fiktive, in Funktion des Fiktiven“. In: Henrich/Iser (Hrsg.), Poetik und Hermeneutik X. München 1982, 35-54. H. R. Jauss, „Negativität und Identifikation, Versuch zur Theorie der ästhetischen Erfahrung“. In: Positionen der Negativität. Poetik und Hermeneutik VI, München 1975. Zu eindeutig logistisch, wie der der Heidelberger Zeit.
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dem ihm theoretisch offensichtlich nahe stehenden M. Theunissen20 weiterentwickelt wurden, könnte der wahre Wert der Hegelianischen These entschlüsselt werden. Wenn objektiver Geist und absoluter Geist das Wesen der Geschichtsphilosophie ausmachen, verschiedene „Momente“ einer gemeinsamen Geschichtsphilosophie, fände die gesamte menschliche Geschichte ihr grundlegendes hermeneutisches Mittel in der irdischen Vergegenwärtigung des absoluten Geistes, oder die Versöhnung Gottes mit der Welt als Überwindung der Entfremdung des Menschen von Christus, die die Vollendung der Versöhnung an und für sich in der göttlichen Idee bedeutet. Die Menschwerdung Gottes in Christus wird die Erkenntnis des Bei-sich-Seins des subjektiven Geistes im absoluten Geist. Eine Erkenntnis a priori von den Dingen nicht als Erscheinungen, sondern in ihrem Dasein an sich selbst. Die Freiheit, in die die Geschichte – vor und nach der Geburt Christi – einmünden wird, ist die den Menschen an sich eigene Freiheit. Damit die Freiheit zu einem wahren Prinzip der Vernunft wird, war das christliche Prinzip der Selbsterkennung der Freiheit notwendig und dank dieser Offenbarung ist die in der ewigen Geschichte des absoluten Geistes gegenwärtige Versöhnung in die irdische Geschichte eingetreten. Das Prinzip Freiheit ist das Bindeglied, der leitende Gedanke zwischen dem objektiven und dem absoluten Geist, das sich – wie bekannterweise im ersten Teil der Vorlesungen über die Ästhetik21 beschrieben – fortschreitend weiter entwickelt und vertieft. Wenn die Freiheit die höchste Bestimmung des Geistes ist, findet diese Bestimmung eine noch nicht völlig abgeschlossene Dimension im objektiven Geist: „So gibt man wohl auch für das Zusammenleben der Menschen und den Staat den Endzweck an, daß sich alle menschlichen Vermögen und alle individuellen Kräfte nach allen Seiten und Richtungen hin entwickeln und zur Äußerung bringen sollen. Aber gegen eine so formelle Ansicht erhebt sich bald genug die Frage, in welche Einheit sich diese mancherlei Bildungen zusammenfassen, welches eine Ziel sie zu ihrem Grundbegriff und letzten Zweck haben müssen. Wie beim Begriffe des Staats entsteht auch beim Begriffe der Kunst das Bedürfnis teils nach einem den besonderen Seiten gemeinsamen, teils aber nach einem höheren substantiellen Zwecke“.22
Es bedarf also einer höheren Gewähr und Bestätigung, die aus dem absoluten Geist kommen wird.
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Mit der Formel „Hegels Politik als (weder revolutionäre noch reaktionäre) ‘christliche’ Emanzipationsphilosophie“, wird M. Theunissen als wichtige Stimme der ritterschen Schule im Buch präsentiert von H. Ottmann, Individuum und Gemeinschaft bei Hegel. New York, 1977, 378387. Vorlesungen über die Ästhetik, TWA XIII, 132. Vorlesungen über die Ästhetik, TWA XIII, 135-136.
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Das Ideal. Zu den Konstitutionsproblemen des spekulativen Begriffs des Kunstschönen Hegels Begriff der Kunst ist von den Fassungen der Enzyklopädie1 her überhaupt ganz verschieden und damit wenigstens von Anfang an nicht klar oder bestimmt ausgearbeitet. Die verschiedenen Versionen unterscheiden sich, sowohl ihrem Gehalt als ihrer Gliederung, als selbst ihrem Programm nach. So wird nicht deutlich, was der Begriff der Kunst gerade hergibt, und wo und wie er genau gerechtfertigt wird. Auf die Bedeutung der philosophischen Konstitution des Begriffs des Schönen selbst versuche ich ansatzweise hinzuweisen. Dazu möchte ich die spezifische Systematik des Begriffs der Kunst vor dem Hintergrund der Ausarbeitung des enzyklopädischen Rahmens der Enzyklopädie (1817) betrachten. Die anfänglichen Vorlesungen über die Kunst erscheinen in der jetzt möglichen, gesonderten Betrachtung als verschiedene Ansätze, die als Einlösung eines philosophischen Programms und dessen Modifikation zu betrachten sind. Das Ende dieser Aufarbeitung des genannten Begriffs kann im Wesentlichen an der Enzyklopädie (E², 1827) vorgezeigt werden. Ich möchte dazu drei Thesen belegen: Die erste ist eine interpretatorischsystematische: Die Darstellung der Kunstreligion in der Enzyklopädie (E, 1817) ist so verwickelt, dass sie Probleme aufgibt. Diese beziehen sich sowohl auf den Begriff der Kunst und des Ideals als der Schönheit, als auch auf den zu entfaltenden Begriff des absoluten Geistes selbst und dessen Verhältnis zur Schönheit und Kunst. Gerade diese Unklarheiten werden den Problemgehalt der aufeinanderfolgenden Begriffe der Kunst in den eigenständigen Vorlesungen bestimmen.
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Hegel, Gesammelte Werke, Hamburg, 1968ff werden mit Band und Seite zitiert; die Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften 1817 (GW 13) aber als (E, 1817) die zweite Fassung (GW 19) als (E²), die dritte (GW 20) als (E³) jeweils mit § und ggf. A(nmerkung). Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Kunst. Berlin 1823 Hotho. (Hegel Vorlesungen, 2) Hrsg. A. Gethmann-Siefert, Hamburg, 1998 wird zitiert als Hotho; Hegel, Philosophie der Kunst oder Ästhetik. Im Sommer 1826. von Kehler, Hrsg. A. Gethmann-Siefert u.a., München, 2004 als Kehler, sowie Hegel, Philosophie der Kunst. Vorlesung 1826, Hrsg. A. Gethmann-Siefert u.a., Frankfurt a.M., 2005 als Pfordten. Die Vorlesung 1820/21 wird zitiert nach Hegel, Vorlesung über Ästhetik; Berlin 1820/21. Textband. (Hegeliana, 3). Hrsg. H. Schneider, Frankfurt a.M., 1995 als Ascheberg. Die Vorlesung 1828/29 (Libelt) als Libelt, nach eigenen Transkriptionen.
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Die zweite These ist eine historisch-systematische:2 Obwohl die Vorlesungen über Kunst sich auf die grundlegende Darstellung der Enzyklopädie beziehen, heben sie sich langsam von ihr ab. Die Vorlesungen zeigen keine neue Systematik, sondern sie erörtern und präzisieren die Problematik der spezifischen Darstellungsweise der Kunst innerhalb des absoluten Geistes. Der anfänglich problematische Inhalt verwandelt sich in dem sich in den Vorlesungen entwickelnden Begriff der Kunst zu einem vollziehbaren Gehalt, wodurch dieser Begriff der Kunst die zweite Auflage der Enzyklopädie (E², 1827) vorbereitet. Die dritte These hat mit dem systematisch-spekulativen Ansatz der Vorlesungen zu tun: die Einleitungen derselben, die von der Enzyklopädie aus nicht eruiert werden, betrachten die philosophischen Begriffe im sich aufhebenden Gegensatz zum natürlichen Wissen, wodurch auch die Vorlesungen sich als Erbe des transzendentalphilosophischen Denkens deuten lassen. Die Einleitungen, die vom natürlichen Wissen aus zu einem spezifischen spekulativen Begriff kommen möchten, geben deshalb nur einen vorläufigen und vorbereitenden Begriff her, der vom konstitutiv spekulativen (aus der E) im Begriff der Kunst selbst ersetzt werden muss. Zum Beleg der Thesen entwickle ich den problemreichen Begriff der Kunst als Kunstreligion in der Heidelberger Enzyklopädie (1). Dann entfalte ich die Problematik der Einleitung der Vorlesungen über Kunstphilosophie (2) und erörtere ich die Auffassung der Kunst selbst in den Fassungen des Ideals (1820/21, 1823 und 1826) (3). Ich betrachte die Umarbeitung der zweiten Auflage der Enzyklopädie (E², 1827) als Resultat der die genannten Schwierigkeiten beseitigenden Vorlesungsarbeit, deren Ergebnis ab dann nicht mehr hergestellt, sondern nur noch überprüft werden muss (4).
1. Zum Begriff der Kunst in der Enzyklopädie 1817 In der Enzyklopädie 1817 macht die Kunst als Kunstreligion eine Stufe der geschichtlich-religiösen Erhebung zum endgültigen Begriff des absoluten Geistes aus. Sie wird als Gestalt des unmittelbaren Wissens des absoluten Geistes oder als Ideal eingeführt. Dies Ideal ist also ein neuer, spezifischer Begriff, der in Beziehung auf die Religion der Kunst oder auf die Kunst, vorgeschlagen oder vorgetragen wird. Das Ideal deutet das Wissen der Substanz als dasjenige des absoluten Geistes. Dieser ist die sittliche Substanz als das noch darzustellende, gleiche Wesen der Natur wie des endlichen Geistes, wie er der Grund und der Begriff von beiden ist; so ist er die Identität von subjektivem und ob2
Dabei sind die Nürnberger Vorlesungen, die die Enzyklopädie vorbereiten, auszuschließen. Hegel bestimmt dort rudimentär, wie die Kunst das Absolute für den Sinn gestaltet und wie die wahre Kunst religiös ist (GW 10, 791); zugleich gehören in Nürnberg die Kunstgattungen, von denen dann nur vier – keine Architektur – erwähnt werden, im damaligen enzyklopädischen Begriff der Kunst (GW 10, 364).
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jektivem Geist, die sich aus dem dargestellten Weg herausgebildet oder herausgeformt hat. Als unmittelbare Gestalt kann sie als Idee oder Geist in seiner oder ihrer Existenz gedeutet werden. Solches Wissen ist zugleich ein Wissen der absoluten Idee (E 1817, § 453),3 wie ein Wissen, für welches die Substanz der Sittlichkeit als solche ist (E 1817, § 455). Solche konkrete Substanz integriert die sittliche Substanz als die wirklich höchste, wofür nicht nur in kriegerischen Ausnahmefällen, sondern immer das eigene Herz geopfert werden muss.4 Obwohl die Identität herausgestellt worden ist, ist diese nur in der Form eines sich ausführenden Urteils, das sich im Wissen selbst zurücknehmen kann, die letzte Bedeutung des Ideals als Gott, die in ihrer Erhebung genauer zu fassen ist. Nun muss dieser neuer Begriff des Ideals bewiesen werden oder ein neuer Begriff muss – methodisch oder formell – aus sich die Bestimmtheit, die er negativ entlehnen oder voraussetzen kann, vorführen. Dieser neue Begriff ist erst ausreichend, wenn er als letzter Grund auftreten kann und er in der Vermittlung als ein absolut Erstes gewusst wird. Wie dies zu geschehen hat, ist eine spezifisch herzustellende Leistung. Innerhalb der Kunstreligion hat nach der Enzyklopädie der Beweis dieser Entsprechung die vorherige Bewegung der Erhebung zum absoluten Geist zu vollziehen. „Der Beweis, dass die Bedeutung die absolute Wahrheit ist, ist die Vermittlung, durch welche die Natur sich zum Geiste, und der Geist seine Subjectivität durch seine Thätigkeit zum absoluten Geiste aufgehoben [hat], und damit denselben als seinen letzten Grund, hiemit, weil diese Vermittlung an ihr selbst ebensosehr das aufheben der Vermittlung, des Gegensatzes, ist (E 1817, § 71, 73. 104 u.s.f.) als sein absolut Erstes weiß“ (E 1817, § 457). Dabei wird in § 457 (E 1817) spezifisch gefordert, dass der Begriff des Ideals oder des absoluten Geistes die ganze vorherige Vermittlung selbst nochmals erweisen wird oder, was das gleiche ist, dass er die gleiche Bewegung zum absolut Ersten als eigenen Begriff wissend wiederholen muss. Nicht dass die Vermittlung schon geschehen ist, wird also dann behauptet, sondern dass die Vermittlung, aus der der neue Begriff als Wahrheit herstammt, erneut oder wieder als Vermittlung dargestellt oder als ein Erstes erwiesen werden muss, und dass gerade diese Vermittlung oder der Erweis in dem und als der erste Begriff der neuen Bestimmtheit auftreten muss. Damit ist dann nicht mehr die Unzureichend- oder Negativ-Setzung des – objektiven – Geistes oder die Aufnahme der sittlichen Substanz als Inhalt betont, sondern es wird für den neuen Begriff die erneute Vermittlung, wie er zustande kommt oder wie er sich als absolut fasst, als ein eigenes und geson-
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Mit diesem Wissen ist nicht mehr die Eigengestalt der (logischen) absoluten Idee, sondern diejenige des absoluten Geistes angedeutet. Die Minimalbedingung, dass der Geist wissende Substanz sei, wird dann als erste Gestalt von der Kunst herausgestellt.
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dertes Moment gefordert.5 Ob dies formell stringent ist, ist erst bei der Ausführung in Kunst und Religion auszumachen.6 Die auf dieser Beweisforderung folgende Gliederung ist nun rein geschichtlich, wodurch die mögliche Logik der Selbsterfassung des absoluten Geistes einseitig von der Weltgeschichte abhängig zu werden scheint. Die erste Bestimmtheit Gottes ist eine abstrakte, entweder des Naturseins oder des reinen Denkens. (E 1817, § 459) Die Wahrheit dieser doppelten Abstraktion ist aber eine konkrete Gestalt, die der Schönheit. Erst an dieser Stelle erreicht der absolute Geist selbst eine erste ihm angemessene Wahrheit. Die Durchdringung der Momente bleibt aber als Schönheit dennoch ein Formelles, weil jeder Stoff als Inhalt des Gedankens auftreten kann. Die Form ist aber eine wahrhafte, wenn sie die Durchdringung selbst ist, wenn die Gestalt nicht anderes zeigt als dies Gestalten. So ist die Schönheit das dem endlichen aber substantiellen Gedanken unterworfene Dasein. Diese unmittelbare Gestalt ist zugleich doch eine – auf diese Weise behauptete – aus dem Geist geborene konkrete Gestalt. Diese ist damit eine reflektierte, unmittelbare Gestalt, was möglicherweise doch schon auf ein methodisches Problem der religiösen Entfaltung, zugleich unmittelbar und reflektiert zu sein, zeigt. Zugleich tritt hiermit und mit der geschichtlichen Fassung eine neue Schwierigkeit auf: wenn die Schönheit als gelungene eingeführt wird, dann ist sie weder unmittelbar, noch das unmittelbare Ideal; umgekehrt, wenn sie das Ideal und unmittelbar ist, dann kann sie nicht mehr die Wahrheit des Diesseits und Jenseits sein, wie die bloß geschichtliche Darstellung vorgibt. Kurz: entweder ist das Ideal die erste sich fassende Form des absoluten Geistes und dann ist diese nicht die spezifische Schönheit; oder die Schönheit ist schon Vermitteltes in Beziehung auf den absoluten Geist, aber dann ist sie keine unmittelbare Gestalt des Wissens. Damit kann das Ideal nicht als Schönheit oder Kunst vom Geist aus spezifiziert werden und ist gerade die Verortung der Kunst als Gestalt im absoluten Geistes ‘inhaltlich’ nicht einsehbar. Die weiteren Bestimmungen der Schönheit selbst werden dann – unberührt von der philosophisch-systematischen ‘Konstitutions’problematik – ausgearbeitet, wie sie auch schon vorher in Jena oder Nürnberg fast schon endgültig konzipiert worden sind. Die Kunstschönheit ist ein Formiertes und deshalb ein Produkt. Die dann folgende Überlegungen der Enzyklopädie (E 1817) bestimmen das Kunstwerk und den Künstler und ebenso wie das erste durch den Künstler als den eigenen Geist des Volkes (oder der Substanz), der als 5
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Gegenüber den Nürnberger enzyklopädischen Vorlesungen ist dieser Programm-Vorschlag ganz neu. Man kann fast vermuten, dass er im Hinblick auf die Entfaltung des absoluten Geistes als eines eigenständigen Themas mit eigenen, auszuarbeitenden Bestimmungen entworfen worden ist. Man könnte den zitierten Paragraphen auch so lesen, als ob diese Vermittlung nur angedeutet und vorausgesetzt würde, aber im Begriff der Kunst, wie der Religion, wird je der erste, anfängliche Begriff von dieser Wiederholung konstituiert. Auf die Probleme des Verhältnisses des Selbstbewusstseins des Geistes und des Begriffs der Schönheit macht auch aufmerksam W. Jaeschke, Hegel-Handbuch. Stuttgart 2003, 422ff.
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Geist angeschaut werden muss, in einem Kult gefeiert wird, sodass es allgemeines Wissen hergibt. Obwohl das Kunstwerk in Beziehung auf den Volksgeist steht, so wird es doch substantiell bezogen auf Gott. Das Werk ist zwar spezifisch und von Subjekten hervorgebracht, dies Werk hat eine geistige Existenz, oder es hat die Bedeutung des Geistes eines Volkes. Oder der wahrhafte Inhalt der Kunst ist ein besonderer Volksgeist, der ja als Substanz immer angenommen und jetzt gedeutet wird. Der Künstler gehört zur untergeordneten Aktivität der Form; er ist selbst nicht die Formtätigkeit, die zum Geist selbst gehört. Das Werk ist nur dann Kunstwerk, wenn es ohne die Besonderheit, ja aus der Aufopferung der Partikularität des Künstlers gestaltet wird. Das Genie ist deshalb reine Produktion ohne eigene, besondere Manier. Das Werk stellt die Substanz des anschauend-vorstellenden Subjekts dar und wird von jedem Subjekt als sein aufgenommenes Werk angeschaut. Was damit anschaubar ist, wird als substantielle Identität des Geistes in Kultus, Andacht, Begeisterung und Genuss auf- und angenommen. Solche Bestimmung (E 1817, § 463) scheint spezifisch-religiös zu sein, aber sie gehört zur Gliederung überhaupt des Geistes, der sich selbst fasst: vor und in diesem Werk feiert das Publikum sich. Nur wenn der Geist des Volkes erscheint und er sich selbst in dem Wissen (an)erkennt, sich also feiert, ist ein für die Gemeinde gültiges Kunstwerk da. Mit diesem Vollzug wird das erst innerliche Bewusstsein der Substanz zum allgemeinen und ins Dasein getretenen offenbaren Wissen; der Geist ist für den Geist erschienen. Und diese Erscheinung ist das Sich-Offenbaren des Geistes in der Weltgeschichte, in der der Geist die ihm eigene Endlichkeit aufhebt. Spezifisch ist dabei erneut, wie die Geschichte die Gestalt des Schönen bestimmt. Nicht die eigene Logik oder der eigene Vollzug des absoluten Geistes, sondern die Entwicklung der Weltgeschichte bestimmt die Entfaltung desselben Geistes. Insgesamt, nicht nur die Stelle des Schönen als Vermittlung, sondern auch die weitere Erhebung der Kunst in die Religion, oder die gesamte Entwicklung des absoluten Geistes werden von der Weltgeschichte abhängig. Was geben dazu die Vorlesungen her? Haben sie die gleiche Probleme beim Anschluss ihrer Thematik an den Bereich des absoluten Geistes und bei der Entfaltung desselben?
2. Die Funktion und Bedeutung der Einleitungen in den Vorlesungen7 In den Vorlesungen, die ein eigenes, spezifisches Thema haben, i.c. die Kunst, fängt Hegel vom ‘natürlichen’ oder vorstellungsmäßigen Wissen um die Kunst 7
Vgl. zu den Vorlesungen A. Gethmann-Siefert, Die Funktion der Kunst in der Geschichte. Bonn, 1984; dies., „Ästhetik oder Philosophie der Kunst?“ In: Hegel-Studien 1991, 92-110 und die „Einleitungen“ in den Edition der „Nachschriften“ Hotho, Kehler und Pfordten.
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an,8 weil dies auch außer der Philosophie bestimmt wird. Das erste Problem ist, ob und wie es eine Philosophie der Kunst geben kann, was ja in einer Enzyklopädie oder einem Grundriss der Grundbegriffe nicht untersucht werden muss. Die Vorlesung 1820/219 setzt sich die philosophische Erklärung der Kunst zum Ziel, die keine Theorie der Kunst ist, weil diese bloß Regel zur Verfertigung oder zur Beurteilung der vorhandenen Kunstwerke vorschreiben möchte. Nachher folgt ein historischer, von Kant ausgehender Begriff der Kunst, der zuletzt – behauptend – das Schöne und Wahre mit dem Göttlichen identifiziert: Die Darstellung der Entsprechung heißt Kunst, insofern sie den erreichten „absoluten Begriff der sinnlichen Anschauung durch ein sinnliches Material dar[stellt]“ (Ascheberg, 35). So wird ein philosophischer Begriff affirmiert, in den das Thema der Wahrheitsvermittlung durch eine unausgewiesene Hinzunahme von Begriffen, wie ‘göttlich’ und ‘absoluten Begriff ’, fast hineingeschmuggelt wird, sofern ja Kunst, Religion und Philosophie zu einander gehören. Im Vorlesungszyklus des Jahres 1823 begegnet Hegel dem Argument, dass Kunst kein Objekt einer wissenschaftlichen, philosophischen Untersuchung sei, weil die Kunst nur Schein zeige. Dagegen entwickelt er eine solche Auffassung des Scheines, die eine Philosophie der Kunst dennoch ermöglicht. Im Anschluss entwickelt er regressiv eine Auffassung der Kunst aus vorgegebenen, zu kritisierenden Vorstellungen. Zuletzt entfaltet er einen vorläufigen Begriff der Kunst: der wahre Endzweck des Kunstwerks besteht darin, „die Wahrheit zu enthüllen, vorzustellen,..., und zwar auf bildliche, konkrete Weise“ (Hotho, 30), aber auch hier ist nach Hegel der Zweckgedanke noch Etwas Schiefes und Unzureichendes. In entlehnender Weise erhält die Kunst – zusammen mit der Religion – in Beziehung auf die endgültige Wahrheit ihre eigene Stelle. 1826 entfaltet Hegel Meinungen oder Vorstellungen über Kunst, die in ihrer kritischen Ablehnung auf die wahrhafte Bedeutung derselben auf regressive Weise hinweisen. Unzureichend sind die Vorschläge, die Kunst sei Darstellung und Nachahmung der Natur, sie biete die Reinigung der Gefühle, sie stelle den moralischen Endzweck dar und sie habe mit Ironie oder mit Schein zu tun. Gegen den Schein der Unbedeutendheit der Kunst muss die Philosophie die Idee selbst enthalten und entfalten, die für die Kunst als der Geist an und für sich in einer spezifischen Bestimmtheit zu fassen ist. Dieser ist der absolute Geist, in dem alle Standpunkte als in ihre Wahrheit zurückgehen. So ist die Idee oder das Absolute in der Kunst, wie in der Religion und Philosophie (Kehler, 24). 8
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Leider gibt es keine Zeugnisse der Ästhetikvorlesung 1818, die uns über Ansatz und Inhalt der ersten ausgearbeiteten Kunstvorlesung aufklären könnte. Die Heidelberger Vorlesung könnte aufklären, wie Hegel diese zugleich als Vorlesung zum absoluten Geist überhaupt ausgestaltet hatte. Der Text der Vorlesungen 1820/21 ist alles andere als klar gegliedert. Nur weil wir die Heidelberger Ästhetikvorlesung nicht besitzen, und Hegel – wenigstens nach Hotho – 1820 eine neue Vorlesungskonzeption entwickelt, ist diese Vorlesung als Basis der Auseinandersetzung zu betrachten.
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Insgesamt geht es in den Einleitungen um die Auszeichnung der Ästhetik als Kunstphilosophie, die – obwohl von Vorstellungen ausgehend – doch in kritisch aufnehmendem Gegensatz zu diesen Vorstellungen den ihr eigenen philosophischen Begriff der Kunst aufsuchen möchte. Die Einleitung zeigt aber keine positive Vermittlung vom ‘natürlichen’ Bewusstsein der Kunst mit der Philosophie der Kunst, sondern nur die unzureichende, aporetische Reflexion der Notwendigkeit einer Übernahme der begrifflichen Bestimmtheit aus der Philosophie. Mit diesem Befund wird klar, wie das in sich problematische, natürliche Kunstbewusstsein nicht aus sich philosophisch denken kann. Zu einem spezifischen Thema oder Gegenstand in philosophisch zureichenden Begrifflichkeit kann es nur dann kommen, wenn ein solcher spezifischer Begriff vernünftig und dies heißt in der Darstellung der Philosophie selbst überzeugend ausgemacht werden kann. Die Einleitungen reflektieren damit die schrittweise Erreichung der methodischen Klarheit der Hegelschen Kunstphilosophie, dass sie die Idee und Geiststruktur der Schönheit oder des Ideals als Lemma in ihrer Differenz gegen das Kunstbewusstsein anzunehmen hat.
3. Der Begriff der Kunst in den Vorlesungen10 Hegel bietet im allgemeinen Teil der Vorlesungen eine philosophische Grundlegung der Kunstphilosophie. Das Programm im Begriff der Vorlesungen versucht deshalb einen eigenständigen, philosophischen Begriff des Kunstschönen zu behaupten, der sich an den vorgegebenen ‘enzyklopädischen’ programmatischen Bestimmungen anzuschließen hat,11 wodurch die Spezifizierung des absoluten Geistes als Kunst sich als Problem herausstellt. a. Im Vortrag des Jahres 1820/21 (Ascheberg) wird der Begriff des Schönen als zu begreifendes oder als Idee vorausgesetzt oder affirmiert (Ascheberg, 47). Das Schöne ist die Darstellung des Wahren in der äußerlichen Existenz, aber eines spezifisch Wahren, der Begriff oder Gott kommt dabei zum Scheinen (Ascheberg, 49). Nach dieser ersten Bestimmung wird das Verhältnis des Geistes zum Schönen erläutert. Das Schöne wird weder theoretisch noch praktisch gefasst, es ist selbst die Freiheit der Subjektivität und Objektivität, des Begriffs und der Realität: so ist es eine wahre Idee, die über Kants Bestimmung der Schönheit hinausgeht. Mit dieser teilweisen Wiederholung der Geistesphilosophie versucht Hegel in dieser Vorlesung 1820/21 von dem aufgenommenen Begriff aus, der die ‘höhere’ Lebendigkeit dem Ideal zuerkennt, die Aufgabe des enzyklopädi10
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Über die Problematik des begrifflichen Ausweises findet sich – leider – nichts in St. Houlgate (ed), Hegel and the Arts. Evanston 2007. Die Logik führt diese Bestimmungen nebenbei vor (GW 12, 236 und 180-1), sowie die Enzyklopädie: Kunstwerke können ja nicht der Lebendigkeit der Natur nachgesetzt werden…. Als ob die geistige Form nicht eine höhere Lebendigkeit enthielte, ..., als die natürliche Form (E 1817, § 194 A, meine Kursivierung).
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schen Programms auszuführen. Der Beweis der Bedeutung des Ideals ist ja gerade die Vermittlung des Geistes in Beziehung auf die Natur und sich selbst. Schönes ist da, wo ein freies Verhältnis zum Gegenstand erreicht wird und wo dieser Gegenstand auch mein oder unser Wesen ist (Ascheberg, 53-54). Hegel versucht damit zwar eine wiederholende Rekonstruktion des Geistes, um einen (spezifischen) Inhalt der Schönheit oder Kunst zu erreichen. Solche Ausführung ist aber insofern bedrohend, als der absolute Geist in seiner Explikation in eine endlose Spiral tritt, die eintritt, wenn der spezifische Begriff des absoluten Geistes sich als sich wiederholt.12 Die erneuerte Fassung des freien Schönen als Ideal erreicht zwar die vorausgegangene Definition, sofern es die Wahrheitsvermittlung wiederholt, aber die programmatische Rekonstruktion misslingt, sofern nur die Darstellung der Wahrheit oder der Idee geleistet wird, und nicht die Schönheit daraus legitimiert wird. Dies zeigt sich, wo die Natur oder das Lebendige, so im ‘Unterschied zwischen Natur- und Kunstschönen’, ja selbst schön genannt wird (Ascheberg, 65); denn sie oder es ist die durch den Begriff belebte, beseelte Körperlichkeit. Gegen diese allgemeine, aber sich im Tod verfehlende Schönheit, ist die Kunst wichtiger; sie umgreift, so wird einfach behauptet, auch die Geschichte als Negation der Natur; sie nimmt das Wahre ebenso aus der Geschichte heraus. Schönheit schließt sich so zwar an den programmatischen Begriff des absoluten Geistes an, aber die Gestalt der Schönheit folgt aus einen eigenen, nicht aufgezeigten, von undeutlichen Quellen hergenommenen Begriff der Schönheit, der sich aus Distanz zum vorgestellten Naturschönen und nur behauptend als Spezifikation der Selbstdeutung des Geistes eruiert. Das Kunstschöne kann also nur Ideal sein, ein freies Schönes (Ascheberg 68). Erst dann kann das Ideal in seiner eigenen Form behauptet werden, wenn es sich begrifflich nicht mehr gegen die Natur und den endlichen Geist gestaltet, sondern es sich begrifflich als sich selbst aus der freien Distanz gestaltet. Diese Gestaltung zeigt die eigene Gestalt, deren Herkunft nicht aus dem absoluten Geist selbst, oder dem sich wiederholenden Geist, sondern aus dem Begriff der Schönheit hervortritt. Zugleich sind Schönheit und absoluter Geist über ihre Wahrheitsvermittlung doch auf einander bezogen, aber die genaue Beziehung wird nicht ausdrücklich ausgearbeitet; sie ist dennoch als Selbsterfassung des Wesens und in dem behaupteten Umgreifen der Geschichte angedeutet. Die Gestalt der Kunst wiederholt das rein begriffliche Ideal: das Wahre der Schönheit ist zugleich Geistiges und beruht so auf sich im Dasein. Dies geschieht als gezeigtes Werk. Denn, weil das Geistige Aktivität ist, entsteht ein Prozess des Handeln des Geistes. Das Allgemeine der Handlung ist ein substantiell Sittliches; die handelnden Individuen sind Träger ihrer ganzen sub12
Das Argument ist in der Kunstvorlesung ein ähnliches wie bei der Vorlesung der Religion, aber kein gleiches: wo das erreichte All nicht ausreicht, um den Geist der Religion zu kennzeichnen (vgl. W. Jaeschke Die Vernunft in der Religion, Stuttgart-Bad Cannstatt, 1986, 234ff, reicht bei der Kunst zwar das All oder die Substanz aus, aber es findet sich nicht in der Gestalt der Schönheit oder des Ideals wieder.
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stantiellen Welt. Alle Gestalten haben das Sittliche in ihnen selbst als Mächte oder Götter, ohne es subjektiv als Gesetz formell zu gestalten. Die innere Gestalt der Darstellung des Sittlichen macht also die wesentliche Individualität der Gestalten aus. Nun müssen in einem solchen Ideal, das vom Künstler auf objektive Weise produziert werden muss, alle einheimisch sein und bleiben, weil und sofern es als ihre Wahrheit betrachtet wird. Solche heroische Wahrheit aber entspricht nicht dem Wahrheitsverständnis eines nicht mehr heroischen, bürgerlichen Zeitalters. Deshalb scheitert die Erneuerung der Mythologie, die dann höchstens als Schmuck gilt. Das Ideal ist also zwar ein hohes Vernünftiges, aber nicht das Höchste (Ascheberg 100), weil wir es nicht mehr Ernst nehmen. Gerade aus dem Wahrheitsverständnis entsteht eine Pointe, die erst in E³ definitiv übernommen wird, obwohl sie von der Andacht und dem Kultus her – ohne ihre Differenzierung – doch schon in E nahegelegt wurde: Die Kunstformen, die symbolische, klassische und romantische Kunst, werden als Verhältnisse der je auf verschiedene Weise gelungenen Entsprechung des Begriffs der Kunst und der sich auf ihn beziehenden Realität aufgefasst. Dabei entsteht bloß die darstellungsmäßige Frage, wie die gesondert vorgeführten Kunstformen sich an das Ideal anschließen? Sind sie wesentlich die befreiende Singularisierung des Kunstschönen? In dieser Bedeutung ergeben sie die wahre Entsprechung vom Begriff der Kunst, vom Ideal des ‘absoluten’ Geistes, und der Realität der künstlerischen Betätigung: so ist die sich feiernde Gemeinschaft die höchste künstlerische Leistung einer sich als Ideal verstehenden Polis möglich. Wie diese Leistungen aber im Einzelnen dargestellt werden, gehört nicht zum engen Begriff der Kunst, und das bloße Darstellungsproblem wird sich erst in der letzten Vorlesung anders stellen. b. Hotho (1823) bestimmt das Schöne gleich als Idee oder Wahrheit: Die Idee als Lebendigkeit kann schon Schönes aufweisen. Dabei versucht Hegel aber die Schönheit der Kunst als die eigentliche aus der Differenz mit der bloßen Lebendigkeit zu gewinnen, wobei nur der Wahrheitsanspruch, aber nicht die spezifische Bedeutung des absoluten Geistes erweisend gewonnen wird. Sofern das organische Leben schon eine subjektive Einheit und eine Seele zeigt, bietet es für uns eine sinnvolle Anschauung (vgl. Hotho 53/60). Deshalb kann das Natürliche zwar als schön betrachtet werden, aber es zeigt eine Mangelhaftigkeit, weil die Seele nicht am Organischen hervor tritt und der Begriff im Leben für uns und nur für uns als Eins oder Ganzes besteht, weshalb dem Lebendigen keine selbständige Lebendigkeit zugrunde liegt. Die einzelne natürliche Lebendigkeit ist ja keine geistige Lebendigkeit. Die eigentliche Schönheit ist dagegen das Ideal oder das Kunstschöne (Hotho 63)13. Die Seele der Kunst ist die Unendlichkeit des Geistes, dasjenige, das der Rückkehr zu sich selbst und zur Freiheit zeigt (Hotho 80). Die Natur des Ideals besteht dar13
Vgl. G.W.F. Hegel, Esthétique. Cahier de notes inédit de Victor Cousin, éd. A.P. Olivier. Paris, 2005, 58-59.
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in, dass das äußerliche Dasein als dem Begriff gemäß gesetzt, und so zum Geist zurückgeführt wird, wobei ‘nur’ bis zum Mittelpunkt der individuellen Subjektivität fortgegangen wird (Hotho 81). Das Ideal ist ein Geistiges; der Geist selbst ist im Andern auf sich beruhend und frei, auf diese Weise sich freuend und bei sich bleibend. Dieses Ideal nun ist daseiend darzustellen (Hotho 82ff). Einerseits geht das Ideal von einem objektiven Zustand der endlichen Welt aus. Gegen eine situationelle Verletzung zeigt die Handlung die Wiederherstellung der sittlichen und religiösen Verhältnisse. Durch dies menschliche Handeln wird also das Ganze der Götterwelt dargestellt, welche nicht ohne Endlichkeit ist, aber das als heitere Freiheit gestaltet bleibt. Mit dieser Götterwelt, die das Substantielle des Geistes ausdrückt, ist zwar eine Geistigkeit als Unendlichkeit für die Kunst eingeholt, die gleich spezifiziert worden ist; das genaue Verhältnis zur Religion oder zum absoluten Geist ist noch nicht geklärt, sofern die Idee wirklich zu unspezifisch bleibt und die Differenz des Schönen gegen die Natur noch immer eine bestimmte, obwohl schon spezifizierte Natürlichkeit grundlos zu setzen scheint. Aber diese heitere Freiheit bezieht sich auch auf uns, die darin noch gegenwärtig sein müssen. Dies geschieht, sofern substantielle Interessen zugrunde liegen, denn dann wird das Sittliche oder Menschliche des Geistes ausgesprochen. In der Darstellung aber bleibt ein Fremdes; gerade diese Seite ist das Sterbliche der Kunst, wodurch fremde Situationen und Handlungen nicht auf wahrhafte Weise, in Wahrheit, darzustellen sind.14 c. In der Idee der Kunstschönheit behauptet die Vorlesung 1826 ohne Weiteres die Zugehörigkeit der Kunst zum absoluten Geist. Diese Ausführung ist eine Sonderleistung dieser Vorlesung, die damit reflektiert oder gezielt die Argumentation aus einer Form der E vorführt, die die Grundlegung in ihrer Bedeutung annimmt und sie zu verbessern sucht. Die Kunst ist das anschauende Bewusstsein von der Wahrheit in sinnlicher, unmittelbarer Gestaltung (Kehler 33). Der Beweis, dass die Kunst zum absoluten Geist gehört, ist nicht innerhalb des Begriffs der Kunst oder des unmittelbaren Fassens des absoluten Geistes zu erneuern, sondern er wird an dieser Stelle aus dem vorherigen Gang der Philosophie vorausgesetzt. Dieser Beweis einer Fassung des absoluten Geistes kann als Lemma eingeführt werden; Kunst gehört zur höchsten Sphäre: der Geist ist es selbst, der sich in sich unterscheidet als Bewusstsein seiner selbst; die Seite des Bewusstseins, die Trennung der Subjektivität ist dann der endliche Geist, der absolute Geist ist selbst nicht Gott, sondern ein solcher, der als absoluter Geist in der Gemeinde der Geister gewusst wird. So ergeben sich Formunterschiede der Kunst, Religion und Philosophie (Kehler 32-33). Die gewusste Idee ist in der Kunst Ideal und darin ist sie in ihrer Existenz (Kehler 34). Diese Idee ist wirklich, und ihre Wirklichkeit entspricht ih14
Es fragt sich dabei doch, ob gerade die Kunstformen (symbolische, klassische und romantische) nicht die genaue wirkliche Ausarbeitung liefern des Verhältnisses dieses immer noch begrifflichen Ideals zu seiner noch zu leistenden Darstellung?
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rem Begriff. Wenn sie dem Begriff nicht entsprechend wäre, wäre sie bloße Erscheinung. Die Idee ist eine konkret gemachte und zu machende Einheit solcher unterschiedenen Bestimmungen, die obwohl außer der Einheit des in sich komplexen Begriffs sich ergebend, doch bloß den Begriff des Geistes realisieren. Damit entspricht die Realität diesem Begriff; oder eine bestimmte Realität kann philosophisch nur als Singularisierung eines bestimmten Begriffs gefaßt werden, obwohl die Realität desselben für andere Formen als das Denken, nämlich für die Anschauung oder die Vorstellung, eben notwendig zugänglich ist. Wahr ist nur die Idee, weil sie aus sich begrifflich ihre eigene Singularisierung leistet, sodass die Formen der wissenden Idee immer (eindeutig) singularisierte oder sich entsprechende sind. Die Realität zur Idee des Lebens gehörend (vgl. Kehler 35) ist die erscheinende Realität, in der Realität, Negation der Realität und Realität unter dem Begriff unterworfen ist, sodass der Begriff als Seele derselben ist. Die Idee des Tieres ist vom Ideal so verschieden, dass die Weise der Realität des Tiers unter der Herrschaft des Begriffs bleibt. Das existierende Ideal ist solches Leben, das vom freien Geist hervorgebracht wird, sodass das ‘Scheinen des Begriffs’ frei ist vom Scheinen des Anderen oder Äußerlichen (vgl. Kehler 37). Der Künstler macht die Idee selbst (er)scheinen an der Realität. Mit diesen letzten Bestimmungen schließt die argumentative Erörterung der geistigen Lebendigkeit des Ideals: Die Realität oder Wirklichkeit der Kunst ist so, dass sie weder Natur ist, noch zu technischer Leistung reduziert werden kann, sondern die Unreduzierbarkeit selbst der künstlerischen Idee als Leben darin anschaubar wird. Die Spezifizität der Kunst wird gesichert durch die Abhebung dieses eigenständigen Begriffs von anderen Formen gleichartiger Bestimmtheit. Kennzeichnend für die Kunst ist ihre unmittelbar geistige Existenz, die nicht auf eine bloß logische Idee rückgeführt werden kann. Mit dieser Eigenart ist die philosophische Notwendigkeit des eigenständigen Kunstbegriffs aufgeführt, der kein bloßes Leben ist. Die Komponenten desselben, Leben, Unmittelbarkeit oder Existenz, und Geistigkeit oder Nicht-Leben, werden als Komponenten der sich wissenden Idee der Kunst selbst vorgeführt. Aus dieser doppelten Möglichkeit behauptet Hegel die gesicherte Eigenart des Ideals oder der Kunstschönheit. Dies Leben ist zwar notwendig, aber nicht ausreichend zur Wesensfassung des absoluten Geistes, der sich erst so als absolute, obzwar in der Form eines unmittelbar mit einem Volk verbundenen Geistes deutet. Die spezifische, gesicherte Umschreibung selbst bestimmt dann aus sich die konstitutiven Momente des Ideals: die abstrakt allgemeine Handlung der geistigen Mächte und den abstrakt besonderen Künstler, die aber nur in dem Vollzug der Anschauung und einfachen Vorstellung zu sich finden. Nach dieser ersten begrifflich gegliederten Darstellung des Ideals wird das Ideal nach den – dabei vorerst unterbestimmten – Seiten der Idee ausgeführt. Das Kunstschöne ist einerseits in seiner
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Objektivität,15 und subjektiv andererseits. Die Fassung der beiden Momente als Momente desselben Gedankens ist in dieser Form neu. Das Ideal ist aber weder Objektivität, die subjektiv wird, noch Subjektivität, die die Objektivität der Darstellung erreicht, sondern Eine spezifische Gestalt, die erst bei den Kunstformen, ausgeführt wird. Die beiden letzten, scheinbar gesonderten Elemente finden in dem Vollzug der Anschauung eines Volksgeistes oder einer Gemeinde oder am gedeuteten Werk zu sich. Die Kunstformen und nur sie sind die geeignete Singularisierung des spekulativen Begriffs der Kunst, der sich für die aus dem Begriff gestaltete, geschichtlich geformte Anschauung der sich darin wesentlich deutenden Gemeinde aufzeigt.16 Damit ist die Vor- und Nachgeschichte als eigene Gestaltung der Andacht oder Betrachtung und des künstlerischen Kultus ermöglicht. d. Der Begriff der Kunst entfaltet, so kann man zusammenfassen, die Idee des Wahren in ihrer unmittelbaren wissenden Existenz; er wird definiert, sichert seine Notwendigkeit als Wahrheit in der gewussten Form der Wahrheit als spezifische Form in Beziehung auf den absoluten Geist, der sich selbst fasst; und er erhält seine Realität im Vollzug seines unmittelbaren Wissens um sich. Die Nachschrift des Jahres 1826 setzt die Kunst als Gestalt des absoluten Geistes und entfaltet ihre spezifische Form als daseiende, nicht-logische Idee. Die spekulative Begriffsentfaltung entwickelt die entworfene Konzeption, dass der absolute Geist sich deutend zu sich als zu seinem Wesen oder zur Substanz verhält. Diese Konzeption ist aus der enzyklopädischen Fassung von 1817entstanden und lemmatisch, vorausweisend auf diejenige von 1827, mit ihr verwoben.
4. Enzyklopädie² (1827) In E² zieht Hegel Konsequenzen aus der Darstellung der Vorlesungen und stellt sicher, dass die Vorlesungen weiter oder wieder systematisch eingegliedert werden können!17 Mit der Beseitigung der Wiederholung der Vermittlung 15
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Man erhält also das Schema der Enzyklopädie: Das Ideal als spezifischer Begriff, die objektivierte Fassung desselben einerseits und der Künstler andererseits, wonach dann die geschichtliche oder Gemeinde-prägende singularisierende Form sich ergibt. Wenn diese Deutung stimmt, dann ist jede Innen-Außen oder Form-Inhalt-Interpretation im Bereich der Kunstformen obsolet geworden, wie sie von Pippin (stellvertretend für eine ganze auf Hotho sich stützende Tradition) noch behauptet wird (vgl. R. Pippin, „The Absence of Aethetics in Hegel’s Aesthetics“. In: F. Beiser (ed), The Cambridge Companion to Hegel and Nineteenth-Century Philosophy, Cambridge 2008, 412) oder ebenso von B. Rutter, Hegel on the Modern Arts, Cambridge, 2010, 51 und 86ff. Der besondere Teil (1820 bis 1826) oder der spätere Teil der Individualität (1828/29) führt dann die für sich seiende Vereinzelung oder die weitere, empirisch-sinnliche Besonderung der grundlegenden Formen der Anschauung in Beziehung auf das Material bzw. die Sinne aus. Kunst ist Weltdeutung; wobei das Ideal konstitutiv ist, das Werk ergibt die Form des Wissens als Wissens um sich und Realisation des Geistes in Einem, vgl. dazu A. Gethmann-Siefert,
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und die neue Anfangskonstellation der Schönheit, werden die Resultate der Vorlesungen eingebaut. Einerseits wird das Ideal nur auf das Schöne bezogen, oder es ist die grundlegende Bestimmtheit derselben, wie es in den Vorlesungen erreicht worden ist; es ist gleich die unmittelbare Gestalt des Wissens des Geistes um sich, das sich daran nicht zu wiederholen hat. – Wie die Kunst als Leben gedacht wird, scheint aber nirgendwo ausdrücklich vorhanden; nur in der Diskussion um ihre Unmittelbarkeit als natürliche (E² §§ 556-557) kann ein Hinweis auf das ‘Leben Gottes’ gelesen werden, welche in einer weit vorhergehenden und zeitlich schon früheren Anmerkung eine Bestätigung findet, dass die Kunst eine höhere Lebendigkeit als die Natur erreicht (§ E §194 A; E² § 248A); und eine sich darauf stützende Präzisierung wird dann in E³ §558 vollzogen werden, die erst dann – 1830 – die Resultate aus der Diskussion um die Formen der Lebendigkeit in den Vorlesungen zieht. Die Kunstvorlesung 1828/29 schließt sich dabei an die Ergebnisse der E²; sie verbindet Ideal und Leben oder Unmittelbarkeit des absoluten Geistes, was von der E² aus festgeschrieben worden ist. Das Ideal ist aus dem Geist geboren,18 vom Menschen hervorgebracht. Das Ideal ist der Geist, der das Ideal aus der natürlichen Befangenheit befreit. Mit der Heiterkeit des Idealen in sich, das sich dann erst und von ihm aus auf die Natur und ihre mögliche Schönheit bezieht, kann zugleich Ideal und Nicht-Ideal bestimmt werden. Das Kunstwerk erhält eine vernünftige Darstellung aus dem Geist: Das Leben Gottes und das Schöne sind eins und dasselbe. So wird die Kunst zugleich als Stufe des absoluten Geistes betrachtet und als absolutes Leben festgelegt, das noch nicht für sich, d.h. noch nicht als Geist für den Geist ist.19 Andererseits beseitigt E² mit ihrer Stringenz bezüglich des Ideals das Problem, wie die Kunstschönheit aus Denken und Sein hervorgeht, obwohl die Schönheit in religiöser Hinsicht noch mit einer solchen Entwicklung in Zukunft und Vergangenheit (E² § 561) behaftet bleibt. Die mit diesem Problem zusammenhängende Ausgrenzung der Kunstformen aus dem allgemeinen Begriff der Kunst und ihre Aufnahme in den enzyklopädischen Begriff ist die einzige wichtige Evolution in der letzten Vorlesung und der E³. Erst 1830 erfolgt die Betonung, wie die Formen gerade der Vollzug selbst des Ideals sind,
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„Die Kunst“. In: H. Drüe u.a.(Hrsg.), Hegels ‘Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften’ (1830), Frankfurt a.M. 2000, 331ff.. Diese Formel ist dem enzyklopädischen Duktus entnommen, aber hier wird er als Lemma für sich eingeführt, und in Hinblick auf ein Ganzes ausgeführt; ‘geboren’ gehört dem Leben, ‘hervorgebracht’ dem Handeln.. In dieser Vorlesung ergibt sich eine Diskontinuität gegenüber dem vorhergehenden Begriff der Kunst. Die Besonderungen oder die Gestalten des Ideals, die sogenannten Kunstformen, werden jetzt aus dem Begriff ausgegliedert und zu einem besonderen Moment, was in der E³ dann zur Aufnahme dieser Partie in den grundlegenden Begriff führt. Ob dies von einer endgültigen Distanz Schelling gegenüber herstammt oder von einer Durchführung der Triplizität ist nicht ohne Weiteres zu entscheiden.
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obwohl sie dann gesondert in den Vorlesungen vorgeführt werden.20 Dass auch die Restrukturierung der vor-schönen Stufen aus dem Kunstbegriff selbst eingebaut werden kann, wird die zusätzliche Leistung der E³ sein. Nicht mehr die Geschichte bestimmt dann die Formen der Religion überhaupt, sondern die Entwicklung der Substantialität der Religion im Kultus bestimmt die Weltgeschichte (E³ § 562A). Weil der Hauptbegriff des Ideals seine eigene Bedeutung innerhalb des Bereiches des absoluten Geistes und nur in ihm hat, zeigt sich die Grundlegung der Kunst in der jeweiligen Fassung der Enzyklopädie als notwendig und wird diese so umgearbeitet, dass er als zureichend für die Ausarbeitung eines Ganzen betrachtet werden kann. Gerade die Ausarbeitung einer Eigenbedeutung, die von Begriff des absoluten Geistes in einer spezifischen Sonderform abgedeckt werden muss, ist nicht einfach unter den Gedanken Gottes und dessen Religion zu fassen; zugleich aber gehört die Kunst zur Endgestalt des Geistes, der eine in und mit der Geschichte auftretende, über die Zeit hinweg gehende Deutung des objektiv Geistigen, des Politischen und Weltgeschichtlichen, leistet. Aus dem lemmatisch übernommenen Begriff des Ideals, als existierende, nicht logische, sondern geistige oder wissende Idee, gelingt es der Kunstvorlesung die eigenständige Ganzheit der eigenen Idee in Anschluss an den enzyklopädischen Begriff zu begreifen. Die Stufe der Kunst als Kunst ist auf diese Weise die ‘Anschaubarkeit’ der Lebendigkeit der Idee des Geistes selbst.
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Die Tatsache, dass die Gattungen nie in die Enzyklopädie aufgenommen werden (gegen den Befund in Nürnberg), zeigt vielleicht doch, dass sie einen anderen Status als eine singularisierende Durchführung haben.
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Würde die zeitgenössische Kunst Schlegel und Hegel gefallen? Kind-Puppen, die von Maurizio Cattelan an einer Eiche erhängt wurden, Haie aus Formaldehyd, denen Damien Hirst Ewigkeit verliehen hat, Speisereste auf den Fotos von Cindy Sherman, riesige Reiben von Mona Hatoum, blutige, von Marina Abramovic stundenlang gewaschene Knochenhaufen – es klingt wie ein schrecklicher Albtraum oder wie Szenen aus einem Horrorfilm, aber es handelt sich stattdessen um einige der bekanntesten Kunstwerke aus den letzten Jahren. Wenn der Künstler immer Interpret seiner Zeit ist und sich nicht aus deren Maschen befreien kann, dann spiegeln diese beunruhigenden, Angst erregenden Werke, die den Betrachter beeindrucken, bestürzen und betäuben, die Widersprüche und die Neurosen unserer Gesellschaft, die sich gleichzeitig globalisiert und isoliert. Der finnische Künstler Jani Leinonen, der die Pappstücke sammelt und einrahmt, die den gleichgültigen Passanten von Bettlern in aller Welt vorgehalten werden und in verschiedenen Sprachen letztlich mit denselben Worten um Hilfe und Unterstützung bitten, drückt auf die beste Weise die Einsamkeit und das innere Unbehagen der vielen Ausgegrenzten einer scheinbar globalisierten Gesellschaft aus, in der ganz sicher die Rechte und das Glück nicht global sind.1 In einem Werk wie Coulrophobia zeigt Leinonen die Angst und die Verzagtheit eines Clowns, der niemanden findet, der ihn zum Lachen bringt oder sich um ihn kümmert, und deshalb beschließt, sich aufzuhängen, nachdem er in jene „innere Wüste“ geglitten ist, von der der polnische Soziologe Zygmunt Bauman ausführlich schreibt. Zahlreiche Hegelforscher sind der Meinung, Hegel habe in seiner Ästhetik mit der Diagnose vom Ende der Kunst die künstlerische Dekadenz unserer Zeit vorhergesagt, eine Zeit, die versucht, einen Leichnam, von dem nur wenige Knochen übrig sind, auszugraben. Daraus würde sich ergeben, dass Hegel in den Augen der verbissensten Anhänger der Banalisierung des Todes der Kunst angesichts der künstlerischen Gespenster unserer Tage nur entsetzt sein könnte, andererseits aber auch Genugtuung empfinden würde über die Bestätigung seiner verhängnisvollen Hypothesen zur Zukunft der Kunst. Wenn man jedoch die Hörer-Mitschriften der vier Berliner Vorlesungen Hegels vom WS 1820-21 bis zum WS 1828-29 analysiert, kann man feststellen, dass Hegel in Bezug auf die Fruchtbarkeit und den künstlerischen Wert des Kunstschaffens seiner Zeit weder so systematisch, noch so pessimistisch war, wie es voreilig 1
„The term globalization is a trap because it masks rather than reveals present reality and is convenient shorthand for de facto exclusion.“ Susan George, „Globalizing Rights“. In: Gibney (Ed.), Globalizing Rights. The Oxford Amnesty Lectures 1999. New York 2003, 16.
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immer unterstellt wird.2 Es ist jedenfalls schwierig, eine präzise und gründliche Antwort auf die Frage zu finden, ob ihm die Kunst unserer Zeit hätte gefallen können. Mit Sicherheit lässt sich beobachten, wie sehr den Künstlern des 20. und 21. Jahrhunderts die Philosophie und die Figur des Philosophen aus Stuttgart zusagt und in ihnen weiterhin ein gewisses Interesse weckt. Man denke zum Beispiel an das Gemälde Les vacances de Hegel von Magritte aus dem Jahr 1958, das in der Galerie Isy Brachot in Brüssel ausgestellt war: Ein Glas Wasser steht auf einem aufgespannten Schirm, fast als ob nach dem dialektischen Rhythmus der Gesamtheit des malerischen Werks die Prozesse, in denen ein und dasselbe Element empfangen und abgewiesen werden, vereint werden sollten. Der Liedermacher Lucio Battisti widmete 1994 Tübingen ein Lied und Hegel ein ganzes Album, das letzte vor seinem Tod 1998, dem Jahr, in dem der englische Konzeptkünstler Cerith Wyn Evans seine Dream machine herstellte, eine drehbare Lampe, die neben zahlreichen Bildern auch das Gesicht Hegels zeigte. Zu seiner Zeit inspirierte Hegel weniger Kunstwerke, als dass er für die künftigen Generationen von Philosophen richtungsweisend war und auch einen gewissen Einfluss auf die Dichter ausübte, darunter auch Goethe, der erklärte, dass er sich von Hegels Philosophie gleichermaßen angezogen wie abgestoßen fühlte.3 Dennoch fehlen in einer in geistiger Hinsicht so fruchtbaren Zeit wie den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts, in der Deutschland auf den verschiedensten Gebieten Genies hervorbrachte,4 nicht die Stimmen von Zeitgenossen wie Felix Mendelssohn Bartholdy, die Hegel für einen widersprüchlichen Reaktionär hielten, der mit Worten den Tod der Kunst erklärte, während er durch halb Europa hetzte, um Kunstgalerien zu besuchen und Opernaufführungen beizuwohnen, wo immer sich die Gelegenheit bot. Sicher verlor Hegel nie das Interesse an der Kunst seiner Zeit, obwohl er davon überzeugt war, dass die ästhetische Erfahrung nicht mehr imstande sei, den Geist der Gegenwart und der Zukunft auf höchstem Niveau auszudrücken. Aber dann hat im Lauf des 20. Jahrhunderts der Geist das Werk immer mehr zersetzt, bis zur Entmaterialisierung, bis es rein mental wurde. Die unvermeidliche Trennung des Sinnlichen und Geistigen, die bezeichnend für die Unruhe in der romantischen Kunst war, wurde durch die Konzeptualisierung der Kunst des 20. Jahrhunderts überwunden, indem die Kunst nicht nur den Gedanken 2
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Zahlreiche Aufsätze haben dies in den letzten Jahren gezeigt, vgl. z.B. Gethmann-Siefert/ Collenberg-Plotnikov/de Vos (Hrsg.), Zwischen Philosophie und Kunstgeschichte. München 2008. Vgl. auch Franke/Gethmann-Siefert (Hrsg.), Kulturpolitik und Kunstgeschichte. Perspektiven der Hegelschen Ästhetik; Sonderheft des Jahrgangs 2005 der Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft. Hamburg 2005. Goethe sagt, dass Hegels Philosophie „mich übrigens anzieht und abstößt“. Vgl. Nicolin (Hrsg.), Hegel in Berichten seiner Zeitgenossen. Hamburg 1970, 431. Bekannt ist der Satz von Felix Mendelssohn Bartholdy: „Aber toll ist es doch, dass Goethe und Thorwaldsen leben, dass Beethoven erst vor ein paar Jahren gestorben ist und dass H[egel] behauptet, die deutsche Kunst sei mausetot.“ Nicolin (Hrsg.), Hegel in Berichten seiner Zeitgenossen. Hamburg 1970, 430.
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herausfordert – man denke an Duchamp –, sondern selbst zum Gedanken wurde. Die gedankliche Planung des Werks bildet seit den sechziger Jahren den Kern der künstlerischen Schöpfung, die sich mit dem Ende der Ausführung auflöst oder aber zeitlich sogar den Tod des Künstlers selbst überdauern, wie in dem außergewöhnlichen Fall des Waldes, der von Beuys für die 7. Documenta in Kassel im Jahr 1982 geplant und erst 1987 beendet wurde. Das Überdauern des Werks wird ungewiss und fließend. Das Werk kann vorübergehend sein, wie die Wall Drawings von Sol Lewitt, die nach der Ausstellung von den Wänden abgekratzt werden sollten, aber auch die Überwindung der Hinfälligkeit anstreben, wie Beuys es wollte mit der Kunstaktion 7000 Eichen Stadt Verwaldung anstatt Stadt Verwaltung, wofür er vorschlug, 7000 Basaltblöcke zu verkaufen, um ebenso viele Eichen zu pflanzen. Das Werk wurde nicht mehr ein für alle mal als festgelegt und ausgeführt betrachtet, sondern wurde, ausgehend von den Arbeiten Joseph Kosuths, eine geistige Aufgabe oder ein Projekt, das oft philosophischen Charakter annahm. Beispielhaft war die sowohl künstlerische als auch theoretische Aktion von Denis Oppenheim, der 1968 an der Grenze zwischen den Vereinigten Staaten und Kanada mit einem Motorschlitten zehn Minuten lang zwei parallele Spuren ins Eis gezeichnet hat. So entstand Time Line. Oppenheim wollte in den physischen Raum ein- und ihn durchdringen und damit zeigen, wie künstlich die Grenze zwischen zwei verschiedenen Zeitzonen ist. Diese Suche nach der Zeit jenseits der Künstlichkeit des menschlichen Eingriffs hätte Hegel sehr wahrscheinlich fasziniert. Im Schlusskapitel der Phänomenologie des Geistes, das dem absoluten Wissen gewidmet ist, legt der Philosoph das überwiegend dialektische Wesen der Zeitlichkeit dar, die das ist, was nicht ist, und nicht das ist, was ist.5 In dem Moment, wo Oppenheim durch den Schnee pflügte und seine Zeitlinie hinein zeichnete, empfand er seine Zeit, die ebenso auch etwas anderes ist und von anderen ist. Dieser in verschiedenen Zeitzonen gefühlte Moment brach in zwei verschiedene kulturelle Kontexte auf. Mit Hegel können wir sagen, dass der Geist Zeit ist, dass der Mensch Zeitlichkeit ist, eben diese Zeitlichkeit, die Oppenheim in den Schnee pflügt und damit das Nicht-Übereinstimmen der Zeit des Bewusstseins und der Zeit der Uhren enthüllt und im hegelschen Sinn nachweist, dass das Negative im Sinnlichen liegt. Es wirft sich dann die Frage auf, was Hegel wohl von der äußerst intellektuellen Produktion der amerikanischen und europäischen Land-Artists dächte, die einen wesentlichen Aspekt der hegelschen Ästhetik problematisieren, und zwar die schwierige Frage nach der Beziehung von Kunst, Mensch und Natur, die in den Berliner Vorlesungen regelmäßig wiederkehrte und zu der Schlussfolgerung führte, dass das Naturschöne nicht zum Gegenstand der ästhetischen Betrachtungen werden soll. Für Hegel ist Kunst in erster Linie Umwandlung und Vergeistigung des Natürlichen. Auch in der primitiven Geste der Tätowie5
Hegel, Phänomenologie des Geistes. In: Gesammelte Werke. Bd 9. Hrsg. von W. Bonsiepen und R. Heede. Hamburg 1980 (im Folgenden zitiert als GW 9), 430.
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rung sah Hegel einen Keim der Geistigkeit und eine paradoxe Form des ungewollt Künstlerischen. Der Mensch, der sich tätowiert, begnügt sich nicht damit, sich in der Einfachheit seines natürlichen Aussehens zu betrachten und betrachten zu lassen, er will sich verschönern und verwandeln, indem er seinem naturgegebenen Körper eine persönliche Note verleiht. Selbst die kindliche Geste, einen Stein auf einen Wasserspiegel zu werfen, auf dem sich dann konzentrische Kreise bilden, ist ein zaghafter und noch unsicherer Versuch, der natürlichen Umgebung einen persönlichen Zug zu verleihen. Eine ähnliche, wenn auch ungleich mehr beabsichtigte Zartheit in der Umwandlung des Natürlichen, kehrt in der fast mystisch angehauchten Beziehung der Environmental Artists unserer Tage wie Richard Long oder Andy Goldsworthy mit einer in ihrer sublimen Heiligkeit wahrgenommenen und erlebten Natur wieder. Die Landschaft wird auf diese Weise eine metaphorische und symbolische Erfahrung und die Umwelt wird physisch in einem Spaziergang erlebt, aber auch „fotografiert“ und auf die Zahlen der Tage, Monate, Stunden usw. reduziert, wie es der Walking Artist Hamish Fulton in seinen Wall-drawings macht, die er auf den Wänden der Galerien ausführt und die von Mal zu Mal seine Reisen dokumentieren. Die Natur wird durch die Schritte des Künstlers (Richard Long) im Gras verwandelt, wenn die Körperlast dort ihre Spuren hinterlässt. Ebenso wird das Natürliche vergeistigt in den Eisfiguren, die nach wenigen Stunden schmelzen (Andy Goldsworthy). Das Werk wird als Prozess, als Interaktion mit der Natur gesehen, wobei die eingeprägten oder –gegrabenen Formen mit der Zeit verschwinden und der Natur erlauben, sich der Stätte wieder zu bemächtigen. Vielleicht würde dieser Sieg des Natürlichen über das Geistige Hegel nicht überzeugen, ebenso wenig wie die Weigerung, das Kunstwerk als Ergebnis eines abgeschlossenen und unwiderruflichen Vorgangs aufzufassen, um es vielmehr als work in progress zu sehen, dessen vitale Dynamik nicht der Macht des menschlichen Geistes, sondern der des Windes, des Regens, der Sonne anvertraut wird.
Das Interessante Es war Friedrich Schlegel, der Ende des 18. Jahrhunderts die zerstörerische und sich selbst vernichtende Kategorie des Interessanten entdeckt hatte, die im Lauf des 20. Jahrhunderts ihren Siegeszug angetreten hat und heute noch fruchtbar ist. Der Dichter und Philosoph, der zusammen mit seinem Bruder August Wilhelm den Kreis der Romantiker in Jena gründete, ordnete sie in eine literarische Typologie ein und sah darin den Schlüssel zur Interpretation des Modernen. Interessant ist eine individuelle, originale poetische Schöpfung, die in sich selbst an Kraft und Energie die Aufnahmefähigkeit des Rezipienten
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übersteigt.6 Aber Schlegel, der 1797 diese Kategorie schuf, stufte sie letztlich selbst herab als Entartung des pathologischen, alles verschlingenden zeitgenössischen Publikumsgeschmacks, der sich von ständigen Reizen nährte und ausschließlich „interessante Individualität“7 verlangte. Schlegel sagte voraus, dass dieser Geschmack schnell in eine tiefe Krise geraten sollte, weil das Publikum sich an die bekannten Reize gewöhnen und immer originellere und überraschendere verlangen würde, bis die ästhetische Erfahrung auf eine oberflächliche Quelle vorrübergehender Abwechslung und Zerstreuung in der Monotonie des Alltags reduziert und die Kunstbetrachtung zur reinen Unterhaltung würde: „Der Name der Kunst wird entweiht, wenn man das Poesie nennt: mit abenteuerlichen oder kindischen Bildern spielen, um schlaffe Begierden zu stacheln, stumpfe Sinne zu kitzeln, und rohen Lüsten zu schmeicheln“.8 Die adrenalinhaltige Erfahrung des Interessanten wirkt wie ein Stromstoß auf uns, jedoch nicht so stark, dass sie fest im Gedächtnis verankert bleiben würde. Zur Definition des Interessanten gelangt Schlegel auf negative Weise, als ob er das Negativ eines Farbfotos statt eines scharfen Abzugs betrachten würde. Schlegel findet in der Kunst seiner Zeit nicht den harmonischen Ausdruck des klassischen Schönen, sondern nur chromatische Überreste. Er musste daher mit großem Bedauern feststellen, dass in der Kunst nicht mehr das universale, unwandelbare, notwendige Schöne herrscht, sondern oft bescheidene künstlerische Ideen, denen es jedoch gelingt, die Aufmerksamkeit des Publikums wenigstens vorübergehend auf sich zu ziehen. „Der öffentliche Geschmack […] huldigt mit jedem Augenblicke einem andern Abgotte. Jede neue glänzende Erscheinung erregt den zuversichtlichen Glauben, jetzt sei das Ziel, das höchste Schöne, erreicht, das Grundgesetz des Geschmacks, der äußerste Maßstab alles Kunstwertes sei gefunden. Nur daß der nächste Augenblick den Taumel endigt; daß dann die Nüchterngewordenen das Bildnis des sterblichen Abgottes zerschlagen, und in neuem erkünstelten Rausch einen andern an seiner Stelle einweihen, dessen Gottheit wiederum nicht länger dauern wird, als die Laune seiner Anbeter!“9 Seine Aufmerksamkeit ist jedoch vor allem auf die Literatur gerichtet und auf die krankhafte Neigung der Autoren, die Leser mit immer originelleren, unkonventionelleren Einfällen zu fesseln, wohinter sich äußerster Mangel an Ausdruck und Inhalt verbirgt. Es ist nicht zu leugnen, dass Schlegels Aussage prophetisch war und seine unerbittlich klare Diagnose von größter Aktualität ist und problemlos auf einige Werke unserer Tage an6
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„Interessant nämlich ist jedes originelle Individuum, welches ein größeres Quantum von intellektuellem Gehalt oder ästhetischer Energie enthält. Ich sagte mit Bedacht: ein größeres. Ein größeres nämlich als das empfangende Individuum bereits besitzt: denn das Interessante verlangt eine individuelle Empfänglichkeit.“ Friedrich Schlegel. „Über das Studium der griechischen Poesie“ (1795-1797). In: Kritische Friedrich Schlegel Ausgabe. Bd I, 1. Hrsg. von Ernst Behler. Paderborn-München-Wien 1979, 217-367, hier 252-253. Friedrich Schlegel, Über das Studium der griechischen Poesie (1795-1797), 222. Friedrich Schlegel, Über das Studium der griechischen Poesie (1795-1797), 217-218. Friedrich Schlegel, Über das Studium der griechischen Poesie (1795-1797), 219-220.
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gewendet werden kann. In dieser Hinsicht kann die Videoserie Forget me not der norwegischen Künstlerin Trine Lise Nedreaas aus dem Jahr 2004 als emblematisch gelten. Es handelt sich um Aufnahmen, in denen ein alter Mann in Rekordzeit Würstel vertilgt, während eine Messerschluckerin ihre Vorstellung absolviert, ohne sich zu verletzen und ein Muskelprotz Ziegelsteine mit der Stirn zertrümmert. Obwohl der von der Künstlerin gewählte Titel an das Wohlwollen und die Aufmerksamkeit des Betrachters appelliert, ist es die Bestimmung der Werke, beim nächsten „interessanten“ Einfall das Feld zu räumen und in Vergessenheit zu geraten. Es war diese Bestimmung des (literarischen) Kunstwerks, schnell zu erlöschen, auf der Schlegels Argwohn gegenüber der Kategorie des Interessanten fußte. Er hielt sie für die wichtigste Kategorie des Modernen und jener von da an stetig zunehmenden Tendenz zur äußersten Verschärfung der ästhetischen Erfahrung. Schlegel bevorzugte stattdessen das wohlgefällige, gelassene Genießen des klassischen Schönen. Vor dem Hintergrund der widersprüchlichen Vorliebe des Publikums beginnt ein für die Moderne typisches, aufsteigendes Paradigma sich abzuzeichnen: Wie bei einer fest gefügten Treppe bestehen die einzelnen Stufen aus aneinander geknüpften Erfahrungen, so dass jeder Schritt die vorherige Stufe zu überwinden hat und auf den Traditionen aufruht, die zwar mit Füßen getreten, aber auch vorausgesetzt werden. Das Interessante als Schlüsselkategorie der Moderne ist in unserer Zeit also nicht verschwunden, aber es hat sich in der postmodernen Epoche verwandelt, weil es seinen ursprünglichen aufsteigenden Charakter verloren hat und unvorhersehbar, oft episodisch und richtungslos geworden ist. In der Postmoderne wird die Treppe beweglich und löst sich von der Tradition. Sie erinnert eher an eine leichte Leiter, die unter der Zirkuskuppel schwingt, während der Künstler wie ein Akrobat am Trapez einen gefährlichen Salto mortale ins Leere vollführt, ohne an vergangene Schulen zu denken und ohne sich auf die Säulen der Tradition zu stützen. Während ein interessantes Werk zu schaffen im 19. und 20. Jahrhundert bedeutete, die Errungenschaften der vorhergehenden Schulen oder Bewegungen zu überwinden, heißt es heute, sich der Illusion hinzugeben, ein absolutes Werk zu schaffen, und zwar im eigentlichen Sinn der Etymologie, nämlich ein Werk, das von vergangener Bedingtheit und jeglichem Bezugsrahmen losgelöst ist. Dieser provokatorisch ahistorische Charakter des Kunstwerks und der einzelgängerische und oft selbstbezogene Künstler könnte Hegel nur beunruhigt haben, der bekanntlich in der Philosophie die Aufgabe sah, die eigene Gegenwart gedanklich zu bewältigen, während er auf die Fähigkeit der Kunst vertraute, ein getreues Bild der eigenen Zeit zu übermitteln.
Das Charakteristische Mit großer Wahrscheinlichkeit hat der Italiener Giuseppe Spalletti in seinem 1764 veröffentlichen Saggio sulla bellezza zum ersten Mal den Begriff des
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Charakteristischen verwendet, der später von Kant, Hirst, Goethe und Schlegel selbst aufgenommen wurde, wobei letzterer ihn so wie das Interessante als typischen Zug der modernen Kunst verurteilt,10 da er dem Idealen entgegensteht, in dem das höchste und einzige Ziel der antiken Kunst bestand. Es sollte Schelling sein, der 1807, dem Jahr, als Hegel die Phänomenologie des Geistes in den Druck gab, aus deren Vorrede der Abstand zum Freund aus Tübingen und Jena hervorging, in seinem Aufsatz Über das Verhältnis der bildenden Künste zur Natur das Charakteristische für dem Idealen überlegen erklärte, da die Natur charakteristisch sei und der Blick des Künstlers sich in die vielseitige Besonderheit vertiefen müsse. Der Anspruch auf Vorrang des Charakteristischen sollte auch in Hegels Betrachtungen über die romantische Malerei wiederkehren, in der das Ideale, anders als in der antiken Bildhauerei, vermenschlicht wird.11 Die Notwendigkeit, das Ideale spürbar und materiell zu machen, erklärt Hegel in seinen Ästhetikvorlesungen von 1823 mit Bezug auf die geistliche Malerei und die Darstellung der Jungfrau mit dem Kind, die so menschlich und lebensnah wie möglich erscheinen solle. Es ist dann natürlich die Portraitmalerei, in der das Charakteristische seine Legitimierung findet.12 Diese Konzentration Hegels auf die Innigkeit der Dargestellten erlaubt es uns, einen augenscheinlich unvermittelten und riskanten Sprung zu tun auf das heute so fruchtbare und einträgliche Gebiet der Videokunst. Trotz der offensichtlichen großen Unterschiede in Technik und Materie zwischen Malerei und Videokunst lässt sich eine fast genetisch vererbte Verbindung zwischen beiden ausmachen.13 Sicher kann die Malerei nie durch Videokunst ersetzt werden, trotzdem lässt sich nicht leugnen, dass die Malerei in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zunehmend an den Rand gedrängt und als bevorzugter Träger künstlerischer Erfahrung diskriminiert wurde. An ihre Stelle traten Performances der Body-Art, als ob der Körper zu einer verkörperten Leinwand würde, oder dann die Videokunst, die aus dem Monitor ihre Lein10
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Im Studium-Aufsatz bemerkt Friedrich Schlegel das „Übergewicht des Individuellen, Charakteristischen und Philosophischen in der ganzen Masse der modernen Poesie“ bzw. „das totale Übergewicht des Charakteristischen“. Friedrich Schlegel, Über das Studium der griechischen Poesie (1795-1797), 228 und 241. „Die Malerei macht sie irdisch und gegenwärtig giebt ihnen die Vollkommenheit weltlichen Daseins hebt die anthropomorphistische Seite heraus sodaß die Seite der sinnlichen Existenz zur Hauptsache und das Interesse der Andacht das geringer wird. Die Kunst hat die Aufgabe dieß Ideale ganz zur Gegenwärtigkeit herauszuarbeiten das dem Sinnlichen Entrückte sinnlichdarstellig zu machen und die Gegenstände aus der Fernen Scene in die Gegenwart herüber zubringen und zu vermenschlichen.“ Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Kunst. Berlin 1823. Nachgeschrieben von Heinrich Gustav Hotho. Hrsg. von A. Gethmann-Siefert (Hegel: Vorlesungen. Ausgewählte Nachschriften und Manuskripte. 2). Hamburg 1998 hier zitiert als Hotho 1823. Hier Hotho 1823, Ms. 238. Im Aufsatz „Die ästhetische Bedeutung des Gesichts“ sprach Georg Simmel interessanterweise vom Gesicht als einem „geometrischen Ort der inneren Persönlichkeit“. Siehe G. Simmel, Gesammelte Werke. Bd 2 Berlin 1958, 484. Dieser Meinung ist auch Jean Wainwright in dem Aufsatz „Telling Times. Re-visiting. The Greeting“. In: ders., The Art of Bill Viola. Thames & Hudson, London 2004.
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wand machte. Mit großer Wahrscheinlichkeit wäre Hegel heute, ein überzeugter Anhänger von Bill Viola. Der amerikanische Künstler gilt zu Recht als VideoPorträtist, ein Künstler des Augenblicks und der Charakterisierung, der jeder Gemütsänderung, die sich im Gesichts- und Körperausdruck spiegelt, nachzugehen sucht. Dieses Aufspüren der nebensächlichen Geste war für Hegel das große Verdienst der Holländer, die die Vielgestaltigkeit des malerischen Subjekts ins Unermessliche gesteigert haben, indem sie Grimassen und alltägliche Posen in die Malerei einbezogen. „Bei diesen scheint es als wäre die ganze Individualität nur für dieses besondere Geschäft da.“.14 Heute ist es Viola, der dem flüchtigen Moment dank der zur Ewigkeit neigenden Reproduzierbarkeit des Videos seine Weihe verleiht. Die von Viola ausgewählten und geleiteten Performer in Videowerken wie The Greeting (1995) oder Emergence (2002) kehren das Innerste im Menschen hervor und bringen diese Gegenwart des Idealen, die Hegel forderte, zum Ausdruck.15 Die charakteristischen, alltäglichen, jedoch gleichzeitig feierlichen Gesichter, evozieren heilige und symbolische Gestalten wie die Jungfrau, die die Heilige Elisabeth besucht. Ausgesprochen anrührend ist der Versuch Bill Violas, in dem Video Emergence die Zerbrechlichkeit der Gottheit zu zeigen: man sieht Wasser aus einem an ein Taufbecken erinnernden Marmorbrunnen quellen, aus dem sich langsam ein junger, an Christus erinnernder Mann, blass wie weißer Marmor, erhebt, um den beiden Frauen zu seinen Füßen in die ausgestreckten Arme zu sinken, wie in einem prä-raphaelitischen Gemälde der Kreuzabnahme mit Maria und Magdalena am Fuß des Kreuzes. Eine der größten Schwierigkeiten der gegenständlichen Malerei und der Skulptur war die Auswahl der fruchtbaren Moments, was schon Lessing in seinem Laokoon ausführlich behandelt hatte. Diese Sorge, die auch von Hegel in seinen Berliner Vorlesungen geteilt wurde, verschwindet mit der Prozesshaftigkeit des Videos, der die zeitliche Breite der poetischen Erzählung mit der chromatischen Vielfalt des Bildes verbindet, eines Bildes, das nicht ein für allemal fixiert, sondern nun in Bewegung ist. In einem 1992 Jörg Zutter gegebenen Interview betonte Viola die Bedeutung dieser technischen Neuerung16 14
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„Das dritte also ist die Innigkeit im unmittelbar Gegenwärtigen. Der Mensch, was er jeden Augenblick tut, ist ein Besonderes und das Rechte ist, jedes Geschäft, jedes Besonder auszufüllen, darin tätig zu sein, mit ganzem Geiste dabei zusein. Dieß macht den tüchtigen energischen Charakter. Diese Harmonie mit sich im Gegenwärtigen also ist auch eine Innigkeit die Gegenstand der Kunst wird. Der ganze Reiz ist hier in der Harmonie, nicht im Gegenstande selbst. Diese Darstellung haben besonders niederländische Maler sich zum Gegenstande gemacht. Bei diesen scheint es als wäre die ganze Individualität nur für dieses besondere Geschäft da.“ Hotho 1823, MS 240. Siehe Fußnote Nr. 11. Hotho 1823, MS 238. In einem Interview mit Jörg Zutter sagt Viola, dass die Bewegung des Bildes „eines der entscheidendsten Ereignisse der letzten einhundert fünfzig Jahre darstellt“, da das Zeitliche in die bildende Kunst einbricht. Vgl. „Risvegliare il corpo con le immagini potenti dell’esistenza. Intervista a Bill Viola di J. Zutter“. In: Valentini (Ed.), Vedere con la mente e con il cuore. Gangemi Editore, Roma 1993, 85-95, hier 95.
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und erklärte, dass das Kunstwerk nicht außerhalb, sondern im Inneren des Betrachters stattfinde. Die Zeit und die Gefühlsbetontheit des Betrachters wurden für Viola die Kernpunkte der ästhetischen Erfahrung, da der Raum, in dem sich das Kunstwerk offenbart, weder die alte, verstaubte Leinwand, noch das moderne Video sind, sondern die Innenwelt des Aufnehmenden, ein universaler, kosmischer Bereich, der über Tendenzen, Stile, Epochen und Jahrhunderte hinausgeht.
Das Disharmonische Nur sehr selten kommt Hegel in seinen Berliner Ästhetikvorlesungen ausdrücklich auf den Begriff der Disharmonie zu sprechen, und wenn, dann bezieht er ihn ausschließlich auf die Musik17 und auf die Malerei18. Dennoch lässt sich eine implizite Legitimierung des Disharmonischen in der Hegelschen Ästhetik an vielen Stellen aufspüren. Obgleich die klassische Schönheit auf der Harmonie von Form und Inhalt, Körper und Seele, Materie und Geist gründet, ist die schöne Erscheinung des klassischen Ideals inzwischen überwunden. Und berühmt ist in diesem Zusammenhang Hegels Ausspruch „Schöneres kann es nicht geben, aber Höheres“. Das Ideale muss sich auch in disharmonischen Formen zeigen wie es in der romantischen Kunst der Fall ist, weil die Moderne die Zeit der bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Bedürfnissen und Frustrationen ist. Es ist die Zeit derer, die die Welt ändern wollen, aber nicht ändern können, was Schiller in unsterblichen Figuren wie Wallenstein und Karl Moor ausdrückt. Es ist die Zeit des geistigen Ungleichgewichts zwischen Äußerlichkeit und Innerlichkeit. Um dem Schmerz und der Dissonanz angemessenen Ausdruck zu verschaffen, dringen die Disharmonien des Hässlichen in die Kunst ein. Während Schlegel mit einer gewissen Resignation nicht umhin kann, dem Interessanten und Charakteristischen ihre unbestreitbare begriffliche Legitimierung zuzugestehen, erweitert Hegel den Horizont seiner Kategorien, indem er feststellt, dass die Disharmonie zu Recht ein Bestandteil der Gesellschaft und der Kunst seiner Zeit ist, ohne den die Gegenwart und die Zukunft der Kunst nicht zu verstehen sind. Auch die moderne Aktualisierung der unausgewogenen Symbolkunst, die Hegel in den Vorlesungen von 1826 wiederaufleben sieht, und zwar in der gelungenen Aneignung der östlichen Weltanschauung, die Goethe im Divan vollbringt, gründet sich auf eine neue Ansicht der Schönheit, die bereits unvermeidlich reflektiert ist. Trotz dieser Offenheit für das gesamte Spektrum ästhetischer Möglichkeiten hätte Hegel es nicht leicht, die kontemplative 17 18
Ascheberg 120/21, Ms. 226. Unter den Farben muss Harmonie herrschen. Hegel spricht davon in dem der Gesichtsfarbe gewidmeten Abschnitt, wo er an die symbolische Bedeutung der Farben, die von den Künstlern bewusst ausgewählt werden müssen, erinnert. Libelt 1828/29, Ms. 135.
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Kunst einer Künstlerin zu verstehen, die wie die serbische Vertreterin der Body-Art Marina Abramovic sich in ihrem heterogenen und vielseitigen Schaffen, wie Goethe im Divan, ein Gefühl aneignen will, das untypisch für den Westen ist. Wenn sie sich der orientalisch gefärbten Askese annähert wie in der Performance Luminosity oder in The House with the ocean view, dann geschieht das auf selbstbezogene Weise, das Streben nach dem Unendlichen fällt auf sich selbst zurück, der Drang zum Sublimen implodiert und stürzt ab ins Innere der Künstlerin. Vielleicht ist das größte Hindernis für einen Philosophen wie Hegel, um die Kunst unserer Zeit zu schätzen, das Vertrauen auf ein Ganzes, das wir nicht mehr besitzen. Wenn für Hegel das Wahre das Ganze ist, gibt es für uns das Ganze nicht mehr. Das 20. Jahrhundert war ein wagemutiges und künstlerisch explosives Jahrhundert, das alte Schablonen und Sicherheiten gesprengt und Zufall und Willkür in das Kunstschaffen eingebracht hat. Die Kunst wird zur gefährlichen Detonation, zum unvorhersehbaren Schlag oder besser zum Schuss, wie ihn Niki de Saint Phalle mit dem Karabiner auf farbgefüllte Plastiktüten abgegeben hat, die beim Platzen das Kunstwerk schufen. Eine so extreme und unvorhergesehene Disharmonie scheint für das Empfinden der Menschen des 19. Jahrhunderts unvorstellbar. Vielleicht lässt sich jedoch in Schlegel eine interessante Öffnung in die Zukunft aufspüren, in seiner Faszination für das sich selbst genügende und auf das Ganze anspielende Fragment,19 das in der unruhigen und unorganischen Gegenwartskunst reichlich vorhanden ist. So heißt es im berühmten Fragment 116: „Die romantische Dichtart ist noch im Werden. Ja das ist ihr eigentliches Wesen, das Sie ewig nur werden, nie vollendet seyn kann.“20 Es ist, als ob sich diese Unvollkommenheit, die Schlegel der Dichtkunst zuschrieb, nach und nach auf jede Kunstform ausgedehnt hätte, weshalb aus der Gegenwartskunst häufig eine unkoordinierte Expedition ins Land der Vollständigkeit wird, das sich wie eine Fata Morgana in den Gewässern der heißesten Sommertage widerspiegelt, das sich aber für die Schwimmer, die noch von Übersee träumen, als eine Sinnestäuschung entpuppt.
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Siehe das Fragment 116 in: Athenäum, Bd 1, Erstes Buch, Zweytes Stück, 204-206. Athenäum, Bd 1, Erstes Buch, Zweytes Stück, 205.
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Das unmögliche Mosaik des Menschlichen. Zur Überwindung des Romantischen durch den Formalismus der Subjektivität in Hegels Ästhetik
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„Wenn die Gegenstände des prosaischen Lebens zum Gegenstand der Kunst gemacht werden, so ist der Kreis der Kunst ins Unendliche ausgedehnt“. (Hegel, Philosophie der Kunst oder Ästhetik 1826)
Die dritte und letzte der Kunstformen in der Ästhetik Hegels, nämlich die romantische, ist dreigegliedert in „religiösen Kreis“, „weltlichen Kreis“ und „Formalismus der Subjektivität“. Während die beiden ersten substantielle Ähnlichkeiten zur klassischen Kunst aufweisen, hat der „Formalismus der Subjektivität“ eigentlich schon nichts mehr mit ihnen zu tun, sondern macht eine ganz neue und spezifische Kunstform aus. Gelingt es, sie aus dem Last des Paradigmas der klassischen Kunst völlig zu befreien, dann erweist sie sich als eine angemessene und aufschlussreiche Beschreibung der Entwicklung der Kunst auf dem sittlichen, kulturellen und politischen Hintergrund unserer Zeit.
I. Der letzte Kreis des Romantischen In der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften führt Hegel die Gründe der sowohl systematischen als auch historischen Dreiteilung der
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Die schriftliche Fassung dieser Arbeit ist im Rahmen eines Postdoc Forschungsaufenthalts an der Universität Münster entstanden, der großzügig von der Alexander von Humboldt Stiftung, bei der ich mich bedanken möchte, finanziert worden ist. Für die vielen Anregungen und Hinweise danke ich Leonardo Amoroso, Klaus Düsing und Annemarie Gethmann-Siefert. Die hier untersuchten sowie einige damit zusammenhängende Themen behandle ich auch in anderen Studien: es sei hier erlaubt den Verweis auf mein Buch Il destino della modernità. Arte e politica in Hegel, ETS, Pisa 2011, sowie auf meine Aufsätze: Ende der Kunst und Rechtsphilosophie (erscheint in „Hegel-Studien“ 46/2011); Hegels Genealogie der Moderne zwischen Ästhetik und Anästhetik (erscheint in den Akten der Tagung “Hegels Ästhetik als Theorie der Moderne“, Akademie Verlag, Berlin 2012); The Death of Religion? Absolute Spirit and Politics by Hegel (erscheint in „Hegel-Jahrbuch“ 2012-2013). Ich benutze im Folgenden die Abkürzung GW für G.W.F. Hegel, Gesammelte Werke, In Verbindung mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft herausgegeben von der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften. Hamburg: Felix Meiner Verlag, 1968ff.
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Kunstformen (symbolische, klassische und romantische) aus.2 Dort ist die Rede auf die Erklärung der Kunst als Gestalt des absoluten Geistes konzentriert, was dazu führt, dass die klassische Kunst – der vollendete und unübertreffliche Ausdruck des Göttlichen in der Form des Kunstwerkes – im Vordergrund stehet und quasi als Paradigma der Kunst als solcher dient. Die weitere Folge ist, dass symbolische und romantische Kunst wie riesige Behälter wirken, die als Sammelbecken sehr verschiedene Kunstepochen, -typen und -werke enthalten, die nicht einfach auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen sind. Gewiss, sie besitzen sozusagen eine „systematische Ähnlichkeit“, die aber nicht dazu ausreicht, die Vielfältigkeit der Kunstphänomene zu charakterisieren. In den Vorlesungen über die Ästhetik widmet sich Hegel intensiv den drei Kunstformen. Die stetige Verschiebung der Kategorien in den Vorlesungszyklen der verschiedenen Jahrgänge macht deutlich: die symbolische und die romantische Kunst sind keineswegs bloß als das Ante und das Post der klassischen Kunst, zu verstehen, sondern weisen eine komplexe theoretische und historische Entfaltung auf, die eine spezifische, nicht klassizistisch angelegte Betrachtung erfordert.3 Was die romantische Kunst nun angeht, kann sie zwar insgesamt als „postklassische“ oder als „christliche“ Kunst bezeichnet werden, aber ihr Wesen kann nicht einfach darauf reduziert werden. Dies gilt zunächst deshalb, weil sie in drei Stufen gegliedert ist, die sich voneinander (und insbesondere die zwei ersteren von dem dritten) in beträchtlicher Weise unterscheiden. Diese Teile sind bekanntlich „Der religiöse Kreis“, „Der weltliche Kreis“ und „Der Formalismus der Subjektivität“.4 Alle drei gehören zur romantischen Kunst, denn ihr Prinzip ist, dass das Göttliche nicht mehr in der Äußerlichkeit des Kunstwerkes lebt, sondern in der Innerlichkeit und Subjektivität des reinen Geistes. Dennoch sind nur die zwei ersten Phasen „romantische Kunst“ im eigentlichen Sinne des Wortes, denn wie Hegel in der 1823 Vorlesung sagt, hatte „die romantische Welt […] nur ein absolutes Werk, die Ausbreitung des Christentums“ (Ä 1823, 196). Dieses Werk wird in der Kunst des religiösen und des weltlichen Kreises vollzogen, indem der erste sozusagen eine christliche Vorstellungswelt bildet, und der zweite hauptsächlich in der Gestalt des Rittertums das Durchdringen dieser Vorstellungswelt in unserer Welt – in den 2
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Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830), GW 20, §§ 561-562. Im Folgenden benutze ich die Abkürzung „E 1830“ und verweise jeweils auf den Paragraph. Zur Kunst in Hegels Enzyklopädie vgl. A. Gethmann-Siefert, „Die Kunst (§§ 556563)“. In Drüe et al. (Hrsg.), Hegels „Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften“ (1830). Ein Kommentar zum Systemgrundriß. Frankfurt am Main 2000, 317-374 und mein Kommentar in Hegel, L’Arte nell’Enciclopedia, a cura di Alberto L. Siani. ETS, Pisa 2009, 35-91. Zu Hegels „offener“ Konzeption des Kunstphänomens und zur Frage des Klassizismus vgl. u.a. A. Gethmann-Siefert, „Hegels These vom Ende der Kunst und der „Klassizismus“ der Ästhetik“. In: Hegel-Studien 19(1984), 205-258. Vgl. z.B. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Kunst, Nachschrift Hotho 1823. Hrsg. von A. Gethmann-Siefert. Hamburg 2003, 184-204; im Folgenden zitiert als „Ä 1823“.
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weltlichen Kreis – erzählt. Nach der Erledigung dieser Aufgabe fällt jedes absolute Werk aus, und bleibt nur die Erzählung von zufälliger Abenteuereien, bei denen der Ernst des ritterlichen Strebens in einem lächerlichen Kontrast zur Nichtigkeit des Ziels steht. Die paradigmatische Figur ist hier der Don Quijote, der also Hegel zufolge „den Schluss des Romantischen“ (Ä 1823, 197) bildet. Wenn aber das Romantische abgeschlossen ist, was geschieht mit der Kunst nach dem Don Quijote? Ist „der Formalismus der Subjektivität“ ein Eindringling der romantischen Kunst? Eine oberflächliche Lektüre lehrt, dass dieser dritte Kreis nur darum eine Selbständigkeit besitzt, weil darin nicht nur das Ende des Romantischen, sondern das Ende der Kunst überhaupt dargelegt wird. Man könnte sich auf viele hegelsche Äußerungen stützen: Es bleibt fest, dass nach dem Vollzug ihres religiösen Werkes und mit ihrer extremen Subjektivierung, die Kunst „auseinanderfällt“.5 Die These vom Ende der Kunst scheint schwer zu leugnen: Das Vergehen des absoluten Werks macht die Kunst in dieser Hinsicht überflüssig, ihre gegenwärtige Existenz und Rolle scheint in einem Kreis des Zufälligen und Gesetzlosen eingetreten zu sein, der nur durch die philosophische Verarbeitung einen Sinn findet. Die Philosophie der Kunst oder Ästhetik ist zwar eine legitimierte „philosophische Wissenschaft“, aber nur indem sie sich mit der Kunst als etwas Vergangenem auseinandersetzt.6
II. Ce n’est qu’un début Trotzdem gibt es viele Hinweise dafür, dass wir mit diesem Schluss nicht zufrieden sein können. Zunächst behauptet Hegel mit Bezug auf das Streben insbesondere der deutschen Kunst, „ein Eigenes, Immanentes zu erringen“ (Ä 1823, 200), es sei „der Schluss der romantischen Kunst, was sonst der Anfang ist“ (Ä 1823, 200). Das Ende ist also auch ein Anfang. Aber natürlich ist der Anfang zugleich ein Ende. Im dritten Moment der romantischen Kunst ist die 5
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„Beim Humoristischen also geht es mit der Kunst aus; den Subjekten wird die Eigentümlichkeit des Individuums gegeben ohne alle innere Objektivität. Das ist das Zerfallen der Kunst, und das ist vornehmlich [dadurch bedingt], dass die romantische Kunst, an sich ein lockerer Zusammenhang, auseinander fällt“ (Hegel, Philosophie der Kunst oder Ästhetik, Mitschrift von Kehler 1826, Hrsg. von A. Gethmann-Siefert und B. Collenberg-Plotnikov unter Mitarbeit von F. Iannelli und K. Berr, Fink, München 2004, 153). „Unsere Welt, Religion und Vernunftbildung ist über die Kunst als die höchste Stufe, das Absolute auszudrücken, um eine Stufe hinaus. Das Kunstwerk kann also unser letztes absolutes Bedürfnis nicht ausfüllen, wir beten kein Kunstwerk mehr an, und unser Verhältnis zum Kunstwerk ist besonnenerer Art. Ebendeswegen ist es uns auch näheres Bedürfnis, über das Kunstwerk zu reflektieren. Wir stehen freier gegen dasselbe als früher, wo es der höchste Ausdruck der Idee war. […] Es ist in dieser Rücksicht die Wissenschaft der Kunst mehr [zum] Bedürfnis [geworden] als in alter Zeit. Wir achten und haben die Kunst, sehen sie aber als kein Letztes an, sondern denken über sie [nach]. Dies Denken kann nicht die Absicht haben, sie wieder hervorzurufen, sondern [nur die,] ihre Leistung zu erkennen“ (Ä 1823, 6).
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romantische Kunst schon vorbei, und etwas Neues, das eigentlich nicht mehr romantische Kunst ist, fängt an. Ende und Anfang der Kunst sind miteinander verbunden. Den Bruchpunkt können wir nur ergreifen, indem wir die drei Phasen der romantischen Kunst durch den Verweis auf das systematisch grundlegende Muster der klassischen Kunst interpretieren. Die beiden ersten Phasen der romantischen haben mit der klassischen Kunst gemeinsam, dass ihnen ein „absolutes Werk“ eigen ist, wobei natürlich der wesentliche Unterschied ist, dass die klassische Kunst allein dieses Werk vollzieht, während die romantische Kunst den Inhalt aus einer schon gegebenen, geoffenbarten Religion bekommt. Eben in der Gestaltung und Verbreitung dieses Inhalts besteht das absolute Werk des religiösen und weltlichen Kreises, die deswegen an eine bestimmte, bedeutungsvolle Objektivität gebunden sind. Die Kunst des Formalismus der Subjektivität besitzt dagegen keinen Inhalt mehr, und ihr entspricht kein absolutes Werk. Sie ist, wie ihr Name genau sagt, formell und subjektiv. Von diesem Gesichtspunkt aus scheint es, dass die ersten beiden Phasen der romantischen Kunst der klassischen Kunst ähnlicher sind als der dritten Phase der romantischen Kunst, obwohl die systematische Gliederung klar macht, dass klassische und romantische Kunst als solche zwei völlig verschiedene Prinzipien haben. Das bedeutet aber nicht, dass der Auftritt des Christentums das plötzliche Auseinanderfallen der Kunst verursacht, sondern dieses Prozess dauert mehr als eineinhalb Jahrtausende: scharfe Schnitte gibt es nur in der systematischen Rekonstruktion, während die Übergänge in der Geschichte langsam und voll Umkippungen sind. Die ersten beiden Phasen der romantischen Kunst bleiben also unter dem Zeichen des Klassischen, da sie ein absolutes Werk durchführen müssen. Dieses absolutes Werk ist es, wodurch alle Kunstformen von der symbolischen bis einschließlich zum weltlichen Kreis zu begreifen sind. Das sagt Hegel ausdrücklich, wenn er sich mit dem „Verhältnis der Kunst unserer Zeit“ (Ä 1823, 202) näher befasst. Diese sei zunächst durch die Gegenüberstellung zu allem, „was wir nämlich bisher betrachteten“ (Ä 1823, 202) zu begreifen. Alle Kunst der Vergangenheit „hatte zur Grundlage die Einheit des Begriffs und der Realität [und, A.L.S.] ihr Interesse ist, die substantielle Weise des Bewusstseins eines Volkes darzustellen“ (Ä 1823, 202-203). Dadurch gewinnen wir einen präzisen Standpunkt zur Kunst der Gegenwart. Historisch ist der Terminus post quem die Reformation, wie vielen Äußerungen Hegels zu entnehmen ist. Mit der Reformation ist das absolute Werk der Kunst vollzogen, denn das Prinzip des Christentums ist vollständig verwirklicht und verinnerlicht worden, und die Kunst übt keine Funktion mehr aus. Und da nach Hegel gerade die Darstellung des als das Göttliche gewussten Bewusstseins eines Volkes den wesentlichen Inhalt der Kunst ausmacht, ist die Kunst als solche für uns etwas Vergangenes. Was fängt hier also an? In der Enzyklopädie behauptet Hegel, dass in der romantischen Kunst die Äußerlichkeit „in Zufälligkeit gegen ihre Bedeutung erscheinen darf “ (E 1830,
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§ 562). In den Vorlesungen wird diese These erläutert: Diese Zufälligkeit hängt jetzt von der besonderen Subjektivität des Künstlers völlig ab. Das vollkommene innere Verhältnis der klassischen Kunst, wonach „das Kunstwerk nur dann Ausdruck des Gottes [ist, A. L. S.], wenn kein Zeichen von subjektiver Besonderheit darin“ (E 1830, § 560) steckt, ist jetzt ganz umgekehrt. Jetzt ist die Kunst nur subjektive Besonderheit: Die Natur, die Äußerlichkeit, sind „entgöttert“ (Ä 1823, 182). Der Inhalt dieser neuen Kunst kann kein objektiver sein: Sie drückt nur die besondere und zufällige Subjektivität eines jedes Künstlers als Mensch aus. Hier ergibt sich die Möglichkeit, das Thema dieser Kunst auch positiv zu bestimmen: „Als das Interessante bleibt der Humanus, die allgemeine Menschlichkeit, das menschliche Gemüt in seiner Fülle, seiner Wahrheit“ (Ä 1823, 204). Das thematische Feld der neuen Kunst wird damit bestimmt, und es ergibt sich dadurch ein neuer Ansatz, um über die Kunst unserer Zeit nachzudenken. Denn der Inhaltsverlust und die Rollenbeschränkung der Kunst bedeuten zugleich ihre Befreiung von der Aufgabe, das Göttliche und das Bewusstsein eines ganzen Volkes darzustellen. Das unendliche Feld der Manifestationen der Menschlichkeit ist jetzt frei, seinen Ausdruck durch die Kunst zu finden. Dieser Ausdruck kann nunmehr nur subjektiv sein, in dem Sinne, dass er keine objektive Gültigkeit sowohl des Inhaltes als auch der gewählten Form beanspruchen kann. Das Verhältnis zwischen dem künstlerischen Schaffen und dem Boden der Sittlichkeit und des Bewusstseins des Volkes ist somit abgebrochen. Zu diesem Schluss war schon der junge Hegel gekommen, wenn er bemerkt, dass die Kunst nunmehr nur als Produkt der Geschicklichkeit und als Gegenstand des Genusses betrachtet wird, nicht aber als der Ort der gemeinsamen unmittelbaren Anerkennung der Bürger. Damals war diese Bemerkung polemisch gegen die christliche Religion und den Staat, die Entfremdung und Unterdrückung verursachen, gerichtet, beim späten Hegel ist diese Bemerkung in ihrer Allgemeinheit einfach die wissenschaftlich neutrale Feststellung, dass die Kunst unserer Zeit nicht fähig ist, objektive und allgemeingültige Inhalte zu vermitteln. Wenn wir also, wie auch Hegel zu tun pflegt, von der Überzeugung ausgehen, dass der Kunst als solcher die Aufgabe zufällt, irgendeine Objektivität hervorzubringen, und d.h. auch die Einheit des Begriffes und der Realität darzustellen, dann können wir die Kunst unserer Zeit nur sozusagen „analogisch“ Kunst nennen. In der Kunst des Formalismus der Subjektivität finden wir zwar die gleichen Elemente, die die klassische Kunst ausmachen (ein schaffendes Subjekt, ein rezipierendes Subjekt, das Kunstwerk als äußerlicher Gegenstand), aber sie verhalten sich sozusagen „distonisch“ zu einander. Die unmittelbare Übereinstimmung ist verloren gegangen, und keine Kraft vermag, sie wiederherzustellen. Und dennoch produziert der Mensch immer noch Kunst. Warum? Wo ist der tiefe Grund dafür zu finden? Die bisher erläuterten Überlegungen Hegels erklären die Gründe des Auseinanderfallens und Unzuläng-
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lichkeit der Kunst, aber zumindest direkt setzten sie uns nicht in der Lage, die folgende Entwicklung der Kunst nachzuvollziehen. Es muss zunächst präzisiert werden, dass auch innerhalb des „Formalismus der Subjektivität“ verschiedene Formen bestehen, die diverse Möglichkeiten erschließen, und einige davon scheinen nicht auf so dramatische Weise einer Legitimation zu bedürfen. Man denke an die holländische Malerei, an Goethe, Schiller usw. Diese Kunst besitzt noch eine gewisse „Objektivität“ und somit einen direkten Existenzgrund. Die Interpreter haben aufgrund der Nachschriften schon gezeigt, dass Werke wie die Dramen Schillers bzw. Goethes Divan in der Ästhetik Hegels ihre nachvollziehbare Legitimation und Integration finden.7 Problematischer sieht dagegen die Lage der Kunst des subjektiven Humors und der romantischen Ironie aus. Da aber eben diese Kunst den Endpunkt der hegelschen Ästhetik ausmacht, muss man von hier, d.h. von dieser extremen Peripherie der Kunst – die eigentlich schon nicht mehr Kunst ist – ausgehen, wenn wir versuchen wollen, die hegelschen Überlegungen für uns fruchtbar und aktuell zu machen.
III. Formelle Subjektivität Obwohl es ungerecht und wenig sinnvoll wäre, von Hegels Ästhetik eine detaillierte Erläuterung des Wesens der uns gegenwärtigen Kunst zu erwarten, scheint es ebenso ungerecht, den hegelschen Beitrag dazu auf eine bloß negative Charakterisierung herabzuwürdigen. Es ist sinnvoller, aus und innerhalb dieser negativen Charakterisierung die Grundzüge einer positiven Theorie zu gewinnen und auf dieser Grundlage über die Aktualität der hegelschen Ästhetik zu urteilen. Es gilt also zu versuchen, den Standpunkt des Formalismus der Subjektivität im Ganzen zu adoptieren. Das hat Hegel selbst nicht machen können, denn er erfasst auch den subjektiven Humor aus der Perspektive der Verwirklichung eines absoluten Werks, und muss kohärent lediglich vom Auseinanderfallen der Kunst sprechen, ohne eine positive Theorie skizzieren zu können. Hieraus ist auch die Heftigkeit seiner Polemik gegen den Teil der Romantik zu verstehen, der für die Kunst eben diese Fähigkeit zur Verwirklichung eines absoluten Werks noch in Anspruch nimmt. Wir können aber die hegelsche Stellungnahme dadurch integrieren und aktualisieren, dass wir davon ausgehen, dass die Kunst unserer Zeit gar nichts mehr mit dieser Aufgabe zu tun hat, da eben diese Unfähigkeit am besten dem kulturellen, sittlichen und politischen Hintergrund unserer Zeit entspricht. M. a. W. müssen wir die hegelsche These zur 7
Zu diesen Beispielen siehe die Erläuterungen von A. Gethmann-Siefert, Die Funktion der Kunst in der Geschichte. Untersuchungen zu Hegels Ästhetik. Bonn 1984, 347-359 respektive 333ff. sowie diess., Einführung in Hegels Ästhetik. München 2005, 322-332 respektive 341347.
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neuesten Kunst bis zum Äußersten treiben und unser Verhältnis zur Kunst überhaupt von dem Anspruch befreien, durch sie ein absolutes Werk verwirklicht zu sehen. Da die Kunst jetzt als reiner Ausdruck der formellen Subjektivität zu verstehen ist, muss man sich zwei Frage stellen, deren Antworten zugleich als Bedingungen des hier angestrebten Zieles gelten: 1) Welche Subjektivität bezeichnet Hegel als „formell“, und wie kann diese Bezeichnung auch einen positiven Sinn bekommen?; 2) Warum ist die Kunst, und eben die Kunst, der Ausdrucksmittel dieser Subjektivität, und unter welchen Bedingungen gelingt es ihr, diese Vermittlung auf konstruktive Weise und nicht „nihilistisch“ zu vollziehen? Fangen wir mit der ersten Frage an. Wie man den Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte entnehmen kann, ist die Subjektivität bloß formell, wenn sie ihre eigene Besonderheit als solche (d.h. formell) als das Wesen der subjektiven Freiheit geltend machen will. Formelle Subjektivität, formelle Freiheit, formeller Wille sind hier nur verschiedene Facetten ein und derselben Art und Weise des Verhältnisses zwischen Individuum und Allgemeinem. Indem ich als Grundlage meines Willens und meiner Handlung meine besondere Individualität anerkenne, ist meine Subjektivität formell. Das ist nach Hegel das Prinzip des Liberalismus und des Atomismus, das seinen vollkommenen Ausdruck philosophisch mit Rousseau und Kant, politisch mit der französischen Revolution findet. Aufgrund dieses Prinzips ist eine feste und vernünftige Struktur des gemeinsamen Lebens nie zu erreichen, denn jedes Individuum kann virtuell das Recht seiner Besonderheit den kollektiven Bedürfnissen, dem objektiven System von Gesetzen, Rechten und Pflichten entgegensetzen. Freiheit muss nicht nur eine Form der Subjektivität, sondern auch objektiver Inhalt sein: „Die objektive Freiheit aber, die Gesetze der reellen Freiheit fordern die Unterwerfung des zufälligen Willens, denn dieser ist überhaupt formell. Wenn das Objektive an sich vernünftig ist, so muss die Einsicht dieser Vernunft entsprechend sein, und dann ist auch das wesentliche Moment der subjektiven Freiheit vorhanden“.8 Das bedeutet nicht, dass das Individuum sich dem Allgemeinen als solchem beugen muss, sondern dass die subjektive Freiheit nur dann wirklich ist, wenn das Subjekt die Vernünftigkeit der Objektivität einsieht und darauf verzichtet, seine zufällige Individualität im Prinzip über die wirkliche Welt zu erheben. Die wirkliche Freiheit entsteht sozusagen aus der Übereinstimmung der Subjektivität mit der Objektivität, indem die legitimierende Form der ersteren die verbindlichen Inhalte der letzteren anerkennt. Die Freiheit des Individuums ist also wirklich nur indem sie zugleich objektiv ist. Die Sphäre der Besonderheit muss als solche Nichts mit der Rechtfertigung der objektiven Inhalte zu tun haben: Es kann z.B. nicht sein, dass ich nur auf 8
Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Hrsg. von E. Moldenhauer und K. M. Michel. Frankfurt am Main 1986 (TWA 12), 540.
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die Gesetze achte, die mir als einem besonderem Individuum gefallen. Sie gelten objektiv unabhängig davon, und wenn ich es nicht anerkenne, dann ist es meinem Mangel an Einsicht zuzuschreiben, nicht dem Fehlen der Objektivität. Dieser Mangel kann und muss natürlich überwunden werden; dass es aber in der konkreten, alltäglichen Praxis nicht immer so ist, ist offenbar. Denn nach Hegel ist bekanntlich die jeweils gegeben Realität, und somit auch die moderne Welt nicht als solche und unmittelbar vernünftig, und eben in der Sphäre der subjektiven Besonderheit muss sich zumindest die Potenzialität zu einer kritischen Abweichung von der (wahren oder vermeinten) Objektivität erhalten. Kehren wir die letzte zitierte hegelsche Aussage um, dann haben wir, dass „wenn das Objektive an sich nicht vernünftig ist, so muss die Einsicht dieser Un-Vernunft nicht entsprechend sein“. Dieses Prinzip wendet sich nicht nur auf extremen Situationen an, nämlich diejenigen, wo die sittliche Einheit definitiv verloren bzw. noch nicht (wieder)gewonnen worden ist.9 Die vernünftige Struktur der Objektivität entsteht (oder besser besteht) immer aus einem Prozess reflexiver Vermittlung, die das Objektive ständig in Frage stellt und sich damit versöhnt.10 Der allgemeine Sinn der formellen Subjektivität ist also der eines der Form nach von der Objektivität unabhängigen Daseins bzw. mentalen Verhaltens. Das Wort „formell“ besagt hier zugleich sehr wenig und sehr viel. Sehr wenig, denn hier ist das Subjekt nur „Form“, Potentialität ohne Inhalt und Konkretheit: die schwache Einheit eines Strömens zufälliger Bildern. Sehr viel, denn sie enthält die Möglichkeit einer totalen Ablösung von der Wirklichkeit. Die Schwäche des nur Formellen und die vermeinte Stärke der sich selbst behauptenden Subjektivität sind Ausdrücke einer und derselben Einseitigkeit, die in den Nihilismus einmünden kann. Es besteht aber auch die Möglichkeit einer positiven und konstruktiven Integration der Subjektivität mit dem Objektiven, die ihre Differenz nicht verdrängt, sondern als dialektische Grundlage des Fortschritts des Bewusstseins und der Freiheit annimmt. Der Ort dieser Konstruktion bzw. Bildung,11 die zugleich immer auch Distanzierung und Ent9
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Zur Rolle des Individuums in seiner Differenz zur Gemeinschaft insbesondere in jenen „extremen Situationen“ und zur Funktion der hegelschen ästhetischen Reflexion in dieser Hinsicht vgl. den aufschlussreichen Aufsatz von F. Chiereghin, „L’emergere dell’individuo nella sua differenza dalla comunità secondo Hegel“. In: D’Abbiero/Vinci (a cura di), Individuo e modernità. Saggi sulla filosofia hegeliana. Guerini e Associati, Milano 1995, 299-310. Wenn dagegen subjektive Moralität und objektive Wirklichkeit sich als zwei voneinander unabhängige bzw. miteinander nicht kommunizierende Sphären verstehen, dann kommt es sogar zu einem konkreten Totalitarismusrisiko weil, „die Gesellschaft, von der Subjektivität verlassen und preisgegeben und von ihr nicht als ihre Wirklichkeit erkannt und anerkannt, sich daran machen kann, den Stachel der Entzweiung zu beseitigen und sich zum ganzen und einzigen Sein des Menschen zu setzen“. J. Ritter, „Subjektivität und industrielle Gesellschaft. Zu Hegels Theorie der Subjektivität“. In: ders., Metaphysik und Politik. Studien zu Aristoteles und Hegel. Erw. Neuausgabe, Suhrkamp, Frankfurt am Main 2003, 375. Zu Hegels Bildungstheorie vgl. die umfassende Studie von O. Pöggeler, „Hegels Bildungskonzeption im geschichtlichen Zusammenhang“. In: Hegel-Studien. 15(1980), 241-269. Zur Beziehung von Bildung und Entfremdung vgl. J.-I. Kwon, Hegels Bestimmung der Kunst: die
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fremdung bedeutet ist in Hegels Philosophie des Rechts die bürgerlichen Gesellschaft, woraus „die Wirklichkeit der sittlichen Idee“,12 d.i. der Staat entsteht. Eine Vertiefung dieser Themen muss hier unterlassen werden. Es ist aber klar, dass angesichts der nihilistischen Variante das Subjekt auf die Behauptung seiner Absolutheit Verzicht machen muss, denn ansonsten bleibt es leere Form. Es sieht jedoch danach aus, dass angesichts dieses Bildungsprozess geistige Formen vonnöten sind, die der besonderen Eigentümlichkeit nicht schaden. Denn dieser Prozess stellt eine Bildung dar, die nicht lediglich in der Universalisierung des Subjekts bestehen muss, sondern auch in der „Subjektivierung“ des Universellen, d.i. in der Aneignung der rationalen allgemeingültigen Kriterien des Wirklichen seitens des Subjekts. Man braucht wohlgemerkt geistige Formen, die diese Beidseitigkeit respektieren, damit das Subjekt nicht bloß von der Macht des Objektiven neutralisiert wird, sondern diese Macht als seine eigene bewusst anerkennt und wählt, denn sonst haben wir immer ein Feindschaftsverhältnis, nur dieses mal des Objekts gegen das Subjekt. Es ist aber durchaus möglich, der formellen Subjektivität eine kritische, fortschrittliche Funktion zuzuschreiben, damit sie sich in die Welt des Objektiven begibt und mit ihr konfrontiert. Somit haben wir nun eine Antwort auf unsere erste Frage. Das bedeutet aber noch nicht, dass die Kunst dafür ein adäquates Ausdrucksmittel darstellt. Ob und unter welchen Voraussetzungen es so sein kann, soll jetzt geprüft werden.
IV. Die Kunst des Formalismus der Subjektivität In Hegels Ästhetik erhält die Kunstform aufgrund weniger überzeitlicher und invarianter Grundkennzeichen verschiedene Funktionen und Aufgaben je nach dem jeweiligen kulturellen, politischen und sittlichen Zusammenhang. Wenn wir also nach der möglichen Funktion der Kunst in einem gegebenen Zusammenhang fragen, müssen wir immer von jenen Grundkennzeichen ausgehen. Wie dem ersten Kunst-Paragraph der Enzyklopädie zu entnehmen ist (E 1830, § 556), sind diese Kennzeichen grundsätzlich auf Folgendes zurückzuführen: Unmittelbarkeit, Endlichkeit, Anschaubarkeit, Natürlichkeit. Für jedes Kunstwerk sind alle diese Kennzeichen wesentlich, jedoch jeweils in verschiedenem Maß. Ein Kunstwerk aber, das z.B. gar keine Spur von Unmittelbarkeit bzw. kein äußerliches Element enthalten will, ist einfach kein Kunstwerk mehr, sondern schon Denken oder etwas anderes. Diese Kennzeichen sind offen-
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Bedeutung der „symbolischen Kunstform“ in Hegels Ästhetik. München 2001, 297ff. Das Verhältnis zwischen Bildungsfrage und Ästhetik, sowie insgesamt das Bildungskonzept als Schnittpunkt zwischen objektivem und absolutem Geist habe ich untersucht in den §§ 1-4 des vierten Kapitels von Il destino della modernità. Arte e politica in Hegel, a.a.O. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts. GW 14.1, § 257, 201.
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sichtlich zugleich, was die Kunst zur Unzulänglichkeit und zur Partialität13 verurteilt, denn „die Form der Unmittelbarkeit als solcher ist zugleich Inhaltsbestimmtheit“ (E 1830, § 557). Diese strukturellen Elemente reichen aus, um die These vom Ende der Kunst zu rechtfertigen. Diese These jedoch besagt wie erörtert nicht das Ende der Kunst als solcher, sondern das einer bestimmten und vom gegebenen Zusammenhang abhängigen Funktionen, die zwar die höchstmögliche für sie war, nicht aber die einzigmögliche. Es bleibt also offen, ob jene Elemente eine andere, mit der Bildung der oben analysierten Gestalt der Subjektivität verträgliche Funktion zulassen. Die Kunst kann nunmehr keine substantiellen, allgemeingültigen Inhalte verbindlich vermitteln, denn ihre Form als solche ist der Begründung und Rechtfertigung der für uns höchsten, normativen Inhalten (Gesetze, Rechtund Wertsystemen, Regelung der sozioökonomischen Mechanismen, Orte und Prozeduren der gemeinsamen Anerkennung usw.) unzulänglich. Sie muss und kann darauf keinen Anspruch erheben, und ihre Funktion darf damit nicht verwechselt werden. Daher ist auch nicht zu fürchten, dass sie das Subjekt zu notwendig- und allgemeingültigen Inhalten zwingt. Sie kann ihm aber die Anschauung verschiedener relevanter wie irrelevanter Inhalte vorlegen, woraus es frei und subjektiv wählen kann. Sie bietet zwar den Stoff für die Reflexion und die Bildung des Individuums, ohne aber die Macht und die Kraft zu haben, diesen Stoff direkt und unmittelbar in der Wirklichkeit durchzusetzen. Diese Durchsetzung muss immer in der Sphäre der subjektiven Besonderheit angeeignet und vermittelt werden, was freilich bedeutet, dass das Subjekt im Dass, Was und Wie dieser Aneignung und Vermittlung absolut frei ist. Die hier geschilderte Bildung ist eine formelle Bildung, die zwar die inhaltliche nicht ersetzt, sie aber integrieren und verstärken kann.14 Es gilt zu unterstreichen, dass die Kunstform eben aufgrund der oben genannten Grundkennzeichen als Ort, besser als andere Geistformen als Paradigma dieser Bildung dienen kann. Denn sie verweist immer auf Elemente der Natürlichkeit, der Partikularität, die nicht völlig in die Objektivität des Denkens übergehen können, und richtet sich deswegen der Sphäre der subjektiven Besonderheit, derer Fähigkeit zur reflexiven Vermittlung sozusagen angesprochen wird. Es ist somit klar, dass nur eine höchst „subjektivierte“ Kunstform dem Bildungsbedarf der formellen Subjektivität gerecht werden kann, während die nach dem Muster des Klassischen gestaltete Kunst ihren Sinn darin 13
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Vgl. D. Henrich, „Kunst und Kunstphilosophie der Gegenwart (Überlegungen mit Rücksicht auf Hegel)“. In: Iser (Hrsg.), Immanente Ästhetik – Ästhetische Reflexion. Lyrik als Paradigma der Moderne, München 1964, 15. Das Thema der formellen Bildung durch die Kunst ist Thema schon mehrerer Studien und muss hier nicht wieder aufgenommen werden. Vgl. u.a. J.-I. Kwon, „Hegels Bestimmung der „formellen Bildung“ und die Aktualität der symbolischen Kunstform für die moderne Welt“. In: Gethmann-Siefert/de Vos/Collenberg-Plotnikov (Hrsg.), Die geschichtliche Bedeutung der Kunst und die Bestimmung der Künste, München 2005, 159-174 und A. Gethmann-Siefert, Einführung in Hegels Ästhetik, a.a.O., 352-360.
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hat, auf mehr oder weniger absolute Weise ein „absolutes Werk“ durchzuführen. Eine klassizistisch angelegte Kunstform führt eine mehr oder weniger vollendete und unmittelbare Identifikation vom Subjekt und Objekt vor, sowie das inhaltlich relevante Ineinandergehen von Begriff und Realität. Das kann für eine Kunst, die das Dasein und das Recht der formellen Subjektivität zum Ausdruck bringt, nicht der Fall sein. Diesem Ausdruck den Schein der Objektivität und Allgemeingültigkeit zu verleihen ist nämlich trügerisch und potentiell gefährlich, weil die Subjektivität darin einen Stützpunkt für die Anmaßung der Absolutheit gewinnen kann. Die nihilistische Unzeitgemäßheit dieser Figur fällt auf: Hier hat die Kunst alles zu verlieren. Was sie zu gewinnen hat, ist der formelle Ausdruck einer kritischen Abweichung des Subjekts von der Realität. Das bedeutet nicht, dass die Kunst als solche in unserer Zeit nur sinnvoll ist, indem sie als revolutionäres bzw. utopisches Gegenbild zum Bestehenden dient. Es bedeutet nur, dass ihre Form als solche ein Memorandum der nie vollkommen vollziehbaren Identifikation des Subjekts mit dem Objektiven ist. Das ist die negativ-kritische Funktion, zu der eine positiv-bildende hinzukommen kann: Dem Leben der Kunst in unserer Zeit ist wie keiner sonstigen Geistform die aktive Teilnahme und Vermittlung des besonderen Zuschauers wesentlich, denn eine objektive, direkte Inhaltvermittlung bleibt nunmehr aus. Das besondere Subjekt bekommt somit den Ansporn zur Reflexion und zur kulturellen Erweiterung, und bleibt jedoch in dieser Hinsicht absolut frei. Diese Kunst ist also keineswegs notwendig nur ein leeres Formenspiel, sondern sie trägt zur Bildung der Subjektivität bei: Hiermit ist ein Anschlusspunkt der Frage nach der formellen Subjektivität und der nach der Kunst des Formalismus der Subjektivität gefunden, der beiden Termini einen positiven, sowohl für die Ästhetik als auch für die praktische Philosophie relevanten Sinn verleiht, unter der Bedingung aber, dass beiden Termini auf die Absolutheit verzichten.
V. Eine neue Objektivität Die Kunst des Formalismus der Subjektivität ist der formelle, d.i. von den jeweiligen Inhalten unabhängige Ausdruck der Ablösung, der Distanzierung des Individuums von der Wirklichkeit, bzw. des Nicht-Identisch-Seins der beiden Termini. Das gilt nur für diese Kunstform, denn alle die vorigen Formen stellten eben das Gegenteil dar, nämlich „die Einheit des Begriffs und der Realität. Diese Einheit ist der Begriff der Kunst selbst“ (Ä 1823, 202). In der Kunst des Formalismus der Subjektivität entfaltet sich das ganze Spektrum der möglichen Manifestationen der menschlichen Besonderheit: es kommt hier in der Fiktion die ganze Macht jener formellen Freiheit zurück, die in der realen Welt der objektiven Wirklichkeit nachgeben muss. Das Thema ist hier nur das besondere Subjekt, das sich seiner Natur wegen jener Universalisierbarkeit entzieht, denn es wäre paradox, das besondere Subjekt universell darzustellen:
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Individuum est irrationale. Indem jedes Kunstwerk ein Fragment der unerreichbaren Einheit dieses Themas wiedergibt, haben wir durch die Kunst eine virtuell unendliche Menge Erscheinungen eines an sich nicht einheitlich anschaubaren Inhalts. Die Kunst kehrt somit hinter die klassische Kunst zurück: „Das Humoristische kehrt so gleichsam zurück zum Symbolischen“ (Ä 1823, 202). Ein weiterer Übergang zum klassischen scheint tatsächlich ausgeschlossen zu sein: Die Kunst bleibt unter dem Zeichen des Symbolischen, der Unzulänglichkeit eines jeden Kunstwerks gegenüber die Mannigfaltigkeit des Menschenwesens. Die Kunst des Formalismus der Subjektivität ist also kein Fremdkörper im Gewebe der Moderne, sondern tief darin angesiedelt. Diese Ansiedlung ist jedoch zweideutig, denn ihre Art und Weise hängt von der „absoluten Bedeutung“ ab, die wir der Kunstform als solchen zusprechen. Gehen wir davon ab, dass die Kunst immer noch eine absolute Ausgabe zu erfüllen hat, dann wird für die Kunst und für den Subjektivitätstyp, den sie zum Ausdruck bringt, die Wirklichkeit zu einem Feind. Denn unter den gegebenen Bedingungen der modernen Welt ist die Durchführung eines absoluten Werks durch die Kunst zum Scheitern verurteilt. Das Subjekt eines solchen Kunstwerkes wird nicht als ein Fragment dargestellt, sondern maßt sich die Allgemeingültigkeit seiner Handlung bzw. seines Urteils an. Die Subjektivität wird hypertrophisch, um die gegebene Wirklichkeit, der gegenüber sie keine Macht mehr hat, zu vernichten. Da durch die Kunst kein objektiver Inhalt mehr vermittelt werden kann, die Kunst aber der vermeinten Absolutheit ihrer Aufgabe verbunden bleibt, wird das Fehlen der Werte im Kunstwerk zur Bezeigung des Todes aller Werten auch in der Realität. Das ist eine unreife und anachronistische Gestalt des subjektiven Anspruchs gegen die Realität. Um eine konstruktive Funktion für sich zu beanspruchen, muss die Kunst in unserer Zeit von der Anerkennung ihrer eigenen Beschränktheit und Unverbindlichkeit ausgehen. Die Kunst bewahrt ihr kritisches Potenzial gegenüber der Wirklichkeit nur wenn sie an der strukturellen Diskrepanz zwischen ihrem Produkt und der objektiven Welt festhält, und nicht eine Identifizierung beider anstrebt. Jedes einzelne Kunstwerk ist dann nur ein Stein, der zum paradoxen und nie zu vollendenden Mosaik des Allgemeinen der besonderen Subjektivität hinzugefügt wird. Nur eine Rekonstruktion a posteriori, ein reflexives Begreifen jedes „Steines“ in seiner Stelle kann eine tiefere Bedeutung erschließen: Deshalb, Hegel zufolge, wird die Philosophie der Kunst oder Ästhetik umso wichtiger, desto partieller die Kunst wird, wobei aber darauf zu achten ist, dass keine Ästhetik einem jeweiligen Kunstwerk völlig gerecht sein kann, denn das Kunstwerk behaltet immer quasi einen trüben Grund, ein in der Klarheit des Denkens unauflösbares Element. Somit wird die Brücke zu einer neuen Objektivität der Kunst geschlagen, die aber eine mittelbare, reflektierte Objektivität ist. Natürlich entsteht hier zugleich eine weitere Möglichkeit, die kennzeichnend für die Kunst unserer Gegenwart ist, und die nicht unbedingt negativ bewertet zu werden braucht.
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D.i., die Kunst wird von der absolut freien Subjektivität nochmals auf die Gleise der Objektivität zurückgeführt, indem die professionellen Kunstkritiker, bzw. die Galeristen oder Kunsthändler einem ansonsten reinen Ausdruck der Subjektivität einen objektiven Wert zuschreiben.15 Der Wert ist somit nicht etwas dem Werk Inneres, sondern das Ergebnis eines dem Werk äußeren und in vielen Hinsichten zufälligen Entscheidungsprozesses. Der Formalismus der Subjektivität kehrt sich zu seinem Gegensatz um, indem dem Kunstwerk alle Charakteristika der Besonderheit entnommen werden und zum objektivsten aller Objekten wird: zur Ware, zum Tauschgut, zum Geld. Damit wird die Kunst vollständig in den Mechanismen der bürgerlichen Gesellschaft aufgenommen. Abschließend kann man Folgendes behaupten: Wenn wir die Voraussetzung aufgeben, dass die Kunst unserer Zeit in Bezug auf die Kriterien der klassischen sowie der ersteren Phasen der romantischen Kunst zu messen sei, dann haben wir eine Kunst, die zwar die gleichen Komponenten wie die klassische Kunst aufweist, die jedoch eine völlig verschiedene Rolle spielt und aus ganz anderen Ursachen und Bedürfnissen entsteht, sodass es vielleicht angemessener ist, sie nur analogisch „Kunst“ zu nennen, wobei es klar sein muss, dass dieser Name auf keine begriffliche Einheit hinweist. Denn es ist eben unmöglich geworden, dass irgendeine begriffliche Einheit eine unmittelbare Form annimmt: Die Kunstform beweist nunmehr, ganz kohärent mit den hegelschen Prämissen, nicht die Einheit, sondern die Spaltung von Begriff und Realität, sowie die formelle Diskrepanz von besonderem Subjekt und bestehender Wirklichkeit. Aber genau die Unmöglichkeit für den Künstler, den „objektiven“ Geist inhaltlich zu interpretieren, ist eine gute Auslegung unseres Zeitalters.16 Man kann also die These vertreten, dass gerade das Auseinanderfallen der Kunst und das Zerbrechen der Beziehung zwischen dem Künstler und der Objektivität eine neue, unserer Zeit ganz angemessene Rolle und Existenzbegründung der Kunst in ihrem kulturellen und politischen Zusammenhang in Aussicht 15
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Dieser Prozess bildet nunmehr ein wesentliches Moment der Kunstform, denn „wenn der Künstler nicht mehr zurückgreifen kann auf eine gemeinsame Vorstellungswelt und einen verbindlichen Auftrag, dann kann er auch – wie Balzac das geschildert hat – in lebenslanger, einsamer Arbeit ein ‘Meisterwerk’ schaffen, in dem jeder andere nur die wirren Linien und Farben eines Verrückten findet“. O. Pöggeler, „System und Geschichte der Künste bei Hegel“. In: Gethmann-Siefert/Pöggeler (Hrsg.), Welt und Wirkung von Hegels Ästhetik, Bonn 1986, 25. Um diesen Engpass zu umgehen, ist es also notwendig, dass die ‘private’ Vorstellungswelt des Künstlers durch ‘äußerliche’ Prozeduren wieder in den Rahmen der öffentlichen Kultur zurückgeführt wird, wobei jedoch ebenso notwendig ist, dass dieses Prozess auf jeden Fall offen und möglichst unabhängig von politischen bzw. ideologischen Diktaten bleibt. Vgl. J. Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt am Main 1985, 44-45: „Hegel erkennt unmittelbar, dass die romantische Kunst dem Zeitgeist kongenial ist – in ihrem Subjektivismus spricht sich der Geist der Moderne aus. Aber als Poesie der Entzweiung ist sie kaum zur ‘Lehrerin der Menschheit’ berufen; sie bahnt nicht den Weg zu jener Religion der Kunst, die Hegel in Frankfurt zusammen mit Hölderlin und Schelling beschworen hatte. Ihr kann sich die Philosophie nicht unterordnen“.
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stellt. Die Sittlichkeit der Moderne ist nicht kompakt und nicht unmittelbar gegeben, sondern eine „polyzentrische“, gespaltete und vermittlungsbedürftige. Ebendeswegen ist es unmöglich, dass ein Kunstwerk das gesamte Bild objektiv wiedergibt: Der Kunstblick ist nunmehr partiell und subjektiv. Jedes (gelungene) Kunstwerk gibt nur einen Fragment bzw. eine Perspektive unserer Welt wieder: Alle diese Fragmente müssen in eine reflexive Vermittlung eingestuft werden, wodurch sie das Individuum zu einer komplexeren und allgemeinen Weltanschauung führen können, die aber immer einen aktiven und reflexiven Anteil benötigt. Auf dieser Weise entspricht die moderne Kunst der vermittlungsbedürftigen Struktur unserer Welt.
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Idéalisation et épiphanie (Hegel – Joyce) Pour Jean-François Marquet – En témoignage d’admiration et de respectueuse affection
Comme notre titre le fait apercevoir immédiatement, notre perspective n’est pas historiographique. Joyce, à notre connaissance, ne parle jamais de Hegel.1 Notre démarche est plutôt thématique. Elle tente de dégager quelques éléments de réponse à la question suivante: quel peut-être un art qui pratique une expérience de sacré (hiérophanie) qui ne soit pas la manifestation du dieu (théophanie) d’une religion déterminée? Nous voudrions montrer ici comment, en contextes très différents, Hegel et Joyce nous donnent les moyens de penser une hiérophanie non religieuse que le premier nomme „idéalisation“ et le second „épiphanie“. Pour mener à bien notre tâche il nous faudra d’abord dissiper le lieu commun sur la prétendue mort de l’art en montrant que les quelques formules qu’on invoque ne font référence qu’à la fin d’un art ordonné au religieux et que le caractère „révolu“ de cette forme traditionnelle n’est pas la mort de toute forme d’art. En nous appuyant sur l’édition Hotho2 des Vorlesungen über die Ästhetik et sur le groupe de textes qui s’accomplissent avec la parution en 1914 de Portrait of the Artist as a young Man,3 nous montrerons ensuite comment, par l’étude de la peinture hollandaise et la Science de la logique, et par la définition du beau en culture thomiste, Hegel et Joyce mettent en place un art de la transfiguration du prosaïque comme idéalisation chez l’un 1
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Dans The Aesthetics of James Joyce (Baltimore 1992, 42), J. Aubert indique que Joyce a pu consulter la traduction par Bénard des Leçons sur l’esthétique (Hegel, Cours d’esthétique. Trad. Ch. M. Bénard. 5 vol., Paris 1840-1852) et qu’il a probablement pu lire Bosanquet (The Introduction to Hegel’s Philosophy of Fine Arts. Translated by B. Bosanquet, London 1886), mais il n’a jamais eu de véritable contact avec l’œuvre même de Hegel. Nous citons Hegel dans Werke [in zwanzig Bänden]. Auf der Grundlage der Werke von 183245 neu edierte Ausgabe. Redaktion E. Moldenhauer und K. M. Michel. Frankfurt am Main, 1971-1979. Abréviation: W suivi du numéro du volume puis de la page. Nous ajoutons après le signe / la pagination de la traduction française (Hegel, Cours d’esthétique. Trad. J.-P. Lefebvre et V. von Schenck, 3 vol., Paris 1995-1997). – Quand nous citons l’édition scientifique Hegel Gesammelte Werke nous utilisons l’abréviation HGW suivie du numéro du volume puis de la page. – Nous choisissons tantôt de faire figurer le texte original en note, tantôt de l’indiquer entre parenthèses en cours de citation pour attirer l’attention de notre lecteur sur le vocabulaire et les tournures employées par Hegel. Le Portrait de l’artiste en jeune homme [Portrait of the Artist as a young Man], publié en 1914 est le résultat d’une longue maturation effectuée (souvent dans la douleur) à partir de 1904 dans Portrait de l’artiste – un texte d’une dizaine de pages refusé par la revue Dana, puis avec l’écriture de Stephen le héros dont il reste plusieurs strates. Notons que probablement à partir de 1903 Joyce produit une quarantaine de courts textes en prose qu’il intitule Epiphanies.
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et comme épiphanie chez l’autre. Enfin nous mettrons à l’épreuve cette hypothèse de démarches homologues en analysant très brièvement deux exemples.
*** Dans l’Introduction aux Leçons sur l’esthétique nous lisons: „Sous tous ces rapports (In allen diesen Beziehungen), l’art est et demeure pour nous, quant à sa destination la plus haute, [quelque chose de] révolu (ist und bleibt die Kunst, nach der Seite ihrer höchsten Bestimmung für uns ein Vergangenes)“.4 Cette déclaration a souvent été interprétée comme un verdict: l’art est mort. Une telle interprétation est inacceptable même si l’on s’en tient à cette seule formule.5 Remarquons d’abord que la référence à la mort est absente: vergangen ne signifie pas gestorben ou vernichtet. Notons ensuite deux points qui concernent l’ensemble de la phrase et relativisent le thème du „révolu“ en le précisant. En commençant par „in allen diesen Beziehungen“, la déclaration délimite un champ historique et donc ne parle pas absolument de mort de l’art. Hegel explique „que l’art n’apporte plus aux besoins spirituels cette satisfaction que des époques et des nations du passé y ont cherchée et n’ont trouvée qu’en lui (daß die Kunst nicht mehr diejenige Befriedigung der geistigen Bedürfnisse gewährt, welche frühere Zeiten und Völker in ihr gesucht haben)“.6 A quels temps fait-il référence? A ces „beaux jours de l’art grec, l’âge d’or du Moyen Âge tardif [qui] ne sont plus (Die schönen Tage der griechischen Kunst wie die goldene Zeit des späteren Mittelalters sind vorüber)7“. Dans la statuaire grecque ou la cathédrale gothique sont comblés les besoins spirituels d’absolu et de vérité: immanence des divins, transcendance vers le Dieu unique. Qu’en est-il au moment où Hegel prononce son cours? La satisfaction des besoins spirituels de l’époque passe désormais plutôt par la science: „La pensée et la réflexion ont éclipsé le bel art (Der Gedanke und die Reflexion hat die schöne Kunst überflügelt)“.
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W 13, 25/18. Nous n’avons trouvé nulle part un texte de Hegel où il affirme une mort définitive et complète de toute forme d’art. Cette thèse reste pourtant très fréquente. L. Ferry par exemple, s’appuie sur la formule dont nous sommes partis dans son ouvrage Homo Aestheticus (Paris 1990, 191). Selon lui la philosophie hégélienne de l’art est une „contre révolution copernicienne“ (165) dans la mesure où elle fait perdre à la sensibilité „l’autonomie qu’elle avait acquise chez Kant“ (46). Elle s’avère un retour à une esthétique qui grâce à la reprise du modèle leibnizien de réduction du sensible à un intelligible confus, soumet le sensible au Sens (en deçà, Ferry sent chez Hegel „un relent de platonisme“, 158). L’art n’est qu’une gnoseologia inferior destinée à se dissoudre dans la religion puis la philosophie (177, 191-192): „tel est le sens ultime de la fameuse sentence selon laquelle l’art appartiendrait au passé“(46). W 13, 24/17. Ibid.
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Cette relativisation historique se confirme et s’éclaire de façon conceptuelle dans la détermination de l’art dit „révolu“: „nach ihrer höchsten Bestimmung“. Cette destination suprême est le divin (das Göttliche) que l’art a pour vocation de „porter à la conscience (zum Bewußtsein bringen) et d’exprimer (auszusprechen)“.8 Si les besoins spirituels de l’époque sont à la pensée et la science, l’art ne doit-il pas se fondre dans la religion et la philosophie? Les choses sont beaucoup plus complexes.
*** Il faut bien comprendre la spécificité de l’art pour examiner ses relations avec la religion et la philosophie pour écarter complètement la thèse erronée de sa mort. Quelle est-elle? Nous avons vu qu’il s’agissait de faire prendre conscience du divin9 et de l’exprimer. Nous pouvons comprendre cette spécificité en repartant du texte qui semblait décréter son insuffisance voire sa disparition: „[L’art] a de fait perdu aussi pour nous sa vérité et sa vie authentiques et il est davantage relégué dans notre représentation qu’il n’affirme dans l’effectivité son ancienne nécessité et n’y occupe sa place éminente“.10 L’Art, c’est le divin (das Göttliche) rendu sensible (sinnlich); la vérité dans le registre de la vie (naturelle, sensible). En diagnostiquant une relégation de l’art dans la représentation (die Vorstellung), Hegel exprime deux blessures. La première tient au statut de l’œuvre. Nous reviendrons sur la signification d’une approche des œuvres comme objets en face d’un sujet. Contentons nous pour l’instant de constater que livrer l’art à la représentation, c’est le soumettre à des jugements ou des déclarations d’entendement alors qu’il est vécu dans le registre de la réception et de la participation sensible. C’est la raison pour laquelle Hegel parle de „vie perdue“. Mettre l’œuvre „à distance“, la déplacer du lieu où elle déploie son sens véritable, c’est la „reléguer“. La musique de Bach qu’on fait émigrer du lieu sacré du culte à l’espace profane de la salle de concert ou la statue d’un dieu grec qui est arrachée au temple qui l’enveloppait pour être exposée dans un musée11 perdent toute vie, sont réduites à des objets figés dans une représenta8 9
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W 13, 20/13. Notons que Hegel écrit das Göttliche et non der Gott ou Gott. Il n’y a pas une figure exclusive du divin même si pour Hegel le christianisme est la „religion accomplie“. Damit hat sie für uns auch die echte Wahrheit und Lebendigkeit verloren und ist mehr in unsere Vorstellung verlegt als daß sie in der Wirklichkeit ihre frühere Notwendigkeit behauptete und ihren höheren Platz einähme (W 13, 25/18). Voir J.-L. Nancy, „La jeune fille qui succède aux Muses“. In: Les muses. Paris 1994, 71-97. A propos de la célèbre image de la jeune fille (sur laquelle nous reviendrons pour notre propre compte) portant les œuvres de la religion esthétique grecque comme des fruits arrachés de leur arbre, Nancy déclare: „Il est donc clair que les œuvres de l’art – ainsi seulement devenues ces ’œuvres’ comme telles et déposées dans notre souvenir comme au musée, ce nouveau lieu des Muses“(82).
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tion fixe et sèche. La seconde blessure touche l’art dans sa spécificité sensible. Il semble que l’on passe historiquement et conceptuellement de la sensibilité à la représentation religieuse puis à la conception philosophique. Si l’art était bien mort, religion et philosophie n’en seraient-elles pas en quelque sorte les assassins? Une telle interprétation n’est pas tenable. La séquence Art – Religion – Philosophie ne décrit pas trois étapes mais trois dimensions de l’expression du „divin“ – cette höchste Bestimmung dont nous avons parlé. Ces trois sphères ont le même contenu. Le § 554 de l’Encyclopédie l’affirme sans ambiguïté en inscrivant l’ensemble de l’esprit sous l’angle de la religion. Ce passage a toujours posé de grandes difficultés aux interprètes.12 Dans la mesure où le Hegel de la maturité ne place plus (comme il le fit de Tübingen à Francfort) la religion et l’amour au sommet de la philosophie, nous proposons d’entendre „religion“ au sens large de ce qui nous relie au contenu de l’Esprit absolu et dont la religion au sens étroit n’est qu’une modalité. Les Leçons sur l’esthétique confirment cette unité de contenu: „Cette destination, l’art l’a en commun avec la religion et la philosophie (Diese Bestimmung hat die Kunst mit Religion und Philosophie gemein), mais selon cette modalité très particulière (jedoch in der eigentümlichen Art) qu’il expose même ce qu’il y a de plus haut de façon sensible (daß sie auch das Höchste sinnlich darstellt) et le rapproche ainsi du mode de manifestation phénoménale de la nature (und es damit Erscheinungsweise der Natur), des sens et de la sensation (den Sinne und Empfindung näherbringt)“.13 Trois points confirment ici notre thèse: d’abord une destination commune (gemein), ensuite des modalités (Art) différentes pour l’atteindre, enfin l’insistance sur la dimension sensible de l’approche artistique (Sinne und Empfindung).14 12
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Pour éviter d’accumuler les noms, distinguons deux lignes d’explication (dont la seconde prend deux formes): d’abord la thèse peu vraisemblable d’un accident (il est bien difficile de soutenir l’idée d’un lapsus calami dans un texte publié par Hegel lui-même et travaillé de des esquisses de Nuremberg jusqu’aux dernières éditions de Berlin), ensuite la thèse d’une nature foncièrement religieuse et théologique de la philosophie hégélienne soit pour s’en réjouir (hégéliens de droite) soit pour la renverser (hégéliens de gauche). W 13, 21/13. De la même façon le § 572 de l’Encyclopédie (E) déclare: „La science [la philosophie] est l’unité de l’art et de la religion (Diese Wissenschaft ist insofern die Einheit der Kunst und Religion), pour autant que le mode d’intuition, extérieur quant à la forme, du premier (als die der Form nach aüßerliche Anschauungsweise der ersteren), l’opération subjective (deren subjektives Produzieren) par laquelle il produit le contenu substantiel et le brise en de nombreuses figures subsistantes-par-soi, sont, dans la totalité de la seconde, ainsi que la dissociation se déployant et la médiatisation du déployé opérées par elle au sein de la représentation, non seulement retenus en un tout, mais aussi réunis en l’intuition spirituelle simple (sondern auch in die einfache geistige Anschauung vereint), et puis, en celle-ci, élevée à la pensée consciente de soi (und dann zum selbstbewußten Denken erhoben ist). Ce savoir est, par là, le concept, connu par la pensée, de l’art et de la religion, dans lequel ce qui est divers dans le contenu est connu comme nécessaire, et ce nécessaire, comme libre“. (Trad. B. Bourgeois, Paris 2012, 589-590).
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Il est donc, à notre sens, pour le moins „simplificateur“ de présenter les trois moments Art (A) – Religion (R) – Philosophie (P) comme une succession dans laquelle chaque moment détruirait le précédent. Ce serait encore confondre Aufhebung et Vernichtung. En outre, le terme de „moment“ (Moment) n’a pas un sens temporel. Il correspond à Seite (utilisé pour qualifier les trois moments ou aspects du logique; E §79) ou ici à Arten (modalités de l’esprit absolu). En effet, le Sens15 (Idée) est le même contenu, même „totalité (Totalität)“16 exprimé de plusieurs façons. Pour être le plus clair possible, proposons un tableau où les correspondances entre Esthétique (W 13) et Encyclopédie (E) sont indiquées: KUNST
Sinne und Empfindung näherbringt Sinnlich darstellt RELIGION Vorstellung PHILOSOPHIE Begriff W 13, 21
äußerliche Anschauungsweise in der Vorstellung Selbstbewußtes Denken E, § 572
Le Sens est rendu sensible dans l’art, représenté dans la religion et conceptualisé dans la philosophie. Puisque la lecture linéaire comprise comme suite de substitutions n’est pas recevable, il faut avoir le courage de concevoir les relations A – R – P en termes logiques et en leur expression la plus „concrète“: le syllogisme. C’est ce que Hegel pratique de façon ramassée au § 198 R (à propos du politique), aux paragraphes 569 et suivants (à propos de la religion) et aux paragraphes 575 et suivants (à propos de la philosophie). Trois syllogismes principaux permettent cette expression: le syllogisme de l’être-là, celui de la réflexion et celui de la nécessité dans sa figure disjonctive (la plus haute). Le premier juxtapose singulier (S), particulier (P), universel (U); le moyen terme Pne permet qu’une conjonction extérieure qui donne au lecteur l’impression d’arbitraire et fait grouiller une multiplicité de faux problèmes (ou tout au moins mal posés) concernant les transitions dans la philosophie hégélienne (droit – morale – éthicité; famille – société civile – Etat; Père – Fils – Esprit; Logique – Nature – Esprit). La compréhension des relations Art – Religion – Philosophie non point comme exclusion et destruction successives mais comme perspectives distinc15
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Nous mettons une majuscule pour distinguer sensibilité et signification sans vouloir ouvrir ici la question de savoir à quoi ce terme renvoie. Un vieil hégélien (soucieux avant tout du texte) le reliera ou même l’identifiera à l’Idée, au Concept (qui n’est pas un concept) ou au Logique (contenu qu’exprime la logique et qui rend possible les philosophies de la nature et de l’esprit). Un jeune hégélien (soucieux de dépasser Hegel en fonction des exigences du présent) l’en séparera. Dans le premier cas, nous serons dans ce qu’il est possible d’appeler sommairement une métaphysique du Logos. Dans le second, il s’agira de ramener la signification aux usages et aux héritages historiques au sein d’une société donnée. Terme souligné par Hegel au § 572 que nous avons cité en note.
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tes sur un même contenu est confirmée par une telle approche syllogistique. Le premier syllogisme A(S) – R(P) – P(U) donne une image de simple succession qui rend compte (mais ne justifie pas) des interprétations sommaires (parce qu’elles n’en restent qu’à la vision du texte comme simple donné objectal) que nous avons tenté de démonter. Le deuxième syllogisme A(P) – R(S) – P(U) montre une intériorisation réflexive (et non une juxtaposition) du donné sensible de l’art pour l’ouvrir à l’universalité philosophique. Dans le troisième P(U) se scinde en R(S) et A(P). Ce sont les deux extériorisations du contenu conçu par la philosophie: dans l’ordre représentatif de la religion et dans le registre sensible de l’art. Si art, religion et philosophie sont trois dimensions nécessaires de l’Esprit absolu, alors aucune n’a à être purement et simplement anéantie. Reste alors, pensera légitimement notre lecteur, à expliquer l’affirmation simultanée du „nécessaire“ et du „révolu“. Le concept est-il démenti par l’histoire? Revenons donc aux Leçons sur l’esthétique pour expliquer plus profondément ce lien. Si notre hypothèse est exacte, il doit y avoir un art après l’art révolu. Si la situation historique semble la contredire, c’est parce que l’art a perdu son lien vivant avec la religion, avec le divin. Peut-on penser une forme d’art qui ne soit pas „religieuse“ ou au service de la religion? Commençons donc par comprendre le diagnostic historique de Hegel.
*** Ce qui marque l’époque de Hegel (comme la nôtre sans doute) est l’affaiblissement du religieux17 dans l’art. Comme nous l’avons lu dans les Vorlesungen über die Ästhetik, le lien Art – Religion semble s’être historiquement distendu. Hegel l’affirme clairement non seulement à propos des grecs mais aussi des chrétiens: „Nous avons beau trouver toute l’excellence que nous voulons aux images des dieux grecs (Mögen wir die griechischen Götterbilder noch so vortrefflich finden), et voir exposés Dieu le Père, le Christ et Marie avec toute la perfection et toute la dignité possible (und Gottvater, Christus, Maria noch so würdig und vollendet dargestellt sehen) – rien n’y fait, nous ne ployons plus pour autant le genou (es hilft nichts, unser Knie beugen wir doch nicht mehr)“.18 Pourquoi ce mélange d’admiration et d’indifférence devant les œu17
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Sinon du „spirituel“. Dans son célèbre livre de 1911 Du spirituel dans l’art et dans la peinture en particulier [Über das Geistige in der Kunst], Kandinsky n’entend pas le spirituel au sens du religieux. Lorsque Thérèse d’Avila (dans le quatrième chapitre de la Septième Demeure) décrit la vie spirituelle, c’est pour l’ordonner à l’imitation du Christ. Kandinsky ne s’inscrit pas dans une religion précise. Il brasse des références hétéroclites (qui vont des Rose-Croix à Debussy en passant par la théosophie, Rudolf Steiner, Nietzsche ou Wagner), pour voir dans la démarche de l’art l’expression de notre monde intérieur: le spirituel. En peignant l’harmonie ou la dissonance des formes et des couleur, l’artiste nous entraîne à la fois dans une intériorisation et une élévation qui conduisent à l’abstraction. W 13, 142/143.
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vres passées? Trois raisons. D’abord, l’admiration n’est plus que de l’ordre du souvenir. Hegel précise même que ce souvenir est invérifiable: nous ne saurons jamais ce qu’un grec sentait devant une statue ni un chrétien du Moyen âge dans une cathédrale gothique. Ensuite (plus profondément) il tient d’abord au statut ontologique de l’œuvre. Comme nous l’avons vu les images (Bilder), les œuvres sont (pour nous sinon pour les anciens grecs ou les chrétiens du Moyen-âge tardif) des produits de la Vorstellung et donc des ob-jets Gegenstand (des thèses fixes, extérieures qui font face au sujet qui les contemple dans leur „indifférence“). L’être-objet de l’objet, c’est l’extériorité: en lui toute actualité est comme ensevelie, disparue. L’objectité (Gegenständlichkeit) n’est pas effectivité (Wirklichkeit). Sans Wirkung la chose s’éteint, se fige – ce qui meurt n’est pas tant l’art qu’un certain statut ontologique de l’œuvre. Ce qui nous amène enfin au troisième point qui touche le statut chronologique des œuvres. Que ce soit la religion grecque antique ou le christianisme, la dimension religieuse de l’art n’y suffit plus à vivifier l’œuvre. Si ni la religion, ni la philosophie sont assassins de l’art, si une époque de l’art est désormais révolue, alors quelle est la destination d’un art qui n’est plus dépendant d’un contenu religieux ni „abouché“ au divin dans une religion particulière? Les textes de Hegel nous offrent trois pistes. La première consiste à constater que si le lien entre art et religion s’est affaibli il n’est pas pour autant disparu. Nous constatons nous mêmes par exemple qu’un art chrétien subsiste et s’épanouit encore. Même s’il n’est pas spécifiquement un ’architecte chrétien’, Le Corbusier a construit à Ronchamp la Chapelle Notre-Damedu-Haut, à Evreux-sur-l’Arbresle le Monastère de la Tourette.19 La deuxième consiste à décrire la désagrégation de l’art (ou un art de la désagrégation) à la fin de ce que Hegel nomme en un sens très large l’art romantique et qui passe par une inflation des individus qui cherchent d’abord à être originaux, à se distinguer20 en tant que singularités. Une troisième piste (aussi séduisante que fragile) est offerte non point dans un texte de Hegel mais dans une lettre21 de son ami Rösel. Pour les 55 ans de Hegel, cet ami peintre et dessinateur lui offre „au lieu d’une image, un papier blanc“. Sans retomber dans l’illusion (à laquelle Rösel cède peut-être) d’une négation de l’art dans sa dimension sensible, on ne peut pas ne pas associer cette pure blancheur avec l’effacement ten-
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Chrétienne ou non, sa démarche n’a rien à voir avec celles des bâtisseurs de cathédrale. Il s’agit d’un programme individuel qui conçoit une chapelle chrétienne à Ronchamp comme une usine Duval à Saint-Dié ou une Cité radieuse à Marseille. L’architecte médiéval qui donne tout son talent voire son génie à la conception d’une chapelle s’efface derrière son œuvre bâtie comme un témoignage collectif de foi. Voir R. Huyghe, L’art et l’âme, Paris 1980, 255. Nous avons étudié ce phénomène à la neuvième section de notre ouvrage Hegel. L’épreuve de la contingence, Paris 1999, auquel nous nous permettons de renvoyer. Hegel, Correspondance, t. III. Traduction J. Carrère. Paris 1967, 85-86.
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danciel des traces sensibles au profit d’une pure conception de l’Absolu.22 Mais gardons nous de plaquer rétrospectivement sur l’œuvre de Hegel des éléments anachroniques comme l’art abstrait (même avec la bonne volonté – toujours ambiguë – de chercher à en sauver la modernité). Esquissons donc une autre piste: Hegel nous donne les ressources pour repenser un contenu de l’art qui n’est pas prioritairement le religieux mais révèle ou constitue une forme de sacré immanente au profane. Comment le penser? Hegel nous explique un processus d’idéalisation de l’éphémère dont on trouve, comme nous allons le montrer, une autre figure dans la conception de l’épiphanie chez Joyce (hors culture allemande23 mais comme Hegel dans un contexte culturel profondément chrétien).
*** Ce modèle est mis à jour dans les célèbres analyses sur la peinture hollandaise. Repartons d’un nouveau passage des Leçons: „C’est de cette façon que la peinture hollandaise par exemple (In dieser Weise hat z.B. die holländische Malerei), a su transformer (umzuschaffen gewußt) les fugitives apparences présentes dans la nature (die vorhandenen flüchtigen Scheine der Natur) pour produire à partir d’elles, recréés à neuf par l’homme, des milliers d’effets [différents] (als vom Menschen neu erzeugte zu tausend und aber tausend Effekten). Velours, éclats des métaux, lumière, chevaux, serviteurs, vieilles femmes (Samt, Metallglanz, Licht, Pferde, Knechte, alte Weiber), paysans soufflant la fumée de leurs pipes usées (Bauern, aus Pfeifenstummeln den Rauch herausblasend), scintillement du vin dans un verre transparent (das Blinken des Weins im durchsichtigen Glase), gaillards vêtus de vestes sales jouant avec de vieilles cartes (Kerle in schmutzigen Jacken, mit alten Karten spielend)“.24 Comment comprendre cette spécificité? Une interprétation juste25 (mais pas suffisante pour notre propos) du sens de cette peinture part du constat d’un écart entre la vocation d’expression artistique du divin et la trivialité des sujets abordés. L’explication consiste alors à trouver la véritable finalité de ses artistes (qui représentent par exemple des écorces de citrons entorsadées à côté d’huîtres ouvertes) dans une démonstration de l’habilité de l’artiste lui-même. La perfection de l’imitation n’est pas 22
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Nous aurions alors un parcours qui irait de la compacité de la pyramide aux Lieder de Goethe et, au-delà jusqu’à l’abstraction (qui ne serait pas pure et simple suppression du sensible mais manifestation sensible de la perspective de sa relève). Nous adhérons sans grandes réserves à la thèse de B. Laman développée dans: B. Laman, James Joyce and German Theory, „the romantic school and all that“. Madison (Wis.) 2004. Malgré les allusions à Goethe, Lessing ou Wagner, la réflexion de Joyce ne s’appuie pas sur la tradition allemande mais sur Platon, Aristote et Thomas d’Aquin. W 13, 214/218. N. Grimaldi, „La peinture hollandaise selon Hegel: le réalisme dans l’art comme déréalisation de la nature“. In: L’art ou la feinte passion. Paris 1983, 72-93.
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un effacement devant les choses mais l’affirmation de la puissance du travail spirituel: habileté de l’artiste, connaissances de l’optique, etc. Cet éloge du travail va au-delà de la peinture. Il s’agit d’exprimer la fierté d’un peuple capable de faire gagner de l’espace (travaillé, culturel) contre la simple nature (la mer), l’orgueil de la bourgeoisie marchande (qui étale ses richesses produits de son travail). Plus profondément, à notre sens, la peinture hollandaise part n’est pas seulement conduite par l’orgueil mais par la tendresse, l’attention à l’égard du prosaïque. Revenons au texte: les sujets des tableaux sont „des objets … dont nous ne nous préoccupons guère dans la vie quotidienne […] Mais ce qui nous sollicite aussitôt dans ce genre de contenu (Was uns aber bei dergleichen Inhalt … in Anspruch nimmt), pour autant qu’il nous est présenté par l’art (insofern ihn die Kunst uns darbietet), est justement ce paraître et cet apparaître des objets en ce qu’ils sont produits par l’esprit (ist eben dies Scheinen und Erscheinen der Gegenstände als durch Geist produziert), lequel transforme au plus intime ce qu’il y a d’extérieur et de sensible en toute matérialité (welcher das Äußere und Sinnliche der ganzen Materiatur im Innersten vewandelt)“.26 Hegel décrit donc le processus suivant: 1) le peintre se trouve devant des objets tout à fait ordinaires (une „réalité prosaïque“ dit-il). 2) A travers l’art et uniquement dans la mesure où (insofern) l’art les considère, ces objets nous interpellent 3) Le regard de l’artiste n’est pas une pure réceptivité. Il traduit une spiritualisation: les vestes sales des joueurs de cartes, les pipes de vieux paysans, un verre laissé sur une nappe de velours sont idéalisés c’est-à-dire traversés, transfigurés par l’esprit. L’idéalisation artistique nous transporte depuis l’extériorité sensible vers l’intériorité du Sens. Si le sujet n’est plus religieux, le trait essentiel de l’art est conservé: il présente son sujet à travers la sensibilité (comme nous l’avons noté les Leçons sur l’esthétique disaient „sinnlich darstellt“ l’Encyclopédie décrivait une äußerliche Anschauungweise)27. 4) L’élément supplémentaire (que nous annoncions par le mot de „tendresse“) est l’insistance sur le paraître et l’apparaître dans sa fragilité même. Le prosaïque n’est pas seulement imité à la perfection, il est peint dans son évanescence. C’est cette attention de l’art à l’infime qui nous conduit à Joyce pour tester l’hypothèse d’un processus homologue.
*** Le chapitre 24 de Stephen le héros décrit un art du suspens ou de la saisie comme épiphanie: „By an epiphany he meant a sudden spiritual manifestation, whether in vulgarity of speech or of gesture or in a memorable phase of the mind itself. He believed it was 26 27
W 13, 214/218. Respectivement W 13, 21 et W 10, 378.
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for the man of letters to record these epiphanies with extreme care, seeing that they themselves are the most delicate and evanescent of moments“.28
De l’écorce de citron de la peinture hollandaise au panier sur la tête d’un garçon boucher croisé dans une rue, quelle peut être la continuité? Repartons de Hegel et demandons en quoi consiste l’idéalisation et jusqu’où elle peut être rapprochée de l’épiphanie. Hegel déclare que l’art „élève, par cette idéalité, des objets pourtant dépourvus de valeur que, malgré leur contenu insignifiant, il fixe pour eux-mêmes et en fait des fins et en attirant notre attention sur ce à quoi, sans lui, nous n’en accorderions aucune. L’art remplit le même rôle par rapport au temps, là encore il est idéel. Il rend durable ce qui, à l’état naturel, n’est qu’éphémère; un sourire fugace, une moue malicieuse, un regard, une lueur furtive, et tout autant, certains traits spirituels de la vie des hommes, les accidents, les circonstances qui vont et viennent et sont à nouveau oubliées – l’art les arrache tous à l’existence périssable et évanescente et sous ce rapport, dépasse la nature“.29 Pour comprendre le processus d’idéalisation il faut bien distinguer l’idéal et l’idéalisation. La question liée au premier terme est posée dans les débats d’école entre les tenants du beau naturel et ceux du beau idéal. Débats stériles puisque, comme le montre Hegel, le beau naturel est toujours déjà culturel. Les choses naturelles sont et ne sont belles qu’en tant que considérées c’est-àdire en tant que „produits de l’esprit“.30 Contre les tenants de la primauté du beau naturel, Hegel met les choses au point dès l’Introduction aux Leçons sur l’Esthétique: „nous excluons d’emblée le beau naturel“ non point par décision arbitraire mais parce qu’il n’existe pas en tant que tel. „Le beau naturel n’apparaît que comme une réfraction du beau propre à l’esprit (nur als ein Reflex des dem Geiste angehörigen Schönen)“. Devant la beauté naturelle en tant
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J. Joyce, Œuvres I. Édition établie par J. Aubert. Paris 1982, 512-513: „Par épiphanie, il entendait une soudaine manifestation spirituelle se traduisant par la vulgarité de la parole ou du geste ou par quelque phase mémorable de l’esprit lui-même. Il croyait qu’il incombait à l’homme de lettres de recueillir avec un soin extrême ces épiphanies, voyant qu’elles étaient elles-mêmes les moments les plus délicats et évanescents“. „Durch eine Epiphanie meinte er plötzlich geistige Betätigung, ob in der Vulgarität der Sprache oder Gesten oder in einer denkwürdigen Phase der Geist selber. Er glaubte, daß es für den Mann von Briefen an diese Epiphanien mit äußerter Vorsicht aufzunehmen, zu sehen war, daß sie selbst sind die feinsten und flüchtigen Momenten“. „Dadurch nun erhebt sie durch diese Idealität zugleich die sonst wertlosen Objekte, welche sie ihres unbedeutenden Inhalts für sich fixiert und zum Zweck macht und auf das unsere Teilnahme richtet, woran wir sonst rücksichtslos vorübergehen würden. Dasselbe vollbringt die Kunst in Rücksicht auf die Zeit und ist auch hierin ideell. Was in der Natur vorübereilt befestigt die Kunst zur Dauer; ein schnell verschwindendes Lächeln, ein plötzlichen schalkhaften Zug um der Mund, einen Blick, einen flüchtigen Lichtschein, ebenso geistige Züge im Leben der Menschen, Vorfälle, Begebenheiten, welche kommen und gehen, da sind und wieder vergessen werden – alles und jedes enreißt sie dem augenblicklichen Dasein und überwindet auch in dieser Beziehung die Natur“ (W 13, 215-216). W 13, 214/218.
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que naturelle comme devant les Alpes bernoises, on ne peut dire que „c’est ainsi (es ist so)“. Si l’on en vient dans cette lumière au second thème, il faut remarquer que notre texte d’appui offre deux niveaux de l’idéalisation. D’abord celui des objets qu’il transfigure, comme nous l’avons vu à propos des vestes, des pipes, des vieilles cartes ou des écorces de citrons. Ensuite, celui du Temps: l’art part de manifestations éphémères qu’il va inscrire dans la durée. Dans le Portrait de jeune femme (1446) de Petrus Christus, l’ombre peinte sur le cou est apparue et disparaîtra au moindre mouvement de la tête ou du buste du modèle. De même le geste très chaste et momentané de la Vierge allaitant (Jan Van Eyck)31 soulevant délicatement du majeur son sein droit et le dirigeant de son index pour l’offrir à Jésus. Le sensible n’est pas écrasé par un intelligible dominateur. C’est sa fragilité même qui est signifiée et célébrée. En confrontant le processus que nous avons reconstitué chez Hegel et enregistré chez Joyce (et que nous préciserons plus loin) nous pouvons maintenant figurer sinon une identité du moins une homologie entre l’idéalisation hégélienne et l’épiphanie joycienne en mettant face à face les expressions équivalentes: Vulgarity of a speech or gesture Spiritual manifestation Record these epiphanies with extrem care The most delicate and evanescent of moments Joyce
Wertlose Objekte Erhebung durch diese Idealität Entreißen Dem augenblicklichen Dasein Hegel
Nous avons donc quatre niveaux:
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Hegel évoque au moins deux fois Jan Van Eyck dans les Leçons. Lorsqu’il montre dans la troisième section consacrée à l’art romantique comment l’art passe de la sphère universelle de la religion (chapitre 1) à l’affirmation de la particularité individuelle, Hegel commence par évoquer des sujets stables: „l’art consiste à scruter par toute la finesse de ses sens dans le monde existant […] un arbre, un paysage sont déjà pour soi quelque chose de stable et qui demeure“. Mais il ajoute aussitôt: „mais la brillance soudaine du métal, le jeu de la lumière sur un raisin, un regard fugitif de la lune, du soleil, un sourire, l’expression d’affects vite évanouis, les mouvements, les postures, les mimiques drôles – toutes ces choses périssables, transitoires et fugitives – voilà ce que ce niveau de l’art a pour tâche de saisir et de rendre durable pour la contemplation directe avec tout leur caractère vivant“. Il cite comme modèle de cette idéalisation du fugitif les anciens Néerlandais „qui avaient étudié la dimension physique des couleurs de façon particulièrement approfondie“. Ce sont les Van Eyck, les Memling qui savent fixer ses épiphanies du passager (W 14, 227-228).
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1) Nous sommes devant un objet ou un phénomène tout à fait ordinaire: un comportement,32 des propos triviaux, un objet (vêtements sales, vieilles cartes à jouer, panier …). 2) Ce fait arraché33 à la trivialité par un acte de recueil dans l’écriture ou d’élévation idéalisante dans la peinture. Le sujet de cette activité est soustrait de l’utilitaire34 sans en être coupé35 (un gros soulier comme une veste sales sont et restent ce qu’ils sont). Le travail de l’esprit est médiation. Ainsi Hegel nous explique-t-il: „L’art, dans cette idéalité, tient le milieu entre l’existence laborieuse simplement objective et la représentation simplement intérieure. Il nous livre les objets mêmes mais de l’intérieur ;36 il ne les offre pas à l’usage ordinaire mais restreint l’intérêt à l’abstraction de l’apparence idéelle pour un regard purement théorique“.37 3) Ce que l’écriture de l’épiphanie ou l’idéalisation nous offrent est fragile, instable. Joyce dit evanescent, Hegel parle de l’instant, de l’Augenblick – ce qui apparaît et disparaît en un clin d’œil: l’élocution un peu lourde (suggérée par les points de suspension),38 l’éclat d’un verre en cristal sur une table. N’y a-t-il pas là un risque de voir des idéalisations et des épiphanies partout, de diluer le concept de cet ’art après l’art’ dans toute manifestation artistique voire perceptive? Il est donc indispensable de comprendre ces phénomènes de façon plus précise. Pour cela il faut expliquer spéculativement cette idéalisation comme compénétration du Sens et du sensible et voir comment Joyce 32
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Un des petits textes en prose cumule la grossièreté du comportement et la trivialité du propos: „Tobin, marchant bruyamment, chaussé de gros souliers et frappant la route de sa canne: … Oh, rien ne vaut le mariage pour vous ranger un gars. Avant de venir ici à l’Examineur [un pub de Dublin] j’avais l’habitude de traîner avec des gars et de lever le coude … Maintenant j’ai une bonne maison et … je rentre à la maison le soir et si je veux boire un coup … hé bien, je peux … Si j’ai un conseil à donner à tous les jeunes gars qui en ont les moyens, c’est: mariez-vous jeunes“ (J. Joyce, Epiphanies, IX. In: Œuvres I. Paris 1982, 91). Entreißen n’implique pas (ici) de violence. Il s’agit de recueillir, d’enregistrer (Joyce emploie le verbe to record), de retenir, de sauver. L’art arrache les phénomènes à l’anéantissement comme on arrache quelqu’un à la mort. Dans une discussion avec le Doyen de son école, Stephen distingue bien les choses belles (liées à la vue et apaisantes) des choses bonnes (lier à un désir à satisfaire): Pulchra sunt quae visa placent; Bonum est in quod tendit appetitus. Cf. J. Joyce, A Portrait of the Artist as a Young Man. London 1992 (Abr. PAYM), 201. L’art n’arrache pas seulement les phénomènes à la disparition, il sait faire affleurer l’invisible dans le visible. Hegel fait référence à l’intérieur. Il ne renvoie pas une esthétique du sentiment (une intériorité psychologique). Cet intérieur qui est irréductible à l’extériorité comme à l’intériorité psychologique (tout en les médiatisant), c’est celle que l’art invente du sein des choses mêmes, c’est le Sens du sensible – intériorité ontologique ou plus précisément éidétique (d’où la référence au regard purement théorétique – contemplation). „Die Kunst in dieser Idealität ist die Mitte zwischen dem bloß objektiven bedürftigen Dasein und der bloß inneren Vorstellung. Sie liefert uns die Gegenstände selbst, aber aus dem Innern her; sie gibt sie nicht zum sonstigen Gebrauch, sondern beschränkt das Interesse auf die Abstraktion des ideellen Scheines für den bloß theoretischen Anblick.“ Voir note 33.
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donne des critères précis pour ne reconnaître une épiphanie et si une correspondance apparaît chez Hegel.
*** Commençons par Joyce qui vient d’une formation chrétienne chez les Jésuites. Si Joyce évoque en passant Goethe et Lessing, ce n’est pas par la bouche de Stephen mais par celle de son ami Donovan qui lui-même ajoute immédiatement une réserve sur la manière germanique de penser.39 C’est dans ce contexte culturel qu’il montre (dans Portrait of the Artist as a Young Man) Stephen discutant du sens de la beauté avec ses condisciples Lynch et Donovan. Il déclare: „Aquinas40 says: ’ad pulcritudinem tria requiruntur, integritas, consonantia, claritas“. Il traduit ainsi: „Three things are needed for beauty, wholeness, harmony and radiance“.41 Sa traduction est déjà une interprétation. Comme nous le voyons et comme le contexte de la conversation l’établit, il ne s’agit pas là de travailler un concept théologique limité à la Présentation de Jésus-Christ au Monde (symbolisée par la visite des Mages). Stephen s’explique ici dans une perspective strictement esthétique (profane) bien que ce soit avec des concepts thomistes reçus dans son éducation chrétienne.42 Que dit-il? Il s’explique lui-même après avoir traduit Thomas d’Aquin. Pour qu’il y ait beauté, il faut: 1) Une chose une (découpée, déterminée) 2) un rythme structurant (harmonie) et 3) le regard de Philosophe (qui accède à l’essence et à la lumière qu’elle confère à l’objet) ou de l’Artiste (qui élabore une image dans son activité – littéraire en l’occurrence). Il fait accéder Lynch (parfois aussi lent que certains interlocuteurs de Socrate) à la compréhension du concept en lui indiquant un garçon boucher qui vient de se coiffer d’un panier.43 Restons au plus près de Joyce en ajoutant des numéros pour mieux distinguer les dimensions du beau et en supprimant quelques redites provoquées par la lenteur de Lynch: 1) „Afin de voir ce panier, 39
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„Goethe et Lessing, continua Donovan, ont beaucoup écrit sur ce sujet, – l’école classique, l’école romantique, et tout ça (and all that) [nous comprenons l’allusion dans le titre de l’ouvrage de Barbara Laman cité plus haut]. Le Laocoon m’avait paru fort intéressant. Bien entendu, c’est de l’idéalisme, c’est allemand, c’est ultra-profond (Of course it is idealistic, German, ultraprofound)“ (PAYM, 229). Il y a là à la fois ironie envers la lourdeur allemande et la balourdise de Donovan. Joyce (via Stephen) s’appuie ici sur Summa Theologiae, Prima pars, quaestio 39, articulus. 8, in Biblioteca de autores cristianos, Madrid 1994, 284. PAYM, 229. „Pour moi, je puis actuellement continuer mes recherches à la lueur de quelques idées d’Aristote ou de Thomas d’Aquin […] Je me sers d’eux seulement pour mes directives et mes besoins jusqu’à ce que j’aie établi quelque choses de plus personnel grâce à leurs lumières“ (PAYM, 202) – „saint Thomas me guidera tout droit. Mais lorsque nous arriverons aux phénomènes de la conception artistique, de la gestation, de la reproduction artistique, j’aurai besoin d’une terminologie nouvelle“ (227). PAYM, 230-231.
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ton esprit le sépare d’abord de tout l’univers visible qui n’est pas ce panier. La première phase de l’appréhension est une ligne de démarcation tracée autour de l’objet […] temporelle ou spatiale, l’image esthétique est d’abord nettement perçue comme un tout bien délimité – voilà l’integritas“. 2) „Ensuite, tu passes d’un point à un autre en suivant les lignes qui figurent l’objet. Tu l’appréhendes dans l’équilibre balancé de ses parties entre les limites de l’ensemble; tu sens le rythme de sa structure. […] Après avoir senti que cette chose est une, tu sens maintenant que c’est une chose. Tu l’appréhendes complexe, multiple, divisible, séparable, composée de ses parties, résultat et somme de ces parties, harmonieuse. Voilà la consonantia“. 3) Après avoir entendu Lynch parier un cigare si Stephen parvenait à expliquer la claritas, ce dernier fait deux remarques. La première est négative: si le terme évoque la lumière, il ne s’agit de celle de „l’Idée dont la matière n’est que l’ombre“. Ce panier ’sensible’ n’est pas le reflet dégradé d’un panier brillant en quelque ciel intelligible. La clarté en question est liée à l’intégrité. „Tu vois que ce panier est l’objet qu’il est, et pas un autre“. La limitation qui fait être une chose une est la marque de la quiddité. Stephen renvoie à l’identité essentielle non pas transcendante (Platon tel que l’élève des Jésuites l’imagine) mais immanente (Aristote) à ce panier sur la tête de ce garçon boucher.44 Joyce montre comment c’est l’imagination qui permet à l’artiste de fixer cette beauté. Ce moment spirituel est appelé un „instant mystérieux (mysterious instant)“ – ce qui nous ramène à l’évanescent et au clin d’œil que nous avons déjà pointés chez Hegel. L’arrière plan hégélien est, en esthétique comme dans toutes les „sciences réelles“ (philosophie de la nature et philosophie de l’esprit), l’onto-logique spéculative. Comment, dans ce cadre, comprendre l’œuvre comme produit de l’idéalisation? Nous avons vu que l’œuvre est l’unité du sensible et de l’Intelligible. Dans l’éclat d’un métal, dans une moue malicieuse s’unissent le sensible (l’objet extérieur) et le Sens (immanent) par l’entremise du travail, de la „production spirituelle“ de l’artiste. Qu’est-ce que cette idéalité de l’idéalisation? Pour le comprendre il faut nous tourner vers la Doctrine de l’Etre45 et plus précisément au troisième et dernier chapitre de la logique de la Qualité: l’Etre-pour-soi en tant que tel (Fürsichsein als solches). Bien que le titre de „qualité“ englobe toute la première section de la Doctrine de l’Etre, elle ne commence véritablement qu’au deuxième chapitre consacré à l’être-là. Pour qu’il y ait „qualité“, il faut qu’il y ait déterminité, limite; or tout le premier chapitre est sous le signe de l’immédiateté indéterminée. Etre – Néant – Devenir sont en deçà du quelque chose. Les explications sur l’idéalité sont données 44
45
„The radiance of which he speaks is the scholastic quidditas, the whatness of a thing“ PAYM. L’heureuse expression whatness peut aussi bien renvoyer à l’hecceitas de Duns Scot en tant que détermination essentielle. La quiddité du panier que porte le garçon boucher, c’est „l’êtrepanier“ de tout panier. L’haecceïté du panier du garçon boucher, c’est „l’être – ce – panier“ de ce panier ci. Hegel, Wissenschaft der Logik. Das Sein (1812), HGW 11, 88.
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IDÉALISATION ET ÉPIPHANIE (HEGEL – JOYCE)
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dans la dernière division: „L’idéalité est la même chose que ce qu’est l’infinité (Die Idealität ist also dasselbe, was die Unendlichkeit ist), ou elle en est l’expression positive et réfléchie, déterminée (oder sie ist der positive und reflektierte, bestimmte Ausdruck derselben).[…] L’idéalité et la réalité sont une seule et même chose (Die Idealität und Realität ist ein und dasselbe).[…] L’idéalité est la réalité véritable (die wahrhafte Realität)“. Wahrhafte Realität correspond à l’étant véritable (ontos on) de Platon ou à l’effectivité de la Doctrine de l’essence. C’est le réel-rationnel, le sensible-sensé. Souvenons nous du passage46 des Leçons sur l’esthétique qui définissait l’idéalisation: „Cette intégration dans l’esprit (Dies Aufnehmen in den Geist), cette élaboration d’une forme et d’une figure [par] l’esprit (dies Bilden und Gestalten von seiten des Geistes her) sont en effet justement ce que l’on appelle idéalisation (heißt eben Idealisieren)“. Si l’on voit bien l’intrication entre idéalité et Sens, quel est le lien entre idéalisation et évanescence? Plus que la Doctrine de l’être de 1812 dont nous venons de parler, c’est celle de 1832 qui peut nous éclairer le plus nettement. Le passage sur lequel nous nous appuyons traite du statut des „choses finies“ en insistant sur leur instabilité. Celle-ci n’est pas une simple altération (alloiôsis, changement selon la qualité – kata poion) mais une disparition (phthora, un changement selon l’étance – kat’ousian). Les choses ordinaires „sont, mais la vérité de leur être consiste en leur évanouissement. Le fini ne devient pas seulement un autre, comme c’était encore le cas dans le quelque chose (Etwas), mais il passe (vergeht)“. Telle est l’idéalité du fini.47 Devant ces „objets ordinaires“ que l’art va transfigurer (cet homme qui marche, ce verre qui scintille) nous sommes chaque fois devant un être-là; or l’être-là est „être avec la détermination“. La da de Dasein n’a pas une signification spatiale mais est l’expression de cette déterminité. Cette déterminité de l’être-là a un double sens.48 Elle signifie d’abord „limite“ c’est-à-dire ce qui concentre l’étant en luimême, constitue (ausmacht) son „être-dans-soi“ (In-sich-sein) pour en faire (un) „quelque chose“ (c’est l’heureuse limite grecque du péras ou l’integritas de saint Thomas dont l’équivalent joycien est Wohlness). Elle signifie ensuite „borne“ c’est-à-dire ce qui marque la finité du quelque chose: ce qui le promet à disparition dans son émergence même. C’est en ce second sens que la division „Finité (Endlichkeit)“ déclare: „Le fini ne change pas seulement comme toute chose en général mais il s’évanouit et il n’est pas simplement possible qu’il s’évanouisse ou qu’il puisse être sans s’évanouir. Mais au contraire,
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W 13, 221/225. „Die Idealität kann die Qualität der Unendlichkeit genannt werden; aber sie ist wesentlich Prozeß des Werdens und damit ein Übergang, wie der des Werdens in Dasein, der nun anzugeben ist“. HGW 21, 116.
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l’être des choses finies est tel qu’elles ont le germe de leur disparition comme leur être-dans-soi, l’heure de leur naissance est l’heure de leur mort“.49 L’être-là est l’unité contradictoire de ces deux moments: concentration dans soi (An-sich-sein) et rapport à son autre (Sein-für-anderes) sous les deux formes principales de la relation extérieure aux autres quelque-chose(s) et du devenir-autre (où l’on peut reconnaître le simple changement mais dont la forme extrême est le devenir-rien – la disparition dont nous parlions à l’instant). L’idéalité du fini est précisément cette in-consistance (cette unité contradictoire): „le fini est ainsi la contradiction de soi en soi, il se supprime, disparaît (Das Endliche ist so der Widerspruch seiner in sich; es hebt sich auf, vergeht)“.50 L’idéalisation du fini ne l’anéantit pas mais le relève (aufhebt). Le fini qui se supprime atteint, explique Hegel, „sa détermination même“, en tant que négation (déterminante) de sa propre négation, il se détermine en intégrant son autre. Cette première identité avec soi (Identität mit sich) est le Pour-soi (Für sich) ou l’Infini (das Unendliche). Nous avons donc – en registres très différents – quatre éléments: un objet (ordinaire) déterminé, découpé; une structure réflexive de cette position (relation avec d’autres éléments qui donne son unité à la scène); une signification51 qui découle de la détermination et de la structure; une instabilité que ce processus n’efface pas mais porte au sens. Très schématiquement: Un objet un Une structuration Une signification De passage
Da-sein Position und Reflexion Wahrhafte Realität Augenblick
→ SENSIBLE SENSE
→ IDEALISATION
Wholeness Harmony Radiance Most delicate and evanescent of moments → EPIPHANIE
*** Pour redonner chair à ce schématisme finissons par deux exemples chez Hegel et chez Joyce: la jeune fille devant la mer (PAYM) et la jeune fille portant des fruits (Phénoménologie de l’esprit). Dissipons d’emblée l’objection qui consisterait à dire que Joyce ne fait que décrire le réel alors que Hegel forge une 49
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„Das Endliche verändert sich nicht nur wie Etwas überhaupt, sondern es vergeht, und es ist nicht bloß möglich, daß vergeht, so daß es sein könnte, ohne zu vergehen. Sondern des Sein der endlichen Dingen als solches ist, dem Keim des Vergehens als ihr Insichsein zu haben die Stunde ihrer Geburt ist die Stunde ihres Todes“ (Ibid.) Ibid., p.123. Si le philosophe est celui qui a en charge de concevoir l’étant en sa vérité (le sensible sensé), l’artiste est celui qui fixe l’éclair du Sens à même le sensible.
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IDÉALISATION ET ÉPIPHANIE (HEGEL – JOYCE)
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fiction52 à seule fin d’illustration „pédagogique“ du passage de la religion esthétique à la religion manifeste. L’opposition ne tient pas. Joyce n’est pas passif (personne ne peut soutenir qu’une description littéraire n’est qu’une réception, un enregistrement) mais productif. Entre la présence d’une jeune fille au bord de l’eau et une épiphanie, il y a le processus que nous avons dégagé accompli dans un travail de l’écriture. Il y a aussi un travail d’écriture chez Hegel qui n’est pas seulement un „écrivant“ mais un écrivain.53 Idéalisation et épiphanie ne sont pas des objets mais des productions spirituelles. Commençons par inviter notre lecteur à se remettre en mémoire les deux textes en question. Pour que notre lecteur puisse facilement les retrouver nous les plaçons en note.54 Chaque texte pourrait donner lieu à un commentaire détaillé de 52
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54
Beaucoup d’hypothèses (invérifiables le plus souvent mais parfois suggestives) ont été faites sur la provenance de cette image: gravures de porteuses d’offrandes réunies par Christophe – comte von Muhr – à partir de 1777 et que Hegel a pu observer bien avant l’écriture de la Phénoménologie de l’esprit, le poème philosophique de Schiller Die Götter Griechenlands qui date du printemps 1788 ou encore l’hypothèse (à laquelle on voudrait sincèrement croire!) indiquée par Nancy dans le texte que nous avons cité plus haut: „l’hypothèse d’un autre secret: la jeune fille Nanette Endel, amour platonique de jeunesse, qui avait envoyé à Hegel un présent de fleurs, séchées à leur arrivée, mais gardant sur elles ’la vie spirituelle’“ (91). Nous ne faisons pas référence au célèbre poème Eleusis écrit dans le sillage de Hölderlin (auquel il est dédié) et qui se distingue plus par le témoignage de l’admiration du jeune Hegel pour la Grèce antique que par ses qualités littéraires. Les vertus du style de Hegel se manifestent dans l’exercice même de la philosophie. Chacun connaît le passage magnifique de la Philosophie des Geistes de 1805 (HGW, 8, 186-187) consacré à l’imagination (le regard de l’homme comme nuit) ou ceux consacrés à la description de la peinture hollandaise (que nous avons cités) ou encore de la Phénoménologie de l’esprit dont nous allons nous arrêter sur un passage. PAYM, 185-186: “A girl stood before him in midstream, alone and still, gazing out to sea. She seemed like one whom magic had change into the likeness of a strange and beautiful seabird. Her long slender bare legs were delicate as a crane’s and pure save where an emerald trail of seaweed had fashioned itself as a sign upon the flesh. Her thighs, fuller and softhued as ivory, were bared almost to the hips where the white fringes of her drawers were like featherings of soft white down. Her slateblue skirts were kilted boldly about her waist and dovetailed behind her. Her bosom was as a bird’s soft and slight, slight and soft as the breast of some darkplumaged dove. But her long fair hair was girlish: and girlish, and touched with the wonder of mortal beauty, her face. She was alone and still, gazing out to sea; and when she felt his presence and the worship of his eyes her eyes turned to him in quiet sufferance of his gaze, without shame or wantonness. Long, long she suffered his gaze and then quietly withdrew her eyes from his and bent them towards the stream, gently stirring the water with her foot hither and thither. The first faint noise of gently moving water broke the silence, low and faint and whispering, faint as the bells of sleep; hither and thither, hither and thither: and a faint flame trembled on her cheek. – Heavenly God! cried Stephen’s soul, in an outburst of profane joy. He turned away from her suddenly and set off across the strand. His cheeks were aflame; his body was aglow; his limbs were trembling. On and on, on and on he strode, far out over the sands, singing wildly to the sea, crying to greet the advent of the life that had cried to him. Her image had passed into his soul for ever and no word had broken the holy silence of his ecstasy. Her eyes had called him and his soul had leaped at the call. To live, to err, to fall, to triumph, to recreate life out of life! A wild angel had appeared to him, the angel of mortal youth and beauty, an envoy from the fair courts of life, to throw open before him in an instant of ecstasy the gates of all the ways of error and glory. On and on and on and on!“
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nature littéraire et/ou philosophique. Contentons nous de faire quelques remarques qui confirment, prolongent et nuancent nos premières analyses. Nous retrouvons d’abord les dimensions de l’épiphanie et de l’idéalisation artistique: 1) Le point de départ commun de Joyce et de Hegel: un objet déterminé, identifiable comme unité: la jeune fille devant la mer (stood … alone and still), la jeune fille qui offre des fruits (das Mädchen, das die gepflückten Früchte darreicht). Ces „objets“ sont profanes et ordinaires (au moment où nous sommes il y a des milliers de jeunes filles qui sont sur une plage ou qui offrent des fruits). 2) Une structure „harmonique“: chez Joyce nous avons une structure où dominent le perpendiculaire (fille debout, „posée“ sur la plage) et le parallèle (la plage, la mer et le ciel mais aussi les regards). Chez Hegel nous pouvons, pour simplifier, parler d’une structure en forme de sablier. La jeune fille est en position médiane et médiatrice entre la partie supérieure descendante (la religion esthétique grecque qui sombre – la nature – l’extérieur) et la partie inférieure qui recueille (la religion chrétienne qui s’épanouit – l’esprit – l’intérieur). Hegel, Phänomenologie des Geistes, W 3, 547-548: „In dem Rechtszustande ist also die sittliche Welt und die Religion derselben in dem komischen Bewußtsein versunken und das unglückliche das Wissen dieses ganzen Verlustes. Sowohl der Selbstwert seiner unmittelbaren Persönlichkeit ist ihm verloren als [der] seiner vermittelten, der gedachten. Ebenso ist das Vertrauen in die ewigen Gesetze der Götter, wie die Orakel, die das Besondere zu wissen taten, verstummt. Die Bildsäulen sind nun Leichname, denen die belebende Seele, so wie die Hymne Worte, deren Glauben entflohen ist, die Tische der Götter ohne geistige Speise und Trank, und aus seinen Spielen und Festen kommt dem Bewußtsein nicht die freudige Einheit seiner mit dem Wesen zurück. Den Werken der Muse fehlt die Kraft des Geistes, dem aus der Zermalmung der Götter und Menschen die Gewißheit seiner selbst hervorging. Sie sind nun das, was sie für uns sind, – vom Baume gebrochene schöne Früchte: ein freundliches Schicksal reichte sie uns dar, wie ein Mädchen jene Früchte präsentiert; es gibt nicht das wirkliche Leben ihres Daseins, nicht den Baum der sie trug, nicht die Erde und die Elemente, die ihre Substanz, noch das Klima, das ihre Bestimmtheit ausmachte, oder den Wechsel der Jahreszeiten, die den Prozeß ihres Werdens beherrschten. – So gibt das Schicksal uns mit den Werken jener Kunst nicht ihre Welt, nicht den Frühling und Sommer des sittlichen Lebens, worin sie blühten und reiften, sondern allein die eingehüllte Erinnerung dieser Wirklichkeit. – Unser Tun in ihrem Genusse ist daher nicht das gottesdienstliche, wodurch unserem Bewußtsein seine vollkommene, es ausfüllende Wahrheit würde, sondern es ist das äußerliche Tun, das von diesen Früchten etwa Regentropfen oder Stäubchen abwischt und an die Stelle der inneren Elemente der umgebenden, erzeugebenden und begeisternden Wirklichkeit des Sittlichen das weitläufige Gerüst der toten Elemente ihrer aüßerlichen Existenz, der Sprache, des Geschichtlichen usf. errichtet, nicht um sich in sie hineinzuleben, sondern nur um sie in sich vorzustellen. Aber das Mädchen, das die gepflückten Früchte darreicht, mehr ist als die in ihre Bedingungen und Elemente, den Baum, Luft, Licht usf. ausgebreitete Natur derselben, welche sie unmittelbar darbot, indem es auf eine höhere Weise dies alles in den Strahl des selbstbewußten Auges und der darreichenden Gebärde zusammenfaßt, so ist der Geist des Schicksals, der uns jene Kunstwerke darbietet, mehr als das sittliche Leben und Wirklichkeit jenes Volkes, denn er ist die Er-Innerung des in ihnen noch veräußerten Geistes, – er ist der Geist des tragischen Schicksals, das alle jene individuellen Götter und Attribute der Substanz in das eine Pantheon versammelt, in den seiner als Geist selbst bewußten Geist.“
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IDÉALISATION ET ÉPIPHANIE (HEGEL – JOYCE)
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3) Passons à ce qui est de la radiance chez Joyce ou de la wahrhafte Realität chez Hegel. Nous avons chez le premier l’image d’un ange en qui s’unissent mort et jeunesse, terre et ciel (sans que Joyce cherche à dégager une définition ou une signification précise – ce qui ferait glisser le récit vers le discours)55 et chez le second une image qui ne se donne pas comme perceptive mais d’emblée comme métaphorique (wie ein Mädchen jene Früchte präsentiert) destinée à porter la signification au sensible – démarche caractéristique de l’art comme nous l’avons lu dans les Leçons sur l’esthétique. 4) On ne comprendra pas la spécificité du point précédent sans avoir répondu à cette question: où l’opération spirituelle reconnue par nos deux auteurs se trouve-t-elle? Dans les deux cas dans le regard. Une jeune fille debout devant la mer ou une jeune fille offrant des fruits ne constituent pas à elles seules des épiphanies – quelle que soit leur beauté. La manifestation d’une signification imagée ou expliquée se fait dans la rencontre des trois dimensions mises à jour. Cette rencontre se produit dans les deux cas dans l’organe éminemment spirituel qu’est l’œil. Ce qui déclenche l’explosion de joie profane et l’extase de l’âme de Stephen, c’est la rencontre des regards (qui transforme une jeune fille comme les autres en un „ange de jeunesse et de beauté mortelle“) ou plus exactement l’appel du regard de la jeune fille („Her eyes had called him and his soul had leaped at the call“). Ce qui fait surgir le Sens de la mort et du recueil – mais pas de la résurrection – de la religion esthétique dans la religion manifeste, c’est „le rayon de son regard conscient de soi (der Strahl des selbstbewußten Auges)“ qui est intériorisation (die Erinnerung) du sensible.
*** Ce à quoi nous ouvre Hegel et que développe Joyce par d’autres voies, c’est le constat qu’est „révolu“ (ou, pour le moins, non exclusif de tout autre) un art ordonné ou subordonné au religieux. Hegel n’est pas celui qui proclame la mort de l’art mais celui qui le reconnaît comme une dimension nécessaire de l’Esprit absolu dont la tâche s’est historiquement modifiée (en particulier dans et par la peinture hollandaise).
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En fait, dès l’époque de Stephen (1904 et sq.), Joyce met en place la variété des registres langagiers qui s’épanouira dans Ulysses et plus encore dans Finnegans Wake: le récit, le monologue, le dialogue (qui cache un discours puisque les interlocuteurs de Stephen n’ont souvent qu’un rôle de ponctuation et de relance), le poème, les déformations de mots (croix des traducteurs!), les néologismes, etc. Dans Ulysses à chacun des 18 épisodes (sur 24) que Joyce retient de l’Odyssée correspondent des types littéraires: Protée / Le rivage / Le monologue (masculin); Eumée / l’abri du cocher / La narration; Pénélope / Molly / Le monologue (féminin). On peut se demander si Finnegans Wake, au lieu d’une disparition de l’épiphanie ne la renouvelle pas au niveau du langage lui-même.
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Nous voici désormais en charge de penser et pratiquer un art qui relève bien du spirituel en ce qu’il ne se contente pas de constater mais transfigure. L’idéalisation et l’épiphanie ne sont plus des théophanies mais des hiérophanies dont nous sommes les fragiles inventeurs – rencontre d’un infime, d’un instantané où brille un sens (peut être non réductible au concept) à même le sensible. Une mèche de cheveux qui caresse un cou blanc, des algues sur une jambe fine, des bribes de conversations entre deux jeunes gens devant une maison de brique, l’image du regard d’une jeune fille où l’éclat de la prunelle signifie l’intériorité spirituelle, tout cela se rencontre soudain56 et puis s’effacent. Reste qu’un tel constat57 ne suffit pas à penser et pratiquer l’art. L’épiphanie comme l’idéalisation ne doivent pas être invoquées légèrement (à tout propos). Ils impliquent des critères que le philosophe comme l’écrivain prennent à chaque fois soin de déterminer dans leurs cultures respectives. En un temps où l’Absolu s’est voilé (voire effacé), où il ne nous fait plus „plier les genoux“, où l’art n’est plus comme protégé par l’Esprit absolu, l’idéalisation ou l’épiphanie de l’infime nous offrent l’expérience d’un sacré qui n’est pas le porche du divin mais le tremblement du profane qui s’efface, passe sans au-delà. La destination de l’art reste bien distincte d’une pure et simple inscription dans le profane mais elle ne se montre que négativement: dans l’expérience sensible de l’inaccessibilité de l’Absolu.
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Il y a dans cette esthétique de „l’instant mystérieux“ et de „l’extase“ (Joyce), de l’Augenblick (Hegel) une rencontre fulgurante du sensible et de la signification (même sur le mode du manque) qui fait penser à l’exaiphnês – troisième hypothèse du Parménide dans son interprétation plotinienne (Traité 10), ou don divin (dans la sixième Néméenne de Pindare) qui illumine cette „ombre d’un songe“ qu’est l’homme: skias onar anthropos. all’otan aïgla diosdotos élthê lampron phéggos épestin andrôn kai meïlichos aïôn. Le thème de l’évanouissement de toutes choses traverse notre littérature de Du Bellay à Valéry. Il ne suffit pas d’évoquer „Les cris aigus des filles chatouillées / Les yeux, les dents, les paupières mouillées / Le sein charmant qui joue avec le feu / Le sang qui brille aux lèvres qui se rendent / Les derniers dons, les doigts qui les défendent“ ne reste que l’expérience que „Tout cela va sous terre et rentre dans le jeu!“ pour avoir une idéalisation ou une épiphanie au sens où nous l’avons montré chez Hegel et Joyce.
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Symbol und symbolische Kunstform bei Hegel Nach § 556 der Enzyklopädie1 von 1830 ist das Kunstwerk die „aus dem subjektiven Geiste geborene konkrete Gestalt, in welcher die natürliche Unmittelbarkeit nur Zeichen der Idee“ ist, und zwar ein Zeichen der Art, daß in ihm der Ausdruck der Idee „so durch den einbildenden Geist verklärt ist, daß die Gestalt sonst nichts anderes an ihr zeigt“. Ein Zeichen also, das nichts anderes an ihm zeigt als seinen Inhalt (angeblich die „Idee“). Dieser Begriff des Zeichens ist insofern paradox, als das Zeichen nach der Anmerkung zu § 458 derselben Enzyklopädie „irgendeine unmittelbare Anschauung ist, die einen ganz anderen Inhalt vorstellt, als den sie für sich hat“. Diese das Zeichen definierende Andersheit zwischen dem Zeichen und dem durch es ausgedrückten Inhalt nennen wir die symbolische Differenz. Der hierbei führende Symbolbegriff wird in der Folge angegeben. Paradox ist, daß ein Zeichen, welches seinem Begriffe nach einen ganz anderen Inhalt vorstellt, d.h. bedeutet, als es „für sich hat“, nämlich ist, gleichwohl fähig sei, „sonst nichts anderes“ an ihm zu zeigen, als eben den Inhalt, den es nur hat, aber nicht ist. Die vorstehende Definition des Kunstwerks ermutigt Deutungen, welche, orientiert an dem Paradigma des menschlichen Leibes und seiner Fähigkeit zu „unmittelbarer Bedeutsamkeit“, eigentlich erst hier, nämlich in der „klassischen“ Kunst (d.h. der Skulptur, dem Bilde des Menschenkörpers) das sinnliche, d.h. unmittelbare Erscheinen der Idee (oder wie man aufgrund der durch Mitschriften attestierten Formulierung heute sagt: das Scheinen des Begriffs)2 realisiert findet. Im Leib und durch ihn, oder vielleicht auch erst durch das Bild, d.h. die Idealisierung des Leibes, wäre die symbolische Differenz überwunden. Und man könnte mit A.W. Schlegel hinzufügen, daß ohne eine solche ursprüngliche Überwindung und Überwundenheit der symbolischen Differenz ein Zeichengebrauch durch den Menschen am Ende überhaupt nicht vorstellbar wäre.3 Wie immer es damit stehen mag, Hegels Argument und Gedanke ist dies nicht; und vielleicht behandelt Hegel gar nicht einmal dieselbe Frage. Im Rahmen der Hegelschen Philosophie ist der Begriff eines Zeichens, das an ihm „sonst nichts“ als seinen Inhalt zeigt, paradox, insofern das 1
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Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830). Gesammelte Werke(im folgenden GW). Hrsg. von W. Bonsiepen u. Ch. Lucas. Hamburg 1992 (GW 20). Brigitte Hilmer, Scheinen des Begriffs. Hegels Logik der Kunst, Hamburg 1997. Die in Hothos Ausgabe gebrauchte Formulierung scheint indes sachlich berechtigt, wie aus dem hier zitierten § 556 der Enzyklopädie hervorgeht, und könnte durchaus in Hegels Manuskript gestanden haben. A.W. Schlegel, Die Kunstlehre, In: Kritische Schriften. Bd 2. Hrsg. von E. Lohner, Stuttgart 1963.
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Zeichen wie gesagt geradezu durch die Differenz von dem durch es bedeuteten Inhalt definiert ist. Im übrigen ist jene angeblich unmittelbare Bedeutsamkeit und Verständlichkeit des menschlichen Leibes und seiner Gebärde gar nicht ausgemacht und kann allerdings in Zweifel gezogen werden. Nach Hegel wenigstens ist die Expressivität dieses Leibes das Resultat einer Vermittlung, welche in den Paragraphen 401 (Idee einer psychischen Physiologie) und 411 (Ableitung des „geistigen Tons“ im „menschlichen Ausdruck“ als Resultat der „Gewöhnung“, §§ 409 und 410) ausdrücklich exponiert wird. Es kann daher von Interesse sein, Hegels Begriff des Kunstwerks als eines Zeichens, das an ihm „sonst nichts anderes“ zeigt als die Idee, aus dessen eigener Logik zu entwickeln. Es ist aber ein Zeichen, das an ihm selbst nichts anderes zeigt als die Idee, durch sein Sein bedeutend; denn wo es dies nicht wäre, da würde es eben an ihm selbst, d.h. an dem, was es ist, an seinem Sein, noch etwas anderes zeigen als die Idee, welche, ein Korrelat des Zeichens, hier zunächst bloß in der Position und Funktion des Inhaltes auftritt.4 Sofern aber dieses Zeichen durch sein Sein bedeutend wird, ist zuförderst zu fragen, worin denn das Sein des Zeichens bestehe, um sodann zu bestimmen, was das Zeichen durch sein Sein bedeuten mag. Das Sein des Zeichens besteht aber in der symbolischen Differenz; durch sie also wird es in solcher Weise einen Inhalt bedeuten können, daß es sonst nichts anderes an sich zeigt, mithin so, daß es durch sein Sein bedeutend wird. Durch sein Sein als Zeichen, d.h. durch die symbolische Differenz kann das Zeichen zunächst nichts anderes bedeuten als das Abwesende; denn darin eben besteht das Bedeuten als solches, daß es für ein „ganz anderes“ steht, welches andere als Anderes in dem, was das Zeichen für es selbst ist, gerade nicht anwesend sein kann. Durch sein Sein bedeutet das Zeichen daher das Abwesende als solches, d.h. im Hinblick auf seine Abwesenheit, gesetzt es bedeutet überhaupt etwas durch sein Sein. Diese Bedeutung also scheint das Zeichen durch sein Sein, und das bedeutet: als Zeichen, allenfalls zu haben; es fragt sich aber, welche Bewandtnis es bei dem Zeichen, das etwa an ihm selbst die Abwesenheit des Abwesenden als solchen zeigte, mit der „konkreten Anschauung“ und der „Gestalt“ haben mag, die das Zeichen doch auch sein soll und an der doch auch “nichts anders“ sich zeigen soll. Denn offenbar wird die konkrete Gestalt in Bezug auf diesen Inhalt redundant sein und das heißt: sie wird an ihr sonst noch etwas anderes zeigen als nur jenen Inhalt. Ferner scheint auch der Inhalt, welchen das Zeichen als Zeichen durch sein Sein allenfalls soll zeigen können, die Abwesenheit des Abwesenden als solche, nicht derjenige zu sein, den Hegel angibt, nämlich die „Idee“, als welche 4
Wir gebrauchen hier den Begriff des Inhaltes bereits in dem bei Hegel terminologischen Sinne, jedoch so, daß diese Präzisierung zum Verständnis hier noch nicht unerläßlich ist. Vgl. Hegel, Wissenschaft der Logik. Erster Band. Die objektive Logik (1812/13). Hrsg. von F. Hogemann u. W. Jaeschke, GW 11, siehe insbesondere im Abschnitt „Wesenslogik“, 301.
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nach dem Schlußabschnitt der Logik bekanntlich „erfülletes Seyn“ ist. Allein, es hat mit der „Idee“ bei Hegel eine ganz eigene Schwierigkeit, die wir durch eine kurze und nur vorläufige Reflexion auf die Art hervorheben wollen, wie dieser Begriff im Vollzug des Gedankens funktioniert. Gesetzt auch, das Kunstwerk drückt gemäß § 556 irgend die „Idee“ aus, so fragt sich immer noch, was denn hierdurch gesagt sei. Es kann nicht gemeint sein, das Kunstwerk drücke überhaupt alles aus, indessen die Idee doch als „Methode“ der ganze Weg ist, der Alles durchläuft, und insofern auch als das erfüllte Sein, unendliches Leben, das Absolute usw. gelten mag. Vielmehr scheint dies gemeint zu sein, daß die Idee als Idee bedeutet werde. Allein, was ist denn der Inhalt, das intentum der „Idee als Idee“? Kann dieses intentum überhaupt als Inhalt eines Bedeutens, d.h. als Korrelat eines ihn als sein Anderes zeigenden Zeichens aufgefaßt werden? Offenbar nicht; und dies nicht bloß, weil die Idee alsdann als „einseitiges“ Extrem der Zeichenrelation auftreten würde, was ihrem alles-integrierenden Wesen widerspräche, sondern zunächst, weil die Idee in dieser Position leer ist. Die Idee als intentum einer intentio ist überhaupt nichts. Ich denke nichts, wenn ich sie als Korrelat meines Gedanken zu denken versuche, d.h. vorstelle. Mit anderen Worten: die Idee ist gar kein intentum einer möglichen intentio; sie zeigt sich, wo als inhaltliches Korrelat eines Gedanken aufgefaßt, als inhaltsfrei, weil sie gar kein Inhalt ist.5 Was ist sie aber dann? Nicht der Inhalt, den das Zeichen allenfalls durch sein Sein zeigte, sondern daß es ihn zeigt durch sein Sein, dies ist es, wodurch es an ihm die Idee zum Anscheinen bringt. Es besteht hier offenbar keine symbolische Differenz zwischen dem „Zeichen“ (Kunstwerk) und dem „Bezeichneten“ (Idee). Das Zeichen wäre demnach nicht trotz der symbolischen Differenz der adäquate Ausdruck der Idee, sondern dank ihrer, indem es an ihm eben dadurch die Idee zeigte, daß es symbolische Differenz ist. Vorausgesetzt bleibt hierbei, daß die Idee (oder der „Begriff“) durch das Sein des Zeichens, nämlich durch die symbolische Differenz, kann ausgedrückt werden. Im Rahmen der Hegelschen Logik spricht aber von vornherein viel dafür, daß die Idee, wenn überhaupt, nur aufgrund und unter Voraussetzung der symbolischen Differenz kann dargestellt werden, wenn anders die Idee wesentlich auch Unterschied ist, d.h. Unterschied von sich selbst. Allein, gesetzt auch, ein Zeichen lasse durch sein Sein als Zeichen die Idee anscheinen, so fragt sich dennoch, ob in ihm die „konkrete Anschauung“ und „Gestalt“ dieses Zeichens „nichts anderes“ an sich zeigen werde als nur die Idee, ob nicht die „natürliche Unmittelbarkeit“ nach wie vor redundant sei und bleibe. Diese Redundanz scheint als symbolische Differenz geradezu den Begriff des Zeichens auszumachen. 5
Auch dieser Satz gewinnt an Schärfe, wenn man Hegels Definition des Inhaltes aus der Logik zugrundelegt, die jedoch im Grunde nichts anderes tut als den gängigen Sinn von „Inhalt“ in den logischen Zusammenhang zu stellen.
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Dasjenige Zeichen, welches durch sein Sein bedeutend ist, nennen wir ein Symbol. Wir bezeichnen dies auch als den engeren Begriff des Symbols und verstehen unter dem weiteren Begriff dasjenige Zeichen, welches den Inhalt, den es bedeutet, auch an ihm trägt und insofern „ist“ (d.h. welches ein Beispiel derjenigen abstrakten Vorstellung ist, die es bedeutet), wie der Löwe etwa wirklich stark ist.6 Hegel scheint in der Ästhetik und auch sonst unter dem Symbol nur diesen weiteren Begriff zu verstehen und weist darauf hin, daß das Symbol trotz der partiellen Übereinstimmung ein rein arbiträres Zeichen bleibt, insofern seine Verwandtschaft mit dem Sinn nur durch willkürliche Hinsicht und Räsonnement etabliert werden kann.7 Der engere Begriff des Symbols aber ist der Begriff des symbolischen Kunstwerks. Hier ist die Beziehung zur Bedeutung nicht arbiträr, denn die Bedeutung ist eben durch das Sein dieses Zeichens gegeben, insofern es ein Zeichen ist, also durch sein Zeichensein, welches jedoch offenbar keine unmittelbar „sinnliche“ Gegebenheit ist. Insofern aber an dem Symbol im engeren und hier führenden Sinne eine gewisse Redundanz seiner unmittelbar sinnlichen Bestimmtheit auftritt, so wird daher auch diese, als zum Sein des Zeichens als eines Zeichens gehörig, bedeutsam sein. Nicht nur zeigt dies Zeichen die Abwesenheit des Abwesenden, sondern es zeigt auch noch, durch seine Redundanz, bzw. indem es etwas anderes zeigt, daß es das in ihm Abwesende verbirgt. Der Inhalt des Symbols erscheint dadurch wesentlich, d.h. im Sein des Zeichens verankert, als Geheimnis, nämlich als ein Sinn, zu dem der Zugang strukturell verwehrt bleibt. Die unmittelbar sinnliche Konkretheit kann also auch durch ihre Redundanz zu einer Bedeutung werden. Dafür ist es notwendig, daß ein gegebenes Ding im vorhinein schon als Zeichen erkannt ist; das Zeichensein gehört also zur „konkreten Gestalt“ des besagten Zeichens dazu. Dieser Begriff des Symbols gehört, wie wir aus dem hier zitierten § 556 der Enzyklopädie schließen, zum Begriff des Kunstwerks überhaupt, und wir erwarten daher, daß alle Kunst, auch klassische und romantische, in einem wesentlichen Sinne Symbol ist, nämlich durch sein Sein bedeutsam, d.h. durch sein Sein als Zeichen, also durch die symbolische Differenz, welche demnach in jeder Kunstform strukturell verankert sein wird.8
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Vgl. Hegel, Enzyklopädie (1830), § 458, Anmerkung, wonach das Symbol eine Anschauung ist, „deren eigene Bestimmtheit ihrem Wesen und Begriffe nach mehr oder weniger der Inhalt ist, den sie als Symbol ausdrückt“. Mehr oder weniger, gewiß, denn entweder der Inhalt ist nur irgendeine Bestimmung, die das Symbol auch hat, d.h. unter die es subsumiert werden kann, oder aber das Symbol ist (als Kunstwerk) geradezu die Bestimmung, die es durch sein Sein bedeutet, ein Grenzfall, der im § 458 noch nicht in Betracht kommt. Nach Hegel ist überhaupt die Zuschreibung einer abstrakten Eigenschaft an einen singulären Gegenstand arbiträr und gehört in das „abstrakte“ oder räsonnierende Denken. Vgl. hierzu auch (immer noch grundlegend) Paolo D’Angelo, Simbolo e arte in Hegel. Roma Bari 1989 und Mildred Galland-Szymoniak, Présence de l’absolu. Le problème esthétique du symbole et ses enjeux philosophiques dans les systèmes postkantiens (Schelling, Solger, Hegel), Diss. Paris 2005, 190.
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Diejenigen Inhalte nun, die das Symbol durch sein Sein bedeutet, koinzidieren mit dem Sein des Symbols, d.h. sie werden auch erst durch das Symbol in die Welt eingeführt. Ich nenne diese Inhalte daher auch „symbolische Objekte“ und ihre Produktion die „Arbeit“ des Symbols. Wir erläutern dies anhand jenes ersten Inhaltes, den wir am Sein des Zeichens ausmachten: der Abwesenheit des Abwesenden. Offenbar ist das Abwesende als solches nicht präsentierbar (also nichts Anwesendes), es sei denn durch ein Anderes, d.h. eben durch symbolische Differenz. Die symbolische Differenz und das Abwesen sind insofern Korrelate. Aber das Abwesen ist durch seine Abhängigkeit von der Logik des Symbols nicht weniger reell. Dies erhellt, sobald wir an diejenige Form radikaler Abwesenheit erinnern, welche eines der Hauptthemen der symbolischen Kunstform stellt, den Tod.9 Das Kunstwerk wäre also dasjenige Zeichen, das durch sein Sein bedeutsam ist, d.h. durch sein Sein als Zeichen, und zwar so, daß es durch sein Sein die Bedeutung auch erst beistellt und herbeiführt, d.h. produziert. Diese Bedeutung ist aber nicht schon deshalb bloß eingebildet wie ja auch das Sein des Zeichens, die symbolische Differenz, nichts bloß Eingebildetes ist, mag sie auch so etwas wie bloße Einbildung zuerst ermöglichen. Die symbolischen Objekte sind „harte“ Realität, oder, mit Hegel zu reden, Wirklichkeit. Die symbolischen Objekte werden durch das Sein des Symbols erzeugt. Dasjenige Symbol, das durch sein Sein bedeutsam ist und „nichts anderes“ an ihm zeigt (d.h. dessen Sinn sich in dieser Form von symbolischer Produktion erschöpft), ist ein Kunstwerk. In der Philosophie der Kunst geht es also um die Produktion der symbolischen Objekte, insofern das Kunstwerk seinem Begriff nach genau dies ist. Die Philosophie der Kunst grenzt hierdurch an die Philosophie der Religion. Über den systematischen Status der symbolischen Kunstform ist manch Unzulängliches publiziert worden, z.T. angeregt durch verfängliche Formulierungen bei Hegel selbst. Es sei etwa die symbolische bloß eine Vorkunst heißt es da zum Beispiel, und man hat den Eindruck, das Unzulängliche des Symbols werde mit dem Verlassen der unzulänglichsten, ja der langweiligsten aller Formen von Symbolik, der „bewußten“, in Richtung auf das Klassische und das „Ideal“ endgültig verlassen.10 Daß es so einfach nicht sein kann, erhellt je9
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Wir denken hier also an den Tod als „symbolisches Objekt“, d.h. als Produkt der Arbeit des Symbols. Ein anderes Produkt dieser Arbeit ist vermutlich auch das Ich. Hieraus ergäbe sich die Notwendigkeit, die Entgegensetzung von Zeichen und Symbol in dem bedeutenden Aufsatz von Paul de Man, „Sign and Symbol in Hegel’s Aesthetic“ (1980), in: idem, Aesthetic Ideology. Hrsg. von A. Warminski, Minneapolis London, 1996, 91-104 zu nuancieren. Unter den „Rehabilitierungsversuchen“ erwähne ich hier neben den schon zitierten und noch zu zitierenden Beiträgen: R. Bubner, „Gibt es eine ästhetische Erfahrung bei Hegel?“, In: Fulda/Horstmann (Hrsg.), Hegel und die „Kritik der Urteilskraft“. Stuttgart 1990, 69-80 und Jeong-Im Kwon, „Hegels Bestimmung der ‘formellen Bildung’ und die Aktualität der symbolischen Kunstform für die moderne Welt“. In: Gethmann-Siefert/Collenberg-Plotnikov/de Vos (Hrsg.), Die geschichtliche Bedeutung der Kunst und die Bestimmung der Künste. München 2005, 159-174.
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doch aus einer Reihe von Betrachtungen zum systematischen Aufbau der Kunstphilosophie. Bekanntlich ist das Kapitel über die symbolische Kunstform in drei Abschnitte unterteilt, deren erster, der „eigentlichen Symbolik“ gewidmet, unmittelbar den Übergang zur klassischen Kunstform einzuleiten scheint, wie aus Hegels Deutung des Oedipusmythos erhellt. Bekanntlich habe Oedipus, indem er das Rätsel der Sphinx erraten, den Übergang von einer strukturell rätselvollen, d.h. geheimnisvollen Symbolik zur am Tage liegenden, mithin bildförmigen Bedeutsamkeit des Ideals hergestellt. Die Dialektik dieses Überganges harrt noch ihrer Interpretation. Offenbar ist jedoch, daß Hegel in diesem Mythos den Umschlag einer Strukturation des Symbols in die andere wiedererkennt und daß er mithin die klassische Kunstform unmittelbar an die eigentliche Symbolik anschließt, hierin auch dem historischen Gang der Dinge insofern treu, als insbesondere die klassisch griechische Kunst offenbar der ägyptisch-minoischen Kultur unmittelbar verpflichtet zu sein scheint. Diejenigen Formen von Symbolik, die im zweiten Abschnitt des nämlichen Kapitels behandelt sind, die Symbolik der Erhabenheit bei Juden und Mohammedanern, befinden sich offensichtlich historisch nicht in einem vergleichbaren Verhältnis zur Kunst des klassischen Griechenland. Auch sachlich kann von keinem direkten Übergang etwa des jüdisch Erhabenen zur klassischen Ikonizität die Rede sein und allenfalls nur von einer Komplementarität dieser zwei Strukturationen des Symbols. Nicht zufällig hat Hegel in den verschiedenen Versionen der Ästhetik (aber auch der Philosophie der Geschichte) die Verortung des Judentums im Ganzen immer wieder modifiziert, bald die Nähe, bald die Ferne in Bezug auf das Christentum betonend.11 Für unsere Zwecke genügt es festzustellen, daß die Symbolik der Erhabenheit jedenfalls keine Vorstufe zur Klassik darstellt, daß also ihre Zusammenstellung mit der eigentlichen Symbolik durch andere, vermutlich strukturell tieferliegende Gründe motiviert sein wird. Am auffälligsten ist dies bei der bewußten Symbolik, der Hegel sogar die Eigenständigkeit bestreitet, insofern etwa Bild, Apolog und Metapher gar keine eigenen Kunstformen ergeben. Merkwürdig bleibt gleichwohl, daß Hegel in diesem Teil eigentlich nur von der Wortkunst (und von den anderen Künsten nur, insofern sie mit ihr direkt zusammenhängen) spricht und mit dem Epigramm endet, das er später zur Einleitung in das Epos, der ersten poetischen Kunstart, wieder aufnimmt. Es ist, als erbringe, wie das Kapitel über die Erhabenheit der Theorie des Klassischen als Folie und Gegensatz dient, gegen die das Klassische als ein jenem Anderes sich abhebt und dabei seine eigene Begrenztheit und Endlichkeit kundgibt, so hier das über die bewußte Symbolik 11
Der klassische Aufsatz über die durch Nach- bzw. Mitschriften dokumentierten Schwankungen Jeong-Im Kwon, „Die Metamorphosen der symbolischen Kunstform. Zur Rehabilitierung der ästhetischen Argumente Hegels“. In: Phänomen versus System. Hegel-Studien, Beiheft 34, 1992, 41-89.
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den Hintergrund und die Grundlage zur Theorie der Poesie. In der Tat könnte die Darstellung der bewußten Symbolik als eine Theorie der symbolischen Objekte angesehen werden, die durch dasjenige Symbol hergestellt werden, das auf bewußte Weise mit dem von ihm verschiedenen Inhalt verbunden ist, das arbiträre Zeichen im engeren Sinne, die Sprache.12 So verstanden avanciert Hegels Theorie der bewußten Symbolik zu einem der interessantesten Teile der ganzen Ästhetik. Unter anderem vermag sie zu zeigen, daß ungeachtet des arbiträren Charakters jenes Zeichensystems dennoch durch dessen Sein selbst ein Reihe von Bedeutungen allererst entstehen, die als symbolische Objekte allerdings Wirklichkeiten sind, daß mithin das arbiträre Zeichen nicht trotz, sondern wegen seiner Arbitrarietät zugleich auch nicht-arbiträr ist. Hegel greift hierdurch indirekt in die unter seinen Zeitgenossen und Vorgängern rege Diskussion über den Ursprung der menschlichen Sprache ein, die man nicht ohne eine Form natürlicher Sprache glaubte erklären zu können (z.B. Herder, Schlegel), indem er allerdings eine natürliche Bedeutung des arbiträren Zeichens anerkennt, nämlich diejenige, welche sich aus der eignen Arbeit des Symbols als Symbol ergibt, im Gegenzug aber dieselbe Bedeutung unter die Bedingung einer schon konstituierten symbolischen Differenz stellt, so daß die Ursprungsfrage, wie es sich für eine dialektische Darstellung gehört, verschwindet. Daß aber der erwähnte Theorieteil wirklich dies und weitere wesentliche Elemente über die Herstellung symbolischer Objekte in der bewußten Symbolik der Sprache liefert, könnte nur in einer detaillierten Interpretation demonstriert werden. Es erhellt aber selbst nach dieser knappen Durchsicht des Kapitels über die symbolische Kunstform, daß sie nicht in toto in die klassische „aufgehoben“ wird, sondern daß vielmehr nur die „eigentliche“ Symbolik eine solche Aufhebung erfährt (Oedipus-Mythos), indessen die beiden anderen Sektionen, die eine als Folie und Gegensatz zum in sich selbst strukturell begrenzten Klassischen, der eigentlichen Bild-Kunst, die andere aber als Grundlage zur alle Kunstformen umfassenden Poesie, noch an ganz anderen Systemstellen eingreifen, so daß die symbolische Form das ganze System der Kunstformen und -genera durchzieht.13 Jedes Kunstwerk wird daher als solches die Struktur des Symbols auch konkret, d.h. in einer je spezifischen Ausprägung irgend an sich tragen, selbst Malerei und Musik. Es ist oben bereits im Ansatz gezeigt worden, auf welche Weise das Symbol durch sein Sein einen Inhalt herstellen kann. Insofern das Symbol als Zei12
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Es bestätigt sich also die schon vor zwanzig Jahren von Paolo D’Angelo vorgelegte Interpretation, derzufolge das hier behandelte Kapitel die „symbolische Wurzel“ der Poesie selbst behandle (Paolo D’Angelo, Simbolo e arte in Hegel. Roma Bari 1989, 216). Man könnte sich hier Erläuterungen zur Identifikation von rein arbiträrem Zeichen und Sprache wünschen, die wir für dieses Mal schuldig bleiben müssen. Vgl. hierzu auch Todorovs Bemerkung in Théories du symbole, Paris 1977, 257 Anmerkung, wonach die drei Seinsweisen des Zeichens: Rätsel („Symbol“ im engeren Sinn), Bild und Allegorie bei Hegel sich spezifisch auf die drei Kunstformen verteilen.
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chen etwas bedeutet, was es nicht ist, so bezieht es sich nämlich strukturell auf ein Abwesendes. Unter allen Zeichen ist aber das Symbol im engeren Sinne etwas besonderes, insofern es „nichts anderes“ an ihm zeigt als die Idee, mithin insofern sein Inhalt und Sinn präzise das ist und nur das, was sich an seinem Sein als Zeichen zeigt. Der Sinn des arbiträren Zeichens aber, insofern es ihn nur durch sein Sein als Zeichen zeigt, ist demnach die Abwesenheit des Abwesenden. Dieser Inhalt ist aber zugleich auch symbolisches Produkt; denn ohne das Symbol und ohne symbolische Differenz bleibt die Abwesenheit des Abwesenden (und korrelativ natürlich auch die Anwesenheit des Anwesenden) undenkbar, ist es doch präzise das Symbol, was dank jener Differenz das Abwesende als Abwesendes zugleich herstellt. Das Zeichen führt insofern die logische Figur der Negation in den Bereich menschlicher Erfahrung ein. Dies könnte auch umgekehrt ausgedrückt werde, daß nämlich die symbolische Differenz Ausdruck jener fundamentalen Negativität sei. Diese Umkehrung bleibt solange zulässig, als sie nicht zur Hypostasierung jener Negativität übergeht, welche wir elegant vermeiden, wenn wir Negativität und Symbol von vornherein als strukturelle Korrelate auffassen und bei der Gelegenheit zugleich etwas über den ontologischen (nämlich seinslogischen) Status des Symbols (wie auch korrelativ über das symbolische Wesen des Seins) lernen.14 Der Sinn des Zeichens ist also, wo es durch sein Sein bedeutend wird, die Abwesenheit des Abwesenden. Das Abwesende selbst aber, das hier vorkommt, ist demnach nicht irgendein ansonsten Anwesendes, das nur für eine Zeit abwest, sondern das Abwesende selbst und als solches, da es ja anders als durch seine Abwesenheit gar nicht bestimmt ist. Dennoch ist das Abwesende nicht Nichts, insofern, wenn es nichts wäre, dann auch nichts abweste, also gar keine Abwesenheit stattfände. Das Abwesende ist vielmehr das als Abwesendes dennoch Seiende. Was ist dies aber, ein Abwesendes, das prinzipiell nicht mehr präsent werden kann und dennoch nicht nichts ist, bzw. was ist radikale Abwesenheit? Der Sinn des Zeichens als Symbol scheint demnach prinzipiell der Tod selbst zu sein. Dieser erscheint somit als symbolisches Objekt. Das Zeichen aber, das den Tod durch sein Sein herstellt, ist Grabmal, Pyramide. Also nicht weil die Pyramide an den verstorbenen Pharao gemahnen soll, bedeutet sie den Tod, sondern weil das Zeichen durch sein Sein die Bedeutung des Todes herstellt, kann es, als Symbol gebraucht, Grabmal sein. Das Wesen des so verstandenen Grabmals ist, seinen Sinn gerade nicht zu zeigen, ihn vielmehr zurückzuhalten und zu verbergen, wenn anders dieser 14
Daß das Wesen die Wahrheit des Seins sei, besagt vermutlich präzise dies, daß das Sein selbst ein Sinn ist, den die unendliche Negativität herausgibt, ein logisches Verhältnis, das man nicht mit der creatio ex nihilo verwechseln darf, welche darin bestünde, aus dem Nichts ein Seiendes hervorzubringen, indessen man von dem Sein offenbar nicht sagen kann, daß es ein Seiendes sei, ist es ja allenfalls das Sein des Seienden. Vgl. hierzu nicht erst Heidegger, sondern schon Schelling, „Stuttgarter Privatvorlesung“ (Aus dem handschriftlichen Nachlaß) 1810. In: Schellings Sämmtliche Werke. Hrsg. von F.A. Schelling. 1, Abt., Bd 7, Stuttgart/Augsburg 1860, 417-484, 436.
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Sinn das Abwesen des Abwesenden ist. Das Zeichen ist insofern hier notwendigerweise redundant: seine Redundanz, d.h. alles, was es als „konkrete Anschauung“ darbringt, besteht präzise darin, den Zugang zu seinem „Sinn“ zu behindern. Dies tut das Grabmal wirklich, indem es als Pyramide mit gewaltigem Aufwand im Wortsinn den Zugang zu dem Abwesenden und seinen Kammern verwehrt und als diese Wehr dasteht, sich selbst als diese Wehr zeigt. Die Redundanz des Zeichens wird also auch von dieser Seite symbolisch, d.h. bedeutsam und zeigt „nichts anderes“ mehr als den Sinn. Dies tut sie aber nur unter der Voraussetzung, daß sie im vorhinein schon als Symbol aufgefaßt ist, das als solches ja ein Abwesendes vorstellen soll, denn nur unter dieser Voraussetzung gehört das Verwehren dieses Zugangs zum Sein der Pyramide als Symbol und kann sich folglich auch erst als ihr Sein zeigen, indessen ein großer Steinblock an und für sich zunächst nichts dergleichen weder „ist“, noch bedeutet. Die wesentliche Abwesenheit erscheint hier notwendig als Rätsel. Das Rätsel kann man auf zwei verschiedene Arten erklären. Entweder es ist Emblem, d.h. Verrätselung eines bewußten Inhaltes, der also auch für sich selbst präsent gehalten ist im Sinne der „bewußten Symbolik“, oder es ist strukturell verrätselt, d.h. als das Abwesende selbst definiert, so daß es niemals anwesend werden kann im Sinne der „eigentlichen Symbolik“. Dieses Rätsel nennen wir auch das Geheimnis (Mysterium). Es ist Geheimnis in dem Sinne, daß es sein Geheimnis gar nicht verlieren kann. Der Tod erscheint demnach hier als Geheimnis; und wenn von dem undurchdringlichen Geheimnis des Todes die Rede sein kann, so ist auch dies ein symbolisches Produkt. Am Tod ist in der Tat nichts Geheimes in dem Sinne, daß man nicht wüßte, was „jenseits“ des Todes liegt, es läge aber etwas jenseits seiner; dagegen ist er das absolute Geheimnis, insofern es gar nicht möglich ist, sein „Jenseits“ zu enthüllen, darin liegt eben sein Wesen. Hegel betont, daß das Rätselvolle der ägyptischen Kunst präzise in dem in der Struktur des eigentlichen Symbols verankerten wesentlichen Geheimnis beruht, daß also für dieses Geheimnis wesentlich gar keine Auflösung zu geben ist. Die Auflösung, die Oedipus in dem Mythos gibt, ist deshalb auch nicht eigentlich eine Auflösung, sondern vielmehr Vernichtung des Geheimnisses als Geheimnis, weshalb die Sphinx notwendigerweise sich in den Abgrund stürzt. Man beachte nebenbei, in welcher Weise Hegels Auslegung der Arbeit des Symbols sich auf dessen Wirkung auswirkt. Sie scheint ihr einerseits in ungewöhnlicher Weise gerecht zu werden. Andererseits aber scheint die von Hegel beschriebene Wirkung des Symbols nur solange zu bestehen, als Hegels Beschreibung derselben nicht zu Bewußtsein gekommen ist. Nur solange nämlich funktioniert das Geheimnis als Geheimnis, wie es in der Tat ein Geheimes in sich zurückzuhalten scheint. Wo es aber als strukturelles Geheimnis enthüllt ist, da verschwindet seine Wirklichkeit als Geheimnis. Dies ereignet sich in gewisser Hinsicht nach Hegel schon im Oedipus-Mythos. Damit ist das Geheimnis dennoch nicht spurlos aus der Struktur des Symbols gewichen. Denn
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einerseits ergibt es diejenige Struktur, welche auch das klassische Kunstwerk, die Statue im Tempel, noch regiert, andererseits gehört es nunmehr zur Wesensgeschichte des Symbols und bleibt als menschliche Erfahrung in ihrer Größe und Würde in den Kunstwerken der Vergangenheit aufbewahrt. Die Geschichte des Symbols und seiner Produkte, insofern diese in den Kunstwerken niedergelegt sind, ist zugleich die Geschichte der menschlichen Welt und Seinsmöglichkeiten, zu denen auch die Möglichkeit gehört, das wesentliche Geheimnis zu erfahren. Schon in der Phänomenologie des Geistes bezeichnet Hegel das Bauen der Pyramiden als ein „instinktartiges Arbeiten“; in der Ästhetik wird er später von demselben Bauen als dem „Trieb“ jener Nation sprechen.15 Das Instinkthafte und Triebmäßige scheint darin zu liegen, daß dies Bauen ohne Bewußtsein geschieht, daß es nämlich ein Nichtwissen, ja eine Verkennung der Struktur des hier erfahrenen symbolischen Produktes voraussetzt. Wie gesagt, ist die Erfahrung des wesentlichen Geheimnisses daran gebunden, daß es nicht zugleich als solches erkannt bzw. durchschaut ist. Diese Form der Verkennung ist jedoch nicht eigentlich ein Mangel, denn ohne sie funktionierte das Symbol gar nicht und gäbe daher auch nie Anlaß dazu, es später einmal zu „durchschauen“. Es scheint aber so, daß jede symbolische Objektproduktion als solche ein strukturelles Nichtwissen einschließt (welches sich im Falle der klassischen Antike nach Hegel etwa in der bei den Alten herrschenden Auffassung des Schicksals ausdrückt). Dieses Nichtwissen ergibt sich daraus, daß das Symbol durch sein Sein, d.h. implizit einen Inhalt herstellt, der, einfach indem er sich als Inhalt (intentum einer intentio recta) verhält, verkannt werden muß, weil diese Verkennung aber notwendig ist, durch sie eben produktiv wird, eine (symbolische) Wirklichkeit produziert. Das Symbol verspricht als Zeichen einen Inhalt, aber es verweigert ihn durch sein Sein (d.h. durch seine Inadäquatheit; der so verweigerte Inhalt erscheint damit als die strukturelle und radikale Abwesenheit, die ihr Geheimnis schlechterdings nicht herausgibt. – Man darf aber fragen, inwiefern das Nichtwissen speziell und spezifisch die Kunstübung der Ägypter als „instinktmäßig“ und als einen „Trieb“ erscheinen läßt. Bei Beantwortung dieser Frage wäre ferner zu erklären, warum dieser Kunsttrieb in erster Linie die Architektur betrifft und sich daher als ein Bauen ausdrückt. Wenn der „Trieb“, was immer diese Vokabel unter Hegels Feder genau bezeichnen mag, sich vorzüglich in einem Bauen ausdrückt, das in erster Linie ausgerechnet mit dem Grabmal zu tun hat, und wenn das Grabmal den Tod als symbolisches Produkt her- bzw. darstellt, so scheint dieser Trieb in der Tat wesentlich ein „Todestrieb“ zu sein, der allerdings nicht destruktiv, sondern 15
Hegel, Phänomenologie des Geistes, GW 9, 373. Vgl. hierzu auch Mildred Galland-Szymoniak, Présence de l’absolu. Le problème esthétique du symbole et ses enjeux philosophiques dans les systèmes postkantiens (Schelling, Solger, Hegel), Diss. Paris 2005, 206 und 210, wo von einer „pulsion artistique de configuration du sens à même le sensible existant“ die Rede ist.
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konstruktiv (im wahrsten Sinne des Wortes) durch Architektur ein Wohnen in dieser Welt begründet. Auch ist er nicht sowohl ein Trieb zum Tode, sondern ein Trieb des Todes, d.h. eigentlich der Tod als Trieb. Das symbolische Objekt des Todes treibt den Menschen zum Bauen, so daß es in dem Gebäude eine Bleibe findet unter Menschen, die es, derart behaust, um sich versammelt. Zwar ist das Grabmal kein Haus; aber es gründet doch einen Ort. Und dies vielmehr als die Funktion des Hauses ist nach Hegel die erste Bedeutung der Architektur. In diesem Sinne legt Hegel auch den Mythos des babylonischen Turmes aus, daß er die Menschheit um sich versammelt, d.h. nicht nur überhaupt Orientierung durch Markierung eines Ortes unter Örtern, sondern zugleich menschlich-leibhaftiges Zusammensein begründet habe. Das, was dadurch definiert ist, daß Menschen sich dabei versammeln, ist Architektur. Architektur ist insofern „lebendige“ Kunst, nämlich eine solche, die in der lebendigen und leiblichen Gegenwart des Menschen und in der Art, wie sie dieselbe versammelt, ihr Sein hat.16 Bekanntlich hat Derrida in den Marges de la philosophie das Motiv der Pyramide einer folgenreichen Untersuchung unterzogen, die hier weder zusammengefaßt, noch kritisiert werden kann.17 Dagegen soll versucht werden, durch eine Bereicherung des Zusammenhangs, in den das Motiv der Pyramide gehört, die hier in Frage stehende Sache von neuem strittig, d.h. theoretisch produktiv zu machen. Der „Todestrieb“ im Sinne der ägyptischen Symbolik vollendet die eigentlich Symbolik, gehört aber in den Zusammenhang zweier weiterer Symbolformen, ohne die sie strenggenommen gar nicht gedacht werden kann. Insofern ist die „Ökonomie des Todes“, welche jene Symbolik offenbar durchherrscht, dennoch nicht die ganze Ökonomie des Symbols; und das ist, was wir abschließend in einer knappen Interpretation der angeblich „parsischen“ und „indischen“ Kunst zeigen möchten. Der von Hegel in der Parsenreligion wiedererkannte Symboltyp zeichnet sich dadurch aus, zu keiner eigentlichen Kunstgestalt Anlaß zu geben, insofern in ihr Alles im voraus schon gestaltet ist, nämlich als unmittelbarer Ausfluß aus dem Lichtwesen, das nichts für sich behält und vielmehr reines SichGeben ist. Es drückt sich hierin eine Funktion des Symbols aus, die der sym16
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Inwiefern ist die Kunst „lebendiger“ als das Leben selbst? – Insofern sie dasjenige konstituiert, was wir in einem emphatischen Sinn das Leben nennen, d.h. „erfülltes“, „glückliches“ usw. Leben, im Unterschied zum bloßen Vegetieren. Dieses Leben aber besteht geradezu aus der Arbeit des Symbols, z.B. der Architektur. Diese ist nicht die Zusammensetzung von Bauzeug, sondern Monument, d.h. ein in dem Ganzen des Raumes bestimmter Ort der leibhaftigen Zusammenkunft von Menschen. Diese Rolle mag selbst ein einfacher Steinhaufen, ja ein Baum oder eine Höhle spielen. Jacques Derrida, „Le puits et la pyramide. Introduction à la sémiologie de Hegel“, in: idem, Marges de la philosophie, Paris 1972, 79-127. Unter den zahlreichen Diskussionen dieser Position siehe z.B. Jim Vernon, Hegel’s Philosophy of Language, London New York 2007, Stephen Houlgate, „Hegel, Derrida and restricted Economy: The case of mechanical Memory“. In: Journal of the history of Philosophy, 34(1996), 79-94.
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bolischen Differenz gerade entgegengesetzt ist, ohne die aber jene Differenz keinen Sinn hat, die Dimension der Gabe. Das Zeichen hat in der Tat etwas zu geben; und dadurch, daß etwas bezeichnet wird, ist es „gegeben“. Die Gabe aber selbst ist ein symbolisches Objekt, insofern sie als solche in nichts anderem als in der Bedeutung des Gegebenseins der Gabe (als Korrelat des Gebens) besteht, denn ohne diese Bedeutung und an und für sich ist keine Sache je eine Gabe. Wo die Gabe aber durch das Sein des Zeichens, d.h. im Symbol als solchen hergestellt ist, da erscheint sie notwendig als der Seinscharakter des immer schon Gegebenen, nämlich als die Gegebenheit des Seins alles Seienden. Das Symbol läßt so das Seiende entbrennen in dem Licht seines Gegebenseins und äußert sich also auch nicht anders als nur in der Lust an dem, was ist, insofern es ist, d.h. es gibt keinen Anlaß zu einem Wirken und WerkSchaffen. Es begründet also auch keinen Trieb. Diese reine Gabe des Seins, das „Licht“ der Lichtreligion (reiner, selbstloser Ausfluß, so bereits in der Phänomenologie des Geistes), ist göttlich, weil sie diejenige Gabe ist, die in dem Sein des Zeichens als eines solchen, d.h. im Symbol begründet, sich den Sterblichen nie anders denn als Gabe, d.h. als absolute Gabe nähert. Sie ist also göttlich, weil sie nie auf einen Widerspruch treffen kann und mithin absolut entscheidend bleibt. In der reinen Lichtgabe produziert mithin das Symbol durch sein Sein die Göttlichkeit des Gottes.18 Die indische Symbolik, in der Phänomenologie des Geistes noch nicht angesprochen, findet zu einer völlig anderen Stellung. Es bricht hier zuerst die Inadäquation zwischen Zeichen und Bezeichnetem auf, die in der Religion der reinen Gegebenheit alles Seienden (=Licht) noch gar nicht auffallen konnte, gleichwohl durch sie vorbereitet wird. Das inadäquate Symbol muß als solches durch ein anderes Symbol ersetzt werden, das ob seiner ebenso großen Inadäquatheit seinerseits durch ein drittes ersetzt werden muß, usw. Die indische Symbolik basiert daher auf dem kontinuierlichen Übergang von einem Signifikanten auf den anderen, insofern keiner je zureicht, die „Sache“ selbst (welche hier allerdings noch unbestimmt, d.h. leer ist) auszudrücken. Wir nennen dies den metaphorischen Prozeß. Das eine Korrelat dieses Prozesses, also sein erstes symbolisches Produkt, ist die Vorstellung des reinen Nichts, insofern das Symbol, das sich nur durch Verrückung (Metapher) realisiert und folglich grundsätzlich nichts, d.h. das Nichts bezeichnet, eben genau diesen Inhalt auch herstellt. Das andere Produkt aber ergibt sich auf der Seite des Signifikanten, der aufgrund seines unendlichen Wachstums die unendliche Potenz durch sein strukturell unendliches Versprechen, das Signifikat selbst zu erreichen, zur Darstellung bringt, die Figur der Erektion. Diese wird in den Lingamsäulen wirklich gestaltet. Die in der „indischen“ Mythologie sehr präsente Fruchtbarkeitssymbolik wäre demnach aus dem gemäß dem hier erreichten Entwicklungsstand dominierenden Verhalten des Symbols abgeleitet, also nicht Ur18
Dies symbolische Objekt wäre zu vergleichen mit dem „es gibt“ bei Heidegger, etwa in „Zeit und Sein“. In: idem, Zur Sache des Denkens. Tübingen 1969, 6.
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SYMBOL UND SYMBOLISCHE KUNSTFORM BEI HEGEL
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sprung, sondern Folge dessen, was sich im Sein des Symbols, d.h. eigentlich der Kunst hier zeigt. Bemerkenswert ist in Hegels Deutung der indischen Symbolik, daß das Symbol der Potenz aus strukturellen Gründen zugleich das Nichts herausgibt. Erst wo das Symbol als reine Gabe aufgegangen ist, kann seine Inadäquatheit entdeckt werden und somit zur Metapher Anlaß geben, die damit die innere Struktur des Symbols und seiner Produkte bestimmen wird. Die ägyptische Symbolik besteht sodann in nichts anderem als nur der Entdeckung dessen, was die indische eigentlich ist, nämlich Darstellung der wesentlichen Abwesenheit. Alle diese Formen von Symbolik stellen eine vollkommene Adäquation zwischen Zeichen und Inhalt her, da der Inhalt nichts anderes als das Produkt der Arbeit des Symbols ist, nämlich dasjenige, was das Zeichen durch sein Sein als Zeichen an sich zeigt. Das hier versuchte sehr knappe Exposé der parsischen, indischen und ägyptischen Symbolik soll andeuten, wie die „Ökonomie des Todes“, welche die ägyptische Symbolik durchherrscht, bei Hegel doch eingebettet ist in eine Ökonomie der Gabe, der Potenz und des Nichts und in welchem Sinne alle diese Momente als symbolische, d.h. durch das Symbol, nämlich durch das Sein des Zeichens als Zeichen hergestellte Objekte aufgefaßt werden können. Dabei spielt es nur eine untergeordnete Rolle, ob Hegels Interpretation der betroffenen Mythologien historisch richtig ist, indem sie immerhin Paradigmen entwirft, nach denen die Struktur des Symbols im Hinblick darauf begriffen werden kann, wie es auch heute wirklich funktioniert. Das hohe Niveau der Hegelschen Symboltheorie sollte sie aber auch der historischen Forschung empfehlen, indem sie sie vor der unreflektierten Projektion moderner Vulgärauffassungen in die Vergangenheit bewahren könnte. Die Übereinstimmung des hier erörterten Symbolbegriffs mit der eingangs zitieren Definition der Kunst aus der Enzyklopädie deutet darauf hin, daß er vermutlich die gesamte Philosophie der Kunst tragen kann, auch wo sie sich, wie im Kapitel über die klassische Kunstform, am Paradigma des Bildes zu orientieren scheint. Es käme darauf an, die Artikulation zwischen dem Symbol und dem Bild, wie sie von Hegel im Oedipusmythos dargestellt ist, zu begreifen.
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Hegel über Gartenkunst. Ein Aktualisierungsversuch Die Beschäftigung mit einer klassischen kunstphilosophischen Theorie wie derjenigen von G.W.F. Hegel kann sich der philologischen Exegese widmen, um einen solchen Text der scientific community zur weiteren Verfügung zu stellen. Erfahrungsgemäß umstrittener sind dann die Bemühungen, auch die Aktualität und das heißt die Anschlussfähigkeit eines solchen Textes und seiner Theoreme und Thesen für aktuelle Diskussionen zu erweisen. Geradezu waghalsig mögen dann diejenigen Versuche sein, eine solche behauptete Aktualität in Anknüpfung an den klassischen Text über diesen Text – gleichsam mit und gegen den Autor – hinaus für aktuelle Problemstellungen fruchtbar machen zu wollen, indem man sich von einigen Theoremen des Klassikers für aktuelle Lösungsvorschläge für diese Problemstellungen inspirieren lässt. Genau einen solchen Versuch stellen die folgenden Überlegungen zur Hegelschen Erörterung der Gartenkunst in dessen Kunstphilosophie dar. Diese Überlegungen können allerdings des hier nur andeutungsweise erfolgen.
Hegels Bestimmung der Gartenkunst in den Berliner Ästhetikvorlesungen Die Gartenkunst wird in Hegels Ästhetikvorlesungen nur stiefmütterlich behandelt. Die längste Textpassage ist in der Nachschrift der Vorlesung von 1820/211 überliefert. Hotho notiert 1823, die Gartenkunst sei „als Ausweichung zu übergehen.“2 In der Vorlesung von 1826 erwähnt Hegel sie einmal im Zusammenhang des Lehrgedichts, aber auch wie 1820/21 und 1823 zum Ende der gotischen bzw. romantischen Baukunst. 1828/29 findet sie kurze Erwähnung in den Äußerungen Hegels zur Baukunst. Die Dürftigkeit der wenigen Äußerungen Hegels zur Gartenkunst hat ihren Grund vielleicht einmal in einer gewissen Gleichgültigkeit Hegels gegenüber dieser Kunst, wie überhaupt gegenüber der Natur. Wichtiger als dieser idiosynkratische Hintergrund sind aber Hegels sachliche Bedenken. Den seines Erachtens grundlegenden Mangel der Gartenkunst entfaltet Hegel mit wenigen Bemerkungen im Rahmen der Erörterung des Lehrgedichts, also einer Kunstgattung, die Hegel mit dem „Zerfallen der Bedeutung als sol1
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Hegel, Vorlesung über Philosophie der Kunst. Berlin 1820/21. Eine Nachschrift. I. Textband. Hrsg. von H. Schneider. Frankfurt a. M 1995 (fortan zit. als Ascheberg 1820/21), 207 f. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Kunst. Berlin 1823. Nachgeschrieben von Heinrich Gustav Hotho. Hrsg. von A. Gethmann-Siefert. Hamburg 1998 (Studienausgabe Hamburg 2002) (fortan zit. als Hotho 1823), 228.
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cher und der Gestalt als solcher“3 und damit mit der Prosa des Verstandes in Zusammenhang bringt. Das Lehrgedicht ist nämlich streng genommen „kein wahrhaftes Kunstwerk“. Es herrscht nur eine ganz äußerliche Beziehung vor zwischen einer isolierten Bedeutung und einer isolierten Äußerlichkeit. Der Inhalt ist für sich selbst bedeutsam und keiner Gestalt bedürftig, weil er bereits vom Verstand gewusst ist. Die Form bzw. Gestalt kann als „poetische Form“ dem prosaischen Inhalt als Schmuck dienen.4 Wird nun die Natur zum Garten eingerichtet, dann spricht man von Gartenkunst. Für Hegel ist Gartenkunst aber nur ein „äußerliches Arrangieren“, ein „äußerlicher Schmuck“ für die Natur.5 Inhalt und Gestalt fallen also – wie beim Lehrgedicht – auch bei der Gartenkunst unvermittelt auseinander. Der für sich selbst bedeutsame Inhalt bedarf nicht der schönen Form, die schöne Form könnte auch einen anderen, sogar banalen Inhalt aufnehmen. Was das heißt, lässt sich an dem Gartentypus, der zu Hegels Zeit die maßgebliche Gartenform war, zeigen: am Landschaftsgarten. Ein knapper Exkurs über Goethe mag diesen Aspekt gleichsam „personalisierend“ erläutern. Goethe war bekanntlich zu Anfang seines literarischen Schaffens Mitinitiator und Autor der Bewegung des „Sturm und Drang“, die gegen die einseitige Verstandesbetonung der Aufklärung polemisierte und stattdessen ihrerseits einseitig auf Gefühle, Empfindungen und Leidenschaften setzte. Den normativen Ansprüchen und Regeln der Gesellschaft stellte sie das freie, sich selbst Regeln gebende Genie entgegen. In „Die Leiden des jungen Werther“ beschreibt Goethe idyllische Naturerfahrungen und die ganze Palette des Empfindsamkeitskultes jener Zeit. Auch setzt er den „wissenschaftlichen Gärtner“ dem „fühlenden Herz“ entgegen, also den barocken Gartenplaner dem gebildeten „Dilettanten“, der – wie Goethe selbst – ohne Fachausbildung Gärten im sentimentalen, d.h. landschaftlichen Stil plant und ausführt. 1776 überließ Herzog Karl August von Thüringen Goethe ein Gartenareal mit Gartenhäuschen am Ufer der Ilm. Hier legte Goethe die berühmte Felsentreppe an, hier erbaute er das „Luisenkloster“ als Staffage einer Ruine und hier wirkte er bei der Gestaltung des Geländes zu einem Park im englischen Stil mit. Ende 1777 hatte Goethe die dramatische Grille „Triumph der Empfindsamkeit“6 geschrieben, in der er den von ihm selbst mitverursachten „Kult der 3
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Hegel, Philosophie der Kunst oder Ästhetik. Berlin 1826. Nachgeschrieben von Friedrich Carl Hermann Victor von Kehler. Hrsg. von A. Gethmann-Siefert und B. Collenberg-Plotnikov unter Mitarbeit von F. Iannelli und K. Berr. München 2004 (fortan zit. als Kehler 1826), 112. „Wenn wir die nähere Form dieser Beziehung angeben, so ist das erstens ein Bedeutendes ohne eigentliche Gestalt; das ist das Prosaische des Verstandes. Wird ihm poetische Form gegeben, so ist es das Lehrgedicht. Bedeutungsvoller Inhalt, aber ohne Gestaltung“ (Kehler 1826, 112 f.). „Dem wahrhaften Inhalt nach [ist das Lehrgedicht] prosaisch; das Schöne daran ist ein äußerlicher Schmuck. Wie [in der] Gartenkunst; Natur ist da, was die Kunst tut, ist äußerliches Arrangieren“ (Kehler 1826, 113). J. W. von Goethe, „Triumph der Empfindsamkeit“. In: ders., Poetische Werke, Band 4, Essen 1999, 557-597.
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Empfindsamkeit“ bereits mit Ironie und Spott überzog. In den 1780er und 1790er Jahren verstärkte sich seine distanzierte Einstellung nicht nur im Hinblick auf die empfindsamen Gefühlsschwärmereien, sondern auch hinsichtlich der Idee des Landschaftsgartens überhaupt. Seine Mitwirkung an der weiteren Gestaltung des Parks beschränkte sich fortan auf architektonische Beiträge, wie etwa das „Römische Haus“. Zusammen mit Friedrich Schiller und Heinrich Meyer verfasste er 1799 das Fragment „Über den Dilettantismus“,7 in dem er die Vermischung von Natur und Kunst sowie die mangelnde Strenge der Form als großen Nachteil der Gartenkunst wertete. Schließlich gipfelte Goethes gartenkünstlerische Ernüchterung in einer eindeutigen Favorisierung des französischen Gartenstils, weil der architektonische Garten ganz klar als Kunstwerk von der Natur als Nichtkunst abgehoben wird. Kultur- und gartenkunsthistorisch gab es zu jener Zeit folgende Entwicklung: Nachdem der Landschaftsgarten von seiner ursprünglichen Idee her bereits überholt war, entwickelten sich im 19. und 20. Jahrhundert neben den modernen Stadtparks auch moderne Parkfriedhöfe, die die mittelalterlichen Begräbnisstätten ablösten. Mit Namen wie Gustav Meyer und Carl Hampel ist dann gegen Ende des 19. Jahrhunderts der endgültige Niedergang des landschaftlichen Stils verbunden. Meyer, Hampel und ihre vielen Nachahmer variierten ein schablonenartiges Grundmuster eines landschaftlichen Gartens für völlig unterschiedliche Zwecke, ohne städtebauliche, architektonische und funktionale Gegebenheiten zu berücksichtigen. Die Gartenform schrumpfte hier zu einer bloßen Form zusammen, ohne Rücksicht auf die neuen Inhalte – das heißt die neuen soziokulturellen Erfordernisse einer neuen Zeit. Die Konzeption des Landschaftsgartens war schlichtweg von dem technischen, sozialen und städtebaulichen Wandel des 19. Jahrhunderts überholt worden. Eine weitere, aber andersgeartete Erwähnung findet die Gartenkunst in Hegels Ästhetikvorlesungen jeweils am Ende der Darstellung der gotischen bzw. romantischen Baukunst. Zur Baukunst kann sie insofern gerechnet werden, als hier wie dort der Mensch im Mittelpunkt steht, wenn das Gebäude oder der Garten „zur Wohnung des Menschen bestimmt“ ist.8 Die Gartenkunst wird also „gleichsam in die Architektur hineingezogen“.9 1820/21 sagt Hegel, Gartenkunst sei „eine Behandlung und Bereitung der Naturgegenstände, in Bezie7
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J. W. von Goethe, Friedrich Schiller, Heinrich Meyer, „Über den Dilettantismus“. In: Goethes Werke. Hrsg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. I. Abt. Bd. 47. Weimar 1896, 299-326. „Diese Kunstwerke sind nicht der Zweck für sich, sondern sie erwarten zuerst die Sculptur der Göttergestalt, oder sie sind zur Wohnung des Menschen bestimmt (…) Dasselbe gilt von der Gartenkunst, welche eine Art von Architektur ausmacht, denn in einem Garten ist der Mensch Hauptperson“ (Ästhetik von Hegel. Anonym. Berlin 1828/29. Ms. 23a). Das Manuskript (Ms. Germ. Qu. 2328) befindet sich im Besitz der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Berlin. Hegel, Philosophie der Kunst. 1826. Nachgeschrieben durch von der Pfordten. Ms. im Besitz der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Berlin. Hrsg. von A. Gethmann-Siefert, J.-I. Kwon und K. Berr. Frankfurt a.M. 2004 (fortan zit. als Pfordten 1826), 191.
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hung auf den Genuß des Menschen“.10 Zwei wesentliche Zwecke dieser Kunst nennt Hegel an dieser Stelle: Zum einen bestimmt er den Garten als „Vereinigungspunkt für Menschen“, und zwar sowohl für einander Bekannte als auch für einander Unbekannte. Hier komme es auf „Abwechselungen“ und darauf an, „einfache Anlagen, mit schönen Bäumen, Wasser, Hügeln etc., doch ohne Künstelei“ anzulegen. Dann sei ein einfacher „Naturgenuß“ möglich. Zum anderen kann der Garten auch dem Zweck dienen, „die Pracht der Natur anzuschauen“. Hegel nennt als vorbildhaftes Beispiel die chinesische Gartenkunst, die über englische Adlige vermittelt auch nach Deutschland gelangte.11 Für die deutsche Gartenkunst in Gestalt des Landschaftsgartens hat Hegel nur Verachtung übrig, sie können „nur ein elendes, kindisches Machwerk genannt werden“. Nur die im Auftrag von Friedrich dem Großen in Potsdam erbaute „große Terrasse zu SANS-SOUCI“ gilt ihm als „grandios“.12 Otto Pöggeler hat diese Zusammenstellung von chinesischer Gartenkunst, deutscher Gartenkunst und der Terrasse zu Sanssouci kritisiert, denn Hegel sehe nicht, „dass die Chinesen ein ganz anderes System der Künste haben als die europäische Neuzeit. Die Architektur ist dort nicht sakrale Steinarchitektur und nicht jene Kunst, welche auch den anderen Künsten erst ihren Ort anweist; vielmehr stellen sich zum Garten die Malerei und die Lyrik, so dass sich auch Bild und Schrift inniger als bei uns verbinden können“.13
Zwei Funktionen der Gartenkunst bei Hegel Wenn Hegels Äußerungen zur Gartenkunst auch mehr Fragen aufwerfen als beantworten, so lassen sich in einem ersten Aktualisierungsversuch mit und gegen Hegel die beiden bereits erwähnten Aspekte der Gartenkunst herausstellen, die Hegel mit seinen eigenen Kategorien als Form menschlicher Weltaneignung zureichend hätte interpretieren und weiterentwickeln können. Das eine ist der Hinweis auf den Garten als „Vereinigungspunkt für Menschen“, das andere ist die Möglichkeit, den Garten als Ort zu verstehen, in dem der Mensch ein reflektiertes Verhältnis zur Natur gewinnen kann, und zwar nicht nur, um „die Pracht der Natur anzuschauen“, sondern auch im kreativen wie sorgsamen Umgang mit Natur. Was den Garten als „Vereinigungspunkt für Menschen“ anbelangt, so waren die neben den Wallgrünanlagen im landschaftlichen Stil parallel entste10 11
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Ascheberg 1820/21, 207. Vgl. Adrian von Buttlar, Der Landschaftsgarten, Köln 1989; Frank Richard Cowell, Gartenkunst. Von der Antike bis zur Gegenwart, Stuttgart/Zürich 1979. Ascheberg 1820/21, 208. Otto Pöggeler, „Hegel und der Berliner Museumsstreit“. In: Gethmann-Siefert/Weisser–Lohmann/Collenberg-Plotnikov, Kunst als Kulturgut. Band III: Musealisierung und Reflexion. Gedächtnis – Erinnerung – Geschichte. München 2011, 99-117, 115.
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henden Volksgärten die ersten wirklich öffentlichen Grünanlagen der Neuzeit, die einem allgemeinen Publikum offenstanden. Die Funktion dieser Anlagen ist daher eine andere als die des ursprünglichen Landschaftsgartens. Ging es beim klassischen Landschaftsgarten eher um politisch orientierte Bildungsideen im Sinne der Aufklärung und um eine spezifische Verknüpfung von Kunst und Natur, so geht es nunmehr um die sittlich orientierte Idee einer Parkanlage, die unterschiedlichste Bevölkerungskreise zusammenzuführen und somit soziale Spannungen zu mindern in der Lage sein soll. Der Philosoph und Gartentheoretiker Christian Cay Laurenz Hirschfeld hatte 1785 in seiner „Theorie der Gartenkunst“ auch Volksgärten gefordert und behauptet, die verschiedenen Stände würden durch Annäherung im Park an „Sittsamkeit“ gewinnen: „Diese Volksgärten sind, nach vernünftigen Grundsätzen der Polizey, als ein wichtiges Bedürfniß des Stadtbewohners zu betrachten. Denn sie erquicken ihn nicht allein nach der Mühe des Tages mit anmuthigen Bildern und Empfindungen; sie ziehen ihn auch, indem sie ihn auf die Schauplätze der Natur locken, unmerklich von den unedlen und kostbaren Arten der städtischen Zeitverkürzungen ab, und gewöhnen ihn allmälig an das wohlfeile Vergnügen, an die sanftere Geselligkeit, an ein gesprächiges und umgängliches Wesen. Die verschiedenen Stände gewinnen, indem sie sich hier mehr einander nähern, auf der einen Seite an anständiger Sittsamkeit und scheuloser Bescheidenheit, und auf der andern an herablassender Freundlichkeit und mittheilener Gefälligkeit. Alle gelangen hier ungehindert zu ihrem Rechte, sich an der Natur zu freuen.“14
Friedrich Ludwig von Sckell hatte ebenfalls Volksgärten für die „Annäherung“ und für das „Bedürfnis aller Stände“ verlangt, die „die größte Zahl seiner Lustwandler und ihren verschiedenen Geschmack zu befriedigen vermögen“.15 Sowohl Hirschfeld als auch Sckell hatten zudem für alle Bürger frische Luft und gesundheitsbefördernde Bewegung in der freien Natur verlangt. 1789 bekam Sckell vom bayerischen Kurfürsten Karl Theodor den Auftrag, einen Volksgarten in München anzulegen. Diesem ersten Volksgarten folgten im 19. Jahrhundert in den sich ausweitenden Industriestädten viele weitere solcher Parkanlagen. Auch heute ist Gartenkunst insofern relevant, als sie mit Hegel als „Vereinigungspunkt für Menschen“ eine sittliche Funktion übernimmt. Diese sittliche Funktion zeigt sich darin, dass Garten- und Parkanlagen, überhaupt landschaftsarchitektonisch gestaltete öffentliche Räume als Orte für Veranstaltungen, Freizeitaktivitäten und gemeinsame Treffen, also für zahlreiche im weitesten Sinne kooperationsstiftende Anlässe fungieren. Was den Garten als Ort anbelangt, in dem der Mensch ein reflektiertes Verhältnis zur Natur gewinnen kann, ist an Hegel eigenen Sprachgebrauch anzuknüpfen. Wenn Hegel die Gartenkunst als „Behandlung und Bereitung der Na14
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Christian Cay Laurenz Hirschfeld, Theorie der Gartenkunst. In Auszügen vorgestellt, herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Franz Ehmke. Berlin 1990, 193. Zitiert nach Herbert Keller, Kleine Geschichte der Gartenkunst. Berlin/Hamburg 1976, 131f.
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turgegenstände, in Beziehung auf den Genuß des Menschen“16 bestimmt, ist damit – qua „Genuss“ – ein reflektiertes Verhältnis zur Natur in Form menschlicher Naturaneignung angesprochen. Die im Garten gezähmte Natur ist keine urwüchsig vorfindbare Natur an sich, sondern gestaltete und genutzte Natur. In der konkreten Gestaltung und Nutzung wie im schonenden Umgang mit ihr kann der Mensch aktiv in ein Verhältnis zu ihr treten.17 Es geht um die Herausforderung, zwischen instrumenteller Nutzung, kreativer Gestaltung und sorgsam-schonendem Umgang mit Natur eine reflektierte verantwortbare Position als kulturelles Subjekt gegenüber der Natur als Objekt der Gestaltung zu finden. Hier mag die Erfahrung der „Widerständigkeit“ der Natur die Einsicht in die Grenzen menschlicher Eingriffe in Natur und die Angewiesenheit auf die Natur für ebendiese Eingriffe befördern.
Aktuelle Begriffsverwirrungen Um den zweiten Aktualisierungsversuch plausibilisieren zu können, ist ein gezielter Blick auf einige Schwierigkeiten der gegenwärtigen Diskussionen in den aktuellen Theorien der Landschaftsarchitektur bzw. Gartenkunst notwendig. Hier beginnen die Schwierigkeiten bereits damit, dass sich in Europa inzwischen der Begriff „Landschaftsarchitektur“ gegen die älteren Begriffe der „Gartenkunst“ und „Gartenarchitektur“ durchgesetzt hat und für die Landschaftsarchitektur am Leitfaden eines biologischen Umweltbegriffs neue wissenschaftliche Grundlagen gesucht wurden. Dabei wurden und werden die traditionell ästhetisch vermittelten Konzepte des Gartens und/oder der Landschaft zugunsten selbstregulierender Systemeigenschaften natürlicher Biotope aufgegeben. Theorieblind greift man dabei oftmals undurchschaut und ohne weitere Begründung auf ein arkadisches – also ästhetisch konstruiertes – Ideal von „Natur“ zurück. In diesem Zusammenhang kommt es dann zu einer folgenreichen Verwechslung von „Landschaft“ mit „Natur“ – so der Vorwurf von beispielsweise Lucius Burckhardt18 und Hansjörg Küster19. Die genannte Ökologisierung der Garten- und Landschaftsarchitektur und die Austauschbarkeit von Landschaft und Natur zeigen sich etwa beim behördlichen Landschaftsschutz darin, dass für Naturschützer der Mensch in der Landschaft als „Störenfried“ gilt.20 Seit Mitte der 1990er Jahre findet zwar eine Gegenbewegung zur Ökologisierung 16 17
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Ascheberg 1820/21, 207. Vgl. beispielsweise die Ausführungen von Dieter Kienast, Die Poetik des Gartens. Über Chaos und Ordnung in der Landschaftsarchitektur. Basel u.a. 2002, 148. Lucius Burckhardt, „Warum ist Landschaft schön?“ In: Ritter/Schmitz (Hrsg.), Die Spaziergangswissenschaft. Berlin 2008. Hansjörg Küster, „Landschaft – Naturlandschaft – Kulturlandschaft“. In: ders. (Hrsg.), Kulturlandschaften. Analyse und Planung. Frankfurt am Main 2008, 9-19. Werner Nohl, „Ohne Landschaftsästhetik?“. In: Stadt + Grün, 8 (2006), 50.
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der Garten- und Landschaftsarchitektur statt, die wieder den Gestaltungsauftrag des planenden Menschen in Erinnerung ruft und anmerkt, dass Gartenkunst bzw. Landschaftsarchitektur keineswegs ein Projekt der Natur und für die Natur, sondern des Menschen und für den Menschen, d.h. ein soziales Projekt sind. Allerdings kann diese aufgrund der geänderten Zielsetzung zurück gewonnene Gestaltungsfreiheit dann, wenn sie ohne ‘Orientierung im gestalterischen Handeln’ (gleichsam ‘sinnlos’) erfolgt, auch dazu führen, sinnlose Garten- und Landschaftsbilder zu installieren, gleichsam in eine „gestalterische Geschwätzigkeit“ (Dieter Kienast)21, d.h. in ein Garten- bzw. Landschaftsdesign im Sinne eines postmodernen „anything goes“ zu verfallen. Insgesamt muss daher auch festgestellt werden, dass Garten- und Landschaftsarchitekten über keinen einheitlichen Begriff der Aufgabe ihres Berufsstandes sowie der kulturellen Funktion und Bedeutung der Gestaltung der menschlichen Umwelt verfügen, hier demnach ein deutliches Theorie- und Reflexionsdefizit besteht.22 Betrachtet man die aktuellen Theorien im engeren Sinne der Gartenkunst, lässt sich häufig eine weitere typische Begriffsverwirrung feststellen, insofern weder klar ist, was an der Gartenkunst spezifisch „Kunst“ noch ersichtlich ist, welchen Status hierbei die „Garten-Natur“ als vermittelte Natur hat oder haben sollte. Was den fraglichen Kunst-Charakter der Gartenkunst anbelangt, steht die traditionelle Bestimmung der Kunst als „interesseloses Wohlgefallen“ (I. Kant) bzw. die moderne Auffassung der Autonomie der Kunst, die sich jeweils als von allen lebensweltlichen Zweck- und Nutzenerwägungen unabhängig wähnen, einer widerspruchsfreien Klärung dieses Kunst-Charakters entgegen. Diese Schwierigkeit betrifft genauso die Landschaftsarchitektur, die sowohl Kunst zu sein wie auch lebensweltliche Zweckdienlichkeit zu haben beansprucht. Die Begriffsverwirrung um die „Garten-Natur“ zeigt sich exemplarisch in Versuchen, diesen Status gleichsam ontologisierend dadurch bestimmen zu wollen, dass man etwa im städtischen Raum „Formen städtischer Natur“ in eine „erste“, „zweite“, „dritte“ und „vierte Natur“ (Ingo Kowarik)23 differenziert – und dabei den Spott von Gert Gröning provoziert, der dieses Konzept einmal ironisch bis zu einer „nonären Naturlandschaft“ weiter-
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Dieter Kienast, „Zwischen Poesie und Geschwätzigkeit“. In: Garten und Landschaft, 1 (1994), 13-17. Eine instruktive und exemplarische Dokumentation gibt Gabriele Pütz am Beispiel der Landschaftsarchitektur im Hinblick auf Diskussionen über Freiraumgestaltung in: Schönheit – Sinn ohne Verstand, Berlin 1995 (Beiträge zur Kulturgeschichte der Natur. Hrsg. von U. Eisel und L. Trepl. Band 3). Vgl. beispielhaft auch das Interview mit Hans Stimmann in: Garten + Landschaft, 7 (1998), 38-40 sowie Udo Weilacher, Herausforderungen und Zumutungen. Landschaftsarchitektur und Entwerfen an der Universität Hannover. In: Garten + Landschaft, 1 (2003), 15ff. Ingo Kowarik, „Stadtbrachen als Niemandsländer, Naturschutzgebiete oder Gartenkunstwerke der Zukunft?“ In: Geobot Kolloq 9, Frankfurt a. M. 1993, 3-24.
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spann24 – oder die Analyse zeitgenössischer Gartenkunst auf den Begriff einer „vierten Natur“ stützen will (Brigitte Franzen)25. Verwandte Schwierigkeiten zeigen sich beim landschaftsarchitektonischen Konzept der „Landschaft“, wenn beispielsweise M. Prominski in Anlehnung an J.B. Jackson26 das Konzept einer „Landschaft drei“ übernimmt.27 Prominski will damit das vermeintlich entscheidende Problem aktueller Landschaftsarchitektur lösen, dass nämlich das tradierte klassische, ästhetisch vermittelte Landschaftskonzept nicht mehr den gegenwärtigen Landschaftsformen gerecht wird. Tatsächlich bleibt das Alltags-, aber auch weitgehend das Professionsverständnis einem „Klassizismus“ der ästhetischen Betrachtung „schöner“, an arkadischen bzw. romantischen Vorstellungen orientierter Landschaft verhaftet. Prominski fordert daher für dieses neue Landschaftskonzept nicht nur eine „neue Wahrnehmung“ und eine „neue Ästhetik“ der Landschaft. Er behauptet zudem, einen „neuen Begriff“ der Landschaft konzipiert und begründet zu haben. Nur wenige Autoren verzichten im übrigen auf jene starke Forderung nach einer „neuen Wahrnehmung“ und betonen statt dessen die „Technologie“ des „landschaftlichen Blicks“ und dessen Anpassungsfähigkeit auch an veränderte Bedingungen (S. Hauser)28 oder verschiedene, neuen Landschaftstypen angemessene „landschaftsästhetische Erlebensweisen“ (W. Nohl)29. Nohl beispielsweise hat auch Vorschläge unterbreitet, wie diese „landschaftsästhetischen Erlebensweisen“ zu neuen garten- und landschaftsästhetischen Kategorien der Landschaftserfahrung reformuliert werden können, also das Kategorienspektrum über den Begriff des „Schönen“ hinaus erweitert werden kann. Stefan Körner hat zudem gezeigt, dass Prominskis Begriff der Landschaft so allgemein bestimmt ist, dass er „nichts sagend und damit beliebig ist“.30 Außerdem sitze Prominski einem „umweltschützerisch motivierten Missverständnis Rainer Piepmeiers auf“.31 Letztlich – so Körner – bleibt Prominski die Antwort auf die Frage schuldig, was der „kulturelle Gewinn von Gestaltung“ gegenüber „Arbeit und Nutzen und über den Ressourcencharakter von Landschaft hinaus“32 denn nun sei. 24 25 26
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G. Gröning, „Die Suche nach der ‘Landschaftsmitte’“. In: Kursbuch 131, Berlin 1998, 55-69. B. Franzen, Vierte Natur. Gärten in der zeitgenössischen Kunst, Köln 2000. J.B. Jackson, „Concluding with landscapes“. In: ders. (Hrsg.), Discovering the vernacular landscape. New Haven, Yale University Press 1984, 145-157. M. Prominski, Landschaft Entwerfen. Zur Theorie aktueller Landschaftsarchitektur, Berlin 2004, 59ff. S. Hauser, „Landschaft heute“. In: http://www.newsletter.stadt2030.de/index9.htm. W. Nohl, „Erfassung von Eigenart, Vielfalt und Schönheit als Kategorien der Kulturlandschaft“. In: Fortbildungsverbund für das Berufsfeld Natur und Landschaft (Hrsg.), Die Kultur der Landschaft. Tagungsband zur Fachtagung am 24. 10. 2000, Wetzlar 2000, 13-42 sowie ders.: „Landschaftsästhetisches Erleben – Grundformen und ihre nachhaltige Wirkung“. In: Stadt + Grün 59 (2), 29-36. S. Körner: Eine neue Landschaftstheorie? Eine Kritik am Begriff „Landschaft Drei“, in: Stadt + Grün 10 (2006), 18-25, 18. Op.cit., 20. Op. cit., 24.
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Der von Körner angesprochene Hintergrund der Forderungen Prominskis und ähnlich argumentierender Autoren ist das 1980 von Rainer Piepmeier verkündete „Ende der ästhetischen Kategorie ‘Landschaft’“,33 wonach es keine von menschlichen Eingriffen unberührte Natur mehr gibt, die dem Menschen ästhetisch Natur vermitteln könnte. Körner argumentiert dagegen, dass Piepmeier – ebenfalls ontologisierend – „die ästhetische und symbolisch aufgeladene Kategorie Landschaft“ nun zu „einem ökologischen Realobjekt“,34 d.h. ein kulturelles Konstrukt zu einem ökologischen (natürlichen) Gegenstand verdinglicht.
Lösungsvorschläge Die beschriebenen Begriffsverwirrungen beruhen ersichtlich auf einem Missverständnis des ontologischen Status der Natur überhaupt sowie des Gartens und der Landschaft. Landschaft und Garten bleiben hier unterbestimmt, solange dieser Status nicht am Leitfaden eines Begriffs von Kultur entwickelt wird, der sowohl die Wahrnehmung als auch die Gestaltung der Natur zu Gärten und Landschaften als kulturell konstituierte und vermittelte Leistungen des Menschen rekonstruiert. Hier ist dann die entscheidende Frage, warum der Mensch in unterschiedlichen Kulturen, zu unterschiedlichen Zeiten und auf unterschiedliche Weise diese Vermittlung und Konstruktion in der Wahrnehmung und Gestaltung der Natur zu Gärten und Landschaften vornimmt? Dies ist die anthropologisch entscheidende Frage in diesem Zusammenhang. Anstelle eines wie auch immer gearteten naturalistischen oder realistischen Zugangs zum beschriebenen Problemzusammenhang empfiehlt sich daher ein kulturtheoretischer Ansatz. Als Leitfaden einer solchen kulturtheoretischen Analyse von Mensch und Natur kann im Übrigen die Bestimmung des Begriffs „Kultur“ von Jürgen Mittelstraß dienen: „Kultur ist in Wahrheit die bewohnte Welt selbst, die Welt bewohnbar gemacht, verwandelt in die Welt des Menschen, der sich nur in Dingen wiederzuerkennen vermag, die er selbst gemacht hat, die sein Werk sind“.35 In diesem Zitat spielt ersichtlich der Begriff des „Wohnens“ eine entscheidende Rolle. Dieser Begriff des „Wohnens“ und dessen Bedeutung für ein Verständnis gestalteter Natur spielte auch in den oben rekonstruierten Überlegungen Hegels zur Gartenkunst eine entscheidende Rolle, exemplarisch ersichtlich in dem Ausspruch Hegels, der Garten sei „zur Wohnung des Men33
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R. Piepmeier, „Das Ende der ästhetischen Kategorie ‘Landschaft’“. In: Westfälische Forschungen. 30 (1980), 8-46. S. Körner: Eine neue Landschaftstheorie? Eine Kritik am Begriff „Landschaft Drei“, in: Stadt + Grün 10 (2006), 18-25, 22. J. Mittelstraß, „Bauen als Kulturleistung“. In: Beton- und Stahlbau, 1 (2001), 53-59, 56 (Hervorhebungen: K.B.).
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KARSTEN BERR
schen“, die Gartenkunst als „Behandlung und Bereitung der Naturgegenstände, in Beziehung auf den Genuß des Menschen“36 bestimmt. Der systematische Ort in Hegels Ästhetik für die besondere Stellung des Menschen in der Architektur und Gartenkunst ist die Erörterung über den antiken Tempel, der nach der Entschlüsselung des „Rätsels der Sphinx“ nicht länger nur Umschließung des Göttlichen ist. Fortan entschleiert sich das Göttliche als das Menschliche. Es ist demnach letztlich der Mensch, um den sich alle Gestaltungsfragen drehen. Für eine Theorie des Gartens und der Landschaft bzw. für eine Theorie der Landschaftsarchitektur wäre somit der Begriff des „Wohnens“ von entscheidender Bedeutung. Der Begriff des Wohnens bildet so verstanden auch die Brücke zwischen der anthropologischen Frage nach dem Gärten und Landschaften gestaltenden Menschen und einem Begriff der Kultur, der auf die Lebenswelt verweist, in der Menschen die Funktion und Bedeutung ihrer Gestaltungszwecke in konkreten sozialen Praxen ausbilden. Mit den Handlungen innerhalb dieser Praxen ist jeweils ein Zweck verbunden, der sich innerhalb sozialer Praxen etabliert hat. Das heißt, Naturaneignung, Naturgestaltung und (ästhetische) Naturbetrachtung sind jeweils als soziales Projekt zu interpretieren, das vom Menschen und dessen „conditio humana“ auszugehen hat und historisch an je etablierte Naturverhältnisse gekoppelt ist. Auf unterschiedlichen gesellschaftlichen Zwecksetzungen basierende Naturverhältnisse bringen somit gleichsam auch Werke wie den Garten und die Landschaft hervor, mit denen der Mensch auf je verschiedene Weise die Natur gleichsam „in Gebrauch“ nimmt, sich somit eine bewohnbare Welt einrichtet, in der er sich zugleich in seiner Gestaltungs-Urheberschaft wiedererkennt. Die Bedeutung der Gärten und Landschaften ergibt sich solchermaßen aus den Zwecken, die einen spezifischen „Gebrauch“ (A. Hahn37; U. Weilacher38) der Zwecke setzenden Menschen anzeigen. Meiner Meinung nach lässt sich das beschriebene ontologisierende Begriffswirrwarr also vermeiden, wenn man, wie Hegel, Kunst im Allgemeinen und den Naturvollzug im Besonderen aus den konkreten Zwecksetzungen handelnder, gestaltender und wahrnehmender Menschen rekonstruiert.39 Es gibt nur eine Natur, die sich uns in verschiedenartigsten Vollzugsformen unterschiedlich präsentiert und in unterschiedlichen Lebensbereichen und Praxen unterschiedliche Bedeutungen gewinnt. Gartenkunst bzw. Landschaftsarchi-
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Ascheberg 1820/21, 207. A. Hahn, Architekturtheorie. Wohnen, Entwerfen, Bauen. Wien/Konstanz 2008. U. Weilacher, „In Gärten lesen“. In: ders.: In Gärten. Profile aktueller europäischer Landschaftsarchitektur. Basel 2005, 13-21, 20. Zu Hegels Kunstphilosophie vgl. A. Gethmann-Siefert, Einführung in Hegels Ästhetik, München 2005; zu Hegels Konzeption des Naturvollzuges vgl. K. Berr, Hegels Bestimmung des Naturschönen. Zur Betrachtung und Darstellung schöner Natur und Landschaft, Saarbrücken 2009.
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HEGEL ÜBER GARTENKUNST
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tektur sind Formen der Naturaneignung und Naturgestaltung, in denen der Mensch in ein spezifisches Verhältnis zur Natur treten kann. Im Rahmen eines solcherweise an Hegel anknüpfenden und über Hegel hinausweisenden kulturtheoretischen Ansatzes lässt sich – so die These – auch das bereits angesprochene Problem, dass das Alltags-, aber auch weitgehend das Professionsverständnis der Landschaftsarchitekten einem „Klassizismus“ der ästhetischen Betrachtung „schöner“ Landschaft verhaftet bleibt, durch eine lebensweltliche Fundierung der Landschaftsarchitektur auflösen. Deutlich werden sollte dann zugleich, dass Joachim Ritters These, in der Moderne sei Natur dem Menschen vorrangig ästhetisch – über die Anschauung der Landschaft – vermittelt,40 nach wie vor richtig ist. Allerdings darf Landschaftsästhetik nicht auf „schöne Landschaft“, Gartenkunst nicht auf „schöne Gärten“ reduziert sein, sondern muss um Kategorien ergänzt werden, die teilweise bereits in der Ästhetiktradition entwickelt wurden: Es kann auch hässliche, erhabene, interessante, charakteristische und anderweitig bestimmbare Landschaften und Gärten geben. Philosophisch begründet werden kann diese Kategorienerweiterung ebenfalls im Anschluss an Hegels Ästhetik, der den angeblichen Klassizismus „schöner“ Kunst von vornherein durch die Erweiterung des Kategorienspektrums um das Hässliche, Charakteristische und Erhabene im Hinblick auf die konkrete phänomenale Vielfalt historisch vermittelter Kunstformen und –werke unterlaufen konnte. Die landschaftsästhetischen Kategorien sind dann aus der Lebenspraxis handelnder, ihre Umwelt im Hinblick auf differenzierbare Zwecksetzungen bearbeitender und gestaltender Menschen zu rekonstruieren. Diese Rekonstruktion aus sozialen Praxen ist im übrigen auch deshalb notwendig, weil sie zwei Fehldeutungen der Aufgaben einer Landschaftsarchitektur entgegenwirkt: einmal der Reduktion auf Landschaftsökologie, zum anderen der Reduktion auf eine Deutung der Landschaft, die am Leitfaden einer interessefreien Betrachtung der Landschaft in der Gefahr steht, die kulturelle Vermitteltheit des ästhetischen Naturzugangs zu vergessen. Dies kann schnell zur Verfehlung einer adäquaten Deutung und Gestaltung der Landschaft als in und durch soziale Praxen Konstituiertes und Vermitteltes führen. Diese knappen Hinweise auf einige mögliche Lösungswege (Methoden) für die erwähnten Schwierigkeiten aktueller Landschaftsarchitektur können natürlich nur dann überzeugen, wenn eine entsprechende kulturtheoretische Grundlegung einer Theorie der Landschaftsarchitektur ausgearbeitet worden ist. Eine solche Ausarbeitung ist bislang allerdings ein Desideratum aktueller Forschung – Anlass genug für den Vortragenden, sich zukünftig dieser Aufgabe zuzuwenden.41 40 41
J. Ritter, „Landschaft“. In: ders., Subjektivität, Frankfurt am Main 1974, 141-190. Inzwischen ist aus dem in diesem letzten Satz geäußerten Vorsatz Realität geworden. Der Verfasser wird sich ab Sommersemester 2012 für drei Jahre im Rahmen eines DFG-Projektes an der TU Dresden im Institut für Baugeschichte, Architekturtheorie und Denkmalpflege (Lehrstuhl Prof. A. Hahn, Architekturkritik und Architekturtheorie) genau dieser Aufgabe konkret zuwenden.
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Hegel et Hanslick 1. Pourquoi Hegel et Hanslick? Eduard Hanslick est un auteur surprenant, appartenant à un contexte singulier. Le premier grand problème que l’on rencontre en l’étudiant est ce qu’on peut appeler le „contexte autrichien“, soit la censure anti-hégélienne dans l’empire austro-hongrois. On commence maintenant seulement à avoir l’idée de ce que pouvait être l’espèce de „philosophie d’État“ imposée dans l’espace austrohongrois.1 Celle-ci était dirigée contre Kant et Hegel, auteurs mis à l’index à cause de leur rapport à la religion et de leur supposé „idéalisme“. Il faudrait d’ailleurs parler d’une sorte d’ignorance mutuelle, puisque Karl Rosenkranz affirmait, depuis le point de vue prussien, que l’Autriche n’avait pas de philosophie, parlant d’une „dévastation intentionnelle“.2 Aujourd’hui, nous sommes un peu revenus des conclusions de cet article, qui semble avoir été historiquement bien funeste. La tradition de pensée autrichienne, toute difficile à cerner qu’elle soit, n’est plus pour nous une simple énigme. D’autre part, si Hanslick n’est que trop peu étudié, la chose est encore plus criante en ce qui concerne les rapports entre Hanslick et Hegel. Il nous semble cependant intéressant de rappeler ici trois références ponctuelles sur cette question. Selon Jean-Jacques Nattiez, l’influence de Hegel sur Hanslick serait croissante au fil des éditions.3 Ce propos ne semble pas vraiment évident si l’on regarde justement les éditions successives de ce texte, qui n’évolue qu’assez peu. Est-ce être influencé par des auteurs que les citer „après coup“ lorsque l’essentiel a déjà été dit?
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Nous travaillons actuellement sur cette question au sein du programme de l’Agence nationale de la recherche (ANR): Formesth – Formalisme esthétiques en Europe centrale au XIXe et XXe siècles. K. Rosenkranz, „Das Historisch-statische Verhältnis der Philosophie in Preußen und Deutschland.“ In: Neue Preußische Provinzialblätter. 11 (1851) 159. (Repris dans: Neue Studien. Bd 2: Studien zur Literaturgeschichte. Leipzig 1875, 197 et suiv.): „In Oesterreich existirt eigentlich gar keine Philosophie. Allerdings wird auf seinen Lyceen und Universitäten Philosophie gelehrt, allein nur eine kirchliche und politisch zur äußersten Unselbständigkeit herabgedrückte. [...] Oesterreich bietet uns also in der Philosophie nur das Bild einer absichtlichen Verödung.“ J.-J. Nattiez, „Hanslick ou les apories de l’immanence“. In: Le combat de Chronos et d’Orphée, III. Paris 1993, 55-80.
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Geoffrey Payzant, le meilleur sinon le seul spécialiste de Hanslick, élude de son côté cette question.4 Cette interprétation anglo-saxonne rejoint finalement, avec modération, ce qu’on pourrait appeler pour l’instant la perspective „autrichianisante“. Cela conduit à se demander si Richard Wagner ne serait pas, au fond, de façon surprenante, le meilleur interprète de Hanslick. En effet, la version plus complète du Judaïsme dans la musique, parue en 1869, comprenait plusieurs attaques perfides dirigées contre Hanslick. La plus navrante est évidemment l’antisémite, mais l’une des plus retorses des „insultes“ – pour reprendre cette démarche schopenhauerienne – consiste à qualifier Hanslick de „connaisseur de la dialectique de Hegel“.5 Où situer exactement le propos de Hanslick? Ce dernier est avant tout le plus grand critique du dix-neuvième siècle, soit la grande voix de la presse musicale durant toute la seconde moitié du dix-neuvième siècle. Du Beau dans la musique, publié en 1854, fut à proprement parler le premier ouvrage d’esthétique de la musique, et il n’est pas erroné d’en parler comme d’un bestseller de l’époque.6 Ce livre s’est vu en effet dix fois réédité du seul vivant de l’auteur. La figure de Hanslick n’est pas, dès lors, purement philosophique, mais relève d’un espace un peu trouble où des conceptions intellectuelles raffinées rencontrent ce qu’il faut bien appeler le grand public. Trop négligée à cause de cette situation, la rigueur théorique de Hanslick est cependant indéniable: sa formation universitaire est irréprochable, marquée par des études de philosophie quelque peu énigmatiques, et se voit couronnée d’une thèse le conduisant à devenir, historiquement, le premier professeur d’esthétique de la musique à l’université de Vienne. Le texte dans lequel il faudrait retrouver les références philosophiques de Hanslick serait évidemment ce travail d’habilitation, qui constitue sous une forme retravaillée son premier grand texte, Du Beau dans la musique. A la lecture précise et soupçonneuse du texte, justement, les interprétations instituées se voient remises en question. En effet, les références sont assez rares, et donnent parfois l’impression d’être „orientées“, sinon même imposées. La plus célèbre est la citation de l’Encyclopédie de Herbart, pourtant tardivement ajoutée pour une édition ultérieure du texte. Nous aimerions souligner que cette citation, justement, ne semble pas, premièrement, changer grand-chose au propos général, et, deuxièmement, n’était visiblement pas importante pour les premiers raisonnements à l’origine de l’œuvre. Il semble tout à fait compréhensible que Hanslick ait senti le besoin de l’ajouter face à la montée de la 4
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G. Payzant, Hanslick on the musically beautiful: sixteen lectures on the musical aesthetics of Eduard Hanslick. Christchurch 2002. R. Wagner, Aufklärungen über das Judentum in der Musik (1869). In: Gesammelte Schriften und Dichtungen. Bd 8. Leipzig 1873, 243. E. Hanslick, Vom Musikalisch-Schönen: ein Beitrag zur Revision der Ästhetik in der Tonkunst [1854]. Hg. von D. Strauss. Mainz, London, Paris 1990. (2 vol.)
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censure, du fait de la position de plus en plus exposée qui était la sienne. Robert Zimmermann, l’autre philosophe officiel de l’Empire austro-hongrois, écrivait dans son Histoire de l’esthétique: „partant d’une position philosophique fondamentalement opposée à celle d’Herbart, l’auteur parvient à une position parfaitement en accord avec la doctrine d’Herbart“.7 Une recension du même philosophe avait auparavant servi de „couverture“ à Hanslick.8 Zimmermann fut lui aussi attaqué, plus tard, car on lui reprochait d’avoir tenu contre Hegel un propos volontairement simplificateur et caricatural dans son article „Die Spekulative Ästhetik und die Kritik“.9
2. Difficultés d’interprétation Cela me conduit au problème principal que pose l’interprétation philosophique de Hanslick. Il convient de rappeler ce qui constitue, pour le dire musicalement, la dominante de l’interprétation du propos de Hanslick: nous devrions voir dans ses textes une réaction contre l’esthétique idéaliste, au nom d’une certaine forme d’empirisme. Autrement dit, Hanslick rétablirait les droits de l’expérience contre les perspectives esthétiques régies par une opposition entre l’idée et la nature, entre le concept et l’expérience. L’importance de la pensée anglo-saxonne semble effectivement indéniable pour tout le continent de pensée austro-hongrois.10 Mais je souhaiterais surtout insister sur le risque de l’enfermer dans un espace plus clos que nature – la pire censure, comme la meilleure éducation, étant toujours celle qu’on se donne soi-même. Ce risque est notamment encouru par le dernier grand travail sur Hanslick provenant de la sphère autrichienne, le texte stimulant mais contestable de Christoph Landerer.11 Cet ouvrage constitue un exemple de la thèse dite du „Deckmantel“, désignant une sorte d’habitude intellectuelle consistant à dissimuler sous des citations mises en évidence des références cachées plus profondes. 7 8
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R. Zimmermann, Geschichte der Ästhetik als philosophischer Wissenschaft. Wien 1858, 784. R. Zimmermann, „Zur Ästhetik der Tonkunst. Vom musikalisch-Schönen“ [Recension]. In: Österreichische Blätter für Literatur und Kunst. 49 (1854). 20.11.1854, 313-315. Texte repris (mais rendu souvent illisible par la reprographie) in: E. Hanslick, Vom Musikalisch-Schönen. Bd II, 130-136. R. Zimmermann, „Die spekulative Ästhetik und die Kritik“. In: Oesterreichische Blätter für Literatur und Kunst. Beilage zur Oesterreichisch-Kaiserlichen Wiener-Zeitung. Nr 6, 6 (1854), 37-40. J. Bouveresse voit dans la „sympathie pour la philosophie empiriste de langue anglaise“ la seconde grande caractéristique de la philosophie autrichienne. Cf. J. Bouveresse: Y a-t-il une philosophie autrichienne? Séminaire Histoire des sciences humaines en Europe Centrale de l’Université Paris III Sorbonne-Nouvelle et du programme ANR Formesth, le 21/05/2010. Hanslick aurait ainsi caché son adhésion aux thèses de Bolzano. Cf. C. Landerer, Eduard Hanslick und Bernard Bolzano: ästhetisches Denken in Österreich in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Sankt Augustin 2004.
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Tout le risque encouru par ce type d’exégèse philosophique est alors de définir quelque chose comme la philosophie autrichienne – répugnant elle-même à s’appeler comme telle, et composée d’auteurs eux-mêmes en conflit avec cette tradition – pour ensuite essayer de l’appliquer à un auteur particulier. Cet auteur devient alors à son tour un modèle de philosophie autrichienne, permettant de s’interroger à nouveau sur l’identité de ce „courant de pensée“. Si ce travail est indispensable, stimulant et vertigineux, il court le risque d’une certaine circularité. En effet, la détermination de ce que serait ce courant de philosophie suppose toujours des frontières fermement établies, qui devraient apparaître au bout d’un certain temps, comme des définitions de travail. Or, dans la mesure où l’on a déjà beaucoup écrit sur cette question de la philosophie autrichienne, il ne semble pas forcément sain de séparer à ce point les univers. Le temps a passé, et les définitions de travail risquent de devenir des frontières. L’un des problèmes que l’on rencontre est notamment la compréhension souvent floue du terme d’„idéalisme“. La philosophie autrichienne se dirige surtout, quand elle emploie le terme d’„idéalisme“, contre la révolution kantienne, c’est-à-dire contre l’idée d’une chose en soi. C’est avant tout en ce sens qu’il faut opposer réalisme et idéalisme. En somme, et c’est pourquoi je propose de retenir cet exemple, Kant peut encore être discuté directement, quand on semble contraint au silence ou au rejet simplificateur au sujet de Hegel. Ceci me conduit au second problème, qu’on pourrait aussi appeler une „deuxième intrusion de la politique dans l’œuvre de Hanslick“: il nous manque l’œuvre posthume, celle qui aurait porté son nom sans risques pour lui. La veuve de Hanslick a en effet caché le Nachlass de Hanslick, notamment devant la montée de l’antisémitisme, puis les descendants ont vraisemblablement voulu le préserver du nazisme. La conséquence semble être, pour ainsi dire, que ce Nachlass a été tellement bien caché qu’on ne l’a jamais retrouvé. Nous sommes alors privés des brouillons, des premières versions, de notes de lecture, d’éventuels textes dans lequel Hanslick exprimerait plus directement ses positions philosophiques et politiques. Sur cette question, il ne nous reste ainsi presque que des articles de journal écrits durant l’une des censures les plus vigilantes, grâce à Metternich et à la police de Sedlnitzky. Il est alors difficile de retrouver la philosophie autrichienne, quand son étude nous apprend justement que la discrétion fait partie de son projet philosophique lui-même.12 Ce qui me semble le plus intéressant pour nous ici, c’est que Hanslick avait bénéficié d’une formation philosophique importante, volontairement minimisée. Dans son autobiographie, assez fantaisiste, il choisit d’éclipser sa culture philosophique et historique. A vrai dire ceci correspond à l’un des traits fondamentaux du rapport à la musique de Hanslick: le savoir s’y trouve curieu12
L’œuvre publiée qui nous reste est heureusement colossale: nous possédons en effet, en plus des quelque mille cinq cents critiques de concerts, des feuilletons, des conférences, et une série de lettres inédites dont j’envisage de publier prochainement un choix.
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sement mis à l’écart. J’aimerais partir de ce point pour proposer une autre interprétation de Hanslick. Les deux grands problèmes méthodologiques que j’ai esquissés peuvent alors être ramenés à deux: 1) le phénomène historique de l’anti-hégélianisme; 2) le problème de la persistance de cette perspective dans les relectures de Hanslick. Hanslick serait en ce sens authentiquement autrichien à cause de son caractère herbartien et bolzanien, et anti-hégélien à cause du rôle qu’ont joué Herbart et Bolzano dans l’économie intellectuelle austro-hongroise. Si l’accès à une chaire d’enseignement en Autriche demandait bien qu’on se déclare herbartien et anti-hégélien, le doute quant à l’herbartisme de Hanslick semble pourtant permis à la lecture d’un autre article, plus tardif, de Zimmermann, affirmant que Hanslick n’est pas herbartien.13 De plus, la censure ne semble pas avoir exclu de tout temps toute référence à Hegel. Ainsi, Ignác Jan Hanuš devait être renvoyé en 1852 de l’Université de Prague pour avoir donné des cours sur la philosophie de Hegel. Hanuš fut interdit de cours, mais, grâce à d’importantes protestations, conserva un traitement et devint finalement directeur de la bibliothèque de l’Université de Prague.14 J’insiste sur ce point pour souligner que cette censure ne semble pas avoir été „absolue“. Ce qui semble trop peu noté quant à cet événement, est que la condamnation a surpris, et que Hanuš ne pensait pas faire un acte de provocation en tenant ces cours. Mais il convient évidemment de noter que la moindre référence à Hegel dans l’espace autrichien semble être un temps devenue porteuse d’un important enjeu politique. Hanuš a diffusé et fait connaître les volumes de l’Esthétique de Hegel.15 Il fut l’ami proche du père de Hanslick (Hanslik, selon l’orthographe originelle), qui tenait la bibliothèque de l’université de Prague. Or, Hanslick fils tenait sa formation philosophique moins de ses années de gymnase et d’université, que de la bibliothèque de son père, et des conversations menées avec lui.16 Enfin, il convient de mettre en regard l’ouvrage universitaire de Hanslick et ses textes de critique. Il s’agit, pour une fois, de donner ces textes aux mêmes lecteurs. La position du pur théoricien est en effet trop facilement séparée des textes où il parle de la réalité même de la musique.
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R. Zimmermann, „Abwehr“. In: Zeitschrift für exacte Philosophie. 4 (1864), 205. G. Payzant, Hanslick on the musically beautiful, 134. Hanuš écrit à Bratanek qu’il traite dans ses cours „trois fois par semaine de l’Esthétique de Hegel“ (dass er „wöchentlich 3 mal die Hegelsche Ästhetik behandle“). Cf. I. J. Hanuš: Lettre à F. T. Bratránek. 18/1/1844. Ms. Staatsarchiv Brünn. Citée dans: K. Vieweg, „Die Bestimmung des Menschen als Monismus der Freiheit. Zur Philosophie des böhmisch-deutschen Hegelianers Franz Thomas Bratránek (1815-1884) im Ausgang von einem unveröffentlichten Brief“. In: Hegel-Studien. 32 (1997), 50. E. Hanslick, Aus meinem Leben. Bd I. Berlin 1894, 6-8.
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3. Thématiques hégéliennes chez Hanslick Si l’on souligne l’attention aux réactions des spectateurs dans l’esthétique de Hegel, l’observation attentive de leur façon d’écouter la musique, fait partie de la tâche d’une esthétique philosophique. Les mœurs des peuples en matière d’art en viennent à faire partie de l’étude esthétique, de même que les manières de comprendre l’œuvre d’art, expressions de rapports entre l’individu et la collectivité. Hanslick accomplit de son côté de nombreux voyages à l’étranger, où il se livre à l’observation des peuples et de leurs rapports à l’art. Ces propos donnent une image toute différente de l’éloge absolu de la musique sur le modèle germanique que propose le texte „scientifique“ de Hanslick. Comme l’écrit Alain Patrick Olivier, „l’esthétique est le jeu de la communauté avec ses représentations“.17 Mais ce n’est pas seulement cette alternance entre une grande œuvre et des observations plus concrètes (ou abstraites) qui trace un profil esthétique qu’on peut rapprocher. Les traits les plus voisins de Hegel et Hanslick semblent leur réserve quant à Bach, vu comme résurrection d’un art religieux. En cela, d’un point de vue esthétique, nous nous trouvons face à deux auteurs qu’il faudrait dire modernes par leurs goûts.18 On sait désormais que Hegel voit dans Bach un art du passé. Si Hanslick ne connaît évidemment pas le texte de Hegel dans sa version inaltérée, la proximité de leurs positions se révèle d’autant plus étonnante que le texte de Hanslick est écrit en 1862, à une époque où la musique de Bach devait poser moins de difficultés. Hanslick parle de „monuments“ à propos des Passions de Bach, notamment à la fin de sa critique de la Passion selon Saint Matthieu. Il écrit, dans Aus meinem Leben, qu’il ne reste pas grand-chose de Bach si l’on n’a plus la religion avec soi.19 Hanslick comme Hegel, au reste, n’entretiendront jamais le rêve d’un „âge d’or“, conscients du caractère irréversible du temps, et avec lui, de l’imperfection inimitable du passé. Il faut se contenter de rendre hommage à ce mode expression artistique que nous reconnaissons, mais qui n’est plus le nôtre. On peut dire de la Missa Solemnis de Beethoven, selon Hanslick, que l’auteur est religieux partout et nulle part; Bach de son côté trop empreint de piétisme pour parler encore le langage d’aujourd’hui. 17
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A. P. Olivier, Hegel, la genèse de l’esthétique. Rennes 2009, 164. Nous respectons la riche idée de laisser la graphie du terme „esthétique“ indéterminée, entre la discipline, l’œuvre du même nom, et l’activité subjective devant être assumée par chaque sujet. On ne peut expliquer cette défiance à l’égard de toute nouvelle musique religieuse autrement que par le „joséphisme“ de Hanslick. L’un des actes notables de courant était la formation, selon les idéaux des Lumières et avant même que la Révolution Française ait eu lieu, d’une administration de langue allemande, et anticléricale. La fermeture de plus de six cents monastères et couvents, et l’orientation vers une laïcisation de la société en ont été deux gestes fondateurs. E. Hanslick, Aus meinem Leben, op. cit. Bd II, 306. L’idée que la reprise des œuvres de Bach soit un „anachronisme […] muséal“ est partagée par ces deux auteurs.
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Un autre trait semble important pour l’interrogation des relations entre art, religion et politique: les Passions de Bach et les différentes modalités de leurs reprises par F. Mendelssohn Bartholdy étaient avant tout une question directement politique, et ayant trait aux rapports entre l’œuvre d’art et la politique, puisque l’attitude d’écoute donne un aperçu des mœurs politiques d’un pays. C’est autrement dit une question nationale qui se met au jour avec cet argument. On donnait l’oratorio Paulus de Mendelssohn en réaction aux Huguenots de Meyerbeer, lesquels étaient censés incarner alors le mauvais goût nonallemand. Face à cela, l’idéal de Hegel est comme celui de Hanslick, plutôt international. Il semble opportun de se souvenir que l’art était devenu le „culte de l’humanité“ selon Hegel.20 Dès lors, il semble naturel d’observer chez les deux auteurs le rejet des opéras à sujets nationaux,21 le refus de toute façon d’incarner une position nationaliste dans l’attaque ou la défense d’une musique.22 Ce qui est vrai de leur distance avec Bach se retrouve également, comme nous l’esquissions, pour Beethoven. Cette fois encore, il est plus aisé de pardonner à Hegel d’avoir méconnu Beethoven que cela n’est compréhensible pour Hanslick. Hanslick nous livre en effet une vision au fond négative de ses derniers quatuors, „grandioses drames du pessimisme et de l’humour implacable“.23 Hanslick note en effet l’aspect épuisant de la musique de Beethoven, et cite notamment avec beaucoup de plaisir les commentaires du public après l’exécution (pour la première fois) de cinq sonates de Beethoven par Hans von Bülow: „magnifique, mais plus jamais cela“.24 Le risque encouru par les musiciens suivant cette voie serait en effet celui d’une musique comprise comme révélation. Selon Hegel, le langage seul dit l’absolu. L’erreur serait alors d’avoir négligé la différence entre ce qui est traversé par l’absolu et ce qui en donne la pleine compréhension. Toute connaissance au sens véritable est langagière. Il me semble bon d’insister sur cette question, dans la mesure où le traitement de cette question du langage chez Hanslick me semble sur-interprété sous les auspices d’une Exaktheit autrichienne. L’ennemi commun de Hegel et Hanslick se trouve alors être l’exégèse 20
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Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik. Hg. von H. G. Hotho. Bd I. Berlin 1835, 235: „In diesem Hinausgehen jedoch der Kunst über sich selber ist sie ebenso sehr ein Zurückgehen des Menschen in sich selbst, ein Hinabsteigen in seine eigene Brust, wodurch die Kunst [...] zu ihrem neuen Heiligen den Humanus macht“. A. P. Olivier, Hegel et la musique: de l’expérience esthétique à la spéculation philosophique. Paris 2003, 25. Le nationalisme, autrement dit, semble trop inconsistant pour devenir jamais un argument. E. Hanslick, „Neue Quintette von Brahms und Dvorak“ [Nouveaux quintettes de Brahms et Dvořák]. In: Die Moderne Oper. Bd VI: Aus dem Tagebuche eines Musikers, Kritiken und Schilderungen. 3e éd. Berlin 1892, 316-320. Je reprends ici partiellement la traduction de ce texte en annexe de ma thèse. Cf. J. Labia, Musique pure et parole: le problème de l’opéra dans la pensée allemande du dix-neuvième siècle (version de soutenance). Paris 2011, 628632. E. Hanslick, Aus dem Tagebuche eines Musikers (Der „Modernen Oper“ VI. Theil): Kritiken und Schilderungen. 3e éd. Berlin 1892, 244.
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romantique de Beethoven, qui verrait dans son œuvre une révélation „plus profonde que toute philosophie“, pour reprendre la formule qu’on lui a attribuée, constituant l’argument satistiquement le plus présent dans ces commentaires romantiques.25 Dès lors, il convient se souligner le privilège accordé au beau chez ces deux auteurs contre l’idée kantienne d’une esthétique du sublime. Ce paradoxe semble trop peu noté par les exégèses du texte de Hanslick voyant en lui un continuateur de la voie kantienne. La thèse esthétique qui sous-tend cette position est que, pour Hanslick comme pour Hegel, on ne compose pas avec des idées. Hanslick était en effet agacé par la même chose que F. T. Vischer, hégélien certes non orthodoxe: l’idée d’un musicien se prenant pour un esprit universel, Richard Wagner.26 La critique adressée par Hanslick au Tristan de Wagner est que, sans la prise en considération réfléchie de ce que Wagner veut faire, il est impossible de comprendre son œuvre.27 Cette musique prend tous les traits de la pensée, se constitue en imitation de la réflexion en musique; mais cette musique s’efforce tellement d’être conséquente qu’elle en oublie d’être libre. Commentant l’échec scénique du premier Ring donné à Bayreuth, Hanslick parle du cheval refusant de monter sur scène comme de la „rossinante“ de Wagner… Nous lisons alors la plus féroce dénonciation du donquichottisme de l’artistepenseur.28 Il se trouve chez Hegel comme chez Hanslick très peu d’éléments montrant une valorisation de la figure du génie musical, au contraire de ce qui s’observe dans de nombreux textes de ce temps. Bien au contraire, le génie est chez Hanslick une figure secondaire, comme chez Hegel, où il se trouve être simplement un individu chez qui l’esprit fait halte. Ceci nous conduit directement à la problématique de la naturalité. Une proximité assez étonnante se trouve en effet dans les considérations ayant trait à la nature. Pour tous deux, en effet, la musique est le produit d’un esprit humain, et ne sera jamais „naturelle“ ou „transcendante“. L’enjeu consiste alors surtout à distinguer le savoir ou la connaissance de la conscience. Rien 25
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B. von Arnim-Brentano, Goethes Briefwechsel mit einem Kinde. Erster Teil. Zweite Aufgabe. Berlin 1837, 193: „Dass Musik höhere Offenbarung ist als alle Weisheit und Philosophie“. Trad. A. Guerne. In: Romantiques allemands. Paris 2004, 710. (A. Guerne indique apparemment fautivement la date du 10 mai, quand la lettre est datée dans l’original allemand de „Vienne, le 28 mai“.) Nous savons, grâce au témoignage de Hanslick, que Vischer aurait rencontré Wagner en Suisse, alors que le musicien se trouvait en exil et que le philosophe enseignait à l’Ecole Polytechnique de Zürich. Cf. E. Hanslick, „Begegnungen mit Friedrich Theodor Vischer (1887)“. In: Musikalisches und literarisches (Der „Modernen Oper“ V. Theil): Kritiken und Schilderungen. 2e éd. Berlin 1889, 295. E. Hanslick, Musikalisches Skizzenbuch (Der „Modernen Oper“, IV. Theil): Neue Kritiken und Studien. Berlin 1884, 3-28. Les conférences Die Anfänge der Oper (30 et 31 mars 1858) iront plus loin dans ce sens. On les trouve in: E. Hanslick, Sämtliche Schriften. Bd I/4. Aufsätze und Rezensionen 1857-1858. Hg. von D. Strauß. Wien 2002, 271-282.
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n’est jamais directement beau dans la nature. La position de Hanslick est d’une rare fermeté sur ce point: la musique n’a aucun modèle dans la nature, et doit plus „aux entrailles du mouton qu’au chant du rossignol“. Il en va ainsi du chant du berger: „Le pâtre qui chante n’est pas objet dans l’art, mais bien sujet. Si sa chanson est composée de sons mesurables, ordonnés, si simples soient-ils, elle n’en est pas moins un produit de l’esprit, que ce soit le pâtre ou Beethoven qui l’ait inventée. Donc, quand un compositeur utilise des mélodies populaires, il n’a nullement recours au beau naturel“.29 „Le berger n’est pas plus la voix de la nature que le compositeur citadin“, et „le chant populaire n’existe pas par lui-même, il n’est pas le beau naturel, mais le premier degré de l’art“.30 En somme, tout objet artistique est déjà irrémédiablement culturel. La „naturalité“ relèvera alors du talent. Selon Hanslick, „le compositeur […] ne crée […] qu’en musique, soustrait à toute réalité objective.“31 L’idéal musical de Hegel correspond lui à celui de l’âme dépouillée, parvenue à sa pureté maximale. Il semble alors possible de relever que le terme de „formalisme“ est présent chez Hegel32 et correspond surtout au dernier moment de la disparition du contenu de l’art, soit au romantique ultime, à la dissolution de l’art dans l’humoristique. Est „formel“ en art, selon Hegel, ce qui ne fait pas corps avec la densité du réel.33 Les philosophies de la musique de Hegel et de Hanslick semblent pourtant renvoyer à deux réalités artistiques relativement distinctes. Ces deux réalités sont l’œuvre musicale purement instrumentale, dans un cas, le bel canto, dans l’autre. Hanslick et Hegel reprennent tous les deux l’expression (plutôt que l’idée) de „musique pure“ en l’ôtant du contexte où elle trouvait sens chez Thibaut, à savoir la Renaissance et le Moyen-Âge. Mais ils l’entendent de deux manières dont l’application à la réalité diffère, mais non le sens. Tous deux comprennent en effet la pureté comme liberté, comme libération de l’objet. La liberté possède alors chez Hanslick les traits loués par Hegel dans le bel canto. Elle nous donne à entendre une âme naturelle s’exprimant d’une façon qui nous révèle son égalité à elle-même. Mais il faut évidemment se méfier du terme d’expression puisque le texte n’est pas l’objet principal, et ce qui fascine un rapport de soi à soi, non un message dirigé vers un récepteur. L’idéal de la musique pure est alors selon Hanslick „l’expression de sentiments plus sains et
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E. Hanslick, Du Beau dans la musique [Vom Musikalisch-Schönen]. Trad. C. Bannelier. Paris 1986, 154. Il s’agit de démontrer l’inexistence de la beauté naturelle en musique. Ibid., 154-155. Ibid., 166. Cf. Hegel: Esthétique: cahier de notes inédit de Victor Cousin. Éd. A. P. Olivier. Paris 2005, 97. Cf. G. Marmasse, Penser le réel: Hegel, la nature et l’esprit. Paris 2008, 84: „L’œuvre d’art est formelle au sens où elle n’investit pas l’épaisseur du réel.“
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relativement plus simples“,34 „l’organisation d’une riche vie spirituelle […] sans présomption ni surexcitation“. Mais il est intéressant d’aller au-delà de cette distinction des objets et de considérer certains des textes les plus embarrassants de Hanslick; ce sont ceux qu’il consacre à la cantatrice Adelina Patti. Dans ce phénomène esthétique, Hanslick loue le plaisir du chant devenu presque indépendant de la composition de la musique.35 Il avoue que nous allons au concert pour écouter les grandes chanteuses, pas les œuvres. De la Patti, il faut alors dire qu’elle serait „la seule chanteuse contemporaine qui maîtrise encore les traditions du style rossinien“.36 Hanslick parle alors même de „génie musical“ pour ce type d’interprète. La cantatrice se révèle capable de débarrasser de toute trivialité des morceaux de bravoure, pour leur donner, selon les mots même de Hanslick, une reine Schönheit.37 Hanslick rapproche alors la voix de l’instrument, rappelant qu’on lui a fait l’éloge de l’appeler la „Paganini de la virtuosité vocale“,38 et que les notes graves de sa voix rappellent les sons d’un violon de Crémone.39 Le plus intéressant et embarrassant chez Hanslick est alors un passage sur la virtuosité. Celle-ci peut en effet constituer une forme de „langage sans entraves [dans lequel] l’expression du morceau exécuté se transmet par la libre action du virtuose, à l’auditeur“.40 Ce qui nous frappe le plus ici est la ressemblance avec le célèbre – et tout aussi surprenant à vrai dire – passage de Hegel sur la virtuosité, probablement consécutif à la venue en terres germaniques de Paganini.41 Les propos présentent non seulement une proximité factuelle, mais 34
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E. Hanslick, Neue Quintette von Brahms und Dvorak. [Nouveaux quintettes de Brahms et Dvořák], 316. Trad. cit., 630. Il faut entendre dans einfach ici le caractère élémentaire de ce qui est pur, épuré. On l’entend ainsi des couleurs primaires (einfache Farben) ou des corps simples (einfache Körper). L’expressivité de la musique pure ne peut s’étendre au-delà. Cette musique au sens de l’épure présente le contenu réduit – et seul possible en réalité selon Hanslick – de toute musique. E. Hanslick, Musikalische Stationen (Der „Modernen Oper“ II. Theil). Berlin 1880, 31. Ibid., 27. – Hanslick ne semble pas aussi éloigné qu’on pourrait le penser de l’idée de G. Rossini comme meilleur compositeur d’opéra. La longue critique qu’il consacre à l’opéra Die Meistersinger von Nürnberg de R. Wagner (dont le comique lui échappe) se termine en reproduisant la remarque de H. Laube, assis à côté de lui: „Léger Rossini, sois béni!“ Légèreté et liberté caractérisent le style comique rossinien. Rossini reste ainsi inégalé en certains domaines de l’art lyrique. Ibid., 36. Ibid., 28. Ibid., 32. E. Hanslick: Du Beau dans la musique. Trad. citée, 121. Nous renvoyons à ce diagnostic livré par A. P. Olivier après étude des manuscrits de Hegel et des sources des cours édités par Hotho: „La singularité de la figure de Paganini rend hautement vraisemblable un changement d’orientation dans la pensée de Hegel.[...] Comme le violoniste inaugure une ère nouvelle dans le domaine de la virtuosité instrumentale, il est juste que l’appréciation esthétique de Hegel change de ton après cette expérience“ (Hegel et la musique, 80-81). En somme, ce qui se trouve dans le texte de Hanslick était tout nouveau du temps de Hegel. C’est la marque de l’évolution de cette tendance qui fait toute la différence entre la condamnation de la virtuosité instrumentale (antérieure à l’apparition de la virtuosité
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encore un rôle étrangement similaire dans l’économie du discours. Il s’agit en effet dans les deux cas de rendre compte de l’apparition et de la transformation de la figure musicale du virtuose. Hanslick note ainsi que „les morceaux exécutés par la boîte à musique la plus artistement faite n’exciteront jamais la moindre émotion“; le plus modeste musicien, au contraire, peut y arriver, s’il met réellement de l’âme dans son jeu.42 Que penser alors du modèle souverain de l’écriture musicale? L’écriture de la musique procède chez nos deux auteurs de l’apparition d’un thème, ensuite sujet au travail de l’imagination du compositeur, qui s’effectue „en liberté“. On a souvent fait à Hegel le reproche de ne pas avoir compris qu’un développement musical est une chose nécessaire, au contraire de ce qu’on trouverait chez ses adeptes, comme Hanslick. Or, selon Hanslick, à ce qu’il nous semble, l’écoute musicale consiste à „suivre les choix du compositeur“. S’il n’y a pas de „nécessité“ du développement musical belcantiste, il n’y en a pas non plus, si l’on lit bien Hanslick, dans le cas du purement musical. D’une part, la liberté du compositeur doit nous surprendre; il ne saurait donc y avoir de „déduction“ de la musique. Mais, d’autre part, le développement proposé n’apparaît pas au compositeur comme nécessaire, mais se crée par une articulation entre le travail de l’imagination et ce que le matériau thématique impose. C’est seulement ainsi que l’écoute musicale peut consister, selon Hanslick, à „suivre les choix du compositeur. “ Dès lors, il n’y aura pas de nécessité au sens attendu. Toute composition propose des bifurcations, des choix exclusifs qui sont expression de la personnalité musicale de celui qui compose.43 De plus, Hanslick ne précise pas en quoi consiste ce suivi des choix par l’auditeur. Il faut en déduire selon nous que ce principe d’écoute musicale vaut pour tous les types de musique – par exemple pour celle que nous propose la Patti, justifiant qu’on parle de „génie“ –, et non uniquement pour celle issue d’un classicisme rigoureux. Ceci nous conduit directement à la question des rapports de la musique et du savoir. Hegel, qu’on sait maintenant plus Verständiger qu’on le disait souvent et qu’il ne l’avouait, n’a que peu montré ses connaissances en matière de théorie de la musique. Paradoxalement, Hanslick non plus. Si ses articles sont absolument remarquables et exemplaires, ils restent paradoxalement pauvres en détails et en érudition. Ce silence semble relever d’un choix plutôt que d’un
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expressive et transcendantale de Paganini) dans le cours d’Esthétique, jusqu’au paragraphe surprenant qui termine le chapitre sur la musique, le 19 mars 1829, et sa condamnation par Hanslick, qui a pu observer les défauts de cette virtuosité instrumentale d’une nouvelle espèce. De l’enthousiasme généré par l’ouverture d’une nouvelle ère pour la musique, nous passons avec Hanslick à la réserve suscitée par ses excès. E. Hanslick, Du Beau dans la musique. Trad. citée, 120. Je remercie B. Bourgeois pour ses remarques éclairantes au sujet de la liberté chez Hegel.
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excès de modestie. Sans doute faudrait-il se souvenir ici du portrait du connaisseur qu’on trouve dans le cours d’Esthétique.44 A vrai dire, le choix même d’élire Hanslick comme premier professeur d’esthétique musicale à Vienne plutôt qu’August Wilhelm Ambros semble déjà indiquer une vérité concernant la musique au dix-neuvième siècle; Ambros était en effet un érudit d’une tout autre dimension qu’Hanslick.45 C’est sans doute derrière ces choix un idéal qu’il faut retrouver. Il s’agirait de celui d’une expérience musicale fondamentalement simple, dont la clé serait toujours la liberté, cette liberté qui s’accommode mal de détails et d’érudition. Au risque de sembler provocateur, un certain degré d’amateurisme en matière de musicographie semble indispensable, au moins au dixneuvième siècle. Il s’agit d’expliquer la beauté d’une œuvre à qui ne comprend pas la forme-sonate ou la subtilité des modulations; bref, l’auteur doit savoir être à sa manière un profane parmi les profanes. Le silence des compétences techniques semble ainsi relever d’une conviction quant à l’essence de la musique, qui au fond s’éprouve et se partage bien plus qu’elle ne s’explique. Il faut ainsi se garder, et c’est l’un des acquis de cette étude comparative, de la loupe déformante due à la domination intellectuelle du paradigme de la musique pure. Celui-ci accentue notre lecture d’un dix-neuvième siècle musical comme siècle de la musique pure, et en retour, notre impression que l’esthétique de Hegel, en l’ayant méconnu, aurait manqué l’essentiel.46
4. La philosophie de l’expérience L’esthétique musicale de Hegel est une „réflexion constituée par l’expérience et par la réflexion sur l’expérience“.47 Dans le parcours de Hegel, les expériences sont capables de faire progresser la théorie; comme l’a montré Olivier, Hegel ne résout ainsi qu’en 1829 la contraction entre musique indépendante et musique d’accompagnement.48 Chez Hanslick, au contraire, il ne semble pas qu’une expérience soit à l’origine de la théorie. Mais surtout, l’expérience est 44
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Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik. Bd I, 44; Bd 3, 139; Esthétique: cahier de notes de Victor Cousin, 44: „On ne voulait plus sentir immédiatement les ouvrages de l’art; mais on voulait juger de la chose et de ses différents points de vue. Le connaisseur a remplacé l’homme de goût. Le connaisseur s’étend sur l’historique, l’extérieur, la technique de l’œuvre d’art.“ Nous retrouvons ici également ce geste hégélien, la connaissance profonde de choses impliquant justement la disparition de leur belle apparence. Nous ne sommes guère loin de ce qu’il faudrait appeler le moment de misologie de Hegel. Nous nous permettons de renvoyer ici à notre thèse de doctorat citée: J. Labia, Musique pure et parole: le problème de l’opéra dans la pensée allemande au dix-neuvième siècle. Sous la dir. de J. Lichtenstein. Université Paris-Sorbonne. Paris. 28/11/2011. Hegel, Das Musikkapitel aus der Vorlesung über Philosophie der Kunst vom 1826. Hrsg. von A. Olivier. In: Hegel-Studien. 33 (1998), 41. A. P. Olivier, Hegel et la musique, 200; voir aussi l’introduction, 22.
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incapable de la faire évoluer. Il n’y pas à proprement parler de „rencontre“ esthétique. La modalité de son discours est en effet infiniment plus calme et apaisée. Même la rencontre réelle de l’œuvre se fait dans ce qui reste une certaine forme de repos. L’idée avancée, dans Vom Musikalisch-Schönen, selon laquelle l’harmonie pourrait évoluer, est souvent soulignée comme un trait du caractère non définitif de l’esthétique de Hanslick. Elle est certes remarquable, mais l’argument ne correspond pas tout à fait à ce qu’on lui fait dire: la validité de la théorie de Hanslick ne change en rien avec l’évolution de l’harmonie, puisque celle-ci ne fait pas partie de ses objets théoriques à proprement parler… Dès lors, son idéal de la musique, défini a priori dans un premier ouvrage majeur, reste valide malgré l’évolution de cet élément, justement présenté comme le seul pouvant être sujet à un changement. Autrement dit, la théorie de Hanslick, fixée dans son ouvrage principal, ne s’offre plus à l’évolution. Hanslick n’a visiblement pas souhaité réconcilier la totalité de son propos dans un dernier ouvrage théorique, certes un temps annoncé, mais sans doute sans avoir été un véritable projet de l’auteur. Nous faisons ainsi face à un double paradoxe. Tout d’abord, le philosophe de l’expérience n’est pas celui qu’on attend. Et d’autre part, les acquis du „réalisme rigoureux“ (selon la devise d’Herbart) passés chez Hanslick ne semblent pas tellement moins spéculatifs ou idéalistes que l’idée qu’ils avaient ou auraient érigée en contre-modèle. La tâche spéculative et l’expérience spéculative frappent chez Hegel par leur lien intime, sinon leur entrelacement, a fortiori lorsqu’il est question de la musique, qu’il aime particulièrement. L’esthétique de la musique de Hanslick, au contraire, s’attache à distinguer clairement expérience esthétique-critique, et philosophie ou métaphysique de la musique – cette dernière se trouvant dans son unique traité, resté dûment séparé des textes de critique particuliers. Aucun des textes de critique de Hanslick – quelle que soit leur qualité – ne se permet de proposer le moindre lien avec les analyses théoriques développées dans Du Beau dans la musique. Et ce dernier texte, en retour, ne se risque jamais à proposer une analyse concrète de ce que serait une œuvre parfaitement belle. Il en reste en somme, sur bien des points, à une ontologie négative de la musique. Dès lors, la théorie prenant le risque du réel n’est pas forcément celle que l’on croit.
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II. RELIGION / POLITIK / KUNST
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JEAN-FRANÇOIS KERVEGAN
Die „politische Theologie“ Hegels Die Religion ist der Ort, wo ein Volk sich die Definition dessen gibt, was es für das Wahre hält.1 Das Volk, das einen schlechten Begriff von Gott hat, hat auch einen schlechten Staat.2
Der von Carl Schmitt – welcher ihn nach Erik Peterson „eingeführt hat“3 – verbreitete Begriff der „politischen Theologie“ ist äquivok. Schmitt selbst stellt fest, dass er „zwei verschiedene Seiten, eine theologische und eine politische“ hat, deren jede sich „an ihren spezifischen Begriffen“ orientiert.4 Er ist auch, bemerkt Jan Assmann, „ein deskriptiver“ und „ein politischer Begriff“, indem er zur „Beschreibung“ sowie zur „Betreibung“ nützen kann.5 Man kann auch mit Ernst Wolfgang Böckenförde zwischen „juridischer“, „appelativer“ und „institutioneller“ politischer Theologie unterscheiden.6 Trotz ihrer Polysemie sind diese Benennungen als Indiz eines Problems wertvoll; dieses Problem ist das sogenannte „politisch-theologische Problem“ selbst, und zwar, so Jan Assmann, das Problem des Verhältnisses von Herrschaft und Heil, eines Verhältnisses, das die berühmte Wendung von Paulus nisi est potestas sine a Deo (wie auch immer man sie versteht!) veranschaulicht. Es handelt sich um ein riesiges Problem, das (dies gegen Carl Schmitt gesagt) überhaupt nicht die einzige Beziehung von Religion und Politik im Rahmen der christlichen Offenbarung betrifft, welche in der augustinischen Lehre der beiden Reiche ihren klassischen Ausdruck gefunden hat. In dem Werk eines Ägyptologen und Religionshistoriker wie Assmann wird sogar die „politische Theologie“ als „Instrument vergleichender Kultur- und Religionsanalysen“ benutzt;7 dieses Instrument wird von ihm mit großer Inventivität und Relevanz zur Erforschung der ältesten Kulturen verwendet. Der Begriff hat jedoch eine beschränktere
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Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. Theorie Werkausgabe in zwanzig Bänden [TWA]. Hrsg. von K.M. Michel und E. Moldenhauer. Frankfurt 1969-1971, 12, 70. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion. W. Jaeschke (Hrsg.), Der Begriff der Religion. Bd 1. Hamburg 1993, 241. E. Peterson, „Der Monotheismus als politisches Problem“. In: Theologische Traktate. München 1951, 147. C. Schmitt, Politische Theologie II. Die Legende von der Erledigung jeder politischen Theologie. Berlin 1970, 51. J. Assman, Politische Theologie zwischen Ägypten und Israel. München 1992, 24, 28. E.-W. Böckenförde, „Politische Theorie und politische Theologie“. In: J. Taubes (Hrsg.), Religionstheorie und politische Theologie. Bd 1: Der Fürst dieser Welt, München 1985, 19-20. J. Assman, Politische Theologie zwischen Ägypten und Israel, 127.
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Bedeutung, die eigentlich die chronologisch erste war. Diese engere Bedeutung wird im Folgenden privilegiert. Der Begriff „politische Theologie“ taucht in der dreifachen Klassifizierung der Theologie auf, die anscheinend vom Pontifex Scaevola erfunden und von Varro, einem stoischen Schriftsteller der Zeit Cäsars, in einer von Augustin kommentierten Stelle seiner Antiquitates überliefert wurde: die theologia, so Varro, teilt sich in fabularis (aufs Griechische mythikè), naturalis (physikè) und civilis (politikè)8. Die mythische Theologie, erläutert Varro, ist diejenige der Dichter; die natürliche Theologie ist die der Philosophen; und die politische Theologie ist die Theologie der Völker. Obzwar sie „eine für alle Bürger, insbesondere für die Hohepriester hochnützliche ist“, gefällt solche römischheidnische politische Theologie dem Heiligen Augustin nicht so sehr; „kann es nicht passieren, erwidert er, dass die von falschen Meinungen verirrte civitas Glauben bekennt, deren Gegenstand weder in der Welt, noch außer ihr besteht?“ An den Altären politischer Götter gefesselt sieht Varro der Heide nicht, dass „die von der politischen Theologie verehrten Götter nicht imstande sind, ihren Gläubigern das ewige Leben zu verschaffen“,9 was übrigens ihn überhaupt nicht sorgt. Die politische Theologie ist also „ein Irrtum“, indem sie Götter „menschlicher Herkunft“ verehrt.10 Politische Theologie und Theologie reden, kurz gesagt, weder über denselben Gegenstand noch machen sie es in ähnlicher Weise, genauso wie die Zivil- und die natürliche Religion bei Rousseau. In der Tat entspricht die theologia civilis Varros im Großen und Ganzen dem, was Rousseau „religion civile“ benennt. Was ist das, Zivilreligion? Man kann sich eine Vorstellung davon verschaffen, wenn man ihr Gegenteil, also die natürliche Religion untersucht, die nach Varro die Religion der Philosophen ist, und worüber Rousseau schreibt, das es „merkwürdig ist, dass es eine andere geben soll, indem sie die Elemente jeder Religion enthält“.11 Eine Zivilreligion erwähnen, bedeutet also, sich fragen, ob es neben oder anstatt der natürlichen Religion, dieser „Religion des Herzes“, und den institutionellen Religionen einen zivilen Kult geben kann, der imstande wäre, die Gesinnung des Mitseins zu verstärken, ohne die eine politische Gemeinschaft nicht dauerhaft bestehen vermag. Die Zivilreligion ist also nach Rousseau eine staatsbürgerliche, möglicherweise eine konfessionslose „Religion“, deren „rein bürgerliches Glaubensbekenntnis“ „alles auf die politische Einheit zurückführt“.12 Das Problem des Bestehens, gelegentlich der Notwen8
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Siehe Augustin, Der Gottesstaat. Aus dem Lateinischen übertragen von Wilhelm Timme. Eingeleitet und kommentiert von Carl Andresen. Vollständige Ausgabe. München 2003. VI/5. Augustin, Der Gottesstaat, VI/12; siehe auch VII/1. Augustin, Der Gottesstaat, VI/6. Rousseau, Emile ou de l’éducation. Hrsg. v. A. Charrak. Buch IV. Paris 2009, 426, 428; Œuvres Complètes, Bd IV, Paris 1969, 607, 609. Rousseau, Du Contrat social. Hrsg. v. B. Bernardi. Paris 2001. Buch IV, Kap. 8, 178 et 173 [dt. Gesellschaftsvertrag, Stuttgart 1977, 151, 145].
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DIE „POLITISCHE THEOLOGIE“ HEGELS
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digkeit solcher Religion ist in denjenigen Gesellschaften besonders akut, die den „Polytheismus der Werte“ bekennen, also in solchen Gesellschaften, in denen der religiöse Dissens die Möglichkeit des in der Gesinnung des Mitseins verkörperten alltäglichen Sozialvertrags gefährdet, und in denen jener Dissens die Bildung einer Reihe von geteilten Wahrheiten, also die Bildung eines „elementarischen Katechismus“,13 so Hegel, wünschenswert macht, insofern diese „Religion“ imstande wäre, dem sozialen Körper die Einheit zu verleihen, welche ein geteilter Glaube nicht mehr schaffen kann. Heutzutage scheint es sich von selbst verstehen, dass die Menschenrechte, seien sie in einer offiziellen Erklärung niederlegt oder nicht, die besten Kandidaten für jene Rolle sind. Genau das wollte Hegel betonen, als er die Erklärung der Menschenrechte einen elementarischen Katechismus nannte.
Religion des Menschen und Religion des Staatsbürgers bei Rousseau Was ist bei Rousseau die Zivilreligion? Wie bekannt behandelt er dieses Thema im letzten Kapitel des Contrat social; im Genfer Manuskript (also im handschriftlichen Entwurf des Werkes) steht die entsprechende Stelle auf dem Rücken des Kapitels über den Gesetzgeber, wovon er, so der Herausgeber Derathé, die „natürliche Ergänzung“14 ausmacht. In der Tat verweist die Frage nach dem ersten Gesetzgebers (also die des „Ursprungs“ der Gesetze) auf das Problem des Verhältnisses von Religion und Politik. Die Aufgabe des ersten Gesetzgebers (d.h. der ursprünglichen verfassungsgebenden Gewalt) ist nämlich insofern aporetisch, als es „nötig [wäre], dass die Wirkung zur Ursache werde“.15 In der Tat kann sie nur unter der Voraussetzung abgeschlossen werden, dass das vom Gesetzgeber angezielte Werk, eine stabile rechtliche und politische Ordnung zu schaffen, innerhalb deren rationale Entscheidungen getroffen werden können, schon vollendet ist. Das ist aber, schreibt Rousseau, „ein die menschliche Kraft übersteigendes Unterfangen“, welches durch „eine nichtige Autorität“ vollzogen werden soll.16 Dann fügt er folgendes hinzu: „Das ist es, was die Väter der Nationen zu jeder Zeit zwang, ihre Zuflucht zum Himmel als Mittler zu nehmen und mit ihrer eigenen Weisheit die Götter zu schmücken.“17 Dies führt direkt zum Problem der Zivilreligion oder der politischen Theologie. Obgleich es zwar nicht stimmt, dass „Politik und Religion bei uns ein
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Hegel, [Beurteilung der] Verhandlungen in der Versammlung der Landstände des Königreichs Württemberg im Jahr 1815 und 1816. TWA 4, 491 Rousseau, Œuvres Complètes, Bd III, Paris 1969, FN 1, 460. Rousseau, Du contrat social. Buch II, Kapitel 7, 82 [dt. 46]. Rousseau, Du contrat social. Buch II/7, 81 [dt. 45]. Rousseau, Du contrat social. Buch II/7, 82 [dt. 46].
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gemeinsames Ziel hätten“,18 stimmt es doch, dass „sobald die Einzelnen innerhalb einer Gesellschaft leben, brauchen sie eine Religion, die sie darin hält“.19 Im Contrat social gründet sich das Vorhaben des Zivilreligionskapitels auf die Entgegensetzung von Mensch und Bürger, welche die berühmte Formulierung aus dem Emile aufhellt: „einen Mensch oder einen Bürger auszubilden, darunter muss man wählen; denn man kann nicht beides auf einmal schaffen“.20 Sehr bekannt ist die daraus abgeleitete Folgerung: „Derjenige, der in der zivilen Ordnung den Vorrang der natürlichen Gefühle behalten will, weiß nicht, was er will. Sich selbst ständig widersprechend, unter seinen Neigungen und seinen Pflichten kontinuierlich zögernd, wird er weder Mensch, noch Staatsbürger sein. […] Er wird so ein heutiger Mensch sein, ein Franzose, ein Engländer, ein bourgeois; er wird nichts sein.“21 Heben wir en passant die Einführung eines dritten Ausdrucks hervor, der bei Kant und Hegel eine machtvolle Rezeption bekommt, und zwar der des bourgeois. Hier wird er nur negativ verstanden: der bourgeois ist derjenige, der kein Mensch mehr ist (indem für ihn die Stimme der Natur unverständlich oder stumm geworden ist), der aber kein echter Bürger geworden ist (weil die politische Institution ihre wahre Grundlage noch nicht gefunden hat). Auf den Bereich der Religion angewendet führt die Unterscheidung zwischen Mensch und Bürger zur Unterscheidung zwischen der „Religion des Menschen“, welche „ohne Tempel, Altäre und Riten, beschränkt auf den rein inneren Kult des obersten Gottes und die ewigen Pflichten der Moral“ ist, und die Religion des Bürgers, welche „in nur einem Land zugelassen, ihm seine Götter, seine eigenen Schutzherren“ gibt, und „ihre Dogmen, Riten, ihren äußeren, gesetzlich vorgeschriebenen Kult“ hat;22 letztere ist selbstverständlich die staatsbürgerliche oder Zivilreligion. Die erstere, die im „Glaubensbekenntnis des Vikars aus Savoyen“ ausführlich dargestellte Religion des Menschen, ist „der wahre Theismus“; sie entspricht genau dem, was Kant die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft benennt. Diese rein innere moralische Religion ist gegen das Gesellschaftsleben stark orientiert, da ihre Zwecke nicht unter denen sind, die durch die Mittel und im Rahmen des Staates realisierbar sind: „ich kenne nichts, was dem gesellschaftlichen Geist mehr entgegenstünde“,23 als das echte Christentum, welches übrigens mit dem institutionellen Christentum nichts zu tun hat, hauptsächlich aber mit dem Katholizismus, der weder Religion des Menschen, noch Religion des Bürgers, sondern eine „Priesterreligion“ ist.24 Es ist bekannt: „das Vaterland des Christen 18 19
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Rousseau, Du contrat social. Buch II/7, 83 [dt. 47]. Rousseau, Du contrat social. Manuscrit de Genève, Œuvres Complètes, Bd III, Paris 1964, 336. Rousseau, Emile ou de l’éducation. I, 48. Rousseau, Emile ou de l’éducation. I, 49-50. Rousseau, Du contrat social. Buch IV/8, 173 [dt. 145-146]. Rousseau, Du contrat social. Buch IV/8, 175 [dt. 147]. Rousseau, Du contrat social. Buch IV/8, 174 [dt. 146].
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ist nicht von dieser Welt“,25 einer Welt, worin er, so Augustin, nur ein pelegrinans, ein Wanderer ist. Ihrerseits fällt selbstverständlich die „Religion des Bürgers“ mit der Zivilreligion oder mit der politischen Theologie im Sinne Varros zusammen: es handelt sich um die hochpolitische Religion eines Staates, der, wie Rom oder die griechischen Poleis, „zwischen seinen Göttern und seinen Gesetzen [nicht] untersch[eidet]“.26 Ein über die „wahren Prinzipien des Staatsrechts“ begründeter Staat, also der Staat des Contrat social sollte sich „ein rein bürgerliches Glaubensbekenntnis [geben], dessen Artikel festzusetzen dem Souverän zukommt, nicht regelrecht als Dogmen einer Religion, sondern als Gesinnung der Soziabilität, ohne die es unmöglich ist, ein guter Bürger und ein treuer Untertan zu sein“.27 Die Tatsache, dass solche staatsbürgerliche Religion in der modernen Welt unmöglich geworden ist – dass „es [eine ausschließende nationale Religion] nicht mehr [gibt] noch geben kann“28 –, diese Tatsache reicht aus, um den Abstand festzustellen, der zwischen der idealen, nach den Prinzipien des Staatsrechts konzipierten Norm und der Wirklichkeit besteht. In dem unwahrscheinlichen Fall, wo die Gründung einer Zivilreligion wiederum möglich wäre, wäre diese Religion bis auf ein Minimum reduziert: sie würde „reine Polizeisache“ sein.29 Merkwürdig ist, dass anlässlich ihres Streits über die politische Theologie weder Erik Peterson in seinem Monotheismusbuch, noch Carl Schmitt in der Politischen Theologie II an Rousseau anzuknüpfen. In der Tat betrifft ihre Kontroverse die Rousseausche Untersuchung der Gründe, warum eine Zivilreligion nicht wirklich aktuell ist, ohne dass die Religion des Herzens die Religion Aller werde, direkt. Wie Peterson, aber wegen anderer Gründe als er, ist Rousseau der Meinung, dass das Christentum die Zivilreligion hinfällig gemacht hat; nicht deshalb, weil das Trinitätsdogma kein mögliches Äquivalent im weltlichen Bereich der Politik hat (dies ist die These Petersons, nach welcher das Nizäische Dogma die „theologische Unmöglichkeit jeder ‘politischen Theologie’“ impliziert), sondern schon wegen der Grundlehre Christi: „mein Reich ist nicht in dieser Welt“. Die Tatsache, dass die Christen sich als Glieder eines „geistigen Königreichs“ (also der civitas Dei, mit all dem, was in ihr die civitas humana transzendiert) verstehen, diese Tatsache hat „in den christlichen Staaten jede gute Staatsordnung unmöglich gemacht“;30 übrigens ist die Wendung „christlicher Staat“ ein Missbrauch, indem „eine Gesellschaft von wahren Christen keine Gesellschaft von Menschen mehr wäre“.31 Weil es die Spannung zwischen dem „Individuum in der Welt“ und dem „Individuum au25 26 27 28 29 30 31
Rousseau, Du contrat social. Buch IV/8, 175 [dt. 148]. Rousseau, Du contrat social. Buch IV/8, 169 [dt. 141]. Rousseau, Du contrat social. Buch IV/8, 178 [dt. 151]. Rousseau, Du contrat social. Buch IV/8, 179 [dt. 152]. Rousseau, Emile ou de l’éducation. IV, 382ff. Rousseau, Du contrat social. Buch IV/8, 171-172 [dt. 143]. Rousseau, Du contrat social. Buch IV/8, 175 [dt. 147].
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ßer der Welt“ (so der Anthropologe Louis Dumont)32 extrem macht, hat in der Tat das Christentum trotz der Meinung Carl Schmitts die politische Theologie im Sinne der Zivilreligion „erledigt“. Von der Religion des Menschen oder des Gewissens bleibt nur eine ganz kleine Spur übrig, indem die Gesellschaft die Stimme der Natur in uns stumm gemacht hat; und von der Zivilreligion verbleibt nur die Karikatur übrig, die eine institutionelle Staatsreligion im Dienst der Prinzen und der Mächtigen ausmacht. Das Christentum hat die politische Theologie unmöglich gemacht; indessen hat es die Gesellschaft ihrer festesten Grundlage beraubt. Hobbes hat das richtig verstanden, denn er versucht, „alles auf die politische Einheit zurückzuführen“, indem er den Vorschlag macht, „die beiden Köpfe des Adlers wieder zu vereinigen“; er hat sehen müssen, fährt Rousseau fort, „dass die Herrschaft des Christentums mit seinem System unvereinbar war“.33 Der Kontraktualismus, dem letzten Endes Rousseau selbst beitritt, ist die Wirkung jener Zerstreuung des politischen Bandes, von dem die Zivilreligion des Altertums ein Zeugnis lieferte. Es stimmt zwar, dass die Briefe aus dem Berge den Versuch machen, die im Contrat social gezogene Grenze zwischen Zivilreligion, Religion des Menschen und etablierten Kirchen zu überbrücken, indem er „weit entfernt davon, die wahren Prinzipien der Religion zu bekämpfen“, „diese Prinzipien … mit … voller Energie befestigt“, indem er sie von dem „blinden Fanatismus“, von dem „grausamen Aberglaube“ und von dem „blöden Vorurteil“ unterscheidet.34 Darüber hinaus versucht Rousseau, eine Brücke zwischen natürlicher und Zivilreligion zu bauen, indem er innerhalb der ersteren zwei Teile unterscheidet, und zwar Dogma und Moral, und, was die letztere angeht, behauptet, dass es „der Regierung zukommt, darüber zu beurteilen“,35 was die Frage nach der Zivilreligion wieder aktuell macht. Um dieses Argument zu verstärken, schlägt er aber eine wenig überzeugende Deutung des Kapitels über Zivilreligion vor: sein Vorhaben wäre gewesen, die prinzipielle Solidarität des idealen Christentums, als einer „universellen sozialen Institution“, und einer „rein zivilen“ Religion zu behaupten, welche letztere „die für die Gesellschaft wirklich nützlichen Dogmen“ feststellt und „alle andere, die für den Glaube wichtig sein können [wie z.B. das Trinitätsdogma], aber keineswegs für das irdische Gute“, übersehen soll.36 Dennoch vermag er nicht, die von ihm selbst gezogene Grenze zwischen „Heilswissenschaft und Regierungswissenschaft“37 zu löschen, also den Graben zwischen „nationalen Institutionen“ und christlicher Religion zuzuschütten. In der Tat, sobald das Ziel der Religion das Heil der persönlichen Seele ist, sobald sie sich nach einer anderen polis als der der
32 33 34 35 36 37
Siehe L. Dumont, Essais sur l’individualisme, Paris 1983, 33-67. Rousseau, Du contrat social. Buch IV/8, 173 [dt. 145]. Rousseau, Lettres écrites de la Montagne, I, Œuvres Complètes, Bd III, 695. Ebda. Rousseau, Lettres écrites de la Montagne, I, OC III, 704-705. Rousseau, Lettres écrites de la Montagne, I, OC III, 706.
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Menschen orientiert, ist die Lage der Zivilreligion wirklich prekär; bestenfalls ist sie etwas Überlebendes, dessen Grundlagen nicht mehr bestehen. Gewissermaßen wird Hegel genau das Vorhaben übernehmen, wovon Rousseau in den Briefen aus dem Berge wenig glaubwürdig behauptet, es wäre sein eigenes gewesen; allerdings aufgrund einer ganz anderen Deutung der „wahren Prinzipien der Religion“.38 Wir werden sehen, dass Hegels Deutung eine Rehabilitierung des institutionellen Christentums impliziert, welches Rousseau seinerseits als eine „dritte, ziemlich bizarre Art von Religion“39 betrachtet und extrem kritisch beurteilt. Auf diesem Weg wird Hegel wenigstens in seinem späten Werk veranlasst, eine wirkliche politische Theologie des Christentums auszuarbeiten, die von der Zivilreligion Rousseaus (oder Varros) tief abweicht, die jedoch das „aufgeklärte“ Programm einer natürlichen Religion ablehnt.
Volksreligion und Positivität beim jungen Hegel Wenn man das Verhältnis von Zivilreligion und geoffenbarten und institutionellen Religion bei Hegel behandelt, muss man zwischen den Berner und Frankfurter Schriften einerseits, wo Hegel die „positive Religion“ extrem kritisch behandelt und die heidnischen Zivilkulten (die Volksreligion) aufwertet, und den Schriften der Maturität andererseits unterscheiden, in welchen er seine Identität als „lutheranischer Christ“ proklamiert und wo er die Meinung vertritt, dass auf der religiösen sowie auf der politischen Ebene keine andere Religion als der lutheranische Protestantismus der Eigenart der modernen Welt gewachsen sei; diese Lehre sei „die wahrhafte und von der Philosophie ihrerseits für die wahrhaftige“ erkannt.40 Ich habe in einem anderen Kontext41 zu zeigen versucht, dass diese Standortsverschiebung (die eigentlich eine doppelte ist, indem sie aus einem Verlassen des Modells der Polissittlichkeit und aus einer „spekulativen“ Aufwertung des Christentums besteht) mit der „Entdeckung“ der bürgerlichen Gesellschaft und mit der daraus folgenden Umdeutung des Hegelschen Begriffs des Politischen verbunden ist. Im Folgenden möchte ich diese Frage auf der eigentlich politisch-religiösen Ebene behandeln und die Veränderungen der „politischen Theologie“ Hegels untersuchen. In den Berner und Frankfurter Schriften Hegels (1794-1800) drückt sich eine bedingungslose Zustimmung zum sittlich-politischen Ideal der polis aus. Ihr Merkmal ist die totale Auflösung der privaten Sphäre zugunsten der Öffentlichkeit. „In einer Republik ist es eine Idee, für die man lebt“,42 alles das, 38 39 40
41 42
Rousseau, Lettres écrites de la Montagne, I, OC III, 695. Rousseau, Du contrat social. Buch IV/8, 174 [dt. 146] Hegel, Über eine Anklage wegen öffentlicher Verunglimpfung der katholischen Religion [1826]. TWA 11, 69. Siehe vom Verf. L’effectif et le rationnel. Paris 2008, Kap. 4. Hegel, Die Positivität der christlichen Religion. TWA 1, 207, FN 60.
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was nicht zur Vollendung jener Idee – der politischen Freiheit – beiträgt, ist schädlich und soll verdrängt werden. Daher zielen die in den alten Verfassungen enthaltenen Vorschriften darauf, den Bürger einzureden, die materiellen Güter nicht zu hoch zu bewerten.43 Daher rührt auch die in der antiken Gesellschaft fehlende Trennung von Religion und Politik und die ursprüngliche Ablehnung der Religionen, die (wie das Christentum) das Zurückziehen aus der Öffentlichkeit und die Verachtung der politischen Tugenden loben: „der fromme Christ, der sich dem Dienst seines Ideals ganz weiht, ist ein mystischer Schwärmer; füllt ihn sein Ideal ganz aus, kann er sich nicht teilen zwischen dieses und seinen weltlichen Wirkungskreis“.44 Ein Fragment aus dem Jahr 1796 drückt dieses republikanisches Ideal und dessen Folgen für den „positiven Glauben“ klar aus. Für den griechischen oder römischen Staatsbürger, schreibt Hegel, war „die Idee seines Vaterlandes, seines Staates […] sein Endzweck der Welt, oder der Endzweck seiner Welt“; er besaß in ihm sein eigenes Sein, er war nur dank dieser „höchste[n] Ordnung der Dinge“, und „vor dieser Idee verschwand seine Individualität“.45 Wie der moderne Christ glaubte er an die Unsterblichkeit der Seele; seine Seele aber war die Republik selbst.46 Bevor er starb, versenkte sich zwar Cato in der Lektüre des Phaidons, aber nur deshalb, weil seine wirkliche Seele, die römische Republik, schon „zerstört war“. Kurz gesagt verlangt die polis eine restlose Identifizierung des Bürgers mit dem, was Hegel im Gegensatz zum „esprit de corps“ der religiösen Sekten den „Geist des Ganzen“ benennt.47 Es soll also jede Art von persönlichem Glauben ausgeschlossen werden; nur eine Zivilreligion, eine Volksreligion, ist mit der Staats- oder Polisethik verträglich. Für den Bürger der Antike, schreibt Hegel anlässlich seiner Lektüre von Thukydides, war das Ich immer ein Wir, und „vor [der Volksversammlung] und von ihrem Munde haben solche ‘Wir’ völlige Wahrheit“.48 Die Religionen der Antike, diese nationalen und politischen Religionen, haben so dauerhaft als möglich den „kindlichen Geist in den Religionen“ lebendig behalten, der den Ursprung der Institutionen, der Verfassung und der Gesetzgebung ausmacht.49 So haben sie das geschützt, was der Naturrechtaufsatz von 1802 die „sittliche Gesundheit“ der Völker nennt,50 – eine Gesundheit, die später durch die Privatisierung der Existenz ruiniert worden ist; der klarste Zeichen davon ist der Aufstieg des Christentums. 43
44 45 46 47 48
49 50
Hegel, Fragmente historischer und politischer Studien aus der Berner und Frankfurter Zeit. TWA 1, 439. Hegel, Die Positivität der christlichen Religion. TWA 1, 207, FN 60. Op. cit., 205. Op. cit., 206. Hegel, Fragmente über Volksreligion und Christentum (1793-1994). TWA 1, 57. Hegel, Fragmente historischer und politischer Studien aus der Berner und Frankfurter Zeit. TWA 1, 433. Hegel, Fragmente über Volksreligion und Christentum (1793-1994). TWA 1, 54-55. Hegel, Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts, seine Stellung in der praktischen Philosophie und sein Verhältnis zu den positiven Rechtswissenschaften. TWA 2, 482.
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Die in der Volksreligion verkörperte Polissittlichkeit schließt also eine Verurteilung dessen ein, was Hegel im Anschluss an den Contrat social die der „großen bürgerlichen Gesellschaft“ entgegengesetzten „kleinen“ oder „partiellen“ Gesellschaften nennt, deren „Privatgesetze“ die öffentlichen Institutionen und die staatsbürgerliche Gesinnung gefährden.51 Die christliche Sekte, welche „eine Art von status in statu“ ausmacht, ist das Muster solcher Teilgesellschaft. Dieses Thema wird in der Berner Schrift über die Positivität der christlichen Religion breit entwickelt: sie erklärt das Positivwerden des Christentums, d.h. seine Verhärtung, durch den nach der Konversion Konstantins erfolgten „Übergang der Kirche aus einer Privatgesellschaft in einen Staat“.52 Aus einer Sekte, deren Regel und Anordnungen seine Anhänger nur in foro interno verpflichtete, ist sie zu einem „kirchlichen Staat“ geworden, der zuerst dem „politischen Staat“ gegenüberstand, dann aber sich mit ihm identifizierte, indem er sich gewisse staatliche Hoheitsrechte herausnahm: „der kirchliche Vertrag [wurde] ganz dem Vertrag der bürgerlichen Gesellschaft gleichgeachtet und dem kirchlichen Staat [wurden] gleiche Rechte wie dem bürgerlichen Staat eingeräumt“.53 So hat die Kirche, und mit ihr der Staat, vergessen, dass „in Ansehung des Glaubens selbst kein gesellschaftlicher Vertrag eigentlich stattfindet“,54 d.h., dass der Glaube eine persönliche Angelegenheit ist, aber keine soziale Verpflichtung. Das Schicksal der „Positivität“ impliziert also den Zusammenbruch eines nur auf der Gesinnung seiner Bürger gebauten Staates sowie des ursprünglichen Geistes des Christentums als einer „rein moralischen, nicht positiven Religion“,55 d.h. gewissermaßen den Tod der natürlichen Religion. Deswegen plädiert Hegel damals im Rahmen einer unabsetzbaren Christianisierung der europäischen Gesellschaften für eine strikte Trennung zwischen Staat und positiv-institutionell gewordenen Kirchen, – eine Trennung, die er selbst später als undurchführbar und illegitim ansehen wird. Solche Empfehlung aber ist mit der Unauflösbarkeit von Politik und Religion unverträglich, die Hegel selbst als den Hauptzug und Vorteil der Volksreligion als einer Religion nicht im sondern des Staates betrachtet. Was im Fall der heidnischen Nationalreligion als ein Vorteil angesehen wurde, indem es zur Bildung einer „Nationalphantasie“ kräftig beiträgt, wird im Falle eines sich als nicht politische Religion bestimmenden Christentums ein Faktor der Auflösung politischer Identität: „Jedes Volk, das seine eigentümliche Religion und Verfassung oder das auch einen Teil derselben und seiner Kultur von fremden Nationen erhalten, [hat] eine solche 51
52 53 54 55
Hegel, Fragmente über Volksreligion und Christentum. TWA 1, 63 und 66. Vgl. mit Rousseau: Du contrat social. Buch II/3, 69 [dt. 31]: die „Parteiungen“ (brigues), die „Teilvereinigungen“ (associations partielles) entstehen „auf Kosten der großen“. Hegel, Die Positivität der christlichen Religion. TWA 1, 179. Op. cit., 174-175. Op. cit., 166. Op. cit., 108.
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Nationalphantasie gehabt. […] Das Christentum hat Walhalla entvölkert, die heiligen Haine umgehauen und die Phantasie des Volks als schändlichen Aberglauben, als ein teuflisches Gift ausgerottet […] So ohne religiöse Phantasie, die auf unserem Boden gewachsen wäre und mit unserer Geschichte zusammenhinge, schlechterdings ohne alle politische Phantasie, schleicht unter dem gemeinen Volke nur hier und da ein Rest eigener Phantasie unter dem Namen Aberglauben herum.“56
Ein seines Glaubens und seiner Gesetze beraubtes Volk (indem beide eine aktive Gesinnung, eine lebendige Zustimmung der Einzelnen voraussetzten): das ist das Schicksal des christianisierten römischen Reichs. Unerachtet von all dem, was inzwischen in der Grundstruktur des Hegelschen Denkens verändert worden ist, wird diese Beurteilung in der Phänomenologie des Geistes bestätigt, und zwar in der erbarmungslosen Beschreibung eines „Rechtszustandes“, in welchem „die sittliche Substanz [die polis] zum wirklichen Selbstbewusstsein“ zwar geworden ist, in welchem aber „eben die Sittlichkeit zugrunde gegangen“ ist.57 Hegel schließt die Analyse des „Rechtszustandes“ mit folgender Beurteilung: „Die in der sittlichen Welt nicht vorhandene Wirklichkeit des Selbsts ist durch ihr Zurückgehen in die Person gewonnen worden; was in jener einig war, tritt nun entwickelt, aber sich entfremdet auf.“58
Unter ihrer zäsaristisch-papistischen Gestalt hat anscheinend die römischchristliche politische Theologie jene subjektive Innerlichkeit wirksam gemacht, die von der Zivilreligion der heidnischen Antike verdrängt blieb. Aber der Preis dafür ist eine Entfremdung, die sowohl die gespaltene Subjektivität des christlichen Gewissens als auch die auf die formalistische rechtliche Prozedur beschränkte Sittlichkeit belastet; das Politische nunmehr ist die exklusive Sache des „Herrn der Welt“.
Politische Theologie der Offenbarung Unzweifelhaft ist die Tatsache, dass das in Jena ausgearbeitete, definitive Denken Hegels, dessen erste glänzende Manifestation die Phänomenologie des Geistes ist, tiefgreifende Unterschiede gegenüber den Berner und Frankfurter Gedankengängen aufweist. Die Transformation dessen, was ich die politische Theologie Hegels genannt habe, ist ein besonders klares Beispiel davon. Die Parole der „Vereinigung mit der Zeit“,59 die in einer der letzten Schriften aus der Frankfurter Zeit, dem sogenannten Systemfragment, auftaucht, gilt nämlich ebenso für die Politik als auch für die Religion. Auf politischer Ebene verzichtet Hegel (wenn es bei ihm so etwas gab) auf den Traum einer Restau56 57 58 59
Hegel, Die Positivität der christlichen Religion (1795/1796) Zusätze. TWA 1, 197-198. Hegel, Die Phänomenologie des Geistes. TWA 3, 328. Op. cit., 359. Hegel, Systemfragment von 1800. TWA 1, 427.
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ration der antiken Polis und ihrer „heroischen Auffassung der Freiheit“, wie sie von Hyppolite treffend bezeichnet wurde.60 Auf religiöser Ebene verschwindet die im Namen der natürlichen Religion entwickelte Kritik des zur positivinstitutionellen Religion gewordenen Christentums zugunsten einer spekulativen Deutung des christlichen Dogmas, deren erster Ausdruck sich im Abschnitt über die „offenbare Religion“ in Kapitel VII der Phänomenologie des Geistes findet. Wie viele andere Hegelforscher habe ich die Gründe dieser Transformation untersucht.61 Kurz gesagt hängen sie von der „Erfindung der bürgerlichen Gesellschaft“ ab, die sicherlich nicht allein auf Hegel zurückgeht, die aber sozusagen von ihm orchestriert wurde. Die Lektüre der zeitgenössischen wirtschaftswissenschaftlichen Werke gibt ein klares Bewusstsein davon, dass in der modernen Welt das Zusammenleben nicht nur politische Wege nimmt, sondern viel der spontanen Regulierung des Marktes (der sogenannten „invisible hand “) verdankt; die Beurteilung der französischen Revolution und ihres notwendig verfehlten Aktualisierungsversuchs des politischen Ideal der antiken Polis; die neu entstandene Aufmerksamkeit auf die Interaktionen zwischen subjektiven Gesinnungen und institutionellen Gestaltungen: alles das erklärt, dass Hegel sich schon um 1805 dem „höhere[n] Prinzip der neueren Zeit“ anschließt, obgleich er eine gewisse Nostalgie dieser „alten Zeit“ noch empfindet, wo „das schöne öffentliche Leben die Sitte Aller“ war.62 Hier ist meines Erachtens eindeutig zu sehen, dass die Gründe der Umwandlung der politischen sowie der religiösen Philosophie Hegels letzten Endes politisch im breitesten Sinne sind, wobei aber auch unbestreitbar ist, dass diese Umwandlung nie ohne die begrifflichen Mitteln der in Jena und Nürnberg konzipierten Logik hätte erfolgen können. Die Lage der Sache ist jedoch nicht so einlinig. Abschließend möchte ich folgendes zu zeigen versuchen: Auch wenn die Zustimmung zum evangelischen Christentum seitens Hegel unbestreitbar ist, auch wenn die Religion das Zentrum des absoluten Geistes ausmacht,63 auch wenn die Religion die politisch und sozial strukturierte Welt des objektiven Geistes übersteigt, formuliert Hegel gleichwohl – wenn auch unter starken Umwandlungen – einen politisch-theologischen Standort. Falls dies stimmt, dann behalten die Überlegungen des jungen Hegels über die Volksreligion und über die Gründe der Positivierung des Christentums im Spätwerk ein Echo, ein Echo, das in einer völlig transformierten begrifflichen Landschaft erklingt. Mit anderen Worten: Ich möchte gegen eine exklusiv „religiöse“ Deutungsrichtung zeigen, dass die 60 61
62
63
Siehe J. Hyppolite, Introduction à la philosophie de l’histoire de Hegel, Paris 1983, 94. Siehe vom Verf. L’effectif et le rationnel, Teil II, insb. die Kap. 4 et 5, sowie Hegel, Carl Schmitt, Paris 2005, Teil II, Kap. 2 bis 4. Hegel, Jenaer Systementwürfe III. In: Gesammelte Werke. Hrsg. in Verbindung mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft von der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften [GW]. Bd 8. Hrsg. von J.H. Trede. Hamburg 1976, 263. Siehe Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften III. TWA 10, § 554, 353: „Die Religion, wie diese höchste Sphäre im allgemeinen bezeichnet werden kann …“
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Philosophie der Religion keineswegs das Ganze der Hegelschen Betrachtung des Religiösen ausmacht: neben der spekulativen Deutung der offenbarengeoffenbarten Religion entwickelt der „alte Politicus“ die politische Deutung des Religiösen fort und bezeugt damit, dass für ihn die „politisch-theologische Frage“ keineswegs „erledigt“ ist. Die beiden als Inschrift von mir gewählten Sätze sind ein Beispiel dafür, dass die Berliner Schriften, bzw. Vorlesungen dem Problem des Verhältnisses von Staat und Religion eine strategische Bedeutung verleihen, obgleich dieses Problem mit der Unterscheidung von objektivem und absolutem Geist eine stabile spekulative Lösung gefunden zu haben scheint; der Unterscheidung zwischen dem, was zum endlichen Geist gehört und worin die Freiheit „als vorhandene Notwendigkeit ist“ und dem, was „der Geist in seiner absoluten Wahrheit“64 ist und dessen metonymischer Ausdruck die Religion ist. In der Tat ist die Religion keine rein spekulative, sondern dazu eine weltliche Frage; ein Zeugnis dafür sind die Schwierigkeiten, die sich ergeben, wenn es darum geht, das Verhältnis von politischer und kirchlicher Institution genau zu bestimmen, Schwierigkeiten mit denen Hegel an verschiedenen Stellen ringt. Andererseits schließt die Hegelsche Darstellung des Verhältnisses von objektivem und absolutem Geist aus, sich diese beiden Schichten des Geistes als geschlossene Sphären vorzustellen; es gibt in der Tat unter ihnen einen ständigen Austausch und die Religion ist der Verteiler. Daher zielen die Hegelschen Bemühungen in dieser Sache darauf, in einem begrifflich definierten und institutionell aktualisierten religiösen Feld die Gliederung vom Politischen und Spekulativen zu denken: Es handelt sich um das Bemühen zu verstehen, wie die beiden verschiedenen, aber keineswegs fremden Gerichtsbarkeiten im selben Bereich tätig sein können; denn „es ist eine törichte Vorstellung, ihnen ein getrenntes Gebiet anweisen zu wollen“.65 Das mit dem gemeinen Menschenverstand geteilte Grundprinzip der „politischen Theologie“ Hegels ist, dass „Religion für das Selbstbewusstsein die Basis der Sittlichkeit und des Staates“ ist.66 Aber einerseits kann dieses Prinzip unterschiedlich verstanden werden: es kann im Sinne einer mit dem modernen Verlangen nach persönlicher Freiheit unverträglichen Theokratie, sowie im Sinne einer ebenso schädlichen kompletten staatlichen Kontrolle der religiösen Praxen und Glauben gedeutet werden. Andererseits darf man nicht vergessen, dass Religion „nur Grundlage“ des Staates ist, welcher seinerseits die „Organisation einer Welt“67 ist; es geht also darum, sie in ihrer Differenz – und Differenz enthält stets die Möglichkeit des Gegensatzes – sowie in ihrer Einheit zu denken. Diese wichtige Unterscheidung von politischem und religiösem Feld verkennt der von seiner Überlegenheit über die Gesetze über64 65 66 67
Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften III. TWA 10, § 385, 32. Op. cit., § 552 Anm., 359. Op. cit., § 552 Anm., 356. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts. TWA 7, § 270 Anm., 418.
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zeugte religiöse Fanatismus („dem Gerechten ist kein Gesetz gegeben“)68 sowie der politische Fanatismus, welcher zur Zeit der Revolution es sich zur Pflicht machte, im Namen der Freiheit eine wegen ihrer Kooperation mit einem alten Unterdrückungssystem verdächtigt gewordenen Religion zu verfolgen. Um diese beiden Sackgassen zu meiden, ist es angebracht, den „Zusammenhang zwischen Staat und Religion zu betrachten“. Staat und Religion beruhen zwar auf „Ein[em] Begriff der Freiheit“; sie deklinieren jedoch diesen Begriff nicht in derselben Weise; das Feld, wo dieser Zusammenhang mit Exaktheit und Scharfsinn analysiert werden kann, ist die „Philosophie der Weltgeschichte“,69 also nicht die Philosophie der Religion, welche sich nämlich mit dem Inhalt und der Wahrheit der religiösen Vorstellung, aber nicht mit ihrer geschichtlich-politischen Verwirklichungsbedingungen beschäftigt. Vom Standpunkt der Philosophie der Geschichte aber, welche der der politischen Philosophie mit sich bringt, soll dank der einfachen Tatsache, dass es sich um zwei Institutionen handelt, das Verhältnis von Staat und Religion als Beziehung zweier in steter Wechselwirkung stehender institutioneller Gestaltungen gedacht werden. Denn die Religion ist, auch nach der Reformation, nicht einfach Sache des „Verhältnis[ses] zum Absoluten in Form des Gefühls, der Vorstellung, des Glaubens“.70 Sie ist auch eine „Kirchengemeinde“, die sich durch „Kultus“, „Handlungen“, „Lehre“, „Besitztümer“, „Eigentum“ und durch dem „Dienste der Gemeinde gewidmeter Individuen“ definiert.71 Obzwar das Prinzip des modernen Staates einen breiten Liberalismus angesichts der religiösen Glauben impliziert (es ist ein wichtiger Aspekt dessen, was Hegel seine „ungeheure Stärke und Tiefe“ nennt, dass er „das Prinzip der Subjektivität sich zum selbständigen Extreme der persönlichen Besonderheit vollenden [lässt] und zugleich es in die substantielle Einheit zurückführ[t]“)72, steht die kirchliche Institution, die in mancher Hinsicht eine Korporation der bürgerlichen Gesellschaft ist, dennoch „unter der oberpolizeilichen Oberaufsicht des Staats.“73 Die kirchliche Lehre gehört zwar zunächst zur subjektiven Innerlichkeit und hat deswegen „ihr Gebiet in dem Gewissen“;74 „jedoch“, fährt Hegel fort, „hat auch der Staat eine Lehre“, und dies verleiht ihm ein Einmischungsrecht im Bereich der kirchlichen Lehre, aber nur insofern es „mit den sittlichen Grundsätzen und Staatsgesetzen aufs innigste zusammenhängt“,75 d.h. nur im Rückgriff auf Gründe, die die öffentliche Ordnung betreffen. Man darf darüber staunen, dass der (zwar autoritäre…) liberale Hegel die Einmischung des Staates in Kirchensachen zuläßt und auf diese Weise ein 68 69 70 71 72 73 74 75
Ebda. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion. Bd 1, 241. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts. TWA 7, § 270 Anm., 418. Op. cit., § 270 Anm., 420. Op. cit., § 260, 407. Op. cit., § 270 Anm., 422. Ebda. Op. cit., § 270 Anm., 423.
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Prinzip verletzt, welches seit Locke als eine Grundsäule der modernen Freiheit gilt, und zwar die religiöse Toleranz. Diesem zu folgen würde jedoch den Rahmen jener „politischen Theologie“ vernachlässigen, d.h. die Philosophie der Geschichte und die politischen Philosophie. Wenn auf spekulativer Ebene die geoffenbarte Religion, „die wahrhafte Religion“,76 die vorstellende Aussage des philosophischen Begriffs ist, und deshalb unter seiner Jurisdiktion steht, so geht sie als weltliche Institution dennoch „unmittelbar in das Gebiet des Staats herüber“,77 welcher „die objektive Wahrheit und die Grundsätze des sittlichen Lebens in Schutz zu nehmen“78 hat. Diese Rede, die sicherlich für unser modernes liberales Gewissen unanständig klingt, steht mit einer Philosophie im kompletten Einklang, die den „Atheismus der sittlichen Welt“ bekämpfen will, indem sie die Vermittlungen zwischen dem Religiösen und dem Politischen zu durchdenken versucht, insofern sie der modernen Welt die in ihr fehlende „politische Theologie“ verleiht.
76 77 78
Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften III. TWA 10, § 563, 564, 372. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts. TWA 7, § 270 Anm., 425. Op. cit., § 270 Anm., 427.
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Die Quellen der Frühphilosophie Hegels Für die Studenten im Tübinger Stift waren Karl Leonhard Reinholds „Briefe über die Kantische Philosophie“ die eigentlich bedeutsame Schrift zur Einführung in die neue, aber auch extrem schwierige kritische Philosophie Immanuel Kants.1 Abgesehen von der Tatsache, daß die Briefe in Buchform erstmals 1789, und zwar als ein unerlaubter Raubdruck erscheinen,2 ihre MerkurFassung im Frühjahr des Jahres 1787 allerdings tatsächlich viel Aufsehen erregt hat,3 so ist historisch kaum geklärt, worin der enorme, von Ameriks zunächst bloß behauptete Einfluss dieser Schrift Reinholds eigentlich gelegen hat. Zunächst einmal ist zu bemerken, daß die Briefe tatsächlich alles andere sind als eine konzise Wiedergabe der Kantischen Philosophie. Ihr Verdienst besteht besonders darin, die kritische Philosophie erstmals für die Moraltheologie fruchtbar gemacht zu haben. Dafür bezieht sich Reinhold zunächst auf das „einzige Morceau“, das ihm seine erste Beschäftigung mit der kritischen Philosophie bot, nämlich den angeblich in der Kritik der reinen Vernunft „entwickelte[n] moralische[n] Erkenntnißgrund der Grundwahrheiten der Religion“.4 Bemerkenswert ist nun allerdings die Tatsache, daß weder bei Kant 1
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Zurecht bemerkt Karl Ameriks in der ersten englischen Übersetzung der Briefe, es handle sich hierbei um „the most influential book ever written concerning Kant.“ (K. L. Reinhold, Letters on the Kantian Philosophy. Ed. by K. Ameriks. Cambridge 2005, ix). Briefe über die Kantische Philosophie, zum Gebrauch und Nuzen für Freunde der Kantischen Philosophie, Mannheim bei Heinrich Valentin Bender 1789. Im folgenden Jahr erscheint ein zweiter Raubdruck Auswahl der besten Aufsäzze über die Kantische Philosophie, Frankfurt und Leipzig (in Wahrheit: Marburg bei Krieger) 1790. Ebenfalls erscheint im Jahre 1790 Reinholds eigene Buchausgabe der Merkur-Briefe, die allerdings an vielen Stellen entscheidende Modifikationen gegenüber der Erstausgabe vornimmt, weshalb im Grunde genommen ein neues Buch vorliegt. So schreibt der Kant-Schüler Daniel Jenisch (1762-1804) seinem Lehrer am 14. Mai 1787 aus Braunschweig, daß „die Briefe über ihre Philosophie im Merkur [...] die eindringlichste Sensation gemacht“ haben und durch sie „alle philosophische[n] Köpfe Teutschlands [...] zu der lebhaftesten Theilnehmung für Sie, mein Herr Prof., aufgewekt“ seien. Vgl. I. Kant, Gesammelte Schriften. Hrsg. v. der Preussischen Akademie der Wissenschaften Bd 1-22. Berlin 1900ff. (im folgenden, AA), Bd 10, 486. Vgl. dazu Reinholds Brief an Kant vom 12. Okt. 1787, K. L. Reinhold, Korrespondenzausgabe. Hrsg. von F. Fabbianelli, E. Heller, K. Hiller u.a., Stuttgart 1983 ff., (im folgenden, KA), Bd 1, 271. – Dieses Morceau entsteht im Zuge der Lektüre der ersten wirklich positiven Besprechung der kritischen Philosophie in der Allgemeinen Literatur-Zeitung von 1785 (Nr. 162, Sp. 41-44; Nr. 164, Sp. 53-56; Nr. 178, Sp. 117-118; Nr. 179, Sp. 121-128 [auch in: Albert Landau (Hrsg), Rezensionen zur Kantischen Philosophie 1781-87, Bebra 1991, 147182]). Vgl. dazu auch meine „Einleitung“ in: K. L. Reinhold, Versuch einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens. Bd 1, Hamburg 2010, LI f.
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selbst,5 noch in den beiden in Anm. 6 erwähnten Schriften die Rede ist von Grundwahrheiten der Religion. Was Reinhold mit diesen Wahrheiten meint ist jedoch klar; sie betreffen „Gott“ und „ein künftiges Leben“ als die „zwey von der Verbindlichkeit die uns die reine Vernunft auferlegt nach Principien eben dieser Vernunft nicht zu trennende Voraussetzungen. Ohne einen Gott, und eine für uns itzt nicht sichtbare, aber gehoffte Welt, sind die herrlichen Ideen der Sittlichkeit zwar Gegenstände des Beyfalls und der Bewunderung, aber nicht Triebfedern des Vorsatzes und der Ausübung“.6 Bis in die Wortwahl hinein findet sich diese Sichtweise auch in der ersten Kritik,7 allerdings hat sich der Königsberger spätestens seit seiner – von Reinhold tatsächlich kaum beachteten – Grundlegung von 1785 auch wieder von ihr verabschiedet, ohne jedoch die betreffende Stelle in der zweiten Ausgabe der ersten Kritik von 1787 revidiert zu haben. Dennoch kommt der Religion im Denken Reinholds eine im Grunde genommen ganz unkantische Bedeutung zu. Das zeigt sich an dem als dialektisch zu bezeichnenden Prozeß der Menschheitsentwicklung, wonach die ursprüngliche Einheit von Religion und Vernunft zunächst aufgelöst wird und als Vernunftreligion wieder zu sich zurückkommt. Reinhold erörtert diesen Prozeß so, daß die Natur „es zum Besten der Menschheit also veranstaltet [hat, E.-O.O.], daß sich das Reich der Dummheit selbst zerstören, und der Verfinsterer der menschlichen Vernunft endlich wider seinen Willen Beförderer der Aufklärung seyn muß“8. Mit anderen Worten wird eine Vernunft, die alle Naturverhaftung verloren hat, und wodurch Religion in Mystizismus und Aberglauben absinkt, sich schließlich notwendig gegen sich selbst kehren und als aufgeklärte Vernunft so sich selbst wiedererwecken, daß die ursprüngliche in der Natur des Menschen eingewurzelte Einheit von Vernunft und Religion in vermittelter Form neue Gestalt bekommt, wobei dann aus dem Wesen der Vernunft die Wahrheiten der Religion als Vernunftwahrheiten hervortreten. Dies ist, was Reinhold unter Aufklärung versteht, nämlich kraft der in der „physischen Anlage“ des Menschen „gegründete[n] Möglichkeit[,] einst ver-
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In einer Reflexion zur Metaphysik aus den späten 70er Jahren spricht Kant seine Bedenken gegen solche Grundwahrheiten bereits klar aus: „Die wichtigen Grundwahrheiten der moral und religion sind auf den natürlichen Gebrauch der Vernunft gegründet, welcher ein Gebrauch nach der analogie des empirischen Gebrauchs ist […] Dieser natürliche Gebrauch ist nicht frey von Verirrungen der speculation, er bringt einen Glauben hervor und kein Wissen.“ (Kant, AA. Bd 18, 14) Zit. nach Rezensionen zur Kantischen Philosophie 1781-87, Bebra 1991, 147-182, 180; Schütz folgt hier – wie auch sonst im Schlußteil seiner Rezension – J. Schulz, Erläuterungen über des Herrn Professor Kant Critik der reinen Vernunft, Königsberg 1784, ²1791 (die vielzitierte Ausgabe Frankfurt und Leipzig 1791 ist ein Raubdruck), 176. I. Kant, Kritik der reinen Vernunft. Riga 1781. Zweite Auflage 1787, (im folgenden, KrV) A 813/B 841. „Gedanken über Aufklärung“. In: Der Teutsche Merkur, 3. Bd vom Juli 1784, 3-22, Fortsetzung ebd. im Juli, 122-133, Beschluß ebd. im September, 232-245, zitiert ist hier 245.
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nünftig zu werden.“9 Die konkrete Leistung der Aufklärung besteht in der „Anwendung der Mittel welche in der Natur liegen“, um „die verworrenen Begriffe in deutliche aufzuhellen.“10 Hiermit entwickelt Reinhold freilich ein völlig anderes Verständnis der leibnizschen-wolffischen Auffassung von Vernunftaufklärung. Genauer geht es Reinhold nämlich um die Selbstaufklärung der Vernunft in einem dialektisch verstandenen historischen Entwicklungsprozeß nach dem Muster von Kindheit, Adoleszenz und Erwachsensein.11 In der resümierenden Passage dieses dialektischen Prozesses finden sich bereits die wichtigsten Motive der späteren Philosophie Hegels, weshalb sie hier nicht unterdrückt bleiben darf: [E]s gehören Jahrtausende von vielfältigen und meistens traurigen Erfahrungen dazu, bis der freygelassene Zögling der Natur mit freyer Wahl wollen lernt, was er im Stande der Unschuld aus unvermeindlichem Triebe gewollt hatte, und in der Gesellschaft als Bürger durch Vernunft findet, was ihm als blossen Menschen in seinem engen Familienkreise durch Instinkt eingegeben worden war. Dann aber bricht die Morgenröthe der Unschuld wieder hervor, und die glückliche Epoche nähert sich, wo der Mensch aus eigener Kraft auf dem Wege wandelt, worauf er ehemals durch die Hand der Natur geführt wurde, und wo er als Mann durch Vernunft und Gefühl die Glückseligkeit doppelt wiederfindet, die er als Kind durch das Gefühl allein genossen hatte. Die unendliche Macht, Weisheit und Güte, die durch ihre vereinigte Würkung sein kindliches Herz gelenkt hatte, tritt dann als reines Ideal der höchsten Vollkommenheit aus dem Chaos seiner verworrenen Begriffen hervor, und wird der höchste leitende Grundsatz seiner Vernunft, so wie die vornehmste Triebfeder seines Herzens; das Ziel von dem seine Erkenntniß ausgeht, und zu dem sein Wollen zurückkömmt. […] So stellt endlich die Stärke der Vernunft allein die Harmonie des Menschen mit der Gottheit wieder her, welche die Schwäche der Vernunft auf immer aufgehoben zu haben schien.12
Die Selbsterweckung des Menschen als Bürgers aus dem Schoße der noch instinktverbundenen Familie ist genauso zentral für die Rechtsphilosophie Hegels wie Reinholds Auffassung, daß hiermit eine neue Phase der Menschheit beginnt, wo nämlich der Mensch sein Schicksal in die eigene Hand nimmt, indem er durch Vernunft selbst die Verbindung mit dem Absoluten herstellt und aus dieser Verbindung sein Leben in Freiheit gestaltet.
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„Gedanken über Aufklärung“. In: Der Teutsche Merkur, 3. Bd vom Juli 1784, 3-22, Fortsetzung ebd. im Juli, 122-133, Beschluß ebd. im September, 232-245, hier Anm. 8, 123. Ebd. Reinhold entwickelt dieses Modell besonders einprägsam in seinem vorkritischen Aufsatz „Skizze einer Theogonie des Glaubens“, in: Der Teutsche Merkur 1786, Bd 2, 229-242, den er später in den letzten Brief der Ausgabe Briefe über die Kantische Philosophie (1790) einarbeitet. – Dieses Muster hat Reinhold wiederum den Schriften des Illuminaten Adam Weishaupt entnommen. „Skizze einer Theogonie des Glaubens“. In: Der Teutsche Merkur. 1786, Bd 2, 229-242, 230f.
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Die Auseinandersetzung mit Reinhold im Tübinger Stift Anfang 1790 gehen die ersten Stiftler Friedrich Niethammer und Gottlob Christian Rapp nach Jena, das damalige Mekka für kantische Philosophie, um diese dort unter Anleitung Reinholds zu studieren. Die Bildungswege der ersten kantianisierenden Stiftler legen in jeder Hinsicht nahe, daß Reinholds Merkur-Briefe schon vor 1790 in Tübingen studiert wurden und daß sie es waren, die ihr Interesse für den Kantianismus weckten. Aus dem Briefwechsel von Carl Immanuel Diez geht außerdem hervor, daß der unmittelbaren Lektüre der Kantischen Schriften im Stift anfänglich nur wenig Bedeutung zukam. Diez schreibt Niethammer am 19. Juni 1790, er habe im Herbst 1789 mit dem Studium der Kantischen Philosophie angefangen, als „noch keine Reinholdische Theorie zu haben war“ und zieht daraufhin das vielsagende Fazit: „Der Nutzen war gering.“13 Die Einführung in Kant verschafften ihm Johann Schulz’ Erläuterungen: „In der Tat ein herrliches Buch“, das eine „trefflich gelungene Inhaltsanzeige“ der ersten Kritik ist.14 Tatsächlich hat dieses Buch eine ganze Generation von Kant-Schülern in die Kantische Philosophie eingeführt, nicht zuletzt auch Reinhold selbst, so daß man dem Königsberger Hofprediger Schulz einen größeren Einfluß auf die früheste Kant-Rezeption zubilligen muß als Kant selbst. Es ist jedoch Reinholds Versuch gewesen, der Diez mit der Kantischen Philosophie „familiarisierte“.15 Auch die jüngeren Stiftler, wie Hölderlin, Hegel und Schelling sind sehr ähnlich wie ihre Vorgänger in die kritische Philosophie eingeführt. Anfang 1790 intensiviert sich die Auseinandersetzung mit den Kantianern und Antikantianern im Stift zunehmend. Dabei sind mindestens zwei Richtungen zu unterscheiden. Die eine befaßt sich hauptsächlich mit der kantischen Moraltheologie, während sich die andere auch mit der spekulativ-theoretischen Seite der Philosophie Kants und Reinholds auseinandersetzt. Der bereits erwähnte Diez ist Vertreter der zweiten letzten Richtung. Niethammer und die Repetenten Friedrich Gottlieb Süßkind und Rapp, aber auch Hölderlin, der junge Schelling und Hegel vertreten dagegen zunächst die erste Richtung. Ein später Bericht von Christian Philipp Friedrich Leutwein (1768-1838) bestätigt das für Hegel insofern, als daß sich dieser kaum für die theoretischspekulative Seite der kantischen Philosophie interessierte.16 Das impliziert al-
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I. C. Diez, Briefwechsel und Kantische Schriften. Wissensbegründung in der Glaubenskrise Tübingen – Jena (1790-1792). Hrsg. von D. Henrich. Stuttgart 1997, 17 (im folgenden, Diez/ Henrich). Ebd., 17. Ebd., 176. D. Henrich, „Leutwein über Hegel. Ein Dokument zu Hegels Biographie“. In: Hegel-Studien 3 (1965) 39-77, bes. 56 f.
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lerdings nicht, daß er die religionsphilosophischen Pointen besagter Philosophen nicht genau gekannt hätte. Im Gegenteil.17 Rapp ist dann der erste Stiftler, der sich ernsthaft darum bemüht, einen dritten Weg zu versuchen, der die kantische Philosophie und die Kritik der Tübinger Storr-Schule irgendwie miteinander versöhnen soll. Diesen Weg hat Hegel ebenfalls beschritten, was freilich auch heißen muß, daß er seinen Tübinger Lehrern viel weniger skeptisch gegenüber gestanden haben kann, als von der Forschung immer wieder behauptet wird. Wichtig ist in diesem Zusammenhang zunächst der ethikotheologische Gottesbeweis Kants, dem alle Vertreter der Storr-Schule ablehnend gegenüber stehen, allerdings auch Hegel und Schelling, wie aus dem Brief des letzteren vom Dreikönigstag 1795 an Hegel hervorgeht. Schelling bemerkt dort, im Stift gäbe es inzwischen „Kantianer die Menge“, die „den moralischen Beweiß an der Schnur zu ziehen wißen“.18 Diese Stelle wird von der Forschung in der Regel so gelesen, daß Schelling damit auch seine Tübinger Lehrer meine. Das ist allerdings falsch und hat die Idealismusforschung für lange Zeit auf ein falsches Bein gestellt. Hegel schreibt zurück, er arbeite gerade daran, den ethikotheologischen Beweis der Kantianer mit dem physikotheologischen zu erweitern.19 Schelling antwortet ihm emphatisch: „Ein herrlicher Gedanke, den Du auszuführen im Sinne hast!“20 Was auch immer es genauer mit dieser von Hegel anvisierten Erweiterung auf sich habe, so ist es auffallend und auch zutiefst bezeichnend, daß es hierbei um eine Strategie geht, die im Grunde genommen alle Storrianer verfolgen, denn auch sie heben an vielen Stellen immer wieder hervor, daß der ethikotheologische Beweis mit dem physikotheologischen erweitert werden müsse. Die Stiftler haben die Schwäche der ethikotheologischen Beweisstrategie intensiv diskutiert. Deshalb auch die Leidenschaft Schellings für Hegels Idee. Hegels Briefstelle legt allerdings ferne nahe, daß es ihm – wie seinem bereits 1794 verstobenen Vorgänger Rapp – ebenfalls darum geht, einen Brückenschlag zwischen kritischer Philosophie einerseits und den Storrianern anderseits zustande zu bringen.
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Vgl. dazu auch meinen Aufsatz „Hegel zwischen Fichte und der Tübinger Fichte-Kritik“. In: Heidemann/Krijnen (Hrsg.), Hegel und die Geschichte der Philosophie. Darmstadt 2007, 171-190. F. W. J. Schelling, Historisch-kritische Ausgabe, im Auftrag der Schelling-Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Stuttgart Frommann-Holzboog 1976ff. (im folgenden, Schelling-HKA), III/1.15f. Vgl. ferner den Aufsatz von Michael Franz, „‘Tübinger Orthodoxie’. Ein Feindbild der jungen Schelling und Hegel“. In: Dietzsch/Frigo (Hrsg.), Vernunft und Glauben. Ein philosophischer Dialog der Moderne mit dem Christentum. Berlin 2006, 141-160. Schelling-HKA III/1.19. Schelling-HKA, III/1.21.
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Johann Friedrich Flatt und die Tübinger Storr-Schule Ein kurzer Blick auf die Auseinandersetzung des Tübinger Philosophieprofessors Johann Friedrich Flatt mit der kantischen Philosophie soll zeigen, wie und weshalb er den physikotheologischen Beweis gegen die Kantische Moralphilosophie ins Feld führt, auf daß wir uns ein Bild davon machen können, wie und weshalb sich auch Hegel dieser Strategie bedienen konnte. Bemerkenswert ist zunächst einmal, daß Flatt die Endabsicht der Kantischen Philosophie nicht aus den Schriften Kants, sondern Reinholds entwikkelt. Sie gehe nämlich dahin, „den Glauben an Gott, Vorsehung und Unsterblichkeit zu retten, und gegen alle Angriffe der Atheisten, Materialisten, Skeptiker u.s.w. sicher zu stellen.“21 In diesem Zusammenhang lobt er den Königsberger auch dafür – was ebenfalls eine der zentralen Thesen der Merkur-Briefe ist –, das Entweder-Oder von Vernunft und Glauben in Jacobis SpinozaBüchlein bereits mit der ersten Kritik überwunden zu haben. Bei diesem Ergebnis bleibt er nun nicht stehen, sondern beabsichtigt er gerade den von Kant gewonnen Freiraum für eine über die Vernunft hinausgehende Offenbarung Gottes gewinnen. Nach Flatt sind das Dasein Gottes sowie die Unsterblichkeit eine bloß „subjective vor aller Erfahrung hergehende Vernunftnothwendigkeit“22, aus der es den Grundsätzen der kritischen Philosophie zufolge eben nicht erlaubt ist, „auf eine objective Gültigkeit und Nothwendigkeit zu schließen“23. Ist nun ein solcher Rückschluß unerlaubt, müssen der kantischen Philosophie zufolge auch „alle Antriebe zur Befolgung des Sittengesetzes wegfallen“24. Das Sittengesetz besitzt folglich keine objektive Gültigkeit, weil wir ja nach der kritischen Moralphilosophie nur subjektiv genötigt sein können, das Gesetz als gültig anzunehmen. Daraus zieht der Tübinger dann den vernichtenden Schluß: „Aber der Wunsch selbst, wie stark und wie vernünftig er auch seyn mag, kann doch nie bey mir die Stelle eines Wahrheitsgrundes vertreten“.25 Ist also bloß die Hoffnung einer der Sittlichkeit angemessenen Glückseligkeit Antrieb zur Befolgung des Sittengesetzes, tritt der moralische Beweisgrund der kritischen Philosophie entschieden zu kurz. Und weil die Hoffnung weder aus dem Sittengesetz folgt, noch daraus abgeleitet ist, widerspricht sich Kants praktische Philosophie, was dann in den vernichtenden Vorwurf gegen die kantische Moraltheologie mündet: „Ich will, daß ein Gott sey“, was Flatt als „blinden Glauben“ qualifiziert.26
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J. F. Flatt, Briefe über den moralischen Erkenntnisgrund der Religion überhaupt, und besonders in Beziehung auf die Kantische Philosophie. Tübingen 1789, 2. Ebd., 15. Ebd., 16. Ebd., 18. Ebd., 19. Ebd., 72.
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Seine eigentliche Pointe gegen die kritische Philosophie ist aber, daß zur Beförderung des höchsten Gutes die Existenz der Geisterwelt vorausgesetzt werden muß und daß sich diese Voraussetzung nicht auf der Grundlage der praktischen, sondern nur auf der der theoretischen Vernunft dartun lasse.27 Die theoretische Vernunft der kritischen Philosophie taugt für einen solchen Beweis deshalb nicht, weil das nur kraft eines von ihr nicht erlaubten Überschritts zu übersinnlichen Gegenständen möglich wäre. Somit ist ein anderer, insbesondere ein solcher theoretischer Beweisgrund vonnöten, den die kritische Philosophie sowohl für ihren moralischen Beweis als auch für die theoretische Philosophie immer schon voraussetzt. Diesen Beweisgrund lokalisiert Flatt im physikotheologischen Beweis verbunden mit dem kosmologischen.28 Denn, so Flatt, „[w]elche Wendung man auch dem moralischen Erkenntnisgrunde der Religion geben mag, so liegt dabey immer die Voraussezung, daß das, was die Vernunft sich als würklich ausser dem Gemüthe zu denken genöthigt ist, würklich ausser unserer Vorstellung vorhanden sey, also die Voraussezung zum Grunde, daß die Objecte ausser unserer Vorstellung mit den nothwendigen Bestimmungen unserer Vernunft soweit zusammenstimmen, als zur objectiven Realität gewisser für die letztere unvermeidlich nothwendigen Ideen und Urtheile erfordert wird.“29 Mit anderen Worten müssen nicht nur die Kantischen Ideen, sondern auch das Ding an sich keine bloß regulativen oder unerkennbaren Größen sein, sondern dem Denken vielmehr von vornherein zugänglich sein, da sonst das gesamte System der Philosophie bloß auf einer subjektiven und damit einseitigen Vernunft aufbaute. Auch hier wieder sehen wir, wie Flatt im Grunde genommen bereits die theoretischen Grundlagen des objektiven Idealismus in nuce vorformuliert. Auch ist leicht zu erkennen, wie Flatt mit seiner Kritik an dem subjektiven Beweisgrund der kritischen Philosophie den späteren Hauptvorwurf Hegels gegen den subjektiven Idealismus vorwegnimmt.30 Was bei Flatt allerdings bloß programmatische Kritik bleibt, nimmt Hegel selbst zur Hand. Der Grundgedanke seiner ersten Schritte zum objektiven Idealismus ist – wie bei Rapp – im Grunde genommen ebenfalls der Versuch, sich zwischen Kantianismus und Storr-Schule einen Weg zu bahnen. Die Notwendigkeit für einen solchen Weg muß Hegel im Zuge der Kritik des „kantischen enragé“ Diez, sowie den Versuchen, mit dieser Kritik irgendwie klar zu kommen, wobei besonders an die Versuche Rapps zu erinnern ist, klargeworden sein. Diez zieht nämlich aus der Ablehnung des moralischen Beweises durch seine Lehrer die für sie vernichtende Konsequenz, daß damit 27 28 29 30
Vgl. ebd., 31f. Vgl. ebd., 105. Ebd., 102f. Die Rede von einem subjektiven Beweisgrund geht sicherlich zurück auf Ludwig Heinrich Jakob, Beweis für die Unsterblichkeit der Seele aus dem Begriffe der Pflicht [...] eine Preisschrift mit einiger Veränderung von dem Verfasser selbst aus dem Lateinischen übersezt. Züllichau 1790.
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die Offenbarung selbst unmöglich oder ein Unding sei. Obwohl sich im Stift für Diez’ radikale Position keine Anhänger gewinnen ließen, mußte jedem hellen Kopf bald klar sein, daß die Kant-Kritik der Storr-Schule sich ins eigene Bein geschossen hat. Diez hat mit seiner Kritik eine Diskussion ausgelöst und letztendlich besonders Rapp dazu motiviert, einen dritten Weg einzuschlagen, der den Kantianismus mit den Grundinteressen der Storr-Schule versöhnen könne, um so Diez’ Kritik zu immunisieren. Es sei nochmals hervorgehoben, daß so ein dritter Weg gar keinen Sinn machte, wenn nicht zugleich die Argumente Flatts gegen die Moraltheologie ernstgenommen würden. Auch Diez hat diese ernstgenommen. So ernst, daß Niethammer ihm das Eingeständnis abzwang: „Glauben Sie nicht, daß ich Flattianer bin“31. Flatts Argumente gegen die Kantische Philosophie, besonders aber gegen deren Moraltheologie wurden im Stift über eine breite Linie anerkannt. Das Denken des bereits 1794 verstorbenen Rapps kann man als den frühesten Versuch ansehen, den Kantianismus und die Theologie der Storr-Schule miteinander zu vermitteln.32 Viele Stiftler haben Rapps Anliegen verstanden und nachverfolgen können. Carl Philipp Conz ist einer von ihnen.33 Hölderlin besaß die ersten beiden Bände von Maucharts Allgemeinem Repertorium für empirische Psychologie, worin Rapps langer Aufsatz „Ueber die moralischen Triebfedern“ erschienen war,34 und auch Hegel hat sich intensiv mit diesem Aufsatz beschäftigt.
Gottlob Christian Rapp zwischen Reinhold und Storr-Schule In dem Repertorium erscheint 1792 ein langer Aufsatz von Rapp in zwei Teilen mit dem Titel „Ueber moralische Triebfedern, besonders die der christlichen Religion“.35 In einem Brief von Heiligabend 1794 bittet Hegel Schelling, ihm die Rezension der ersten beiden Bände des Repertoriums, die bereits zwei Jahre vorher in der Oberdeutschen allgemeinen Litteraturzeitung erschienen
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Henrich-Diez, 35. Vgl. dazu den noch immer wegweisenden Aufsatz von Martin Brecht, „Die Anfänge der idealistischen Philosophie und die Rezeption Kants in Tübingen (1788-1795)“. In: Decker-Hauff (Hrsg.), 500 Jahre Eberhard-Karls-Universität Tübingen. Beiträge zur Geschichte der Universität Tübingen 1477-1977. Tübingen 1977, 381-428, bes. 390-393.. Vgl. seine Abhandlungen für die Geschichte und das Eigenthümliche der späteren Stoischen Philosophie, nebst einem Versuche über Christliche, Kantische und Stoische Moral, Tübingen 1794. Die Schrift war bereits im Winter 1792/93 fertiggestellt, vgl. die erste Seite des
„Vorberichts“.
Vgl. Hölderlin, Sämtliche Werke. Stuttgart 1974. Bd 7,3. Dokumente 1822-1846, 390. In Allgemeines Repertorium für empirische Psychologie und verwandte Wissenschaften. Hrsg. von I. D. Mauchart, Bd 1, 1792, 130-156 und Bd 2, 1792, 133-220.
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war, nach Bern zu schicken.36 Niedergeschlagen hat sich Hegels Beschäftigung mit Rapps Triebfederaufsatz in seinen Berner und Frankfurter Schriften, was von der Forschung jedoch bislang kaum berücksichtigt, geschweige denn gewürdigt ist.37 Rapps Vermittlerrolle kommt in dem Triebfederaufsatz besonders klar darin zum Ausdruck, daß er der Offenbarung Gottes, insbesondere der göttlichen Liebe eine entscheidende Rolle für die Moralbegründung zuspricht und zugleich nach einem Weg sucht, den moraltheologischen Beweis irgendwie instand zu halten. Tatsächlich ist die Triebfederproblematik schon sehr früh von den Tübingern aufgegriffen, publizistisch bereits 1789 von Flatt. Bei Diez, Süßkind und Storr, einige Jahre später auch bei dem von Rapp inspirierten Hegel kommt ihr eine eminente Rolle in bezug auf die Kritik an der kantischen Moralphilosophie zu. Die entscheidende und von allen Tübingern für die Triebfederlehre immer wieder herangezogene Stelle ist jene, die schon Reinhold als das Morceau der Kantischen Philosophie herausstellte, daß nämlich ohne „einen Gott und eine für uns jetzt nicht sichtbare, aber gehoffte Welt […] die herrlichen Ideen der Sittlichkeit zwar Gegenstände des Beifalls und der Bewunderung, aber nicht Triebfedern des Vorsatzes und der Ausübung“ seien.38 Die Storrianer halten fest an Kants Aussage in der ersten Kritik. Als paradigmatisch hierfür kann ein Brief Süßkinds vom 2. Dezember 1790 an Diez herangezogen werden. Hierin wirft er Diez vor, nicht zu begreifen, wie er Kant und die christliche Moral so ganz miteinander unvereinbar finden könne, da ja Kant selbst – er bezieht sich auf diese Stelle in der ersten Kritik, auf Schulz’ Erläuterungen, wo sie sich ebenfalls wortwörtlich findet und auf Gespräche mit Rapp – den Ideen von Gott und Unsterblichkeit Brauchbarkeit „für einen nach dem reinen Sittengesetz handelnden“ Menschen eingeräumt habe, zwar nicht, wie er präzisiert, weil damit eine Hoffnung auf künftige Belohnungen verbunden sei, sondern vielmehr als „ein Antrieb, eine Ermunterung, eine Unterstützung für meinen sinkenden Mut beim Kampf der Tugend.“39 Ganz entschieden meint Süßkind dann ferner, daß, sofern wir ja auch sinnliche Wesen sind mit zeitweiligen Anfällen von Schwäche, reiche die bloße Achtung fürs Gesetz nicht aus, meine Pflicht zu erfüllen; dazu bedarf es außerdem eines Mutmachers.40 Und diesen Mutmacher erblickt er in der Reli36
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Vgl. vgl. Schelling-HKA III/1.14. Die Rezension des ersten Bandes des Repertoriums ist in der Oberdeutschen allgemeinen Litteraturzeitung Nr. 86 vom 20. Juli 1792, Sp. 135-142 und die des zweiten Bandes in Nr. 139 vom 21. Nov. 1792, Sp. 975-987 erschienen. Aus Hegels Brief vom 16. April 1795 an Schelling geht hervor, daß er die Rezension erhalten hat, vgl. Schelling-HKA III/1.25 W. Jaeschke, Hegel-Handbuch, Stuttgart/Weimar 2003, 64, vermutet nur, daß Hegel diese Rezension erbittet, weil er sich mit Rapps Triebfederaufsatz beschäftigt hat, zieht daraus aber keine Rückschlüsse für Hegels frühe Denkentwicklung. KrV, A 813/B 841 Henrich/Diez, 215. Vgl. Henrich/Diez, 216.
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gion. Ganz gegen Kant geht er sogar so weit zu behaupten, die Moral habe ihren Grund in dieser. Soweit geht Rapp freilich nicht, obwohl auch er der Religion eine gewisse Primordialität hinsichtlich der Moral einräumt. Ihm geht es zunächst einmal darum, die Aussage der ersten Kritik gegen die der Grundlegung zu verteidigen, wo die Triebfeder von aller Religion entkleidet, bloß noch als Achtung vor dem Gesetz verstanden wird. Gegen Kants Umdeutung der Triebfeder als Achtung macht Rapp geltend, daß eine solche Triebfeder unserer natürlichen Abneigung gegen das unbedingte Befolgen des Sittengesetzes nicht entgegenarbeiten könne, wenn uns dazu nicht auch bestimmte natürliche Inzentive eingepflanzt wären; wenn mithin nicht an die Stelle der bloßen Achtung vor dem Gesetz „Liebe und Tugend in die Herzen der Menschen gepflanzt werden.“41 Die Pointe seiner Kritik ist, daß wir durch das Gesetz allein nicht angetrieben werden können, dem Gesetz Folge zu leisten. Denn in Anbetracht unserer gewaltigen Neigungen ist festzustellen, daß diese uns letztendlich davon abgeneigt machen, dem Gesetz überhaupt Folge leisten zu wollen.42 Diese Konsequenz kann nun nach Rapp dadurch verhindert werden, wenn „die Vorstellung vom Gesetz mit der vom Gesetzgeber in Verbindung“ gesetzt wird, was „geschieht, durch Erhebung der Moral zur Religion.“43 Rapp greift nun für seine Umdeutung der kantischen Moralphilosophie zurück auf Reinholds Merkur-Briefe. Ihnen zufolge ist es zwar die kritische Philosophie, die „auf dem Wege der Vernunft die Vereinigung zwischen Religion und Moral vollendet“ habe, doch ist diese Vollendung „durch das Christenthum auf dem Wege des Herzens eingeleitet worden“44. Diese Rede vom „Weg des Herzens“ übernimmt Rapp von Reinhold, macht sie jedoch für seine alternative Moralbegründung fruchtbar. Bei Reinhold ist dieser „Weg des Herzens“ eine ursprüngliche Bestimmung des Menschen, welche im Laufe der historischen Entwicklung abhanden gekommen ist und durch die Vernunftkritik – und zwar auf dem Standpunkt der Vernunft – erst wieder erneuert wurde. Das heißt, der ursprüngliche „Weg des Herzens“ steht jetzt unter dem „Weg der Vernunft“ und ist – durch die Vernunft geläutert – „Religion des reinen Herzens“45. Rapp spricht dem „Weg des Herzens“ dagegen eine eigene Macht zu, insofern nur dieser das Zeug dazu hat, die „sinnlichen Neigungen des Sub41
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G. C. Rapp, „Ueber moralische Triebfedern, besonders die der christlichen Religion“. In: Mauchard (Hrsg.), Allgemeines Repertorium für empirische Psychologie und verwandte Wissenschaften. Bd 1 Nürnberg 1792, 130-155 (im folgenden Triebfeder 1), Bd 2 Nürnberg 1793, 133-218 (im folgenden Triebfeder 2). – Nach der Flattschen Façon findet Rapp ebd. bei Kant auch eine Stelle (KpV, B 150, AA 5.84), die seine Interpretation unterstützt, was sie freilich nur in Rapps Deutung tut: „Es würde wenigstens […] die Vollendung einer dem Gesetz gewidmeten Gesinnung seyn, wenn es einem Geschöpf möglich wäre, sie zu erreichen, wenn jene ehrfurchtsvolle Scheue in Zuneigung, jene Achtung in Liebe verwandelt würde.“ Vgl. ebd., 145. Ebd., 147. Ebd., 152. Die entsprechende Passage findet sich im dritten Merkur-Brief, 5 (= Briefe I, 147). Dritter Merkur-Brief, 11 (= Briefe I, 154).
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jekts“ mit der moralischen Triebfeder zu durchdringen.46 Das bloße Moralgesetz ist dazu nicht in der Lage, weil es ohne sinnlich gegründete Wirkungen gar keinen Einfluß auf die sinnlichen Neigungen nehmen kann. Genausowenig vermag das eine natürliche Religion, die Rapp im Grunde genommen mit der philosophischen Morallehre identifiziert, gegen die er wie auch Reinhold anführt, sie erwecke noch erwärme das Herz. Unterschwellig führt Rapp gegen Reinhold an, er müsse irgendwie begründen, daß die durch das Christentum hervorgebrachte ursprüngliche, in der Geschichte wieder abhanden gekommene Vereinigung von Religion und Moral auch trotz dieses Verlusts noch immer existiere, um von der kritischen Philosophie erneuert werden zu können. Offenbar empfindet Rapp wenig Sympathie für Reinholds dialektisches Geschichtsmodell, und hält gegen es daran fest, daß jene Vereinigung im Herzen ihren immerwährenden Grund habe, weil sie uns dort offenbart ist. Mit dem Offenbarungsgedanken integriert Rapp nun den Hauptgedanken der Tübinger Storr-Schule in seine Auseinandersetzung mit Reinhold und der kritischen Philosophie. Kraft der Offenbarung hat Jesus Christus den Mangel der antiken Morallehre dadurch aufgehoben, indem er den „reinen Begriff von Sittlichkeit“ als „wirklich verkündigte“ und so Moral und Religion in einer „Religion des reinen Herzens“ miteinander verbunden hat. Entscheidend dabei ist jedoch, daß der „Inhalt seiner Lehre“, wie Rapp schreibt, „in dem moralischen Charakter Jesu gleichsam versinnlicht“ ist.47 Mit anderen Worten, daß Gott wirklich in dieser Welt gelebt, mit uns gegessen und uns geliebt hat, verbürgt die Wirklichkeit der Verbindung von Sinnlichkeit und reiner Vernunft. Die Verbindung von Vernunft bzw. reinem Gesetz und Sinnlichkeit liegt somit präformiert in dem Hauptsatz der christlichen Religion: „Gott ist die Liebe“. Rapps Versuch, dem Sittengesetz eine Wirkung im Sinnlichen zu verschaffen, geht vermutlich auf ein Argument zurück, das Diez gegen die kantische Moralphilosophie einführt. Wie im übrigen auch schon Flatt – allerdings mit einer ganz anderen Konsequenz – fragt Diez, wie die kantische Moraltheologie so nachdrücklich behaupten könne, „daß Gottes Wille mein Wille ist“.48 Ist nämlich der göttliche Wille mein Wille und bestimmt er als ein solcher mein Begehren, verlöre meine Tugend a fortiori ihren inneren Wert. Um dieses Problem zu umschiffen, muß die Moraltheologie von dem Versuch Abstand nehmen, religiöse und vernünftige bzw. moralische Wahrheiten miteinander vermitteln zu wollen. Diez zieht hieraus nicht bloß die Konsequenz, daß Offenbarung und Vernunft völlig inkommensurabel sind, sondern auch, daß Offenbarung jeder Vernunftgrund abgeht und somit für vernünftige Wesen gar keine Möglichkeit hat.
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Vgl. Rapp, Triebfeder 1, 151. Rapp, Triebfeder 2, 206. Henrich/Diez, 228.
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Die Einsicht nun, daß für eine für uns sinnvolle Moraltheorie Gottesgebot und Moral nicht ineinander geschoben werden dürfen, ist nun sicherlich eines der Motive für Rapps Versuch, das Gebot und seine Erfüllung als zwei Seiten der Liebe aufzufassen, die auf jeweils verschiedenen Ebenen zum Tragen kommen. Das an uns ergangene Liebesgebot findet nämlich seine Erfüllung im Sinnlichen. Das heißt, die Forderungen der Pflicht können nur dann praktisch sein, wenn sie sich sinnlich in uns auswirken, mithin wenn das unsere Neigungen bestimmende Herz ein liebendes Herz ist, das sich nicht aus bloßer Pflicht, sondern aus Liebe (zum Vater) dem moralischen Gesetz unterwirft.49 Während die Erfüllung des Gesetzes mit der Offenbarung geleistet ist und so die Bedingung für die Möglichkeit ist, daß sich Sinnlichkeit und Vernunft überhaupt vereinen lassen. Wie gesagt hatte auch Flatt die Kantische Moralphilosophie so ausgelegt, daß Gottes Wille mein Wille sei. Er hat daraus allerdings eine ganz andere Konsequenz gezogen als Diez, der hieraus die Unmöglichkeit von Offenbarung aufzuzeigen beabsichtigt. Wegen des angegebenen Problems kann die Religion ihre Sanktion Flatt zufolge keineswegs in praktischen Gründen haben, sondern nur in theoretischen. Welche diese theoretischen Gründe im Einzelnen sind, darüber verbreitet sich Flatt leider nicht ausführlicher. Allerdings hängen sie mit dem physikotheologischen Beweis zusammen, den er in allen seinen Schriften dem moraltheologischen überordnet. Wichtig ist ihm in diesem Zusammenhang, daß die Offenbarung als Grund und Möglichkeit dafür angesehen werden muß, daß die Vernunft und damit das moralische Gesetz überhaupt etwas wirkliches seien, mithin keine Chimären der Spekulation, sondern durch Jesu Leben und Lehre in dieser sinnlich-natürlichen Welt gewirkte und damit auch verwirklichte, d.h. keine bloß formellen Vernunftwahrheiten sind. Es ist eine der grundlegendsten Einsichten der Storr-Schule, daß jede (subjektiv) idealistische Moraltheologie grundsätzlich zum Scheitern verurteilt ist. Diese Einsicht thematisiert Rapp in seinem Triebfederaufsatz nicht nur ausdrücklich, er macht sie außerdem für eine neue und hinsichtlich der Kantischen Morallehre alternative Moralbegründung fruchtbar. Sein Triebfederaufsatz muß deshalb auch als ein Schlüsseltext für genau jene systematische Problemlage verstanden werden, die der objektive Idealismus beansprucht zu überwinden. Tatsächlich ist das zentrale Anliegen der frühen und durch die StorrSchule inspirierten Tübinger Kritiken am subjektiven Idealismus Kantischer und Fichtescher Provenienz, daß die Formen der Vernunft wirklich sein müssen, um als solche für uns überhaupt irgendwelche Geltungskraft haben zu 49
Reinhold hebt in seinen Merkur-Briefen hervor, daß sich mit kaltem Verstand und kalter Räson kein Herz erwärmen und zu moralisch wertvollen Handlungen antreiben läßt. Deutlicher gegen die moralphilosophische Spekulation kann man nicht sein, wenn, wie Reinhold schreibt, „die Sokrate vergebens versucht haben“, was die Lehre Jesu für die Menschheit geleistet habe, nämlich die moralische Vernunft „in warme Liebe und thätige Ausübung umzuschaffen“. (Dritter Merkur-Brief, 8, = Briefe I, 150).
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können. Die Wirklichkeit der Vernunft, d.h. daß die Wirklichkeit vernünftig ist, ist in Rapps Moraltheologie zunächst noch durch das Leben Jesu verbürgt, das ja den ganzen Inhalt der Offenbarung enthält. In den frühen Schriften bzw. philosophischen Fragmenten Hegels ist das nicht viel anders, denn auch nach Hegel können wir nicht hinter die Offenbarung zurück, durch die das Gesetz erfüllt ist. Die Geschichte des Christentums ist nicht der Abfall von dieser Einsicht, wie Reinhold meint, sondern der Weg ihrer Verwirklichung, sofern es die Moraltheologie Kants ist, die uns unweigerlich auf die Notwendigkeit der Annahme der Offenbarungswahrheit als primordial für alle moralphilosophische Reflexion verweist.
Die Religionsphilosophie Hegels in Tübingen und Bern Es ist tatsächlich unbegreiflich, daß der Einfluß, den Rapps Überlegungen auf Hegels frühe philosophischen Überlegungen in Tübingen und Bern hatten, bislang kaum erkannt ist.50 Im Kommentar zum ersten Band der Gesammelten Werke Hegels kommt sein Name nicht einmal vor, obwohl zweifelsohne klar ist, daß der vielleicht schon im Sommer 1793 niedergeschriebene Text 16, „Religion ist eine der wichtigsten …“, eine unmittelbare Auseinandersetzung mit Rapps Triebfederaufsatz ist. Über die Religion hält Hegel dort gleich eingangs fest, „daß sie das Herz interessirt“ und „der Moralität und ihren Beweggründen – einen neuen erhabenen Schwung“ gibt, um „gegen die Gewalt der sinnlichen Antriebe“ einen Damm aufzuwerfen.51 Kurz darauf folgt fast ein Rapp-Zitat: „die religiöse Triebfedern zum Guthandeln müssen sinnlich seyn, um auf die Sinnlichkeit wirken zu können.“52 Diese wenigen Bemerkungen dürften den philosophischen Hintergrund dieser ersten selbständigen religionsphilosophischen Abhandlung Hegels deutlich als von Rapp inspiriert ans Licht stellen. Doch tut Hegel in dieser Abhandlung auch schon einen bemerkenswerten Schritt über Rapp hinaus, wofür er allerdings auch selbst Anschluß bei Reinholds MerkurBriefen sucht. Die Absicht seiner Untersuchung betrifft nämlich nicht, wie bei Rapp, „welche religiöse Lehren, am meisten Interesse für das Herz haben“, sondern vielmehr, wie sich diese „Lehren und die Kraft der Religion“ in das allgemeine Volksempfinden einmischen lassen.53 Hegel geht es nicht nur um das Problem, wie das Individuum sittlich handeln könne, sondern zu diesem Behufe auch um „Erhebung, Veredelung des Geistes einer Nation“ oder dar50
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Eine der wenigen Ausnahmen ist der Aufsatz von Martin Brecht, „Die Anfänge der idealistischen Philosophie“, siehe oben Anm. 32. Hegel, Gesammelte Werke. In Verbindung mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft herausgegeben von der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften. Hamburg 1968ff. 22 Bände. (im folgenden, Hegel-GW mit Bandzahl) Hegel-GW 1, 85. Hegel-GW 1, 86. Hegel-GW 1, 90.
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um, wie „das so oft schlummernde Gefühl ihrer Würde in ihrer Seele erweckt werde“.54 Ein Volk benötigt die Religion also zur Besserung und zum Glück, indem sie „Unschuld“ und „reines Gewissen“ befördert, wodurch die Seele „von bösartiger Stimmung“ befreit wird und vor der Ausartung behütet bleibt.55 Die Verbindung, die der junge Hegel zu Reinhold herstellt, besteht zunächst darin, daß es auch ihm um eine Form der Volksaufklärung geht. Ferner übernimmt Hegel Reinholds Gedanken, daß Aufklärung nur so weit reichen kann, wie die allgemeine Kultur eines Volkes, d.h. wie es ihm die eigenen natürlichen oder kulturbestimmten Voraussetzungen erlauben. Was einem Volke Gutes getan werden kann, muß immer schon im Volk selbst beschlossen liegen und braucht daher auch nur noch zum allgemeinen Bewußtsein gebracht zu werden. Reinhold nimmt also den für Hegel später so wichtig gewordenen Gedanken vorweg, daß nur ein Volk, das die lutherische Reformation durchgemacht und in sich aufgenommen hat, für die schönen Früchte der Freiheit empfänglich ist und sie außerdem vermag zu realisieren.56 Hegel wie Reinhold geht es um den Brückenschlag zwischen „künstlicher“ Vernunft einerseits und ihrer faktischen Realisierbarkeit anderseits, die ihre Grenzen, aber auch ihre Möglichkeiten in der Volksnatur bzw. Kultur eines Volkes hat. Die kulturbedingte Möglichkeit eines Volkes, aufgeklärt zu werden, kommt in Hegels Fragment in der Unterscheidung zwischen einer objektiven (fides quae creditur) und einer subjektiven Religion zum Tragen. Erstere läßt sich durchaus mit dem von Rapp verwendeten Begriff natürlicher Religion vergleichen, sofern in ihr die allgemeinen Glaubensinhalte, bzw. orthodoxen Glaubensgrundsätze beschlossen liegen, von denen Hegel seinerseits festhält, sie seien für alle Christen ungefähr die gleichen; sie macht die „Masse von religiösen Kenntnissen“ aus.57 Für konkretes moralisches Handeln ankommen tut es allerdings auf die subjektive Religion, die den allgemeinen Religionsglauben praktisch vollzieht und durch welchen Vollzug der Inhalt des Glaubens seine Bestimmung bekommt. Die subjektive Religion hat, so Hegel, den „eigentlich wahren Werth“58 und macht „vorzüglich Eindruk auf das Herz“, da sie ihre „Beweggründe von der Liebe Gottes“ hernimmt.59
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Hegel-GW 1, 86. Hegel-GW 1, 90. Nach Reinhold ist die Reformation „eine der wirksamsten Anstalten […], die Vernunft vom Joche des blinden Glaubens zu erledigen“, und ist allein durch sie „Geschmack und wissenschaftliche Aufklärung in der einen Hälfte von Teutschland einheimisch geworden“, vgl. seinen Aufsatz, „Ehrenrettung der Reformation, gegen zwey Kapitel in des k.k. Hofraths und Archivars, Hrn. M. I. Schmidts Geschichte der Teutschen, 6. Band“, in: Der Teutsche Merkur, Februar 1786, 1. Bd, 116-142, fortgesetzt ebd., 193-228, Beschluß im 2. Bd., April 1786, 42-80, 117 u. 120. Hegel-GW 1, 90. Hegel-GW 1, 89. Hegel-GW 1, 88.
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Obwohl Hegel großen Nachdruck auf die Bedeutsamkeit der subjektiven Religion legt, weil nur sie unserem moralischen Handeln die Triebfedern gibt, ist er sich im Gegensatz zu Rapp der Tatsache bewußt, daß bestimmte natürlich oder kulturell bedingte Umstände den Menschen daran hindern können, sich die Grundsätze der objektiven Religion in dem Sinne einzuverleiben, daß sie subjektiv werden und so tatsächlich Eindruck aufs Herz machen, um ein Handeln zu veranlassen, das in Übereinstimmung mit den zunächst bloß kalten, weil bloß vernünftigen Gesetzen der objektiven Religion ist. Auf solche äußeren kulturbedingten Umstände hatte Rapp nicht achtgegeben. Die subjektive Religion, in der Hegel ähnlich wie Rapp die Triebfeder für das moralische Handeln lokalisiert, bedarf auch der objektiven Religion und zwar in Gestalt der Kirche, die die Offenbarungswahrheit erinnert und auch dann erhält, wenn keiner sie noch kennt oder kennen wollte. Und selbst wenn diese Kirche vielleicht einmal völlig korrumpiert und um die Wahrheit der christlichen Lehre gebracht würde, ist da noch die unsichtbare Kirche oder der „höhere(r) Geist vom Himmel gesandt“, wie es in dem in Hegels Hand verfaßten „Ältesten Systemprogramms des deutschen Idealismus“ heißt. In seinem Triebfederaufsatz bleibt Rapp bei einer subjektiven Religion stehen, die zwar vom Individuum gelebt wird, doch für ihren Inhalt auf die objektive Religion angewiesen ist. Subjektiv machen lassen sich diese Inhalte nun nach Hegel nur in dem Maße, in dem sie in die Volksreligion eingegangen sind. Das heißt, der „Grad von Stärke“, womit „die ganze Masse von ReligionsGrundsäzen“ auf die „HandlungsArt einfließen können“, ist durch die „Volksreligion“ bedingt.60 Die Lehren der Religion müssen nicht nur der Vernunft gemäß sein, sondern auch „so menschlich, daß sie der GeistesCultur – und der Stufe von Moralität angemessen sind auf der ein Volk steht“.61 Hegels Frage ist daher auch, wie „VolksReligion beschaffen seyn“ muß, so „daß sich alle Bedürfnisse des Lebens“, aber auch die „die öffentlichen StaatsHandlungen daran anschliessen“ können.62 Damit formuliert der junge Hegel ein Programm, das in den Grundzügen einerseits zurückgeht auf Reinholds Merkur-Briefe, andererseits ist es über weite Strecken eine eingehende Auseinandersetzung mit Rapps Triebfederaufsatz und dem darin entwickelten Konzept einer subjektiven Religion des liebenden Herzens, kraft der allein ein Damm „gegen die Gewalt der sinnlichen Antriebe“ aufgeworfen werden kann. Hegels implizite Kritik an Rapp ist, daß die subjektive Religion des liebenden Herzens in einem Volk wirklich sein müsse, um ihre Kraft für das Individuum entfalten zu können. Es bedarf eines Volkes, das das Leben huldigt und „unter der Last seiner Ketten seine Jugend-
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Hegel-GW, 1, 86f. Hegel-GW 1, 104. Hegel-GW 1, 103.
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liche Kraft“63 noch nicht verloren hat, um die großen Aufgaben der Vernunft und ihrer Gesetzmäßigkeit in dieser Welt verwirklichen zu können. Eindringlich setzen sich also Hegel und Rapp für die ewige Offenbarungswahrheit ein. Hierin zeigen sie sich nachhaltig von der Storr-Schule geprägt. Auch stellen sich beide gegen Reinholds Auffassung, daß die Offenbarungswahrheiten im Laufe der Menschheitsgeschichte abhanden gekommen und durch die Kantische Vernunftkritik erst wieder erneuert seien. Sie unterscheiden sich aber darin, daß nach Hegel eine Religion, die für den Menschen praktische Wirksamkeit haben soll, Volksreligion werden muß. Nur eine Volksreligion vermag es, den Geist des Volkes zu bilden und „grosse Gesinnungen“ in ihm zu erzeugen. Volksreligion „geht Hand in Hand mit der Freyheit.“64 Letztendlich gilt somit auch für Rapp, daß die bloße „Einschärfung der mancherlei Pflichten […] das Grosse, das ganze aus den Augen“ verliert und „das Bewußtseyn seiner Kraft nicht aufkommen“ läßt, und der „Geist“, „aus dessen Fülle Tugend und jede Pflichtmässigkeit entspringen muß“, nicht gepflanzt wird.65
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Hegel-GW 1, 87. Hegel-GW 1, 110. Hegel-GW 1, 78.
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Die Nacht des Selbstbewusstseins und das absolute Wissen Wenn wir heute über einen Begriff des Selbstbewusstseins reden wollen, so müssen wir immer noch die wesentlichen Attribute in Erinnerung rufen, an denen von Kant ausgehend die gesamte Tradition des deutschen Idealismus festgehalten hat, nämlich die Einheit, die Identität, den Selbstbezug und die Absolutheit, durch welche das Selbstbewusstsein zum Prinzip nicht nur des Wissens, sondern vielmehr der Letztbegründung des Wissens wurde. Kants Satz, das Ich denke begleitet alle unsere Vorstellung, ist der Ausdruck der Einheit und der Identität, die durch die weitere Bestimmung als transzendentale Apperzeption zum reflexiven Prinzip der Objektivität des Wissens, d.h. der Selbstbegründung von jeder Wahrnehmung und von jedem Urteil, wird. Denn auf das Ich denke und auf der transzendentalen Apperzeption gründet nach Kant auch der logische Gebrauch des Verstandes. Wenn weiter dieses Ich denke zu dem Ich = Ich und dadurch zu dem Sichselbstsetzen des Ich erweitert wird, so hat man den Weg zu der Absolutheit des Selbstbewusstseins beschritten und es ist schon klar, wie Hegel uns zuerst gezeigt hat, dass es aus diesem Weg keinen Ausweg mehr gibt, obwohl Fichte nach ihm diesen Weg nicht bis zum Ende gegangen ist. Will Hegel diesen Weg zu Ende gehen, indem er Fichtes pragmatische Geschichte des menschlichen Geistes in einer Phänomenologie des Geistes weiter ausführt, so muss er von dem Grundsatz ausgehen, dass in der Wissenschaft des Wissens (Wissenschaftslehre) das Absolute von Anfang an als erste Voraussetzung und zugleich als Ziel dieses Weges schon bei uns ist, sonst könnte es überhaupt nicht gesucht werden:1 das bedeutet, dass das Bewusstsein auf dem ganzen Weg seiner Erfahrung von dem Absoluten getragen wird bis es am Ende des Weges das Absolute selbst erreicht und sich in absoluter Identität mit ihm stellt; diese Identität heißt das absolute Wissen. Kurz gesagt: das Bewusstsein auf dem Weg der Wissenschaft des Wissens, welche seine Erfahrung ist (die pragmatische Geschichte des Geistes im Sinne von Fichte) muss erfahren, was es im Grunde seiner selbst, d.h. von Anfang an schon ist, nämlich absolutes Selbstbewusstsein. Das kann aber das Bewusstsein nicht erfahren, wenn es selbst von Anfang an ein solches nicht ist. Seine Reflexivität 1
Vgl. Hegel, „Differenz des Fichteschen und Schellingschen System der Philosophie“. In: Hegel, Theorie Werkausgabe in zwanzig Bänden [TWA]. Hrsg. von K.M. Michel und E. Moldenhauer. Frankfurt a.M. 1969-1971. Bd 2 Jenaer Schriften, 8–138; im Abschnitt über das Bedürfnis der Philosophie ist von den zwei Voraussetzungen des Bedürfnisses der Philosophie die Rede: „Die eine ist das Absolute selbst; es ist das Ziel, das gesucht wird; es ist schon vorhanden – wie könnte es sonst gesucht werden?“, 24; die andere Voraussetzung ist das Herausgetretensein des Bewußtseins aus der Absolutheit, die Voraussetzung des Gegenstandes.
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und seine Selbstvergewisserung seines Wissens gründen eben darauf, dass es in sich selbst das Prinzip der absoluten Gewissheit seiner selbst hat und absolutes Selbstbewusstsein ist. Die Erfahrung wird eben als die dialektische Bewegung definiert, welche das Bewusstsein sowohl an seinem Wissen als an seinem Gegenstande ausübt, und woraus ihm der neue Gegenstand entsteht;2 diese Erfahrung wird aber weiter als Reflexion des Bewusstseins in sich selbst beschrieben; erst aus dieser Reflexion in der absoluten Gewissheit seiner selbst geschieht die Selbstbegründung des Wissens, welche den wahren Gegenstand und dadurch das wahre Wissen von der bloßen Meinung scheidet und dadurch den wahren Gegenstand entspringen lässt. Dieser Weg des Wissens durch die Reflexion in sich und der Gewißheit seiner selbst, welche Hegel auch den Weg der Erinnerung nennt, und der dem augustinischen in se ipsum redire, in interiore homine habitat veritas ähnelt und sicher auch den platonischen Begriff der Anamnesis der Ideen als der wahren Welt im Hintergrund hat (die Einleitung redet auch von der Läuterung des Wissens)3, wäre also die Begründung des Wissens, wodurch immer nach der heideggerschen Interpretation sich das Sein des Seienden als absolutes Selbstbewusstsein und zuletzt absolutes Wissen zeigt.4 Damit wäre die abendländische Metaphysik zu ihrem Ende gekommen, bevor sie sich bei Nietzsche als absoluter Wille, bzw. Wille zur Macht offenbart. Das ist, wie gesagt, eine Weise, die Phänomenologie des Geistes zu lesen; der Mangel dieser Interpretation liegt aber darin, dass Heidegger die Wahrheit der Erfahrung des Bewusstseins aus der Transzendentalität des Bewusstseins bzw. aus dem Ich denke, interpretiert; somit wäre der wahre Gegenstand der Erfahrung derjenige, der erst durch die Transzendentalität des Bewusstseins entstanden ist, und das wäre wiederum die Gegenständlichkeit des Gegenstandes, die von dem Gegenstand der bloßen Meinung, d.h. dem nur gemeinten Gegenstand geschieden wird: somit wäre aber das Wesentliche der Erfahrung verloren, welches nicht darin besteht, dass bloß ein wahrer von einem falschen oder gemeinten Gegenstand geschieden wird, und auch nicht darin, das die Gegenständlichkeit des Gegenstandes, seine µορφή zum Erscheinen gebracht
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Vgl. Hegel, Phänomenologie des Geistes. TWA Bd 3, 78. Op. cit.,72; der Weg des natürlichen Bewusstseins, das zum wahren Wissen dringt, wird definiert als „der Weg der Seele, welche die Reihe ihrer Gestaltungen, als durch die Natur ihr vorgestellte Stationen, durchwandert, dass sie sich zum Geiste läutere …“ Gadamer hat auf den pythagoreisch-platonischen Ursprung des reinen Denkens bei Kant und Hegels Logik verwiesen: „Es ist die Reinigung, die Katharsis, durch die sich das Denken von jeder Trübung durch die Sinne befreit“, vgl. H. G. Gadamer, Hegels Dialektik. In: Gesammelte Werke [GW]. Tübingen 1999. Bd 5, Hermeneutische Studien, 53. Wir beziehen uns hier auf die Interpretation von Hegels Phänomenologie, die M. Heidegger in seiner berühmten Schrift „Hegels Begriff der Erfahrung“. (In: Holzwege, Frankfurt a. M, 1972; vgl. 175ff.) vorgelegt hat; desweiteren auf den Band II von Nietzsche, Pfullingen 1961, sowie auf drei Briefen an Gadamer, wovon später die Rede sein wird.
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wird,5 sondern dass ein neuer Gegenstand entsteht. Hegel sagt auch im Hinblick auf dem Weg des Zweifelns, dass dieser nicht einfach als das Rütteln an dieser oder jener gemeinten Wahrheit aufzufassen sei, so dass die Sache dieselbe bleiben würde, wie sie war.6 Der Zweifel sei nicht als Berichtigung eines falschen Wissens aufzufassen, sondern als das Hervorbringen eines ganz neuen Wissens oder eines neuen Gegenstandes: dazu reicht nicht die bloße Transzendentalität des Wissens, die an der transzendentalen Apperzeption und auf die Kategorien oder Funktionen des Ich denke stehen bleibt. Man kann nicht die Erfahrung bloß aus der repraesentatio als der zweiten Präsenz des Gegenstandes und aus dem cogito als co-agitare verstehen, denn damit wäre die Wahrheit auf die Gewissheit reduziert;7 die Reflexion des Bewusstsein in sich als das dialektische Moment der Erfahrung muss in einem dritten Moment seine Erfüllung finden, wo eben der wahre Gegenstand entsteht; dieses drittes Moment ist das Spekulative. Was bedeutet das? Während in dem ersten der Gegenstand nur durch den Begriff gesetzt wird, so findet im zweiten Moment die dialektischen Bewegung des Hin und her Gehens zwischen Begriff und Gegenstand statt, welche den Zweck hat, den Gegenstand in seiner Welt in immer neuer Sicht erscheinen zu lassen. Der Zweck dieser Dialektik ist, wie bei Kant, die Totalität der Bedingungen zu erreichen, in der sich der Gegenstand in seiner Wahrheit zeigt; das kann aber nur dadurch geschehen, dass über die Totalität der Bedingungen, die das Bewusstsein durch seine Reflexion in sich zu erreichen sucht, sich ihm eine bestimmte Totalität der Bedingungen zeigt, welche ein Knoten in der Kette des Absoluten ist; das geschieht eben im dritten Moment, wo die Reflexion in sich oder die Erinnerung des Bewusstseins in Spekulation übergeht. In diesem dritten Moment spiegelt sich im Gegenstande des Bewusstseins, bzw. in seiner Welt, nicht einfach eine platonische Idee, oder ein eidos, sondern das Absolute der jeweiligen Beziehung des Bewusstseins auf seine Welt. Dieser Begriff des Spekulativen, welcher auch Kant am Ende der transzendentalen Dialektik vorschwebte, soll nach dem paulinischen Spruch der Welt als imago dei verstanden werden, d.h. des Sehens Gottes im Bild der Welt wie in einem Spiegel: per speculum in Aenigmate, nach der lateinischen Übersetzung, die von Augustinus dann in die Philosophie überführt wurde.8 Das ist auch der echte Sinn der Erfahrung des Bewusstsein in Hegels Phänomenologie: die Erfahrung des Bewusstseins kommt nie durch das bloße Selbstbewusstwerden oder Reflexion in sich auf ein Resultat, wenn in dieser Vergewisserung des Wissens sich nicht etwas Neues zeigt; die Erfahrung des Bewusstseins ist eine neue Erfah5
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Vgl. M. Heidegger, „Hegels Begriff der Erfahrung“. In: ders., Holzwege. Frankfurt a. M, 1972, 173. Hegel, Phänomenologie des Geistes. TWA, Bd 3, Einleitung Absatz 6, 72. M. Heidegger, „Hegels Begriff der Erfahrung“. In: ders., Holzwege, Frankfurt a.M, 1972, 170-71. Für diesen Ursprung des Begriffes der Spekulation siehe Paulus, 1. Korinther, 13,12; Augustinus, De Trinitate, 15, 11, 19 und ders., Confessionum Liber XIII, 5.6.
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rung des Absoluten, eine neue Gestalt des Absoluten, welche sich dem Bewusstsein durch die gesuchte Totalität der Bedingungen zeigt und das Prinzip einer neuen Auffassung der Welt wird. Die dialektische Bewegung des Wissens geht durch die Reflexion des Bewusstseins in sich in die Spekulation über, welche nichts anderes ist als die Widerspiegelung und somit Erfahrung des Absoluten im Wissen des jeweiligen Gegenstandes des Bewusstseins; diese Bewegung durchläuft die Gestalten des Geistes bis zu der konkreten Totalität des Weltgeistes, wo das Wissen des Absoluten zum dem absoluten Wissen selbst wird. Die Erfahrung ist somit wohl das Sein des Seienden, als Erinnerung in der Geschichte des Seins, welche nach Hegel die Geschichte der Bildung der Welt ist, nicht aber die Seinsvergessenheit des ursprünglichen Sinnes des Seins durch das absolute Selbstbewusstsein. Diese Geschichte der Bildung der Welt, d.h. der Kultur, ist darum nicht von der Rekonstruktion der transzendentalen Bedingungen des absoluten Selbstbewusstsein abhängig, welche das Wissen überhaupt möglich machen: das würde nur zu der Vergewisserung des Wissens, d.h. zu der bloßen Gewissheit führen, nicht aber zu der eigentlichen Erfahrung von Wahrheit, d.h. zu der immer neuen Erfüllung des Wissens durch das sich Zeigen des Absoluten. Zu dieser Interpretation der Phänomenologie des Geistes ist schon Gadamers Hermeneutik gekommen, welche sich von der Heideggerschen wesentlich unterscheidet. Denn erstens hat er immer verlangt, Hegels Phänomenologie rückwärts zu lesen, nämlich von dem absoluten Wissen und dem absoluten Selbstbewusstsein zurück in die Substanz und in das Sein;9 zweitens hat er durch seinen Begriff des wirkungsgeschichtlichen Bewusstseins die Geschichtlichkeit des Wissens und dadurch die Endlichkeit des Bewusstseins immer betont.10 Seine Rehabilitierung des Vorurteils als eigentliche Basis des Urteils hat Heideggers hermeneutischen Kreis des Verstehens weiter entwikkelt und für die eigentliche Erfassung der Geschichte der Bildung der Welt, für die echte Textinterpretation und für das Verstehen anderer Intentionalität, d.h. für den Dialog brauchbar gemacht.11 So dient die Hermeneutik nicht bloß zum Abbau von Missverständnissen in der Interpretation von Texten, sondern 9
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Ich kann hier keinen besonderen Text zitieren, aber es war ein Satz, den er immer wieder in seinen Hegel-Seminaren wiederholte. In seiner Arbeit „Heidegger und die Sprache der Metaphysik“ aber, die wieder in Hegels Dialektik (1971) unter dem Titel „Hegel und Heidegger“ veröffentlicht wurde, betont er immer wieder eine Zweideutigkeit der hegelschen Dialektik, und fragt sich ausdrücklich: „macht es nicht eben die dialektische Selbstbezüglichkeit des philosophischen Gedankens aus, dass das Wahre nicht ein von seinem Werden ablösbares Resultat ist, sondern das Ganze seines Werdens und seines Weges und nichts sonst?“ (91). Vgl. H.G. Gadamer, Wahrheit und Methode. Tübingen 31986, Zweiter Teil, II. Grundzüge einer Theorie der hermeneutischen Erfahrung. 1. Erhebung der Geschichtlichkeit des Verstehens zum hermeneutischen Prinzip, In: ders., GW Bd I. Tübingen 1999, 271 ff., siehe insbesondere 274. Vgl. vor allem H.G. Gadamer, Wahrheit und Methode, 304: Missverständnis abzubauen heißt immer, Suspension der eigenen Vorurteile, um Fragen zu gewinnen, d.h. sich selbst in Frage zu stellen, um den Wahrheitsanspruch des anderen eigentlich zu erfahren.
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zu dem Aufbau des intersubjektiven Verstehens für das gesellschaftliche Sein des Menschen. Zuletzt hat er in Hegels Phänomenologie eine echte hermeneutische Erfahrung am Werk gesehen, als echte Begegnung mit der geschichtlichen Welt des Geistes; er hat aber auch pointiert, dass der Sinn echter Erfahrung darin besteht, immer offen und bereit für neue Erfahrungen zu sein, und nie in eine letzte Erfahrung zu münden, welche unsere Geschichte abschließen würde und unser menschliches Wissen vollenden. Es kann nur geschichtliche Erfahrung und geschichtliches Wissen und Verstehen geben, und nie ein absolutes Wissen.12 Was wir an Gadamers Hegel Interpretation vermissen, ist, dass er nicht recht zwischen Bewusstsein und Selbstbewusstsein unterscheidet, bzw. dass er Bewusstsein und Selbstbewusstsein vermengt. Heidegger hat immer Hegels Begriff des Bewusstseins auf das Selbstbewusstsein zurückgeführt; er hat darin die Bemächtigung des Wirklichen von der Seite des Subjektes, und zwar der absoluten Subjektivität, gesehen und dadurch die Wahrheit immer auf die Gewissheit reduziert;13 was darin ausgeschlossen bleibt, wäre eben die eigentliche Erfahrung der Wahrheit des Seins, welche sich dadurch dem Bewusstsein nie zeigt. Gadamer hat dagegen das Selbstbewusstsein immer auf das Bewusstsein zurückgeführt, nämlich auf das wirkungsgeschichtliche Bewusstsein,14 weil nach ihm das Bewusstsein meiner selbst immer das Bewusstsein des Anderen einschließt, der mir gegenüber steht, sei es in seiner unmittelbaren Gegenwart als Person, sei es durch die Spuren, die er in der Geistesgeschichte durch seine Schrift hinterlassen hat. Indem aber das Verstehen des Anderen und der Geschichte immer unter der Wirkung der Geschichte steht, wird das Selbstbewusstsein, das durch diese hermeneutische Reflexion entsteht, immer zu einem wirkungsgeschichtlichen Bewusstsein. Aus diesem Grund hat Heidegger ihm vorgeworfen, seine bei ihm selbst gelernte Hermeneutik sei nichts anderes als ein Rückfall in die Position des Bewusstseins, er sei nie von seinem Marburger Neukantianismus frei geworden. Gadamer hat 12
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Vgl. H.G. Gadamer, Wahrheit und Methode, Zweiter Teil. II, 3. Analyse des Wirkungsgeschichtlichen Bewusstseins, b. Der Begriff der Erfahrung und das Wesen der hermeneutischen Erfahrung, 361: „Die Dialektik der Erfahrung hat ihre eigene Vollendung nicht in einem abschließenden Wissen, sondern in jener Offenheit der Erfahrung, die durch die Erfahrung selbst freigespielt wird“. Vgl. M. Heidegger, Holzwege, 182, wie auch die Stelle aus Nietzsche, II. Bd, 464, die Gadamer in seiner Arbeit, Die Idee der Hegelschen Logik, zitiert: Reflexion – Gewissheit, Gewissheit – Selbstbewusstsein Hegels Dialektik, 67, und mein Protokoll des Seminars in Heidelberg 1970, das anlässlich des 70. Geburtstags von Gadamer in Heidelberg gehalten wurde, „Kritisches Nachwort zu „Hegels Dialektik“ von H.G. Gadamer und zum Verhältnis HegelHeidegger-Gadamer“. In: Bijdragen, 38 (1977), 176-192, siehe insbesondere 186. Wiederabdruck in: R. Dottori, Die Reflexion des Wirklichen, Tübingen 2006, 417-428. Das ist im Begriff der Geschichtlichkeit des Verstehens des wirkungsgeschichtlichen Bewusstseins impliziert, wie es in diesem Satz von Wahrheit und Methode zu lesen ist: „ Das Verstehen ist selber nicht so sehr als eine Handlung der Subjektivität zu denken, sondern als Einrücken in ein Überlieferungsgeschehen, in dem sich Vergangenheit und Gegenwart beständig vermitteln.“, 295.
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uns wiederum erzählt, er habe schon in den Marburger Jahren gegenüber Heidegger die Kritik geäußert, dass die Endlichkeit des Verstehens sei zuerst ein Element unserer sittlichen Lebenserfahrung, die wir alle kennen, nämlich das Verstehen im Verhältnis von Ich und Du; nur aus der Situation der Andersheit des Anderen, der vor mir steht und mich meiner Grenzen bewusst macht, sei die Geworfenheit des Daseins zu verstehen.15 Daher wehrt sich Gadamer gegen jedes Münden des Bewusstseins in das absolute Wissen. Was aber das absolute Wissen sein soll, bleibt immer noch eine Frage, die nach Gadamer gerade in Bezug auf die hermeneutische Reflexion zu stellen ist; denn auch die immanente Gesetzlichkeit der Reflexion tendiert auf die absolute Vermittlung von Geschichte und Wahrheit, d.h. auf die Aufhebung der eigenen Endlichkeit in der Unendlichkeit des Wissens, die Hegel im Begriff des absoluten Wissens schon gedacht hat. Eine solche Gefahr der Hermeneutik haben nach Gadamer selbst Schleiermacher und Wilhelm von Humboldt übersehen.16 Sicher kann es sich aber im Falle der hermeneutischen Reflexion nicht um das Ganze des Wissens handeln, denn ein solches Wissen wäre für das menschliche Bewusstsein oder Selbstbewusstsein unmöglich. Hat aber Hegel unter dem absoluten Wissen wirklich ein Ganzes des Wissens gemeint? Eher könnten wir an eine Letztbegründung des Wissens denken, welche auf die schon am Anfang gegebene Bestimmung des Selbstbewusstseins gründet, nämlich die Einheit, die Identität, den Selbstbezug und die Absolutheit, durch welche das Selbstbewusstsein zum absoluten Prinzip des Wissens als die Identität von Wissen und Gegenstand wird. Diese Bestimmung war schon immer das Attribut des überlieferten Begriffes der Wahrheit, die für Hegel einfach der Begriff der Erfahrung geworden ist. Diese Erfahrung hat zwei Gegenstände, einen Gegenstand des Bewusstseins und dann das Bewusstsein als Gegenstand des Selbstbewusstseins, deren Wissen zum Ausgleich gebracht werden soll. Das ist die Aufgabe der Wissenschaft der Erfahrung des Bewusstseins. Diese Aufgabe besteht aber nicht in einer Vergewisserung des Wissens, welches sich nur des wahren Wissens des Gegenstandes oder seiner Gegenständlichkeit versichert. Denn jede Erfahrung erzeugt immer einen neuen Gegenstand, bis das Absolute, das an und für sich schon bei uns ist, der Gegenstand dieses Wissen wird, und zwar der letzte mögliche Gegenstand. Denn jede Erfahrung breitet einfach nur den Raum des Erfahrbaren aus, bis das Ganze des Scheins, d.h. die Welt, sowohl in der Ausbreitung des Raumes, die Natur, als 15
16
Dieser sonst nie ausdrücklich an ihn geäußerte Einwand wurde zuerst als Einwand an Dilthey in seinem Lissaboner Vortrag von 1943 formuliert, Das Problem der Geschichte in der neueren deutschen Philosophie, jetzt in: H. G. Gadamer, Gesammelte Werke. Tübingen 1999. Bd 2, 35. Vgl. H.G. Gadamer, Wahrheit und Methode. II Teil. II, 3, α) Die Grenze der Reflexionsphilosophie;. „Am Ende findet doch lediglich in einem unendlichen Bewusstsein das Verstehen seine Vollendung und der Gedanke der Individualität seine Begründung. Es ist die pantheistische Eingeschlossenheit aller Individualität in das Absolute, die das Wunder des Verstehens ermöglicht. So durchdringen sich auch hier Sein und Wissen im Absoluten“, 347.
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auch der Zeit, d.h. die Geschichte, zur Erscheinung kommt; deshalb ist das Subjekt der Erfahrung nicht das allgemeine Bewusstsein oder Selbstbewusstsein, sondern ihre Einheit, der Weltgeist, und die Wissenschaft dieser Erfahrung ist die Wissenschaft des Wissens, das der Weltgeist sowohl in Bezug auf Natur als auf die Geschichte hervorgebracht hat. Absolutes Wissen wäre dadurch ein Wissen des Wissens, wie der Wille zur Macht bei Nietzsche ein Wille zum Wollen ist. Beides wäre für Heidegger die Vollendung der abendländischen Metaphysik.17 Zu entscheiden bleibt noch, in welchem Bezug das Absolute, das bisher immer Gegenstand der Metaphysik war, zu dem absoluten Selbstbewusstsein des Weltgeistes steht, oder umgekehrt, in welchem Bezug der Weltgeist zum Absoluten steht, das will heißen, was die Natur des absoluten Wissens ist: es ist aber klar, dass dieser Bezug nicht mehr derjenige von Subjekt und Objekt, oder von Objektivität und Subjektivität sein kann. Wenn wir aber uns leicht vorstellen können, was für Nietzsche der Wille zum Wille ist, nämlich das Ja-Sagen zum Leben, das sich dem Unwillen und der Resignation Schopenhauers gegenüber setzt, so können wir uns nicht leicht vorstellen, was das Wissen des Wissens bedeuten sollte: geht es einfach um die Struktur und die Form des Wissens überhaupt, nämlich um den Begriff der Wissenschaft? Das ist nicht leicht zu bejahen, obwohl bei dem absoluten Wissen Hegel gerade von dem erreichten Element der Wissenschaft spricht, welcher der reine Begriff ist. Es fragt sich nämlich, um welche Wissenschaft es geht: Um die reine Wissenschaft des Begriffes, d.h. um die Wissenschaft der Logik, welche an die Stelle der alten Metaphysik tritt, oder um die Wissenschaft überhaupt, welche sich dann in die verschiedenen Formen der Wissenschaft niederlegt, die in der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften vereinigt werden? Da das Element der Wissenschaft, der reine Begriff, als absolutes Wissen gerade am Ende der vollständigsten Offenbarung des Geistes sich ergeben hat, so ist es verständlich, dass Hegel später in der Enzyklopädie in Rückblick auf die Phänomenologie sagt, dass man bei dieser Einleitung in die Wissenschaft nicht bei dem Formellen bleiben konnte, sondern konkretere Teile des Wissens des Geistes einbezogen werden sollten. Damit sind aber in dieser sich bloß auf das Formelle beziehende Wissenschaft der Phänomenologie des Geistes schon die weitere Inhalten dieser besonderen Wissenschaften einbezogen, nämlich eine Geschichtsphilosophie, eine Gesellschafts- und Rechtsphilosophie, eine Philosophie der Kunst und der Religion. Es geht wohl bemerkt nicht einfach um Wissenschaften im heutigen Sinne, sondern um philosophische Wissenschaften. Das eigentlich philosophische Element an diesen Wissenschaften ist aber dasjenige, was der Erfahrung des Bewusstsein angehört und 17
Vgl. M. Heidegger, Holzwege, 184, vgl. auch ebenda: Die Zeit des Weltbildes, 94, wo Nietzsche als der letzter Denker der Metaphysik angesprochen wird, und ebenda Nietzsches Wort: Gott ist tot, 233, wo Also sprach Zarathustra mit der Phänomenologie des Geistes gleichgesetzt wird. Vgl. auch M. Heidegger, Nietzsche, (1961), Bd II, 381ff.
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in dieser Erfahrung herausgetreten war, nämlich wie unser Bewusstsein, das seine Vollendung im absoluten Selbstbewusstsein sucht, sich in seinem Bezug zu der Welt gestaltet und auslegt, so dass das Absolute, das immer schon bei uns ist, dem Bewusstsein selbstbewusst wird. Denn es ist gerade das Selbstbewusstsein, als Bewusstsein des Gegenstandes und Bewusstsein seiner selbst, welches die Vermittlung zwischen Substanz und Subjekt immer weiter führt, bis es beides zum Ausgleich bringt; mit diesem Ausgleich ist die Phänomenologie des Geistes vollendet, in ihm besteht das absolute Wissen.18 Was wird aber durch diesen Ausgleich erfahren, der im absoluten Wissen zustande kommt? Es ist diese Erfahrung, welche das Kapitel über das absolute Wissen beschreiben soll. Damit stellt sich die eigentliche Frage: was bedeutet das absolute Wissen? Nach dem bis jetzt Gesagten gibt es zwei Möglichkeiten in der Beantwortung dieser Frage, nämlich einerseits der Begriff der Wissenschaft, den Hegel auch das Element der Wissenschaft oder einfach den Begriff nennt, welcher am Ende der Erfahrung des Bewusstseins durch die Ausgleichung der Substanz und des Selbstbewusstseins zustande kommt. Andererseits wird durch die Verarbeitung des Begriffes des Selbstbewusstseins klar, dass es sich dabei nicht bloß um Wissen handelt, sondern um Praxis; durch sein Verhältnis zum Absoluten, das bei ihm schon ist, erreicht das Bewusstsein die Einheit mit dem Selbstbewusstsein und wird zum Geist und zuletzt zum Weltgeist; so ist am Ende unter der Erfahrung des Bewusstseins, welches zum absoluten Selbstbewusstsein wird, eine Beziehung des Weltgeistes zu dem absoluten Geist zu verstehen, das im Handeln des Selbstbewusstseins in Gesellschaft und Geschichte besteht, also eher Praxis ist, und dessen Sinn sich nicht einfach im Wissen erschöpft. Das wurde nach der ganz richtigen Interpretation von Pöggeler19 gerade im Kapitel der Vernunft Hegel selber klar. Gesetzgebende und gesetzprüfende Vernunft können nie praktische Normen begründen, und bestimmen, was rein rationales Handel sei. Um ethische Normen zu verstehen, muss man sich auf einen höheren Standpunkt als denjenigen der Begründung, d.h. der Vernunft, der ratio, stellen, nämlich auf dem Standpunkt des Geistes und seines Gewordenseins, welches Geschichte ist. Die Wissenschaft der Erfahrung des Bewusstseins muss deshalb zur Phänomenologie des Geistes werden, um das Gewordensein des Geistes erscheinen zu lassen. Das war schon in dem Begriff des Selbstbewusstseins impliziert, den Hegel in diesem Werk aufgestellt hatte: 18
19
Vgl. Hegel, Phänomenologie des Geistes. TWA Bd 3, VIII. Das absolute Wissen, Abs. 13: „Als der Geist, der weißt, was er ist, existiert er früher nicht und sonst nirgends als nach der Vollendung der Arbeit, seine unvollkommene Gestaltung zu bezwingen, sich für sein die Gestalt seines Wesens zu verschaffen und auf diese Weise sein Selbstbewusstsein mit seinem Bewusstsein auszugleichen“, 583. Vgl. eine der frühesten Arbeiten von O. Pöggeler, „Die Komposition der Phänomenologie des Geistes“. In: Hegel Studien. 1(1961), 255-294; sowie ders., Hegels Idee einer Philosophie des Geistes. Freiburg i. B. 1973, 21996.
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das Bewusstsein seiner selbst ist nicht bloß Bewusstsein dessen, was das Bewusstsein weiß, also repraesentatio, sondern Selbstbezug, appetitus, welches aber vor allem Begierde um Anerkennung ist, und zu dem Kampf auf Leben und Tod, Furcht und Knechtschaft, Zucht des Dienens und Arbeit des Gehorsams führt, bis der fremde Sinn der Arbeit zum rechten eigenen Sinn wird, ohne doch in Eigensinn zu versinken. Dadurch kommt auch der Begriff des Geistes zum Erscheinen, ein Ich, das Wir, und ein Wir das Ich ist, und das eröffnet damit nicht nur den Weg in die Geschichte, sondern auch das Verhältnis zum Absoluten. Da aber das Absolute noch nicht als absoluter Geist begriffen wird, bleibt das Selbstbewusstsein ein unglückliches Bewusstsein, so dass die Erfahrung des Bewusstseins weiter gehen soll. Das gibt uns den Wink für den eigentlichen Begriff der Erfahrung als des Weges des Bewusstseins, den Hegel einen Weg der Läuterung der Seele nennt: Erfahrung wird nicht bloß als ein Weg der Vergewisserung des Wissens oder der Wissensbegründung verstanden werden, sondern eher als Welterfahrung im Sinne der praktischen Erfahrung, welche Erfahrung zugleich ein Erscheinen des Geistes in der Geistesgeschichte ist. Was Hegel in der Einleitung im platonischen und christlichen Sinne Läuterung der Seele nennt, tritt am Ende des Werkes als das Problem der Rechtfertigung des Selbst und der Legitimierung des Bösen wieder auf. So rückt das absolute Wissen in die Nähe dessen, was Nietzsche die Legitimierung des Lebens nennt, die mit der Legitimierung seiner selbst verschränkt ist.20 Hier treffen wir auf die Interpretation von Paul Ricoeur, der das ganze Problem mit Freuds Psychoanalyse und seiner Kritik der Religion in Beziehung bringt. Wie Gadamer und zum Teil Heidegger vermengt auch Ricoeur Bewusstsein und Selbstbewusstsein, und sieht sogar den Zweck der Hermeneutik in der Demystifizierung des Bewusstseins. In dem Vortrag Hermeneutique et Réflexion, den er in Rom 1962 bei den internationalen Kolloquien von Enrico Castelli hielt,21 vertrat Ricoeur sogar die These, dass die Lösung des Problems 20
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In einer Aufzeichnung im Willen zur Macht schreibt Nietzsche: „Gegen 1876 hatte ich den Schrecken, mein ganzes bisheriges Wollen kompromittiert zu sehen, als ich begriff, wohin es jetzt mit Wagner hinauswollte: und ich war sehr fest an ihn gebunden. (…) Um dieselbe Zeit schien ich mir wie unauflösbar eingekerkert in meine Philologie und Lehrtätigkeit – in einem Zufall und Notbehelf meines Lebens –: ich wusste nicht mehr, wie herauskommen, und war müde, verbrannt, vernutzt. Um dieselbe Zeit begriff ich, dass mein Instinkt auf das Gegenteil hinauswollte als der Schopenhauers: auf eine Rechtfertigung des Lebens, selbst in seinem Furchtbarsten, Zweideutigsten und Lüghaftesten: – dafür hatte ich die Formel ‘dionysisch’ in den Händen“. Vgl. Nietzsche, „Wille zur Macht“. In: ders., Gesammelte Werke, Musarionsausgabe, München 1920ff., Bd XIX, 336 ff. Hier zitiert nach M. Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. GA, Bd 29-30, 108. Vgl. P. Ricoeur, „Hermeneutique et Réflexion“. In Castelli (Hrsg.), Demittizzazione e Immagine. Archivio di Filosofia. Padova 1962, 19-34. An diesen von 1961 bis 1977 jährlich von E. Castelli organisierten Kolloquien über das Problem der Entmythologisierung nahmen außer P. Ricoeur die wichtigsten europäischen Denker des vergangenen Jahrhunderts teil, nämlich E. Levinas, H.G. Gadamer, K. Kerenyi, K. Loewith, X. Tillette, A. De Wahlens, Jacques Lacan, U. Eco, G. Fessard, J. Ellul, R. Panikkar, usw.
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der Legitimierung oder Selbstrechtfertigung des Bewusstseins in der Hermeneutik der Beziehung zwischen dem Bewussten und Unbewussten zu suchen sei. Dazu zog er natürlich Freud ins Spiel: das Bewusstsein ist nicht die erste Realität, die wir erkennen, sondern die letzte; man muss erst zu ihm kommen, und nicht von ihm ausgehen. Vor allem gibt es nach Ricoeur einen zweifachen Zugang zum Bewusstsein, oder eine zweifache Hermeneutik. Er zählt die Psychoanalyse zu der ersten und Hegels Phänomenologie des Geistes zu der zweiten. Wesentlich ist aber für Ricoeur einzusehen, dass die hermeneutische Reflexion beiden folgen, sie vergleichen und integrieren soll. Wie aber? Wenn wir uns an die Hermeneutik des Bewusstseins wenden, welche von der Psychoanalyse geführt wird, so sehen wir, dass ihr Zweck darin besteht, das Vorrecht des Bewusstseins abzubauen; dieses Vorrecht fasst seine Wurzeln im menschlichen Narzissismus, wie es in einer Schrift Freuds von 1917, Ein Hindernis auf dem Weg der Psychoanalyse, behauptet wird; dieser Narzismus ist das erste und grundlegende Hindernis in der Demystifizierung des Bewusstseins, hat aber inzwischen, laut Ricoeur, drei wesentliche Niederlagen erfahren; die erste war die kosmologische Niederlage, als nach Kopernikus die Erde, und damit der Mensch, nicht mehr im Zentrum der Welt steht; durch Darwin kam die zweite Niederlage, die biologische Niederlage, welche die menschliche Illusion zerstörte, außerhalb der Tierwelt zu stehen; die dritte Niederlage war nach Ricoeur die schlimmste für den menschlichen Narzissmus, und kam durch die Psychoanalyse zustande, welche lehrte, dass „das Ego nicht mehr Herr in seinem eigenen Haus ist“.22 So wurde das Unbewusste, das der Mensch wegen seines Narzissmus nicht erkennen kann, zu dem innersten Kern des Ego. Wegen dieses Narzissmus, der auf der Illusion des Bewusstseins basiert, musste die Philosophie eine schwerwiegende Entscheidung treffen, nämlich von der bloßen Beschreibung des Bewusstseins zu einer Topographie des psychischen Apparats und somit zu einer scheinbar naturalistischen Methoden übergehen. Dagegen handelte es sich bloß um eine weniger bornierte Ansicht des menschlichen Ego und um die Beschreibung einer Etappe auf dem Weg des Bewusstseins, das durch die Ananke sich der Annahme des Prinzips der Realität öffnen sollte. Das musste aber zu einer ganz neuen Betrachtung des Bewusstseins und seines Bezuges zu dem Unbewussten führen, nämlich zu der Dialektik zwischen dem Bewussten und dem Unbewussten. Das will nicht heißen, dass man den Standpunkt des Bewusstseins einfach aufgeben soll, sondern dass man dessen Sinn erneuern muss. Der Übergang zu der topographischen und ökonomischen Betrachtung der Dialektik zwischen dem Bewussten und Unbewussten bringt die Analyse dazu, das Bewusstsein als ein modus existendi zu betrachten, der sein Anderes in sich selbst hat, das Unbewusste. Was gibt uns nun diese Betrachtung? Das lässt sich nach Ricoeur durch einen Satz von Freud sagen: „Das Bewusstsein ist nicht unmittelbar, sondern vermittelt; es ist 22
Op.cit., 25f.
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nicht eine Quelle, sondern ein Ziel, nämlich immer mehr selbstbewusst zu werden“. Konnte aber dieser Satz nicht auch von Hegel ausgesprochen worden sei? Bildet er nicht den Leitfaden der Entwicklung seiner Phänomenologie? Ricoeur zeigt, dass es hier einen wesentlichen Unterschied gibt, denn es handelt sich nun bei Freud um den bekannten Prozess der Tendenz zu der Wiederholung und der Regression, welche immer die Rückkehr des Verdrängten mit sich zieht und die Menschen immer zu den vergangenen Stadien der Kindheit zurückführt. Das totemische Abendmahl, welches in den religiösen Riten evoziert wird, das die Szenerie des Vatermordes aufstellt, unterstützt die regressiven Tendenzen in der Geschichte der Menschheit. Das Problem des Bewusstseins besteht eben darin, sich von der Vorstellungen der eigenen Kindheit zu lösen, um ein Erwachsener zu werden; wie soll aber das geschehen? Dazu taugt nach Ricoeur die Alternative zu dieser Hermeneutik des Bewusstseins, nämlich die hegelsche Phänomenologie. Diese lässt uns nach Ricoeur immer neue Gestalten des Bewusstseins, immer neue Symbolen entdekken, die nicht einfach zu dem Bewusstsein gehören, und auch nicht auf das Niveau der libido zurückzuführen sind. Sie gehören zu dem, was Hegel den Geist nennt, der etwas Konkreteres und Höheres als das Bewusstsein ist, und der das Bewusstsein nach vorwärts zieht. Es bleibt zwar auch in der Phänomenologie das Prinzip bestehen, dass das Bewusstsein als unmittelbares sich selbst nicht erkennt, wie bei Freud, und es bleibt auch somit die Dialektik zwischen Bewussten und Unbewussten bestehen, wie die Erfahrung der griechischen Welt uns zeigt; obwohl aber hier Hegel uns den Kampf zwischen männlichen und weiblichen Gesetz als Kampf des täglichen und nächtlichen Prinzips beschreibt, und sogar die Geschichte Ödipus interpretiert, scheint Ricoeur zu meinen, dass es sich bei Hegels Phänomenologie um etwas ganz anderes als Freuds Hermeneutik handelt. Der Grund liegt darin, dass die Bewegung und die Gestalten des Bewusstseins, die beschrieben werden, sich nicht einfach auf die Dialektik der sexuellen Triebe und der Konflikte der ersten Kindheit zurückführen lassen. Sie gehören vielmehr in den Prozess der Bildung des Bewusstseins und seiner Reflexion, wodurch der Mensch zu einem erwachsenen, gebildeten und ethischen Subjekt wird. Dieser Prozess wird aber nach Ricoeur nicht vom Bewusstsein geführt, sondern vom Geist, und geht auch durch das, was Hegel den objektiven Geist nennt, d.h. die Vermittlung durch die Institutionen, die Denkmäler der Kunst und der Kultur, wovon das Bewusstsein nur die introvertierte Seite bildet. Deshalb kann man diesen Prozess nicht mit der Gestalt des Narzissmus, den Illusionen und Verstellungen des Bewusstseins vermischen; wir haben es hier nicht mit psychologischen Eigenschaften des Ego zu tun, und deshalb auch nicht mit einer Psychologie des Bewusstseins, sondern mit einer Metapsychologie, da wir über den Sinn der letzten Realitäten des Bewusstseins reden, das Unbewusste und was zu ihm gehört, nämlich nicht einfach das Bewusstsein, sondern den Geist. Die beide Metapsychologien sind nach Ricoeur die freudische und die hegelsche Hermeneutik, die er irrigerweise die zwei
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sciénces de l’interpretation nennt. Wir müssen dagegen sagen: art de l’interpretation, wenn es sich wirklich um Hermeneutik handelt, denn bei einem so komplexen Phänomen wie dem Geist kann man sowieso nicht von Wissenschaft reden. Dasselbe gilt aber auch für die Psychoanalyse, denn Ricoeur selbst muss zugeben, dass es hier nicht um Psychologie, sondern um Metapsychologie geht. Wie dem es auch sei, Ricoeur pointiert den Vergleich zwischen Freuds Psychoanalyse und Hegels Phänomenologie als den Streit zwischen zwei Gegenbewegungen folgendermaßen: die erste ist analytisch und läuft regressiv zum Unbewussten, die andere ist synthetisch und tendiert progressiv zu dem Geist hin. In der Phänomenologie besteht die Wahrheit einer Gestalt des Bewusstseins in der nachkommenden Gestalt, die Bewegung geht immer vorwärts zu einem Ziel, während das Verstehen der Psychoanalyse immer zurück zum Anfang, zu der Kindheit läuft, die ihn gefangen hält, wie es bei keiner anderen Art von Tieren geschieht. Das Unbewusste ist das Prinzip jeder Regression, während das Bewusstsein ein Ziel ist. Der Geist ist die Ordnung des letzten, während das Unbewusste die Ordnung des Ersten und Ursprünglichen ist. Zusammenfassend heißt das: nach Freud läuft die Demystifizierung des Bewusstseins über eine Archäologie des Bewusstseins selbst, während die hegelsche Hermeneutik des Bewusstseins uns eine Eschatologie des Bewusstseins anbietet. Was aber unter Geist zu verstehen ist, scheint bei Ricoeur nicht so klar zu sein; er scheint immer Bewusstsein und Geist gleichzusetzen, und schweigt über das Selbstbewusstsein und seine Beziehung zum Bewusstsein; besteht aber nicht in dieser Beziehung das Geheimnis dessen, was Geist genannt wird? Ricoeur merkt, dass er dieser Frage schuldig bleibt, und geht deshalb dazu über, das Bewusstsein unter dem Schlagwort der Reflexion zu thematisieren. Damit werden die zwei Merkmale des Selbstbewusstseins analysiert, von denen wir ausgegangen waren, die Selbstreflexion und Selbstbezug, ohne welche auch keine Identität des Selbstbewusstseins möglich ist. Aber um welche Reflexion geht es ihm? Er scheint sogar Reflexion und Philosophie zu identifizieren,23 indem die Philosophie wesentlich die Reflexion über sich selbst ist, tritt er aber hinter Hegel zurück, welcher zwischen zwei Momenten der Reflexion wohl unterscheidet; man kann nicht die Reflexion des philosophischen Bewusstseins, welche der Erzähler und zugleich Zuschauer der Bewegung des Bewusstseins ist, mit der inneren Reflexivität des Bewusstseins selbst verwechseln, welche in der Erfahrung geschieht, bzw. die Struktur der Erfahrung ausmacht. Ricoeur sieht richtigerweise in der Reflexion die Selbstsetzung des Ich, die von Fichte an den Anfang der Wissenschaftslehre gestellt wurde. Weiter sieht er in der Reflexion die Anstrengung, das Ego des Ego cogito im Spiegelbild seiner Werke und seiner Akte zu erfassen; so unterscheidet er diese Reflexion von derjenigen Reflexion der unmittelbaren Anschauung, wodurch das Ich 23
Siehe op.cit., 28: “La philosophie est réflexion, nous voulons dire réflexion sur soi-meme.“
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sich selbst setzt als Ich denke, Ich bin, und merkt einen Unterschied zwischen der kantischen transzendentalen Apperzeption des ‘Ich denke’ und dem Ich = Ich von Fichte. So behauptet er auch, dass die Reflexion des Bewusstseins keine Selbstbegründung des Wissens zum Ziel hat, und mit Jean Nabert, dass die Reflexion weniger eine Rechtfertigung des Wissens und des Wollens ist, als vielmehr die Vorstellung unseres Willens zur Existenz.24 So ist das Bewusstsein ein Ziel, und die Reflexion eine Aufgabe. Zuletzt sieht er die Reflexion als ein ethisches Phänomen, als die Anstrengung, uns den Akt unseres Existierens wieder anzueignen, durch die Werke, die dieses Streben, désir, beweisen und bezeugen. Somit erkennt er wohl den Unterschied zwischen dem kantischen und dem Fichteschen Begriff des Ich denke, den wir mit Fichtes Worten so pointieren können: die Wissenschaftslehre ist nicht so sehr eine Begründung unseres Wissens, sondern eine pragmatische Geschichte des menschlichen Geistes. Gerade deshalb meint aber Ricoeur, dass die Reflexion zur Interpretation und zur Hermeneutik werden soll. Die Interpretation soll die Wurzel und den Bezug klarmachen, welcher zwischen dem Akt unseres Existierens und den Zeichen bestehen und den wir durch unsere Werke ausdrücken. Ich zitiere eine Stelle, die wesentlich ist für den Übergang von Reflexion zu Interpretation, wodurch die Hermeneutik, die eben aus diesen zwei Momenten besteht, ins Spiel kommt: „la réflexion doit devenir interpretation, parceque je ne peut saisir cet acte d’exister ailleurs que dans des signes éparse dans le monde. C’est pourqoui une philosophie réflexive doit inclure les résultats de méthodes et des présuppositions de toutes les sciences qui tentent de déschiffrer et d’interpreter les signes de l’homme.“25 Hier geht aber Ricoeur einen anderen Weg, als die gadamersche Hermeneutik. Sein Buch Finitude et culpabilité besteht darin, die Zeichen des Bösen und ihre Bedeutung innerhalb des menschlichen Handels zu deuten. Eben darin besteht nach ihm auch das Werk Nietzsches und dessen Nähe zu Freud ist auch der Grund, weshalb Freud in ihm einen der großen Meister des Verdachtes gesehen hat. Wenn nämlich das Bewusstsein ein falsches Bewusstsein ist, und zwar nicht nur weil die Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne dasselbe sind, sondern vor allem weil die Wahrheit des Bewusstseins für eine moralische Wahrheit ausgegeben wird. So besteht die Aufgabe der Interpretation darin, durch die Deutung der Zeichen (nach Freud der Träume) das Bewusstsein zu der Erkenntnis seiner selbst zu führen, auch wenn es sich um eine indirekte, vermittelte und verdächtige Erkenntnis handelt; das Bewusstsein soll wie ein Symptom und ein äußeres Zeugnis unserer eigenen Identität gedeutet werden, damit es zu dem Bewusstsein seiner selbst, d.h. zum Selbstbewusst24
25
Vgl. J. Nabert, Eléments pour une Etique, PUF, Paris, 1943, 2° avec une Préface de P. Ricoeur, Aubier, Paris, 141: „L’ordre du devoir contribue a reveler au moi un désir d’être dont l’approfondissement se confond avec l’étique elle même.“ Der Text von Nabert wird in einem Vortrag von Ricouer an denselben Gesprächen in Rom zitiert, Démythiser l’accusation, in: Castelli (Hrsg.), „Demitizzazione e morale. In: Archivio di Filosofia, Padova, 1965, 49-66. P. Ricoeur, „Hermeneutique et Reflexion“. In: Archivio di Filosofia, 1962, 31.
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sein, kommt. In seinen späteren Werken entdeckt dann Ricoeur die Identität des Selbstbewusstseins als identité narrative (Temp et récit, Bd. III) und unterscheidet in einem seiner letzten Bücher, Soi même comme un autre, zwischen seiner selbst als idem, und seiner selbst als ipse, d.h. zwischen der beschreibbaren Identität der Person, und der existentiellen Identität des Selbst. Die erste nennt er memêté, und ist substantiell und objektiv feststellbar, wenn sie auch als Charakter und psychische Identität verstanden wird; sie deckt sich zum Teil mit der zweiten Identität des Selbst, die er ipseité nennt, indem beide eine zeitliche und reflexive Eigenschaft haben, unterscheidet sich letztere aber von der ersten, weil das Selbst als das versprochene Wort, d.h. als an sich haltendes Selbst und somit als Selbst-Ständigkeit verstanden wird, wie Heidegger es tut. Dadurch wird aber die bloße identité narrative zu der Identität des ethisch handelnden Selbstbewusstseins, dessen Selbstbezug aber immer in Bezug auf ein Anderes steht, so dass es zu einem soi meme comme un autre wird.26 Kehren wir zu Hegel zurück, so bleibt nach Ricoeur als Unterschied zwischen Hegel und Freud, zwischen Phänomenologie und Psychoanalyse, die er beide ‘Hermeneutik’ nennt, die schon genannte Unterscheidung zwischen einer Hermeneutik als Archäologie des Bewusstseins selbst (Freud) und einer Hermeneutik als Eschatologie des Bewusstseins. Wenn er doch zuletzt für die Eschatologie des Bewusstseins plädiert, so meint er aber auch, dass wir Hegel nicht bis zu Ende folgen können, und zwar gerade weil diese Eschatologie bei dem absoluten Wissen endet, welches aber mit dem Problem des Bösen nicht fertig werden kann. Im Grunde vollziehen beide Alternativen der Hermeneutik eine ontologische Abkürzung des Bewusstseins und seiner Reflexivität, indem beide nur einen Aspekt des Bewusstseins und nicht den Zusammenhang der beiden Momente des Archäologischen und des Eschatologischen denken wollen; es geht darum, den Zusammenhang zu verstehen, der zwischen dem phantasme und dem symbole besteht, zwischen dem Bild der archaischen und kindlichen Angst und dem Bild, das auf die Vollkommenheit und Rettung deutet und sich in die verschiedene Symbolen des Heiligen niederlegen. Die hegelsche Eschatologie endet dagegen mit dem absoluten Wissen und das ist, was Ricoeur an der hegelschen Phänomenologie und Hermeneutik nicht akzeptieren kann. Der Grund für diese Ablehnung ist, dass die Erforschung des Bösen, bei welcher Hegel stehen bleibt, mit einer Symbolik des Bösen und des ihm entgegen gesetzten Heiligen fertig zu werden versucht, welche, so Ricoeur, zu einem Missverständnis des Bösen führt. Die Symbolik des Bösen lässt sich nicht unter Begriffe bringen und auf eine Dialektik der Vernunft reduzieren, welche eine theologische Rechtfertigung erlaubt; diese Interpretation Hegels müssen wir jetzt nachprüfen, um zu einer Klärung desje26
Vgl. P. Ricoeur, Soi-même come un autre, Editions du Seuil, Paris, 1990, 143 ff., wo er die identité narrative als die Basis der Unterscheidung der persönlichen Identität sieht; er prüft dabei die Paradoxien des Selbst, die es seit Locke und Hume bis hin zur heutigen analytischen Philosophie gibt.
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nigen Moments des Selbstbewusstseins zu kommen, den Hegel mit dem Ausdruck der „tiefen Nacht des Selbstbewusstseins“ bezeichnet. In der Tat, wenn wir die gesellschaftlichen Erfahrung der Ich und Du Beziehung auf den Weg zu dem absoluten Geistes betrachten, so treffen wir wieder das alte theologische und philosophische Problem des Bösen und dadurch der Selbstrechtfertigung Gottes, d.h. der Theodizee. Dieses Problem wird zuerst im Kapitel des moralischen Handelns gestellt, und dann im nächsten Kapitel über die Religion als Problem der Versöhnung der menschlichen und göttlichen Natur wieder angegangen. Auf der subjektiven Seite des Handelns führt die wesentliche Erfahrung des Gewissens auf das Verzeihen des Bösen, während auf der anderen Seite in der Religion das objektive Problem der Rechtfertigung des Bösen und der Versöhnung der menschlichen und göttlichen Natur auf die Erfahrung des Todes führt, die wesentlich für das Selbstbewusstsein war, und zuletzt auf den Tod Gottes. Erst nach der Annahme des Todes des Selbstbewusstseins und der Substanz, die in der Erfahrung der offenbaren, bzw. absoluten Religion bewusst wird, kann das natürliche Bewusstsein aus der ärmsten Gestalt der schönen Seele heraustreten, welcher die Kraft der Entäußerung fehlt, sich zum Dinge zu machen und das Sein zu ertragen.27 Hegel verweist gerade hier auf die Gestalt des unglücklichen Bewusstseins, und geht auf das Problem des Bösen ein.28 Erst nach der spekulativen Auffassung der weltgeschichtlichen Erfahrung der absoluten Religion kann das Selbstbewusstsein aus der absolute Gewissheit des Selbst, welche im Gewissen liegt und seine eigene Selbstbeschränkung ausmacht, heraustreten. Hegel hatte gerade am Anfang des Kapitels über das Gewissen drei Gestalten des Selbst unterschieden.29 Das erste Selbst ist das abstrakte Selbst der Person, das im Zerfall des sittlichen Geistes durch das römische Recht zustande gekommen ist; ihr Dasein ist nur Anerkanntsein und es bleibt deshalb das substanzleere Selbst der Person, die leere Wirklichkeit der Allgemeinheit. Das zweite Selbst ist das Selbst der Welt der Bildung, welches aus ihrem Geist der Entzweiung entstanden ist, die absolute Freiheit; hier hat sich die unmittelbare Einheit der Einzelheit von der Allgemeinheit des Anerkanntseins und des all27
28 29
Hegel, Phänomenologie des Geistes. TWA Bd 3, 483. Wir müssen daran erinnern, dass Hegels Geist des Christentums gerade in Jesus die schöne Seele gesehen hatte, der aber wegen seiner Schönheit jede Beziehung mit der verdorbenen Welt fliehen müsste und deshalb seinem Schicksal unterliegen; deshalb hatte dort der Tod nur diese negative Bedeutung. Das Hegel hier noch Jesus und den Geist des Christentum im Sinne hat, wenn er der schönen Seele redet, wird auch aus dem Spruch klar, welche hier die religiöse Gemeinde der religiösen Erfahrung des Gewissens charakterisiert, „das Sprechen der Gemeinde über ihren Geist“ (482), Ob er hier unter der schönen Seele Hölderlin oder Novalis meinte, wie auch unter der Selbstanschauung Gottes eher Fichte, ändert nichts an der Sache, worum es wesentlich geht, denn es handelt sich immer um die Erfahrung der Trennung des religiösen Bewusstseins von seiner Welt, das Hegel las das unglückliche Geist des Christentums ansah, das mit der ursprünglichen christlichen Gemeinde anfing, dann im Mittelalter, und schließlich in der nachkantischen Philosophie und in der Romantik wieder auftrat. Vgl. Hegel, Phänomenologie des Geistes. TWA Bd 3, 485ff. Vgl. Hegel, Phänomenologie des Geistes. TWA Bd 3, 465.
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gemeinen Willens (Rousseaus volonté genérale) getrennt, und diese hat kein von dem Selbst freies Dasein, sondern wird der Gegenstand der vernichtenden Kritik von Seiten der Bildung, welche die allgemeine Anerkennung des Rechtes zerstört; das Selbst wird dadurch zu dem weltlosen Selbst der absoluten Freiheit, das jeden Inhalts entbehrt. Das dritte Selbst ist das Selbst des Gewissens; dieses tritt zuerst als das moralische Bewusstsein auf, welche wohl die Allgemeinheit der Pflicht als eine eiserne Wirklichkeit von seiner eigenen Natur unterscheidet und ihr ein freies Dasein erkennt, aber dadurch in die Bewegung der Verstellung der beiden Momenten übergeht, bis es als Gewissen den Inhalt der leeren Pflicht, des leeren Rechtes und der leeren Allgemeinheit des Willens in die Selbstgewissheit des handelnden Selbst zurücknimmt und darin sein eigenes Dasein hat, wie es auch diesen sonst leeren Mächten Dasein gibt.30 Es ist klar, dass diese drei Gestalten des Selbst mit drei wesentlichen Momenten der europäischen Geschichte identifiziert werden, der griechischen, der lateinischen und der germanischen Welt, denen jeweils drei Momente von der Seite der Substanz entsprechen, die mit ihnen in die Einheit des Begriffes zurückgeführt werden sollen, nämlich die einfache Substanz, ihre Entäußerung und ihre wiederhergestellte Einheit als Subjekt: „Substantialität überhaupt hat die Sache selbst in der Sittlichkeit, äußeres Dasein in der Bildung, sich selbst wissende Wahrheit des Denkens in der Moralität; und im Gewissen ist sie das Subjekt, das diese Momente an ihm selbst weiß“.31 Das Gewissen aber, als Einheit des Wesens und des Selbst, das in sein Innerstes zurückkehrt und in der Anschauung des Ich = Ich verbleibt, ist die absolute Gewissheit, in welche die Substanz sich aufgelöst hat, und die absolute Unwahrheit, die in sich zusammenfällt; „es ist das absolute Selbstbewusstsein, in welches das Bewusstsein versinkt“. Hierin liegt die Grenze der Identität, als die Struktur des Ich = Ich; die absolute Identität bleibt leer, wenn sie von dem substantiellen Bewusstsein getrennt bleibt. Das absolute Selbstbewusstsein ist als absolute Identität kein Absolutes; „Absolut“ meint nicht bloß „getrennt von …“, sondern vielmehr die eigenen Aufgaben der Legitimierung seiner selbst zu erfüllen. Das Gewissen muss über das leere Bewusstsein der Pflicht, wie auch über die Innerlichkeit der schönen Seele hinausgehen, um die Rechtfertigung seiner selbst zu absolvieren. Das geht nur über die Entäußerung des gesellschaftlichen Handelns, über die Legitimierung durch die allgemeine Anerkennung und das Recht, also über den Weltgeist und letztlich über die religiöse Erfahrung; denn die Frage ist, wie die Einheit und Identität des Selbstbewusstseins und der Substanz sich nach seiner Entäußerung wieder herstellen lassen. Das ist gerade das Problem, das im Kapitel des absoluten Wissens behandelt wird. Die Absätze 1-7 des Kapitels, wo die vorherigen Erfahrungen zusammengefasst werden, haben die Dialektik von Wissen und Wesenheit des Wirklichen zum Thema. Dagegen die Absätze 8 bis 10 reden wesentlich von 30 31
Vgl. op. cit., 466. Op. cit., 471.
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derjenigen Erfahrung, die das Handeln des Selbst, das Verzeihen, die Erfahrung des Bösen und die Versöhnung zum Thema haben. Durch das Verzeihen des gewissenhaft handelnden Selbst von der Seiten des allgemeinen Bewusstseins des Rechtes erfolgt auch diejenige Legitimation des Selbst, die Hegel im Abs. 9 des Kapitels des absoluten Wissens mit den berühmten Satz pointiert: „das Selbst führt das Leben des absoluten Geistes durch“.32 Nur im absoluten Geist findet das Selbst seine eigentliche Legitimierung. Gleich davor bemerkte aber Hegel, dass das Selbstbewusstsein sich durch die Religion den absoluten Inhalt als Inhalt, oder die substantielle Seite seines Wissens geben kann, aber bloß in der Form der Vorstellung; die Vereinigung von den beiden Erfahrungen, der moralischen Gewissheit und der religiösen Vorstellung, welche noch fehlt, ist die einfache Einheit des Begriffes. Blicken wir nun im Abschnitt neun zu, wie diese Vereinigung zustande kommt, d.h. welche Erfahrung des Bewusstseins vollzogen wird, so sehen wir, dass es gerade um die Erfahrung der Entzweiung des Geistes mit sich selbst geht, nämlich des Insichgehens des Selbst oder seines Fürsichseins, welches das Böse ist, wie andererseits das Ansich des gewussten Wesens das Gute ist, also um die Erfahrung des Bösen und seiner Rechtfertigung. Die Legitimierung seiner selbst im Gewissen ist sowohl die Selbstbegründung des Wissens, als die Legitimierung seiner selbst als handelndes Selbstbewusstsein. Was noch fehlt ist natürlich die letzte Legitimierung der Wirklichkeit in der er handelt, d.h. des substantiellen Bösen; beides geht aber nicht ohne die Selbstrechtfertigung Gottes, ohne Theodizee; wie kommt aber diese Legitimierung Gottes zustande? Nur durch seinen Tod, sowohl als Substanz, als auch als Selbstbewusstsein, da er diese zweifache Natur hat. Dieser Tod vom schmerzlichen Gefühl begleitet, dass Gott selbst gestorben ist, ist „die Rückkehr des Bewusstseins in die tiefe Nacht des Ich = Ich, die nicht mehr unterscheidet und weiß“.33 Es ist der Verlust sowohl der Substanz, als auch des Selbstbewusstseins; es stirbt nicht nur die tote Hülle des einzelnen Selbstbewusstseins, sondern die Abstraktion des göttlichen Wesens; an einer vorherigen Stelle, wo Hegel sich auf die Kunst-Religion bezieht, redet er von der Epoche der absoluten Kunst, die Tragödie, wo der seiner selbst gewisse Geist über den Verlust seiner Welt trauert und sein Wesen nur aus seinem Selbst hervorbringt. So ist die von ihm hervorgebrachte Form „die Nacht, worin die Substanz verraten ward und sich zum Subjekt machte“; später ist der Geist über die Kunst hinaus, um seine eigene Darstellung zu gewinnen, denn die Erfahrung der absoluten Kunst ist die Erfahrung des Verlustes seiner Welt, aber
32 33
Hegel, Phänomenologie des Geistes. TWA Bd 3, 581. Vgl. Hegel, Phänomenologie des Geistes. TWA Bd 3, 572: „Dieser harte Ausdruck ist der Ausdruck des innersten einfachen Wissens, die Rückkehr des Bewusstseins in die tiefe Nacht des Ich = Ich, die nichts außer ihr mehr unterscheidet und weiß. (…) Dieses Wissen ist also die Begeistung, wodurch die Substanz Subjekt, ihre Abstraktion und Leblosigkeit gestorben, sie also wirklich und allgemeines Selbstbewusstsein geworden ist.“
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noch nicht die Erfahrung des Todes.34 Was in der Erfahrung des Todes Gottes als Substanz zuerst vor sich geht, ist schon das Absterben der Sünde, aber auch der unendliche Schmerz, welcher in der christlichen Religion mit dem Begriffe der kenosis, der Entleerung des Selbstbewusstseins ausgedrückt wird. Ricoeur schwieg darüber in seiner ersten Hegel-Interpretation, die er aber dann später in Bezug darauf revidiert hat. Erst durch diese Erfahrung kann das Selbstbewusstsein zu dem Gedanke einer absoluten, d.h. sich selbst legitimierenden und legitimierten Wirklichkeit des Geistes kommen, und erst aus dieser Erfahrung des Geistes geht das Wissen der Einheit von Substanz und Subjekt hervor, welche der absolute Begriff ist. Im Grunde ist die zugrundeliegende Erfahrung, an die Hegel denkt, die Erfahrung der Versöhnung, d.h. des Verzeihens der Schuld, der Rechtfertigung des Bösen und die Überwindung des Todes; denn nach Paulus, an den Hegel hier denkt, ist der Tod nur die Folge der Sünde, und kann nur aus der Erfahrung der Versöhnung durch die Gnade entstehen.35 Diese Erfahrung ist die Grundlage der neuen und letzten Gestalt des Geistes, des absoluten Wissens, bzw. der Philosophie. So können wir die Behauptung wagen, dass die Rechtfertigung des Bösen eine wesentliche Voraussetzung des absoluten Wissens ausmacht, oder die wesentliche Erfahrung, aus der es hervorgeht; denn erst durch diese Erfahrung kann man im vollen Sinne von der Einheit von Substanz und Subjekt, und von der Verwandlung des Gegenstandes des Bewusstseins in den Gegenstand des Selbstbewusstseins reden, d.h. in den aufgehobenen Gegenstand oder in den Begriff; dadurch hat man die Wirklichkeit des Geistes freigelegt, welche die Voraussetzung oder der Boden der Wissenschaft, d.h. der Philosophie ausmacht. Erst wenn das moralische Selbstbewusstsein, das Gewissen, mit dem religiösen Selbstbewusstsein der Gemeinde in Eins gesetzt wird, kann der Begriff des absoluten Wissens entstehen, das in Absatz elf so beschrieben wird: „Die letzte Gestalt des Geistes, der seinem vollständigen und wahren Inhalte zugleich die Form des Selbst gibt und dadurch seinen Begriff ebenso realisiert, als er in dieser Realisierung in sich selbst bleibt, ist das absolute Wissen; er ist der sich in Geistesgestalt wissende Geist oder das begreifende Wissen.“ Ist nun das absolute Wissen, welches als die Einheit dieser beiden Momente die spekulative Idee des absoluten Begriffes ist, die letzte Erfahrung der Geschichte des europäischen Weltgeistes? Die Erwägungen von H.F. Fulda über dieses Thema bestehen zwar mit Recht darauf, dass wir im letzten Kapitel zuerst nur mit dem Begriff des abso34
35
Hegel, Phänomenologie des Geistes. TWA Bd 3, 514; wenn da von der griechischen Tragödie die Rede ist, so ist aber auch klar, dass der Satz eine klare Anspielung an den Verrat Judas und an den Karfreitag ist. Das wurde wieder von P. Ricoeur in einem Vortrag, in Rom, Interpretation du Mythe de la peine, sehr gut gezeigt; vgl. Castelli (Hrsg.), „Il mito della pena“. In: Archivio di filosofia, Roma 1967, 23-42, wo er sich aber nicht mehr auf die Phänomenologie, sondern auf die Rechtsphilosophie und dort besonders auf die Paragraphen über die Moralität bezieht.
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luten Wissens zu tun haben, der noch nicht reales Wissen oder verwirklichter Begriff als höchste Form des Geistes ist;36 die Prüfung dieses Wissens ist die Selbstprüfung des Bewusstseins, das nun der absolute Maßstab ist; darin sollte die Erfahrung des absoluten Wissens bestehen, welche für die Wissenschaft des erscheinenden Wissens bestimmend ist. Nun ist aber die Frage, erstens ob das absolute Wissen in seinem Erscheinen eine Gestalt des Geistes ist und zwar welche;37 zweitens, worin würde die Prüfung der Realität des Erkennens bestehen, die zu der Erfahrung führt, dass Substanz und Subjekt in diesem Wissen ausgeglichen sind; was rechtfertigt diese Angemessenheit, welche die Wissenschaft ist? Drittens: welche letzte Erfahrung des Bewusstseins findet im absoluten Wissen statt, wodurch das Auftreten der Wissenschaft die Form des bloßen Auftretens und des Erscheinens verliert und „die Darstellung des erscheinenden Wissens in der Vollständigkeit seiner Formen“ gegeben werden kann? Wie entsteht die letzte Identität von Denken und Sein und dadurch die Identität von Begriff und Gegenstand, so dass der absolute Begriff erreicht wird? Die Erklärung von Fulda, der Sinn dieser Identität von Substanz und Subjekt sei durch die Synthese der Philosophie Fichtes mit der Philosophie Schellings erreicht, die Hegel selber zu Ende gedacht hätte, und dadurch sei auch an eine geschichtliche Wende des Geistes zu denken, wo dieser wesentlicher Schritt vollzogen wäre, den wir mit dem Bewusstsein der Goethe-Zeit identifizieren können, kann uns nicht überzeugen. Wenn das absolute Wissen eine Gestalt des Geistes ist, kann es nicht nur im Wissen der Philosophie bestehen. Genauso wenig kann uns die Interpretation überzeugen, dieser Gedanke sei durch das Denken des wesentlichen Resultates der französischen Revolution.38 36
37
38
Vgl. H.F. Fulda, „Das absolute Wissen – sein Begriff, Erscheinen und Wirklichwerden“. In: Revue de Metaphysique et de Morale, 3 (2007), 338-400, wieder abgedruckt in: Vieweg/ Welsch (Hrsg), Hegels Phänomenologie des Geistes. Ein kooperativer Kommentar zu einem Schlüsselwerk der Moderne, Frankfurt a/M, 2008, 601-24, wo auch Hinweise auf die zuletzt erschienene Literatur gegeben werden. Wir haben Fuldas Aufsatz, wie die angegebene Literatur schon in einem Aufsatz ausführlich diskutiert, vgl. R. Dottori, „Che cosa è il sapere assoluto? Osservazioni conclusive sulla Fenomenologia dello spirit“. In: Biscuso/Manfreda (Hrsg.), Prospettive sulla Fenomenologia dello spirito, „Il cannocchiale“. Rivista di studi filosofici. Rom 3 (2007), 245-82. Darüber gibt es kein Einverständnis unter den verschiedenen Auslegern dieses Kapitels; während Fulda, a.a.O., und W. Jaeschke, „Das absolute Wissen“. In: Arndt/Müller (Hrsg.), Hegels Phänomenologie des Geistes heute. Berlin 2004, 194-216 dieser Meinung sind, ist für J. Hyppolite, Genèse et structure de la Phénoménologie de l’Esprit de Hegel. Paris 1946, dieses Kapitel nur ein Resümee des ganzen Werke; dieser Meinung sind auch H. Schnädelbach, Hegel zur Einführung, Hamburg 1999; 76 ff., und L. Siep, Der Weg der Phänomenologie des Geistes. Frankfurt a/M, 2000, 244. W. Jaeschke, „Das absolute Wissen“. In: Arndt/Müller (Hrsg.), Hegels Phänomenologie des Geistes heute. Berlin 2004, 194-216, ist eben der Meinung, dass die Voraussetzung des absoluten Wissens im praktischen Handeln und religiöser Erfahrung fußt und nicht bloß in der Überwindung der Trennung im Bewusstsein; deshalb hat die Versöhnung des endlichen mit dem unendlichen Selbstbewusstsein im absoluten Wissen den Zweck der Verwirklichung der Freiheit, was ein geistesgeschichtliches Resultat wäre und einen normativen Wert hat.
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In diesem Fall sollte ihr Geist sich in Deutschland niederlassen, aber dieser Übergang in ein anderes Land der Bildung, wovon am Ende die entfremdete Welt der Bildung evoziert wird, hat nur die Gestalt des Gewissens und der schönen Seele zum Resultat. Das Problem ist nun, wenn das absolute Wissen die letzte Gestalt des Lebens des Geistes und auch diese letzte Erfahrung des Geistes ausmachen würde, dass der als Geist sich wissende Geist dem Ende der Weltgeschichte bzw. unserer europäischen Weltgeschichte gleichkäme. Hegel redet aber vom absoluten Wissen als dem Ziel des geschichtlichen Weges der Erfahrung des Geistes, welcher nicht mit dem Ende der Weltgeschichte zu verwechseln ist.39 Fulda ist natürlich der Meinung, dass die letzte Erfahrung des europäischen Bewusstseins nicht weitere Erfahrungen ausschließen kann; dass bei dem Auftreten der Wissenschaft und dem Wissen in der Form des Begriffes die Zeit getilgt sei, heißt nicht, dass die Geschichte zu Ende sei, sondern dass wir die wesentliche Form des Bewusstseins als einer Erfahrung in der Zeit und somit im absoluten Wissen die Wissenschaft des erscheinenden Wissens verlassen, um uns der reinen Wissenschaft im Rahmen des absoluten Begriffes zuzuwenden. Denn „die Zeit ist der Begriff selbst, der da ist, und als leere Anschauung sich dem Bewusstsein vorstellt; deswegen erscheint der Geist notwendig in der Zeit, und erscheint so lange in der Zeit, als er seinen reinen Begriff erfasst, d.h. nicht die Zeit tilgt“.40 Der daseiende Begriff wäre also das Zeitbewusstsein überhaupt, und als solches die Wurzel der Gestaltung der Welt und Triebfeder der Geschichte; wird die Zeit getilgt, so wird der daseiende Begriff zu dem absoluten Begriff, welcher das Element der Wissenschaft ausmacht. Deshalb ist die Zeit Schicksal und Notwendigkeit des Geistes, der nicht vollendet ist, der sein Bewusstsein der Substanz mit seinem Selbstbewusstsein auszugleichen hat. Dann wird aber auch die Wissenschaft des erscheinenden Wissens zu der Wissenschaft überhaupt, die außerhalb der Geschichte des erscheinenden Geistes steht. Wenn nun jeder Gestalt des Bewusstseins ein Moment der Wissenschaft, d.h. ein besonderer Begriff entspricht, und so eine Parallelität der Wissenschaft des erscheinenden Wissens, d.h. der Phänomenologie des Geistes und der Wissenschaft als solcher behauptet wird, die sich im Element des reinen Begriffes bewegt, dann stellt sich aber die Frage, wie diese Parallelität zu denken ist und welche Rolle die Wissenschaft der Erfahrung des Bewusstseins noch spielen kann. Sollen wir sagen, dass die Phänomenologie in Metaphysik 39
40
Vgl. Hegel, Phänomenologie des Geistes. TWA Bd 3, 591: “das Ziel, das absolute Wissen, oder der sich als Geist wissender Geist hat zu seinem Wege die Erinnerung der Geister, wie sie an ihnen selbst sind, und die Organisation ihres Reiches vollbringen.“ Hegel, Phänomenologie des Geistes. TWA Bd 3, 584; dieses Erscheinen interpretiert Heidegger als ein „Fallen des Geistes in die Zeit“, und meint, man sollte sagen, der Geist existiert als ursprüngliche Zeitigung der Zeitlichkeit. Er hätte eher Kants transzendentale Einbildungskraft in Betracht ziehen sollen, die er schon in „Kant und das Problem der Metaphysik“ (1970) mit dem Selbst und weiter mit dem „Ich denke“ identifiziert hatte, vgl. §§ 33-34.
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übergeht, oder dass die begriffene Geschichte, welche die Offenbarung des Absoluten in der Geschichte ist, nun in die Auslegung der Gedanken Gottes vor der Schöpfung übergeht? Davon kann aber nicht die Rede sein, denn von einem solchen Gedanken gibt es in der Phänomenologie, wo nur von dem Beiuns-sein des Absoluten die Rede ist, kein Zeichen.41 Was hier Hegel uns darüber sagt, ist einfach, dass wie bei Spinoza, die Substanz als Einheit von Denken und Ausdehnung ausgesprochen wurde, sie nun als Einheit von Denken und Zeit zu fassen wäre;42 eine Einheit aber, welche zuerst als die Einheit des Ich = Ich bestimmt wurde, als die in sich selbst reflektierende Bewegung. Denn das Ich ist nicht einfach das Selbst, sondern die Gleichheit des Selbst mit sich in seiner absoluten Freiheit, welche auch seine Entäußerung ist. Davon gibt es in Spinozas Ethik kein Zeichen. Das lässt sich auch schlecht mit der Fortbewegung an den reinen Bestimmtheiten des Begriffs vergleichen, da die Zeit vor allem an dem Unterschied von Vergangenem und Zukünftigem, von Retention und Protention, hegelisch gesprochen von Erinnerung und Entäußerung gebunden ist. Die Gleichheit mit sich, die Selbstidentität, welche das Ich in dieser Entäußerung wieder herzustellen strebt, geht von einer Gestalt in die andere, wie in einer Odyssee des Geistes, und bringt eine Galerie von Bildern hervor, die sich in die „Geschichte der Bildung der Welt“ niederlegen. Die Geschichte ist aber auch das wissende, sich vermittelnde Werden, dessen Vollendung darin besteht, seine Substanz vollkommen zu wissen und dessen Ziel die Offenbarung der Tiefe, welche der absolute Begriff ist. So ist der Fortgang des Geistes in die Geschichte ein unendlicher Gang, sofern wir uns nicht denken können, dass die Offenbarung der Tiefe je vollzogen sein wird; trotzdem sollen wir nicht an eine schlechte Unendlichkeit denken, denn insofern die Zeit das Dasein des Begriffes ist, das äußere vom reinen Selbst angeschaute Selbst, ist der Lauf der Zeit und der Fortgang in der Zeit ein ständig in sich Kreisen oder ein in sich Zurückkehren des Geistes bei jedem Schritt seiner Erfahrung.43 So ist die Zeit wiederum auf41
42 43
A. Philonenko, Commentaire de la Phénomenologie de l’Esprit de Hegel. De la ceritude sensible au savoir absolu. Paris XI, 2001, 1-267, ist der Meinung, dass wir hier nicht nur mit einer Ontologie, sondern eigentlich mit einer Metaphysik des Logos zu tun haben, da der Logos für Hegel gerade die Wirklichkeit des Wirklichen sein würde; er denkt aber an den neuplatonischen Logos, der mit dem Logos des Johannes Evangeliums identifiziert wird. Fulda, der seine frühere Interpretation des Verhältnisses von Phänomenologie und Logik inzwischen revidiert hat, meint dagegen, dass es sich um Ontologie und nicht um Metaphysik handelt, da wir mit dem erscheinenden Geist und den Strukturen des Wirklichen als solchen zu tun haben. H.F. Fulda, „Das absolute Wissen – sein Begriff, Erscheinen und Wirklichwerden“. In: Revue de Metaphysique et de Morale, 3 (2007), 338-400, 389. Hegel, Phänomenologie des Geistes. TWA Bd 3, Abs. 16, 587. P.-J. Labarrière, „La Phénomenologie de l’Esprit de Hegel“. In: Revue internationale de Philosophie, 61(2007), 215-230, bemerkt, (228-29), dass insofern die Zeit ein in sich geschlossener Prozess ist, sie mit der Ewigkeit identisch sei, genauso wie sie mit dem Raum in der absoluten Substanz auch identisch ist, insofern „der Geist sein Werden zum Geiste in der Form des freien zufällligen Geschehens darstellt, sein reines Selbst als die Zeit, außer ihm und ebenso sein Sein als Raum anschauend“, Hegel, Phänomenologie des Geistes. TWA Bd 3, 590.
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gehoben nur indem er in sich geschlossen ist,44 nämlich in die Gestalt seiner Erfahrung, deren Sinn oder Gehalt ein Moment oder eine Bestimmung der Wissenschaft oder des reinen Denkens ist. Nun kommt der entscheidende Schritt: „Dieses Wissen ist sein Insichgehen, in welchem er sein Dasein verlässt und es der Erinnerung übergibt. In seinem Insichgehen ist er in der Nacht seines Selbstbewusstseins versunken, sein verschwundenes Dasein ist aber in ihr aufbewahrt; und dies aufgehobene Dasein – das vorherige, aber aus dem Wissen neugeborene – ist das neue Dasein, eine neue Welt und Geistesgestalt.“45 In der Nacht des Selbstbewusstseins scheint somit nicht nur die Identität des Selbst mit der Substanz, sondern die Identität des Selbst mit sich, das Ich = Ich, verloren zu gehen; das Selbstbewusstsein ist aber Selbstbezug, und dieser nimmt nun die Form des Bezugs von Vergangenheit und Zukunft, welche das Selbst in Form der Zeit ist, die Hegel den daseienden Begriff nennt. Die beiden Momente nehmen in diesem Selbstbezug die weiteren Formen von Erinnerung und Entäußerung, die durch das Insichgehen des Geistes zusammengehalten werden, welcher als reflexiver Selbstbezug die Triebfeder der Geschichte ausmacht. Wir hatten aber an der Erfahrung des Gewissens als schöne Seele gesehen, dass dem reflexiven Bezug des Selbst in seiner Innerlichkeit, der Gewissheit seiner selbst als die unmittelbare Einheit des Wissens und Wollens, die Kraft der Entäußerung fehlt, die Kraft, sich zu dem Dinge zu machen und den Verlust seiner selbst zu ertragen. So braucht nach Hegel das Selbst im Moment seiner Entäußerung, wo es sich sein Ziel sucht, eine weitere allumfassende Erfahrung, nämlich die religiöse Erfahrung, um zu der letzten Legitimierung seiner selbst im Ganzen der Welt und der Geschichte zu gelangen, d.h. im absoluten Geiste, welche er auf dem Weg zu ihm im absoluten Begriff erreicht. So lautet eben das Ende des Werkes: „Das Ziel, das absolute Wissen, oder der sich als Geist wissende Geist, hat zu seinem Wege die Erinnerung der Geister, wie sie an ihnen selbst die Organisation ihres Reiches vollbringen. Ihre Aufbewahrung nach der Seite ihres freien, in der Form der Zufälligkeit erscheinenden Daseins ist die Geschichte, nach der Seite ihrer begriffenen Organisation aber die Wissenschaft des erscheinenden Wissens; beide zusammen, die begriffene Geschichte, bilden die Erinnerung und Schädelstätte des
44
45
Vgl auch P.-J. Labarrière, „Savoir absolu: sur deux vers de Schiller“. In: Revue internationale de Philosophie, 61(2007), 240 ff. A. Philonenko, Commentaire de la Phénomenologie de l’Esprit de Hegel. De la ceritude sensible au savoir absolu, Paris XI, 2001, 1-267, insbes. 267-77, Le savoir absolu, und weiter Rémarques terminales, 268-84, merkt, dass die bedeutende Zeit nicht die heidnische Zeit der sinnlichen Gewissheit sei, und dass das absolute Wissen deshalb den „Sinn des Sinnes“ der Zeit fasst, bzw. die Wiederholung der Ewigkeit im Sinne Kierkegaards; dann würde die eigentliche Geschichte in dem einzigartigen Schluss der Auferstehung in der Gemeinde der Gläubiger bestehen, in Bezug auf welche die Galerie der Geister nur eine ästhetische Metapher im kantischen Sinne sein würde. Hegel sagt aber von der offenbaren Religion, dass diese Gemeinde in diesem ihrem Selbstbewusstsein noch nicht vollendet sei, denn ihr Inhalt ist noch in der Form des Vorstellen, also der Trennung von ihrem Ansichsein, Hegel, Phänomenologie des Geistes. TWA Bd 3, 573. Hegel, Phänomenologie des Geistes. TWA Bd 3, 590.
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absoluten Geistes, die Wirklichkeit, Wahrheit und Gewissheit seines Thrones, ohne den er das leblose Einsame wäre“.
und danach kommt das bekannte Schiller Zitat. Die Er-innerung geht eben nur auf den reflexiven Moment des Selbstbewusstseins, welche sich in die dialektischen Bewegung der Erfahrung, dann in die Wissenschaft der Erfahrung des Bewusstseins, und zuletzt in die begriffene Geschichte niederlegt; das Selbstbewusstsein aber geht nicht in seinem reflexiven Selbstbezug auf, welche nur eine leere Identität wäre, sondern braucht das transitive Moment seiner Entäußerung, um den Inhalt des Bewusstseins und sogar den absoluten Inhalt zu gewinnen: es ist das Moment, das zu der wirklichen Geschichte und zu der Zufälligkeit der Zeit, dem daseienden Begriff, gehört. Dieses Moment sprengt die Einheit und die Identität des Selbstbewusstseins, die nie durch seine Reflexivität und seinen Selbstbezug in seine Absolutheit aufzuheben ist. Hier liegt die Grenze des Selbstbewusstseins, welche auch die Notwendigkeit seiner Aufopferung ist. Dadurch wird die Stätte der Erinnerung zu der Schädelstätte des absoluten Geistes, welche die Wirklichkeit, Wahrheit und Gewissheit seines Thrones bilden. Beide Momente machen die begriffene Geschichte aus, welche die Geschichte des Weltgeistes als Geschichte der Bildung der Welt ist. Der Weltgeist ist auch als sich selber wissender Geist nicht der absolute Geist, gehört aber in die Schädelstätte des absoluten Geistes, die Heidegger als die Geburtsstätte des absoluten Geistes interpretiert. Das wäre wohl säkularisiertes Christentum. Dagegen meint die Schädelstätte des absoluten Geistes das sich Aufgeben des Absoluten an den Menschen und an die Geschichte der Menschheit. Das ist die eigentliche Parousia, das Bei-uns-sein des Absoluten, ohne welche er der absolute Einsame wäre; das fordert andererseits die Selbstaufopferung des Selbstbewusstseins in der Geschichte der Bildung der Welt um zu dem Throne, d.h. der Stätte des absoluten Geistes zu gehören.46 Dass das Eine, das sich in seiner Identität mit sich entzweit, und auf Anderes bezieht, um durch das Andere seiner selbst wieder mit sich einig zu werden und sich in seiner eigentlichen Identität zu offenbaren, impliziert auch, dass es zu der Identität, Einheit und Absolutheit des Selbstbewusstseins auch die zu überwindende Entzweiung und ihre Tragik gehört;47 das macht in Bezug 46
47
A. Philonenko (Commentaire de la Phénomenologie de l’Esprit de Hegel. De la ceritude sensible au savoir absolu. Paris 2001, 270, 274-75) betont richtigerweise die Tatsache, dass wir in diesen letzten Abschnitten der Phänomenologie mit ethischen Phänomenen zu tun haben und nicht einfach mit logisch-ontologischen Strukturen wie An sich sein, Für sich sein. Entäußerung, Insichgehen und wiederhergestellte Einheit haben mit unser Freiheit und Rechtfertigung zu tun, wie auch mit der Wirklichkeit des Bösen, welche nicht einfach eine ontologische Struktur ist, sondern das Diabolische, das Höllische, der Grund des Leidens; genauso ist es nicht wahr, dass das Absolute, als der Begriff, nichts von uns will: er will, er will unseres Leben. Vgl. Hegel, Phänomenologie des Geistes. TWA Bd 3, 24: „Leben Gottes und das göttliche Erkennen mag wohl als ein Spielen der Liebe mit sich selbst ausgedrückt werden; dieser Gedanke sinkt zur Erbaulichkeit und selbst zur Fadheit herab, wenn der Ernst, der Schmerz, die Geduld und die Arbeit des Negativen darin fehlt.“
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auf die bloß eingebildete Vernünftigkeit des Wirklichen die höhere Wahrheit und Wirklichkeit des Geistes aus. Die letzte Erfahrung der letzten Gestalt des Geistes, d.h. der Geschichte des europäischen Weltgeistes ist die Versöhnung von Substanz und Subjekt, von allgemeinen Selbstbewusstsein und einzelnem Selbst nicht nur in der religiösen Gemeinde, sondern in dem „Wir“ der geistigen Gegenwart, der jetzt der „Weltgeist“ genannt wird. Wir können wohl darunter den ethischen und politischen Einsatz des Selbst in Gesellschaft und Staat verstehen; Hegel sagt uns aber, dass dieser Einsatz ohne die religiöse Erfahrung der Schuld und des Verzeihens, der Aufopferung und des Todes, und endlich der substantiellen Versöhnung im absoluten Geiste, uns nicht weiter tragen kann. Andererseits sagt er uns aber auch, dass die Versöhnung nicht eine jenseits liegende Versöhnung bleiben soll, die nur im Herzen ist, so dass die Wirklichkeit entzweit bleibt, und „die Welt ihre Verklärung noch zu gewarten hat“;48 entgegen seiner früheren Meinung in der Frankfurter Zeit denkt Hegel jetzt, dass wenn die Gemeinde ihre Versöhnung nur in der Liebe hat, und nicht im Begriff findet, sie noch von ihrem wahren Wesen getrennt bleibt. Insofern ist der absoluter Begriff als die erreichte Identität von Begriff und Gegenstand wohl eine spekulative Wahrheit und das Element der Wissenschaft, aber zugleich, als die gemachte Erfahrung der letzten Gestalt des Bewusstseins, auch der Maßstab jedes Schrittes sowohl der vergangenen, als der zukünftigen Geschichte des Weltgeistes, welcher ständig auf der Suche seiner Einheit mit dem absoluten Geiste ist. Diese Suche ist die Suche nach der Rechtfertigung seiner selbst von Seiten des Selbstbewusstseins und nach der Legitimierung des Wirklichen, d.h. die Rechtfertigung Gottes vor der Geschichte, welche uns die Wissenschaft des erscheinenden Geistes in der Vollständigkeit der Formen des Wissens beschrieben hat. Die Nacht des Selbstbewusstseins oder die Tiefe Nacht des Ich = Ich, welche der absoluten Kenosis der christlichen Religion entspricht, gehört jeder Erfahrung des geschichtlichen Geistes und bildet die Voraussetzung jedes weiteren Schrittes des Geistes in der Weltgeschichte. Ricoeur hat also Recht, sofern er meint, dass das Problem oder die Existenz des Bösen nicht auf das Wissen reduzierbar ist, und dass die Symbolik des Bösen, sowie die Symbolik des Heiligen, jenseits des Wissens und der Gestalten des Bewusstseins bleiben, welche nur Zeichen des Heiligen sind; diese Zeichen werden in der Geschichte des Geistes gegeben, aber beziehen sich auf das ganz Andere der Geschichte; sie sind vielmehr nach Ricoeur als Prophezeiungen des Bewusstseins zu verstehen, indem sie einerseits auf den absoluten Ursprung und Wurzel des Daseins, andererseits auf ein letztes Ziel, auf ein eschaton verweisen, worauf die Gestalten des Geistes als ihr letzter Sinn bezogen bleiben; dasselbe meint im Grunde auch Hegel. Er hat aber Unrecht, sofern er meint, dass Hegel mit dem absoluten Wissen die Rationalisierung der Symbolik des Bösen und des Heiligen meint, wie z.B. 48
Hegel, Phänomenologie des Geistes. TWA Bd 3, 574.
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des Zorns Gottes, des Todes, der kenosis und der Auferstehung, usw.49 Was Hegel unter dem Ausdruck der Nacht des Selbstbewusstseins oder der tiefen Nacht des Ich = Ich bezeichnet, ist vielmehr ein Zeichen, dass wir von den am Anfang angegebenen Merkmalen des Selbstbewusstseins die letzte, d.h. seine Absolutheit, sofern sie in Bezug auf das menschliche Selbstbewusstsein steht, im Grunde aufgeben, oder wenigstens eingrenzen sollen, indem sie zu einem Ziel des Wissens, wie auch ein Ziel des Handelns wird; das umso mehr als bei jedem Schritt von einer Gestalt des Geistes in die andere die Nacht des Selbstbewusstseins gehört. Hegel selber sagt an anderer Stelle in Bezug auf Kants Einheit der Apperzeption: „Zugleich ist dann aber zu bemerken, dass es nicht die subjektive Tätigkeit des Selbstbewusstseins ist, welche die absolute Einheit in die Mannigfaltigkeit hineinbringt. Diese Identität ist vielmehr das Absolute, das wahrhafte Selbst. Es ist gleichsam die Güte des Absoluten, die Einzelheit zu ihrem Selbstgenuss zu entlassen, und dieses selbst treibt sie in die absolute Einheit zurück.“50
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Im § 139 der Rechtsphilosophie wird ganz klar gesagt: „ Der Ursprung des Bösen überhaupt liegt in dem Mysterium, d.h. in dem Spekulativen der Freiheit, ihrer Notwendigkeit, aus der Natürlichkeit des Willens herauszugehen und gegen sie innerlich zu werden“. Vgl. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften I, TWA 8, 118.
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CLAUDIA MELICA
Vom Griechentum zum Christentum. „Die Religion der Menschlichkeit“ bei Hegel Denn mit Göttern Soll sich nicht messen Irgendein Mensch [...] Was unterscheidet Götter von Menschen? W. Goethe1
Die Behandlung der Geschichte der Religionen, die der zweite Teil der Vorlesungen über die Philosophie der Religion mit dem Titel „Die bestimmte Religion“ Form vornimmt, bildet, wie von einigen Interpreten hervorgehoben, ein „Versuchsterrain“, das Hegel auf verschiedene Weise im Laufe der vier in den Jahren 1821, 1824, 1827 und 1831 in Berlin gehaltenen Kollegien bearbeitet.2 Er bezieht sich auf eine Vielzahl von Religionen, wobei er ständig sowohl die historische Abfolge der Religionen als auch die interne Gliederung der bestimmten Religion in zwei oder drei Hauptstufen ändert. Unter diesen Religionen bietet die Darstellung der griechischen Religion dem Interpreten die Gelegenheit, um über die Hegelsche Betrachtung dieser einzelnen Religion in einer solchen abschließenden Phase seines Denkens nachzusinnen. Walter Jaeschke hat hervorgehoben, wie sich die Interpreten stärker auf die Analyse der Hegelschen Auffassung der griechischen Religion in seiner Jugendzeit konzentriert haben anstatt sich mit der seiner Reife zu beschäftigen.3 Es fehlen, mit sehr wenigen Ausnahmen,4 tiefgründige Studien über den Platz, den die griechische Religion innerhalb der von Hegel in den Berliner Vorlesungen vorgeschlagenen umfassenden Rekonstruktion der Religionen einnimmt. Außerdem ist auch das Hegelsche Denken in seinen letzten Jahren noch nicht ausreichend analysiert worden, welches sich der Untersuchung der Beziehung zwischen der griechischen und der christlichen Religion aus einer anderen Perspektive im Vergleich zur Jugendzeit widmet. 1
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Goethe, „Grenzen der Menschheit“ (1778-1781). In: Werke. Hrsg. von E. Trunz, Hamburg 1948, Bd I, 479. Vgl. W. Jaeschke, Die Vernunft in der Religion. Stuttgart-Bad Cannstatt 1986, 274-295. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion. Bd 3 Hamburg 1983, Bd 4 Hamburg 1985, Bd 5 Hamburg 1984. Hrsg. von W. Jaeschke. Ausgewählte Nachschriften und Manuskripte (im folgenden unter Angabe der Bandzahl zitiert als, Hegel, VPR) Vgl. W. Jaeschke, Die Religionsphilosophie Hegels. Darmstadt 1983, 75-76. Vgl. W. Jaeschke: „Zur Logik der bestimmten Religion“. In: Henrich/Horstmann (Hrsg.): Hegels Logik der Philosophie. Religion und Philosophie des absoluten Geistes. Stuttgart 1984, 172-188; H.J. Schoeps, „Die außerchristlichen Religionen bei Hegel“. In: Zeitschrift der Religion. VII (1955), 1-34; R. Leuze, Die außerchristlichen Religionen bei Hegel. Göttingen 1975.
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Aus Zeitgründen gibt es hier nicht die Möglichkeit, die besondere Stellung der griechischen Religion in Hegels einzigartiger Rekonstruktion der Religionen zu untersuchen. Hier kann nur kurz die von den Interpreten am meisten diskutierte Frage angedeutet werden, und zwar ob die griechische Religion in eine wahre Geschichte der Religionen eingegliedert worden ist, die sich aufsteigend bewegt, und ob dieser Fortschritt den Charakter des rein geschichtlichen Werdens annimmt. Wie bei einer anderen Gelegenheit von Walter Jaeschke bemerkt wurde, passt eine der typischen Eigenschaften der Geschichte, die Aufeinanderfolge, nicht zu diesem zweiten Teil der Vorlesungen. Der Grund dafür ist, dass es keine historische Abwicklung gibt, und dass in Ermangelung einer solchen, der von Hegel betitelte Abschnitt „Die bestimmte Religion“ keine Geschichte der Religionen bildet, sondern „eine Typologie oder Geographie der Religion“.5 Das Vorhaben, das Gesamtbild zu verstehen, in das sich die griechische Religion eingliedert, wird jedoch durch eine weitere Schwierigkeit behindert, die darin besteht, dass alle Religionen der christlichen Religion zustreben, in der sich der historische und/oder logische Weg zu vollenden scheint. Wenn die gesamte Anlage tatsächlich so verstanden werden muss, dann müssten die Religionen, wie von einigen Interpreten behauptet, nur als „Phasen einer Gesamtgeschichte der Religion“ betrachtet werden, die „in Richtung“ der christlichen Religion strebt,6 in der sich der Begriff der Religion in der Wirklichkeit vollendet.7 Diese Interpretationsschwierigkeiten angenommen, die der komplexen Hegelschen Rekonstruktion der Religionen innewohnen, kann man vielmehr die Vermutung anstellen, dass der zweite Abschnitt dieser Vorlesungen als eine geistige Geschichte der Religionen aufgefasst werden kann. In dieser Art Geschichte versucht der Geist stufenweise, sich vernünftig in seiner Wahrheit und Allgemeinheit zu begreifen.8 Die Religionen können somit als „Stufen“ des „Bewusstseins, des Wissens des Geistes“ gedacht werden.9 Hegel zeigt nämlich, wie der Geist sich in „tausendjähriger Arbeit“ offenbart und versucht, sich stufenweise sowohl durch die Innerlichkeit des religiösen Bewusstseins als auch durch die Kulthandlungen der verschiedenen Religionen zu begreifen. Da diese nicht-christlichen Religionen allerdings nur Momente des Begriffs sind, bilden sie seine Besonderheit aber noch nicht seine Wirklichkeit.10 So befindet sich der Geist in dieser Sphäre immer in Beziehung zu einer 5
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W. Jaeschke, Die Vernunft in der Religion. Stuttgart-Bad Cannstatt 1986, 290. Geographische Grundlage findet sich auch in der Philosophie der Weltgeschichte. Hier verläuft die Bewegung immer von Osten nach Westen. M. Monaldi, Hegel e la storia. Nuove prospettive e vecchie questioni. Napoli 2000, 101. Vgl. R. Garaventa, „Nota introduttiva“. In: Hegel, Lezioni di filosofia della religione. Parte II: La religione determinata, a cura di R. Garaventa e S. Achella, Napoli 2008, 9. Vgl. R. Garaventa, „Nota introduttiva“. In: Hegel, Lezioni di filosofia della religione. Parte II: La religione determinata, a cura di R. Garaventa e S. Achella, Napoli 2008, 12. Hegel, VPR. 1827, Bd IV a. Teil 2, 415. A.a.O.
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Vielzahl von bestimmten Individualitäten und er kann sich nicht begrifflich durch das Entfremdungsverhältnis zu dem Anderen-von-sich-selbst und durch die Rückkehr zu sich selbst begreifen. In den vier verschiedenen Kollegien (1821, 1824, 1827, 1831) der Vorlesungen über die Philosophie der Religion, die Hegel in Berlin gehalten hat, wird die griechische Religion „Religion der Schönheit“ genannt.11 Damit stellt Hegel implizit den Bezug zum Kapitel VII der Phänomenologie des Geistes her, das den Titel „künstliche Religion“ trägt, in dem Hegel eine Verbindung zwischen Kunst und Religion vorschlägt, da die Griechen sich ihre Götter durch die eigenen Kunstwerke geschaffen hätten. Diese Annäherung der griechischen Religion an die Schönheit ist im damaligen deutschen Diskussionsfeld keine originelle Überlegung Hegels. Schon Schiller hatte in einer seiner philosophischen Gedichte, Die Götter Griechenlands (1788-89 verfasst und 1793 neu geschrieben),12 der griechischen Religion Schönheit zuerkannt, wegen der Nähe des Menschen zur Natur und wegen der Lebensfreude dieser Religion im Vergleich zur christlichen.13 Hegel übernimmt zweifellos von Schiller das Thema der griechischen Religion als Ort der Offenbarung der Schönheit. Wenn es bei Hegel einerseits in seiner Jugendzeit und teilweise während seiner ganzen Spekulation eine Kontinuität zu Schiller gibt, so wird andererseits in Berlin das Schwärmen über Griechenland als idealisiertes gemildert und nimmt im Vergleich zu Schiller und zu seiner eigenen Jugendzeit gedämpftere Töne an.14 Es gibt noch eine andere Hegelsche Definition, die wir gerne ins Licht rükken wollen und die unsere Aufmerksamkeit verdient. In den beiden Kollegien von Jahre 1824 und im 1827 fasst Hegel die griechische Religion als eine „Religion der Menschlichkeit“.15 Die Frage dreht sich also um die Bedeutung, die in einer bestimmten historischen Epoche (der griechischen) dem Begriff der „Menschlichkeit“ zuzuschreiben ist. Die Absicht dieses Aufsatzes soll also darin liegen, die vielfältigen Bedeutungen des Begriffs der „Menschlichkeit“, die aus der komplexen Darstellung Hegels hervorgehen, zu umgrenzen. In dieser späten Berliner Zeit ist die Benutzung des Ausdrucks „Menschlichkeit“ in Bezug auf die griechische Religion ein Indiz für Hegels ununterbrochene Zugehörigkeit zu einem der Hauptmotive des Neu-Humanismus der deutschen Klassik, welche in Schiller, W. von Humboldt und Goethe ihre größten Ver11
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Vgl. M. Bienenstock, „Mythologie de la raison. Un thème des Lumières“. In: Bourdin (Hrsg.), Les Lumières et l’idéalisme allemand. Paris 2006. 31-44 (besonders 32). Vgl. F. Schiller, Sämtliche Werke. Bd I: Gedichte. Dramen I. Hrsg. G. Fricke und H.G. Göpfert. Darmstadt 1987, 169-173. (Abkürzung im Folgenden: SW). Vgl. auch R. Saviane, Goethezeit. Studi di letteratura tedesca classico-romantica. Napoli 1987, 131 Fußnote. Vgl. F. Schiller: „Über naive und sentimentalische Dichtung“. In: SW, Bd V: Erzählungen. Theoretische Schriften. Hrsg. von G. Fricke und H.G. Göpfert. Darmstadt 1993, 694-700. Vgl. A. Gethmann-Siefert, „Idylle und Utopie. Zur gesellschaftskritischen Funktion der Kunst in Schillers Ästhetik“. In: Jahrbuch der deutschen Schiller-Gesellschaft. XXIV(1980), 32-67. Vgl. in der zweiten Hälfte des 18. Jh. und am Anfang des 19. Jh. den philosophischen Unterschied zwischen „Humanität“ und „Menschlichkeit“.
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treter gefunden hatte. Wie Hermann A. Korff ausführlich in seiner Monographie über die Goethezeit gezeigt hat, verwandelt sich die mit der Aufklärung entstandene neue Idee des „Menschen“ durch den Bezug auf die Innerlichkeit und zielt darauf, einen Menschen zu konzipieren, der auf die kulturelle Bildung seines Selbst ausgerichtet ist.16 In diesem Zusammenhang haben die damaligen Überlegungen die Absicht, die Periode des Griechentums als idealen Moment zu verherrlichen, in dem der Mensch fähig war, ein Gleichgewicht zwischen Natur und Kultur, zwischen Sinnlichkeit und Vernunft zu erreichen. Die Reflexion über den Begriff der „Menschlichkeit“ hat zu der Zeit einen gemeinsamen historischen Ursprung. Einige historische und politische Ereignisse am Ende des 18. Jahrhunderts, wie die Französische Revolution, haben einige deutsche Philosophen, Schriftsteller und Dichter der Zeit (Fichte, Schelling, Schiller, Hölderlin und W. von Humboldt) in manchen Fällen sogar traumatisch beeinflusst, darunter auch den jungen Hegel. Die mal enthusiastische mal kritische Reaktion auf diese Revolution und vor allem die ungünstige Beurteilung ihrer negativen Entwicklung in der Phase des Terrors hat unter den deutschen Intellektuellen eine Überlegung notwendig gemacht, die in der Lage wäre, ein bestimmtes Ideal der Menschlichkeit zu umreißen, dank dessen es möglich wäre, das Recht einzuführen.17 Aus diesem Grund entstanden am Ende des 18. Jahrhunderts auch kulturelle Projekte, die eine mehrstimmige gemeinsame Reflexion anstrebten, um die sogenannten „schläfrigen Gewissen“ aufzuwecken. Schiller hatte in seiner neuen Zeitschrift Die Horen, die er im Jahre 1794 zusammen mit dem Verleger Cotta gegründet hatte, die damaligen Intellektuellen zur Mitarbeit an dieser neuen Initiative ermutigt, und in der Ankündigung der Zeitschrift formulierte er ein kulturelles Programm, das von den Interpreten als eine Art Manifest des deutschen Klassizismus betrachtet wird. Zweck der Zeitschrift war es, die „Gemüter“ „frei“ zu machen „durch ein allgemeines und höheres Interesse an dem, was rein menschlich ist“, und „die politisch geteilte Welt unter der Fahne der Wahrheit und Schönheit wieder zu vereinigen“.18 Ein kulturelles Programm, das zu Recht einer größeren Bewegung des Denkens zugeschrieben wird, die unter dem Namen „ästhetischer Humanismus“ bekannt ist. Zeichen einer Zeit sind auch, wie Annemarie Gethmann-Siefert ausführlich gezeigt hat, die ähnlichen Inhalte im sogenannten Ältesten Systemprogramm des deutschen Idealismus, das wahrscheinlich von Hegel verfasst wurde (der es vielleicht zusammen mit Schelling und/oder Hölderlin bearbeitet hat) und vermutlich in der ersten Periode des Frankfurter Aufenthalts (1796-1797) geschrieben wurde. Wie bei Schiller muss für Hegel und seine Zeitgenossen, die auch die Inhalte von Schillers Briefe über die ästhetische Erziehung positiv 16
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Vgl. H. A. Korff, Humanismus und Romantik. Die Lebensauffassung der Neuzeit und ihre Entwicklung im Zeitalter Goethes. Leipzig 1924, 16 und 85. Vgl. B. Bourgeois, Hegel à Francfort ou Judaïsme – Christianisme – Hégélianisme. Paris 1970, 10-11. F. Schiller, Ankündigung der Horen. In: SW. Bd V, 870.
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aufgenommen haben,19 die Wiedervereinigung des modernen Menschen durch die Schönheit vollendet werden. Der von den Ereignissen der Moderne zerrissene und geteilte Mensch kann seine Einheit durch die Schönheit wiedererlangen. Außerdem kann der Mensch die Freiheit durch einige Form der Kunst erreichen, wobei die Kunst auf diese Weise eine bedeutende historische, kulturelle und soziale Funktion erhält.20 Insbesondere wird im Ältesten Systemprogramm eine Form von Kunst, die Poesie zur „Lehrerin der Menschheit“ ernannt. Erst wenn das Gedicht diese Erziehungstat vollbracht hat, kann eine „neue Religion“ eingeführt werden, die „das letzte, größte Werk der Menschheit seyn“ wird.21 Ein solches, in gewisser Weise „utopisches“ Ideal der Schönheit, das sich speziell an die poetische Kultur wendet, erstrebt also eine Erneuerung der Menschheit durch eine besondere Erziehung und kulturelle Bildung des Menschen.22 Das ist knapp zusammengefasst das historische und kulturelle Panorama, das den jungen Hegel beeinflusst und das Spuren in einigen Teilen seiner Werke und Vorlesungen der Reife hinterlässt. Es bleibt also nichts Anderes übrig, als sich danach zu fragen, welche besondere Stellung er in Berlin gegen über der neuen Auffassung des Menschen einnahm, die von der deutschen Klassik im allgemeinen und von Schiller und W. von Humboldt im Besonderen vertreten wurde. Hier soll gezeigt werden, wie auf der einen Seite Hegels Aufmerksamkeit für das Griechentum in der Berliner Zeit und in diesem Teil der „Vorlesungen über die Philosophie der Religion“ Elemente der Kontinuität zu seiner Jugendzeit, zur deutschen Klassik im allgemeinen und zu Schiller in Besonderen aufweist; andererseits jedoch wie sich diese Aufmerksamkeit im Laufe der Zeit verändert und sich von seinen unmittelbaren Vorgängern distanziert. Wie hervorgehoben werden wird, bemerkt man beim Berliner Hegel in diesen und anderen gleichzeitigen Vorlesungen, trotz seiner Bekräftigung einer positiven Verbindung zwischen den Menschen und den Göttern in Griechenland, keine Verteidigung des Heidentums gegenüber des Christentums. Es handelt sich hier nicht, wie in früheren Jahren, um ein Loblied auf die griechische Welt als Musterbeispiel der menschlichen Existenz in ihren religiösen und politischen Formen. Hegel entwickelt vielmehr die Gegenüberstellung von Griechentum und Christentum im Rahmen eines historischen Prozesses, in dem die griechische Welt nicht mehr ein zu erstrebendes Ideal darstellt, 19
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Vgl. A. Gethmann-Siefert, „Die geschichtliche Funktion der ‘Mythologie der Vernunft’ und die Bestimmung des Kunstwerks in der Ästhetik“. In: Jamme/Schneider (Hrsg.): Mythologie der Vernunft. Hegels „ältestes Systemprogramm des deutschen Idealismus“. Frankfurt a.M. 1984, 226-260, insbesondere 228-229. Vgl. Gethmann-Siefert/Weisser-Lohmann (Hrsg.): Kultur – Kunst – Öffentlichkeit. München 2001. Vgl. Jamme/Pöggeler (Hrsg.), Mythologie der Vernunft. Hegels „ältestes Systemprogramm des deutschen Idealismus“. Frankfurt a.M. 1984. 13-14. Vgl. K. Düsing, „Ästhetischer Platonismus bei Hölderlin und Hegel“. In: Jamme/Pöggeler (Hrsg.), Homburg von der Höhe in der deutschen Geistesgeschichte. Studien zum Freundeskreis Hegel und Hölderlin. Stuttgart 1981, 101-117.
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sondern eine Etappe des Weges bildet, der sich im Christentum vollendet. Im Vergleich zur griechischen Religiosität entdeckt Hegel im Christentum eine historische Überlegenheit gerade in der Auffassung des Menschlichen, denn durch die christliche Fleischwerdung ist die Einigung des Göttlichen im Menschlichen sicherlich tragisch, aber radikaler und tiefer. Die Neuigkeit dieser Interpretation Hegels ist, wie wir anhand der Analyse der beiden Religionen aus diesem speziellen Blickwinkel (dem Menschlichen) zeigen wollen, dass die christliche Religion nicht in Konflikt mit der griechischen steht, sondern als eine notwendigen Fortsetzung der historischen Entwicklung des vielfältigen Begriffs bzw. Konzepts der Menschlichkeit betrachtet wird, ausgehend von der vorherigen griechischen Auffassung. Ein weiteres Element der Originalität seiner Interpretation liegt darin, dass in diesen Berliner Kollegien der Religion im Allgemeinen implizit eine hohe kulturelle Funktion zugeordnet wird, und dass es nicht mehr nur die Kunst ist, die den Mensch erheben kann. Kunst und Religion übernehmen zusammen eine wichtige historische Aufgabe. Einerseits ist die Kunst durch ihre Werke der Ort der höchsten Humanisierung des Menschen, andererseits sind Kunst und Religion auch der Ort einer Humanisierung des Göttlichen. Nun sollen insbesondere die Stellen untersucht werden, in denen Hegel während seiner Kollegien von 1824 und 1827 zusammenfassend beschreibt, was die Menschlichkeit für die griechische Religiosität ist, um zu verstehen, welches anthropologische Modell er für dieses historische Umfeld im Sinn hat. In den Vorlesungen des Jahres 1824 unterscheidet Hegel bei der Behandlung der (griechischen) Religion drei Sphären. Die erste Sphäre ist die des Begriffes im Allgemeinen, der die „Bestimmung der Subjektivität“ sowohl auf der Seite des besonderen Inhalts an sich (die wirkliche Sittlichkeit) ist, als auch von der Seite der Form als Gegensatz des wesentlichen Selbstbewusstseins zum endlichen. Die zweite Sphäre ist die Darstellung des Inhaltes oder die Gestalt Gottes. Die dritte Sphäre ist der Kult, „das Verhältnis des endlichen Subjekts zu diesem absoluten Subjekt“23. Besondere Aufmerksamkeit verdient Hegels Argumentation der zweiten Sphäre. Er behauptet, dass man in der Darstellung zwei Momente unterscheiden kann: „die Besonderung als Inhalt Gottes“ und „die Bestimmtheit, insofern sie Gegenstand einzelnen Selbstbewusstseins ist, d.h. die Gestalt Gottes“24. Insbesondere wenn Hegel den ersten der beiden Vorstellungsmomente beschreibt, den Inhalt Gottes, treten einige Neuigkeiten in der Interpretation zu Tage. Hegel erläutert seinen Hörern, dass in der griechischen Religion eine Änderung gegenüber früheren Religionen bemerkbar wird, und es handelt sich nicht, wie er in der Philosophie der Geschichte behauptet hatte, nur um ein „sich-zu-Hause-Fühlen“ beziehungsweise um eine Landung im Westen nach dem Weg durch die orientalischen
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Hegel, VPR. 1824. Bd IV a. Teil 2, 359. A.a.O., 359.
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Religionen.25 Den Qualitätssprung „gegenüber dem Inhalt“ drückt er damit aus, dass die griechische Religion die „Religion der Menschlichkeit“ ist. Hegel kündigt den Wendepunkt von 1824 gegenüber der Behandlung der vorangegangenen Religionen an, indem er in einem bedeutungsvollen Absatz behauptet, dass die griechische Religion: eine Religion der Menschlichkeit ist, indem der konkrete Mensch nach dem, was er ist, nach seinen Bedürfnissen, Neigungen, Leidenschaften, Gewohnheiten, nach Bestimmung seines Geistes, nach seinen sittlichen, politischen Bestimmungen, nach allem, was darin gilt und wesentlich ist, Pflichten und Rechten des Menschen – dass der Mensch auch in diesen sich gegenwärtig ist in seinen Göttern, oder dass seine Götter diesen Inhalt haben, der zugleich der Inhalt des konkreten Menschen ist.26
Um diese Art von Religion zu erfassen, muss man den sittlich-politischen Hintergrund oder besser die Sittlichkeit verstehen, denn das, was die griechische Religion behandelt, ist ein „konkreter“ und kein abstrakter Mensch. Wie in dem oben zitierten Absatz von Hegel erwähnt, besteht ein „wirklicher Mensch“ aus einer natürlichen Seite (Leidenschaften, Bedürfnisse und Gewohnheiten) und aus einer geistigen nicht angeborenen Seite (Rechte und Pflichten). Obwohl einerseits der wirkliche Mensch im Mittelpunkt dieser Religion steht und damit die menschliche Natur in all ihren Aspekten wertgeschätzt wird; andererseits, wie Hegel in den Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte argumentiert, ist dieser Mensch das Ergebnis einer konkreten moralischen Handlung, die, da sie individuell ist, für die Subjektivität eine Grenze darstellt. Die Argumentation, die Hegel in diesem Absatz führt, betrifft außerdem die Gegenwart der Götter im Menschen, da sie denselben sittlichen und politischen Inhalt des konkreten Menschen haben. Auch in einer seiner frühen in Bern geschrieben und posthum veröffentlichten Schriften, der Nohl den Titel Volksreligion und Christentum (1793-1794) gab, hatte Hegel die enge Verbindung zwischen dem eigentlich religiösen und dem politisch-sozialen Leben in der griechischen Religion betont. In einem Absatz, an den schon einige Interpreten erinnert haben, hat sich Hegel positiv zu der „konkrete[n] Einheit der Erscheinungen des menschlichen Lebens“ geäußert,27 und geschrieben, dass „Geist des Volks, Geschichte, Religion, Grad der politischen Freiheit desselben lassen sich weder nach ihrem Einfluß aufeinander, noch nach ihre Beschaffenheit abgesondert betrachten, sie sind in ein Band zusammenverflochten [...] keiner ohne den andern etwas tun kann, jeder aber auch von andern etwas annimmt [...]; den Geist des Volks zu bilden ist zum Teil auch Sache der Volksreligion, zum Teil der politischen Verhältnisse“.28 25
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Vgl. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. In: Theorie Werkausgabe. Bd XII. Hrsg. von E. Moldenhauer und K. M. Michel. Frankfurt am Main 1971 (Abkürzung im Folgenden: TWA). Hegel, VPR. 1824. Bd IV a. Teil 2, 360 (meine Kursivschrift). Vgl. B. Bourgeois, Hegel à Francfort ou Judaïsme – Christianisme – Hégélianisme. Paris 1970, 12. Hegel, „Fragmente über Volksreligion und Christentum“. In: TWA Bd I, Frühe Schriften, 42.
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An diesem Punkt muss man sich fragen, wann der griechische Mensch wirklich seine Menschlichkeit, das heißt sein Menschsein, veräußerlicht. Hegel schreibt in den frühen Arbeiten mehrfach, die Menschlichkeit des griechischen Menschen sei nicht an das einzelne Individuum, sondern an die konkrete gesellschaftliche Ordnung der Polis gebunden. Deswegen unterstreicht Hegel an der zitierten Stelle von 1824 einen grundlegenden sittlichen und politischen Aspekt, der in der griechischen religiösen Welt seinen Ursprung hat. Dank dieser Verbindung zwischen Politik und Religion, die auf der Sittlichkeit gründet,29 kann Hegel mit seiner Argumentation im Kolleg von 1824 über die griechische Religion fortfahren und behaupten, dass deshalb „Gott sich wie der Gott der Stadt, wie eine vergöttlichte Stadt präsentiert“, und es kann passieren, dass in den Augen des griechischen Menschen die Göttin Athene auch mit der Stadt Athen verwechselt oder identifiziert wird. Dieser Harmonie zwischen den Göttern und den Menschen, zwischen den einzelnen Göttern und dem Stadtstaat (die Polis), zwischen Individuum und Gemeinschaft zeigt sich offensichtlich vor allem in der Sittlichkeit der griechischen Welt. Aus diesem Grund gehören in der griechischen Welt für Hegel einige Handlungsformen der Religion zur Sittlichkeit, das heißt zu einem gewohnheitsmäßigen Verhalten, das von einer bestimmten sozialen Gruppe befolgt wird.30 Demzufolge kann Hegel, in Anbetracht der Verbindung zwischen der Sittlichkeit oder Verhaltensregel einer bestimmten Gesellschaftsklasse und der Religion, behaupten, dass aus diesem Grund der Gott, „der lebendige, wirkliche, gegenwärtige Geist dieses Volkes in seiner Wesentlichkeit, Allgemeinheit vorgestellt“ ist.31 Das Leben eines Volkes wird also auch anhand der religiösen Praktiken, die sich immer in einem sozialen Umfeld abspielen, erfasst. In diesem Sinne kann man verstehen, wie der griechische mit dem Geist identifizierte Gott nicht etwas Transzendentes ist, sondern dass er, wie einige Interpreten gut gezeigt haben, auf den gesamten „Bereich des Menschlich“ zurückzuführen ist, auf all „das, dem der Mensch seinen Stempel aufdrückt“. Der Geist ist nämlich „die Grundlage des Wesens des Menschlichen“.32 Diese Charakterisierung des Geistes von Seiten Hegels gestattet uns zu verstehen, warum er auf der Suche nach einer „Religion der Menschlichkeit“ ist, die in der Lage ist, die dem Menschen ureigene Natur in all ihren Äußerungen hervorzuheben. Das gleiche Thema wird in dem Kolleg von 1827 wieder aufgegriffen, in dem Hegel bekräftigt, dass die griechischen Götter das sittliche Leben beziehungsweise „die gegenwärtigen oder gültigen Rechte“ der Menschen bilden.33 In der griechischen Polis leiten also die Götter das gesellschaftliche Handeln 29
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Vgl. auch Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften (1830). Hrsg. F. Nicolin und O. Pöggeler. Hamburg 1991, § 552, Fußnote. Vgl. M. Inwood, „Ethical life and custom“. In: A Hegel Dictionary. Oxford 1992, 91. Hegel, VPR. 1824. IV a, 379. Vgl. B. Bourgeois, Éternité et historicité de l’esprit selon Hegel. Paris 1991, 41. L. Illetterati, P. Giuspoli und G. Mendola, Hegel. Rom 2010, 68. Hegel, VPR. 1827. IV a, 554-555.
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des Menschen, das mit den deontologischen Regeln des guten Verhaltens in der Gesellschaft einer bestimmten sozialen Gruppe übereinstimmt.34 Es gibt eine intersubjektive Beziehung zwischen Gott und Mensch und somit zwischen der sittlich-religiösen und der politischen Sphäre. Wenn das so ist, scheint Hegel den religiösen Ursprung der moralischen Grundsätze in der griechischen Welt beweisen zu wollen, so dass die Götter Verhaltenskriterien für die weltliche (öffentliche) Sphäre angeben können. Notwendige Bedingung für die Art, den Menschen zu denken, ist also die „Sittlichkeit“, die, wie von Annemarie Gethmann-Siefert bewiesen worden ist, den tiefen Sinn der griechischen Zivilisation darstellt.35 Ganz in diesem Sinne unterstreicht Hegel zunächst in den §§ 151 und 153 der Grundlinien der Philosophie des Rechts und dann in dem der griechischen Religion gewidmeten Kolleg von 1824, wie die Sittlichkeit (ethos als Sitte aufgefasst) als die „zweite Natur“ des Individuums betrachtet werden muss, das, was im engsten Sinne „geistig“ ist. Diese „zweite Natur“ ist nicht angeboren, sondern muss gebildet werden. Hegel behauptet deshalb, dass es Aufgabe der Erziehung und der Kultur ist, dafür zu sorgen, dass die Sittlichkeit, also „das System der von einer Gesellschaft geteilten und anerkannten Regeln“, zu einer „zweiten Natur“ wird. Dieser Erziehungsprozess, so Hegel weiter in seinem Kolleg von 1824 über die griechische Religion, übernimmt die Form einer Art „Wiederaufbau des Menschen“, der als notwendige Verwandlung des Menschlichen verstanden werden muss.36 In einem weiteren der frühen, in Bern entstandenen Texte, dem Nohl den Titel Die Positivität der christlichen Religion (1795-1796) gab, hatte Hegel auf gleiche Weise behauptet, dass „jeder Mensch“ das „Recht“ nicht nur „zu der tierischen Erhaltung“ hat, sondern auch „das Recht [hat], seine Fähigkeiten auszubilden, ein Mensch zu werden, auf der Welt“. Grundlegend ist also der Wert, der der Bildung des menschlichen Bewusstseins zugeschrieben wird. Deshalb müssen sowohl der Staat wie auch die Eltern die hohe Erziehungsaufgabe der „freie[n] Ausbildung der Fähigkeiten“ des Menschen übernehmen, um so hoch gebildete Individuen zu fördern, so dass sie zu „freien Staatsbürgern“ werden.37 Dabei handelt es sich auch bei Hegel, wie schon bei Schiller und W. von Humboldt, um ein humanistisches Ideal, das dahin strebt, den Akzent auf die Notwendigkeit der harmonischen Veräußerlichung aller menschlichen Kräfte des Individuums gegen die in der modernen Welt gegenwärtige Arbeitsteilung und Spezialisierung setzt. Wenn man jetzt zur Untersuchung des Kollegs von 1827 der Vorlesungen über die Philosophie der Religion über die griechische Religion zurückkehrt, 34
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Vgl. A. Gethmann-Siefert: „ethical life“. In: Bunnin/Yu (Ed), The Blackwell Dictionary of Western Philosophy. Oxford 2009, 225. Um nur eine zu zitieren vgl. A. Gethmann-Siefert, Die Rolle der Kunst in Geschichte und Kultur. Eine Einführung in Hegels Ästhetik. München 2000. Hegel, VPR. 1824. IV a, 389-390. Hier scheint sich bei Hegel der Begriff der Menschlichkeit als Erziehung des Menschen dem Begriff der griechischen paideia zu nähern. Hegel, TWA. Bd I, 155-157 (meine Kursivschrift).
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beginnt man vielleicht, die Beweggründe zu verstehen, die Hegel dazu führen, von Anfang an wiederum ihre Menschlichkeit hervorzuheben. In diesem Kolleg treten weitere Erklärungen Hegels zu Tage, die das Bild seiner Auffassung über die griechische Religion als „Religion der Menschlichkeit“ anreichern. Hegel behauptet, dass in der griechischen Religion: „der Mensch sein Recht und seine Behauptung erlangt“. Diese These verdient Aufmerksamkeit, da sie den Wert des Menschen unterstreicht und die Notwendigkeit der Behauptung seiner Rechte beansprucht. Wie Hegel in anderen Vorlesungszyklen bekräftigt hat, macht der griechische Mensch in dieser historischen Phase einen Fortschritt gegenüber der orientalischen Welt und wird nicht mehr von der Natur oder von der politischen Willkürherrschaft unterdrückt. Was Hegel zeigen will ist, dass der Mensch mit der griechischen Zivilisation beginnt, endlich als Mensch zu zählen, und deshalb kann er seine Rechte geltend machen. Wenn der Mensch beginnt, sich mit seinen Rechten zu befassen, bedeutet das, dass der Mensch selbst Zweck wird. Um diese Aussage zu verstehen, muss man sich den Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte zuwenden, in denen Hegel erklärt, wie ausgehend von Griechenland eine entscheidende Verwandlung beginnt. Er behauptet, dass: „Zweck in ihm selbst nämlich ist der Mensch nur durch das Göttliche, das in Ihn ist, durch das, was von Anfang an Vernunft, und, insofern sie tätig und selbstbestimmend ist, Freiheit genannt wurde“38. Die Freiheit kann in diesem Zusammenhang auf zwei Arten verstanden werden. Einerseits hat der Mensch eben als freies Wesen die Fähigkeit, sich selbst zu bestimmen, das heißt er ist der Autor seines eigenen Lebens und moralisch für seine Entscheidungen verantwortlich. Andererseits bedeutet Freiheit bei-sich-Sein, das heißt seiner selbst bewusst zu sein oder von sich selbst zu wissen. Der Mensch als vernünftiges Wesen ist Selbstbewusstsein, das heißt Subjektivität.39 In der Einleitung zu den Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte erklärt Hegel, dass das Bewusstsein der Freiheit historisch das erste Mal bei den Griechen entstand. Dennoch waren nur wenige Menschen bei den Griechen frei und „nicht der Mensch als solcher“. Dies geschieht erst mit dem Christentum, in dem alle Menschen frei sind, weil „der Mensch als Mensch frei ist“, da „die Freiheit des Geistes die ureigene Natur der Menschlichkeit ausmacht“40. Der Sinn und der Wert des Christentums in der Philosophie der Geschichte ist, wie von einigen Interpreten gezeigt, dass mit dem Christentum die Freiheit des Menschen eine universelle Bedeutung erhält.41 38
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Vgl. in einer anderen Ausgabe: Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. In: Sämtliche Werke Jubiläumsausgabe. Hrsg. H. Glockner. Stuttgart 1927. Bd XI, 64. (Im Folgenden zitiert als JA). Vgl. auch Kants Definition der menschlichen Würde oder Menschlichkeit. Der kategorische Imperativ verlangt, die Person als Zweck und nie als Mittel zu behandeln. Vgl. Hegel, VPR. 1827. IV a, 552-555. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. In: TWA. Bd XII, 17-18. B. Bourgeois, Hegel à Francfort ou Judaïsme – Christianisme – Hégélianisme. Paris 1970, 120-121.
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Es bleibt jedoch fraglich, ob dieser Begriff der „Menschlichkeit“, der aus der Darstellung der griechischen Religion und der griechischen Zivilisation im Allgemeinen hervorgeht, durchweg positiv ist. Hegel behauptet kritisch, dass obwohl sich die griechischen Götter im menschlichen sittlichen Leben offenbaren, sie nicht ausreichend menschlich sind. Der Argumentationswechsel findet in dem Kolleg von 1827 statt, indem er behauptet, bei den Griechen „ist noch zu wenig Menschliches in Gott“42. Eine Erklärung von Seiten Hegels, die auch radikal atheistisch klingen könnte, aber sie lädt in Wirklichkeit dazu ein, das Menschliche in Gott auf dramatischere Weise als seine wesentliche Bestimmung neu zu denken; etwas das erst mit dem Aufkommen einer anderen historischen Epoche auf die Bühne tritt: dem Christentum. Hegel legt in den Vorlesungen über die Philosophie der Religion keinen expliziten und tiefgehenden Vergleich zwischen der griechischen Religiosität und dem Christentum vor. Man muss sich hingegen einigen Stellen in anderen zeitgleichen Vorlesungen zuwenden, wie den Vorlesungen über die Philosophie der Kunst und vor allem den Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, um zu verstehen, wie trotz dieses ersten Gestaltens der Menschlichkeit im alten Griechenland das Christentum sich diesen Begriff aneignet, ihn weiter verwandelt und einen vollständigeren Begriff erlangt. Wenn man also den der griechischen Welt gewidmeten Teil in den Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte analysiert, und insbesondere den zweiten Abschnitt über die Gestalten der schönen Individualität, kann man einen Vergleich zwischen den unterschiedlichen Auffassungen der Menschlichkeit in den beiden Religionen vornehmen und Hegels Interpretationswende gegenüber seiner Jugendzeit erfassen. Die Veränderung wird gerade durch ein Zitat von einigen Schiller-Versen deutlich, die jener oben bereits erwähnten und in der Folge zu einem der Schlüsseltexte des europäischen Neoklassizismus gewordenen philosophischen Dichtung, Die Götter Griechenlandes, entstammen.43 Hegel kritisiert anhand einiger zitierter Stellen ausdrücklich Schiller in Bezug auf das in der griechischen Welt entstandene Verhältnis zwischen den Göttern und dem Menschen. In der progressiven Entwicklung des Geistes in der Philosophie der Geschichte zeigt Hegel, wie die Art der Griechen, die Götter zu denken, einen Fortschritt im Vergleich zu den orientalischen noch von natürlichen und abstrakten Elementen geprägten Vorstellungen darstellt. Diese Entwicklung wird gerade dadurch hervorgerufen, dass sich der Mensch im Inneren der griechischen Götter als „Inhalt der Wahrheit“ präsentiert. Der Kern der Hegelschen Argumentation dreht sich um den Anthropomorphismus der griechischen Götter. Für Hegel ist dieser „Anthropomorphismus“ weder im Allgemeinen noch 42
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Hegel, VPR. 1827. IV a, 552 Fußnote (meine Kursivschrift). Über das „Anthropomorphische“ vgl. E. Ròzsa, „Versöhnung in und durch Kunst? Die Grenzen der Versöhnung in Hegels Kunstphilosophie von 1823“. In: Gethmann-Siefert/Collenberg-Plotinikov (Hrsg.), Zwischen Philosophie und Kunstgeschichte. Beiträge zur Begründung der Kunstgeschichtsforschung bei Hegel und im Hegelianismus. München 2008, 67-95 und besonders 79-80. Hegel kannte wahrscheinlich nur die erste Fassung von 1788 von Schillers Gedicht.
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im Besonderen ein „Mangel“. Das bedeutet dagegen nicht, dass diese Gegenwart des Menschen in den Göttern, so wie Schiller meinte, nur in dieser Religion vorkommt. Hegel sagt im Gegenteil zu Schiller, dass es dem Christentum nicht am menschlichen Element mangelt. In den Vorlesungen über Philosophie der Geschichte, in denen Hegel vielleicht versucht, seine jugendliche Begeisterung für Griechenland zu überwinden, drückt er sich mit einer Argumentation aus, die die Aufmerksamkeit der Interpreten verdient. Hegel behauptet: Es gibt solche, die als Vorzug der griechischen Götter darauf hinweisen, dass sie wie Menschen dargestellt werden, während eben dies dem christlichen Gott fehle. Schiller sagt: „Als die Götter menschlicher noch waren/waren Menschen Göttlicher“44. Dennoch sind die griechischen Götter nicht menschlicher als der christliche Gott. Dann setzt Hegel seinen Kommentar zu Schiller mit Überlegungen fort, die seine Gedanken verdeutlichen: Der christliche Gott ist durchaus viel menschlicher: er lebt, er stirbt und er erleidet den Tod am Kreuz, etwas unendlich Menschlicheres als der Mensch der griechischen Schönheit.45 Die Originalität der Hegelschen Interpretation, sich die durch eine starke Dramatisierung auszeichnet, liegt in der Behauptung, dass der griechische Gott den Menschen nicht fleischlich verkörpert, er wird nicht Fleisch in einem Menschen und leidet nicht auf so radikale und menschliche Weise wie es in der christlichen Religion geschehen ist. Der Unterschied zwischen den beiden Religionen besteht laut Hegel vor allem in der Weise, wie der Gott erscheint. Hegel betont die Notwendigkeit für jeden Gott (sowohl den griechischen als auch den christlichen), sich in einer menschlichen Gestalt zu offenbaren. Was unterstrichen wird ist folglich der tiefe anthropomorphische Charakter dieses Gottes. Hegel greift dieses Thema in den Vorlesungen über die Philosophie der Religion wieder auf, und insbesondere in der Darstellung der griechischen Religion im Jahr 1827. In diesem Zusammenhang erklärt er, dass dieses Erscheinen Gottes in einer menschlichen Gestalt nicht bedeutet, dass der Geist „etwas Sinnliches, Materielles“ ist sondern nur, dass sein „für-anderes-Sein“, die menschliche Gestalt ist. Das Erscheinen ist daher die einzige Art, in der der Geist existieren kann.46 In diesem Darstellungsfeld tritt die Kunst auf, weil diese Selbstentfremdung des Geistes allein in der menschlichen Gestalt geschieht. Durch die Kunst produziert das menschliche Subjekt Werke, die die „Offenbarung Gottes“ bilden. Der Fehler der Art, sich durch die Kunst die griechischen Götter darzustellen, liegt darin, sich bei der sinnlichen und natürlichen Seite der Objekte aufzuhalten, die für die Darstellung des Andachtsinhaltes verwendet werden. Die Anomalie der griechischen Kunst, die dazu verwendet wird, die religiösen Inhalte zu offenbaren, ist, dass ihre Götter „in Stein erscheinen“, sie bleiben bei diesem sinnlichen Material stehen.47 44 45 46 47
Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. In: JA. Bd XI, 325. A.a.O., 344 und f. Hegel, VPR. 1827. IV a, 552-553. A.a.O., 1824, 376 Fußnote.
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VOM GRIECHENTUM ZUM CHRISTENTUM
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Dennoch erscheint während der Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte dieser Unterschied zwischen dem Erscheinen des griechischen Gottes und des christlichen Gottes noch deutlicher. Hegel behauptet: „Der wahrhafte Mangel der griechischen Religion, gegen die christliche gehalten, ist nun, dass in ihr die Erscheinung die höchste Weise, überhaupt das Ganze des Göttlichen ausmacht, während in der christlichen Religion das Erscheinen nur als ein Moment des Göttlichen angenommen wird. Der erscheinende Gott ist hier gestorben, ist als sich aufhebend gesetzt; erst als gestorben ist Christus sitzend an der Rechten Gottes dargestellt. Der griechische Gott ist dagegen für die Hellen in der Erscheinung verneinend, nur im Marmor, im Metall oder Holtz oder in der Vorstellung als Bild der Phantasie“.48
Im Christentum ist es möglich, gerade mit dem Tod Christi die Erscheinung der menschlichen Gestalt zu überwinden, das sinnliche und natürliche, mit der Endlichkeit des Menschlichen verbundene Element zu überwinden. Der Tod ist bei Hegel nicht nur Negativität sondern bestimmte Negativität und somit die Überwindung dieses ersten negativen Momentes. Hegels Argumentation zu diesem Punkt ist sehr komplex und artikuliert. Er meint erstens, dass der Mangel der griechischen Zivilisation darin liegt, ihre Götter durch Kunstwerke darzustellen und sie lediglich auf „Form und Gestalt […] in einem bestimmten Subjekt“ zu reduzieren.49 Zweitens ist der andere Mangel der griechischen Zivilisation, die ihre Götter durch die Kunst darstellt, dass das Menschliche, in dem sich der Gott verkörpert, nicht bis zum äußersten Tod vordringt. In dieser Hinsicht ist, nach Hegel, die griechische Religion weniger menschlich, weniger anthropomorph als die christliche Religion. Hegels Wertschätzung des Christentums und dagegen der Vorwurf gegenüber der griechischen Religion wird von ihm auch in anderen zeitgleichen Vorlesungen diskutiert, in denen er erneut den Begriff der „Menschlichkeit“ erörtert. In Vorlesungen über die Philosophie der Kunst behauptet Hegel, dass bei den Griechen „eine konkrete Menschlichkeit“ herrschte, die mit der praktischen Sphäre menschlichen Handelns im Verhältnis zu den Göttern verbunden ist. Mit dem Christentum jedoch entwickelt sich diese Menschlichkeit historisch und wird zu einer „universellen Menschlichkeit“50. Der Grund ist, dass laut Hegel der Tod Gottes und der Schmerz über diesen Tod die tragische negative Form des Menschlichen annehmen und dabei gleichzeitig eine universelle Bedeutung erlangen, die für jedes menschliche Wesen gilt. Es gibt jedoch noch ein weiteres Element, das die christliche Religion über die griechische Religion stellt. Erstere hält nicht beim Menschen an, sondern sie überwindet ihn und versöhnt ihn mit dem Göttlichen: „Die Griechen kannten noch nicht den Geist in seiner Allgemeinheit, und kann nicht den Begriff 48 49 50
Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. In: JA. Bd XI, 326. A.a.O. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Kunst. Hrsg. von A. Gethmann-Siefert. Ausgewählte Nachschriften und Manuskripte. Bd II, Hamburg 1998, 181.
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des Menschen, die Einheit der beiden Naturen, der göttlichen und der menschlichen nach der christlichen Idee“51. Die nun zu stellende Frage ist, ob die Behauptung der Einheit der beiden Naturen, der menschlichen und der göttlichen, bedeutet, dass Hegel etwas Heterodoxes im Vergleich zu den Wahrheiten der christlichen Dogmen behauptet? Der Mensch ist für Hegel der Inhalt Gottes und daher findet nur in der christlichen Religion „die Einheit von Gott und Mensch“ statt.52 In Wirklichkeit ist Hegel gezwungen, als er sich gegen den Vorwurf des Atheismus zu verteidigen versucht, mit Entschiedenheit zu behaupten, dass „nicht der Mensch Gott ist“ oder umgekehrt, sondern dass „der Mensch eine notwendige Bestimmung des Begriffes Gottes ist“. In den Vorlesungen über Philosophie der Religion von 1824 greift Hegel im Abschnitt über die griechische Religion das Thema wieder auf und sagt genauer, dass wenn der Mensch „ein Moment der Göttlichen selbst ist“, seines „für-Anderes-Sein“, dann sind die richtigen Folgen für die Versöhnung zwischen dem Menschlichen und dem Göttlichen zweierlei. Wenn der Mensch einerseits das Menschliche als einen Moment des Göttlichen wissen kann, dann ist der Mensch in seinem Verhalten zu Gott frei, weil „das, zu dem er sich verhält, das Wesen der Menschheit hat“53. Andererseits kann sich der Mensch nur weil er fähig ist, den natürlichen, mit der Endlichkeit des Menschlichen verbundenen Moment zu überwinden, zu Gott erheben und sich mit ihm versöhnen. Dieselbe Bewegung der Versöhnung kann aber auch von Gott selbst hergestellt werden. Da das Menschliche in Gott enthalten ist, kann er, nachdem er den extremen Moment des Menschlichen im Tod erfahren hat, in sich zurückkehren und das Menschliche mit sich versöhnen. In den Vorlesungen über Philosophie der Geschichte erstreckt sich die Hegelsche Rede über die Versöhnung auch auf andere Bereiche. Nur wenn man so eine artikulierte christliche Idee von Gott hat, kann man auch den Schmerz und die innere Unglückseligkeit des Menschen versöhnen. Dies geschieht für den Menschen, wenn er „erlöst und in Christus versöhnt“ ist, das heißt erst nach dem Tod Christi, wenn der Geist an Pfingsten auf die Gemeinde herabgekommen ist. So ist es durch Christus auch möglich zu wissen, dass „das Wesen des Menschen der Geist“ ist. Aus diesem Grund muß sich der Mensch vom natürlichen Element befreien, um das „reine Selbstbewußtsein“ zu erreichen. Christus zeigt sich mit seinem Tod und seiner Geschichte als ein Beispiel für den Weg, den der Mensch in sich selbst zurücklegen muss, um „als Geist zu sein und Sohn Gottes, ein Bürger des Reiches zu werden“. Aus all diesen komplexen Gründen behauptet Hegel auf endgültige Weise in den Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, dass im Gegenteil der griechische Anthropomorphismus „nicht weit genug gegangen ist“.54 51 52 53 54
Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. In: TWA. Bd XII, 210. Op.cit., 269. Hegel, VPR. 1824. IV a, 357 Fußnote. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. In: TWA Bd XII, 270-272.
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VOM GRIECHENTUM ZUM CHRISTENTUM
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Nun bleiben nur ein paar abschließende Schlussfolgerungen. Wenn die Griechen für den Berliner Hegel nicht menschlicher waren als wir, dann muss die griechische Zivilisation nur als eine notwendige Etappe der Entwicklung der Menschheit betrachtet werden, deren Höhepunkt das Christentum darstellt. Obwohl Hegel in diesen beiden Kollegien von 1824 und 1827 nicht ausdrücklich, wie etwa Herder in seinen Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784-1791), von der Menschlichkeit als universeller Bestimmung des Menschen spricht, das heißt von einer Geschichte der Völker als kollektive Bewegung (ein Geist eben) der Menschlichkeit entgegen, die die höchste Bestimmung des Menschen ist, so spielt die Philosophie der Geschichte bei Hegel dennoch eine zentrale Rolle, so dass die Geschichte der Menschheit die Entwicklung des Geistes ist, der sich in unterschiedlichen Völkern verkörpert. Wenn das Ziel der Geschichte wie bei Herder, Schiller und W. von Humboldt die Verwirklichung des Ideals der Menschlichkeit ist, das als der Geist des Menschen oder als die vollendete Form des Menschen verstanden wird, dann kann man auch in diesem zweiten Teil der Vorlesungen über die Philosophie der Religion eine Philosophie der Geschichte entdecken, in der sich dieses Ideal der Menschlichkeit nach und nach offenbart bis zu seiner Vollendung im Christentum. In der Geschichte offenbart sich also durch die verschiedenen Epochen hindurch ein Begriff der Menschlichkeit mit vielfältigen Bedeutungen. Einerseits können die Griechen, im Gegensatz zu dem, was Winckelmann behauptet hatte, für den Berliner Hegel nicht als Modell für die Menschheit und somit nicht als erstrebenswertes Ideal betrachtet werden; andererseits ist die Epoche der griechischen Zivilisation eine historische Etappe der Entwicklung der Menschheit. Die griechische Zivilisation muss wie alle Epochen und vor allem gegenüber dem Christentum eine eigene Würde haben. Was laut Hegel dem griechischen Begriff der Menschlichkeit fehlt, ist eine universelle und absolute Geltung, die nur mit dem Christentum erfasst werden kann. Für den Berliner Hegel sind die Griechen nicht, wie von Schiller, Herder und Hölderlin aus verschiedenen Gründen behauptet, „menschlicher als wir Modernen, und zu ihnen müssen wir zurückkehren“. Hegel meint in seiner Reife, dass die Griechen zwar eine Etappe darstellen, aber historisch vom Christentum überwunden wurden. Der griechischen Religion muss in diesem Sinne die Bedeutung „nicht vollendet“ oder nicht voll verwirklicht gegenüber der christlichen Religion beigemessen werden. Dieser Verfahrensweise darf aber kein negativer Charakter zugeschrieben werden. Die Nachfolge der christlichen Religion auf die griechische Religion und die römische Religion bedeutet nicht, dass diese nicht-christlichen Religionen ihre innere Rechtfertigung und ihre Gültigkeit als historische Religionen an Bedeutung verlieren. Es gibt eine Vielzahl von Religionen, und ihre Vielfalt deutet nicht auf die Falschheit der einen gegen-
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über der anderen, sondern zeugt, wie von einigen behauptet, von der progressiven Offenbarung des Geistes in den verschiedenen religiösen Formen.55 (Die Übersetzung des Beitrages aus dem Italienischen stammt von Nina Meyer.)
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Vgl. J.-L.Vieillard-Baron, „La ‘religion de la nature’. Étude de quelques pages de la ‘Phénoménologie de l’Esprit’ de Hegel“. In: Revue de Métaphysique et de morale. LXXVI (1971), 326.
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Hegels Konzept der bestimmten Religion als Vorstufe zur vollendeten Religion „Die bestimmte Religion“, der zweite Teil der Vorlesungen Hegels über die Philosophie der Religion, stellt eines der faszinierendsten Themen innerhalb des Hegelschen Denkens dar, und zwar die Geschichte des Göttlichen, bevor es an und für sich göttlich wird. Im Rahmen einer Gesamtinterpretation der orientalischen, afrikanischen, hebräischen, griechischen und römischen Welten unternimmt Hegel den Versuch zu zeigen, daß bereits die nicht christlichen Religionen, wenn auch noch unvollendet und in endlicher Weise bestimmt, das Leben Gottes selbst aussprechen. Die Vorlesungen Hegels über die bestimmte Religion (oder vielmehr: über die bestimmten Religionen), wie sie von Walter Jaeschke im Meiner Verlag herausgegeben worden sind, sind durch eine Handschrift der Vorlesung von 1821, durch Nachschriften von Zuhörern der Vorlesungen von 1824 und 1827, und durch indirekte Zeugnisse für die Vorlesung von 1831 überliefert. Zudem finden sich in anderen Texten Hegels – von seinen Frühschriften bis zu seinen anderen Berliner Vorlesungen – zahlreiche Bemerkungen über die nicht christlichen Religionen. Die Grundlage der Kenntnisse Hegels von den verschiedenen Religionen beruht auf der Lektüre einer großen Menge von deutsch-, englisch-, italienisch- oder französischsprachigen Abhandlungen sowie zahlreicher altertümlicher Autoren. Hegel schlägt unter anderem in der Reiseliteratur und in den Asiatic Researches von Kalkutta und London nach, er befragt die ersten Vertreter der vergleichenden Philologie und der vergleichenden Mythologie (wie Creuzer, Abel-Rémusat, Bopp…) und konsultiert natürlich die großen Historiker seiner Zeit (wie Gibbon, James Mill, Belzoni, Niebuhr…). So erhält man bei der Lektüre der bestimmten Religion einen ziemlich vollständigen Eindruck von dem Bild, das man im Deutschland des ersten Drittels des 19. Jahrhunderts von den altertümlichen und außereuropäischen Kulturen hatte. Hier soll das Wesen der bestimmten Religion aufgeklärt werden. Inwiefern ist sie eine authentische Offenbarung des göttlichen Geistes? Aber auch: inwiefern bleibt sie ungenügend und streng von der vollendeten Religion zu unterscheiden? Die zentrale Hypothese, die ich hiernach vertreten werde, ist folgende: Für Hegel ist die bestimmte Religion keine beliebige oder willkürliche Konstruktion des menschlichen Geistes, sondern die Selbstdarstellung Gottes. Allerdings ist der Gott der bestimmten Religion einseitig objektiv, indem er ohne echte Subjektivität und echte Freiheit ist.
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Zuerst soll eine allgemeine Bemerkung Hegels Frage nach der Religion verdeutlichen. An der knappen Vergleichung der drei Stufen der Religion soll eine Charakteristik der bestimmten Religion gegeben werden.
Die Frage der Religion nach Hegel Religion und Wahrheit Die Hegelsche Religionsphilosophie, als vorletztes Moment in der enzyklopädischen Ordnung, behandelt die Vorstellung des Göttlichen.1 Deswegen könnte man glauben, dass sie weniger danach strebt, Gott zu betrachten, als vielmehr danach die Art und Weise darzustellen, nach welcher die Menschen Gott auffassen. Bringt jedoch die Tatsache, dass Hegel eine „Religionsphilosophie“ und keine „Theologie“ vorschlägt, den Verzicht auf eine direkte Erkenntnis Gottes mit sich? Vertritt Hegel die gleiche Position wie Kant, der in seiner Kritik der reinen Vernunft die „rationale Theologie“ durch eine Untersuchung des (menschlichen) „Idealen des höchsten Wesens“ ersetzt? Nein, denn Hegels Zugang zu der Religion beruht nicht auf der Annahme, dass alle Erkenntnis des theologischen Absoluten als schwärmerisch gelten müsse, sondern im Gegenteil auf der Überzeugung, nach der die Religion selbst ein Absolutes ist.2 Mehr noch: im Kontext seiner Theorie des Geistes, als dem im Wissen und Wollen die Andersheit aufnehmenden Subjekts, und seiner Theorie der Religion, als Selbstoffenbarung des unendlichen Geistes mittels der Vorstellung, ist für Hegel die Philosophie der Religion nichts anderes als die Philosophie des Göttlichen selbst.3 Hegel weist nämlich die Ansicht zurück, nach der die Religion nur das subjektive Spiegelbild eines Gottes im menschlichen Bewusstsein sei, also wonach Gott selbst der Religion äußerlich sei. Nach dieser Ansicht – die Hegel kritisiert – wäre das Leben Gottes von seiner Offenbarung zu den Menschen getrennt. Es gäbe einerseits ein verborgenes – oder wenigsten nicht offenbares – Wesen Gottes und andererseits die religiöse Vorstellung Gottes. Die Schwierigkeit, die sich vom Hegelschen Standpunkt aus ergibt, ist, dass sie unvermeidlich dazu führt, sich die Frage der Zuverlässigkeit der religiösen Vorstellung zu stellen; d.h. die Frage, ob jene Vorstellung nicht bloß eine willkürliche Konstruktion, ein theoretisches Artefakt sei, das von dieser oder jener mensch-
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2 3
Vgl. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion. Hrsg. von W. Jaeschke. Hamburg 1983-1984, Bd 1, 36. Vgl. a.a.O., Bd 1, 31. Vgl. a.a.O., Bd 1, 36.
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lichen Gruppe erzeugt worden sei. Kurz: die Untersuchung müsste auf den Einwand eingehen: „der Mensch wisse von Gott nichts“.4 Bekanntlich bildet jedoch die Trennung des Seins von dem Erkennen einen ständigen Kritikpunkt Hegels. In diesem Kontext ist für ihn die religiöse Vorstellung nicht die beliebige und willkürliche Erzeugung durch ein individuelles Bewusstsein oder durch ein bestimmtes Volk. Die religiöse Vorstellung entwickelt sich vielmehr selbst und autonom.5 Der Inhalt dieser Vorstellung offenbart sich und ist in diesem Sinne ein Subjekt. Das Göttliche wird nicht von einem endlichen Bewusstsein erdichtet, sondern manifestiert sich im religiösen Verhältnis als das Prinzip allen endlichen Bewusstseins: „Die Religion ist ein Erzeugnis des göttlichen Geistes, nicht Erfindung des Menschen, sondern des göttlichen Wirkens, Hervorbringens in ihm“.6 Zwar werden wir sehen, dass die Religion in ihren anfänglichen Momenten entweder abstrakt (d.h. unbestimmt und unentwickelt) oder entzweit (was die Abhängigkeit mit zufälligen Umständen impliziert) erscheint. Allerdings ist das Göttliche selbst in diesen abstrakten oder gespaltenen Religionen schon anwesend, so dass sogar bereits in diesen Fällen die Religion nicht als ein Artefakt oder als eine Illusion angesehen werden kann, sondern vielmehr die treue Selbstdarstellung ihres eigenen Göttlichen ist. Darüber hinaus ist für Hegel das Thema eines Gottes, der dem Wissen äußerlich wäre, schlichtweg inakzeptabel. Dass nämlich Gott von seiner Offenbarung getrennt sei, d.h., dass diese ihn nicht ganz und gar, sondern nur in diesen oder jenen Aspekten und gelegentlich nur auf eine deformierte Weise darstellen würde – das hieße, dass Gott unfähig sei, sich selbst zu offenbaren. Ein solcher Gott wäre beschränkt, indem seine Manifestation von ihm entfremdet wäre – was wiederum mit dem Begriff des Geistes und noch mehr mit dem Begriff Gottes vollkommen widersprüchlich wäre. „Zur wahren Idee Gottes gehört es, dass es nicht ein Jenseits sei, gegen das das Bewusstsein draußen und drüben steht“.7 Kurz: der Gott der Religion, so Hegel, ist nichts anderes als der Prozess, wodurch der Geist sich selbst auf religiöse Weise offenbart. „Es ist ein schlechter Ausdruck, wenn man meint, daß wir nur von dieser Beziehung Gottes auf die Welt, aber nichts von ihm wissen. Vielmehr ist eben das seine eigene Bestimmtheit, damit seine eigenen Eigenschaften“.8 Es ist nicht gerechtfertigt, Gott und seine religiöse Vorstellung entgegenzusetzen, weil die letzte vielmehr das Leben Gottes selbst ist: „Wenn in der Tat unter 4
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8
Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften III. In: Werke in zwanzig Bänden. Hrsg. von E. Moldenhauer und K.M. Michel. Frankfurt a.M. 1970 (von nun an TWA), Bd 10, § 564, 373-374. Vgl. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion, TWA, Bd 1, 46 und 50-51. A.a.O., 46. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte. Hrsg. von K.H. Ilting, K. Brehmer, H.N. Seelmann, Hamburg 1996, 86. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion. Hrsg. von W. Jaeschke. Hamburg 1983-1984. Bd 2, 566.
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der Religion nur ein Verhältnis von uns aus zu Gott verstanden werden sollte, so würde nicht ein selbständiges Sein Gottes zugelassen; Gott wäre nur in der Religion, ein von uns Gesetztes, Erzeugtes. […] Zur Natur Gottes [...] [gehört] für den Geist des Menschen zu sein, sich demselben mitzuteilen“.9 Für Hegel gilt also schließlich, dass die religiöse Vorstellung das Handeln Gottes selbst ist, und dass Gott nichts anderes als dieses Handeln ist. Was folgt aus dieser Feststellung? Die Religion, so Hegel, ist nicht ein objektiver Inhalt, eine bloße Rede, die von einem Menschen gehalten wird. Die Religion ist die Erscheinung Gottes als Geist, d.h. als Subjekt. Zwar sind die Formen des Göttlichen zueinander unterschiedlich; zwar sind die einen nicht so frei und vernünftig wie die anderen. Aber nach Hegel ist es immer das Göttliche, das erscheint, und so das Prinzip der Religion ist. Inwiefern ist die Religion als solche wahr? Bekanntlich bezeichnet die Wahrheit bei Hegel nicht die Identität eines Gedankens mit einem äußerlichen Sein, sondern die Identität eines Gedankens oder eines Seins mit sich selbst. Das Kriterium der Wahrheit ist nicht äußerlich sondern innerlich. Näher besteht die Wahrheit eines Subjekts in der Tätigkeit, in der es das Objekt aufhebt, d.h. in der es mit dem Objekt in ein freies Verhältnis tritt und sich mit ihm versöhnt. Deshalb ist die Religion wahr, nicht weil sie ein Göttliches beschreibt, das außer der Religion existieren würde, sondern weil sich in ihr das Göttliche mit der Welt und dem Menschen versöhnt. Die Religion ist für Hegel nur eine Art Wissen. Jedoch ist dies Wissen wahr, indem Gott als das Subjekt, das in der Vorstellung hervortritt, als ein wahrer Geist hervortritt. Um dies deutlicher zu machen, möchte ich eine Analogie mit den beiden anderen Momente des absoluten Geistes machen: die Kunst und die Philosophie. a) Bekanntlich ist das Kunstwerk für Hegel nicht einfach ein Produkt der Nachahmung, sondern es besitzt einen „in sich selber wahren Gehalt“.10 Es stellt etwas absolut Originales vor: nämlich das „Ideal“ der angeschaute Versöhnung des Geistes mit der Welt. Nun ist diese Versöhnung nicht in der gemeinen Erfahrung anwesend, sondern nur in der ästhetischen Anschauung. Soll man daraus folgern, dass die Kunst trügerisch ist? Im Gegenteil! Die ästhetische Anschauung ist höher und wahrer als die gemeine Erfahrung, indem jene allein ihr Prinzip in sich selbst hat, während die gemeine Erfahrung, so Hegel, wesentlich gespalten und von den äußerlichen Bedingungen abhängig ist. b) Ähnlich ist es im Fall der Philosophie, da diese nicht passiv der äußerlichen Realität untergeordnet ist, sondern im Gegenteil aktiv ihr Objekt spekulativ denkt.11 Die Philosophie macht sich nämlich dadurch frei, dass sie die mannigfaltige Erfahrung in das systematische Denken übersetzt. So vereinigt sie im Denken das, was in der Realität gespalten ist. Folglich ist das philosophi9 10 11
Hegel, Vorlesungen über die Beweise des Daseins Gottes. TWA Bd 17, 382-383. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik I, TWA Bd 13, 385. Vgl. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie 1825/26, Einleitung. Hrsg. von P. Garniron und W. Jaeschke. Hamburg 1994, 212.
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sche Wissen nichts anderes als die Wahrheit selbst. Es erzeugt sich als eine sich selbst begründende Totalität. Analog erzeugt die Religion mittels der Vorstellung eine Versöhnung, die niemals außer ihr existiert. Obwohl z.B. der Blitz, als natürliches Phänomen, von jedem bloß menschlichen Willen unabhängig ist, stellt die griechische Religion den Geist – hier in der Gestalt von Zeus – als den Meister des Blitzes vor. In einer solchen Vorstellung vereinigt sich der Geist mit der Natur. Zweites Beispiel: obwohl der Mensch der Natur nach sterblich ist, bekennt die christliche Religion als eine ihrer zentralen Vorstellungen die Unsterblichkeit der Seele. Dabei besiegt sie auch die natürliche Endlichkeit. Nun sind diese Vorstellungen für Hegel keine bloßen Mythen, weil sowohl die Verehrung von Zeus, als auch der Glaube an die Unsterblichkeit der Seele gewähren, dass der Geist eine neue Selbstauffassung gewinnt und dadurch seine Wesensform verwandelt. In der Religion schließt der Geist Frieden mit der Welt und macht sich dadurch frei. Die Religion ist göttlich, weil sie die Selbstbefreiung des Geistes durch die Erzeugung eines freien Wissens ist. Zum Schluss widerspricht Hegel der gängigen Vorstellung, dass nur die Alternative bestehen würde zwischen zum einen: einem Gott, der nur eine menschliche Fiktion sei, und zum anderen: einem Gott, der autonom, aber zugleich unbegreiflich sei. Für Hegel ist Gott weder von dem (subjektiven) Menschen noch von den (objektiven) Völkern erdichtet. Für ihn ist es nämlich der Geist, der sich selbst in den Menschen als absolut vorstellt, indem er alle subjektive oder objektive Endlichkeit überschreitet. Zu gleicher Zeit ist die Natur Gottes keineswegs rätselhaft, da sie eben nichts anderes als die Tätigkeit seiner Selbstoffenbarung ist.
Religion und Versöhnung Gott „ist“ – jedoch nur in der Weise, als er das Subjekt einer Vorstellung ist. Er ist nicht „reell“ in dem Sinne, dass er Wirkungen in der objektiven Welt verursachen würde, sondern „ideell“, in dem Sinne, dass er sich als ein Wissen erzeugt. Mit einer solchen Ansicht bricht Hegel spektakulär mit der metaphysischen Tradition, die Gott zur höchsten Ursache gemacht hat. Für ihn bestimmt das Göttliche das Reelle auf kausale Weise nicht, sondern es erhebt das Reelle zur Versöhnung im Wissen. Weil Gott sich als eine ideelle Vorstellung mitteilt, stellt er sich nicht als den Ursprung dessen dar, was ist, sondern als dessen Ende und Resultat. Näher nimmt das Leben Gottes drei Gestalten an: eine abstrakt innerliche Vorstellung (z.B. als Gott des Deismus oder als immanente Dreieinigkeit); eine abstrakt äußerliche Vorstellung (z.B. die heidnischen Götzenbilder oder Christus als historisch situiertes Individuum); zuletzt eine Vorstellung, die an und für sich ist, das heißt, die sich in einer menschlichen Gemeinde verkörpert und sich selbst zum Gegenstand nimmt (z.B. die
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ihre Götter verehrenden Griechen oder die auf die Lehre der heiligen Schrift vertrauende christliche Kirche). Zwar ist die Feststellung, dass Gott der sich versöhnende Geist sei, keineswegs eine spezifische Idee im Denken Hegels, da der Geist per definitionem das sich mit der gegebenen Realität theoretisch und praktisch vereinigende Subjekt ist.12 Jedoch hat die geistige Vereinigung mehrere Grade oder Stufen, unter denen die Stufe der religiösen Vereinigung zu den höheren zählt. Solange z.B. der Geist zu Beginn seiner Entwicklung nur subjektiv ist, ist die Synthese am einzelnen Individuum beschränkt (auf seine Empfindungen, Bewusstseinszustände, innerliche Gedanken, usw.). Und solange der Geist in einem zweiten Schritt nur objektiv ist, gibt es zwar eine Versöhnung mit der Welt, aber diese bleibt nur partiell und vorläufig (es gibt eine lose Reihe von Besitzungen, die unvermeidlich vom Diebstahl bedroht sind, Familien, die der Auflösung zustreben, Staaten, die am Ende ihres geschichtlichen Prozesses sich verknöchern etc.) Die religiöse Versöhnung ist dagegen absolut, in dem Sinne, dass der göttliche Geist sich als Herr seiner gesamten Welt vorstellt.13 die Religion ist zugleich objektiv, transparent (Gott offenbart sich allen Mitgliedern eines Volkes)14 und so, dass sie vollständige Seeligkeit gewährt15 (während die Perioden des Glücks in der Geschichte nur leere Blätter sind)16. Anders gefragt: Kann man zugestehen, dass Gott existiert? Die Existenz oder das Dasein Gottes steht vor denselben Problemen wie die Existenz des Geistes überhaupt und lässt sich eigentlich genauso einfach lösen. Wie oben gesagt wurde, hebt der Geist das ursprünglich abstrakt oder äußerlich Gegebene auf, indem er es zur ideellen Totalität erhebt. Der Geist existiert nur durch sich selbst, d.h. durch seine spontane Tätigkeit der Aufnahme der Andersheit. Er setzt sich dadurch in Existenz, dass er seine Identität auf dasjenige projiziert, das ursprünglich äußerlich und mannigfaltig ist. Das bedeutet, dass der Geist nach Hegel keine causa sui ist, in dem Sinne dass er sich vollständig und ohne jede Voraussetzung erzeugen würde. Eigentlich kann eine solche Auffassung keinen Sinn im Rahmen einer Philosophie der Vermittlung, d.h. der Umwandlung des Unmittelbaren, haben. Der Geist geht immer von der Voraussetzung einer äußerlichen Andersheit und von sich selbst als abstrakter Geist aus. Doch er wird erst wirklich durch den Prozess, durch den er sich von seiner Umwelt und von seiner unmittelbaren Identität befreit. Wir finden diesen Gedankengang ebenso in Bezug auf das Dasein Gottes. So wird z.B. Hegels Christus – gemäß des Buchstabens der heiligen Schrift – geboren. Doch er gelangt nur dadurch zur Vollendung, dass er negiert, was er ursprünglich gewesen ist, d.h. dass er im Tod an dem Kreuz seine endliche Leiblichkeit aufgibt. Es gibt zu Beginn eine positive Realität Jesu in der äußerlichen Welt: 12 13 14 15 16
Vgl. z.B. Hegel, Enzyklopädie III, TWA Bd 10, § 381 Z, 21. Vgl. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion, Bd 1, 5. Vgl. A.a.O., Bd 1, 154. Vgl. A.a.O., Bd 1, 4. Vgl. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte. TWA Bd 12, 42.
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jedoch idealisiert Jesus seine gegebene Existenz durch seinen Leidensweg und seine Auferstehung. Dadurch macht er sich an und für sich göttlich. Inwieweit kann man also folglich behaupten, dass Gott – unabhängig von der Stufe der religiösen Entwicklung – „reell“ ist? Der Begriff Realität – oder Dasein – wird von Hegel struktural gefasst. „Reell“ stellt sich „ideell“ genauso gegenüber wie sich das gegebene Ding dem tätigen Denken entgegensetzt. In diesem Maße stellt sich Gott nicht als reell sondern als ideell, oder besser: als idealisierend dar. Er hebt die reelle, in der Erfahrung vorgefundene Unmittelbarkeit auf, indem er sie in die Grundlage der Offenbarung seiner allgemeinen Macht verwandelt. Während z.B. der hebräische Gott die Welt dadurch aufhebt, dass er sich „mit Licht wie mit einem Mantel umhüllt und den Wind zu seinem Boten macht“,17 hebt Christus sein sinnliches Dasein in seiner Auferstehung und der Erhebung zur Rechten des Vaters auf: Jedes Mal ist das Reelle nicht als solches aufbewahrt, sondern erscheint zu einem ideellen Ausdruck der göttlichen Unendlichkeit verklärt. Wie gesagt vereinigt die Religion in der Vorstellung das, was in der Realität gespalten ist. Als Moment des absoluten Geistes hebt die Religion den objektiven Geist auf, und besonders die jeweiligen Völker in ihrer historischen Entwicklung. Die Völker in der Geschichte sind stets voneinander getrennt. Zum Beispiel existiert der griechische Geist in seiner Geschichte in der Form mehrerer Völker, die sich gegenseitig feindlich sind. Jedes gehört einer gewissen Region des Landes an, beherrscht die anderen Völker während einer gewissen Periode der Geschichte und ist somit per definitionem den anderen entgegengesetzt. „Es gibt keinen Prätor [...] zwischen Staaten“.18 Diese Endlichkeit ist die Ursache des Unglücks in der Geschichte, des Faktums, dass die Individuen und Völker nur äußerliche Instrumente und keine angemessene Inkarnation der Vernunft sind. Dagegen ist die griechische Religion das Erscheinen dieses Geistes nicht mehr in einer antagonistischen und kriegerischen Objektivität, sondern als die Vorstellung eines göttlichen Subjekts, das sich in jeder Form seiner Inkarnationen wesentlich erhalten bleibt und mit seiner Umgebung in einem freundlichen Verhältnis steht.19 Wenn es auch eine Mannigfaltigkeit griechischer Gottheiten geben mag, so ist jede nur die Äußerung eines allgemeinen Prinzips, das sich vollständig in jeder Form äußert. In der Geschichte steht Athen Sparta räumlich und politisch gegenüber, Athen hat nur eine eingeschränkte Bedeutung, die sie nicht übersteigen kann und damit ihre Ohnmacht ausmacht. Dagegen wird die griechische Gottheit zu der Macht, die ihre Welt souverän beherrscht. Sie hebt die historische griechische Welt ganz und gar auf, indem sie sie sich zu eigen macht. Deswegen ist sie, gleichwohl besonders, nicht beschränkt, sondern unendlich. Eine Gottheit ist nicht ein (objektiver) Teil des Göttlichen, sondern das allgemeine Göttliche, 17 18 19
Vgl. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion, Bd 1, 42 und Psalm 104. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts. TWA Bd 7, § 333 An., 500. Vgl. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion, Bd 2, 288.
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das sich absolut, d.h. an und für sich, in einer bestimmten Individualität verwirklicht. Kurz: während der objektive Geist in partes extra partes geteilt ist, vereinigt sich das Göttliche, als Selbstdarstellung des freien Geistes, durch ihr inneres Prinzip. Das Göttliche ist wesentlich eine vorstellende Tätigkeit der Vereinung, die sich der gespalteten Realität des objektiven Geistes entgegensetzt.
Die drei Stufen der Religion Wie ist die Verschiedenheit der Religionen in der Geschichte zu denken? Für Hegel ist diese Verschiedenheit die Reihe von Stufen einer einzigen Entwicklung, die teleologisch ausgerichtet ist – und zwar innerlich teleologisch, indem der vorgestellte göttliche Geist zu konkreter Allgemeinheit strebt. Verbunden mit der Annahme einer solchen Entwicklung ist das Axiom, nach dem das Absolute, das Wahre, wesentlich Resultat ist.20 Bekanntlich lässt sich die Wahrheit bei Hegel nicht unmittelbar, d.h. nicht schon vom Anfangspunkt aus erreichen. Es ist für die Idee notwendig – sowohl unvermeidlich als auch unentbehrlich – im Unwahren eine zeitlang zu verweilen, und jeder systematische Prozess enthält zuerst ein Moment der Unmittelbarkeit, dann ein Moment der Entzweiung und erst am Ende ein Moment der Wirklichkeit. Da jeder Prozess einen Fortschritt mit sich bringt, erscheinen für Hegel die Religionen keineswegs in qualitativem Sinne als gleich. Vielmehr findet sich eine klare normative Hierarchie anstelle einer Wertneutralität in den Vorlesungen über die Religion und die Werturteile Hegels schockieren unvermeidlich das heutige Bewusstsein. Nichtsdestoweniger ist der Geist ein konkret Allgemeines. Deswegen ist jede Gestalt eines geistigen Prozesses eine vollständige Verwirklichung dieses Prozesses. Während ein Moment der Natur nur einen Teil der Natur überhaupt abbildet, ist jedes Moment des Geistes stets der ganze Geist in seiner jeweils besonderen Verwirklichung. Im Falle der Religion bedeutet dies, dass jede Religion eine echte Religion ist, eine echte Offenbarung Gottes – obwohl Gott nicht von vorneherein absolut frei. Genauso wie jedes Volk in der Weltgeschichte jeweils für einen Moment legitim die Hauptrolle in der Geschichte spielt, ist jede Religion zeitweilig die jeweils angemessene Vorstellung Gottes, und näher die angemessene Vorstellung der Versöhnung Gottes mit der Welt und der Menschheit. Alle Religionen sind stets „wahr“, auch wenn sie es nicht zum gleichen Grade sind. Beschreiben wir nun kurz die drei großen Etappen der Vorlesungen über die Religion. a) Der Begriff der Religion ist meines Erachtens nicht, wie man es zunächst glauben könnte, eine abstrakte Theorie der Religion. Ich würde die Hypothese 20
Vgl. Hegel, Phänomenologie des Geistes. TWA Bd 3, 24.
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vertreten, nach der der Begriff der Religion eine religiöse Gestalt, ein echtes Moment in dem religiösen Entwicklungsgang, und nicht eine Einleitung Hegels zu den Vorlesungen über die Religion ist. (Diese These wird übrigens auch dadurch gestützt, dass es schon vor dem Begriff der Religion eine Einleitung gibt.) Der Begriff der Religion ist im Folgenden der abstrakte Begriff der Religion in dem Sinne, dass er das erste Prinzip, d.h. der Anfang der Religion ist. Es handelt sich dabei um die unbestimmte religiöse Vorstellung, die auf der unmittelbaren Gewissheit beruht (man denke hier an den Glauben, wie er von Jacobi theoretisiert wird), auf dem Gefühl (man denke hier an die Religiosität nach Schleiermacher) oder auf dem abstrakten Verstand (man denke hier an die Religion der Aufklärung). Das religiöse Bewusstsein bezieht sich nicht auf einen Gott, der in der Welt existiert, sondern auf einen abstrakten Gott, der lediglich die Innerlichkeit des Menschen, so z.B. sein Gemüt oder seinen Verstand, befriedigen kann. Ich würde sagen, dass „der Begriff der Religion“ mit der ganzen Religion in einem solchen Verhältnis steht, wie analog dazu die Logik mit der Folge Logik-Natur-Geist. Der Gott des Begriffs der Religion ist unmittelbar, d.h. vorausgesetzt als immer schon gegeben. „Wir wissen unmittelbar von Gott, dies ist eine Offenbarung in uns“.21 Mithin ist er unbestimmt und lediglich auf sich selbst bezogen.22 b) Dagegen ist die bestimmte Religion – das Ensemble der nicht christlichen Religionen – die Religion des bloß äußerlichen Göttlichen: das Göttliche ist noch nicht wirklich subjektiv, wie in der vollendeten Religion, sondern bleibt durch sein Verhältnis mit der äußerlichen Welt bestimmt. Damit stellt er sich als ein sinnliche Effekte erzeugender und deshalb nur besonderer Gott dar. Aus dieser Besonderheit folgt zugleich die Vielfalt an unterschiedlichen Gottheiten. Zwar ist das Göttliche hier nicht mehr von einem Formalismus affiziert, der noch dem Begriff der Religion eigen ist, weil es bereits in der Welt existiert. Jedoch erscheint es unfähig, sich selbst zu erkennen. Folglich lässt es sich nur von einem anderen, d.h. von dem Menschen erkennen, der es verehrt. Das Göttliche in der bestimmten Religion ist kein vollendetes Subjekt, sondern es ist von den Menschen, die ihn verehren, abhängig.23 c) Zuletzt hat Gott in der christlichen – als der vollendeten Religion – einen objektiven Inhalt (da er als Dreieinigkeit innerlich unterschieden ist) und bezieht sich auf sich selbst. So liebt sich Gott in der immanenten Dreieinigkeit, er besitzt ein Selbstbewusstsein in der Gestalt Christi, und er erkennt als Heiliger Geist, d.h. als Seele der gläubigen Gemeinschaft, den Vater und den Sohn als göttlich. Was ist also der Status des christlichen Gottes? Betrachten wir das Beispiel Christi. Ist er als Gegenstand der evangelischen Erzählung nur eine Konstruktion oder kann man vom Hegelschen Standpunkt aus auch zugleich seine reale 21 22 23
Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion. Bd 1, 289. Vgl. z.B. a.a.O., Bd 1, 86-90. Vgl. z.B. a.a.O., Bd 2, 375.
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historische Existenz annehmen? Meiner Ansicht nach widerspricht nichts in den Hegelschen Texten dieser zweiten Hypothese. Gleichzeitig ist Christus eine Vorstellung, weil alles in ihm Bedeutung hat, indem alles in ihm Offenbarung seiner Göttlichkeit ist, von seinen Reden bis zu seinem Tod und seiner Auferstehung. Auf der einen Seite hat Christus ein äußerliches Dasein, auf der anderen Seite hebt er dieses Dasein auf, indem er davon den Ausdruck des Sieges des Geistes über die Endlichkeit macht. Er ist jedoch noch mehr als das: Christus ist göttlich nicht nur für seine Jünger, sondern auch für sich selbst. Das ist der Unterschied, z.B. zwischen Christus und Zeus, dessen Göttlichkeit sich nur im Verhältnis zu etwas, das ihm fremd ist, konstituiert. Die Vergöttlichung Christi, in seinem Tod und in seiner Auferstehung, folgt lediglich aus seinem eigenen Handeln. Deswegen ist er „an und für sich“ göttlich. Was sind also die Charakteristika der bestimmten Götter? Die Götter stellen sich erstens als sinnlich dar, ihr Dasein ist ein Gegenstand der unmittelbaren Wahrnehmung. Sie erscheinen als einzelne Menschen (Zauberer, Lamas), oder als Fetische und Götzen. In der vollendeten Religion inkarniert sich zwar Gott, aber diese äußerliche Inkarnation ist nur ein Moment in dem christlichen Prozess und wird schließlich in der gläubigen Gemeinschaft als Heiligem Geist aufgehoben. In der bestimmten Religion bleibt dagegen die Gebundenheit an das Sinnliche unüberwunden. Zweitens sind die Götter der bestimmten Religion mannigfaltig, so dass man hier zwangsläufig auf die Form des Polytheismus trifft. Während die Pluralität der Personen in der christlichen Dreieinigkeit aus einer Tätigkeit der Selbstunterscheidung folgt, und während diese Pluralität in der gegenseitigen Anerkennung der drei Personen aufgehoben wird, ist sie in der bestimmten Religion ein ursprünglich und unüberwindbar Gegebenes. Unter den einzelnen Religionen sowie in der jeweiligen Religion selbst existieren unzählige Götter und Göttinnen, so dass man hier von einer schlechten Unendlichkeit sprechen kann. Drittens besitzen die Götter kein Selbstbewusstsein. In der Form wie sie von den griechischen Skulpturen abgebildet werden, erscheinen die bestimmten Götter objektiv, aber nicht für sich selbst. Sie bilden ihre Charaktere nicht durch sich selbst aus. Während der christliche Gott wesentlich auf sich selbst gerichtet ist und danach strebt, sich als heiligen Geist zu erzeugen, beziehen sich die bestimmten Götter auf die äußerliche Welt, um in dieser ihre Wirkungen zu entfalten. Die Götter der bestimmten Religion haben Funktionen in der Welt, die sich jedoch immer nur auf einzelne Teilbereiche derselben beziehen, die manchmal sehr trivial erscheinen. Während für Hegel die christliche Religion von allem Aberglauben frei ist, indem sie uneigennützig ist und keinen materiellen, sondern nur einen geistigen Zweck hat, bringen die bestimmten Religionen allerlei Aberglauben mit sich. Viertens ist in den bestimmten Religionen die Versöhnung zwischen dem Göttlichen und dem Menschlichen noch unvollendet. Ganz im Gegensatz zu der Ansicht des Xenophanes, der beklagt, dass die Götter zu menschenähnlich
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seien, betont Hegel hingegen, dass Gott in den bestimmten Religionen nicht genügend anthropomorph erscheint, weil seine Gestalt nicht wirklich menschlich ist24 – man denke an den Tierkult oder an die in der griechischen Religion über die Grenzen des reell Erfahrbaren hinausgehende Idealisierung des menschlichen Körpers. Dagegen verkörpert Christus die Gestalt eines gemeinen und zufälligen Menschen.25 Dadurch nimmt er die Menschheit gänzlich, bis in ihre Zufälligkeit auf, seine Inkarnation ist somit vollständig. Alles in allem negiert der Gott der bestimmten Religion nach Hegel auch nicht wirklich das Negative bzw. die Endlichkeit, weil er sich dagegen nicht als ein selbstbewusstes Subjekt wendet. Der Gott der bestimmten Religion ist kein wirkliches Subjekt, er bleibt objektiv und ist nicht auf sich selbst sondern stets auf die äußerliche Welt bezogen. Sein Mangel stellt sich für ihn nicht als ein subjektives Leiden dar, so dass die Versöhnung nicht vollständig sein kann.
Die Stufen der bestimmten Religion Wie oben bereits gezeigt wurde, stellt die bestimmte Religion das Hervorgehen des endlichen Göttlichen dar, in dem Sinne, dass sich das Göttliche nicht auf sich selbst, sondern auf das ihm Äußerliche bezieht. Da der „bestimmte“ Gott der mannigfaltigen Äußerlichkeit relativ ist, ist er auch in sich selbst mannigfaltig. Zuerst ist das Göttliche in den natürlichen Religionen (d.h. in Asien und in Ägypten) der äußerlichen Natur verhaftet (Verehrung von natürlichen Elementen, Götter mit tierischer Gestalt, etc.). Dann, in den jüdischen und griechischen Religionen, offenbart das Göttliche objektiv seine Geistigkeit. Nichtsdestoweniger bleibt es von einer Besonderheit gekennzeichnet, die es nicht überwinden kann (der Bund mit diesem oder jenem Volk, die Besitznahme von diesem oder jenem Attribut, etc.). Schließlich definiert sich der Gott in der römischen Religion durch seine Funktion zu einem allgemeinen Zweck, der ihr äußerlich bleibt und wesentlich der römische Staat selbst ist. Der Gott der bestimmten Religion – in der Mannigfaltigkeit seiner Gestalten – ist ohne wahre Subjektivität und nimmt nur ungenügend die Gestalt der Einzelheit eines jeden Menschen an. Deswegen kann er, so Hegel, nicht das letzte Wort der Geschichte der Religionen sein. Die Vorlesung von 1827 – die letzte, die wir in ihrer Ausführlichkeit kennen – ist folgendermaßen aufgebaut:
24 25
Vgl. G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik II, W 14,23. Vgl. a.a.O., W 14, 150.
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Die unmittelbare oder natürliche Religion Zuallererst stellt die unmittelbare oder natürliche Religion einen Gott vor, der sich nicht durch sich selbst von der Natur unterscheidet, sondern vielmehr als ein Seiendes – ein reales oder erdachtes Seiendes – begriffen wird, das selbst ganz natürlich ist: wie ein Mensch, der in seinem einzelnen Dasein betrachtet wird, ein Tier, ein Berg, ein Fluss, das Licht, etc. Zwar wird das natürliche Seiende nicht als solches, sondern als Symbol oder als Personifikation einer allgemeinen Macht verehrt. Nichtsdestoweniger fasst sich diese Macht nicht als geistig: unbewusst von der Freiheit des Geistes stellt sie sich nur als unmittelbar dar. Es gibt jedoch einen Fortschritt in der natürlichen Religion, da man von einer Religion ausgeht, die den Menschen verehrt, dessen Macht nur partiell wirksam ist (z.B. die Religion der Eskimos) und abschließend zu einer Religion gelangt, die einen unsterblichen Gott verehrt, der nunmehr die gesamte Natur regiert. Betrachten wir näher die Etappen dieses Fortschritts. 1) In der Religion der Zauberei, beherrscht ein bloß menschlicher Wille die äußerliche Natur, weswegen Hegel sich die Frage stellt, ob diese Glaubensform überhaupt den Titel „Religion“ tragen sollte. In der ersten Gestalt, in der Religion der Eskimos, handelt es sich um eine direkte Herrschaft über die Natur. Dann beobachtet man bei den Afrikanischen Zauberern eine indirekte Herrschaft über die Natur, mittels Fetischen, Zauber oder des Kultus der Toten. Im Konfuzianismus, wie er von Hegel interpretiert wird, beherrscht schließlich ein einziger Mensch, der Kaiser von China, die gesamte Natur. 2) Während das Göttliche im Zauber wesentlich eins ist (Hegel parallelisiert die unmittelbare natürliche Religion mit dem Leitspruch des ersten deutschen Romantismus: hen kai pan, das Eine und Alles), zeichnet sich die indische Religion im Gegenteil durch die Mannigfaltigkeit seiner Götter aus, durch eine „phantastische Vielgötterei“.26 Der Hinduismus ist also das Moment des Hinaustretens aus der ursprünglichen Abstraktion. Nichtsdestoweniger sind wir immer noch, so Hegel, weit entfernt von der schönen griechischen Phantasie, denn die hinduistischen Vorstellungen sind zufällig (für Hegel bildet jeder Hindu seine eigene Mythologie) und abstrakt, indem sie vom Brahm zu einem vergänglichen Moment reduziert werden. Der Brahm – der weder mit dem Gott Brahmâ, noch mit der Kaste der Brahmanen verwechselt werden darf – ist für Hegel ein wirklichkeitsfremdes Prinzip, das auch keineswegs verehrt wird. Allgemeiner interpretiert Hegel die hinduistische Religion als den Konflikt zwischen einem Prinzip der Vernichtung und einer Mannigfaltigkeit besonderer göttlicher Gestalten. Er betont die Askese der Sadhus, und bezeichnet den hinduistischen Kultus als das Opfer, in dem die Menschen all ihre Besonderheiten abstreifen. 26
Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion, Bd 2, 496.
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3) In der Religion des Lichts, d.h. der Persischen Religion (die Hegel mit dem Mazdeismus identifiziert) ist das Göttliche ein immanentes, allgemeines und einheitliches Prinzip. Es ist nicht mehr eine bloß lokale Macht wie in dem Zauber, es ist nicht mehr außer der Welt als Prinzip der Vernichtung wie im Hinduismus, sondern es ist immanent als allgemeine Bedingung der Erhaltung der Welt. Deswegen werden das Göttliche als das allgemeine Gute, und die Dinge „durch ihre Natur“ als schlechthin gut betrachtet. Nichtsdestoweniger ist das Gute, in der Gestalt des Ormuzd personifiziert, abstrakt: Er hat nicht seinen Unterschied in sich selbst sondern außer sich selbst, in der Gestalt des Ahriman. 4) Wie das persische Licht ist das ägyptische Göttliche die Lebendigkeit überhaupt, die in einer tierischen oder menschlichen Gestalt symbolisiert wird. Z.B. repräsentiert Osiris im Speziellen den Nil, im Allgemeinen aber gleichzeitig die Fruchtbarkeit als solche. Jedoch vereinigt von nun an das Göttliche in sich selbst die Endlichkeit und zugleich die Aufhebung dieser Endlichkeit: Osiris stirbt und steht als Herrscher über das Königreich der Toten wieder auf. Zwar wird sein Tod durch eine äußerliche Ursache, durch die äußerliche Gewalt des Typhon, ausgelöst (und nicht, wie im Falle Christi, durch einen freien Beschluss). Dennoch, da Osiris leidet, wird das Üble ins Gute selbst mit übernommen und damit aufgehoben. So sind, nach dem Wort Herodots, das Hegel zitiert, die Ägypter die ersten, die ausgesprochen haben, dass die Seele des Menschen unsterblich ist.27
Die Religion der endlichen Individualität In der Religion der endlichen Individualität unterscheidet sich für sich der Gott von der Natur, wenn auch er von ihr abhängig bleibt. Seine Zwecke sind von nun her wesentlich sittlich und nicht mehr natürlich bestimmt, indem er sich um das Wohlergehen der Familie und des Staates sorgt. Dieser Abschnitt beinhaltet zwei einander entgegen gesetzte Hauptmomente: den Judaismus (die Religion der Erhabenheit) und die griechische Religion (die Religion der Schönheit). Die beiden Religionen stehen sich systematisch entgegen. 1) Es gibt nur einen hebräischen Gott, der unkreiert ist. Dagegen sind die mannigfaltigen griechischen Götter von den Bildhauern und Dichtern kreiert. 2) Der hebräische Gott gehört dem reinen Denken an, er verfolgt lediglich einzelne Zwecke und verhält sich mit der Natur als eine schaffende oder zerstörende Macht. Dagegen sind die griechischen Götter verkörpert als Gestalten der Kunst. Darüber hinaus besitzen sie kein Selbstbewusstsein und haben lediglich jeweils einen besonderen und zufälligen Bereich ihrer Zuständigkeit. Sie verfolgen keinen allgemeinen Zweck, sondern genießen lediglich ihre eigene Macht. 3) Der hebräische Gott ist rätselhaft und gefürchtet. Dagegen sind die 27
Vgl. a.a.O. Bd 2, 520.
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griechischen Götter durch die Klarheit ihres Wesens und die Heiterkeit ihres Charakters gekennzeichnet, so dass die Menschen in einem freundschaftlichen Verhältnis zu ihnen stehen. 4) Für den Hebräer besteht – so Hegel – der religiöse Kultus darin, durch einen strengen und Opfer bringenden Dienst Gott gegenüber seinen individuellen Sorgen und Zielen, und besonders gegenüber seiner Familie, gnädig zu stimmen. Dagegen macht der sorgenfreie griechische Mensch das Interesse seines jeweiligen Staates zu dem seinigen. Der Kultus ist für ihn eine Gelegenheit des Genusses, in dem er sich seiner Einheit mit den Göttern bewusst wird.
Die Religion der Zweckmäßigkeit Die römische Religion, als Religion der Zweckmäßigkeit, ist ein prosaisches Moment, in dem jeder Römer Zwecke verfolgt, die zugleich abstrakt allgemein und endlich sind. Der Römer ist nicht mehr auf den bloßen Genuss ausgerichtet und auch die Götter erscheinen ihm nicht mehr als freundlich. Sie schließen keine Bündnisse mit den Menschen, sondern können schlichtweg entweder nützliche oder schädliche Wirkungen erzeugen. Deswegen ist für Hegel das Gefühl der Abhängigkeit, von dem Schleiermacher in den Reden über die Religion spricht, typisch für die römische Religion. Während der Grieche durch seine Heiterkeit, seine Jugend, seine reizvolle Unbefangenheit gekennzeichnet ist, kalkuliert der Römer und gebraucht die Götter, um seine Ziele zu verwirklichen.28 Während die griechischen Götter konkrete Gestalten sind, sind die römischen Götter abstrakte Mächte, deren Funktionen darüber hinaus häufig trivial erscheinen. Die römische Religion ist wesentlich im Dienste des Staates, und der Zweck dieses Staates ist die weltliche Herrschaft. Während Griechenland als das Reich der genialen Individualität – mit ihrem Urbild Alexander – erscheint, ist in Rom das Individuum unterdrückt. Der Kampf der Gladiatoren gegeneinander, der bei den Römern zu einem wirklichen Kultus aufsteigt, ist das Bild dieser Unterdrückung: die Tugend der Menschen besteht nur darin, sich dem Tod gegenüberzustellen und, sofern der Kaiser dies verlangt, zu sterben.
*** Ein einfacher Vergleich zwischen den Arbeiten von Kant und Hegel über die nicht christlichen Religionen offenbart die außerordentliche Sorgfalt Hegels zu ausführlichen und detaillierten Studien. Das ist der Vorteil, aber zugleich auch der Nachteil seiner Auffassung: da Hegel sich von dem Wissenstand seiner Zeit abhängig gemacht hat, erscheint seine Lehre der Religionen für uns 28
A.a.O., Bd 2, 641.
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als veraltet. Er kann in dieser Hinsicht vielmehr als ein ausgezeichnetes Beispiel für die Art und Weise angesehen werden, in der das erste Drittel des 19. Jahrhundert die Geschichte der Religionen gekannt und interpretiert hat. Jedoch zeichnet sich Hegels Ansatz nicht nur durch seine gelehrsame Genauigkeit aus, sondern auch durch den Versuch, jede religiöse Form Ernst zu nehmen und ihr eine spezifische Stelle in der Geschichte zuzuerkennen. Für ihn ist jede Religion eine unentbehrliche Etappe auf dem Weg der Herausbildung des Göttlichen: „So sehr eine Religion irrt, hat sie doch die Wahrheit, wenn auch auf verkümmerte Weise. In jeder Religion ist göttliche Gegenwart, ein göttliches Verhältnis“.29 Anstatt alle nicht christlichen Religionen in die Finsternis der Unwissenheit und des Aberglaubens zu verstoßen, analysiert sie Hegel und differenziert sie sorgfältig aus. Er stellt für jede eine eigenständige Theorie des Verhältnisses zwischen der Freiheit des Göttlichen und der Inkarnation des Göttlichen in der gegebenen Welt vor. Weit davon entfernt, lediglich der bloße Spiegel des Wissens seiner Zeit zu sein, leistet Hegel somit einen authentischen philosophischen Beitrag.
29
Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte. TWA Bd 12, 242.
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Gibt es eine Pflicht zur Erinnerung? Überlegungen zu einer Debatte in Frankreich Einer der ersten, der in Frankreich in den letzten Jahrzehnten Zweifel an der Berechtigung, die Erinnerung in eine „Pflicht“ zu verwandeln, erhoben hat, dürfte Paul Ricœur (1913-2005) gewesen sein. In seinem Buch La mémoire, l’histoire, l’oubli 1 warf Ricœur Fragen über die Erinnerung und das Vergessen auf, die in den französischen Medien eine breite Diskussion auslösten. Die Anweisung sich zu erinnern oder auch die „Pflicht zur Erinnerung“, von der heutzutage so oft gesprochen wird, erschienen ihm bei genauerem Hinsehen problematisch. Wie sei es denn möglich, fragte er, „tu te souviendras“ (Du wirst dich erinnern) zu sagen, also eine zukünftige Form des Verbs „sich erinnern“ zu bilden, wo es sich inhaltlich doch auf die Vergangenheit bezieht? Wie kann ein Verb, „sich erinnern“, das sich eigentlich auf die Vergangenheit bezieht, in die Zukunft gewandt werden? Wie sei es denn möglich und erlaubt, „du sollst dich erinnern“ zu sagen, also den Imperativ dieses Verbs zu bilden, obwohl sich die Erinnerung ihrer Natur nach spontan entfaltet oder ausbleibt, also nur wie ein Pathos auftauchen kann? Und sobald man anfinge, gründlicher über den Ausdruck „Pflicht zur Erinnerung“ nachzudenken, so Ricœur weiter, würden sich viele andere, zusätzliche Fragen stellen: könnte die Anordnung, sich zu erinnern, nicht als Aufforderung an das Gedächtnis verstanden werden, die Arbeit des Historikers auszusparen? Könnte sie nicht als „Forderung des Gedächtnisses gegen die Geschichte“ verstanden werden (une revendication de la mémoire contre l’histoire)? Gerade weil Ricœur sein Buch als „ein Plädoyer für das Gedächtnis als Matrix der Geschichte“ konzipiert, will er vor der Versuchung warnen, das Gedächtnis gegen die Geschichte auszuspielen: Derjenige, der sagt „Du sollst dich erinnern“, sagt auch „Du sollst nicht vergessen“. Die Pflicht, sich zu erinnern, mag wohl zum besten Gebrauch, aber auch zum schlimmsten Missbrauch des Gedächtnisses führen. Ricœur möchte daher den Ausdruck devoir de mémoire (Pflicht zur Erinnerung) durch einen Ausdruck ersetzen, den er für besser hält, nämlich „Arbeit des Erinnerns“, oder „Erinnerungsarbeit“ (travail de mémoire). Die Überlegungen zur sogenannten „Pflicht zur Erinnerung“, die Frage wie „devoir de mémoire“ ins Deutsche zu übersetzen wäre, wurden in den vergangenen Jahren in Frankreich vielfach erörtert – dabei wurden die Thesen 1
Im Jahre 2000 veröffentlicht (Paul Ricœur: La mémoire, l’histoire, l’oubli. Paris 2000) wurde der Band 2004 (München 2004) von Hans-Dieter Gondek, Heinz Jatho und Markus Sedlaczek unter dem Titel: Gedächtnis, Geschichte, Vergessen ins Deutsche übersetzt. Ich zitiere nach beiden Ausgaben: Ricœur: La mémoire, hier 105 f; Ricœur: Gedächtnis, hier 139 f.
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Ricœurs zum Teil noch schärfer gefasst. Als Beispiel mag hierfür ein Aufsatz des Philosophieprofessors Jean-Pierre Cléro dienen.2 Der Aufsatz wurde zunächst auf einer Tagung vorgetragen, die an Cléros Universität, Rouen, im November 2003 unter dem Titel: „L’indicible: dans l’espace franco-germanique au XXe siècle“ [also: „Das Unsägliche: im deutsch-französischen Raum, im 20. Jahrhundert“] stattfand, und der Titel von Cléros Beitrag lautet: „Sur l’expression ’devoir de mémoire’, ou de quelques dangers d’évoquer l’indicible“ [auf Deutsch also etwa: „Über den Ausdruck ‘Pflicht zur Erinnerung’, oder über einige Gefahren, das ‘Unsagbare’ (oder das ‘Unsägliche’, denn dieser Ausdruck hat sich im Deutschen im Anschluss an Adorno durchgesetzt) zu erwähnen (oder in Erinnerung zu rufen)“].3 Cléro fand, dass Ricœur nicht weit genug gegangen war: Ricœur wäre sich der Schwierigkeiten einer „Pflicht des Erinnerns“, die sich als „Treue“ (fidélité) zum Geschehenen darstellt, zwar völlig bewusst, doch hätte er die ‘Belästigung’ oder die ‘unangenehme Lage’ (l’embarras) einer solchen Darstellung beibehalten; wozu Cléro seinerseits nicht mehr bereit ist.4 Denn der Ausdruck „devoir de mémoire“ sei seiner Meinung nach „unglaublich vage“ (incroyablement vague)5, unklar, also philosophisch inakzeptabel. Die zehn Gebote, wie sie sich im zweiten und fünften Buche Mose (‘Exodus’ und ‘Deuteronomium’) finden, mögen wohl klar und eindeutig sein, doch wäre es ebenso „verwirrt“ (confus), über eine „Pflicht des Erinnerns“ sprechen zu wollen, wie es auch konfus wäre, über eine „Pflicht des Wahrnehmens“, oder eine „Pflicht der Vernunft“ sprechen zu wollen. Denn wer sollte sich hier verpflichten, wenn nicht jeder für sich selber, und was wäre denn der Inhalt dieser Pflicht? Könnte man, wie dies Cléro anzudeuten scheint, einen solchen Inhalt aus der Pflicht selber, aus der Form dieser Pflicht, ableiten? Sollte dies nicht der Fall sein, welche Erinnerungsinhalte sollten dann als unbedingt wichtig gelten – und welche nicht? Wozu würde uns diese Pflicht genau verpflichten? Die Literatur zum Thema – so Cléro – vermittelt den Eindruck, dass diejenigen, die den Ausdruck benutzen, ihm jedes Mal eine andere Bedeutung beimessen: man könnte ihn interpretieren, wie man will – als ob er genau zu diesem Zweck erfunden worden wäre. Denn jeder würde wissen, worum es sich handelte (nämlich um die Schoah), ohne es aber direkt aussprechen zu wollen. Es gäbe sogar Leute, die behaupten würden, dass die Schoah, und Auschwitz, zum „Unsäglichen“ (indicible) gehören. – Dies findet Cléro inakzeptabel: seiner Meinung nach sei hier zu befürchten, dass eine solche Behauptung einen Vorwand zur Heuchelei, und zum moralischen Missbrauch bieten würde. Als Beispiel führt Cléro den französischen Phänomenologen Vladimir Jankélévitch (1903-1985) an, genauer dessen Auf2 3
4 5
Cléro wirkt als Professor für Philosophie an der Universität Rouen. J.-P. Cléro, „Sur l’expression ’devoir de mémoire’ ou de quelques dangers d’évoquer l’indicible“. In: Rètif (Hg.), L’indicible: dans l’espace franco-germanique au XXème siècle. Paris 2004, 213-244. J.P. Cléro, ibid., 217, Anmerkung 3. Ibid., 214.
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GIBT ES EINE PFLICHT ZUR ERINNERUNG?
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satzsammlung, die im Französischen unter dem Titel L’imprescriptible. Pardonner? Dans l’honneur et la dignité erschienen ist.6 Cléro kritisiert das Buch von Jankélévitch: es sei zwar „äußerst ehrenhaft und erschütternd“ (éminemment respectable et bouleversant) – man denkt sofort an Shakespeares „Denn Brutus ist ein ehrenwerter Mann“!7 –, es sei aber auch ein gutes Beispiel jener Figur des „unglücklichen Bewusstseins“, die Hegel in der Phänomenologie des Geistes beschrieben hat, und welche dort kritisch als „Wahnsinn des Eigendünkels“ gekennzeichnet wird, und wenig später wird die Position von Jankélévitch geradezu einem paranoiden Groll oder Ressentiment („ressentiment paranoïaque“) angenähert.8 Cléro selbst hat über Hume und über Bentham veröffentlicht,9 wenngleich seine einschlägigen Arbeiten bei der deutschen Hume-Forschung auf wenig Zustimmung stießen,10 doch schreibt er hier als wäre er ein Vertreter der englischsprachigen, analytischen Sprachphilosophie, welche während des letzten Jahrhunderts stets großen Wert auf präzise, klare Formulierungen legte. Aus dieser Perspektive will er der Frage nach einer „Pflicht zur Erinnerung“ nachgehen, und so weist er auf Zweideutigkeiten der Wörter hin, die geklärt werden sollen. Er beruft sich auch auf epistemologische Argumente, wie z.B. auf die Tatsache, dass „historische Urteile“ mit einer Schwierigkeit zu kämpfen haben, mit welcher andere empirischen Wissenschaften nicht konfrontiert werden – ich zitiere: „die lebhaftesten Urteile, die zu einem gegebenen Zeitpunkt formuliert werden können, mögen später zwar wahr bleiben, doch ist es unausweichlich, dass sie einem Verblassen und einem Verschleiß, einer Abnutzung ausgesetzt werden. So ergreifend sie [diese Urteile] zu einem bestimmten Zeitpunkt gewesen sein mögen, wird die darin enthaltene Emotion nach ein paar Jahren und einigen Jahrzehnten nicht mehr überzeugen.“
„Denn“, ich zitiere Cléro, wiederum aus dem Französischen übersetzend, weiter, „ist es auch möglich gewesen, direkte oder quasi-direkte Zeugnisse von Überlebenden der Vernichtungslager zu sammeln. Ist es möglich gewesen, Zeugnisse der Be6
7
8 9
10
V. Jankélévitch: L’imprescriptible. Pardonner? Dans l’honneur et la dignité. Paris 1986. Das erste Wort des Titels spielt auf den juristischen Begriff „imprescriptibilité“ (die Unverjährbarkeit) an. Auf Deutsch könnte der Titel also lauten: Das Unverjährbare. Verzeihen? Auf ehren- und würdevolle Weise. – Ein früherer Text von Jankélévitch wurde von Ralf Konersmann ins Deutsche übersetzt: Das Verzeihen: Essays zur Moral und Kulturphilosophie. Mit einem Vorwort von Jürg Altwegg. Frankfurt am Main 2004. Wie A.W. von Schlegel die bekannte rhetorische Phrase übersetzt, die Shakespeare Antonius in den Mund legt: Julius Caesar, Dritter Aufzug, zweite Szene. Vgl. J.-P. Cléro, ibid., 224. J.-P. Cléro: La Philosophie des passions chez David Hume. Paris 1985; Hume: une philosophie des contradictions. Paris 1998; Le vocabulaire de Bentham. Paris 2002; Bentham: philosophe de l’utilité. Paris 2006. Vgl. zum Beispiel Lothar Kreimendahls Rezension von Cléros erstem Buch über Hume, in: Archiv für Geschichte der Philosophie. 69 (1987), 321-325.
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freier der Gefangenen dieser Lager zusammenzutragen. Ist es dann möglich gewesen, auf Grund von Erzählungen und von Dokumenten unterschiedlichster Herkunft genaue Schätzungen durchzuführen und die folgende Wahrheit sozusagen zu konstruieren: ‘Es gab sechs Millionen Juden – oder von den Nazis dafür gehaltene –, die in den Lagern vernichtet worden sind.’ Dennoch hat diese Wahrheit nicht denselben Status wie die folgende: ‘Die Planeten des Sonnensystems bewegen sich in der Form von Ellipsen um die Sonne [...]’ Zwar lässt sich dieser letzte Satz auch nicht unmittelbar durch die Erfahrung bestätigen [dazu sind Vorkenntnisse, optische Instrumente und mathematische Kompetenzen erforderlich]. Er darf aber doch als Beschreibung einer Tatsache („d’un état de fait“) gelten [...] er darf als wahr gelten, weil er einem Sachverhalt entspricht (la proposition „est vraie parce qu’elle est conforme à un état de fait qu’elle a permis d’établir“) [...] Wenn die Überprüfung [oder Verifizierung, wie die Wissenschaftstheoretiker sagen] des astronomischen Satzes auch nicht unmittelbar erfolgen kann, kann er doch Anspruch auf Wahrheit erheben und dieser Anspruch beruht auf seiner Übereinstimmung („adéquation“) mit dem Sachverhalt. Im Gegensatz dazu verfügt das Urteil ‘Sechs Millionen jüdischer Opfer sind in den Lagern gestorben’ nicht über denselben Typus von Übereinstimmung. Erstens betrifft dieses Urteil ein einziges Ereignis oder eine einzige Abfolge von vergangenen Ereignissen, die sich über einen Zeitraum von mehr als zehn Jahren erstrecken. Dann entfernt uns, ob wir dies wollen oder nicht, die Zeit, die verläuft, unausweichlich vom Ereignis selbst und sie macht uns immer abhängiger von Dokumenten, deren Wert indirekt ist. Die Geschichte [...] ermögliche so keine Übereinstimmung mehr. [...] Die historischen Urteile, sie mögen so richtig konstruiert seien, wie sie wollen, verbleiben bei der Zerbrechlichkeit und Verflüchtbarkeit (fragilité et volatilité) des sinnlichen Bewusstseins, und werden dadurch angreifbar.“
Zitiert sei schließlich auch noch der Schluss von Cléros einschlägigen Ausführungen: „Die größten Gewissheiten verkommen unausweichlich zu bloßen Wahrscheinlichkeiten, und daran können auch die Phantasmen der Erinnerung nichts ändern (les plus grandes certitudes se corrodent inéluctablement en probabilités; aucun fantasme de souvenir n’y peut rien).“11
Cléro beeilt sich, diesen Ausführungen hinzuzufügen, dass es ihm nicht darum ginge, den Revisionisten Recht zu geben, welche die Frechheit besitzen, nur wenige Jahrzehnte nach dem Funktionieren der Vernichtungslager einfach deren Existenz zu leugnen. In Frankreich verfügt jener Revisionismus über eine beträchtliche Anzahl von Vertretern und über ausgezeichnete Verteidiger, dennoch glaube ich nicht, dass Cléro zu diesen Revisionisten oder deren Sympathisanten gehört. Explizit distanziert er sich jedenfalls von solchem Geschichts-Revisionismus. Er weiß ganz genau, dass es die Konzentrationslager und Gaskammern gegeben hat und er will ihre Existenz nicht bezweifeln. Doch treten uns in seinem Aufsatz allerlei Thesen entgegen, die problematisch sind, und wenn man die Argumentationsweise, welche darin benutzt wird, überprüft, offenbart sich auch rasch, dass sie keineswegs so stringent und glatt 11
J.-P. Cléro (2004; op. cit.), 218-219.
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ist, wie der Autor es vorgibt, sondern vielmehr ziemlich locker und holperig. Zwar gibt es, woran Cléro erinnert, tatsächlich wichtige Unterschiede zwischen der Geschichtswissenschaft und den anderen empirischen Wissenschaften. Historische Ereignisse geschehen nur einmal, man kann sie – zu unserem Glück! – nicht beliebig wiederholen. Aus dieser Einsicht darf aber nicht geschlossen werden, dass es in der Geschichte, im Gegensatz zur Physik, zum Beispiel, keine Sätze oder Urteile, die den Tatsachen entsprächen oder angemessen wären, geben könnte. Noch weniger wird daraus geschlossen werden dürfen, dass „die größten Gewissheiten unausweichlich zu bloßen Wahrscheinlichkeiten“ herabsinken. Obwohl sich Cléro als Freund von Klarheit und Eindeutigkeit ausgibt, spielt er hier selber ziemlich unverhohlen mit Worten, und mit Emotionen. – Und es gibt in seinem Text eine unterschwellige aber scharfe Feindseligkeit, eine kaum verhohlene Ablehnung derjenigen, die so viel – für Cléro wohl zu viel! – über die Schoah sprechen, und über die Pflicht, sich ihrer zu erinnern: dies hat er offenbar satt, zuviel ist zuviel, er will einfach nichts mehr davon hören. Und da es ihm zu viel ist, setzt er seine berufliche Spezialität – die philosophische Argumentation – gezielt ein, um seinen Ärger und Unmut abzulassen. Hier geht es mir aber nicht so sehr um diesen spezifischen Artikel selbst, und noch weniger um seinen Autor, Cléro, als vielmehr darum, dass der Artikel repräsentativ für einen Trend ist und diesen sichtbar machen kann. Dieser Trend besteht darin, dass die Animosität, das feindselige Gefühl gegen diejenigen, die über die Schoah sprechen, in den letzten Jahren bedeutend zugenommen hat. Es erscheint mir zum Beispiel sehr fraglich, ob sich Cléro selber vor ein paar Jahren getraut hätte, mit solchem Hohn über Vladimir Jankelevitch zu sprechen, wie er es jetzt tut.12 Wenn Cléro heute so abfällig über Jankélévitch sprechen kann, so deshalb, weil sich die Dinge entwickelt haben, und zwar leider in die falsche Richtung. Es ist oft schwierig geworden, in Frankreich über die Schoah zu sprechen, und sogar ihre Geschichte zu lehren. Viele äußern ihren Überdruss, wenn dieses Thema angesprochen wird, und manche tun dies in einer extremen, viel extremeren Form als mein Beispiel Cléro: in diesem Kontext wäre etwa an den 1966 geborenen, ehemaligen Komödianten und jetzigen Polit-Agitator Dieudonné zu erinnern, und an den Skandal, den er mit seinem Ausdruck „Pornographie mémorielle“ (vielleicht als ‘Erinnerungspornographie’ zu übersetzen) ausgelöst hat ...13 12
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Unter dem Vichy-Regime wurden Jankélévitch wegen seiner russisch-jüdischen Herkunft seine französische Staatsangehörigkeit und seine Lehrbefugnis entzogen. Jankélévitch überlebte als Widerstandskämpfer und konnte nach dem Krieg noch fast 30 Jahre lang an der Sorbonne den Lehrstuhl für Moralphilosophie wahrnehmen Über Dieudonné (eigentlich Dieudonné M’bala M’bala; Sohn einer französischen Mutter und eines aus Kamerun stammenden Vaters) ist in Frankreich schon viel Tinte geflossen, vgl. zum Beispiel: Claude Askolovitch, „De la cause noire à la haine des juifs. Dieudonné: Enquête sur un antisémite“. In: Le Nouvel observateur, 24.2. 2005. Es ist ihm sogar schon ein ganzes Buch gewidmet worden, das allerdings schon 2005 erschienen ist und in dem deshalb die
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Es kann hier keine Erklärung dieses Phänomens geboten werden – noch fehlt eine systematische Erforschung und vielleicht ist es auch noch zu früh, um dies zu tun. Es soll hier allerdings auf das Phänomen aufmerksam gemacht werden, insbesondere auf die Form, in der es in Frankreich unter Intellektuellen, und zwar vorzüglich unter Philosophen, bearbeitet wird. Das Gewicht dieser sozusagen „philosophischen“ Ebene der französischen Diskussion ist meiner Meinung nicht zu unterschätzen, denn die Philosophie wird in Frankreich an allen Gymnasien gelehrt; und die Frage „Gibt es eine ‘Pflicht zur Erinnerung’?“, ist in diesem Fach bereits heute zu einem klassischen Thema und einer oft behandelten Frage geworden. In diesem Kontext spielt das eingangs erwähnte Buch von Ricœur – La mémoire, l’histoire, l’oubli: Gedächtnis, Geschichte, Vergessen – eine ganz besondere Rolle: Ricœur war in Frankreich ein äußerst beliebter Autor, als Redner ist er bis zu seinem Tode überall gefragt gewesen, und sein genanntes Buch fand eine sehr weite Verbreitung und bildet einen unumgänglichen Referenzpunkt, wenn es um die Pflicht zur Erinnerung geht. Trotz aber auch gerade wegen seines Erfolges muss an dieses Buch die kritische Frage gestellt werden, ob es nicht zumindest mitverantwortlich ist für die in Frankreich heute häufig anzutreffende ablehnende Haltung gegenüber dem Anspruch einer „Pflicht zur Erinnerung“. Zweifelsohne ist die Frage nach einer „Politik der gerechten Erinnerung“, die Ricœur sowohl in seinem Buch als auch in zahlreichen Vorträgen hervorgehoben hat, eine ganz wichtige, aktuelle. Ist aber die Richtung, die er eingeschlagen hat – den Ausdruck devoir de mémoire („Pflicht zur Erinnerung“) durch einen Ausdruck wie travail de mémoire („Erinnerungsarbeit“) zu ersetzen – richtig, um diese Frage zu beantworten? Dieser Frage soll in den folgenden Ausführungen nachgegangen werden und dabei wird das Buch von Ricœur im Zentrum stehen. Zunächst sollen einige Überlegungen zum Thema „Gerechtigkeit“ dargestellt werden, denn dieses Thema scheint auch für Ricœur den Kontext zu bilden, in welchen er seine Auffassung der Erinnerung, und des Gedächtnisses, einordnen will. Dann soll es um die Unterschiede zwischen „mémoire“ (Erinnerung, Gedächtnis) und „histoire“ (Geschichte), damit also auch um die Frage nach der Geschichtsschreibung und um Ricœurs Auffassung von Geschichtsschreibung gehen. Mit einer kurzen Erläuterung des „politischen“ Aspekts, der politischen Dimension der behandelten „Pflicht“ soll geschlossen werden. Das Ergebnis der folgenden Ausführungen, die hier tragende Überzeugung sei vorweg benannt: Zwar soll an der „Pflicht zur Erinnerung“ festgehalten und diese verteidigt werden, doch gilt es auch, diese Pflicht näher zu bestimmen: sie kann keine rein „moralische“ Pflicht sein, sondern sollte als politische Pflicht par excellence verstanden werden. Dies würde erstens bedeuten, dass sie eine sittliche Dimension (im Sinne Hegels) beinhaltet; zweitens aber auch, dass ihr in jedem Land neueren Entwicklungen nicht berücksichtigt werden konnten: Anne-Sophie Mercier, La Vérité sur Dieudonné. Paris 2005.
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oder besser in jedem Staat ein anderer Inhalt zukommt, dass sie andere Verpflichtungen enthält. Nähere Bestimmungen hierzu werden im Folgenden nur zu Frankreich gegeben, dem Land, von dem die Debatte ausging – obwohl es natürlich auch über andere Staaten und über die Interpretationen, welche die „Pflicht zur Erinnerung“ dort erfahren hat, viel zu sagen gäbe.
I Einige Autoren haben behauptet, dass der Ausdruck „devoir de mémoire“ zuerst und hauptsächlich in Frankreich benutzt worden ist.14 Ob diese markante These richtig ist oder nicht, lässt sich nicht leicht überprüfen, doch scheint es schon signifikant, dass es für den einzig geläufigen französischen Ausdruck „devoir de mémoire“ viele unterschiedliche Übersetzungen gibt, sowohl auf Deutsch als auch auf Englisch: auf Deutsch findet man etwa „Pflicht der Erinnerung“, „Pflicht des Erinnerns“, „Erinnerungspflicht“ – oder auch „Pflicht zur Erinnerung“. Eine Frage, die es verdient, dass ihr nachgegangen wird, ist jedenfalls, wie das Wort „devoir“ übersetzt werden sollte: auf Französisch hat das Wort denselben lateinischen etymologischen Ursprung wie „dette“ (Schuld), nämlich debere (von de-habere: etwas von jemandem haben).15 Ich habe ein „devoir“, wenn ich etwas von jemandem habe, wenn ich ihm verpflichtet bin – oder besser: wenn ich ihm etwas schulde, wenn ich ihm oder ihr gegenüber eine Schuld habe. Unter diesem Gesichtspunkt wäre es vielleicht angemessener, „devoir de mémoire“ als „Schuld des Erinnerns“ oder als „geschuldete Erinnerung“, vielleicht sogar „schuldige Erinnerung“, zu übersetzen: ich bin verschuldet, daran muss ich mich erinnern – und dafür müsste ich auch bezahlen. Tatsächlich hat das Wort „Schuld“ nicht nur eine moralische und juristische, sondern auch eine materielle, finanzielle Bedeutung: ich bin jemandem Geld schuldig. Dass der „moralische Hauptbegriff ‘Schuld’ seine Herkunft aus dem sehr materiellen Begriff ‘Schulden’ genommen“ hätte, wurde schon von Nietzsche in der Genealogie der Moral behauptet.16 Ricœur, welcher in seinem Buch die Variationen der Genealogie der Moral über die verschiedenen Bedeutungen des Begriffs „Schuld“ erwähnt,17 war von der Wichtigkeit dieses Autors ganz überzeugt, sicherlich auch wegen des großen Eindrucks, den das Nietzsche-Buch von Gilles Deleuze auf ihn und viele anderen Franzosen seiner Generation gemacht hatte.18 14 15 16
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Siehe zum Beispiel: Emmanuel Kattan, Penser le devoir de mémoire. Paris 2002, 3. Dette: von debito, debitum, das was geschuldet wird/was man schuldig ist. F. Nietzsche, Zur Genealogie der Moral. II. Abhandlung, 4. Abschnitt. In: Colli/Mazzino (Hg.), Kritische Studienausgabe [KSA] in 15 Einzelbänden. München 1988, Bd 5, 297. Ricœur, La mémoire, 633f – Ricœur, Gedächtnis, 749. Siehe insbesondere den Hinweis (Ricœur: La mémoire, 633 f0 Anm. 39 – Ricœur: Gedächtnis, 749, Anm. 47), im Zusammenhang einer Erörterung des Bewusstseins der Schuld, jener
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Ricœur betont aber auch, wie wichtig es sei, den Begriff der „Schuld“ nicht auf die „culpabilité“ (also die ‘Schuldigkeit’, im Sinne der ‘Straffälligkeit’) zu beschränken und einzugrenzen. Ihm zufolge ist die Idee der Schuld von der Idee der Erbschaft („héritage“) untrennbar: unseren Vorgängern sind wir zu einem wichtigen Teil dasjenige schuldig, was wir sind; wir sind ihnen für einen großen Teil unserer Identität verpflichtet. Die Pflicht zur Erinnerung würde uns also dazu verpflichten, nicht nur die materielle, schriftliche Spur vergangener Ereignisse zu bewahren, sondern auch dazu, das Gefühl, dass wir unseren Vorgängern viel zu verdanken haben, lebendig zu halten. Es ist also zuvörderst in dieser Hinsicht, dass die Pflicht oder „Schuld“ des Erinnerns ein Teil der Gerechtigkeit ist. Wenn man sich an vergangene Ereignisse erinnern soll, dann in erster Linie, um Gerechtigkeit zu üben: zum Beispiel, das, was man empfangen hat, zurückzugeben oder weiterzugeben – Ricœur greift hier den gängigen Ausdruck auf „payer sa dette“ (seine Schulden begleichen). Dies heißt aber auch, begangene Verbrechen – ob individuelle oder kollektive – zu verurteilen, und zu bestrafen. Natürlich wäre es auch wichtig, zu verzeihen, und dann zu vergessen. Gibt es aber nicht Verbrechen, die unverzeihlich sind, und die man deshalb nie vergessen sollte? In diesem Kontext erwähnt Ricœur Vladimir Jankelevitch, der nicht verzeihen wollte: „Le pardon? Mais nous ont-ils jamais demandé pardon?“19 – Ricœur ist weit davon entfernt, diese Position und ihren Verteidiger (Jankélévitch) so abfällig zu behandeln, wie Cléro es getan hat. Ricœur möchte sich aber doch von Jankélévitch trennen oder zumindest entfernen: stammt die Unfähigkeit zu verzeihen, so lautet die Frage, die Ricœur nicht nur an Jankélévitch zu stellen scheint, nicht aus „unserer Unfähigkeit, absolut zu lieben“ (notre incapacité à aimer absolument)20? Im Hinblick auf die Gerechtigkeit ist der eigentliche Gesprächspartner von Ricœur aber nicht Jankélévitch, sondern Levinas: ein Philosoph, der für ihn immer eine zentrale Inspirationsquelle war, dessen Ideen über die Gerechtigkeit er aber verblüffend fand. Kann diese Thematik hier auch nicht weiter entwickelt werden, sei doch wenigstens hinzufügt, dass etwas anderes ganz erstaunlich ist: nämlich das Ausmaß, in welchem Ricœur von Nietzsche beeinflusst wurde – im Hinblick auf die Erinnerung, und das Vergessen, aber auch im Hinblick auf die Gerechtigkeit. In La mémoire, l’histoire, l’oubli, ist Nietzsche eine Hauptquelle, ja, vielleicht sogar die Hauptquelle, die ihn stärker be-
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„düstren Sache“ (Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, II.3, 4), auf das „bewundernswerte Buch“ („l’admirable livre“) von Gilles Deleuze, Nietzsche et la philosophie. Paris 1962 – deutsche Übersetzung von Bernd Schwibs unter dem Titel: Nietzsche und die Philosophie. Frankfurt am Main 1985. Hier zitiert nach Ricœur, La mémoire, 613 – Ricœur, Gedächtnis, 731: „Das Verzeihen? Aber haben sie uns jemals um Verzeihung gebeten?“ – Das Zitat von Jankélévitch erschien zuerst 1971 im Rahmen einer Studie mit dem Titel Pardonner? und ging später in eine Sammlung einschlägiger Aufsätze ein: Jankélévitch, L’Imprescriptible. Paris 1986, 50. Ricœur, La mémoire, 614 – Ricœur, Gedächtnis, 725.
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einflusst, als alle anderen. Aus der Genealogie der Moral ist schon zitiert worden: obwohl Ricœur diese Abhandlung erst am Ende seines Buches erwähnt, spielt sie doch wohl von Anfang an eine große Rolle, zusammen mit einer anderen, früheren Abhandlung von Nietzsche: das zweite Stück der Unzeitgemäßen Betrachtungen, das den beredten Titel „Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben“ trägt. Für alles, was das Gedächtnis, und das Vergessen, betrifft, stehen für Ricœur Aristoteles, und sogar Freud, in ihrer Bedeutung weit hinter Nietzsche zurück. Mit Hilfe von Nietzsche, nicht etwa mit derjenigen Freuds, wie man vordergründig glauben könnte, wird die erste „Ebene“ des Gedächtnisses, die „pathologisch-therapeutische Ebene“ des „verhinderten Gedächtnisses“ (la mémoire empêchée), von Ricœur gedeutet und erklärt.21 Das „verhinderte Gedächtnis“, das ist das traumatisierte Gedächtnis, das verletzt und krank und „Verdrängungswiderständen“ wie auch „Wiederholungszwängen“ unterworfen ist. Ricœur behauptet, dass es legitim sei, solche Kategorien der Pathologie, die Freud für Individuen, und für die individuelle Trauer entwickelt hat, auf die Ebene der Geschichte, des kollektiven Gedächtnisses zu übertragen.22 Es gäbe also „une mémoire historique malade“, ein „krankes historisches Gedächtnis“, das man durch die „Arbeit der Geschichte“ (un travail de l’histoire) heilen sollte – um es in ein „glückliches Gedächtnis“ (une mémoire heureuse) zu verwandeln.23 Die Thematik einer „glückliche Erinnerung“, eines „glücklichen Gedächtnisses“ (une mémoire heureuse) hat Ricœur sowohl im Schlusskapitel seines Buches als auch in mehreren Vorträgen und Gesprächen weitergeführt. Er sieht in dieser Idee den „Leitstern der ganzen Phänomenologie des Gedächtnisses“,24 die er entwickeln will. – Ein wichtiges Bild also, das unwillkürlich und unwiderstehlich an Nietzsches „glückliche Heerde“, die „vorüberweidet“, denken lässt: „Betrachte die Heerde, die an dir vorüberweidet: sie weiß nicht, was Gestern, was Heute ist, springt umher, frisst, ruht, verdaut, springt wieder, und so vom Morgen bis zur Nacht und von Tage zu Tage, kurz angebunden mit ihrer Lust und Unlust, nämlich an den Pflock des Augenblickes und deshalb weder schwermüthig noch überdrüssig. Dies zu sehen geht dem Menschen hart ein, weil er seines Menschenthums sich vor dem Thiere brüstet und doch nach seinem Glücke eifersüchtig hinblickt – denn das will er allein, gleich dem Thiere weder überdrüssig noch unter Schmerzen leben, und will es doch vergebens, weil er es nicht will, wie das Thier. Der Mensch fragt wohl einmal das Thier: warum redest du mir nicht von deinem Glücke und siehst mich nur an? Das Thier will auch antworten und sagen, das kommt daher dass ich immer gleich vergesse, was ich sagen wollte – da vergaß es aber auch schon diese Antwort und schwieg: so dass der Mensch sich darob ver-
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Ricœur, La mémoire, 83 ff – Ricœur, Gedächtnis, 115 ff. Ricœur, La mémoire, 84 & 94 – Ricœur, Gedächtnis, 116 & 127. Ricœur, La mémoire, 92-94 – Ricœur, Gedächtnis, 126-128. Ricœur, La mémoire, 643 – Ricœur, Gedächtnis, 761.
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wunderte. Er wundert sich aber auch über sich selbst, das Vergessen nicht lernen zu können und immerfort am Vergangenen zu hängen ...“25
Zwar bleibt Nietzsche bei diesem Bilde nicht stehen, es ist nur sein Ausgangspunkt – später schreibt er nicht nur dem Vergessen, sondern auch dem Gedächtnis eine entscheidende Rolle zu, für den ganzen Prozess der Veränderung des Tieres zum Menschen. Ricœur tut dies auch. – Welchen Schluss soll man aus diesen Analysen aber ziehen? Ist das Glück mit dem Vergessen oder mit der Erinnerung – oder eher weder mit dem einen, noch dem anderen notwendig verbunden? Welche Antwort wir auf diese Frage auch geben möchten, das Bild – das Bild des Glückes, als animalisches Glück – wird doch seine ganze verführerische Anziehungskraft behalten. Um diese zu vertreiben, müssen wir unsere Aufmerksamkeit auf den Text von Nietzsche, und auf den Gebrauch, den Ricœur davon machte, richten.
II Bei Nietzsches Text, „Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben“, handelt es sich um ein Pamphlet, das sich an die Zeitgenossen des Autors, und ganz besonders an seine deutschen Zeitgenossen26, wendet: Nietzsche dachte, alle seine Zeitgenossen litten an einem „verzehrenden historischen Fieber“ und hätten ihren berühmten „historischen Sinn“ zu einer „hypertrophischen Tugend“ ausgebaut (ibid.). Um sie von diesem „Fieber“ zu heilen, ging Nietzsche sehr weit, denn er griff nicht nur das eigentliche Ziel seiner Kritik an, den Historizismus und die Geschichtsphilosophie, die jenen begleitete, also insbesondere Eduard von Hartmann, sondern alle Geschichtsphilosophie, auch diejenige von Hegel zum Beispiel – und zwar oft mit ganz unberechtigten Behauptungen – und das historische Denken als solches, auch das kritische.27 Ricœur gibt in seinem Buch zu, dass dieser Text von Nietzsche in der Tat zu extrem sei, „excessif “ (maßlos) im Ton, wie auch übertrieben im Inhalt. Ricœur vermerkt auch, dass dieser Text „zur kritischen Untersuchung“ des historischen Denkens, und der historischen Arbeit, eigentlich nichts beitrage.28 Im Gegensatz zu Nietzsche bejaht Ricœur das historische Denken: der zweite und der dritte Teil seines Buches sind der kritischen Untersuchung gewidmet, 25
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F. Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen. Zweites Stück: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben. – KSA, Bd I, 248. An der „historischen Zeitrichtung [...], wie sie bekanntlich seit zwei Menschenaltern unter den Deutschen namentlich“; op. cit., 246. Über den genauen historischen Kontext von Nietzsches Text und die darin enthaltene Auseinandersetzung mit Eduard von Hartmann vgl. folgenden ausgezeichneten Artikel,: héritage des Lumières dans l’idéalisme allemand [Littérature et Nation, Nr. 21]. Tours 1 Jacques Le Rider, „La vie, l’histoire et la mémoire dans la Seconde considération inactuelle de Nietzsche“. In: Bienenstock (Hrsg.), La Philosophie de l’histoire 999, 159-186, hier 170-175. Ricœur, La mémoire, 377 – Ricœur, Gedächtnis, 445.
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der zweite Teil der Epistemologie der Geschichte,29 und der dritte der „geschichtlichen Lage/conditio historica“ (condition historique) des Menschen.30 Ricœur entwickelt hier eine eher phänomenologische Betrachtungsweise, deren Leitfaden schon am Anfang dieses Aufsatzes erwähnt wurde: einerseits will er „mémoire et histoire“ (Gedächtnis und Geschichte) trennen, andererseits aber „das Gedächtnis als Matrix der Geschichte“ konzipieren31 – dies ist sicherlich der Grund, warum das dritte Kapitel seines Buches mit langen Überlegungen über das „Vergessen“ schließt.32 Die drei Kategorien, die er in seiner Analyse des Gedächtnisses benutzte (mémoire empêchée, mémoire manipulée, mémoire obligée), kehren hier wieder, mit einer ebenfalls dreistufigen Analyse des Vergessens, die im „oubli commandé: l’amnistie“ (Das befohlene Vergessen: die Amnestie) gipfelt. Dass man zwischen „Gedächtnis“ (oder „Erinnerung“), und „Geschichte“ trennen sollte, ist sicher richtig, inzwischen dürfte diese Einsicht auch ganz trivial geworden sein: in Frankreich gibt es zu diesem Thema eine lange Reihe sehr guter Arbeiten, welche teilweise auch ins Deutsche übersetzt worden sind,33 unter den deutschen Publikationen kann in diesem Zusammenhang beispielsweise auch auf die Arbeiten von Jan und Aleida Assmann verwiesen werden.34 Es bleibt dabei allerdings die Frage offen, wie man diese Trennung zwischen Erinnerung und Geschichte durchführen kann, wenn man gleichzeitig behauptet, wie Ricœur es tut, dass das Gedächtnis als „Matrix der Geschichte“ dienen sollte. Eine solche Betrachtungsweise mag phänomenologisch begründet sein, sie scheint mir in gewisser Hinsicht dennoch gefährlich zu sein, genauso wie die These, es sei legitim, die Kategorien der Pathologie, die für Individuen und für die individuelle Trauer entwickelt wurden, auf die Ebene der Geschichte und des kollektiven Gedächtnisses zu übertragen. Dies sind aber Fragen, deren Behandlung hier zu weit führen würde.35 29 30 31 32 33
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Ricœur, La mémoire, 167 ff – Ricœur, Gedächtnis, 209 ff. Ricœur, La mémoire, 373 ff – Ricœur, Gedächtnis, 441 ff. Ricœur, La mémoire, 106 – Ricœur, Gedächtnis, 140. Ricœur, La mémoire, 536-592 (56 Seiten!) – Ricœur, Gedächtnis, 633-696 (63 Seiten!). Vgl. etwa Michel de Certeau, L’écriture de l’histoire. Paris 1975 – deutsche Teilübersetzung von Sylvia M. Schomburg-Scherff, Das Schreiben der Geschichte. Mit einem Nachwort von Roger Chartier. Frankfurt a.M. 1991; Jacques Le Goff, Histoire et mémoire. Paris 1988 – deutsche Übersetzung von Elisabeth Hartfelder, Geschichte und Gedächtnis. Frankfurt am Main 1992. Zum Beispiel: Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis: Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München 1977, 62007. Aleida Assmann, Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München 1999, 42009; (gemeinsam mit Ute Frevert) Geschichtsvergessenheit – Geschichtsversessenheit: vom Umgang mit deutschen Vergangenheiten nach 1945. Stuttgart 1999; Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. München 2006. Ich bin diesen Fragen im Rahmen einer Vorlesungsreihe „Das Erinnern – Zakhor: Politische, ethische und religiöse Dimensionen des Erinnerns“ nachgegangen, die ich im Sommersemester 2010 als Gastprofessorin an der Universität Zürich halten konnte. Die Veröffentlichung dieser Vorlesungen ist in Vorbereitung.
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Im Hinblick auf die kritischen Punkte, die eben angesprochen wurden, sei ein Hinweis erlaubt, der weiterhelfen kann. Es geht um die Position des 1924 geborenen französischen Historikers Jacques Le Goff, der es verdient in diesem Kontext erwähnt und sogar recht ausführlich zitiert zu werden. Jacques Le Goff ist einer der besten Spezialisten des europäischen Mittelalters,36 von dem bereits viele einschlägige Bücher auch in deutscher Übersetzung vorliegen, – er ist aber auch ein Autor, der pionierhafte Bücher zur Historiographie geschrieben hat, wie zum Beispiel Faire de l’histoire: drei Bände, die er gemeinsam mit Pierre Nora vorlegen konnte.37 Unmittelbar nach der Veröffentlichung des Werks von Ricœur betonte Le Goff in einem Interview mit der französischen Wochenzeitung Le Point38, dass gerade wenn die zu behandelnden Ereignisse schmerzhaft sind, der Historiker vor der Versuchung stünde, zur Psychoanalyse zu greifen. Doch warnt Le Goff ausdrücklich vor dieser Versuchung, denn er hält einen derartigen Übergang von der individuellen zur kollektiven Ebene für unmöglich oder zumindest für sehr problematisch.39 Allerdings räumt Le Goff ein, dass es auch für den Historiker bei seiner Arbeit traumatische Erfahrungen gäbe.40 Der Historiker müsse sich dann aber davor hüten, Geschichte und Erinnerung/Gedächtnis zu vermischen, denn die letztgenannte sei eine individuelle Funktion, die erstgenannte aber eine wissenschaftliche Tätigkeit [also mit objektiven, universellen Kriterien].41 Der Historiker müsse sich von den Leidenschaften des Gedächtnisses frei machen, auch wenn dieses ansonsten eine notwendige Instanz sei, denn die Amnesie würde Pathologien hervorbringen. „Das Begriffspaar Geschichte/Gedächtnis gehört zu unserer Gegenwart, und greift auf die Idee der Wahrheit zurück“.42 Es ist an dieser Stelle, dass Le Goff zunächst kritische Überlegungen über „bestimmte philosophische Haltungen“ (certaines attitudes [...] philosophiques) einfließen lässt und sich dann gezielt über Ricœur äußert: „Ich bedauere gewisse Haltungen – genauer philosophische Haltungen, mehr oder weniger – die den Beruf des Historikers ausgelöscht haben. Zweifellos besteht die Geschichte, sobald sie über die Feststellung von bestimmten unbestreitbaren Tatsa36
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Vgl. zum Beispiel: Jacques Le Goff, Kultur des europäischen Mittelalters. Übersetzt von Gerda Kurz. München 1970 [Originalausgabe: La Civilisation de l’Occident médiéval. Paris 1964]. Le Goff/Nora (Hg.), Faire de l’histoire. 3 Bände. Paris 1974 (diverse Nachdrucke). „Cessons de confondre histoire et mémoire …“ Interview mit Jacques Le Goff, in: Le point. N° 1478, vom 12. Februar 2001, 88 f. Die folgenden Zitate Le Goffs stammen aus diesem Interview (meine Übersetzung; M.B.). „Sur ces événements douloureux, l’historien peut être tenté de recourir à la psychanalyse. Sur ce point, j’incite à la plus grande prudence, car ce qui peut valoir au plan individuel n’est pas directement transposable dans le domaine collectif.“ Op. cit., 90. „Reste que l’historien rencontre dans son travail ce qu’on appelle des traumatismes“: ibid. „Il doit alors se garder de confondre histoire et mémoire. Celle-ci est une fonction individuelle, celle-là un travail scientifique.“ Ibid. „L’historien doit se déprendre des passions de la mémoire, laquelle est par ailleurs une instance nécessaire, car l’amnésie crée des pathologies. [...] Le couple histoire/mémoire relève de notre présent et fait appel à la notion de vérité“: ibid.
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chen hinausgeht, vorwiegend aus Interpretationen – und toleriert daher, auf gewisse Weise, mehrere Wahrheiten. “43
Er räumt zwar bereitwilligst ein, dass die Geschichtsschreibung als Disziplin aus Interpretationen aufgebaut sei und es von daher mehrere Wahrheiten geben könnte. Doch müsse der Historiker nichtsdestoweniger von einem Verlangen nach Wahrheit beseelt sein, welches den Horizont seiner Forschung und deren Moral bilde. Die Wahrheit bestünde aber gerade auch darin, das Vergessen zu vermeiden. So bestünde also eine Pflicht zur Erinnerung, die auch im Hinblick auf diejenigen Erinnerungen zu erfüllen wäre, die wehtäten. „Aber wenn der Historiker nicht von dem Verlangen nach Wahrheit, als Horizont seiner Forschung und als moralische Tugend, beseelt wäre, dann stünde die Türe für alle Arten von Zügellosigkeiten [débordements] offen. Die Wahrheit besteht nun aber ganz besonders darin, das Vergessen, welches im Allgemeinen selektiv ist, zu vermeiden. Also gibt es eine Pflicht zur Erinnerung, welche gerade auch demjenigen gegenüber zu erfüllen ist, das wehtut. “44
Für den Historiker sollte nicht die Psychoanalyse, sondern vielleicht doch die Religion die Rolle einer Inspirationsquelle spielen – auch wenn man an Religion nicht glaubt. Le Goff bezeichnet sich ausdrücklich als Un-gläubigen, der trotzdem die Abfolge von Eingeständnis [einer Tat], ‘Beichte’ und Verzeihung für nützlich hält.45 Er spitzt sein Argument noch zu, indem er sich als Anhänger der Reue, auf welche die Verzeihung folge, bezeichnet („ Je suis partisan de la repentance, suivie du pardon.“), woran er dann die wohl bewusst unwissenschaftlich formulierte Bemerkung anschließt: „On ne s’en sortira pas autrement “, die man vielleicht als „Anders kann man sich nicht aus der Affäre ziehen“ übersetzen könnte. Womit er sagen zu wollen scheint, dass wir anders mit den schmerzhaften Ereignissen – diese waren ja der Ausgangspunkt seiner Überlegungen – nicht zurechtkommen werden. Gerade an dieser Stelle distanziert sich Le Goff explizit von „Ricœurs letztem Buch“.46 Um die Polemik aber nicht zu scharf werden zu lassen, verweist er dann auf die unterschiedliche Herkunft (protestantisch bei Ricœur, katholisch bei Le Goff), um die unterschiedlichen Optionen zu erklären: „dies mag 43
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„Je déplore certaines attitudes plus ou moins philosophiques qui ont effacé cette notion du métier d’historien. Sans doute l’histoire, au-delà de l’établissement de quelques faits indiscutables, est-elle faite surtout d’interprétations, et tolère donc, en quelque sorte, plusieurs vérités.“: ibid. „Mais si l’historien n’est pas animé par le désir de vérité, comme horizon de sa recherche et comme vertu morale, la porte est ouverte à tous les débordements. Or la vérité consiste en particulier à éviter l’oubli, qui est en général sélectif. Il existe donc un devoir de mémoire, à exercer surtout à l’égard de ce qui fait mal.“, ibid. „Le non-croyant que je suis considère qu’à défaut de la psychanalyse on peut s’inspirer de la religion, qui propose l’aveu, la confession et le pardon“: ibid. „Sur ce point, je ne suis pas tout à fait d’accord avec ce que développe Paul Ricœur dans son dernier livre“: ibid.
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an den unterschiedlichen Sensibilitäten liegen, welche bei ihm protestantisch, bei mir katholisch sind“ [„peut-être est-ce dû à la différence de sensibilité, protestante chez lui, catholique chez moi.“]. Persönlich also einlenkend, bleibt er in der Sache konsequent und erklärt es für einen Fortschritt, wenn bestimmte Personen und solche Institutionen, wie die Katholische Kirche, Reue üben: „Ich halte es für einen Fortschritt, wenn bestimmte Personen oder Institutionen Reue üben: Wäre es noch vor zwanzig Jahren denkbar gewesen, dass die [katholische] Kirche für die Inquisition, für den Antisemitismus, ja sogar, was mich besonders freut, für die Kreuzzüge, die ich für einen Irrtum und ein Verbrechen halte, Reue übt?“47
Le Goff illustriert seine Ausführungen dann noch an dem Beispiel der Folterungen und Kriegsverbrechen, die von Franzosen in Algerien verübt worden sind – in Frankreich immer noch ein brandheißes Thema –, um dann sehr eindrucksvoll zu schließen: „les chemins de l’histoire sont tortueux. Les bourreaux nazis, la torture en Algérie, Pinochet, tout cela revient sur le devant de la conscience. Il nous faut l’expliquer et en tirer les conséquences par une culture honnête et courageuse de la mémoire. Au reste, je suis très optimiste. Il y a aujourd’hui des choses qu’on ne peut plus faire ni dire. J’ai confiance dans le XXIe siècle.“
[auf Deutsch etwa: „die Wege der Geschichte sind qualvoll. Die Nazi-Henker, die Folter in Algerien, Pinochet, dies alles erscheint wieder im Vordergrund des Bewusstseins. Diese Ereignisse fordern eine Erklärung und vor allem, dass wir Konsequenzen daraus ziehen und zwar mit Hilfe einer ehrlichen und mutigen Kultur des Erinnerns. Übrigens bin ich sehr optimistisch. Es gibt heute Sachen, die man nicht mehr sagen noch tun kann. Ich habe Vertrauen ins 21. Jahrhundert.“ Meinerseits muss ich gestehen, dass ich nicht so optimistisch bin – ich weiß nicht, ob das Vertrauen von Jacques Le Goff in das neue Jahrhundert gerechtfertigt ist, denn heute ist es wieder möglich, alles zu sagen – und vielleicht auch alles zu tun. In dem Interview, aus welchem ich soeben zitiert habe, scheint Le Goff seine Hoffnung auf die Religion zu setzen, und tatsächlich ist es wichtig hervorzuheben, dass die Pflicht zur Erinnerung (Zachor)48 letztendlich in der Bibel wurzelt: „Du sollst daran denken/Dich daran erinnern“, „Das vergiss nicht!“, usw. – so schärft es etwa das 5. Buch Mose (Deuteronomium, Kap. 24.22; 47
48
„Je considère comme un progrès que certaines personnes ou institutions aient fait repentance: était-il imaginable voilà encore vingt ans que l’Eglise demande repentance pour l’Inquisition, l’antisémitisme et même, ce qui me réjouit beaucoup, pour les Croisades, dont je tiens qu’elles furent une erreur et un crime?“ Ibid. Grundlegend ist hier die Studie von Yosef Hayim Yerushalmi (1932-2009), Zachor: erinnere Dich!: jüdische Geschichte und jüdisches Gedächtnis [Erstausgabe: Zakhor: Jewish history and Jewish memory. Philadelphia 1982]. Aus dem Amerikanischen von Wolfgang Heuss. Berlin 1988, 21996.
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Kap. 25.19 etc.) seinen Lesern ein. In einem weiteren Schlüsseltext der jüdischen Tradition, der Haggada des Pessach-Festes, heißt es ebenso explizit: „In jeglichem Zeitkreise ist der Mensch dazu verpflichtet, des Auszugs aus Ägypten zu gedenken, sich zu betrachten, als ob er selbst aus Ägypten befreit worden wäre.“ Hier wird das Wort „verpflichtet“ (hebräisch: ’hova) in dem vollen, religiösen Sinne eines Gebots benutzt: es ist geradezu ein Befehl, sich zu erinnern. Ricœur war zwar „bibelfest“, doch wollte er diesen Befehl – als Befehl – nicht akzeptieren: in einem Interview sagte er auch ausdrücklich, dass das Zakhor der Bibel eher eine „Invokation“ (eine Anrufung, eine Berufung auf…) sei als ein „Gebot“.49 Warum, und in welchem Sinne, könnte man aber fragen, ist es kein Gebot? Und was bedeutet es denn für Ricœur, diese Pflicht zu einer „Invokation“ herabzustufen?
III Es kann hier nicht die traditionelle, jüdische Auffassung von „Pflicht“ erklärt werden. Es gibt so viele unterschiedliche Interpretationen dieser Tradition, dass eine solche Aufgabe unlösbar scheint. Grundsätzlich darf aber gesagt werden, dass die jüdischen Gesetze und Gebräuche, von denen hier Rede ist, ursprünglich sowohl moralische, als auch religiöse, und politische Pflichten beinhalteten. Dass diese drei Dimensionen – Moral, Religion, und Politik – in traditionellen Gesellschaften nicht getrennt waren, ist ein Gemeinplatz. Schon daraus könnte man schließen, dass die Pflicht zur Erinnerung für traditionsbewusste, religiöse Juden sowohl eine moralische, als auch eine religiöse, wie eine politische Dimension besitzt. Wenn wir uns aber in eine Situation versetzen, in welcher sich die Trennung zwischen religiösen, politischen und sogar moralischen Verpflichtungen etabliert hat, wie etwa im heutigen Frankreich, dann stellt sich – vorausgesetzt diese Pflicht soll beibehalten und erfüllt werden – die Frage, welche Art von Verpflichtungen die „Pflicht, sich zu erinnern“ verbindlich macht: eine politische, religiöse – oder eine moralische? So wie es ein Fehler wäre, diese Pflicht heute als eine rein religiöse Pflicht zu bewerten, würde ich es auch für falsch halten, sie auf eine rein moralische Pflicht zu reduzieren. Dabei will ich nicht behaupten, dass diese Pflicht an sich nichts Moralisches, oder nichts Religiöses hat, sondern eher, dass die Pflicht zur Erinnerung noch andere Verpflichtungen als rein moralische oder rein religiöse beinhalten muss; und auch, dass die Adressaten nicht dieselben sind, wie die moralischer oder religiöser Pflichten: Die religiöse Verpflichtung gilt nur für diejenigen, die sich zu einer gewissen Religion – zur jüdischen, katholischen, islamischen oder evangelischen bekennen; die moralische gilt auch für diejenigen, die sich zu keiner Religion bekennen, kurz, für den Menschen 49
P. Ricœur, „La mémoire heureuse“. In: Notre histoire, Nr. 180 (September 2000), 6-12.
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als solchen, als Mensch. Die Pflicht zur Erinnerung als eine schlicht moralische Pflicht zu betrachten, sie mit einem „kategorischen Imperativ“ zu vergleichen, etwa mit dem „du sollst nicht töten“, verlangt zu viel – aber auch zu wenig, denn die Pflicht würde als allgemeingültig dargestellt – was sie nicht ist. Als moralische Pflicht würde sie auch von allem konkret historischen Gehalt geleert. Viele Schwierigkeiten, die sich bei dem Ausdruck „devoir de mémoire“ ergeben, stammen aus dem Kantischen, rein moralischen Sinne der mit dem Begriff „Pflicht“ assoziiert wird. Woran könnte man sich denn erinnern, wenn man nicht dabei war, wenn auch nur als Mitglied einer Kollektivität, eines Volkes, einer Gruppe? Also hat die Pflicht zur Erinnerung nicht denselben Status, wie die Pflicht, nicht zu lügen, oder nicht zu töten. Es wäre falsch, sie einer rein moralischen Pflicht anzunähern oder anzugleichen. Die Pflicht zur Erinnerung hat einen ausdrücklich historischen Bezug, einen Bezug zu konkreten Ereignissen – Ereignisse, die von einem Land zum anderen, von einem Volk zum anderen verschieden sind. Zu sagen, dass sie einen historischen Bezug hat, bedeutet aber nicht, dass sie auf ihre geschichtliche Dimension reduziert werden könnte, und dass sie nichts „Moralisches“ enthielte. Aber es ist diese Verbindung eines historischen Inhalts mit einer moralischen – oder besser: sittlichen – Dimension, welche die ganze Schwierigkeit ausmacht, die „Pflicht zur Erinnerung“ zu denken. Jeder Philosoph, oder jeder Philosophielehrer, hat seine bevorzugten philosophischen Quellen – ich selber bin da keine Ausnahme, und so möchte ich zum Schluss noch erklären, dass für mich, um das Wesen und die Eigentümlichkeit der sogenannten „Pflicht zur Erinnerung“ zu verstehen, der geeignetste Philosoph nicht Nietzsche, sondern Hegel ist. Hegel scheint mir viel besser geeignet – auch wenn diese Haltung völlig „unzeitgemäß“ erscheinen mag – weil es Hegel gewesen ist, der in seiner Rechts- und Geschichtsphilosophie50 die Frage der Verbindung des Sittlichen mit dem Historischen am treffendsten gestellt hat; und weil Hegel der Autor gewesen ist, welcher im Bereich des politischen Denkens die Unterscheidung zwischen Moralität und Sittlichkeit durchgesetzt hat.51 Die politische Verpflichtung, die Verpflichtung zu einem 50
51
Für den französischen Kontext konnte ich die einschlägige Bedeutung der Hegelschen Geschichtsphilosophie im Rahmen einer Neuausgabe des Textes hervorheben, die auch die Debatten um diesen Text dokumentiert, indem dort ebenfalls die Stellungnahmen der großen Gegenspieler von Hegel – Kierkegaard, Marx, Nietzsche – zum Abdruck kommen: Bienenstock/Bouton/Buée/Marmasse/Wittmann (Hrsg.), Hegel, La Philosophie de l’histoire. Übersetzt von M. Bienenstock, mit einem kritischen Apparat von N. Waszek. Paris 2009, hier besonders 12 ff. Aus der reichen Literatur zu diesem Thema, vgl. etwa Joachim Ritter: „Moralität und Sittlichkeit“, in: Ders., Metaphysik und Politik. Studien zu Aristoteles und Hegel, Frankfurt/M. 1969, 281-309; Ludwig Siep, „Was heißt: ‘Aufhebung der Moralität in Sittlichkeit’ in Hegels Rechtsphilosophie?“. In: Hegel Studien. 17 (1982), 75-96; M. Bienenstock, „Moralität, Sittlichkeit (moralité, éthique)“. In: Décultot/Espagne/Le Rider (Hrsg.). Dictionnaire du monde germanique. Paris 2007, 731 f (Lexikonartikel mit weiterführenden Literaturangaben); Robert Pippin, „Moralität: die subjektive Seite der Sittlichkeit?“. In: Bubner/Hindrichs (Hrsg.), Von der Logik zur Sprache. Stuttgarter Hegel-Kongress 2005. Stuttgart 2007, 564ff.
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Staat, hat er nicht mit der Moral, sondern mit der Sittlichkeit, d.h. mit einer sittlichen Verpflichtung, assoziiert. In diesem Sinne würde ich auch die These verteidigen, dass die Pflicht zur Erinnerung eine politische Pflicht par excellence sei; wobei ich den Terminus „politisch“ in einem sittlichen Sinne verstehe. Die Pflicht zur Erinnerung ist eine politische Pflicht, und dies bedeutet, dass sie Verpflichtungen beinhaltet, die nicht dieselben sind für Franzosen, für Deutsche und für Israelis. Heute gibt es in Frankreich eine Trennung zwischen den religiösen und den politischen Verpflichtungen. Zu behaupten, dass die Pflicht zur Erinnerung eine politische Pflicht sei, bedeutet nicht, dass sie an sich nichts Religiöses oder nichts Moralisches habe, sondern eher, dass sie ihrem Inhalt nach andere Verpflichtungen als die religiösen oder moralischen umfasst – und dass die Adressaten auch nicht dieselben sind: die religiöse Verpflichtung gilt nur für diejenigen, die sich zu einer gewissen Religion bekennen; die moralische auch für diejenigen, die sich zu keiner Religion bekennen, und die nicht Franzosen sind; kurz, für den Menschen als solchen, als Mensch; die politische Verpflichtung aber für alle Bürger eines Staates. Von daher erscheint es mir völlig angemessen, dass sich zum Beispiel die französische Regierung verpflichtet fühlt, nicht nur gegen Papon, den Kollaborateur der Nazi-Herrschaft in Frankreich, einen Prozess zu führen, sondern auch Gedächtnisfeiern für die „rafle“ des Vel’d’Hiv’ – die am 16. und 17. Juli 1942 durchgeführte Massenfestnahme (in einer Radsporthalle) und der darauf folgenden Deportation von mehreren tausend Juden aus Frankreich – durchzuführen. – Dies ist keine rein moralische, rein menschliche Pflicht, sondern eine politische Pflicht. Angesichts der Konjunktur von öffentlichen „Vergangenheitsbewältigungsritualen“ in Politik und Kultur zum 60. Jahrestag der Befreiung Europas (2005) ist es angemessen, da Erinnerung im gesellschaftlichen Alltag im Spannungsfeld von Realität und Normalität der Verdrängung ausgesetzt ist, sich der Frage des „Politischen“ der Erinnerung zuzuwenden.
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Hegel et la Chine. Essai dialectique § 1. Je crois qu’il est un moyen assez exact de justifier un retour à Hegel aujourd’hui, qui ne passerait pas seulement par les spectres de Marx qui hantent les jugements sur la crise présente du capitalisme. Ce que Husserl, en 1936, a appelé la „crise des sciences européennes“ ne saurait se concevoir jusqu’au bout qu’au travers des enseignements du Système. C’est le Système qui enseigne la crise à la phénoménologie. D’une phénoménologie à l’autre, d’un souci de fondation à un souci dialectique, l’esprit exige un retour sur ses pas dont nous ne mesurons pas encore toutes les conséquences. Pourquoi ce chemin de pensée? Parce que dans son inquiétude si sensible Husserl n’aura jamais pu finalement dépasser des représentations binaires du monde. Or ce constat est devenu absolument criant lorsque le philosophe a dû affronter le défi des humanités non européennes face à l’idéal d’une humanité issue de la raison philosophique. En se référant à cette exigence d’universalité, il a cru atteindre le critère absolu de l’humanisation: „Par là seulement serait décidé si l’humanité européenne porte en soi une idée absolue au lieu d’être un simple type anthropologique comme la Chine ou les Indes“.1
Inutile de justifier davantage une enquête sur la Chine et d’en évaluer autrement le pouvoir d’effraction. Cette simple remarque suffit à marquer d’emblée l’enjeu: crise des sciences européennes et inadéquation du modèle transcendantal censé y remédier. S’il y a une signification philosophique au retour de la Chine dans le concert des nations, c’est bien en effet par l’idée renouvelée de la totalité qu’elle impose, totalité à la fois distendue par l’éloignement et rendue tragique par l’histoire de ses ignorances réciproques. Que ce soit par son urgence ou par l’ampleur des masses qui s’y confrontent, le nouvel horizon de la totalisation n’a pas trouvé un enseignement à sa mesure dans les spéculations ultimes de la raison occidentale enfin saisie par le doute. Plus loin dans l’exposition de la même idée, Husserl croit pouvoir annoncer que la difficulté est surmontée: „Mais notre embarras s’évanouit aussitôt que nous songeons que finalement ce monde de la vie, dans toutes les relativités qui sont les siennes, possède malgré tout sa structure générale.“2 Il reste que le 1
2
E. Husserl, La Crise des sciences européennes et la phénoménologie transcendantale [Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Philosophie].Trad. G. Granel. Paris 1976, 21. Op. cit., 158.
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bilan s’alourdit quand la conclusion tombe: „Mais dans le contexte de sens qui leur est propre, ces connaissances sont et demeurent mythico-pratiques.“3 La phénoménologie transcendantale ne sortira jamais de cette aporie: ou bien l’Europe est porteuse d’un dessein datable historiquement et ne dépasse pas, comme les autres humanités subjectives et relatives, le stade d’une humanité contingente, ou bien elle atteint une Entéléchie du développement de soimême qui réduit les autres peuples et leurs savoirs à ne témoigner de la vérité voulue et sue de l’Europe que sur le mode implicite d’un a priori du monde de la vie: l’Occident seul peut le ramener à un point de vue objectif et scientifique, à un a priori universel objectif. Dans L’Origine de la géométrie, Husserl essaie de sonder le domaine des prémonitions que le monde de la vie apporte aux évidences géométriques. Husserl, comme déjà Cassirer, soutient en effet assez raisonnablement le caractère historique des acquisitions de la raison: „Chaque explicitation et chaque passage de l’élucidation à la mise en évidence (même s’il peut lui arriver de s’immobiliser très tôt) n’est rien d’autre qu’un dévoilement historique; c’est là en soi-même et essentiellement un acte historique et en tant que tel, par une nécessité d’essence, il porte en lui l’horizon de son histoire“.4
Mais cette concession passagère à des thèmes communs à l’historicisme n’empêchera jamais que le propos transcendantal ne retrouve ses assises et, partant, sa dualité irréductible, dans la conclusion de l’analyse, aussitôt qu’apparaît la notion de Sens: „Nous pouvons alors dire aussi: l’histoire n’est d’entrée de jeu rien d’autre que le mouvement vivant de la solidarité et l’implication mutuelle de la formation du sens et de la sédimentation du sens originaire.“5
Or ce sens originaire, où le trouve-t-on assumé et réfléchi? Dans l’humanité européenne conçue comme suite de l’instauration grecque? Elle se cache ici dans l’étrange notion de Pan-humanité: „C’est seulement le dévoilement de la structure universelle d’essence, qui se tient en notre présent historique et par suite en tout présent historique passé ou futur en tant que tel, et du point de vue de la totalité, à l’intérieur seulement du dévoilement du temps historique concret dans lequel nous vivons, dans lequel vit notre panhumanité considérée dans la totalité de sa structure universelle d’essence, c’est ce dévoilement seul qui peut rendre possible une histoire vraiment compréhensive, pénétrante et, en un sens authentique, scientifique.“6
3 4
5 6
Op. cit., 365. E. Husserl, L’origine de la géométrie [Husserls Weg in die Geschichte am Leitfaden der Geometrie: Ein Kommentar zur Beilage III der Krisis] Appendice III au § 9a (trad. J. Derrida). In: op.cit., 419. Loc. cit., 420. Ibid.
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Nul ne soutiendra à la légère que le Hegel historien échappe à cette fameuse „structure de sens intrinsèque“ dont se réclame l’esprit européen et que les analyses empiriques du philosophe de Berlin, dans ses cours de philosophie de l’histoire ou de philosophie de la religion, font une place plus substantielle à l’universalité de l’esprit qui, comme on sait, ne se réalise que dans son déclin occidental. Mais on peut à tout le moins affirmer que le sens hégélien de la totalité est tellement plus complexe que les thématisations de la phénoménologie transcendantale qu’il est la figure la plus intégrative des dualités herméneutiques que traîne après lui l’Occident: comme tel, s’il est un savoir taillé pour affronter les crises d’un Occident assiégé par des cultures rivales de la sienne, c’est bien en lui qu’il faudrait puiser pour accéder à une promesse d’intégralité authentique de l’esprit. Ceci peut être montré encore avec le concept de tradition. Husserl insistait sur la compatibilité entre une telle exigence de sens apodictique et les droits de l’historicité en reconsidérant la notion de tradition. Il parle alors du présent de tout savoir comme „l’unité de la traditionalisation“ que suppose toute recherche réelle et toute détermination d’objet: „C’est là l’a priori historique concret qui embrasse tout étant dans son être-devenu et dans son devenir historique ou dans son être essentiel en tant que tradition et activité de transmission.“7
Husserl se rend alors bien compte qu’une telle remontée au présent des évidences originaires et inconditionnées, c’est-à-dire au fond identique de toute variation eidétique possible, n’a pas prise sur un historicisme entièrement voué à un relativisme qui le place hors de toute forme de réflexion. Voilà le fond d’une crise à la fois spirituelle et épistémologique où toute la structure téléologique de la raison est engagée dans cet appel à une „problématique originale qui se rapporte à la totalité de l’histoire et au sens total qui, en dernière instance, lui donne son unité.“8
§ 2. C’est précisément cette totalisation dans un présent originaire qui pose problème et qui exige un retour circonstancié à Hegel, c’est-à-dire à une structure dialectique de la constitution transcendantale des objets du savoir. Car il n’est pas sûr que l’a priori s’enracine dans des évidences archi-originaires de la conscience. Depuis Leibniz précisément, la pensée européenne a été obligée de composer les éléments de la raison avec des quantités de conscience infinitésimales et évanouissantes. Loin de se complaire dans sa clarté native, la conscience s’est découverte comme un centre de souvenirs et de prémonitions, 7 8
Loc. cit., 426. Ibid.
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que Leibniz s’est plu à suivre au cours de ses excursions dans les plus folles éruditions de la Renaissance. Les Nouveaux essais dans leur entier visent à rappeler qu’il y a des „chutes de musique dans les phénomènes“9 et que la visée de la monade, si elle est d’abord perception et appétition du tout, ne perçoit distinctement que des singularités qui font de la totalité inter-monadique un champ de variation entre des degrés de distinction et de confusion plus qu’un champ intégral d’évidence. S’impose alors la médiation d’une analyse formelle qui permette de progresser du distinct au confus, afin de développer les possibilités de connaissance qu’il recèle: Nous ne percevons distinctement que peu de notions, celles que nous percevons clairement sont la plupart du temps également confuses. Mais cela n’empêche pas que pour nous beaucoup d’idées, qui appartiennent aux idées confuses par l’expérience, se fassent connaître comme des idées distinctes (du moins en tant qu’elles sont distinctes) par la démonstration. Et le plus souvent, en partant de ces idées distinctes en petit nombre, la bienveillance de la providence nous a fourni un accès aux idées confuses qui peuvent être aussi développées, à condition que nous usions d’une Analyse vraie que, pour ma part, j’estime jusqu’ici ignorée par la foule des chercheurs en matière d’Analyse.10 Ce n’est pas l’évidence ici qui compte, c’est le développement auquel parvient un type de formalisme donné, qui finit par se confondre chez Leibniz avec le motif de la Mathesis universalis, renouvelé par la distinction entre la résolution des notions à l’identique, et la résolution à l’infini.11 Mais il suffit ici que l’évidence ait été transformée de fond en comble, non plus saisie d’un 9
10
11
G. W. Leibniz, Nouveaux Essais sur l’ entendement humain. IV, XVI, 12. Ed. Brunschvicg. Paris 1966, 420: „Mais la beauté de la nature, qui veut des perceptions distinguées, demande des apparences de sauts, et pour ainsi dire des chutes de musique dans les phénomènes“. G. W. Leibniz, Specimen demonstrationum catholicarum seu apologia fidei ex ratione. Ed. Grua. Paris 1948, I, 30. Cf. G. W. Leibniz, Monadologie. § 33-36. Ed. C. Frémont. Paris 1996, 250. Il est vrai que l’enquête husserlienne appartient elle-même explicitement au registre de la Mathesis Universalis. Cf. D. Rabouin, „Husserl et le projet leibnizien d’une mathesis universalis“. In: Philosophie. 92 (2006), 13-28. Mais Husserl ne lit dans la Mathesis leibnizienne que la science des structures pures propre à une mathématique formelle, fût-elle-même l’anticipation d’une science de la qualité, mais ne mesure pas que cette Mathesis n’est opératoire qu’à condition d’œuvrer à la réconciliation entre le symbolique comme tel et les singularités concrètes dans une métaphysique des substances: „Les choses uniformes, et qui ne renferment aucune variété, ne sont jamais que des abstractions, comme le temps, l’espace et les autres êtres des mathématiques pures. Il n’y a point de corps dont les parties soient en repos, et il n’y a point de substance qui n’ait de quoi se distinguer de toute autre.“ (G. W. Leibniz, Nouveaux Essais. II, I, § 2). Voilà qui suppose de passer de l’imagination à la métaphysique, et de l’abstraction aux substances, du moins „si l’on veut bannir les êtres abstraits et se résout à ne parler ordinairement que par concrets et de n’admettre d’autres termes dans les démonstrations des sciences que ceux qui représentent des sujets substantiels.“ (Nouveaux Essais. II, XXIII, § 1). Ce sont ces démonstrations substantielles qui manquent à la phénoménologie et l’empêcheront d’ouvrir les champs problématiques avec la même fécondité formelle et historique que Leibniz. A juste titre, D. Rabouin (op. cit. 25-26), souligne combien la conception leibnizienne de la Mathesis comme simple science des choses imaginables était éloigné de la notion, propre à Couturat et à Husserl, d’une mathématique comme discipline formelle.
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sens originel, mais procédure par laquelle le distinct s’engage dans l’obscur selon une méthode de développement. Si la raison n’erre pas à l’aventure dans cette conversion de l’évident vers le ténébreux, c’est que „l’âme est un petit monde, où les idées distinctes sont une représentation de Dieu et où les confuses sont une représentation de l’univers“.12 L’essentiel dans cette pensée est que nos idées sont toujours une expression du tout. L’a priori n’est pas contre le monde, il n’est pas davantage au-dessus du monde, il est relié au monde, il est l’écho de tout l’univers comme l’univers est la somme des points de vue qui sont tournés lui. Ce n’est pas le sens tout entier qui est inné au sujet transcendantal, c’est la vie de l’âme qui est innée à elle-même et dont les singularités sont autant de point de vue accordés aux variations infinies du monde.13 C’est Husserl qui nous a habitué à concevoir le Sens comme un horizon: une philosophie plus métaphysique nous oblige à le concevoir comme une harmonie des expressions, c’est-à-dire comme un système de réciprocités qui libère la pensée de toute abstraction et l’enfonce plus loin que toute conscience actuelle dans l’infinité des consciences possibles: „Les choses uniformes, et qui ne renferment aucune variété, ne sont jamais que des abstractions“.14 C’est pourquoi la raison n’est raison qu’à la condition de se confronter au détail des phénomènes et à chercher en elle les ressources pour en restituer la ligne de développement. Et ce sera à son tour le tournant hégélien contre la philosophie transcendantale que d’en appeler ainsi à une science du concret contre toute abstraction fondatrice qui ne fait que retomber dans le dualisme: „La logique objective est, par conséquent, la véritable critique de ces formes, – une critique qui ne les considère pas seulement selon la forme universelle de l’a priori, dans son opposition à ce qui est a posteriori, mais qui les considère elles-mêmes, dans leur contenu particulier“.15
§ 3. Mais cette lutte contre le dualisme suppose d’abord de reconnaître le caractère borné de nos représentations et de les pousser jusqu’à la limite de leur abolition, en quête d’une totalité de sens qui ne craint pas de s’aliéner dans sa propre transmission ou temporalité. Si l’esprit est destiné à l’absolu, sa téléologie comporte ce moment de perte de soi, et c’est parce que le sens ne craint pas d’aller à son abolition qu’il persiste au-delà de son propre obscurcissement dans une visée finie. Loin de la pensée formelle des Lumières, Hegel partage encore l’optimisme classique et invite son lecteur à identifier la spéculation avec l’acte de se pla12 13 14 15
G. W. Leibniz, Nouveaux Essais. II, I, § 1. „Nous sommes, pour ainsi dire, innés à nous-mêmes“ (op. cit. I, III, § 3). Op. cit. II, I, § 2. Hegel, Science de la Logique. I, 1. L’être. Edition de 1812. [Wissenschaft der Logik. Das Sein (1812).] Trad. P.-J. Labarrière et G. Jarczyk. Paris 1972, 37.
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cer aux limites d’une représentation pour en observer la destruction programmée. Ce modèle est si puissant qu’il ne permet pas seulement d’éprouver le bien fondé du système hégélien dans sa part de transgression des simples acquis de la conscience, il programme surtout une forme de dépassement de la signature de Hegel, en exposant l’œuvre à des développements encore inédits, au cours desquels le système dans sa circularité consent à son propre aveuglement pour se développer plus loin que lui-même! C’est ici que le concept montre tout son sérieux et nous arrache à toute réduction représentationnelle de son exposition. A ce prix un hégélianisme contemporain – un hégélianisme plus fidèle à sa promesse que tout achèvement passager du système qui porte son nom – permettrait de se confronter à la complexification des données que notre temps impose à une pensée en quête de son propre pouvoir d’expression. Il y a là une voie d’infinitisation de la philosophie par un usage du système et un travail du concept auxquels les pensées transcendantales ne sont pas encore prêtes, par la simple fixité des principes auxquelles elles se tiennent. Pour être spirituelle, la phénoménologie doit donc aller à l’abîme et c’est à ce seul prix que la théorie des multiplicités pures peut espérer rejoindre le monde de la vie. Mais pour cela il ne faut pas se contenter de la quête d’une „structure générale“, fût-elle systématique, et de ses a priori constitutifs, mais entrer dans les phénomènes d’instabilité et d’aliénation frappant toute forme définie, associant la rationalité non pas tant à la non-contradiction qu’au risque de sa propre destruction. Loin de procéder à une réduction qui ne donne accès à l’universel qu’en mettant à distance les différences qui le déterminent, ce savoir est d’abord celui d’une nouvelle tragédie de la différence dont la relève éventuelle est le seul absolu qui soit à notre portée.
§ 4. Leibniz a bien davantage pensé la Chine que Hegel, mais il ne l’a pas pensée au sein d’un tel conflit organisateur. Son rapport à l’expression universelle restait encore trop naturel et n’incluait pas l’effort de se nier lui-même pour accéder à toute la richesse de son pouvoir perspectif. Il fallait en somme, pour que la „balance de l’Europe“ inclue dans son équilibre l’Extrême-Orient chinois, qu’Hermann, le guerrier indo-européen mis en scène par Leibniz dans les débuts de l’histoire occidentale, rappelle depuis ses frontières l’Empire du Milieu à la sagesse d’Hermès, le sage initié à la science de simple vision. La rationalité hégélienne ne va jamais sans une systématisation des crises, à commencer par les crises que crée sa propre proposition d’absolutiser le savoir. Rester fidèle à Hegel dans ces conditions, c’est, par-delà les formes d’ombre et de confusion assumées par la pensée depuis les symboliques leibniziennes, penser l’émergence des formes dans la catastrophe historique qui les confronte les unes aux autres. Si l’histoire est le lieu d’émergence du transcendantal, ce
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n’est pas sous l’horizon pacifié d’un sens évident et présent, mais dans l’affrontement entre des pouvoirs qui s’ignorent, s’oublient ou s’excluent. Si Leibniz est l’auteur d’un clairvoyant Antibarbarus16, Hegel est le barbare aux vues larges qui reconduit la rationalité occidentale à ses périls constitutifs et par là conjoint à l’obscurité conquise par Leibniz la violence du concept, à la ténèbre des centres le pouvoir d’exclusion, et à l’affirmation du système sa part de refus et d’inintelligibilité native. La qualité par cette voie sera un tourment ou ne sera pas. Il suffit pour se convaincre de cette haute destinée de la rationalité hégélienne dans l’intelligence du monde contemporain de relire l’épisode de Créon et d’Antigone: ce n’est pas seulement la conscience de la substance éthique qui vient s’y briser, mais, en un sens plus universel, toute prétention à une détermination intégrale dont la circularité, toujours trop hâtive, se rend aveugle à l’émergence de son propre moment inconscient. Toute pyramide du savoir a pour vocation d’être ébréchée par son propre pouvoir inconscient: „Mais si l’Universel ébrèche ainsi légèrement la pointe pure de sa pyramide, et l’emporte assurément sur le principe de singularité en révolte, sur la famille, il s’est, ce faisant, seulement laissé entraîner dans un combat avec la loi divine, l’esprit conscient de soi-même ne s’est engagé que dans une lutte avec le non-conscient“.17
Ce moment in-conscient, irréductible à la sphère du Sens sur laquelle reposait la nouvelle fondation de la conscience européenne chez Husserl, devient la voie d’une nouvelle conscience de soi, plus concrète et plus spirituelle, qui comprend en elle le consentement à la loi de la nuit. Ce moment nocturne, sachons-le le reconnaître, ce n’est pas seulement le moment de la sœur et de la féminité souterraine, c’est déjà celui des antipodes de la rationalité occidentale et de la riche substantialité de la pensée chinoise, telle que nous la rencontrons aujourd’hui aux portes de notre propre conscience de soi.
§ 5. J’appelle donc Chine dans la pensée, ni un pays, ni une civilisation, ni un moment de l’histoire, mais ce prolongement du „puits profond“ du moi jusqu’à un état d’inversion de la dialectique conceptuelle éprouvée par la phénoménologie de l’esprit occidentale: la substance au lieu de l’esprit, l’espace au lieu du temps, l’empereur au lieu de la liberté, les géométries du Tao au lieu des noms du spéculatif. La Chine est l’Enfer de la représentation occidentale et son apparition dans le champ de vision de l’expérience contemporaine consti-
16
17
M. Nizzoli avait écrit un Antibarbarus philosophicus, que Leibniz a préfacé; celui-ci écrit à son tour vers 1700 un Antibarbarus physicus contre les qualités occultes. Hegel, Phénoménologie de l’esprit [Phänomenologie des Geistes]. Trad. J.-P. Lefebvre. Paris 1991, 321.
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tue un moment proprement religieux, même s’il est encore en attente de son concept: „Nous avons vu une religion, savoir, la religion des Enfers; cette religion est la croyance en la terrible nuit inconnue du destin et en l’Euménide de l’esprit qui s’en est allé“.18
Qui le ramènera dans un savoir absolu partageable par la communauté humaine en totalité? Cette Chine pays de la mort intrigue, mais elle permet d’élucider ce que Hegel appelle „le grand jour spirituel de la présence“19 et de le distinguer de toute tentative de fondation unilatérale de l’universalité européenne dans la simple présence d’un sens transcendantal. Ce jour est plein de nuit, et cette nuit est pleine de déchirements qui cherchent leur concept: „Mais le destin sans le soi-même demeure la nuit sans conscience qui ne parvient pas à la différenciation en elle-même, non plus qu’à la clarté du se-savoir soimême“.20
C’est précisément l’état d’une philosophie hégélienne après la fin de la forme occidentale de sa réflexion. C’est dire qu’elle n’accède même pas au statut d’une religion de l’esprit si, dans la religion „l’esprit qui se sait lui-même est immédiatement sa propre et pure conscience de soi“.21 Il s’agit plutôt d’une possession ésotérique et comme le symptôme généralisé d’un effondrement des figures antérieures: „Cependant que, d’un côté, la première apparition du nouveau monde n’est encore que le tout caché, enveloppé dans sa simplicité […], pour la conscience en revanche, la richesse de l’existence antérieure est encore présente dans son souvenir“.22
Il ne faut pas négliger ce mélange de nostalgies et de prémonitions dans la fébrilité qui accompagne à cette heure la montée de la Chine dans le débat philosophique. L’opposition entre une Europe fixiste et une Chine mouvante est évidemment caricaturale. On peut lui reconnaître le rôle d’une hypothèse euristique. En revanche, le recours à Hegel signifie aussi l’entrée dans une tout autre exigence. Cette exigence repose sur une logique de la substance et c’est depuis la substance qu’on mesurera le nouveau style d’une pensée de la totalité qui se mesure à l’invisibilité de la Chine. Non, Hegel ne fixe pas la Chine dans la figure unilatérale d’une substantialité arrêtée dans son en soi. Il dit précisément tout le contraire: la substance ici est dans le mouvement de se poser et de devenir sujet. La substance est certes l’en soi qui n’est pas posé, la simple puissance exerçant ses pouvoirs sur le fini. Mais c’est pour ajouter aussitôt: 18 19 20 21 22
Op.cit., 445. Op. cit., 150. Ibid. Ibid. Op. cit., 35.
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„Cette base générale donne lieu à plusieurs formations, sorte d’essais progressifs pour appréhender la substance comme se déterminant soi-même. Tout d’abord (dans la religion chinoise) la substance est connue comme simple fondement, elle est ainsi immédiatement présente dans le fini, le contingent, le progrès de la conscience se produit en ce que l’esprit, quoique la substance ne soit pas encore appréhendée comme esprit, est toutefois la vérité sur laquelle se fonde tous les phénomènes de la conscience en sorte qu’à ce degré même aucun élément ne doit manquer qui rentre dans la notion de l’esprit. Ici encore la substance se déterminera comme sujet, mais il importe de savoir comme elle y arrive.“23
On ne saurait concevoir appréciation plus nuancée, et de la substantialité éthique, et du devenir de la Chine qui s’y reconnaît encore. Comme le dit encore Hegel à propos du moment du Tao: „Quelque défectueuses que puissent être ici les autres déterminations, nous sommes ici sur un terrain solide, nous tenons une véritable détermination de Dieu qui forme le fondement. Si nous comparons cette représentation avec la théorie que de Dieu on ne peut rien savoir, cette religion qu’elle qu’en puisse être apparemment la défectuosité et la bassesse, est pourtant d’un niveau plus élevé que celle qui affirme que l’on ne peut connaître Dieu […]“.24
Et suit une analyse sur les apories du christianisme apophatique et de l’enfoncement de la religion des modernes dans le culte de la négativité. La Chine est ici plus dialectique que tout l’Occident fidéiste et fixé sur sa propre vanité (le mot est de Hegel). La Chine de Hegel est à la fois ce qu’il y a de plus dissemblable au monde européen, mais aussi de plus semblable25 et ce serait se méprendre sur les puissances du système que de l’arrêter sur la seule figure d’un spinozisme éternel: d’abord parce que pour Hegel la Chine du XIXe siècle se tient dans un moment plus archaïque que le spinozisme, ensuite parce qu’il y a plus de figures de notre avenir dans la Chine éternelle, que dans les propositions abstraites du spinozisme: „Ici se présente cette forme de la substantialité où l’absolu est ce qui est en soi, cette substance une qui n’est pas comme chez Spinoza conçue comme une substance pour et dans la pensée, mais qui existe aussi en un homme et a ainsi une présence sensible.“26
23
24 25
26
Hegel, Philosophie de la religion. [Vorlesungen über die Philosophie der Religion.] IIe partie: La religion déterminée. 1. La religion de la nature. Trad. J. Gibelin. Paris 1972, 86-87. Cf. encore cette autre prémonition: „Cette substantialité comme en sa vérité est une subjectivité en soi et ainsi il y a de la spiritualité dans cette pure substantialité“ (Ibid., 106). Op. cit., 98. Hegel, La philosophie de l’histoire [Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte. Berlin 1822/23]. Trad. M. Bienenstock, C. Bouton, J. M. Buée e. a. Paris 2009, 217: „D’un côté donc l’Européen est plus proche de chez lui en Chine, de l’autre plus étranger que nulle part ailleurs. La Chine est donc extrêmement dissemblable dans la plus grande dissemblance.“ Hegel, Philosophie de la religion, op.cit., 99.
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L’empereur fait donc obstacle à l’Ethique spinoziste, mais c’est précisément par cette figure quasi „incarnée“ de l’empereur, prémonition christique et sacrificielle, que la Chine sera prise un jour dans une dialectique du développement qui ne peut que la conduire à la véritable logique d’une substance librement posée: „Ici les déterminations de l’esprit qui existent en soi viennent se joindre de façon extérieure. La parfaite détermination concrète, le dernier point de la forme, ce dernier point de l’Un (des Eins), de l’être pour soi, est posé désormais de façon extérieure de sorte qu’un homme présent actuellement est connu comme la puissance universelle“.27
C’est dire que le pour soi conduira à la dissolution ce moment contingent et se donnera la forme de la liberté à laquelle le concept lui donne droit: „La puissance prend bien la forme de l’esprit, mais de l’esprit fini, humain, et alors se produit la scission entre lui et les autres qu’il domine“.28 Cette scission ne restera pas, on le pressent, sans résolution. L’esprit du monde s’y joue.
§ 6. On le sait, pour Hegel, le moi est un puits profond: „Saisir l’intelligence comme ce puits nocturne dans lequel un monde d’images et de représentations est conservé, sans qu’elles soient dans la conscience“.29 Hegel y voit à la fois une exigence de saisir le concept dans son caractère concret et imagé, plein de la dynamique de tous ses développements futurs, mais aussi la reconnaissance que la conscience est absente et que, comme telle, la liberté de l’intelligence y fait encore défaut, faute d’intériorisation suffisante. On sait que dans la conscience occidentale ce sera le mot qui sortira le moi de son indétermination. Celle-ci deviendra ainsi pensée par un pouvoir qui fera toujours défaut à la civilisation idéogrammatique de la Chine. L’imagination ici fait obstacle à la puissance purement spirituelle de la remémoration. Hegel dédaigne ici les efforts de Leibniz en vue d’une caractéristique fondée sur l’exemple de la Chine. Mais si, nous tournant non pas du côté de l’intériorisation et de la spiritualité, nous revenons au processus par lequel le moi s’approfondit par la communication avec le riche terreau des images, il se pourrait que la Chine apparaisse vraiment pour ce qu’elle est: une ressource universelle, certes plus indéterminée que la conscience triomphante de l’esprit qui se surmonte, mais disposant d’une loi propre. L’idéogramme n’est-il pas la logique même de l’image et l’ordre spontané des images par lesquelles l’âme paraît dans la nature? Ainsi le puits chinois, cette figure des antipodes ou des extrêmes du jour et de la 27 28 29
Op. cit., 87. Op. cit., 88. Hegel, Encyclopédie des sciences philosophiques en abrégé. [Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse.] § 453. Trad. B. Bourgeois. Paris 2012, 490.
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nuit, serait un témoignage, un monument, une stèle en faveur de l’âme plus encore que de l’esprit où l’Occident achève de décliner. L’âme est faite pour la substance, elle est l’organe vivant de la substance: „L’âme est en soi une totalité réfléchie de ce sentir – [un] sentir de la substantialité totale, qu’elle est en soi, dans elle-même, – âme qui ressent“.30 L’âme est la substance universelle qui n’a sa vérité effective que comme singularité.31 Elle est accordée à la vie planétaire universelle. Elle se décompose en „esprits-nature particuliers, qui au total, expriment la nature des continent géographiques“.32 C’est là, au cœur de cet élément substantiel qu’il faut placer la féminité de la Chine face à la récapitulation masculine de l’esprit défendue d’une façon si indigne par les Occidentaux. Et c’est la Chine substantielle qui propose à cet esprit en voie de décomposition l’unité que le système lui-même n’a conçu que par fulgurances: non seulement unité du frère et de la sœur, de la mère et du fils, de la communauté et de l’Etat, mais unité du Yin et du Yang dans l’âme profonde de la terre. L’âme hégélienne consent à ce sens de la terre: „La vie planétaire universelle de l’esprit-nature se particularise dans les différences concrètes de la Terre“.33 C’est la Terre, non seulement le sillon, mais la sphère terrestre qui vient ici au secours des dialectiques d’un esprit qui peine à se recomposer par-delà des dispersions irréversibles. Un hiéroglyphe très élémentaire tend les deux mains de sa sollicitude, yin et yang réunis, à l’âme universelle qui cherche à se retrouver dans son unité terrestre. La terre jaune de Chine vient au secours des victoires de la volonté occidentale et l’on peut dire que c’est vivre sans regret que de vivre en un temps qui offre de participer, même dans l’imminence de la destruction, aux promesses d’une réconciliation aussi élémentaire.
30 31 32 33
Ibid. § 402, 448. Ibid. § 391, 439. Ibid. § 393, 440. Loc. cit.
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Hegel avec Dumézil: Le syllogisme du système trifonctionnel et son procès dialectique Les mythologies ne sont rien d’autre que toutes les productions humaines, des manifestations d’un système de pensée. Pourtant, elles ne sont bien souvent considérées que dans le biais de l’allégorèse, et les études en mythologie se présentent ordinairement dans la figure de la conscience malheureuse qui s’exprime dans la douloureuse formule de la mort de la divinité.1 Les mythes ne sont plus désormais traités que dans leur résultat figé et dans le plaisir muséal de restes ruinés qu’un destin amical, procédant d’une pensée de la beauté, nous transmet dans un état tel que nous pouvons désormais, par nos interprétations, greffer sur ces objets dépourvus de leur vie propre des vêtements empruntés et des rêveries nostalgiques. Alors, pour la pensée, la mort de la maîtrise laisse place au plaisir muséal de la contemplation esthétique: les mythologies sont considérées dans la positivité fixe de leur résultat comme des bibelots abolis dans l’abstraction d’un panthéon défait de son effectivité propre ou, pour le dire autrement, fixé essentiellement comme un gewesen de la pensée. C’est ainsi dans la nostalgie d’un temps archaïque qui nous est maintenant étranger que nous pensons les mythes de manière extérieure. La conscience malheureuse est alors tout aussi bien convertie en conscience comique qui, dans son extériorité, impute à son objet des significations empruntées étrangères au procès de la pensée dans lequel il s’était foncièrement déterminé. La science ainsi conçue des mythes – l’allégorèse ou la phénoménologie herméneutique – allègue alors ses propres déterminations sur un objet qu’elle considère comme déjà mort, mais cette imputation imaginaire est la Schwärmerei „qui attribue […] aux représentations mythiques des religions précédentes, un sens intérieur autre que celui qu’elles offrent immédiatement à
1
G.W.F. Hegel. Phänomenologie des Geistes. Bamberg und Würzburg 1807, 702-703. Traduction B. Bourgeois. Paris 2006, 615: „La confiance dans les lois éternelles des dieux fait silence aussi bien que les oracles qui faisaient savoir le particulier. Les statues sont désormais des cadavres dont l’âme unifiante s’est enfuie, et, de même, l’hymne, des paroles dont la croyance s’est enfuie; les tables des dieux sont sans mets et breuvages spirituels, et, de ses jeux et fêtes, ne revient pas à la conscience l’unité joyeuse d’elle-même avec l’essence. Aux œuvres de la Muse fait défaut la force de l’esprit qui voyait surgir du broiement des dieux et des hommes la certitude de lui-même. Elles sont désormais ce qu’elles sont pour nous, – de beaux fruits cueillis à l’arbre, – un destin amical nous les a offertes, comme une jeune fille présente de tels fruits.“
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la conscience“.2 La signification „est une signification prêtée et un vêtement qui ne couvre pas la nudité du phénomène“.3 Dans cette détermination extérieure, le résultat figé dans sa finitude de reste fragmenté, s’envisage dans sa discontinuité par rapport à l’ensemble des manifestations mythologiques. Il y a là un biais qui consiste à considérer les mythologies uniquement comme des représentations, des vitraux qui expriment symboliquement une pensée dont nous sommes d’emblée séparés. Les feux qui nous semblent illuminer ces vitraux étant pensés comme absolus et transcendants, conçus comme une origine désormais perdue et donc ineffable, ne sont en aucun cas la lumière empyrée d’un savoir mais l’indétermination de la nuit où toutes les vaches sont noires. Et là où le fondement manque, l’herméneutique présume la fiction d’un originaire musaïque qui est hors de toute pensée et de toute processualité historique de cette pensée. Toujours égal à soi, ce sens originaire est aussi bien une fiction immédiatement mortifère pour son objet. Et in Arcadia ego: la mort est surtout dans l’indifférenciation principielle d’une Arcadie éternelle en ce qu’elle est toujours égale à elle-même. Et l’originaire indifférencié de l’enthousiasme musaïque n’est pas moins fictif pour le savoir effectif que le hors-temps figé des musées qui livre ses objets dans leur résultat séparé de leur force propre. Peut-on alors parler de mort du mythe? Certes, la croyance en les dieux se tait, mais l’effectivité que le mythe a dans la croyance est une effectivité par procuration, une vie dans la communauté des croyants toujours extérieure à la vie propre du mythe. La mort de cette pensée immédiate depuis son extériorité à son objet ne signifie en rien la mort de l’objet lui-même. Et là où le savoir aurait dû supplanter la foi, il est d’emblé déterminé par le statut de ruine qui est présumé par la fin de la croyance. En somme, rien n’est fait dans la science que de remplacer une extériorité par une autre, l’herméneutique prenant la place des oracles, l’imaginaire quant à lui, celle des bacchantes sans tradition. De là une hypothèse: ce sont bien plutôt les études esthétiques et religieuses qui, dans leur immédiateté à elles-mêmes, sont synonymes de la mort du mythe en ce qu’elles pensent les mythologies soit dans l’immédiateté mortifère de leur résultat soit dans l’extériorité contingente d’une conscience cultivée dépourvue de métaphysique, qui est incapable de présenter autre chose qu’une collection sereine et juxtaposée de significations dans une extériorité vidée de force. Alors une pensée effective du mythe ne passe pas par le mode de la foi mais par le mode du savoir. Un savoir effectif des mythologies ne consiste pas à expliquer les mythes de manière extérieure, mais à comprendre le mythe de manière interne dans le développement de son procès logique propre ou, pour le dire autrement, dans le travail de l’esprit qui est propre à sa manifestation.
2 3
Ibid., 707. Trad. cit., 618. Ibid.
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Comprendre le mythe c’est donc connaître son organisation et la logique de son procès organique. „Les mythes ne sont pas des puzzles, mais des organismes, qu’on ne peut découper à tort ou à travers. […] L’allégorie vient après. Elle ne donne pas naissance au mythe, elle s’applique à un mythe déjà existant“.4
1. Le syllogisme du système trifonctionnel L’idéologie trifonctionnelle de Dumézil, dans laquelle s’organisent les mythologies indo-européennes, se présente avant tout comme un système de pensée triparti entre, in ordo rationis, la souveraineté, la force guerrière et la production. Loin de la simple taxinomie structurellement figée dans une autorité érigée en principe, la trifonctionnalité dumézilienne atteste dans son organisation essentiellement manifestée d’un processus isotoniquement organisé de la pensée. Il ne s’agit pas là d’une structure formelle ou archétypale qui imposerait de manière extérieure son commandement aux mythologies; le système trifonctionnel est la loi interne de développement de celles-ci. La structure n’est que la manifestation positive des étapes du processus rationnel qui les constituent. Chaque fonction est dans son principe d’action l’effectivité d’un moment de ce procès de la pensée dans sa manifestation mythologique. La fonction de souveraineté est celle de la divinité pour elle-même, son ordre fait droit et elle est en cela une fonction aussi bien religieuse que juridique. Elle est dans l’immédiateté de son absoluité le commencement pur du système mythologique universel et abstrait. Dans l’immédiateté indéterminée de son identité à soi, la souveraineté est l’être du système trifonctionnel qui, en tant que système de pensée, procède donc de la logique de l’être. Elle est la pensée dans son immédiateté, le concept en soi. Les dieux, cependant, ne font qu’être, ils ne connaissent, dans leur éternité, ni la négativité d’un devenir ni celle d’une détermination. Ils sont „les beaux individus éternels qui, étant en repos dans leur être-là propre, sont délivrés de la caducité et de la puissance qui est celle de l’étranger“.5 Leur activité est „une fanfaronnade contingente vide qui se dégonfle tout aussi bien et change le sérieux plein d’apparence de l’action en un jeu sans risque“.6 Dans leur indétermination, les dieux sont tout aussi bien le néant; la souveraineté resterait, dans ces conditions, ineffective et condamnée à la répétition comique de son principe s’il n’y avait une négativité qui la détermine dans un devenir effectif. Cette négativité c’est le héros. À l’instar de Wotan (an sich) 4
5 6
G. Dumézil, „Le crime de Sisyphe“. In: Travaux du premier congrès international de folklore. Tours 1938, 156. Hegel, Phänomenologie des Geistes, 680. Trad. cit., 599. Ibid., 681. Trad. cit., 600.
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qui ne peut se réaliser qu’à travers Siegfried (für sich), les dieux ne sont rien sans les héros: „Les mortels éphémères, qui sont le néant, sont en même temps le Soi détenteur de puissance qui se soumet les essences universelles, qui offense les dieux, et qui leur procure en somme l’effectivité ainsi qu’un intérêt pris à l’agir.“7
Le héros de la force guerrière est une finitude qui s’affronte nobiliairement à la mort et, ce faisant, met sa particularité au risque de l’universel qui est pour lui le négatif. Mais dans son hubris, il est aussi bien le négatif qui offense les dieux et qui, dans ses déterminations, est la réalisation de leur devenir. La force guerrière, est ainsi marquée par le risque d’un sujet humain à la mort qui sanctionne qualitativement un héroïsme guerrier. Ce qui se joue ici est l’affrontement du fini et de l’infini, la négativité du moment pour soi de la raison. Le héros est dans ce passage au négatif déterminé comme sujet et les dieux assujettis à un soi se reconnaissent eux-mêmes comme les sujets d’un devenir. Ainsi, en termes hégéliens, la force guerrière est le devenir effectif de l’être dans l’essence et ce processus réflexif est le jugement de l’essence sur l’être. Dans cet affrontement, l’essence détermine sa positivité dans le jugement ordalique de l’acte héroïque. Mais ce séjour dans le négatif n’est qu’une catabase sans retour qui se perdrait dans son zu grunde gehen, son aller à l’abîme, s’il n’y avait la fonction de la production pour récollecter dans sa singularité propre le mouvement précédent. Tout comme Ulysse retourne à Ithaque et à la fonction agraire, le conflit entre l’être universel et l’essence particulière doit être surmonté et réconcilié. Du conflit dialectique entre les deux premières fonctions émerge ainsi la nécessité d’une troisième, qui dans la réminiscence intérieure (Erinnerung) de ses moments précédents, produit le savoir de ces moments non pas dans la perte de soi du héros, ni dans l’absence de devenir concret du soi divin, mais en elle-même dans son effectivité propre. Dans cette fonction, l’esprit quitte la transcendance extérieure de la divinité et revient des confins de ses dépassements héroïques pour retourner en lui. Ainsi, la production correspond au moment en soi et pour soi de la raison. En outre, la fonction de production est celle du passage de la particularité guerrière du héros dans la réconciliation de la généralité du peuple et dans la constitution d’une culture singulièrement conscience d’elle-même. Elle est marquée par le travail mythographique de l’aède qui inscrit la récollection conceptuelle du développement des deux précédents moments dans la tradition d’un savoir. En d’autres termes, la production est logique du concept des mythologies. Le système trifonctionnel de Dumézil correspond donc au processus dialectique de la raison où, pour la conscience, la souveraineté correspond au moment en soi, la force guerrière au pour soi et la production à l’en soi et pour 7
Ibid., 680. Trad. cit., 599.
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soi. Son processus s’assimile ainsi naturellement à ce que Hegel lui-même concevait de l’épopée en la décrivant comme un vaste „syllogisme dans lequel l’extrême de l’universalité, le monde des dieux, est lié, par le moyen terme de la particularité, avec la singularité, l’aède. Le moyen terme est le peuple en ses héros.“8 Ce qui caractérise les Indo-européens, selon Dumézil, c’est qu’à la différence des autres peuples, ils ont été conscients de cette idéologie trifonctionnelle. Être conscient d’un système de pensée ne signifie pas appliquer une norme logique extérieure, mais être conscient du fonctionnement propre de sa pensée. Le système trifonctionnel est donc la manifestation d’une conscience de soi. Cette conscience de soi se constitue dans la reconnaissance des processus nécessaires de constitution de la conscience dans son rapport à elle-même et au monde. En cela sa forme n’est elle-même que la manifestation des éléments nécessaires à la constitution d’une pensée: – À toute pensée, il faut en effet une autorité, une loi qui cadre et donne l’existence comme subsistance: l’être ou, pour ce qui est de sa réalisation séculière ou historique la souveraineté. – Il faut qu’il y ait un conflit qui la détermine au sein de cette loi; le majeur étant celui du même et de l’autre qui sont d’ailleurs eux même déterminés au sein de cette loi et sont par la suite reconnus et activés comme tels dans le conflit. Ce conflit, qui est celui de l’essence, est celui de la guerre et des guerriers. – Il faut enfin que cette pensée se constitue comme savoir. Elle doit donc se produire elle-même comme le concept de son processus. En dernier lieu, la pensée se définit comme un faire, la production d’un concept. Cette pensée s’exprime dans le déploiement de principes d’actions qui se réalisent essentiellement dans le milieu actif de leur fonction propre. En cela, la mythologie partage avec la philosophie la particularité de n’avoir rien de plus que la forme de son contenu. Le contenu consistant est absolument le même9 et la forme de ce contenu en est la stricte manifestation. Les mythologies sont rationnelles. Dans l’idéologie trifonctionnelle, Dumézil avait trouvé la clef architectonique du rêve qu’avait formulé Lévi-Strauss: „Peut-être découvrirons-nous un jour que la même logique est à l’œuvre dans la pensée mythique et dans la pensée scientifique, et que l’homme a toujours pensé aussi bien.“10
Il devient alors légitime et nécessaire de ne plus réduire les études mythologiques au simple domaine esthétique pour faire entrer le syllogisme de la rationalité mythique dans le champ de la science et du savoir. 8 9
10
Ibid., 678. Trad. cit., 598. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften. Berlin 1827, xix. Encyclopédie des sciences philosophiques. Trad. B. Bourgeois. Paris 2012, 60. C. Lévi-Strauss, Anthropologie structurale. Paris 1958, 254
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La compréhension systématique des mythologies dans l’effectivité rationnelle de leur processus conduit ainsi non seulement à rompre avec l’extériorité explicative et le caractère rhapsodique et fragmenté des remarques phénoménologiques herméneutiques, mais aussi à ne pas considérer, comme ont pu le faire Eliade ou Jung, le mythe comme un hors-temps archétypal fictif, mais comme une manifestation effective du développement historique de l’esprit. Les mythes ne procèdent donc pas d’une répétition d’un modèle originaire, mais d’un développement historique de la rationalité dont la tragédie se joue dans la négativité épique de la dialectique de leur déclin.
2. La manifestation historique de l’idéologie trifonctionnelle La série dialectique de l’idéologie trifonctionnelle trouve sa manifestation historique dans la série identifiée par Dumézil comme celle du mythe, de l’épopée et du roman. Ce ne sont là pas tant des genres littéraires que les domaines d’effectivité de l’esprit dans ses différents moments de réalisation: les dieux doivent nécessairement être abolis par les héros dans un conflit qui se résout par la constitution d’un peuple et d’une culture qui, dans sa tradition présente à l’esprit, porte la trace de ces abolitions. La réalisation du syllogisme trifonctionnel dans l’histoire aboutit donc au dépeuplement du ciel et à la constitution de l’homme comme sujet du savoir. Dans la mort de Dieu, le savoir de la perte de la substance est en même temps la „spiritualisation qui fait que la substance est sujet, que son abstraction et absence de vie est morte, [et] qu’elle est donc devenue effective et une conscience de soi simple et universelle“.11 Il se déroule ainsi en mythologique la même chose que dans ce que l’on nomme en philosophie la révolution copernicienne, l’homme en tant que sujet singulier, plus désormais Dieu ou une autre extériorité ontologique, devient le centre du devenir et du savoir. Cela conduit à la Renaissance qui se définit dans le facere de la production. Dans le passage de l’épopée au roman c’est historiquement le monde germanique qui est visé, le passage du monde païen au monde chrétien. Or, dans le monde chrétien, la maîtrise héroïque qui est, dans sa négativité, l’effectivité du syllogisme trifonctionnel est abolie: „Le Noble (= guerrier) chrétien n’est qu’un pseudo-Maître: il ne risque pas vraiment sa vie puisqu’il croit en l’immortalité de son âme. Et par là il accepte son égalité avec l’Esclave: leurs ’âmes’ immortelles sont égales. […] La dialectique du monde Chrétien consiste dans l’élimination de ces survivances du paganisme (opposition entre Noble et Vilains) et dans la réalisation de l’égalité bourgeoise.“12
11
12
Hegel, Phänomenologie des Geistes, 737. Trad. cit., 640. – Cf. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 358, „Das germanische Reich“. A. Kojève. Introduction à la lecture de Hegel. Paris 1971, 124-125.
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Cet âge correspond chez Hegel historiquement au monde germanique. Or ce qui est capital dans cet âge, c’est que le corpus des mythologies propose au sens strict une Aufhebung du christianisme et une alternative jusque là philosophiquement négligée à la Réforme. Cela commence avec Charlemagne dont la mort entraîne le grand conflit qui opposera le sacerdoce et l’empire. En effet, au temps du christianisme, la maîtrise épique n’est pas effective, et si le roi ne trouve plus la raison de son pouvoir dans Dieu ou dans les faits d’arme, il va devoir le chercher, comme l’a fait Frédéric II Hohenstaufen, dans la production et la maîtrise de celle-ci.13 Parmi les œuvres qui réalisent ce troisième moment germanique des mythologies dont le roman correspond à la fonction de production, les Eddas, où les dieux ont le devenir de leur abolition dans le Ragnarök, occupent la place du mythe; les épopées humaines sont à l’instar de la Divine comédie de Dante, mais ce sont les romans comme les œuvres de Rabelais qui en réalisent le moment proprement humain. Snorri se donne la grave tâche de reformer les mythologies norroises après que le christianisme s’est instauré dans son pays et que la nouvelle de la possibilité d’une mort de la divinité ait touché la Thulé immortelle. On trouve alors dans les mythologies scandinaves le dieu Odhinn qui accède au savoir d’après la querelle de la terre et de la mer par le biais précisément d’une pendaison qui est la figure héroïque de la troisième fonction en même temps qu’elle est une subversion de la croix et de son stable et figé quadriparti. Ce savoir est aussi un savoir de ce qui s’est passé, un savoir des morts et de la catabase tragique qui reste cependant un savoir mort tant qu’il n’a pas trouvé son actualité dans le réel. Or, Odhinn ou Wotan sont des dieux, des activités ansich, et ils ont besoin de héros pour réaliser leur devenir. Ce devenir ne pourra en effet advenir que par la mort du héros et l’arrivée du règne des hommes et du roman dans l’effondrement de la fixité abstraite d’une citadelle céleste. Chez les Germains, les dieux sont conscients de la nécessité de ce cheminement et donc de la nécessité tragique de leur déclin de peur de ne pas avoir de devenir dans une éternité comique de musée de cire. Ainsi donc, dans les mythologies nordiques, on retrouve la réalisation de l’esprit de ces mythologies bien loin de l’universalité abstraite et immédiate de la foi, mais dans l’activité d’hommes conscients d’eux-mêmes en tant qu’individus singuliers, hommes qui arrivent aussi après la mort des héros anciens et de leur beauté solaire et qui ne sont rien que des hommes qui doivent avoir confiance dans leur faire et dans l’histoire de leurs actions, c’est-à-dire dans les médiations de leur devenir et donc dans leur raison.14 Or ceci nécessite la fin de la divinité et s’oriente donc dans une sursomption ou une subversion 13
14
Cf. Hegel. Grundlinien der Philosophie des Rechts. Berlin 1820, § 312. – Id.: Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte. Hrsg. von E. Gans. Vierter Teil: Die germanische Welt. Berlin 1837, 353 sqq. – E. Kantorowitcz, Kaiser Friedrich der Zweite. Berlin 1927. Cf. G. Dumézil, „Réhabilitation de Snorri“. In: Loki. Paris 1986, 61-83.
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du christianisme. En effet, si le christianisme contient bien la nouveauté de la participation de la divinité au devenir terrestre et de la mort de Dieu, – en cela il appartient bien au moment germanique de l’esprit – il n’a jamais posé dans son dogme l’abolition de la confiance et de la foi en sa souveraineté et son autorité. Le mythographe héritier de cette époque de conflit est Dante. Tenaillé entre guelfisme et gibelinisme, il incarne le moment héroïque du moment du roman. Mais Dante est son propre héros. Pour le dire autrement, c’est la singularité de l’aède qui se joue dans la particularité catabasique de l’héroïsme pour s’élever à la divinité souveraine de sa Dame puis de Dieu. Il rejoue le syllogisme de la trifonctionnalité dans le moment singulier du roman en faisant l’épopée de ce temps. Quel est ce temps? Dans le quatrième livre du Convivio, Dante hésite entre une noblesse stellaire, c’est-à-dire universelle, qui trouverait son incarnation dans le sang, et l’aristocratie terrienne de Fréderic II, qu’il décrit comme seul et dernier empereur. S’est-il trompé d’époque? Il propose contre cela un motif chrétien parce que, dans la Commedia, c’est l’immédiateté de l’amour qui va résoudre ce conflit, mais il ne s’agit pas d’un amour catholique (universel) puisque cet amor n’est que particulier. La Divine comédie fait pourtant un pas de plus avec la prophétie du Veltre:15 Dante entame sa pérégrination dans la fuite chrétienne de l’orgueil qui est précisément l’hubris du héros païen, mais cela dans l’attente du Veltre qui est le chien de chasse qui accompagne la restauration d’un empire politique et qui sera d’obédience nobiliaire. Mais précisément parce que son règne sera „entre feutre et feutre“,16 il sera tenu dans le fourreau d’une lance qui s’assimile au Graal. Ce haut ésotérisme en calice et coupe chez Dante cache peut-être une lance de Longin, qui serait l’arme symbolique d’un empire gibelin qui soldera le royaume chrétien. Mais cette recherche du Graal et d’une souveraineté céleste perdra son sens après les croisades, parce que le mont du Golgotha n’est plus qu’un lieu vide de divinité qui essaye de maintenir la fuite de sa vacuité derrière le masque d’un éclectisme baroque. Par la suite, la bourgeoisie s’installe, c’est-à-dire la société civile. Le vautre du chevalier rentrant des croisades devient l’animal tutélaire non des aristocrates mais des hobereaux ou des corporations de ces villes nouvellement instaurées. Le pouvoir politique commence à s’affranchir avec la ligue hanséatique qui récupère les points nodaux des invasions normandes et à se départir de la tutelle de l’église tout en rendant nécessaire l’invention de l’imprimerie et son contrecoup fidéiste qui sera la Réforme. Rabelais arrive à sa maturité lorsque le monde germanique souffre de sa réalisation en tant que monde de la production et du roman. L’invention de l’imprimerie, la diffusion du savoir, l’impression de 95 thèses amène le SaintEmpire à vaciller devant les révoltes paysannes de 1524 à 1526. Mais au lieu 15 16
Dante. Inferno I, Purg. XX. Dante. Inferno I, v. 101.
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de choisir la voie de l’austérité individuelle et de la loi du cœur et de la folie de la présomption, Rabelais va prendre celle du comique pour rendre le problème dans son creux, ou dans sa corporéité afin retrouver l’esprit par le fait. Reboucler depuis la détermination finale de la production. Rabelais enregistre ainsi tout d’abord l’abolition des dieux et des héros ou pour le dire autrement le déclin de la divinité qui est le processus même du développement rationnel des mythologies dans l’histoire. Les romans de Rabelais narrent donc l’histoire d’hommes qui arrivent après que les dieux et les héros sont morts et se définissent alors comme les œuvres qui achèvent le processus des mythologies indo-européennes. Ainsi, sur la page de garde du Tiers livre, Rabelais „supplie les lecteurs bénévoles, soy réserver à rire au soixante et dixhuytiesme Livre“.17 Il ne s’agit pas là d’une raillerie ou d’une référence ésotérique insondable mais d’un simple compte de libraire.18 La Bible canonique comporte soixante-treize livres. Or il s’agit du troisième livre d’une œuvre qui en comportera cinq. Le dernier livre de Rabelais sera, dans ce compte, le soixante dix-huitième mettant le corpus rabelaisien au couronnement du corpus biblique. Rabelais somme donc son lecteur de ne considérer son œuvre que dans son ensemble achevé et pour ce qu’il achève. Ce qu’ajoute cette œuvre de quinte essence aux livres du corpus biblique est dit à la fin du Pantagruel: „ce sont beaulx textes devangiles en francoys“.19 Le contenu de ces évangiles ce sont les „mythologies galliques“. Ces mythologies qui achèvent le corpus biblique se veulent une subversion de celui-ci et, dans cette négation, elles sont le dépassement dialectique de la religion chrétienne. L’assomption de la mort de la divinité conduit à la sursomption de la religion. L’esprit, puisqu’il ne peut prendre conscience tragiquement de la mort de Dieu sur le mode positif et immédiat de la foi et dans la conservation religieuse de la divinité, se réalise dans une autre manifestation culturelle. Dans les apories du christianisme, Rabelais constitue l’alternative mythologique de la Réforme. Dans l’anneau de leur logique commune, l’esprit se confronte à la négativité du déclin passé de sa tradition comme à son essence et dans l’Urtheil de sa scission, ce dédoublement est l’épreuve ordalique de l’effectivité de l’esprit qui se sait dans la tragédie de la réalisation de son concept. C’est ici le syllogisme de l’esprit qui produit la vérification dialectique d’une certification mutuelle entre le savoir et sa maîtrise.
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C. Gaignebet, Lettre à Julien sur Rabelais: le Tiers livre et le jeu de l’oie. Tours 2007, 30. C. Gaignebet, Lettre à Julien sur Rabelais: le Tiers livre et le jeu de l’oie. Tours 2007, 30-31. F. Rabelais, Pantagruel. Chapitre XXXIIII. In: Œuvres complètes. Paris 1994, 337, n. 16.
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3. La rationalité tragique du processus mythologique Le processus rationnel des mythologies est essentiellement tragique. Il est un déclin qui se réalise dans la négativité de l’abolition de ses figures. Présente à l’esprit comme sa tradition, l’effectivité tragique de son concept est l’épreuve rationnelle d’un savoir constitué dans le risque de sa négativité. Mais une telle conscience tragique de la vie est-elle encore possible alors que la maîtrise ellemême s’est trouvée abolie? Il n’est de tragique sans figure du maître ou du héros. Cependant, l’on peut ici affirmer que la figure de la maîtrise n’apparaît que dans le tragique de son déclin car, à l’inverse, il n’est pas de maître sans tragédie. Et le maître ne peut courir réellement le risque qui le définit s’il ne meurt. Un savoir de maîtrise ne se fait pas dans la réception irénique d’un univers toujours égal à soi et donné de toute éternité, mais dans l’accomplissement et l’achèvement de ses formes et ainsi dans leur disparition. Il n’y a donc de savoir que de l’être passé des choses. Le savoir se construit sur les ruines de l’histoire, et la métaphysique, qui s’était constituée dans ses origines initiatiques comme savoir des morts, réalise son concept comme savoir de formes toujours déjà trépassées. Mais si ces formes sont bien le contenu de ce savoir, c’est la raison dans son opérativité tragique qui les constitue et en donne le sens; c’est en d’autres termes dans le crépuscule que la chouette de Minerve prend son envol. L’histoire des mythologies montre qu’elles s’affranchissent de l’immédiateté de leur autorité céleste pour entrer dans le drame de l’histoire et celui des hommes afin d’affranchir de l’illusion d’une maîtrise donnée. Cette histoire est la tragédie elle-même. Il n’est pas d’Arcadie originaire, d’absolu dans lequel se confondre dans un saut mystique. La maîtrise est toujours acquise et n’en vient à son achèvement que dans le crépuscule de l’histoire. Pour la conscience, il y a donc là conjointement la certitude intime des nécessités de ces pertes et abolition et la conscience de sa propre liberté puisqu’il n’y a plus de nécessité extérieure, d’autorité sous laquelle elle doit ployer. En cela, le savoir de cette mythologie du déclin de la divinité entraîne un tragique tout à fait différent de celui connu dans le monde grec, car cette tragédie n’est pas une nécessité extérieure, ni même la particularité d’une exposition représentée, mais un processus interne de la conscience. Dans la mort de Dieu, la mort accède au rang de l’universalité divine. Dans ce triomphe de la mort, la négativité est opérative partout, le tragique total et dans un monde devenu entièrement tragique, la rationalité est intégrale. Cette mythologie traversée intégralement par le tragique ne peut nécessairement être conçue effectivement que si l’homme de cette mythologie assume pleinement et veut le tragique de cette perte de la maîtrise et de la ruine d’un ordre donné. Ainsi, ce risque de la conscience devant deux abîmes de négativité en-soi et pour-soi est-il l’ultime occasion de constitution d’une conscience tragique, seule à même d’accomplir l’épreuve héroïque d’une réinstauration de la maîtrise dans un achèvement proprement humain.
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L’esprit s’accomplit dans le crépuscule des dieux. Dans la négativité absolue de ce déclin, l’esprit trouve la certification intégrale de sa rationalité.20 Si donc l’acte ultime de l’esprit est bien, comme l’écrivait Hegel, de se constituer dans le Golgotha d’un vendredi saint spéculatif,21 la rationalité effective de ce moment ne se réalise culturellement que dans sa formulation mythologique. Dans la déréliction de ses formes supérieures, la mélancolie s’est emparée de l’esprit occidental, mais il y a trouvé son assomption la plus profonde, à savoir que l’esprit ne se constitue que dans la défaite et dans le tragique. Parce qu’il n’y a d’essence que de l’être passé d’un être, le concept ne se réalise que sur les ruines qu’il a bâties. C’est donc dans la trace d’un maître toujours déjà vaincu, parce qu’il est lui-même le tragique, que se réalise l’esprit.
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Hegel, Phänomenologie des Geistes, xxxviii-xxxix. Trad. cit., 80. Ibid., 765. Trad. cit., 524. Cf. Hegel, Glauben und Wissen. Jena 1803, 433. Trad. A. Philonenko. Paris 1988, 206.
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Hegel und der Geist des Islamismus
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Die Affirmation des Islam erscheint bei Goethe – wie Heinrich Heine mit Scharfsinn bemerkt hat – als eine Weise der Kritik der Romantik und als Alternative zur Indomanie der Gebrüder Schlegel, die alle Züge der konservativen Reaktion sowohl vom politischen, religiösen und philosophischen Standpunkt trägt.2 Hegels Affirmation des Islamismus scheint eine ähnliche Funktion zu übernehmen. Konträr zu manchem seiner Schüler, behauptet Hegel, dass das Prinzip der „westlichen, romantischen Innigkeit“ bei den Volksliedern „besonders barbarischer Völker“ herrscht, während „die glückliche, freie Innigkeit“ im Morgenland „zu Hause“ ist.3 Die Formulierung macht deutlich, dass die morgenländische Poesie eher im Westen „zu Hause“ sei als die von den deutschen Romantikern gesammelten Volkslieder. So fühlen sich Hegel und Goethe auf jeden Fall eher heimisch in einem Kosmopolitismus, der die orientalische Welt und den Islamismus einbezieht, als in der deutschen Romantik oder einem orthodoxen Hegelianismus mit ihrer Beschränkung auf das National-Religiöse. Insbesondere wenn vom politischen Islamismus die Rede ist,4 kann Poesie nicht apolitisch sein, da sie sowohl formell als auch inhaltlich eine politische Bedrohung, z.B. als Hindernis für militärische Operationen, darstellen kann. Poesie darf aber auch nicht unabhängig vom Religiösen und Politischen als autonome Sphäre verstanden werden, vielmehr ist sie für den Hegelianismus Ausdruck einer geistigen Konstellation, in der „Geist“ als verbindender Begriff das Politische, Religiöse und Ästhetische in sich fasst und strukturell erschließt. Der Begriff des Islamismus steht in diesem Kontext und soll nachfolgend auf der Basis der relevanten Quellen zur Hegelschen Philosophie untersucht werden.5 „Islamismus“ wird hier als ein geschichtliches Phänomen verstanden, welches Kunst, Religion und Politik umschließt. Dementsprechend verweist 1
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Dieser Beitrag entstand im Rahmen eines durch die Alexander von Humboldt Stiftung geförderten Forschungsaufenthaltes an der Fernuniversität in Hagen. „La répugnance de Goethe pour l’Inde ne les aigrit pas peu, et M. Guillaume-Auguste Schlegel le nomma avec amertume ‘un païen converti à l’islamisme’“, H. Heine, De l’Allemagne (1835). In: ders.: Säkularausgabe. Bd 16. Hrsg. von Pichois. Paris/Berlin 1978, 141. Hegel, Philosophie der Kunst oder Ästhetik. Nach Hegel von F. C. H. v. Kehler. Im Sommer 1826. Hrsg. von Gethmann-Siefert/Collenberg-Plotnikov, unter Mitarbeit v. Ianelli u. Berr. München, Fink 2004. (zitiert als Kehler 1826) Ms. 170 f. Über die politische Bedeutung der Poesie bei den Gefangenen von Guantánamo vgl. J. Butler, Frames of War: When is Life Grievable? London/New York 2009, 55-62. Ich danke A. Gethmann-Siefert, O. Pöggeler und E. Weisser-Lohmann für die Benutzung der Nachschriften, bzw. Transkriptionen von Hegels Vorlesungen über die Ästhetik und über die Philosophie der Geschichte (Griesheim 1822/23, Hube 1826/27, K. Hegel 1830/31).
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die Formulierung „Geist des Islamismus“ sowohl auf das Fundament einer Religion als auch auf den Prozess der Aneignung durch das Bewusstsein. Der Rekurs auf Hegel bedeutet dabei nicht nur, den Standpunkt der deutschen, christlichen und westlichen Philosophie, den Standpunkt des „Diskurs der Moderne“ in die Bestimmung des Islamismus zu integrieren, sondern auch zu prüfen, inwiefern das Phänomen sich geschichtlich, phänomenologisch, ästhetisch im Rahmen einer Philosophie des Geistes rekonstruieren und gewichten lässt. Die Aktualität der öffentlichen Diskussion über den „Islam“ – als „Religion“ – besteht eben in der Frage, ob und inwieweit sich der „Islam“ zu einer Stellung des Bewusstseins, zu einem „Selbst“ im Sinne der Phänomenologie reduzieren lässt.6 Diese Perspektive erfordert es, den „Islam“ im Rahmen einer Philosophie des Geistes zu begreifen. Gegen diesen Ansatz kann man einwendend fragen, ob und inwiefern sich der Islamismus im weiten Sinne mit dem Anliegen Hegels vereinigen lässt. In Hegels frühen Schriften aus der Revolutionszeit ist vom „Geist der Orientalen“, vom „Geist des Judentums“ bzw. vom „Geist des Christentums“ die Rede.7 In der systematischen Darstellung der Philosophie – worauf hier nur hingewiesen sein soll – erscheint vor allem in der Philosophie der Religion und in der Philosophie der Geschichte der sog. „Mohammedanismus“ auf eine eher negative Weise als ein historisch begrenztes Phänomen.8 Dagegen zeigt die Ästhetik eine alternative und aufgeklärtere Rezeption, in der die Auseinandersetzung mit dem Islamismus der ästhetischen, theologischen und politischen Relevanz der Philosophie angemessen ist. Die Einlösung dieses Anspruchs fordert die Unterscheidung der folgenden drei Gesichtspunkte des Islamismus, erstens seine Bestimmung als Religion, zweitens die Fassung des Politischen und drittens das Verhältnis zur Kunst untersucht: Der Islamismus soll daher 1. als Religion der Erhabenheit, 2. als revolutionärer Prozess und 3. als pantheistische Lehre in Kunst und Philosophie untersucht werden.
Islamismus als Religion der Erhabenheit Die „muselmanische Religion“ bestimmt Hegel als die „Religion der Erhabenheit“.9 Er wendet mit dieser Charakterisierung die aus der Kantischen Kri6 7
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A. Bidar, „Nos responsabilités pour l’ islam“. In: Esprit 333 (2007). Vgl. E. Schulin, Die weltgeschichtliche Erfassung des Orients bei Hegel und Ranke. Göttingen 1958; M. Hulin, Hegel et l’Orient. Paris 1979; B. Bourgeois, Hegel à Francfort ou Judaïsme, Christianisme, Hégelianisme. Paris 2000. In seiner Berliner Vorlesungen spricht Hegel nicht von „Islamismus“ und auch nicht von „Islam“, sondern ausschließlich von „Mohammedanismus“ (bzw. „Muhamedanismus“). Dagegen verwendet die Edition der Vorlesungsnachschrift von Ilting, Bremer und Seelmann abweichend von der Nachschrift Griesheim den Begriff „Islam“. Vgl Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte (1822/23). Hamburg 1996, 457ff. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion. Teil 1, Einleitung in die Philosophie der Religion. Die bestimmte Religion. Hrsg. v. Jaeschke. Hamburg 1994 (im folgenden Jaeschke 1994).
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tik übernommene grundlegende Unterscheidung zwischen dem Schönen und dem Erhabenen auf die Philosophie der Religion an. Dabei geht es weniger um eine „religion esthétique“10 im Sinne einer Kunstreligion als darum, ein religiöses Phänomen unter dem philosophischen Aspekt des Ästhetischen, d. i. der Form seiner anschaulichen Vermittlung zu betrachten. Die „Religion der Erhabenheit“ ist die „Religion des Einen“. Das Sein ist das Eine und kann nur vom reinen Denken erfasst werden. Das oder der Eine ist daher eine Abstraktion, ein Übersinnliches. Es steht über der Natur und den Existenzen und ist insofern „erhaben“. Hegels Bestimmung der Religion der Erhabenheit enthält bereits hier – in der Philosophie der Religion – ein affirmatives und ein negatives Moment. Das Affirmative ist, dass der Mensch sich von der Natürlichkeit, von der Partikularität, von der Knechtschaft befreit. Er versteht sich als über der Natur stehend und als das Ziel derselben; er erhebt sich zum wahren Selbstbewusstsein. Insofern ist die Religion der Erhabenheit eine Religion des Geistes. Sie ist in der Geschichte mit dem „orientalischen Prinzip“ verknüpft, weil der Geist aus dem Orient kommt; die Morgenländer hängen der Abstraktion, dem reinen Gedanken an. Das „westliche Prinzip“ hingegen ist das Prinzip der nördlichen Völker, welche an Natürlichkeit, an Partikularität gebunden sind.11 Das Negative in der Religion der Erhabenheit liegt in der Negation des westlichen Prinzips der Natürlichkeit und des Konkreten. Sie ist als Abstraktion eine Negation des Geistes, denn zum Begriff des Geistes gehört das Verhältnis zur Natur, zur Natürlichkeit, zur Nation. Die Affirmation der Substanz, des Allgemeinen vollzieht eine Negation des Besonderen, des Existierenden. Die Religion der Erhabenheit unterscheidet sich daher von einer Religion des Geistes im Sinne einer „vollendeten Religion“, welche für Hegel eine Religion des konkreten Geistes, des Subjekts und nicht der Substanz ist. Die Philosophie der Religion rekonstruiert systematisch den Prozess des Übergangs vom Abstrakten zum Konkreten, vom Substantiellen zum Subjektiven. Allerdings –
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S. Ayada, „L’islam, religion estétique“. In: Esprit 305 (2004), 115-330) interpretiert Islam als eine „ästhetische Religion“, welche ihre höchste Auffassung in der Poesie habe. Sie erklärt Hegels dünne Behandlung der islamischen Philosophie in der Geschichte der Philosophie dadurch, dass erst die Poesie als wahre Form des absoluten Geistes diese ästhetische Religion darstellen kann. Die Dichtung besagt das Eine, das Wesen des Islams lässt sich nicht in der Form der Geschichte und der Politik, aber auch nicht in der Form der Philosophie verwirklichen. Die Dichtung Rumis sollte jedoch – so Ayada – durch die Philosophie Al Farabis interpretiert werden. Griesheim, Philosophie der Allgemeinen Weltgeschichte vorgetragen von Hegel im Winterhalbenjahr 1822/23. Ms Staatsbibliothek Berlin, 214: „In den Griechen und Römern ist im Zusammenhang mit dem Orient ein schöner Morgen aufgegangen, so auch mit der christlichen Welt, deren natürlicher Vater der Abend, der geistige der Orient ist. Von diesem haben sie auch das Element der Freiheit gegen das nordische Element der vereinzelten Subjektivität“.
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so bemerket Hegel – unterscheidet sich der „Mohammedanismus“ vom Christentum nicht, wenn man „von der Dreieinigkeit abstrahiert“.12 Die Religion der Erhabenheit wird von Hegel vor allem mit der jüdischen Religion identifiziert, die muselmanische Religion stellt nur eine Variante derselben dar. Der Unterschied liegt im Verhältnis zum Partikulären. Das Judentum wird als eine „Reinigung der Partikularität“ bestimmt, da in ihm – indem das Eine nur als Gedanke gefasst wird – doch die Partikularität nicht ganz aufgehoben wird; sie besteht vielmehr in dem Verhältnis zur Familie, zum bestimmten Volk, d.h. zu noch natürlichen Wesen, welche auch das Ziel der Schöpfung bilden. Im Islamismus ist dagegen nicht nur von „Reinigung“, sondern von „Abstreifung“ der Partikularität die Rede.13 Die Wahrheit des Einen betrifft nicht nur ein Volk und eine Familie (die Söhnen des Abraham), sondern soll von allen Völker anerkannt werden. Die „muselmanische Religion“ erscheint insofern als eine Universalisierung der Religion der Erhabenheit. Aus diesem Fortschritt entsteht die Pflicht der Belehrung und der Bekehrung der anderen Völker.14 Das Erhabene bleibt nicht außerhalb der wirklichen Welt, wie im indischen Mönchstum. Der historische Islamismus wird von Hegel vielmehr als der Wille dargestellt, dem abstrakten und negativen Prinzip der Erhabenheit im Gebiet des Partikulären, der Erscheinung, im Wirklichen der Kunst und der Politik Geltung zu verschaffen: „In diesem absoluten Einen zu leben und das Wissen des Einen zu etablieren ist die höchste Pflicht“.15 Dennoch steht das Erhabene über der Erscheinung und duldet insofern keine Phänomenalität. Es kann daher nur negativ im Phänomenalen erscheinen als Negation des Phänomenalen.16 Indem jede Erscheinung als ungeeignet gefasst wird, setzt sich der Islamismus als Affirmation des Abstrakten allem Partikularismus, jeder staatlichen, nationalen, klerikalen Organisation entgegen.17 Die Erscheinung eines solchen Willens, das Erhabene auch am Phänomen erscheinen zu lassen, ist eben der Wille, die Nationen zur Wahrheit des Einen zu bekehren. Hegel nennt in der Philosophie der Religion und in der Philosophie der Geschichte diesen wesentlichen Zug des Islamismus „Fanatismus“.18 Wenn von „Fanatismus“ die Rede ist, darf dies nicht nur als ein negatives, irrationales und malevolentes Prinzip verstanden werden. Negativität besteht hier hinsichtlich der Erscheinung; hinsichtlich der Vernunft entspricht ihr ein Affirmatives. Der Begriff des „Fanatismus“ hat in seiner Semantik und seiner 12
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J. Hube, Philosophie der Geschichte nach den Vorlesungen des Hr. Professor Hegel. Wintersemester 1826/27 Berlin. Ms Bibl. R. Hube Varsoviae. (zitiert als Hube 1826/27), 184a. Hegel, Die Philosophie der Geschichte. Vorlesungsmitschrift von Heimann. Winterhalbjahr 1830/31. Hrsg. von K. Vieweg. München 2005 (zitiert als Heimann 1830/31), 96. Jaeschke 1994, 332; Griesheim 1822/23, 211; Heimann 1830/31, 633. Hube 1826/27, 182b. Jaeschke, 332. Hube 1826/27 183b: „Was nun partikularisiert wird, wird deswegen von den Mahomedanern als der Verehrung des Einen zuwider ausgesehen. Alle Organisation des Staates widerspricht deswegen dem Leben für dieses Eine“. Hube 1826/27, 182b; Jaeschke 1994, 337.
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Geschichte einen wesentlichen Zusammenhang mit dem Begriff der Schwärmerei aber auch mit dem der Begeisterung (Enthusiasmus).19 Insofern lässt er sich mit dem Begriff der Erhabenheit und daher mit den Begriffen von Vernunft und Geist verbinden. Fanatismus müsste insofern und vor allem als ein – wenn auch negatives – Moment der praktischen Vernunft verstanden werden.20 Selbst wenn Islamismus tatsächlich wesentlich Fanatismus wäre, so hieße das nicht, dass es sich hier um ein irrationelles und unsittliches Phänomen handelt. Vielmehr hindert dieser Fanatismus nicht daran, den Islamismus als ein Moment der Erhabenheit, als eine Erscheinung der sittlichen Vernunft in der Geschichte zu verstehen, wie Hegel in der Philosophie der Geschichte zeigt.21
Islamismus als revolutionärer Prozess Am Kapitel über den „Mohammedanismus“ in Hegels Philosophie der Geschichte lässt sich diese vernünftige Dimension aufweisen, da hier der Islamismus in Verbindung mit einem erhabenen Phänomen der modernen Geschichte, nämlich der Französischen Revolution gesetzt wird, welche auf theologisch-politische Weise als Moment einer „Versöhnung des Göttlichen mit der Welt“ interpretiert wird. Hegel rühmt noch in seiner Vorlesung im Winter 1830 – also wenige Monate nach der Juli Revolution – den „herrlichen Sonnenaufgang“ von 1789 als eine „erhabene Rührung“: „ein Enthusiasmus des Geistes hat die Welt durchschauert“.22 Der „Mahommedanismus“ wird als eine „Revolution aus dem Orient“23 dargestellt. Der Vergleich zwischen dem alten untergehenden römischen Reich mit all seinen Partikularitäten und seiner Dogmatik einerseits und die arabische Revolution mit ihrem einfachen Sinn und ihren einfachen Sitten lässt sich deutlich mit der Situation des Ancien Régime und der Révolution française parallelisieren. Die Einheit des Islamismus und der Revolution besteht in der Idee einer Gleichheit zwischen den Menschen – zumindest zwischen Muselmanen und Bekehrten – weil das erhabene Prinzip alle Partikularitäten abstreift: „Diese Reinigung hat alle Unterschiede fortgebracht, Adel der Geburt, positives Recht, Unterschied der Stände, Besitz, Nation, alles ist ungültig vor dieser Einheit“.24 Die Sklaven können die Herren werden und neue 19
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C. Bouton, „La fureur de la liberté. Hegel et la question du fanatisme“. In: Les Etudes philosophiques 2 (2006), 205-222. Der Ausdruck von „praktischen Vernunft“ in diesem Kontext stammt von mir. K. Hegel, Nachschrift der Vorlesung WS 1830/31, 386f: „Der Fanatismus der Mohametaner ist aber aller Erhabenheit fähig und diese Erhabenheit ist frei von allen kleinlichen Interessen und mit allen Tugenden der Großmut, Tapferkeit verbunden“. K. Hegel 1830/31, 497. Griesheim 1822/23. Heimann 1830/31, 178. Vgl. K. Hegel 1830/31, 384: „vor dieser Einheit sind alle Mohammetanischen Gläubigen gleich“.
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Dynastien gründen.25 Einfache Derwische können eine Dynastie vollenden. Hegel interpretiert insofern das Schicksal des Islamismus als eine Folge von Revolutionen, eine Sukzession von Wellen.26 Islamismus wird als ein wesentlich revolutionärer Prozess im Sinne einer Auflösung der organisierten Regierungen beschrieben. Eine Stabilisierung erfolgt zwar mit der türkischen Herrschaft, diese bedeutet aber für Hegel das Ende des Islamismus als Begeisterung und damit auch seiner revolutionären Funktion in der Geschichte. Islamismus lässt sich aber auch mit Revolution im Sinne vom weltgeschichtlichen Ereignis und zwar mit der Revolution von 1789 verstehen. Die Verbindung mit der Französischen Revolution als Moment der Erhabenheit, der Freiheit aber auch des Fanatismus liegt in einem sittlichen Prinzip. Dies vernünftige und sittliche Prinzip ist als das Prinzip der Tugend anerkannt. Allein Hegel versteht das Prinzip der Tugend als ein dialektisches. Er vergleicht das Prinzip der „Mahometaner“ mit dem Prinzip von Robespierre: „der Einheit von Tugend und Schrecken“.27 Robespierre sagt: „Le ressort du gouvernement populaire en révolution est à la fois la vertu et la terreur: la vertu sans laquelle la terreur est funeste; la terreur sans laquelle la vertu est impuissante“.28
Das Prinzip der Tugend lässt sich vom Prinzip des Schreckens, des Terrors – und also auch des Terrorismus – nicht trennen, sonst wären Tugend und terreur nur Grauen ohne geschichtliche Bedeutung. Auch in der Phänomenologie des Geistes thematisiert Hegel die Dialektik des Schreckens und der Freiheit nicht nur in einem politischen sondern in einem sittlichen Sinn: Sie bildet den Übergang von Prinzip der Aufklärung zum Prinzip der Moralität.29 Eine solche Interpretation des Islamismus als revolutionäres Phänomen als Behauptung der Tugend im Politischen lässt sich noch von Habermas bezüglich der Iranischen Revolution vertreten: „Das als korrupt wahrgenommene, 25 26 27
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Hube 1826/27, 187b. Hube 1826/27, 188a f. Heimann 1830/31, 96: „Wie bei Robespierre herrschten bei ihnen Tugend und Schrecken“. Der Vergleich findet sich erst in Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte von 1830/31 und nicht in den früheren Vorlesungen. Er wird in der Druckfassung von E. Gans entsprechend überliefert: „Das Prinzip Robespierre’s, daß um die Tugend festzuhalten, da es Schrecken nöthig sey, war auch das der Muhamedaner“ (Georg Wilhelm Friedrich Hegel’s Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte. Berlin 1837, 364). Dagegen schreibt K. Hegel in der 2. Auflage (1840, 434): „La religion et la terreur war hier das Princip, wie bei Robespierre la liberté et la terreur.“ Bei Robespierre – so auch bei Hegel – werden wohl nicht Freiheit und Schrecken, sondern Tugend und Schrecken entgegensetzt. Die Dialektik von Religion und Schrecken im Bezug auf Muhammad lässt sich auch nicht in K. Hegels eigenem Heft dokumentieren: „Um die Tugend festzuhalten, dazu gehört der Schrecken (das Prinzip Robespierres), dieses abstrakte Prinzip hatten die Mohametaner in Auge“ (K. Hegel 1830/31, 388). M. Robespierre, „Sur les principes de la morale publique“. Rede vom 5/02/1794 (17 Pluviôse An II). In: S. Žižek, Robespierre: entre vertu et terreur. Paris 2007, 232. Hegel, Phänomenologie des Geistes. In: ders., Gesammelte Werke. Bd 9. Hrsg. von W. Bonsiepen. Hamburg 1980.
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HEGEL UND DER GEIST DES ISLAMISMUS
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technokratische und der Bevölkerung ganz entfremdete Pahlavi-Regime hatte schon vor 1978/1979 nur noch die religiöse Tradition als die einzig moralisch unbeschädigte Kraft übrig gelassen“.30 Die Erneuerung konnte nur aus der Religion kommen, weil der Marxismus auch als etwas Westliches galt. Das Pathos der Emanzipation wurde daher mit dem Namen Chomeini verbunden, obgleich dies „für uns“ (Europäer? A. P. O.) „obszön klingen“ mag.31 Der Anspruch auf eine ethische Rationalität im Bezug auf einen östlichen Patriotismus (das Prinzip der Tugend) wäre also noch mehr als die Religion als solche für die Erscheinung der Revolution entscheidend gewesen. Hegels Analyse des historischen „Mahommedanismus“ liefert ein Verständnis des Phänomens, das einige falsche – im Sinne von logisch unhaltbaren – Gegensätzen zwischen „Islam“ und „Moderne“, bzw. „Islam“ und „Demokratie“ aufhebt, indem der Islamismus als ein wesentlich revolutionäres Phänomen verstanden wird und mit der politisch radikalsten Auffassung der Demokratie, d.h. der Französischen Revolution in der Fassung von 1793, mit der déclaration des droits de l’homme et du citoyen in Zusammenhang gebracht wird.32 Die Analyse bleibt dennoch dadurch beschränkt, dass sie sich – und darin liegt das Gemeinsame zum sog. „Fundamentalismus“ von heute – fast ausschließlich mit den Taten – und vor allem den militärischen Taten – der orientalischen Völker, besonders der Araber in der Zeit von Mohammed, in der Zeit der Entstehung der Religion und ihrer Verbreitung beschäftigt. Hegel betrachtet nämlich die türkische Herrschaft als geschichtlich unbedeutend und schweigt über den asiatischen (chinesischen), afrikanischen, europäischen (spanischen) Islamismus, obwohl er bemerkt, dass die Religion sich durch die arabischen Eroberungen bis nach Asien, Afrika und Europa ausgebreitet habe: „Von da hat sich die Eroberung nach Frankreich erstreckt, Poitiers, Provence waren schon in den Händen der Mahomedaner“.33 Eine Wiederholung des Islamismus in der Geschichte kommt – darin vergleichbar der Ablehnung einer Wiederholung griechischer Kunst, Religion und Politik – auch nicht in Frage, so dass das Schicksal des Islamismus auf paradoxe Weise vor allem mit dem Schicksal des arabischen Volks und Rittertums verbunden bleibt.34 30
J. Habermas, „Jürgen Habermas trifft im Iran auf eine gesprächsbereite Gesellschaft“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 13.6.2002, 47 31 . Ebd. 32 Über weiteren falschen Fragen betreffend Islam und Islamismus im heutigen politischen Diskurs, vgl. Y. Sadowski, „Political Islam: Asking the Wrong Questions?“ In: Annu. Rev. Polit. Sci, 9 (2006), 215-240. (Für diesen Hinweis danke ich S. F. Badri.) Andere Hauptfehler in der politischen Interpretation der islamischen Phänomenen werden hier pointiert benannt, wie: a) Die Annahme, es gebe etwas wie eine einheitliche Lehre des Islams, oder b) die Religion wäre ein bestimmende Element im Leben der muslimischen, bzw. nicht muslimischen Menschen. 33 Hube 1826/27, 186a. 34 Die Möglichkeit einer Wiederholung der weltgeschichtlichen Bedeutung des Judentums im 19. Jahrhundert im Sinne eines „wissenschaftlichen“ Hegelianismus wurde z.B. von M. Heß (1862) thematisiert.
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Hegel sagt allerdings, dass unmittelbar nach der Eroberung die „Blüte der Künste und Wissenschaften“ in allen Städten emporsprosste.35 In diesem Kontext hat auch die Poesie besonders in Persien ihre höchste Vollendung gefunden, was Goethe anerkannt und in seinem West-östlichen Diwan vom Standpunkt der modernen germanischen Welt aus (als deren Erweiterung und Alternative) reflektiert hat.36 Hegel betrachtet dieses Werk in der Ästhetik als Höhepunkt der Kunst im Blick insbesondere auf ihre politische Bedeutung: die Vermittlung alternativer Lebensformen.37 Eine andere, aktuelle Bedeutung des Islamismus ist jedenfalls in dieser Sphäre der Poesie zu finden, so dass die Ästhetik des Schreckens, wie sie in Hegels Philosophie der Geschichte – sowie in der heutigen medialen Welt – herrscht, d.h. die problematische Darstellung des Phänomens unter der ästhetischen Kategorie des Terrors, doch ihr Gegengewicht, bzw. kurative Behandlung in der Philosophie der Kunst haben könnte.
3. Islamismus als Ästhetik des Pantheismus In der Ästhetik der Erhabenheit bildet das „arabische Prinzip“ neben der „jüdischen Poesie“ ein selbständiges Moment. Es lässt sich als selbständiges ästhetisches Prinzip auffassen, wobei es als vorislamisches Phänomen zunächst nicht mit der Religion der Mohammedaner identifiziert werden darf. Es besteht zunächst vor allem in der Erhabenheit des Ethos, bevor es als Prinzip der Kunst und der Poesie wirksam wird, als das „schöne Handeln“ der Araber, das die Poesie dann, wie z.B. im Roman des Antars, reflektiert.38 Das „schöne Rittertum“ der Araber wird – ebenfalls in Parallele und Absetzung vom vorgegangenen Rittertum der westlichen Welt – in der Geschichte zum Motor der Verbreitung der Religion und bildet insofern ein wesentliches Moment des Islamismus. Das „arabische Prinzip“39 ist als reine Unselbständigkeit ein Moment in der Behauptung des Selbstbewusstseins, welche sich gegen die Natur absetzt, wobei die Natur in der orientalischen Welt – die Entstehungsgrundlage des arabischen Rittertums – an sich selbst eine Negation aller Partikularität (das Öde) ist. Der Begriff der Liebe, welcher ein wesentliches Moment in der Bestimmung des romantischen Ideals ausmacht, entstammt dem arabischen Prinzip und wurde erst durch die Eroberungen und die Kollisionen der Kulturen in die 35 36 37
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Hube 1826/27, 186b. Griesheim 1822/23, 215. Vgl. A. Gethmann-Siefert, „Kunst für schwache Kosmopoliten. Sind Hegels Vorlesungen zur Ästhetik eine Fälschung?“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30. September 1987 und A. Gethmann-Siefert/B. Stemmrich-Köhler, Faust: „Die ‘absolute philosophische Tragödie’ – und die gesellschaftliche Artigkeit des West-Östlichen Divan“. In: Hegel-Studien 18 (1983), 23-64. Libelt, Ästhetik nach Pf. Hegel im WS 1828/29, 148a. Ascheberg, Ästhetik nach dem Vortrag des Herrn Professor Hegel. Hrsg. v. H. Schneider. Frankfurt 1995, 1820/21, 96 f.
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HEGEL UND DER GEIST DES ISLAMISMUS
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europäische Welt aufgenommen. So kann in der Philosophie der Geschichte die Erscheinung dieser schönen Sittlichkeit – sowie die „freie Poesie“ – als ein Verdienst der arabischen Völker angesehen werden unabhängig vom spezifischen Inhalt der Religion.40 Vor allem in der islamischen Zeit und im Rahmen der persischen Geschichte hat die erhabene Poesie zudem die Form eines neuen Pantheismus gefunden, und eben diese Form wird im Kontext des deutschen Idealismus aktualisiert. Sie ist zugleich ein Höhepunkt der Poesie und die Grundbestimmung der Philosophie, denn sie stellt den Pantheismus in seiner „Reinheit und Erhabenheit“ dar.41 In dieser Synthese von Poesie und Philosophie wird das Erhabene nicht mehr als ein negatives, sondern im Gegenteil als ein „affirmatives Verhältnis des Einen zur Endlichkeit“ aufgefasst.42 Das Eine wird hier als das Alles, das Pan begriffen und steht so im Verhältnis zum Besonderen. Das Eine bleibt als das Erhabene über den natürlichen Dingen, über der Partikularität und der Existenz, ist aber gleichzeitig den einzelnen Dingen immanent, so dass das Existierende in einem freien Zusammenhang mit ihm steht.43 Das Verhältnis ist also kein Verhältnis der Macht, nicht die Furcht vor der Erhabenheit der Macht des Einen, sondern eine Versöhnung: „in Liebe drückt sich alles aus“44. In dieser Form des Pantheismus ist nicht nur die Substanz, sondern auch das Subjekt in seiner Differenz zur Substanz von zentraler Bedeutung. Der Dichter ist diese Differenz: „das Subjekt als solches spricht sich [aus] in dieser Einheit bei Dschellaledin Rumi“45. Hier findet jenes moderne Prinzip der freien Subjektivität seinen Ausdruck und seine Erweiterung, deren höchste Spitze von der Romantik im Prinzip der Ironie (im Sinne der Fichteschen Absolutheit des Ichs und der Idealität der Welt) formuliert wurde. Der „westliche“ romantische Standpunkt erweitert sich als Standpunkt der unfreien, sogar kranken Subjektivität, während die „orientalische“ Poesie die „glückliche, freie Innigkeit“ darstellt.46 Insofern kommt es zu einer gelungen Synthese zwischen Sinnlichem und Übersinnlichem, zwischen Individuum und Substanz, zwischen Natur und Geist, welcher von der „Sehnsucht“ der Romantik befreit wird. Die „Freiheit der Phantasie“ zeigt sich in Goethes Diwan, doch Goethe wird noch von Hafis und Rückert übertroffen.47
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Griesheim 1822/23, 315. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1827). In: Gesammelte Werke Bd 19. Hrsg. von Bonsiepen/Lucas. Hamburg 1989, 410. Kehler 1826, Ms 168. Die Verbindung zur Philosophie besteht eben darin, dass der Begriff, die Idee als das Allgemeine, als das All und insofern als das pan, sich doch auch von der Existenz, der Einzelheit und des Subjektiven unterscheidet. Libelt 1828/29. Kehler 1826, Ms 168. Kehler 1826, Ms. 170. Libelt 1828/29, 102a.
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Das Ende der romantischen Form – das Ende der Kunstgeschichte – ist eine Rückkehr zur orientalischen Poesie der Mohammedaner, wie sie sich in der Zeit des persischen Reichs entfaltet hat. Wenn hier am Ende der Geschichte von Islamismus die Rede ist, so ist zu bemerken, dass es um eine Form des Geistes geht, welche von aller ethnischen und dogmatischen Partikularität befreit ist.48 In diesem Sinn gilt die Poesie erneut als „Lehrerin der Völker“, aber in einem von der späteren romantischen Konzentration auf das Örtlich oder Zeitlich des germanischen Prinzips kritisch abgesetzten „Kosmopolitismus“ für den sich Hegel mit Goethe ausspricht. Im Islamismus Hegels und Goethes – zum Teil auch Rumis und Hafis’ – handelt es sich weniger um eine „ästhetische Religion“, als um ein ästhetisches Verhältnis zur Religion. Das ästhetische Verhältnis ist ein freies Verhältnis zu jedem Inhalt. Aktualisiert wird hier nicht der Koran oder Mohammed und seine Zeit, sondern die Poesie als freies Verhältnis des Bewusstseins zum Einen und zum Allen. Diese Form von Islamismus ist nicht an eine bestimmte Zeit und an einen bestimmten Ort gebunden. Wenn Hegel zu bedenken gibt, dass diese Poesie des Orients eigentlich mehr in den nordischen Ländern „zu Hause“ ist als die deutschen romantischen Volkslieder, dann mag sie auch nicht dem „orientalischen Prinzip“ im strengen Sinn allein zu gehören, denn das Orientalische wird dem (poetisch reflektierten) Orientalischen entgegengesetzt. Hegel bemerkt, dass der „neue Pantheismus“ der Perser nicht unmittelbar von Mohammed stammt, sondern vom Sufismus.49 Eine solche Anschauung löst sich von der Naturalität und Partikularität des „objektiven Geistes“. Der Name „Rumi“ verrät bereits sein Verhältnis zum Romanischen, zum romanischen Reich, unbesehen aller platonischen, persischen, syrischen Einflüsse. Diese Form von pantheistischem erhabenem Islamismus findet sich eigentlich auch zu anderen Zeiten und an anderen kulturellen Orten (in der katholischen Mystik, in der italienischen Poesie, usw.).50 Der Islamismus löst sich daher in einer philosophischen Position als einfaches Prinzip des Einen und des Allen, des hen kai pan auf, welches auch dem Prinzip des deutschen Idealismus nahesteht. Insofern kann Islamismus als „die höchste Freiheit des Geistes“51 erscheinen – nicht nur als Negation, sondern auch als Affirmation.
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Vgl. J.I. Kwon, Hegels Bestimmung der Kunst: Die Bedeutung der ‘symbolischen Kunstform’ in Hegels Ästhetik. München 2001, 202 ff. A. Heimann, Die Ästhetik nach Hegels Vortrag geschrieben von Heimann im Wintersemester 1828/29, Ms Privatbesetz, Ts A.P. Olivier (zitiert als Heimann 1828/29), 51. Heimann 1828/29, 51. Heimann 1828/29, 37: „Goethe hat einen westlichen Divan geschrieben, weil er eine westlicher Mensch, ein Europäer ist, und äußerlich aufgenommen hatte, den westlichen Charakter und Ton ist Anklang an Orient darin. Später bildete er sich mehr darin hinaus, indem die höchste Freiheit des Geistes darin herrscht, sich auf sich allein zu beziehen, Freiheit des Geistes in der Empfindung selbst. Aber das Substanzielle ist ebenso allgemein für uns gegenwärtig“.
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III. POLITIK / RELIGION / KUNST
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Bruno Bauer, Karl Grün und Karl Marx zur Emanzipation der Juden Die Stellung der Philosophie zur Religion drückt nicht nur das kontroverse Selbstverständnis der Philosophie aus – was sie glaubt, noch und nicht mehr leisten zu können. Die Interpretation des Verhältnisses von Philosophie und Religion verrät auch die eher ablehnende oder kritisch bejahende Einstellung zur Moderne. Jürgen Habermas
Die linkshegelianische Debatte um „die Judenfrage“, die in den Jahren 1843 bis 1846 geführt worden ist, lässt sich in zwei Phasen einteilen. Die erste Phase der Debatte wird 1843 eröffnet. In diesem Jahr veröffentlicht Bruno Bauer seine Schrift Die Judenfrage, den Separatdruck eines Artikels, der 1842 in den von Arnold Ruge herausgegebenen Deutschen Jahrbüchern erschienen war, sowie einen Aufsatz „Die Fähigkeit der heutigen Juden und Christen, frei zu werden“, der in den von Georg Herwegh herausgegeben Einundzwanzig Bogen aus der Schweiz erschienen ist.1 Im darauf folgenden Jahr erschienen Karl Grüns Schrift Die Judenfrage: Gegen Bruno Bauer sowie – im einzigen publizierten Band der von Arnold Ruge und Karl Marx herausgegebenen DeutschFranzösischen Jahrbücher – der Artikel „Zur Judenfrage“ von Karl Marx.2 Im Zeitraum 1845 bis 1846 findet dann eine zweite Runde der Debatte statt (bezogen auf Bruno Bauer beginnt diese zweite Phase bereits Ende 1844). Bruno Bauer veröffentlicht in diversen, teilweise von ihm selbst herausgegebenen, zumeist kurzlebigen Zeitschriften Artikel, in denen er sich mit den Kritikern seiner Schrift Die Judenfrage, aber auch mit Kritikern an weiteren seiner Publikationen auseinandersetzt. In der für die linkshegelianischen Diskus1
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Ich lasse die Debatte 1843 beginnen, weil sich die Entgegnungen auf Bauers Separatabdruck von „Die Juden-Frage“ aus den Deutschen Jahrbüchern beziehen. B. Bauer, „Die Fähigkeit der heutigen Juden und Christen, frei zu werden“. In: Herwegh (Hrsg.), Einundzwanzig Bogen aus der Schweiz. Zürich und Winterthur 1843, hier zitiert nach der von Ingrid Pepperle herausgegebenen Ausgabe Leipzig 1989, 136-154 mit der Sigle F.; B. Bauer, Die Judenfrage. Braunschweig 1843; hier zitiert mit der Sigle J. K. Grün, Die Judenfrage. Gegen Bruno Bauer. Darmstadt 1844 (hier zitiert als Grün); K. Marx, „Zur Judenfrage“. In: Ruge/Marx (Hrsg.): Deutsch-Französische Jahrbücher. Paris 1844 (hier zitiert nach der von Joachim Höppner herausgegebenen Ausgabe Leipzig 1981, 266-299 als Marx). In diesem Beitrag konzentriere ich mich auf diese drei, oben genannten Texte und beziehe andere Reaktionen auf Bauers Schrift, die zeitlich ebenfalls in diese erste Phase fallen, nicht in meine Überlegungen mit ein.
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sionen üblichen Hektik und Polemik entsteht schnell eine Fülle von Texten, in denen auf ganz unterschiedliche Problemstellungen reagiert und eine Polemik mit verschiedenen Autoren geführt wird. Karl Marx kommt auf diese zweite Welle von Bauers Texten zweimal zu sprechen: In der gemeinsam mit Friedrich Engels verfassten und 1845 publizierten Schrift Die heilige Familie geht Marx auf Bauer und die Judenfrage in dem von ihm verfassten sechsten Kapitel ein. Und in der gemeinsam mit Engels verfassten Schrift Die deutsche Ideologie findet sich als Teil II eine dritte Runde der Marxschen Auseinandersetzung mit Bruno Bauer.3 Obwohl es in der Deutschen Ideologie auch eine Auseinandersetzung mit dem wahren Sozialismus von Karl Grün gibt, findet sich bei Marx keine Bezugnahme auf dessen Beitrag zur Judenfrage. Wie wir in diesem Beitrag sehen werden, liegt dies in den systematischen Interessen von Karl Marx begründet. Diese zweite Phase der Auseinandersetzung bringt mit Ludwig Feuerbach, Max Stirner und Moses Heß nicht nur neue Diskutanten, sondern auch eine Erweiterung bzw. Verschiebung der Fragestellungen mit sich. Aus diesen Gründen werde ich diesen Abschnitt der Debatte hier ausblenden. Im Folgenden werde ich in fünf Schritten vorgehen: Zuerst stelle ich die Konzeption von Bruno Bauer des Jahres 1843 dar (I.); danach folgen die Konzeptionen von Karl Grün (II.) und Karl Marx (III.), wie sie sich aus ihrer Bauerkritik des Jahres 1844 ermitteln lassen. Anschließend folgt eine Synopse der Gemeinsamkeiten und Differenzen der drei Konzeptionen (IV.) sowie eine Explikation der Anschlussfragen, die sich im Ausgang unserer Analyse formulieren und die systematische Bedeutung dieser philosophischen Auseinandersetzung für unsere gegenwärtigen Debatten deutlich werden lassen (V.).
I. Die Konzeption Bruno Bauers Bruno Bauer beansprucht mit seinen beiden in diesem Beitrag behandelten Schriften, der damals geführten Diskussion um die Emanzipation der Juden – im Sinne bürgerlicher und politischer Partizipation – die richtige Formulierung zu geben. Ihm geht es darum, den Zusammenhang aufzuklären, „in welchem die Emanzipation der Juden mit der Entwicklung unsrer gesammten Zustände steht“ (J 1). Bauers Diagnose ist dabei, dass das Emanzipationsbestreben der Juden eigentlich auf politische Emanzipation und die Aufhebung des religiösen Gegensatzes zwischen Christen- und Judentum zielt (J 59).4 Damit ziele es, so Bauer, aber eigentlich auf die Selbstaufhebung der Religion, denn als
3
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Dieser Teil der Deutschen Ideologie ist im Zeitraum Dezember 1845 bis April 1846, vermutlich von Karl Marx, verfasst worden; publiziert wurde diese Schrift aber erst 1932; die kritische Ausgabe steht bisher noch aus. Vgl. J 21, 74, 87, 94 und 96 sowie F 136 und 152.
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BRUNO BAUER, KARL GRÜN UND KARL MARX ZUR EMANZIPATION DER JUDEN
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„Menschen können sich Juden und Christen erst betrachten, und gegenseitig behandeln, wenn sie das besondre Wesen, welches sie trennt und zu ‘ewiger Absondrung’ verpflichtet, aufgeben, das allgemeine Wesen des Menschen anerkennen und als ihr wahres Wesen betrachten“ (J 19).5
Die normative Basis von Bauers Überlegungen stellen die Menschenrechte dar, in denen seiner Auffassung nach das wahre und universale Wesen des Menschen in seiner Autonomie adäquat zum Ausdruck gekommen ist (vgl. J 19, 54 oder 61). Dieses wahre Wesen findet, so Bauers Position, in einem demokratischen Staat, der sich selbst nicht mehr durch eine bestimmte Religion legitimiert, sondern seine Legitimation direkt durch die Autonomie der Bürger bezieht, seine ihm gemäße politische Form (vgl. J 3, 20, 54, 57 oder 88). Während der christliche Staat auf Ungleichheit, auf dem „Zufall der Geburt“ und auf „Privilegien“ (J 19) beruht, zeichnet sich der demokratische Staat dadurch aus, dass er „eine allgemeine Angelegenheit Aller“ (J 88) geworden ist. Wenn die Juden im christlichen, auf Ungleichheit und Privilegien beruhenden Staat Gleichheit für sich „als Juden“ (J 10 oder 14) einfordern, verwickeln sie sich in Bauers Augen in einen Widerspruch, den man als Dilemma formulieren kann: Entweder verlangen sie die Gleichbehandlung als eine partikuläre Gruppe („als Juden“). Dann aber behandelt sie der nicht neutrale und nicht auf Gleichheit ausgerichtete christliche Staat korrekt, wenn er sie nicht als gleichberechtigt anerkennt. Oder sie verlangen die Durchsetzung von Gleichheit und staatlicher Neutralität. Dann aber fordern sie zum einen, den christlichen durch den demokratischen Staat abzulösen, und dürfen zum anderen – dies ist einer der entscheidenden Punkte Bauers – diese Emanzipation nicht „als Juden“ verlangen. Es muss ihnen dann um die Emanzipation als Menschen und damit um die Emanzipation von der Religion als für sie konstitutive Wesensbestimmung gehen. Mit anderen Worten: Bauer verlangt auf der politischen Ebene eine Radikalisierung des Emanzipationsbegehrens und begreift seine Argumentation als ideologiekritische Aufklärung der tatsächlich von den Juden (und ihren christlichen Unterstützern) gestellten Forderungen. Bauers Argumentation beruht dabei auf vier allgemein philosophischen Prämissen, von denen er die ersten beiden aus Hegels Philosophie übernimmt, und einigen religionsphilosophischen Zusatzannahmen, die ich jetzt kurz darstellen möchte.6 Erstens nimmt er zentrale Elemente der Hegelschen Religionsphilosophie in Anspruch: Das Christentum gilt als die Vollendung und als eine höher entwikkelte Form der Religion (J 11, 34, 35, 45 sowie F 139, 140, 144, 146 und 147), wobei unterstellt wird, dass die einzelnen Religionen einen wesentlichen, identitätsstiftenden Kern haben, der sich in eine spekulativ-logische Ordnung 5 6
Vgl. auch J 61 sowie F 149-152. Vgl. hierzu ausführlich D. Moggach, The Philosophy and Politics of Bruno Bauer. Cambridge: Cambridge University Press 2003.
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bringen lässt und zugleich die Grenzen der Entwicklungsfähigkeit dieser Religionen bestimmt. Aus diesen Annahmen leitet Bauer die Legitimation ab, nicht die faktisch vorfindlichen Liberalisierungen des Judentums seiner Zeit zum Ausgangspunkt seiner Analyse zu nehmen, sondern diesen – in seinen Augen von Hegel erkannten – Identitätskern. Außerdem leitet er aus dieser religionsphilosophischen Konstruktion ab, dass dem Christentum eine Art emanzipatorisches Privileg gegenüber dem Judentum zukommt: Weil im Christentum die Gleichheit des Menschen als Mensch vorgedacht wird, erzeugt diese Religion in Bauers Augen die normativen Grundlagen für die Idee einer universellen menschlichen Emanzipation (vgl. F 140 und 144 f.). Zweitens unterliegt dem Bauerschen Denken Hegels geschichtsphilosophische These, dass sich der historische Prozess – in allen seinen Gestalten – als Fortschritt im Bewusstsein und in der institutionellen Realisierung der Freiheit verständlich machen lässt (J 4, 11, 34, 35, 81). Wir haben es bei Bauer mit einem begrifflich notwendigen und in seinem Ablauf auch festgelegten Entwicklungsprozess zu tun, in dem die Menschheit sich über ihr Wesen, das in der Autonomie besteht, zunehmend klarer wird. Damit komme ich zu den beiden philosophischen Prämissen, die Bauer zusätzlich investiert: Seiner Konzeption von Autonomie zufolge muss der Mensch sich selbst die Gesetze geben und darf keine vorgegebenen Unterschiede akzeptieren: Die Abschaffung der Zufälle der Geburt, hiermit zielt Bauer natürlich auf die Erbmonarchie, und aller Privilegien – dies zielt auf die Stände und Zünfte – liegt in der Fluchtlinie des Wesens des Menschen, welches qua Selbstbewusstsein Freiheit und ein „Verlangen nach Gleichheit“ (F 151) ist. Mit dieser Autonomiekonzeption verbindet Bauer aber nicht nur die Ablehnung von Ungleichheiten, sondern zugleich auch die Aufhebung von unreflektiert vorgegebenen oder autoritativ verordneten Normen durch kritische Reflexion (vgl. J 2, 3 oder 21). Es ist klar, dass durch Offenbarung gegebene oder auf bloßer Gewohnheit bzw. Traditionen fußende Normensysteme mit diesem Modell reflexiver Autonomie nicht vereinbar sind. Aus diesen vier Prämissen leitet Bauer einige Konsequenzen ab, die von allgemeiner religionsphilosophischer Relevanz sind: Die Religion ist, da sie auf Offenbarung oder göttlicher Autorität beruht, in letzter Instanz nicht kritikfähig (J 86). Damit fehlt es dem Menschen qua religiöses Subjekt an einer notwendigen Bedingung dafür, sich als echter Staatsbürger eines demokratischen Staates zu begreifen (F 137). Denn entweder ordnet er seine Religiosität den Anforderungen unter, die seine politische Rolle ihm auferlegt. Dann verletzt er aber sein religiöses Wesen. Oder er verweigert diese Unterordnung und verletzt damit die Autonomiebedingung, die nach Bauer die Legitimation des demokratischen Staates darstellt.7 Darüber hinaus müssen, so Bauer, Religionen einen Alleinvertretungsanspruch erheben und sich von anderen Religionen abgrenzen; diese Abgren7
Vgl. für die Verbindung von Religions- und Staatskritik bei Bauer J48 und 96.
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BRUNO BAUER, KARL GRÜN UND KARL MARX ZUR EMANZIPATION DER JUDEN
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zung gehört, so könnte man anerkennungstheoretisch sagen, zu ihrer eigenen Identität hinzu (J 29, 31, 53, 60, 66, 68 u. 100). Für Bauers Gedankengang spielt es dabei keine Rolle, ob eine Religion sich passiv-elitär oder aktivmissionierend zu andersgläubigen Menschen verhält. Entscheidend ist für ihn, dass das Selbstverständnis qua religiöses Subjekt eine Partikularität impliziert, die mit dem universalen sowie egalitären Charakter der Selbstbestimmung und damit auch mit den normativen Grundlagen des demokratischen Staates unvereinbar ist. Zusammengefasst stehen damit zwei religionsphilosophisch bedeutsame Fragen im Raum: Erstens ist zu fragen, ob und wie sich Toleranz mit einem religiösen Selbstverständnis vereinbaren lässt. Bauers Antwort ist, dass dies nur qua Mensch, nicht aber qua Jude oder qua Christ möglich ist. Aus diesem Grunde will er die religiöse durch die politisch-menschliche Emanzipation ersetzen. Und zweitens ist zu fragen, was von Bauers letztendlich entscheidender These zu halten ist, die sich so formulieren lässt: Das moderne Prinzip der Autonomie ist mit dem Haben religiöser Überzeugungen unvereinbar (vgl. J 35-37, 45, 58, 60, 69, 95 sowie F 140, 142 u. 147): „Es mußte so kommen und diese Epoche mußte eine allgemeine Leidensepoche werden, weil man vorher den Irrthum begangen hatte, die Emancipation für möglich zu halten, wenn die Privilegien der religiösen Schranken stehen blieben, ja in der Emancipation selbst anerkannt würden.“ (J 60)
Dass diese Stelle nicht nur die Situation der faktischen Ungleichbehandlung unterschiedlicher Religionen im christlichen Staat meint, sondern die generelle Unverträglichkeit von Religion und Autonomie zum Ausdruck bringt, macht folgende Aussage Bauers klar: „Die Emancipation kann also auch nicht an die Bedingung geknüpft werden, daß sie Christen würden – eine Bedingung, unter der sie nur in einer andern Weise als sie es vorher waren, privilegiert würden. Ein Privilegium würde nur mit dem andern vertauscht. Das Privilegium bliebe, wenn es auch auf Mehrere, ja wenn es selbst auf Alle – auf alle Menschen ausgedehnt würde.“ (J 60)
Zu beachten ist hier, dass Bauer nicht die Frage stellt, welche die heutige Debatte beherrscht: Wie sollte der Staat, der sich dem Gleichheits- und Neutralitätsgebot verpflichtet weiß, mit der Tatsache umgehen, dass er eine religiös plurale Bevölkerung vor sich hat. Bauers Frage ist aufschlussreich und radikal, weil er die Spannung innerhalb des normativen Selbstverständnisses religiöser Subjekte verortet.8 8
Bauer ist sich selbst manchmal der doppelten Stoßrichtung seiner These, dass Autonomie und Religiosität inkompatibel sind, weil Neutralität und kritisch reflektierte Selbstgesetzgebung durch letztere verletzt werden müssen, nicht ganz klar. So heißt es bei ihm auch: „Nehmt der Religion ihre ausschließende Kraft, und sie existiert nicht mehr“ (J 66). Dies steht in Spannung zu dem obigen Gedankenexperiment der universalen Religion, lässt sich aber interpretatorisch ‘heilen’, wenn man beachtet, dass Bauer mit den beiden Stellen jeweils eine der beiden Inkompatibilitäten aufweisen will.
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II. Die Kritik von Karl Grün In seiner „gegen Bruno Bauer“ gerichteten Schrift Die Judenfrage setzt Grün sich mit der Gesamtanlage von dessen Argumentation auseinander, deren Zielsetzung er darin sieht, alle Religion zu kritisieren, um die politische Emanzipation zu erreichen (Grün 14 f.). Dabei stellt Grün an einigen Stellen zwar auch gängige antisemitische Züge der Bauerschen Argumentation wie das Selbstverschulden der Unterdrückung (20 ff.) oder die Selbstexklusion (41 ff.) heraus, legt darauf aber keinen weiteren Akzent.9 Grüns Ziel ist es, die beschränkte Forderung der Juden nach Gleichstellung im Staat zu rechtfertigen (Grün 150) und zugleich die allgemeine Forderung nach politischer Emanzipation in einem demokratischen Staat zu unterstützen, der seiner Meinung nach z.B. in den Vereinigten Staaten von Amerika bereits eine geschichtliche Tatsache geworden ist (Grün 147). Er teilt im Grundsatz mit Bauer die Hegelsche Geschichtsphilosophie als eine Geschichte im Bewusstsein und der institutionellen Verwirklichung der Freiheit (Grün 43, 44, 82 oder 145), befindet sich dabei aber in zweierlei Hinsicht sogar näher an Hegels eigener Position als der Linkshegelianer Bruno Bauer: Zum einen geht Grün davon aus, dass sich „das Neue langsam und allmälig“ (Grün 147) durchsetzt; er setzt also auf Reform und nicht auf Revolution. Und zum anderen folgt Grün Hegel in dessen skeptischer Einschätzung der prognostischen Kraft und Funktion der Philosophie: „die Theorie kommt erst, wenn das Faktum fertig ist“ (Grün 149). Vor diesem Hintergrund wirft Grün Bauer aus pragmatisch-politischer Perspektive vor, mit seinen überzogenen radikalen Forderungen der Sache der politischen Emanzipation zu schaden: „Es ist sehr unpraktisch und verschiebt das Ziel der zunächst zu erreichenden Periode der geschichtlichen Entwicklung, daß man die Freiheit nur dann möglich werden sieht, wenn alle Religion vom Erdboden vertilgt sein wird.“ (Grün 148)
An die Stelle eines Gegeneinanders von linkshegelianischer Religionskritik und politischem Emanzipationsbestreben sollte die gemeinsame Koalition gegen den restaurativen Staat treten: „Keiner wider den Andern, wenn Beide die Freiheit wollen“. (Grün 151)
Mit seiner radikalen Kritik leiste Bauer der Emanzipationsbewegung jedoch einen Bärendienst, „indem er Alles zu hoch schraubt“ (ebd.); der „Standpunkte der unendlichen Kritik“ sei „schon darum falsch, weil die Wirklichkeit des Vernünftigen auf endlose Zeiten hinausgeschoben wäre“ (Grün 155). Doch hinter Grüns Argumentation steht nicht nur die Position des Realpolitikers gegenüber dem kompromisslosen Utopisten. Es verbergen sich hier auch fundamentale philosophische Differenzen, die sichtbar werden, wenn 9
Zur Frage nach einer antisemitischen Komponente in dieser Situation vgl. die sorgfältige Analyse in D. Leopold, The Young Karl Marx. Cambridge 2007, Kap. 3.
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man darauf achtet, dass Grün eine entscheidende Prämisse von Bauers gesamter Argumentation ablehnt. Grün weist an vielen Stellen nach, dass Bauers Argumentation auf den Prämissen der Hegelschen Religionsphilosophie beruht, was zum einen dazu führt, dass Bauer die Weiterentwicklungen des Judentums in den letzten Jahrzehnten zugunsten des von Hegel identifizierten Wesenskerns der jüdischen Religion ignorieren zu dürfen glaubt (Grün 18, 19, 23, 53, 59 oder 138). Zum anderen hat dies die Konsequenz, dass Grün in der Judenfrage keine primär religionsphilosophische oder theologische Angelegenheit mehr sieht, eine Einschätzung, die er – zu Recht – Strauß und Bauer zuschreibt (Grün 13 f. o. 51). Deshalb weist er darauf hin, „wie wenig die transzendente Theorie auf die handgreifliche Wirklichkeit passen will“. (Grün 33) Konsequenterweise lässt Grün diese Hegelsche Vorgabe weg (Grün 16), nimmt die Weiterentwicklungen des Judentums ernst und verlagert die Fragestellung aus dem Bereich der Religionsphilosophie in den Bereich der Politischen Philosophie (Grün 19, 51, 52 u. 73 f.): „Es handelt sich hier aber gar nicht um die Vortrefflichkeit der jüdischen Religion, sondern lediglich um ihr Verhältniß zum Staat, um ihre Möglichkeit im Staate“. (Grün 73 f.)
Mit dieser Verlagerung auf den Bereich der Politischen Philosophie geht die Verschiebung der Fragestellung von „Wie verhalte ich mich als religiöses Subjekt zu den normativen Anforderungen eines demokratisch und pluralistisch verfassten Staates?“ hin zu „Wie soll sich ein der Neutralität verpflichteter demokratischer Staat gegenüber den religiös plural verfassten Bürgern verhalten?“ über. Damit verschiebt sich das Problem von der Bauerschen Inkompatibilitätsthese hin zur Neutralitätsthese des Staates. Aus den Weiterentwicklungen des Judentums leitet er die faktische Vereinbarkeit von Bürgersein und aufgeklärtem Judentum ab: „Daß diese gereinigte Religion dem Staate nichts in den Weg legt, ist, denk’ ich, klar geworden; daß wir mit der Entwicklung des Staatslebens nicht warten, bis alle Religion aufgehört hat, noch klarer, daß das Staatsleben sich rein erhalten kann, wenn es sich um Religion nicht bekümmert, aber auch der Religion nicht gestattet, sich um es zu bekümmern, wohl am klarsten“. (Grün 98)
Der demokratische Staat ist der Neutralität und der Gleichbehandlung aller Religionen verpflichtet (Grün 46 f., 55, 91, 129 o. 153) und muss, wenn er die Religion in den Privatbereich verbannt, das private Recht auf Glauben (Grün 60) und Religion als Privatsache anerkennen (Grün 90, 98, 153 u. 156). Dies gilt unter der Bedingung, dass im Konfliktfall zwischen staatlichen Normen und religiösen Geboten, die Grün übrigens für unvermeidlich hält (Grün 91), erstere den Vorrang – auch für das religiöse Subjekt – haben müssen. Diese Konstruktion bringt, dessen ist sich Grün bewusst, Zumutungen für das sich selbst religiös verstehende Subjekt mit sich. Er hält eine Weiterentwicklung der Religion (des Judentums) hin zur Preisgabe des Ausschließlichkeitsanspruchs für möglich (Grün 70) und verweist darauf, dass die Frage der
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Belastbarkeit einer religiösen Identität durch die politischen Herausforderungen eines demokratischen Staates durch die religiösen Subjekte selbst entschieden werden müssen (Grün 82).10 Dem Staat bleibt das Recht, seine Normen als übergeordnete durchzusetzen, wenn es Konflikte zwischen demokratischen und religiös begründeten Normen gibt. Aber innerhalb dieses Rahmens entscheidet die zur Privatsache gewordene Religion selbst, wie sie sich dem Transformationsdruck stellt. Der demokratische Staat muss und darf – pace Bauer – nicht die Elimination der Religion betreiben, weil sie Privatsache ist. Deshalb, so Grün, gilt: „Die Religion wird bleiben, aber sie wird so verschieden sein, als es Individuen gibt“. (Grün 156)
Grün nutzt also die Ablehnung der religionsphilosophischen Strukturierung der Problemstellung, um mit der Verlagerung der Fragestellung aus der Religionsphilosophie in die Politische Philosophie eine Auseinandersetzung mit Bruno Bauers radikaler These von der prinzipiellen Unvereinbarkeit von Religiosität und Autonomie zu vermeiden. Ihn kümmert Bauers Hinweis, dass die Anerkennung religiöser Pluralität und die Anerkennung politischer Emanzipation sowie das Primat der Autonomie über Autorität und Offenbarung mit dem Selbstverständnis der Religion unvereinbar sind, nicht, weil er auf der politisch-pragmatischen Ebene bleibt und den möglichen Identitätsverlust des religiösen Subjekts als Kollateralschaden des geschichtlichen Fortschritts in Kauf nimmt. Er kann zugestehen, dass es einzelne Religionen bzw. Ausgestaltungen von Religionen geben mag, die mit den normativen Vorgaben eines modernen und demokratischen Rechtsstaates unverträglich sind. Durch die Depotenzierung der religiösen Identität zur Privatsache und durch die Anerkennung des prinzipiellen Vorrangs der demokratischen Normen kann er, wie zumindest auch Kant vor ihm, der Religion einen Platz in den normativen Grenzen der demokratischen Vernunft einräumen. Der Preis für diese Strategie ist allerdings, dass ein Dualismus zwischen dem religiösen und dem aufgeklärten demokratischen Subjekt in Kauf genommen wird, der zu Spannungen und zu Entfremdungen führen muss. Aus dieser Bilanz nährt sich Bauers Idee einer vollständigen Emanzipation des politischen Subjekts von der Religion. Aus ihr nährt sich aber auch, wie wir jetzt sehen werden, die utopisch-anthropologische Kritik von Karl Marx.
III. Die Kritik von Karl Marx Karl Marx erkennt ebenfalls die beiden grundlegenden Ziele von Bruno Bauer, eine allgemeine Fragestellung der Judenfrage zu entwickeln (Marx 268) und 10
Dies scheint mir im Kern auch die Position von Jürgen Habermas zu sein; vgl. J. Habermas, Zwischen Naturalismus und Religion. Frankfurt a. M. 2005, Kap. 8 und 9.
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die These zu begründen, dass die politische Emanzipation die Aufhebung der Religiosität als solcher erfordert (Marx 270).11 Für Marx ist die entscheidende Frage, welche Emanzipation unter den gegenwärtigen historischen Bedingungen theoretisch zu fordern ist (Marx 270): die religiöse, die politische oder die allgemein menschliche? Seine Antwort ist bekannt: Es geht jetzt um die allgemein menschliche Emanzipation, die nicht mehr als Religionskritik, sondern als Kritik am demokratischen Staat, am Recht und an der bürgerlichen Gesellschaft durchzuführen ist.12 Um dieses Ziel zu erreichen, kritisiert Marx erstens die Abstraktheit der Bauerschen Entwicklung der Judenfrage, um dann zweitens dessen These von der Inkompatibilität von demokratischem Staat und Religion zurückzuweisen. Bauers gesamte Argumentation beruhe auf einer philosophisch-theologischen Konstruktion (Marx 292), welche die realen Weiterentwicklungen des Judentums (als Lehre) und seiner sozialen Realität, d.h. die gelebte Wirklichkeit des Judentums, ignoriere sowie die realen politischen Verhältnisse ausblende, innerhalb derer die Frage der Emanzipation sich allererst stelle. Während es im christlichen, das Neutralitätsgebot verletzenden Staat richtig sei, die Judenfrage als Frage nach der politischen Emanzipation zu stellen, ergebe sich im demokratischen Staat eine andere Lage. Da offensichtlich, wie die USA zeigen, die Existenz des demokratischen Staates mit der Existenz von Religion kompatibel sei, müsse die Frage der Emanzipation von der Kritik der Religion auf die Kritik des Staates übergehen (Marx 270), womit auch die Emanzipation von der Form der politischen in die der menschlichen Emanzipation zu überführen sei (Marx 271, 278, 282): „Die politische Emanzipation von der Religion läßt die Religion bestehn, wenn auch keine privilegierte Religion. Der Widerspruch, in welchem sich der Anhänger einer besondern Religion mit seinem Staatsbürgertum befindet, ist nur ein Teil des allgemeinen weltlichen Widerspruchs zwischen dem politischen Staat und der bürgerlichen Gesellschaft. Die Vollendung des christlichen Staats ist der Staat, der sich als Staat bekennt und von der Religion seiner Glieder abstrahiert. Die Emanzipation des Staats von der Religion ist nicht die Emanzipation des wirklichen Menschen von der Religion“. (Marx 282)
Die darin enthaltene Zurückweisung von Bauers Annahme, dass sich politische Emanzipation und Religiosität ausschließen, die Marx mit dem Hinweis auf die faktische Kompatibilität (Marx 272) begründet, verbindet er mit zwei weiteren Annahmen: Zum einen sei auch der Bauersche Atheismus noch eine 11
12
Vgl. zur Rolle Bruno Bauers in der intellektuellen Entwicklung von Karl Marx die Studie von Z. Rosen, Bruno Bauer and Karl Marx. The Hague 1977. (Rosen 1977). Unter diesen Vorzeichen ist es plausibel, dass Marx sich mit Bauer, nicht aber mit Grüns Position auseinandersetzt, da ersterer gegenüber letzterem die theoretisch fortschrittlichere Position einnimmt; auch wenn Marx, soweit ich sehe, auf Grüns Bauerkritik auch in der zweiten Phase der Debatte nicht eingeht, gesteht er dort doch anderen Autoren, die wie Grün die pragmatisch-politische Strategie verfolgen, zu, berechtigte Kritik an Bauers religionsphilosophisch-politischer Strategie zu üben.
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Form der menschlichen Entfremdung (Marx 272 u. 273), weil sich der Mensch durch die Negation der Religion nur auf einem „Umweg“ (Marx 273) seiner Freiheit versichern könne. Zum anderen könne der politische Staat wegen dieser Kompatibilität die Aufhebung der Religion gar nicht fordern (Marx 270, 277 u. 282). Weil Demokratie Religiosität nicht ausschließe, was der gegenwärtige Zustand der USA belege, folge lediglich Neutralität und Grenzziehung als politisch korrektes Verhältnis von demokratischem Staat und Religion. Marx begründet die Verlagerung der Emanzipationsfrage von der politischen zur menschlichen Emanzipation mit einer komplexen, für seine gesamte weitere Theoriebildung zentralen Argumentation, von der ich hier einige zentrale Thesen benennen möchte: (Th1) (Th2) (Th3) (Th4)
Religion ist nicht mehr „der Grund“, sondern nur noch ein „Phänomen der weltlichen Beschränktheit“, d.h. von Entfremdung. (272) „Alle Emanzipation ist Zurückführung der menschlichen Welt, der Verhältnisse, auf den Menschen selbst“. (Marx 291) Die Aufspaltung des Menschen in zwei Rollen (religiöses und politisches oder politisches und bürgerliches Subjekt) ist Ausdruck von Entfremdung. (Marx 291) Jede nur vermittelte oder indirekte Wesensrealisierung ist Ausdruck von Entfremdung. (Marx 273)
Diese letzten beiden Thesen enthalten nicht nur das utopisch-anthropologische Potential einer unmittelbaren und intern nicht ausdifferenzierten Wesensverwirklichung des Menschen; Marx konstruiert auf dieser Basis auch die Parallele von Religion und Politik einerseits und seiner Menschenrechtskritik andererseits. „Der politische Staat verhält sich ebenso spiritualistisch zur bürgerlichen Gesellschaft wie der Himmel zur Erde“. (Marx 275)
Da nicht mehr die Religion als Grund der Entfremdung gilt (siehe Th1), vertritt Marx nun eine ‘Gemeinsame-Ursache-Konzeption’: die religiöse und die politische Entfremdung haben die gleiche Wurzel; und diese Wurzel ist die Verfasstheit der bürgerlichen Gesellschaft (Marx 291): „Erst wenn der wirkliche individuelle Mensch den abstrakten Staatsbürger in sich zurücknimmt und als individueller Mensch in seinem empirischen Leben, in seiner individuellen Arbeit, in seinen individuellen Verhältnissen, Gattungswesen geworden ist, erst wenn der Mensch seine ‘forces propres’ als gesellschaftliche Kräfte erkannt und organisiert hat und daher die gesellschaftliche Kraft nicht mehr in Gestalt der politischen Kraft von sich trennt, erst dann ist die menschliche Emanzipation vollbracht.“ (Marx 291)
Die Menschenrechte teilen sich nach Marx in die allgemeinen und die politischen Grundrechte. Zu letzteren gehört zentral die Religionsfreiheit, weshalb sie, da die Existenz von Religion ja als Entfremdungsphänomen gilt, die Entfremdung nicht aufheben und die menschliche Emanzipation nicht realisieren
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können. Die Menschenrechte, sofern sie keine politischen Rechte darstellen, bringen Marx zufolge eine Freiheitskonzeption zum Ausdruck, die nichts anderes ist als das normative Selbstverständnis der sich als Privateigentümer atomisiert gegenüberstehenden „egoistischen Menschen“ (Marx 285, vgl. 287): „Das Menschenrecht der Freiheit basiert nicht auf der Verbindung des Menschen mit dem Menschen, sondern vielmehr auf der Absonderung des Menschen von dem Menschen.“ (ebd.).
Die politische Emanzipation, die eine „Reduktion des Menschen einerseits auf das Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft, auf das egoistische unabhängige Individuum, andererseits auf den Staatsbürger, auf die moralische Person“ (Marx 291), darstellt, bringt den normativen Überbau der Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft zum Ausdruck, „deren Verhältnis das Recht ist“. (Marx 290)
Aufgrund dieser „Spaltung des Menschen in den öffentlichen und in den Privatmenschen“ ist die politische Emanzipation nicht die Aufhebung der Religion (und damit der Entfremdung), sondern nur die „Dislokation der Religion aus dem Staat in die bürgerliche Gesellschaft“. (Marx 277) Die Ursprünge der Entfremdung liegen für Marx nun in den Grundprinzipien der bürgerlichen Gesellschaft: im Privateigentum (Marx 285) und im Geld (Marx 296), die sich im Recht, im Staat und auch in der Moral die ihnen gemäßen Verkehrsformen im Namen der politischen Emanzipation und der Menschenrechte schaffen. Die Beweislasten, die Marx mit seiner Kritik der Bauerschen Analyse der Judenfrage eingeht, liegen auf der Hand: Er muss nun den Nachweis erbringen, dass Privateigentum und Geld die Wurzeln der menschlichen Entfremdung sind, die es radikal zu kritisieren gilt, wenn die menschliche Emanzipation erreicht werden soll. Bekanntlich hat Marx in den zeitgleich entstehenden Ökonomisch-Philosophischen Manuskripten versucht, diese Beweislast abzutragen. Den Transfer religionsphilosophischer bzw. -kritischer Denkfiguren in die Kritik der politischen Ökonomie hat er dabei genauso beibehalten wie die seiner Staats- und Rechtskritik zugrunde liegende utopisch-anthropologische Vision einer unmittelbaren, intern nicht durch Repräsentationen oder Rollen ausdifferenzierten Verwirklichung des Menschen als eines Gattungswesens.
IV. Synopse der Gemeinsamkeiten und Differenzen Die Darstellung der weiteren Entwicklung des Marxschen Denkens ist nicht der Gegenstand dieses Beitrags. Deshalb möchte ich nun eine synoptische Zusammenfassung der drei bisher präsentierten Positionen vorlegen, um daran anschließend einige für die Gegenwart relevante Fragen zu umreißen, die sich
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aus dieser Debatte, die in den Jahren 1843 und 1844 geführt worden ist, ableiten lassen. Wir haben es mit drei verschiedenen Strategien zu tun: • Bruno Bauer verfolgt eine religionsphilosophisch-politische Strategie. • Karl Grün verfolgt eine pragmatisch-politische Strategie. • Karl Marx verfolgt eine essentialistisch-menschliche Strategie. Alle drei Autoren sehen in den Vereinigten Staaten von Amerika den demokratischen Staat als vollendet und damit die politische Emanzipation als verwirklicht an. Während Grün und Bauer dies strategisch in affirmativer Hinsicht tun, um auf diese Weise dem unzulänglichen christlichen Staat eine Alternative entgegen zu halten, hat diese Identifikation bei Marx eine andere Funktion: Er möchte mit ihr begründen, dass und weshalb die vollendete politische Emanzipation nicht die vollendete menschliche Emanzipation sein kann. Die von mir hier vorgeschlagene Charakterisierung der drei Strategien ist so aufgebaut: Grün und Bauer unterscheiden sich hinsichtlich einer pragmatischen und einer auf dem Prinzip des Selbstbewusstseins basierenden Autonomiekonzeption, Marx grenzt sich von Bauer und Grün, auf den er allerdings nicht explizit eingeht, durch die implizite Bezugnahme auf eine Gesellschaftskonzeption ab, in der die Wesensverwirklichung des Menschen keiner politischen Institutionen bedarf. Außerdem unterscheidet er sich von Bauer durch die Ablösung des Selbstbewusstseins als Fundamentalprinzip zugunsten einer essentialistischen anthropologischen Basis, die Marx von Ludwig Feuerbach übernimmt (seine partielle Ablösung von Ludwig Feuerbach vollzieht sich dann in der zweiten Phase der Debatte, maßgeblich initiiert durch Max Stirners in Der Einzige und sein Eigenthum vehement vorgetragener Kritik an Feuerbachs Anthropologie und an essentialistischen Annahmen im Allgemeinen).13 Bauer und Grün halten, um auf die inhaltlichen Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu sprechen zu kommen, am Projekt der politischen Emanzipation fest, wobei Grün die interne Spannung zwischen dem Selbstverständnis als Bürger eines demokratischen und weltanschaulich neutralen Staates einerseits und als religiöses Subjekt andererseits für mit Autonomie und Nichtentfremdung verträglich hält. Bauer dagegen begreift diesen internen Dualismus als Ausdruck von Entfremdung und sieht im Wesen religiöser Überzeugungen eine Unvereinbarkeit mit der Autonomie als dem normativen Grundprinzip des demokratischen Staates angelegt, weil religiöse Einstellungen sich dem Subjekt als gegeben präsentieren und einen partikulären, der allgemeinen Vernunft nicht zugänglichen Inhalt haben. Karl Marx dagegen sieht in dem Bestehen von Religion und Staat Entfremdungsphänomene, die in der Struktur der bürgerlichen Gesellschaft ihre Wurzel haben. Die Dualitäten von religiösem und weltlichem Subjekt sowie von 13
Vgl. dazu M. Quante, „After Hegel. The Realization of Philosophy through Action“. In: D. Moyar (Ed.), Routledge Companion to 19th Century Philosophy. London 2010. 197-237.
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politischem und bürgerlichem Subjekt sind strukturgleich und mit Nichtentfremdung prinzipiell unvereinbar. Die menschliche Emanzipation muss daher, nachdem die politische Emanzipation die religiöse Emanzipation abgelöst hat, beide noch einmal überbieten, indem sie den Nachweis führt, dass die Existenz von Privateigentum, über Geld vermittelten Warentausch, Privatrecht, Staat und Moral mit einer nicht entfremdeten Existenz des Menschen unvereinbar sind. Die Unterschiede und Gemeinsamkeiten dieser drei Positionen lassen sich tabellarisch so darstellen: … ist kompatibel mit … Demokratischer Staat … Religion Demokratischer Staat … Autonomie Demokratischer Staat … Nichtentfremdung Religion … Nichtentfremdung Politische Emanzipation … menschliche Emanzipation
Bruno Bauer
Karl Grün
Karl Marx
Nein
Ja
Ja
Ja
Ja
?
Ja
Ja
Nein
Nein
Ja
Nein
Ja
Ja
Nein
Die Antwort auf die Frage nach der Vereinbarkeit von Autonomie und demokratischem Staat hängt von der zugrunde gelegten Autonomiekonzeption ab. Autonomie im Sinne Bauers oder des Freiheitsbegriffs der Menschenrechte sind nach Marx mit der Existenz des demokratischen Staates verträglich; deshalb stellen beide Konzeptionen Formen der Entfremdung bzw. einen ideologischer Ausdruck derselben dar. Daraus ergibt sich zwingend, dass Marx entweder über eine alternative Konzeption von Freiheit und Autonomie verfügen muss, die mit der Existenz von Recht und Staat unverträglich ist. Oder er muss eine Konzeption der nicht entfremdeten Existenz des Menschen zugrunde legen, in der Autonomie und Freiheit keine Rolle spielen. Ob Marx über einen derartigen Begriff von Autonomie verfügt, der mit seinem Konzept menschlicher Emanzipation zusammenpasst, oder ob sein Konzept des menschlichen Gattungswesens Autonomie als Entfremdungsphänomen ausschließt, muss an dieser Stelle aber offen bleiben.14 14
Vgl. dazu A. Böhm, Kritik der Autonomie. Freiheits- und Moralbegriffe im Frühwerk von Karl Marx. Bodenheim 1998, R. G. Peffer, Maxism, Morality, and Social Justice. Princeton 1990. Kap. 3 oder A. Wood, Karl Marx. London 1981 (Part I).
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V. Anschlussfragen Damit steht das Ergebnis unseres Durchgangs durch die erste Runde der Debatte um die Emanzipation der Juden, die 1843/1844 zwischen Bruno Bauer, Karl Grün und Karl Marx geführt worden ist, in den Grundzügen fest. Dieses Ergebnis ist in mindestens zwei Hinsichten beschränkt: Erstens hat es, wie einleitend bereits ausgeführt, in den Jahren 1845 bis 1846 eine zweite Runde dieser Debatte gegeben. Zweitens haben sich, wie die Ausführungen von Karl Marx in der 1845 erschienenen, gemeinsam mit Friedrich Engels verfassten Schrift Die heilige Familie zeigen, auch in der ersten Phase bereits weitere Personen in dem Sinne an der Debatte beteiligt, dass sie kritisch zu Bruno Bauer Stellung genommen haben. Die hier gewählte Darstellung ist somit eine Vereinfachung der Debatte, die sich jedoch dadurch legitimiert, dass auf der Ebene der systematischen Optionen durch die anderen Diskussionsteilnehmer keine weiteren Gesichtspunkte ins Spiel gebracht werden. Die zweite Runde der Auseinandersetzung in den Jahren 1845 und 1846 ist aus zwei Gründen komplexer als die hier dargestellte erste Runde (und bedarf deshalb einer eigenen Behandlung): Zum einen kommen mit dem Streit zwischen Bruno Bauer und Ludwig Feuerbach sowie den ebenfalls in die Debatte eingreifenden Moses Heß und Max Stirner weitere Personen und Fragestellungen ins Spiel.15 Zum anderen werden weitere systematische Problemstellungen in die Diskussion eingebracht, die das Koordinatensystem der zugrunde gelegten Kategorien und damit auch die Frage- und Frontstellung verschieben.16 Abschließend möchte ich zwei historisch-systematische und zwei systematische Anschlussfragen identifizieren, welche die systematische Aktualität dieser ersten Runde in der Debatte um die Emanzipation der Juden aufzeigen. Die erste der beiden historisch-systematischen Anschlussfragen betrifft die Reichweite der Marxschen Rechts- und Staatskritik. Bekanntlich hat Karl Marx ab der 1845/46 gemeinsam mit Friedrich Engels verfassten Deutschen Ideologie unter dem Programm der Ideologiekritik eine fundamentale Kritik an Moral, Recht und Staat geübt, die ihm allesamt lediglich als Ausdruck menschlicher Entfremdung gelten. Mit Bezug auf den Marxschen Immoralismus lassen sich plausible Argumente für die These entwickeln, dass Marx – hier in engem Anschluss an Hegel – nur einen bestimmten Typ philosophischer Ethik, nämlich eine aprioristisch verfasste deontologische Ethik des Kantisch-Fichteschen Typs ablehnen wollte. Dieser Befund wäre mit einer anthropologisch fundierten Ethik des guten17 Lebens, etwa nach einem Aristotelischen Grundmuster, 15
16
17
Vgl. hierzu W. Breckman, Marx, the young hegelians, and the origins of radical social theory. Cambridge 1999 und F. von Magnis, Normative Voraussetzungen im Denken des jungen Marx. Freiburg 1975. Vgl. dazu M. Quante, „After Hegel. The Realization of Philosophy through Action”. In: D. Moyar (Ed.), Routledge Companion to 19th Century Philosophy. London 2010. 197-237. Vgl. dazu die Beiträge in Angehrn/Lohmann (Hrsg.), Ethik und Marx. Königstein/Ts. 1986.
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kompatibel, die in vielerlei Hinsicht zur Konzeption des Gattungswesens passt, die Marx 1844 in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten entwickelt und meines Erachtens auch nie aufgegeben hat.18 Mit Bezug auf die Ablehnung der Institutionen des Rechts und des Staates scheint mir eine solche Entschärfung der Marxschen Ideologiekritik durch Spezifizierung dagegen nicht möglich zu sein. Dies liegt daran, dass die Marxsche Entfremdungstheorie durch die Engführung von Religions- und Staatskritik und durch deren Fundierung in seiner Kritik der bürgerlichen Ökonomie eine Emphase unvermittelter menschlicher Interaktion verbindlich zu machen scheint, die mit der Existenz von politischen Vermittlungsinstitutionen und privatrechtlichen Verhältnissen nicht verträglich ist. Bekanntlich hat die gesellschaftliche Entwicklung der letzten zwei Jahrhunderte gezeigt, dass Gesellschaftsentwürfe, die auf den Rechtsstaat verzichten, erhebliche utopische Potentiale und erhebliche normative Defizite aufweisen. Zu untersuchen wäre also, ob sich mittels einer genaueren Klärung des Zusammenspiels von Religions- und Staatskritik bei Karl Marx begrifflicher Spielraum für eine Entschärfung seiner Rechts- und Staatskritik entdecken lässt. Die zweite historisch-systematische Anschlussfrage betrifft die Konzeptionen von Autonomie, die in der Religions- und Staatskritik der Linkshegelianer jeweils vorausgesetzt werden. Es dürfte durch den Vergleich der drei Konzeptionen von Bruno Bauer, Karl Grün und Karl Marx ersichtlich geworden sein, dass ihnen offensichtlich voneinander abweichende Konzeptionen von Autonomie zugrunde liegen. Dies wird an den unterschiedlichen Einschätzungen der Verträglichkeit von Religiosität und Autonomie sowie an den unterschiedlichen Antworten auf die Frage, ob personale Autonomie die Existenz des Rechtsstaates impliziert, sichtbar. Eine genauere Klärung der im Linkshegelianismus im Anschluss an Hegel, aber auch Fichte, entwickelten Autonomiekonzeptionen kann möglicherweise Begründungsressourcen freilegen, die auch in der gegenwärtigen philosophischen Debatte (etwa im Streit zwischen Liberalismus und Kommunitarismus) relevant werden können. Komplementär zu den beiden historisch-systematischen Fragen, ergeben sich auch zwei systematische Fragestellungen. Die erste lautet, welche Schlüsse sich aus der linkshegelianischen Debatte für die Frage nach dem Wert bzw. den Grenzen der Neutralität in der Politischen Philosophie der Gegenwart ergeben. Kann bzw. muss ein moderner Staat weltanschaulich neutral sein? Folgt daraus, dass Religion Privatsache ist und im öffentlichen Raum keine Rolle spielen darf? Welche Konsequenzen ergeben sich daraus für die Zulässigkeit religiöser Argumente in politischen Debatten? Ist die Neutralitätsforderung der Politischen Philosophie eine sinnvolle Norm? Und ist sie selbst – z.B. gegenüber Bürgern mit religiösen Überzeugungen – überhaupt neutral? Es ist bekannt, dass diese Fragen auch heute noch – vielleicht auch: heute vermehrt 18
Vgl. hierzu ausführlich M. Quante, „Kommentar“. In: Marx, Ökonomisch-Philosophische Manuskripte. Studienausgabe mit Kommentar. Frankfurt a. M. 2009, 209-410.
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wieder – auf der Tagesordnung der Politischen Philosophie stehen. Mir scheint, dass eine Besinnung auf die Debatten der Linkshegelianer von systematischer Relevanz ist; und zwar im doppelten Sinne: Zum einen haben sie, bei aller historischen Distanz, vor strukturell ähnlichen Problemen gestanden. Zum anderen aber partizipieren sie, wie viele der am heutigen Diskurs beteiligten Philosophen auch, an dem philosophischen Erbe, das Kant, Fichte und Hegel uns hinterlassen haben. Eine Aufklärung dieser Traditionslinie könnte damit also auch zur Selbstaufklärung der eigenen Kategorien und Konzeptionen beitragen.19 Die zweite Frage, aufgrund derer die linkshegelianische Religionskritik systematisch aktuell ist, betrifft das Verhältnis von Religiosität und personaler Autonomie. Muss man z.B. mit Bruno Bauer von einer prinzipiellen Unvereinbarkeit zwischen personaler Autonomie und dem Haben religiöser Überzeugungen ausgehen?20 Oder reicht es, vielleicht in der Linie von Kant und Fichte, die Religion in die Schranken einer aufgeklärten Autonomiemoral zu weisen und aus dem politischen Raum in die Privatsphäre zu verbannen? Angesichts der weiten Verbreitung religiöser Überzeugungen auf der einen und des überragenden Stellenwerts der Autonomie als normativem Leitprinzip auf der anderen Seite braucht es wohl keiner weiteren Begründung dafür, die Frage nach der Emanzipation des religiösen, des politischen und des autonomen Subjekts nach wie vor für eine zentrale Frage der Gegenwart zu halten.21
19 20
21
Vgl. dazu J. Habermas, Zwischen Naturalismus und Religion. Frankfurt a. M. 2005, Kap. 8. Vgl. dazu M. Quante, „Existentielle Verpflichtung und Toleranz. Anfragen an den religiösen Philosophen Hilary Putnam“. In: Raters/Willaschek (Hrsg.): Hilary Putnam und die Tradition des Pragmatismus. Frankfurt a. M. 2002, 344-362. und ders., „William James’ Rechtfertigung religiöser Überzeugungen“. In: Bickmann et al. (Hrsg.): Religion und Philosophie im Widerstreit? Nordhausen 2008, 383-395. Ich danke Amir Mohseni und Nadine Mooren für zahlreiche Verbesserungsvorschläge und kritische Hinweise.
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LEONARDO AMOROSO
„Die Philosophie des Geistes ist eine ästhetische Philosophie“ Der Text, dem der Titel dieses Aufsatzes entnommen ist, das so genannte „älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus“,1 stellt in mancherlei Hinsicht ein Rätsel dar, und zwar zunächst vom Gesichtspunkt der Attribution der Autorenschaft. Die Geschichte ist wohl bekannt. Franz Rosenzweig, der 1907 dieses sehr kurze, aber überaus dichte Fragment herausgab, datierte es auf das Jahr 1796 und schrieb es – wie nach ihm viele andere – Schelling zu: Hegel habe den Text nur abgeschrieben.2 Andere Forscher argumentierten auf z.T. ähnliche Weise: Hegel sei lediglich der Kopist, der Verfasser hingegen Hölderlin gewesen.3 Erstaunlicherweise wurde für die Annahme der Autorenschaft Hegels erst viele Jahrzehnte nach der ersten Veröffentlichung plädiert: das tat etwa Otto Pöggeler.4 Auf diese Attributionsfrage5 werde ich hier nicht eingehen, die übrigens nur durch neue philologische Entdeckungen endgültig geklärt werden könnte. Aber gerade die Tatsache, dass der Text mal diesem, mal jenem der drei Stift-Kameraden zugeschrieben worden ist, zeigt, dass er beinahe das Resultat 1
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Der Text wird hier (mit der Abkürzung ÄSP) nach der Edition Jamme/Schneider (Hrsg.), Mythologie der Vernunft. Hegels »ältestes Systemprogramm des deutschen Idealismus«. Frankfurt a.M. 1984, 11-14 (aber ohne die Klammern, die dort die Auflösung der Abkürzungen anzeigen) zitiert. Die Nummern verweisen jeweils auf die Zeilen des recto (= r.) oder des verso (= v.). Vgl. F. Rosenzweig, „Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus. Ein handschriftlicher Fund“. In: Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Klasse. 5/1917 (später in: Jamme/Schneider (Hrsg.), Mythologie der Vernunft. Hegels »ältestes Systemprogramm des deutschen Idealismus«. Frankfurt a.M. 1984, 79-125). Der erste, der diese Attribution vorschlug, war W. Böhm, „Hölderlin als Verfasser des »Ältesten Systemprogramms des deutschen Idealismus«“. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. 4(1926). Ihm erwiderte, unter Einbeziehung auch stilistischer Erwägungen, L. Strauß, „Hölderlins Anteil an Schellings frühem Systemprogramm“. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. 5(1927). Vgl. O. Pöggeler, „Hegel, der Verfasser des ältesten Systemprogramms des deutschen Idealismus“. In: Hegel-Tage Urbino 1965. Hegel-Studien, 4(1969) (auch in Jamme/Schneider (Hrsg.), a.a.O. auffindbar). Auch nach Pöggelers Stellungnahme schrieben jedoch einige Forscher das Fragment Schelling (vgl. z.B. Xavier Tilliette, „Schelling als Verfasser des Systemprogramms“. In: Bubner (Hrsg.): Hegel-Tage Villigst 1969. Das Älteste Systemprogramm. Studien zur Frühgeschichte des deutschen Idealismus. Hegel-Studien, Beiheft 9, Bonn 1973) oder Hölderlin oder auch einem vierten Verfasser zu. Vgl. F.-P. Hansen, Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus. Rezeptionsgeschichte und Interpretation. Berlin, New York 1989.
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ihres „Symphilosophierens“ ist, wie es übrigens auch Hegels Briefwechsel bestätigt. Von einem noch allgemeineren Standpunkt aus stellt er einen ausgezeichneten Aussichtspunkt dar, von dem aus sich das Panorama der nachkantischen, frühidealistischen und frühromantischen Philosophie in den letzten Jahren des 18. Jhs. überblicken lässt.6 Aber auch und gerade von einem inhaltlichen Gesichtspunkt her ist dieser Text rätselhaft. Gleich zu Beginn des Fragments wird der Vorrang des Ethischen,7 bald darauf aber der des Ästhetischen behauptet. Nicht nur dies: auch die Art und Weise, wie das Letztere geschieht, ist rätselhaft, insofern als behauptet wird, „daß der höchste Akt der Vernunft […] ein ästhetischer Akt ist“.8 Diese weitere Rätselhaftigkeit ist vielleicht weniger evident, tatsächlich aber stärker: so stark nämlich, dass sie fast einen Widerspruch darstellt. Man wird sich dessen sofort bewusst, wenn man nur bedenkt, dass „ästhetisch“ (aus dem gr. aisthetikòs) etymologisch „sinnlich“ bedeutet. Eben genau deswegen gab Baumgarten der von ihm begründeten Wissenschaft der Sinnlichkeit den (auch neuen) Namen „Ästhetik“.9 Aber da Baumgarten diese neugeborene Wissenschaft ja gegen ihre „ältere Schwester“,10 d.h. gegen die Logik, die Wissenschaft der Vernunft, ausdrücklich absetzte, wäre für ihn die Rede eines ästhetischen Aktes als höchster Akt der Vernunft bloßer Unsinn – obwohl diese These genau betrachtet auch als die extreme Entwicklung des ambivalenten Verhältnisses zwischen jenen philosophischen Schwestern auslegbar ist. Der Vorrang des Ästhetischen wird aber nur dann völlig verständlich, wenn man berücksichtigt, dass die Sinnlichkeit als Gegenstand der Ästhetik sozusagen ihre Spitze in der Erfahrung des Schönen und der Kunst hat. Das gilt schon bei Baumgarten, der in der Schönheit, in Anlehnung an die (und durch die Entwicklung der) Leibniz-Wolffschen Klassifikation der Vorstellungen11 die Perfektion der sinnlichen Erkenntnis12 sieht. Noch mehr gilt das aber für seine Nachfolger – mit der großen Ausnahme von Kant in der ersten Kritik. Ein Teil dieses Werkes trägt ja den Titel Transzendentale Ästhetik, aber das 6
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Vgl. vom Verf., Introduzione und Commento zu Hegel (?), Schelling (?), Hölderlin (?), Il più antico programma di sistema dell’idealismo tedesco. Pisa 2007 und „Primat der ästhetischen Vernunft?“. In: Bacin/et al (Hrsg.), Akten des 11. Internationalen Kant-Kongresses. Berlin, New York 2013. In dem eben zitierten Commento wird u.a. (auch in Anlehnung an D. Henrich, „Systemprogramm? Vorfragen zum Zurechnungsproblem“. In: Bubner (Hrsg.), HegelTage Villigst 1969. Das Älteste Systemprogramm. Studien zur Frühgeschichte des deutschen Idealismus. Hegel-Studien, Beiheft 9, Bonn 1973, und mit stilistischen Bemerkungen) auch die Frage der Natur des Textes diskutiert, der am Anfang wie ein individuelles Arbeitsprogramm, dann wie ein politisches Manifest und am Ende fast wie eine Prophetie klingt. Vgl. ÄSP v. 1. ÄSP v. 34-35. Vgl. A. G. Baumgarten, Meditationes de nonnullis ad poema pertinentibus. Hrsg. v. H. Paetzold. Hamburg 1983, §§ 115-16 und Idem: Aesthetica. Hrsg. v. D. Mirbach. Hamburg 2009, § 1. Baumgarten, a.a.O., § 13. Das eigentliche Feld der Ästhetik ist das der klaren, aber verworrenen (nicht deutlichen) Vorstellungen: ein Gedicht ist „schön“, indem es reich an solchen Vorstellungen ist. Baumgaren, a.a.O., § 14.
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Beiwort weist auf eine Art und Weise hin, die Sinnlichkeit zu thematisieren, die sich gänzlich von der Baumgartens unterscheidet.13 Daraus folgt dann auch, dass diese Ästhetik Kants nichts mit der Schönheit, der Kunst und des Geschmacks zu tun hat.14 Im ältesten Systemprogramm ist von der ersten Kritik Kants nicht die Rede, wohl aber (explizit) von der zweiten und (implizit) von der dritten. Das führt uns zurück zu der eingangs erwähnten inhaltlichen Rätselhaftigkeit: Vorrang des Ästhetischen oder des Ethischen? Die These, nach der „die ganze Metaphysik in der Moral fällt“, wird ausdrücklich als eine Radikalisierung der Ethik Kants vorgestellt, bzw. seiner Postulatenlehre, die aufs Engste mit seiner These des Primats der praktischen Vernunft verbunden ist. Diese Radikalisierung folgt Fichtes Wissenschaftslehre, die zugleich aber auf eine spinozistische Weise erörtert wird:15 nicht Gottes creatio ex nihilo, sondern das Hervortreten der Welt mit dem (und durch das) Ich ist die „wahre Schöpfung aus Nichts“.16 Die Radikalisierung von Kants These des Primats der praktischen Vernunft ist also auch eine Immanentisierung der Postulatenlehre im Namen der „absolute[n] Freiheit aller Geister“, die „weder Gott noch Unsterblichkeit ausser sich“17 zu suchen brauchen. Für unser Thema ist es nicht nötig, auf die damit verbundene zweifache Polemik, gegen das „Priestertum“18 einerseits und gegen den Staat als „Maschine“ andererseits,19 einzugehen. Wichtiger scheint dagegen, wie das Fragment von dem (so verstandenen) Vorrang des Ethischen zum Vorrang des Ästhetischen gelangt. Zunächst lohnt es sich freilich zu erwähnen, dass sich erste Anzeichen in diese Richtung sogar bei Kant selbst finden – und zwar trotz der These des Primats der praktischen Vernunft –, indem nämlich die Vermittlungsfunktion, die in der dritten Kritik thematisiert wird, auch im Sinne eines einzigartigen Primats ausgelegt werden darf. Nach der Tafel, mit der Kant die Einleitung dieses Werkes20 abschließt, (und die zugleich einen knappen Überblick über das ganze kritische System bietet), gilt die Kunst als Mittelglied zwischen der Natur und der Freiheit.21 Es 13
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D.h. von einer Gnoseologie, wo die (von Leibniz und Wolff stammende) „psychologische“ Klassifikation der Vorstellungen die Sinnlichkeit mit der Schönheit verband. Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft. Riga 1781, § 1, Anm., wo die These, Gegenstand der Ästhetik sei die Sinnlichkeit, paradoxerweise gegen Baumgarten verteidigt wird. ÄSP r. 1-5. Vgl. Briefe von und an Hegel. Hrsg. v. J. Hoffmeister. Hamburg 1952, 13-23 (= nn. 7-10; Januar-Februar 1795). Eine Art Spinozismus kennzeichnet beide Teile der Philosophie des jungen Schelling, d.h. sowohl seine Entwicklung der Philosophie Fichtes in der eigenen Ich-Philosophie, als auch die Naturphilosophie – mit der die nächsten Zeilen des ÄSP (r. 815) in Verbindung gebracht werden können. ÄSP r. 6-8. Vgl. Jacobi, Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn. In: Ders., Werke. Bd 1.1. Hrsg. v. K. Hammacher und I.-M. Piske. Hamburg 1998, 18. ÄSP r. 29-30. ÄSP r. 28. ÄSP r. 18. Vgl. Kant, Kritik der Urteilskraft. In: Werke. Akademie-Textausgabe. Bd V, 198. Nach dieser Tafel ist die Kunst der Erfahrungsgegenstand des Gefühls der Lust und der Unlust, der durch die Urteilskraft dank ihres Prinzips a priori, der Zweckmäßigkeit, geleitet wird,
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ließe sich zwar über die Bedeutung des Wortes „Kunst“ in diesem Kontext diskutieren, denn dieses kann auch in einem weiten Sinne als Synonym von „Technik“, die „Technik der Natur“ inbegriffen, verstanden werden. Diese Deutung liegt auch nahe, da es die Urteilskraft überhaupt (und nicht nur die ästhetische Urteilskraft) ist, die in dieser Tafel erwähnt wird. Kant selbst hebt aber hervor, dass der ästhetische Teil „das wichtigste Stück“ der dritten Kritik ist.22 Auch jene Vermittlungsfunktion wird von der Urteilskraft vorwiegend als ästhetische Urteilskraft ausgeübt, sei es in der Kontemplation der schönen Natur als auch in der künstlerischen Versinnlichung der Ideen der Vernunft.23 Der nächste Schritt, den z.T. schon Kant macht, und der dann typisch für die nachkantische Dialektik sein wird, besteht darin, dem vermittelnden Element als möglicher Synthese ein Primat zuzuschreiben. Das Zweite wird zum Dritten, indem es einerseits den beiden anderen entgegensteht und andererseits sie in sich einbezieht. In diesem Sinne können ja – auch in Anlehnung an eine Anmerkung von Kant selbst24 – die Triaden der oben erwähnten Tafel erläutert werden.25 Eine zum Teil ähnliche Triade stellt die Dreiteilung der Arten des Wohlgefallens – am Angenehmen, am Schönen und am Guten – dar, die Kant auch in einer komplexen (nicht einfach eineindeutigen) Entsprechung von Wesen verkoppelt. Da an dem ersten auch andere sinnliche Wesen (Tiere), an dem dritten auch andere vernünftige Wesen (Geister), an dem zweiten aber nur und einzig wir Menschen Wohlgefallen haben, könnte man dem letzteren ein anthropologisches Primat zuschreiben, indem es die ganze, d.h. die sinnliche und zugleich vernünftige Natur des Menschen mit einschließt. Indem wir diese Textstelle Kants in dieser Weise interpretieren, sind wir schon mitten in der Gedankenwelt von Schiller, die insbesondere in Bezug auf die Ästhetik einen unübersehbaren Markstein auf dem Weg darstellt, der von Kant zum „ältesten Systemprogramm“ führt. Schiller unterscheidet zwei Grundtriebe im Menschen, den Stoff- und den Formtrieb,26 die scheinbar entgegengesetzt, tatsächlich aber komplementär sind.27 Nur und einzig wenn diese beiden Grundtriebe zugleich tätig sind und auf solche Weise – eben durch ihre Wechselwirkung – einen dritten Trieb, den ästhetischen oder Spieltrieb, erzeugen, kann also der Mensch „eine vollständige Anschauung seiner Menschheit“
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so wie die Natur der Erfahrungsgegenstand des Erkenntnisvermögens ist, das durch den Verstand dank seines Prinzips a priori, die Gesetzmäßigkeit, geleitet wird, und wie die Freiheit der Erfahrungsgegenstand des Begehrungsvermögens ist, das durch die Vernunft dank ihres Prinzips a priori, des Endzwecks, geleitet wird. Vgl. Kant, a.a.O (Vorrede), 169. Vgl. Kant, a.a.O., § 42 bzw. § 49. Vgl. Kant, a.a.O., 197. Besonders klar ist – sogar auf einer sprachlichen Ebene – der Fall der Zweckmäßigkeit in ihrem Verhältnis zur Gesetzmäßigkeit und zum Endzweck. Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. In: Werke und Briefe. Bd 8: Theoretische Schriften. Hrsg. v. R.-P. Janz. Frankfurt a.M. 1992. 596 ff. (12. Brief). Schiller, a.a.O., 600 (13. Brief).
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haben.28 Die Schönheit hat deshalb ein transzendental-anthropologisches Primat: „Soll eine Menschheit existieren“, dann „soll eine Schönheit sein“.29 Und die „ästhetische Stimmung des Gemüts“ kann dementsprechend als ein „Zustand der höchsten Realität“ angesehen werden, weil sie – zumindest „dem Vermögen nach“ – „das Ganze der Menschheit in sich begreift“.30 Zunehmend wird in der Folgezeit, d.h. in der Ästhetik des Idealismus und der Romantik, Kants Lehre des Schönen auf Engste mit der von Platon verkoppelt. Kant selbst hatte zwar eine sehr oberflächliche Kenntnis von Platon, dennoch bestehen bedeutende Ähnlichkeiten zwischen der Rolle, die die beiden Philosophen dem Schönen zuerkennen.31 Obwohl die „Sonne“ des platonischen Reichs der Ideen das Gute ist,32 hat das Schöne ja auch bei ihm eine Art Primat in Hinsicht auf seine Vermittlungsfunktion, denn die Idee des Schönen ist die einzige, deren Glanz herunter bis in die sinnliche Welt scheint und deswegen von Augen gesehen werden kann.33 Die hinreißende Attraktion, die in dem Liebenden entsteht, der die Schönheit des Geliebten sieht – der Eros –, hat deshalb die Kraft, ihn zurück und hinauf zum Reich der Ideen zu ziehen.34 Platon ist – außer Kant – auch der einzige Denker, der im „ältesten Systemprogramm“ ausdrücklich erwähnt wird. Dies geschieht eben in Bezug auf die „Idee der Schönheit“, der hier eine nicht nur vermittelnde, sondern auch vereinigende Funktion (im Einklang mit der schon erwähnten Tendenz) zugesprochen wird: „Wahrheit und Güte“ sind „nur in der Schönheit verschwistert“.35 Diese Auffassung ist der von Hölderlin zur Zeit des Hyperion sehr ähnlich, als dieser einen „ästhetischen Platonismus“ vertritt, der über Kant, ja auch über Schiller hinausführen sollte.36 In einer Vorarbeit zum Roman behauptet Hölderlin beispielsweise, die eigentlich ins Unendliche gehende „Wiedervereinigung“ mit dem hen kai pan sei in der Erfahrung der Schönheit in einer „Ahndung“ schon „vorhanden“, wie der „heilige Plato“ es lehre.37 Dementsprechend gilt die Schönheit in der endgültigen Fassung des Romans als „Name[n] des, das Eins und Alles“38 ist. Außer der Wendung hen kai pan wird hier eine wei28 29 30 31
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Schiller, a.a.O., 607 (14. Brief). Schiller, a.a.O., 610 (15. Brief). Schiller, a.a.O., 638 (22. Brief). Vgl. A. L. Siani, Kant e Platone. Dal mondo delle idee all’idea nel mondo. ETS Edizioni 2007, bes. Kap. 5. Vgl. Plato, Politeia 508a-509b. Vgl. Plato, Phaidros 250c-e. Vgl. Plato, a.a.O., 249d-e. Vgl. Plato, Symposion 210a-212a. Bei Kant ist freilich das Schöne nicht mit dem Eros, bei Platon nicht mit der Kunst verbunden. ÄSP r. 32-36. Vgl. K. Düsing, „Ästhetischer Platonismus bei Hölderlin und Hegel“. In: Baumgartner/u.a. (Hrsg.), Deutscher Idealismus. Philosophie und Wirkungsgeschichte in Quellen und Studien. Bd 4, Stuttgart 1981. Hölderlin, Sämtliche Werke und Briefe. Hrsg. v. M. Knaupp. München 1992-93. Bd 1, 558. Hölderlin, a.a.O., 657. Die Wendung en kai pan ist freilich nicht platonisch, sondern spinozistisch: vgl. Jacobi, Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn. In: Werke. Bd 1.1. Hrsg. v. K. Hammacher und I.-M. Piske. Hamburg 1998, 16-17.
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tere griechische Wendung im Zusammenhang mit der Schönheit aufgegriffen: „Das hen diaphèron heautò (das Eine in sich selber Unterschiedne) [...] ist das Wesen der Schönheit“. Dieses „grosse Wort“39 stammt von Heraklit, Hölderlins Quelle ist aber nochmals Platon.40 Einen entscheidenden Einfluss Hölderlins auf den ästhetischen Teil des Systemprogramms wird im allgemeinen auch von den Vertretern der These, Hegel sei der eigentliche Verfasser des Fragments, zugegeben. Dieser Einfluss lässt sich auch über das Gedicht Eleusis nachweisen, das Hegel eben seinem Freund widmete und das voller Motive ist, die zweifellos nach diesem klingen, wie z.B. das Preisen der begeisterten Phantasie: nur sie – und nicht das kalte Denken – sei das Organ für das Ewige und das Unendliche.41 Diese Auffassung wird im Systemprogramm zum Ideal einer neuen Philosophie: „Der Philosoph muß ebenso viel ästhetische Kraft besitzen, als der Dichter“. Sonst gehört er zu den „Buchstabenphilosophen“, wobei „die Philosophie des Geistes eine ästhetische Philosophie [ist]“.42 Der eben zitierte Satz bildet eine Quelle für den idealistischen Begriff vom Geist, d.h. die säkularisierte Wiederaufnahme der religiösen (paulinischen) Opposition mit dem Buchstaben (des Gesetzes). Eine andere und für unser Thema wichtigere Quelle ist die „ästhetische Bedeutung“, die Kant dem Wort „Geist“ zusprach.43 Freilich ist aber die absolute Hochpreisung des „ästhetischen Sinnes“44 (so wie das damit verbundene Primat des Ästhetischen) weit entfernt sowohl vom „Buchstaben“ als auch vom „Geist“ der Philosophie Kants. Der Weg zu diesem Primat des Ästhetischen wurde, wie eben erinnert, vor allem durch die Schillers Idee einer „ästhetischen Erziehung des Menschen“ geebnet: auch in Bezug auf diese Idee kann nun die Behauptung des Systemprogramms erläutert werden, nach der „die Poesie“ eine „höhere Würde“ bekommen und wieder zur „Lehrerin der Menschheit“ werden wird.45 Das Zusammentreffen der Vernunft mit dem Ästhetischem wird dann sogleich auf die ausgezeichnete Ebene der Religion46 angewandt, wie es z.T. auch beim jungen Hegel der Fall ist, der schon festgestellt hatte, dass eine 39 40 41
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Hölderlin, Sämtliche Werke und Briefe. Hrsg. v. M. Knaupp. München 1992-93, 685. Platon, Symposion 187a. „Der Sinn verliert sich in dem Anschaun, / Was mein ich nannte schwindet, / Ich gebe mich dem Unermeßlichen dahin, / Ich bin in ihm, bin alles, bin nur es. / Dem wiederkehrenden Gedanken fremdet, / Ihm graut vor dem Unendlichen, und staunend fast / Er dieses Anschauns Tiefe nicht. / Dem Sinne nähret Phantasie das Ewige / Vermählt es mit Gestalt“ (Hegel, Eleusis, vv. 35-43). ÄSP r. 36-v. 2. Kant, Kritik der Urteilskraft, § 49. ÄSP v. 1-7. ÄSP v. 8-9. In Hinsicht auf die Religion (und auf die Politik) enthält der erste Teil des Textes sozusagen die pars destruens, das zweite die pars construens. Als mögliche Brücke gilt auch die Erwähnung der „so oft“ gehörten Behauptung, „der große Hauffen müße eine sinnliche Religion haben“ (v. 12), indem sie nun in die Behauptung der Notwendigkeit einer ästhetischen Philosophie verwandelt wird.
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„Volksreligion“ „Mythen“ brauche, „um der Phantasie [...] einen schönen Weg zu zeigen“,47 und der später zum Begriff einer „schöne[n] Religion“48 gelangt. Im Systemprogramm selbst wird die Forderung nach einer „ästhetischen Philosophie“ in zwei entgegen gesetzte Ansprüche („Monotheismus der Vernunft und des Herzens, Polytheismus der Einbildungskraft und der Kunst“)49 aufgeteilt, die dennoch komplementär sind und also wiederum auf eine einheitliche Formel zurückgeführt werden können: die einer „Mythologie der Vernunft“.50 Wenn schon Kant (wie oben erinnert) das Wagnis des Dichters würdigte, Vernunftideen zu versinnlichen, so geht das Systemprogramm – noch einmal – viel weiter. Die Versinnlichung bzw. Ästhetisierung wird zunächst im Sinne einer Mythologisierung aufgefasst, denn eine Synonimie wird hier nicht nur zwischen „sinnlich“ und „ästhetisch“ (wie die Etymologie des zweiten es wohl erlaubt), sondern auch und vor allem mit „mythologisch“51 hergestellt. Das kommt dem Wunsch des Verfassers entgegen, auch die Philosophie und die Philosophen sinnlich, bzw. ästhetisch zu „machen“, denn Mythen können sehr wohl einen philosophischen Sinn haben. Die Mythologie scheint also bereits hier als eine Art Bindeglied zwischen Philosophie und Poesie zu dienen, ja sogar als Mittelglied für die künftige Rückkehr der Philosophie in den Schoß einer (sehr wohl denkenden) Poesie52. Ausdrücklich wird ihr diese Rolle wenige Jahre später in dem Werk Schellings zugeschrieben, das die erfolgreichste Verwirklichung einer sich als „ästhetische Philosophie“ vollendenden „Philosophie des Geistes“ ist. Wenn eben die Kunst allein es vermag, die philosophische Anschauung zu objektivieren, dann – so schlussfolgert Schelling – ist auch zu erwarten, „dass die Philosophie, so wie sie in der Kindheit der Wissenschaft von der Poesie geboren und genährt worden ist“, und mit ihr alle anderen durch sie geleiteten Wissenschaften „nach ihrer Vollendung als ebensoviel einzelne Ströme in den allgemeinen Ozean der Poesie zurückfließen, von welchem sie ausgegangen waren“.53 Noch etwas Weiteres lässt sich nach Schelling erwarten: „Das Mittelglied der Rückkehr der Wissenschaft zur Poesie“ wird „die Mythologie“ sein, die schon damals, in der entgegensetzten Richtung (d.h. von der Poesie zur Philosophie) als Mittelglied wirkte.54 47
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Hegel, Frühe Schriften. In: Werke. Bd 1. Hrsg. v. E. Moldenhauer und K. M. Michel. Frankfurt 1986, 37. Hegel, a.a.O., 299. Vgl. A. Gethmann-Siefert, Einführung in Hegels Ästhetik. München 2005, Kap. 1. ÄSP v. 14-15. ÄSP v. 19. Vgl. ÄSP v. 20 und 24-25. Diese Rückkehr wird folgendermaßen angekündigt: „Es gibt keine Philosophie, keine Geschichte mehr, die Dichtkunst allein wird alle übrigen Wissenschaften und Künste überleben“ (ÄSP v. 10-11). Vgl. Schelling, System des transzendentalen Idealismus. In: Ausgewählte Schriften. Hrsg. v. M. Frank. Frankfurt a. M 1985. Bd 1, 697. Vgl. Schelling, a.a.O., 687-88.
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Dies wird auch – teilweise im selben Wortlaut – im gleichzeitig erschienenen Gespräch über die Poesie von Friedrich Schlegel55 angekündigt, genauer gesagt in der Rede über die Mythologie, die sich übrigens wohl den Auffassungen Schellings verdankt. Unserer Dichtung und unserer Kultur überhaupt fehlt – so heißt es am Anfang dieser Rede – ein „Mittelpunkt, wie es die Mythologie für die Alten war“. Aber eine „neue Mythologie“ ist schon am Horizont zu erahnen. Sie wird „auf dem ganz entgegen gesetzten Wege […] kommen, wie die alte ehemalige“: diese stammte aus der Nähe zur Natur, jene „muß im Gegenteil aus der tiefsten Tiefe des Geistes herausgebildet werden“.56 Dieser Gegensatz hinsichtlich der Entstehung wird auch eine entgegen gesetzte Richtung der Mythologie nach sich ziehen: „Die innersten Mysterien aller Künste und Wissenschaften [sind] ein Eigentum der Poesie. Von da ist alles ausgegangen, und dahin muß alles zurückfließen. In einem idealischen Zustande der Menschheit würde es nur Poesie geben; nämlich die Künste und Wissenschaften sind alsdann noch eins“.57 Diese These wird – wie oben erwähnt – auch schon im Systemprogramm ausgedrückt, das aber noch ein Stück weiter geht, indem es aus der erstrebten Konkretisierung der „ästhetischen Philosophie“, d.h. aus der angekündigten „Mythologie der Vernunft“, noch einen wichtigen anthropologisch-gesellschaftlichen Schluss zieht: „Dann erst erwartet uns gleiche Ausbildung aller Kräfte, des Einzelnen sowohl als aller Individuen“.58 Das klingt nach Schiller, nicht aber die Fortsetzung (die er wohl als schwärmerisch abgetan hätte): „Dann herrscht allgemeine Freiheit und Gleichheit der Geister! – Ein höherer Geist, vom Himmel gesandt, muss diese neue Religion unter uns stiften, sie wird das letzte, größte Werk der Menschheit sein“.59 Diese letzten Zeilen enthalten (wiederum!) Spannungen, wenn gar nicht Widersprüche, die in diesem Fall mit dem Ausgang der Französischen Revolution und mit dessen Nachklang in Deutschland geschichtlich erklärt werden können. Von einem begrifflichen Gesichtspunkt her ist das rätselhafte, sozusagen grelle Nebeneinander im Text zwischen den freien „Geistern“ und dem vom Himmel gesandten „Geist“ besonders interessant, denn es bezeugt nochmals die Vielfältigkeit der Bedeutungen des Wortes, der als Hauptwort des entstehenden Idealismus gelten kann. Die ästhetische Bedeutung von „Geist“, wie überhaupt das Thema der Schönheit taucht in diesem Schluss allerdings nicht auf. Zumindest das zweite ist jedoch zentral in dem Schluss eines anderen (mit dem Systemprogramm 55
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Gelegentlich wurde auch er als möglicher Verfasser des ÄSP genannt: vgl. M. Oesch, „‘Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus’: ein Fragment Friedrich Schlegels?“. In: Perspektiven der Philosophie. Neues Jahrbuch. 21(1995). Vgl. Schlegel, Gespräch über die Poesie. In: Kritische Ausgabe. Bd 2, Hrsg. v. H. Eichner, Paderborn 1962. 312. Schlegel, a.a.O., 324. Vgl. ÄSP v. 27-28. Vgl. ÄSP v. 29-32.
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zeitgenössischen) Werkes, der hier als Parallelstelle zitiert werden kann, denn auch dort wird ein „Bund der Geister“ prophezeit: „Du frägst nach Menschen, Natur? […] Sie werden kommen, deine Menschen, Natur! Ein verjüngtes Volk wird auch dich wieder verjüngen, und du wirst werden, wie seine Frau und der alte Bund der Geister wird sich erneuern mit dir. Es wird nur Eine Schönheit sein, und Menschheit und Natur wird sich vereinen in eine allumfassende Gottheit“.60
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So lautet bekanntlich der Schluss des ersten Bands von Hölderlins Hyperion (Hölderlin: Sämtliche Werke und Briefe. Hrsg. v. M. Knaupp. München 1992-93. Bd 1, 691-92). Ein bedeutender Unterschied zum Systemprogramm besteht freilich darin, dass das Subjekt bei Hölderlin die Natur ist.
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Die säkulare Rückkehr des Widerstandsrechts bei Fichte Wenn von der säkularen Rückkehr des Widerstandsrechtes die Rede ist, so ist damit zweierlei unterstellt: Erstens heißt das, daß vormals das Widerstandsrecht nicht säkular, sondern irgendwie transzendent – religiös oder theologisch – begründet war, und zweitens liegt in dem Ausdruck ‘Rückkehr’ – und nicht etwa Wende oder Umwandlung –, daß es zwischenzeitlich kein Widerstandsrecht gegeben habe, daß es außer Kurs geraten sei. Beide Unterstellungen sollen eingangs kurz erläutert werden. Wenn es heißt, es gebe ein Widerstandsrecht oder nicht, ist noch zu unterscheiden zwischen seinem rechtlichen, politischen und theoretischen Dasein. Es kann ein kodifiziertes Widerstandsrecht geben, ohne daß es politisch je in Anspruch genommen wird. Es kann ein solches Gesetz auch geben, obwohl theoretisch alles dagegen spricht. Es kann von politischen Aktivisten ein Widerstandsrecht reklamiert werden, obwohl es weder rechtlich noch theoretisch eingeräumt wird. Schließlich kann es auch theoretisch behauptet werden, ohne jeden Einfluß auf die Gesetzgebung oder die politische Praxis. Weitere Kombinationen sind vermutlich denkbar. In diesem Beitrag soll es ausschließlich um die theoretische Reflexion der rechtlichen Möglichkeit eines Widerstandsrechts gehen, das heißt um die Reflexion darauf, ob ein rechtsförmiger Anspruch auf politischen Widerstand, und das heißt tendentiell in gesetzlicher und durchsetzbarer Form, denkbar ist. ‘Widerstand’ selbst umfaßt dabei Aktivitäten aus der Bevölkerung, die gewaltsam auf die Unwirksamkeit von Herrschafts-, Regierungs- oder Verwaltungsakten, bis zur Absetzung oder Tötung der diese vertretenden Personen gerichtet sind. Gewalt ist hierbei vorausgesetzt, weil die Aussetzung politischer Macht nicht in Konformität mit dieser Macht selbst erfolgen kann, sondern gegen sie erzwungen werden muß. Tritt sie freiwillig, ohne Druck, ab oder wird sie durch ein Verwaltungsgerichtsverfahren in ihre Schranken gewiesen, ist dies nicht Resultat politischen Widerstands. Für die erste Behauptung, daß das Widerstandsrecht traditionell religiös begründet wurde, spricht folgender philosophiegeschichtlicher Befund, der hier nur in aller Kürze und überblicksweise darzustellen ist: Der Gedanke, daß positive Herrschaft in Unterdrückung umschlagen kann, ist sicher so alt, wie Herrschaft selbst. Dokumentiert ist das z.B. im 1. Buch Samuel des Alten Testaments, das sich auf die historische Ablösung der Richterregierung durch eine Königsherrschaft im 11. Jh. v.u.Z. bezieht. Ein Widerstandsrecht postuliert darüber hinaus aber grundsätzlich ein Recht über dem geltenden Recht, das dann wirksam wird, wenn das geltende Recht dem übergeordneten Recht widerspricht. Eine solche Reflexion fehlt jedoch im Alten Testament.
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Den Gedanken eines dikaion physei, von Natur her Rechten, im Gegensatz zum dikaion nomo, dem durch Konvention oder Anordnung Geltenden, behaupten zunächst einige Sophisten.1 Für sie folgt daraus aber kein Widerstandsrecht, sondern das Heroenrecht der Stärkeren gegenüber dem die Schwachen schützenden Gesetz. Aristoteles beschreibt zwar ausführlich die Phänomene der Tyrannis und ihrer Beseitigung, gleiches Interesse widmet er aber der Frage, wie eine Tyrannis sich erfolgreich erhält.2 Für ihn ist es keine rechtliche Frage, sondern eine politische Beobachtung. Zwar zählt er die Tyrannis zu den sogenannten ‘entarteten’ Regierungsformen, aber diese Entartung selbst wird zum einen als Bestandteil eines Kreislaufs von Regierungsformen gedacht, der in der Natur der Sache liegt, zum anderen können entartete Regierungsformen durchaus adäquat sein für solche Bevölkerungen, die aus hellenischer Sicht einer besseren Regierung gar nicht fähig sind. Entscheidend ist es aber, daß die theoretische Anlage der Aristotelischen Politik weniger präskriptiv als deskriptiv ist. Eine Ausnahme macht gewisser Weise Platon, der in den Nomoi eine Herrschaft der Gesetze konstruiert, der alles Handeln in der polis untergeordnet ist.3 Aus dem Verstoß gegen die Ordnung dieser Gesetze folgt dann ein unmittelbares Strafrecht. Aber schon hier werden diese Gesetze mit der kosmischen Ordnung der Göttin Themis, ausdrücklich nicht Dikä, in Verbindung gebracht, und sie sollen auch wie Religionsverstöße geahndet werden. Philosophisch ist aber selbstverständlich ebenso die – von Aristoteles abgelehnte – Ideenlehre eine Bedingung dafür, ein substantielles Recht über dem Recht anzunehmen, und die Widerstandsrechtslehre entwickelt sich nicht zufällig aus dem Neuplatonismus, wenngleich unter Berücksichtigung von Elementen der Aristotelischen Staatslehre. Auch bei Cicero, der für die Tradierung der griechischen politischen Philosophie auch in diesem Zusammenhang eine große Rolle spielt, kann von einem konsistent begründeten Widerstandsrecht nicht die Rede sein, er ist viel stärker politischer als philosophischer Autor, und das heißt, er argumentiert im tagespolitischen Zusammenhang. Entsprechend ändert sich seine Auffassung.4 Eine entschiedene Form nimmt sie eigentlich nur in juristi1
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Vgl. Kallikles, nach Platon, Gorgias. In: Platon, Werke. Darmstadt 1990, Bd 2, 483a ff.; Thrasymachos, nach Platon, Politeia. In: Platon, Werke a.a.O., Bd 4, 343a ff.; etwas differenzierter, da nicht durch Platon referiert: Antiphon, Fragment A. In: Capelle (Hrsg.), Die Vorsokratiker. Stuttgart 1968, 376f. Vgl. Aristoteles, Politik. Hamburg 1994, Buch III, Kap. 6,7,14 und 16 sowie Buch V, Kap. 10 und 11. Vgl. Platon, Nomoi. In: Platon, Werke, a.a.O., Bd 8, 715a ff. und 875 cf. Ciceros Schwanken macht eine Reihe von Nachweisen erforderlich: De re publica/Vom Gemeinwesen. Stuttgart 2004; De legibus, Paradoxa Stoicorum/Über die Gesetze, Stoische Paradoxien. Zürich 1994; De officiis/Vom pflichtgemäßen Handeln. Stuttgart 2003; „Rede für T. Annius Milo“. In: Ders., Die politischen Reden. 3 Bde, Zürich 1993, Bd II; „Philippische Reden I-XIV“. In: Ders., Die politischen Reden, a.a.O., Bd III; Atticus-Briefe. München, 1976; „An Brutus“. In: Ders., Epistulae ad Quintum fratrem, Epistulae ad Brutum, Fragmenta epistularum, accedit Q. Tulli Ciceronis Commentariolum Petitionis. München 1976.
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schem Kontext und in der ausweglosen Situation des Bürgerkriegs an. Neben den mythisch begründeten Aversionen der Römer gegen die Monarchie werden auch hier religiöse Vorstellungen zumindest rhetorisch dienstbar gemacht. Erst dem frühen Christentum wird die Möglichkeit einer konsistenten Begründung politischen Widerstands zum philosophischen und rechtlichen Problem. Die Gemeinden, die ihre religiöse Überzeugung politisch umsetzen wollen, müssen sich gegen ihre Umgebung politisch konstituieren. Von diesen Vorgängen erzählen Apostelgeschichte und Briefe. Die Überzeugung, nur der transzendenten Herrschaft Gottes unterworfen sein zu dürfen, gerät zwangsläufig in Konflikte mit weltlich etablierten Herrschafts- und Verwaltungsansprüchen. Die Frage, wie konkurrierende Rechtsansprüche aufzulösen sind, wird zunehmend zur Aufgabe theologischer Reflexion. So gilt einerseits die Regel: „Man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen“ (Apg 5,29), andererseits aber die Anordnung des Paulus an die Römer: „Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat. Denn es ist keine Obrigkeit außer von Gott; […] Darum ist es notwendig, sich unterzuordnen, nicht allein um der Strafe, sondern auch um des Gewissens willen.“ (Röm 13,1-5) Wenn ohnehin alle Obrigkeit von Gott ist, so gibt es scheinbar kein Problem; sobald aber Herrscher Anordnungen in offensichtlichem Widerspruch zur christlichen Überzeugung geben, entsteht ein Problem. Einerseits ist die Anordnung Ausdruck einer grundsätzlich göttlich begründeten Herrschaft, andererseits kann sie nicht mit der Befolgung der göttlichen Gesetze in Übereinstimmung gebracht werden. Dieser spätantike Widerspruch bestimmt die gesamte Widerstandsrechtsdiskussion des Mittelalters, die eine kasuistisch differenzierte Lehre entwikkelt. Hier erst geht es in strengem Sinn um rechtliche Fragen, weil das Recht über dem Recht nicht mehr nur als Ausdruck einer kosmischen Ordnung, sondern selbst als Ausdruck eines freien Willens – nämlich desjenigen Gottes – und dadurch als Recht verstanden wird. Hinzu kommen im Mittelalter die in Europa einheimischen Rechtstraditionen. Gewohnheitlich herrscht hier ein dualistisches Staatsrecht: Der gewählte König hat Befehlsbefugnisse, die an seine Aufgabe, das allgemeine Wohl zu fördern, gebunden sind.5 Dagegen behalten die Gefolgschaftsverbände, später die Stände, politische Befugnisse, die bis zur Absetzung und gegebenenfalls Tötung des unfähigen oder ungerechten Herrschers reichen. In der frühbürgerlichen, durch Territorialstaaten und Städte bestimmten, Gesellschaft wird jener Dualismus im Staatsrecht zu einem brisanten Problem. Die Stände beanspruchen ihre gewohnheitlichen Rechte, aber in der gesellschaftlichen Struktur des zerfallenden Reiches entspricht dem nichts mehr: 5
Vgl. Fritz Kern, Gottesgnadentum und Widerstandsrecht im früheren Mittelalter – Zur Entwicklungsgeschichte der Monarchie. Darmstadt 1973; und Kurt Wolzendorff, Staatsrecht und Naturrecht in der Lehre vom Widerstandsrecht des Volkes gegen rechtswidrige Ausübung der Staatsgewalt. Zugleich ein Beitrag zur Entwicklungsgeschichte des modernen Staatsgedankens. Breslau 1916.
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Zum einen existieren die Gefolgschaftsverbände nicht mehr, zum anderen ist die politische Vorstellung einer einigen Christenheit schon vor der Reformation durch Investiturstreit und Schismen beschädigt worden. Der Nominalismus hatte daraus schon willenstheoretische, theologische und politische Konsequenzen gezogen, die ihrerseits für die Entwicklung der Philosophie insgesamt folgenreich waren. Die politische Theorie der frühen Neuzeit reagiert auf den Zerfall, der umgekehrt als Herausbildung territorialer Herrschaftsgebilde zu sehen ist, mit Theorien politischer Souveränität, die gegen das mittelalterliche Modell nun eine strikt monistische Staatsrechtslehre setzt. Diese soll dem Zerfall entgegenwirken. Gegen diese Autoren, z.B. Macchiavelli, Bodin und Hobbes, richtet sich der Protest der sogenannten Monarchomachen und auch der John Lokkes, die Bedenken gegenüber einer absoluten Staatsmacht vortragen und ein Recht auf Widerstand postulieren. Sie alle argumentieren auf der Grundlage des dualistischen Staatsmodells des Mittelalters: Es sind grundsätzlich Verbände oder deren Vertreter, denen das Widerstandsrecht zukommen soll. Diesen Verbänden kommt nun aber in der politischen Wirklichkeit keineswegs mehr die rechtliche Stellung zu, die sie im Mittelalter innehatten. Das neuzeitliche Widerstandsrecht kann deshalb nicht auf die Selbstverständlichkeit des Faktischen, der Rechtsgewohnheiten, gegründet werden. Daher greifen diese Autoren auf den anderen mittelalterlichen Begründungsstrang zurück, nämlich das theologisch-religiöse Naturrecht. Die ständestaatliche Konzeption wird naturrechtlich überformt. Das ändert sich mit dem Vernunftrecht. Im Naturrecht war der Sachgrund des Rechts, aus dem es seine Inhalte bezog, zugleich sein Geltungsgrund. Göttliche Gebote sind von Gott formuliert und deshalb gelten sie auch. Im Vernunftrecht fallen aber Sachgrund und Geltungsgrund auseinander. Die reflektierende Vernunft weiß, daß sie nicht unmittelbar wirklich ist. Was Vernunft für Recht erkennt, kann der politischen Wirklichkeit widersprechen. Daraus folgt nun zunächst aber keineswegs ein vernunftrechtliches Widerstandsoder gar Revolutionsrecht, sondern die Einsicht, daß nur durch Positivität des Rechts der Geltungsgrund, der aus der Vernunft nicht folgt, gesetzt werden kann. Positivität, Setzung von Recht als Gesetz durch politische Macht, wird zum notwendigen Moment des vernunftrechtlichen Rechtsbegriffs. Dahinter steht zudem der Horror der bürgerlichen Gesellschaft vor dem Rückfall in den Naturzustand: Nur das durch politische Macht gesicherte Recht kann stabil sein. Damit wird aber die Stabilität der Macht selbst zum Moment des Rechtsbegriffs. Recht ist dann nur als staatliches Recht denkbar. Deshalb polemisiert Kant so heftig gegen das Widerstandsrecht und Hegel ignoriert es fast vollständig.6 Wenn Recht nur als staatliches Recht denkbar ist, d.h. in der Form 6
Vgl. I. Kant, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis. Teil II. In: Kants gesammelte Schriften. Hrsg. v. d. Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1902ff., Bd 8 und ders.: Metaphysik der Sitten. Rechtslehre, Allge-
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gesetzlich geschützter Befugnisse, die im Zweifelsfall mit staatlicher Macht gegen Hindernisse durchgesetzt werden können, dann ist auch rechtslogisch keine Begründung von Widerstandsrecht mehr möglich, weil die staatliche Macht, die das Ziel von Widerstand wäre, nicht zugleich deren Rechtmäßigkeit verbürgen kann. Ebensowenig ist eine staatliche Rechtsgarantie denkbar, wenn die Macht etwa durch Bürgerkrieg aufgehoben sein sollte. Soweit sollte einerseits gezeigt werden, daß Widerstandsrecht als Recht auf transzendente Begründungen verweist, und andererseits, daß das Widerstandsrecht in der säkularen Begründung des bürgerlichen Staates philosophisch ausfällt. Bei Fichte ist dies nun anders. Er geht davon aus, daß bei aller Theorie die Geschichte selbst doch eine Geschichte der Revolutionen bleiben wird, in denen die Menschen die Republikanisierung, wie Kant es in einer Reflexion ausdrückt, wieder und wieder versuchen werden, bis es einmal gelingt und alsdenn nicht mehr aufhören kann.7 Diesen Gedanken macht Fichte zunächst zum Ausgangspunkt seiner Verfassungstheorie. Die ‘Notwendigkeit, die Verfassung durch die Bürger ratifizieren zu lassen’, auf die Condorcet schon 1789 in der gleichnamigen Schrift8 hingewiesen hatte, wird für Fichte 1793 in den Beiträgen zur Berichtigung der Urtheile des Publicums über die französische Revolution zum Grund der Unübertragbarkeit der Volkssouveränität. Jede Verfassung kann prinzipiell verändert werden, auch gegen Widerstände. Das ergibt sich daraus, daß Fichte 1793 Politik und Recht aus dem Begriff der Moral denkt. Staaten dienen der Realisierung des Reichs der Zwecke, „Cultur zur Freiheit [ist] der einzige Endzweck der Staatsverbindungen“.9 Fichte zieht die politische Konsequenz aus Kants Begründung des Reichs der Zwecke aus dem kategorischen Imperativ: „[D]ie Menschheit muss und soll und wird nur Einen Endzweck haben, und die verschiedenen Zwecke, die Verschiedene sich vorsetzen, um ihn zu erreichen, werden sich nicht nur vertragen, sondern auch
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meine Anmerkung zum Staatsrecht A. In: Kants gesammelte Schriften. Hrsg. v. d. Preußischen Akademie der Wissenschaften. Berlin 1902ff., Bd 5; Kant räumt gleichwohl in den aus dem Nachlaß publizierten Reflexionen die politische Notwendigkeit des Widerstandes für die republikanische Entwicklung ein. Die Behauptung, Hegel ignoriere prinzipiell das Widerstandsrecht, ist selbstverständlich nicht nachweisbar, weil man Nichtseiendes nicht zeigen kann. Vgl. stattdessen M. Städtler, Ein komisches Schauspiel. Die Bedeutung politischen Widerstands für Hegels Rechtsbegriff. In: Hegel-Jahrbuch 2008. – In der Diskussion zum vorliegenden Beitrag votierte Klaus Vieweg dafür, dass im Gegenteil Figuren von Widerstandsrecht für Hegels Rechtslehre ganz zentral seien. Eine Arbeit dazu sei in Vorbereitung. Zur Sache vgl. auch H. Mandt, Tyrannislehre und Widerstandsrecht. Studien zur deutschen politischen Theorie des 19. Jahrhunderts. Darmstadt 1974. Vgl. Kant, „Reflexion 8077“. In: Kants gesammelte Schriften. Hrsg. v. d. Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1902ff., Bd 19. Vgl. Marquis de Condorcet, „Über die Notwendigkeit, die Verfassung durch die Bürger ratifizieren zu lassen“. In: Ders., Freiheit, Revolution, Verfassung. Berlin 2010. Fichte, „Beiträge zur Berichtigung der Urtheile des Publicums über die französische Revolution“. In: Fichtes Werke. Berlin 1971, Bd VI, (Beiträge), 101.
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einander gegenseitig erleichtern und unterstützen“.10 Die Vereinbarkeit der Privatzwecke wird bei Fichte zur Aufgabe politischer Fortschritte. Unter den Voraussetzungen der sittlichen Perfektibilität der Menschen sowie der grundsätzlichen Möglichkeit, von jedem Vertrag aus Freiheit zurückzutreten, weil diese Freiheit selbst nicht veräußerlich ist, wird auch die Zustimmung zur Verfassung revidierbar: „Keine Staatsverfassung ist unabänderlich, es ist in ihrer Natur, daß sie sich alle ändern. Eine schlechte, die gegen den nothwendigen Endzweck aller Staatsverbindungen streitet, muss abgeändert werden; eine gute, die ihn befördert, ändert sich selbst ab.“11 Die Abänderung der schlechten Verfassung ist kompromißlos und wenn nötig erlaubt sie revolutionäre Mittel, Fichte gebraucht das Bild eines Feuers aus faulem Stroh, das durch seinen Rauch verdunkelt ohne Licht noch Wärme zu geben: „es muß ausgegossen werden“.12 So kommt dem Volk das Recht, die Verfassung zu ändern, als unverlierbares Menschenrecht zu.13 Nun war Hegels Rechtslehre einerseits unter dem Eindruck der Erfahrung sowohl der Napoleonischen Epoche wie der Restaurationszeit entstanden und war in so großem zeitlichen Abstand zur Französischen Revolution, daß diese schon recht abgeklärt als ‘grelle Begebenheit’ beurteilt werden konnte. Kants rigorose Polemik gegen das Widerstandsrecht stand ihrerseits unter dem Eindruck sowohl der konterrevolutionären Aufstände, die 1793 in der Vendée begannen, als auch der Grande Terreur von 1793/94. Allerdings ist Kants Argumentation nicht bloß historisch zu verstehen, denn im Gemeinspruch findet sie sich 1793 ebenfalls schon vor. Im übrigen war für Kant die im Sommer 1792 eingeleitete Absetzung Ludwigs XVI. ebenso schockierend wie die royalistische Konterrevolution. Die Entwicklungen der französischen Revolution haben Fichte offenbar zur Revision seiner Widerstandstheorie veranlaßt. In der Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre von 1796 findet sich eine Theorie zum Widerstand, die weniger vollmundig aus einem sittlichen Endzweck oder einem unverlierbaren Menschenrecht heraus argumentiert, sondern die sehr präzise und differenziert die rechtliche Möglichkeit diskutiert, ob ein Volk gegen die eigene Verfassung vorgehen könne.14 Am Ende steht ein ver-
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Op. cit., 102. Op. cit., 103. Op. cit., 103. Op. cit., 105. Die politischen Diskussionen um Widerstands- und Revolutionsrecht, wie sie um 1793 in Deutschland wie in Frankreich geführt wurden, müssen dabei vor dem Hintergrund der konterrevolutionären Aufstände in der Vendée gesehen werden. Es geht darum, das Menschenrecht, sich gegen Unterdrückung zu wehren, nun so zu fassen, daß es nicht zu beliebigen Umstürzen instrumentalisiert werden kann. Für die Jakobiner ist dieses Recht in gerechten Verhältnissen ein bloßer Formalismus, den man zugestehen kann, die Girondisten versuchen, rechtliche Schranken einzubauen. – Das bleibende Problem, dass eine rechtsstaatliche Verfassung sich ein solches Recht leisten können müßte, es sich aber nur leisten kann, wenn es nicht
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waltungsrechtlich abgesichertes Verfahren, das es erlauben soll, den politischen Widerstand komplikationslos in die Rechtsordnung zu integrieren, die Feststellung der Aufhebung der Verfassung zum Bestandteil der Verfassung selbst zu machen. Damit argumentiert Fichte nicht allein aus geschichtsphilosophisch verstandenen Moralbegriffen heraus, also säkular, sondern er löst erstmals das Problem von Naturrecht und positivem Recht nach der Seite des positiven Rechts auf. Den Bemühungen, fehlerhafte Gesetze durch Naturrecht aufzuheben, setzt er den Versuch entgegen, positives Recht in sich selbst kontrollierbar und korrigierbar zu machen. Das hat den enormen Vorteil, daß die Bezugsgröße der Kritik eindeutig ist, im Gegensatz zum Naturrecht, bezüglich dessen der Streit um die Definitionshoheit dieser Gründe vorprogrammiert ist, weil seine Geltungsgründe transzendent sind. Der Verzicht auf diese Form von Naturrecht ist übrigens nicht der Verzicht auf Vernunftrecht: Nur ist dessen Geltungsgrund kein transzendenter. Ein Naturrecht nach Principien der Wissenschaftslehre kann auch nichts Anderes als Vernunftrecht sein. Einen vergleichbaren Entwurf einer Verfassung mit prozedural geregeltem Widerstandsrecht hatte übrigens 1793 wieder Condorcet der Nationalversammlung vorgeschlagen.15 Fichtes Überlegung geht aus von der mit dem Recht verbundenen Zwangsbefugnis, die ihrerseits eine wirksame Staatsgewalt voraussetzt. Die ‘Gemeine’
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benötigt wird, dürfte der entscheidende Grund des formellen Charakters entsprechender Erklärungen in der Moderne sein. Vgl. Marquis de Condorcet, „Verfassungsentwurf, der Nationalversammlung vorgeschlagen (1793)“ In: Ders., Freiheit, Revolution, Verfassung, Berlin 2010, bes. 209f., 217, 248f. und 252f. Auf die Nähe der Fichteschen Konstruktion des Widerstandsrechts zu Condorcet hatte bereits Wolzendorff hingewiesen. Manfred Buhr rückt Fichte dagegen in größere Nähe zu Robespierre (vgl. „Die Philosophie Johann Gottlieb Fichtes und die Französische Revolution“. In: Buhr/Losurdo (Hrsg.), Fichte – die Französische Revolution und das Ideal vom ewigen Frieden. Berlin 1991). Buhr bezieht sich dabei vor allem auf die jakobinische These, dass die Revolution ein Recht nur des gesamten Volkes sei, bzw. des Einzelnen nur, wenn in seiner Sache das Allgemeine angegriffen sei. Dies ist jedoch ein Grundsatz des Widerstandsrechts, der sich z.B. genau so auch bei Thomas von Aquin finden läßt und der zum allgemeinen naturrechtlichen Bestand dieser Thematik gehört. Spezifisch neu bei Fichte ist dagegen der Gedanke innerrechtlicher Prozeduralisierung des Widerstands, der freilich ein bürgerlichrechtlicher und wenig revolutionärer Gedanke ist. – Michel Espagne hält Sieyès für eine mögliche Quelle der Ephoratskonstruktion (vgl. „Die Wirkung der Fichte-Rezeption auf das Revolutionsverständnis“. In: Deutscher Idealismus und Französische Revolution (Schriften aus dem Karl-Marx-Haus). Trier 1988, 79 u. 82). Tatsächlich ist der Repräsentationsgedanke bei Sieyès wohl vordergründiger (vgl. D. Schulz, „Einleitung: Condorcet und die Theorie der repräsentativen Demokratie“. In: Marquis de Condorcet, Freiheit, Revolution, Verfassung, Berlin 2010, 39f.). Letztlich wird man Fichtes Position als Versuch der Vermittlung zwischen den konkurrierenden Positionen der Tradition und der historischen Erfahrungen der Zeit verstehen müssen. – In jedem Fall zeigt Buhr, daß Fichtes Widerstandslehre eng im Zusammenhang der politischen und rechtlichen Entwicklungen seiner Zeit zu sehen ist. Vgl. dagegen I. Maus: „Die Verfassung und ihre Garantie: das Ephorat (§§ 16, 17 und 21)“. In: Merle (Hrsg.), J.G. Fichte. Grundlage des Naturrechts. (Klassiker Auslegen 24), Berlin 2001. Sie möchte Fichtes Rechtslehre insgesamt auf Quellen zurückführen, die sie für vormodern und obsolet hält. Den politischen Kontext Fichtes arbeitet hingegen auch M. Espagne, „Die Wirkung der Fichte-Rezeption“ (in: op. cit.) heraus.
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kann nicht selbst zugleich regieren und regiert werden und muß deshalb Regierungsfunktionen delegieren. Es gilt nun, die Verselbständigung dieser Regierungsmacht gegen ihren Zweck zu verhindern. Dies geschehe durch eine Verfassung, die Fichte als reflexive Rechtsordnung bestimmt: „[D]as Gesetz schriebe in derselben sich selbst ein Gesetz vor, und ein solches, in sich selbst zurückgehendes Gesetz nennt man ein constitutionelles.“16 Bemerkenswert ist daran die Wendung, derzufolge der Grund der Kontrolle des Gesetzes in diesem Gesetz selbst liegt. Darin ist der Begriff des modernen Rechts- und Verfassungsstaates ausgesprochen, in dem nichts Recht werden kann, das nicht durch rechtmäßige Verfahren Recht wird. Welche Staatsform die Konstitution im Einzelnen bestimmt, ist Fichte zufolge gleichgültig, nur ein einziger Grundsatz ist zwingend: Es muß ein Ephorat geben.17 Diese seit den Monarchomachen wieder kurrente Institution Spartas ist ein Gremium zur Überwachung der Verfassungsmäßigkeit staatlichen Handelns. Bei Fichte wird überraschend das Ephorat zum Hort der Volkssouveränität. Indem Fichte den Vereinigungsvertrag von dem Vertrag zur Einsetzung der Regierung unterscheidet, bedeutet der Verfall oder Sturz der Regierung nicht unmittelbar die Auflösung des Gemeinwesens.18 Dennoch hat die Regierung zunächst volle souveräne Gewalt. Diese muß sie aber interesselos und widerspruchsfrei ausüben; Kontrolle soll durch „höchste Publicität“19 gewährleistet sein. Die Absetzung der Regierung aber steht vor dem Problem ihrer souveränen Unwiderstehlichkeit. Nur die Gemeine als ganze könnte der Regierung ihren Auftrag entziehen, aber sie ist in der Regierungszeit nicht konstituiert. Sie müßte zusammengerufen werden, der Zusammenruf aber durch einen Bürger wäre Rebellion, solange die Gemeine nicht schon konstituiert ist. „Kurz: nur die Gemeine selbst kann sich als Gemeine declarieren; sie müsste mithin Gemeine seyn, ehe sie es ist, welches, aufgestellterweise, sich widerspricht. Der Widerspruch ist nur so zu heben: Das Volk wird durch die Constitution im voraus, auf einen bestimmten Fall, als Gemeine erklärt.“20 Dieser Fall ist gegeben, wenn die Rechtsordnung bis zur Wirkungslosigkeit gestört ist: „Die Gemeine muss nie ohne Noth zusammengerufen werden: sobald es aber Noth thut, muss 16
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Fichte, Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre. Werke. Bd III, 157. Vgl. op. cit., 163. Vgl. dagegen I. Maus, „Die Verfassung und ihre Garantie“. In: Merle (Hrsg.), J.G. Fichte. Grundlage des Naturrechts. (Klassiker Auslegen 24), Berlin 2001: Ihr zufolge seien die Verträge bloß „Momente eines einzigen Vertrags“ (142). Aber: Erst das vereinigte Volk kann eine Regierung einsetzen. Eine Aufteilung des Vertrags in mehrere Verträge sieht Henning Ottmann, Geschichte des politischen Denkens. Bd 3.2, Stuttgart 2008, 205. L. Siep („Das Recht der Revolution – Kant, Fichte und Hegel über 1789 und die Folgen“, unveröffentlichtes Manuskript) spricht von einer „Stufenfolge von Staatsverträgen“ (4), deren relative Selbständigkeit sich an der Frage der Aufkündbarkeit zeige (10). Fichte, Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre. Werke. Bd III, 168. Op. cit., 170.
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sie sogleich beisammen seyn, und sprechen können und wollen. Es ist nie Noth, dass sie zusammentrete, und sie wird es auch nie wollen, ehe nicht Recht und Gesetz ganz aufhört zu wirken; dann aber wird sie es müssen, und es sicherlich thun. […] [A]lso das Gesetz muss, wo es offenbar nicht gewirkt hat, wie es sollte […], ganz aufgehoben werden.“21 Die Entscheidung, ob die Rechtsordnung für aufgehoben erklärt werden soll, fällt nun dem Ephorat zu. Diese Aufhebung beinhaltet alle Rechtsakte inklusive der Verfassung. Fichte nennt dies das „Staatsinterdict“.22 Das Ephorat ist damit die absolut negative Macht, die verfassungsgemäß der absolut positiven Macht der Exekutive entgegengestellt wird. Dies bezeichnet Fichte als „Grundsatz der recht- und vernunftmässigen Staatsverfassung“.23 Mit dem Interdikt treten die Mitglieder der Regierung in den Privatstand zurück und jede weitere Ausübung von Regierungsgewalt gilt nun als Rebellion. Zwangsgewalt kommt allein noch der Gemeine zu, die dann sowohl über die Regierung als auch über die Ephoren richtet und zugleich damit über die Verfassung beschließt. Sollten die Ephoren sich geirrt haben, werden sie bestraft. Dadurch soll Umsicht gewährleistet werden. Um eine gemeinsame Unterdrückung durch Regierung und Ephoren zu verhindern, sollen Ephoren erstens auf Lebenszeit luxuriös abgesichert sein und zweitens nur auf begrenzte Zeit im Amt bleiben; dies im Unterschied zur Regierung, die dem Souveränitätsgedanken zufolge lebenslang amtiert. Diesen Vorsichtsmaßnahmen zum Trotz stellt sich eine Reihe von Problemen: Wie gelingt das Verfahren im Falle von Gewaltherrschaft oder Bürgerkrieg? Wie ist der ideologische, autoritäre Charakter der Bürger zu überwinden; wollen diese überhaupt durch Staatsinterdikt in ihre Freiheit wieder eingesetzt werden? Denn: Wenn die Bürger als Privatpersonen urteilen, tun sie dies auf der Grundlage ihrer privaten Interessen. Diese sind als wesentlich partikulare gar nicht zu einem allgemeinen Urteil verknüpfbar. Gewaltherrschaft soll vermieden werden, indem die Machtakkumulation der Regierung nie die der Gemeine übertrifft; dies ist in Staaten mit modernen Armeen nicht mehr denkbar.24 Bürgerkriege hingegen, und damit muß er auch die Schreckensherrschaft meinen, seien Folge ungeregelten Vorgehens; durch Formalisierung des Interdiktverfahrens seien sie auszuschließen.25 – Aber sei 21
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Op. cit., 171. Siep, „Recht der Revolution“, unveröffentliches Manuskript) liest dies so, dass „im Grunde bei jeder staatlichen Rechtsverletzung“ für Fichte ein Widerstandsgrund gegeben sei. Dies setzte voraus, daß Fichte die völlige Wirkungslosigkeit des Rechts nicht erst empirisch, sondern schon formell bei Vorliegen eines beliebigen Widerspruchs im Staatshandeln feststellte; mir scheinen der Kontext, die Reflexion auf praktische Bedingungen und auch die Selbstkommentierung in der Rechtslehre von 1812 dagegen zu sprechen. Fichte, Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre. Werke. Bd III, 172. Op.cit., 172. Dies bewirkt die Umkehrung von Fichtes Überlegung: Die Gemeine demonstriert Macht nicht durch öffentliches Zusammentreten, sondern durch heimliches Sektieren: Guerilla. Vgl. Fichte, Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre. Werke Bd III, 187.
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auch die Praxistauglichkeit von Fichtes Überlegungen dahingestellt, so bleibt wesentlich der Gedanke der Verrechtlichung. Indem die Gemeine über die Verfassung richtet, ist es der Gesetzgeber selbst, der im Extremfall übers Recht entscheidet. Für Fichte steht der Rechtsgedanke im Vordergrund, nicht der Anwendungsgedanke: „[A]lle diese Anstalten sind nicht getroffen, um einzutreten, sondern nur, um die Fälle, in denen sie eintreten müssten, unmöglich zu machen.“26 In legitimatorischer Hinsicht hält Fichte aber an seinem früheren Konzept fest: „[D]as Volk ist nie Rebell […]; […] das Volk ist in der Tat und nach dem Rechte die höchste Gewalt […]. Sein Aufstand ist, der Natur der Sache nach, nicht nur der Form, sondern auch der Materie nach stets gerecht“.27 Wenn das ganze Volk aufsteht und erfolgreich ist, muß der Anlaß schwerwiegend gewesen sein; steht nur ein Teil auf, so ist es nur eine Rebellion von Privatpersonen und muß unterliegen. Der entscheidende Unterschied zur früheren Konzeption ist nun die ausgearbeitete Verfahrenslehre; um ihr zu genügen, gelten Revolutionäre, die das ganze Volk führen, als „natürliche Ephoren“.28 Auch die Beurteilung der Verfassung im Interdiktsfall unterliegt Regeln, denn grundsätzlich ist auch für Fichte die Verfassung unabänderlich: „es versteht sich, eine recht- und vernunftmässige“.29 Stellt sich aber heraus, daß sie unrechtmäßig ist, darf, ja muß sie in eine gerechte umgewandelt werden. Dafür ist jedoch ‘absolute Einstimmigkeit’ vorausgesetzt; der Pleonasmus betont die Wichtigkeit, die aufgrund des nonchalanten Umgangs mit der Normativität des Grundgesetzes heute befremdlich wirken mag.30 Zivilgesetze dagegen sind Fichte zufolge historischer Natur und bedürfen der Entwicklung, parallel zu der der Gesellschaft.31 Diese Rechtsentwicklung bildet eine Einheit mit der Rechtsgeltung und wird von Fichte mit automatisierenden Metaphern beschrieben: „Der ganze […] Mechanismus ist erforderlich zur Realisation eines rechtmässigen Verhältnisses unter den Menschen; aber es ist gar nicht nothwendig, dass alle diese Triebfedern beständig in äusserer und sichtbarer
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Op. cit., 187. Fichte, Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre. Werke. Bd III, 182. Op. cit., 183. Op. cit., 184. Hiergegen ist polemisiert worden: I. Maus („Die Verfassung und ihre Garantie“. In: Merle (Hrsg.), J.G. Fichte. Grundlage des Naturrechts. Berlin 2001) sieht Fichte als AntiDemokraten, Despotenapologeten. Was aber soll aus demokratischer Sicht gegen eine rechtund vernunftgemäße Verfassung sprechen? Umgekehrt: Was spricht für eine Demokratie, deren Hauptmerkmal es wird, unrechtmäßige und widervernünftige Gesetze beschließen zu können? Vgl. Fichte, Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre. In: Fichtes Werke. Bd III, 184. Vgl. Jürgen Seifert, Das Grundgesetz und seine Veränderung. Verfassungstext von 1949 sowie sämtliche Änderungsgesetze im Wortlaut, Neuwied 1983. Das sieht I. Maus anders, vgl. „Die Verfassung und ihre Garantie“. In: Merle (Hrsg.), J.G. Fichte. Grundlage des Naturrechts. Berlin 2001, 144f. und 149.
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Wirkung sind. Vielmehr, je besser der Staat eingerichtet ist, desto weniger wird man ihn bemerken […]. Er selbst verhindert sich am Handeln.“32 Man wird sagen können, daß Kants und auch Hegels Ausschluß des Widerstandsrechts darauf beruhen, daß beide eine derartige konfliktneutrale Vermittlung der Bürger nicht für möglich halten. Während Fichte eine Eigentumsgesetzgebung für denkbar hält, die alle Kriminalität verschwinden läßt, weiß Kant, daß die Resultate der prima occupatio unmöglich zwanglos in eine allgemeine Eigentumsordnung überführt werden können. Hegel verdeckt zwar den geschichtlichen Gehalt der ersten Erwerbung durch seine Eigentumsontologie, aber die Resultate in einer zunehmend unkontrollierbaren bürgerlichen Gesellschaft notiert er doch gewissenhaft, ohne sie freilich lösen zu können. Für beide Autoren erlaubt die bürgerliche Rechtsordnung keine übergeordnete Kontrolle aus ihren transzendenten Legitimationsquellen. Auch Fichte geht es um die Stabilität der bürgerlichen Rechtsordnung. Er versucht sie so zu fassen, daß sie in sich selbst ein Kontrollorgan besitzt, das schon durch seine absolute Negativität stabilisierend wirke und zudem verfahrensrechtlich reguliert ist.33 Im System der Rechtslehre von 1812 hat Fichte diese Konzeption einer Kritik unterzogen, keineswegs aber sie schlechthin aufgegeben.34 Im Gegenteil wird die gesamte Begründung des Ephorats von 1796 explizit aufrecht erhalten, um dann zu konstatieren, daß dieser Gedanke des Rechts nicht ausführbar sei, weil die Ephoren als endliche und interessierte Subjekte einerseits auch unbegründete Revolutionen veranlassen könnten, andererseits vor der gewaltsamen Bekämpfung durch die auf Machterhalt bedachte Regierung nicht geschützt seien.35 Schon 1796 habe er, so Fichte nun, geltend gemacht, daß ein Volk, in dem die Ausführung der Idee des Ephorats an dessen Unfähigkeit scheitere, sittlich unentwickelt sein müsse; das beweise die Auswahl der falschen Personen für dieses Amt. „Das Einzige darum, wovon sich Verbesserung erwarten läßt, ist der Fortschritt der Bildung zu Verstand und Sittlichkeit“.36 In einem Volk aber, das diese Entwicklung frei vollziehe, sei nun ein institutionalisiertes Ephorat überflüssig: Die Funktion der Beobachtung und gegebenenfalls der Warnung der Regierung entwickle sich unter den gebildeten Bürgern von selbst, die im Notfall auch an die Gemeinde appellierten. Die pragmatischen Einwände, die Fichte hier ausformuliert, hatte er sich prinzipiell auch 1796 bereits gemacht. Damals aber waren seine Versuche, derartige Probleme in den Griff zu bekommen, ihrerseits eher pragmatischer 32
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Fichte, Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre. Werke. Bd III, 185f. Daß die ständige Anpassung und Verbesserung der Verfassung unter bürgerlichen Bedingungen, wo per se Interessenkonflikte regieren, chaotisch wären, hat Fichte gesehen. Funktionieren könnte das nur unter der Bedingung rechtsadäquater Voraussetzungen in der Gesellschaft. Dann könnte die Häufigkeit von Zwischenfällen erträglich gering sein. In diese Richtung plädiert meines Erachtens zu stark Henning Ottmann, Geschichte des politischen Denkens, a.a.O., 219. Vgl. Fichte, Das System der Rechtslehre (1812). Werke, Bd 10, Berlin 1971, 632ff. Op.cit., 634.
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Art gewesen. Daß Fichte nun das Vertrauen in die Selbstregulierung der Praxis zurücknimmt, mag auf das zurückzugehen, was er als ‘Scheitern’ der französischen Revolution verstand: die Machtübernahme und den Imperialismus Napoléons.37 Was in dieser Entwicklung aber hervortrat, waren Implikationen der spezifisch bürgerlichen Intentionen der Revolution, die ihr von Anfang an innewohnten. Zu ihnen hatte Fichtes Ideal der sittlichen Vervollkommnung der Menschheit durch Bildung, in Anlehnung an Kants ‘Reich der Zwecke’, von Anfang an nicht gepaßt: Die bürgerliche Revolution war, gerade als bürgerliche, nie rein auf die Verwirklichung allgemeiner menschlicher Freiheit und Vernunft gerichtet gewesen, sondern sie wurde ganz entscheidend durch partikulare Interessen motiviert, und dies war mit bestimmend für den Verlauf, den sie nahm, sowie für ihr Resultat, den bürgerlichen Rechtsstaat. In der Perspektive aufs ancien régime vertrat das Bürgertum die Idee allgemeiner Freiheit, aber es vertrat sie nicht widerspruchsfrei, sondern in einer Form, die durch ihre Partikularität zugleich ein ausgrenzendes Moment in die gesellschaftliche Allgemeinheit eintrug. Fichte rückt jedenfalls an die Stelle des Ephorats, das ihm nach Lage der politischen Erfahrungen nun auch der partikularen Interessenvertretung verdächtig wird, die allgemeine und die sittliche Bildung: Der Widerspruch zwischen äußerlichem Rechtsstaat und dem Ziel der sittlichen Kultivierung soll durch Publizität und Bildung geschichtlich vermittelt werden. Die Hoffnung in das humane Potential ersetzt gewissermaßen den Versuch der innerrechtlichen Stabilisierung von Recht von 1796. Die Möglichkeit der Revolution wird dadurch aber nicht ausgeschlossen, sondern es wird die fortgeschrittene Bildung zur Bedingung ihres Erfolgs erklärt: „Der Weg […] der Revolutionen, ist darum, ehe nicht eine gänzliche Umkehrung mit dem Menschengeschlechte vorgeht, mit Sicherheit anzusehen, als der, statt eines Übels ein anderes […] zu erhalten.“38 Das Ziel bleibt auch hier ein in sich geschlossener, absoluter, Staat, der außerdem, bei dem unentwickelten Zustand des Volkes, nur durch unbedingte Souveränität, gleichsam äußerlich, zu haben sei. Die Hoffnung geht dahin, daß die Bürger durch Verinnerlichung der äußerlichen Gesetze einst die Zwangsanstalt Staat in einen derart ‘gesetzlosen’ Zustand verwandeln, daß die mit dem Gesetz verbundene Zwangsbefugnis aufgrund allgemeiner Befolgung der Gesetze gar nicht mehr wirksam werden muß.39 Offen bleibt, wie eine so verstandene Versittlichung die Möglichkeit der vernünftigen Verfassungsumbildung bewahren kann, wo doch die Versittlichung gerade in der Bildung habitueller Akzeptanz der bestehenden Verfassung liege. 37
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Vgl. Schulz (Hrsg.), Fichte in vertraulichen Briefen seiner Zeitgenossen. Leipzig 1923, 250: „daß Napoleon die Sache der Revolution verraten, erklärt er [Fichte] für seine schwerste Schuld“. Op.cit., 250, Kursivierung von mir. Vgl. op.cit., 606ff. Damit hält Fichte im Prinzip an seiner frühen Überzeugung fest, der Zweck der Regierung sei es, sich selbst überflüssig zu machen (vgl. Fichte, Einige Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten (1794). Werke. Berlin 1971, Bd 6, 306.
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DIE SÄKULARE RÜCKKEHR DES WIDERSTANDSRECHTS BEI FICHTE
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Das bemerkenswerte an Fichtes früherem Versuch von 1796 – gerade auch in der Zusammenschau mit dem Entwurf von 1793 und mit dem späteren Kommentar von 1812 – war aber, daß das Staatsrecht selbst auf rechtliche Weise seine eigene rechtliche Grenze bestimmen sollte. Damit sollte die Stabilität des Staates sowohl gegen den Rückfall in den Naturzustand als aber auch gegenüber revolutionären Idealen gesichert werden. Die konservative Gesinnung der Bürger wurde zum rechtlich prozedierten Sicherheitsinstitut. Derjenige Staat aber, der konstitutionsimmanent auch seine eigenen Grenzen definiert, definiert damit sich selbst und sein Anderes. Darin antizipiert Fichte ein wesentliches Merkmal des modernen bürgerlichen Rechts- und Verfassungsstaats; im philosophisch strengen Sinn ist dieser Staat absoluter Staat, im Unterschied zum Absolutismus, dessen absolute Macht gegenüber konkurrierenden Ansprüchen stets wohl behauptet, aber nicht wirklich war. Das Recht als geschlossenes System zu behandeln, ist eine mögliche Antwort auf die historisch begründete Unvereinbarkeit moralischer und juridischer Prinzipien. Was dies für den heutigen bürgerlichen Staat und seine Selbstkontrollinstrumente bedeutet, wäre Gegenstand einer anderen interessanten Erörterung.
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Ethicité et religion. Les fondements hégéliens de la politique „Donnez à César ce qui est à César et à Dieu ce qui est à Dieu!“ Si telle est la prescription de la religion, rappelle Hegel, pourtant „il s’agit précisément de déterminer ce qui est à César, c’est-à-dire ce qui appartient au gouvernement dans le monde“ ajoute-t-il.1 La question se redouble d’ailleurs car qui devra le dire? Si c’est la religion, on peut se demander qui est alors l’interprète le plus autorisé de Dieu et craindre en outre une emprise théocratique. Mais si c’est l’Etat, alors on risque la tyrannie du pouvoir temporel. Évidemment le discours philosophique paraît déjà être le médiateur, celui qui peut ici, sans donner des leçons, relire et penser son temps. Or justement notre temps nous montre que ces rapports du politique et du religieux ne sont pas simples et que Hegel peut encore nous aider à y voir clair dans une situation où se montre un décalage, ou une asymétrie remettant en cause des évidences liées à un discours de laïcité, ou à certaines manifestations de la sécularisation. Ainsi, reprenant la formule de Böckenförde qui se demandait si l’Etat laïcisé „ne se nourrissait pas de présuppositions normatives qu’il serait incapable de garantir par lui-même“,2 Habermas parle d’un doute sur la capacité de l’Etat moderne „à actualiser ses propres fondements sans se rapporter à des traditions éthiques autochtones“3 liées notamment à une religion. Or Habermas ajoute que demeure en effet dans la vie collective des communautés quelque chose d’unique, à savoir des „possibilités d’expression suffisamment différenciées“ pour pouvoir évoquer les problèmes, les échecs de la vie individuelle, et leur donner un horizon éthique introuvable dans la dimension étatique. D’où une „asymétrie“ justifiant que la philosophie ait à penser ici la religion „en souvenir“, reconnaît cette fois Habermas, „de la manière dont la philosophie de tradition hégélienne a su apprendre de la religion“.4 1
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Hegel, Encyclopédie des sciences philosophiques. Trad. B. Bourgeois (Enz). Paris 1988, § 552, 337. Gesammelte Werke (GW). Bd 20. Hamburg 1992, 535. „Es ist nicht genug dass, in der Religion geboten ist: Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist; denn es handelt sich eben darum, zu bestimmen, was des Kaisers sei, d.i. was dem weltlichen Regimente gehöre“. Cité dans: J. Habermas, Entre naturalisme et religion: les défis de la démocratie. Paris 2008, 152. Zwischen Naturalismus und Religion: philosophische Aufsätze. Frankfurt a.M. 2005, 106 („ob der freiheitliche, säkularisierte Staat von normativen Voraussetzungen zehrt, die er selbst nicht garantieren kann“). Ibid. („die Vermutung, dass er auf autochthone weltanschauliche oder religiöse, jedenfalls kollektiv verbindliche ethische Überlieferungen angewiesen ist“). Ibid., 165 (115, „In Erinnerung ihrer erfolgreichen ‘hegelianischen’ Lernprozesse“).
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Il est vrai que la crise de motivation démocratique dans nos Etats semble s’accompagner d’une intensification par contre des liens communautaires et de la vie des religions qui contribue à de nouvelles interrogations – notamment juridiques. La distinction des pouvoirs temporel et spirituel, au gré de l’histoire, ne saurait faire oublier l’unité de l’homme qu’ils concernent, ni les problèmes originels à ce propos. D’ailleurs laos, d’où vient le laïkos ou laïc, ne signifie-til pas d’abord le peuple de Dieu par opposition aux peuples païens, de sorte que la laïcité a une origine… religieuse? Rappelons aussi que, dans les écrits vétérotestamentaires, le peuple de Dieu (am) s’identifie à la communauté dans son assemblée (qâhâl) que soudent ses fonctions cultuelles, en se différenciant par là des nations païennes ou goyim. Tout le problème surgit lorsque les nécessités politiques des guerres et des contrats forcent le peuple à constituer un Etat comme les autres et à se donner un roi avec Saül à Gilgal. L’Etat est dès l’abord coupé du statut particulier d’élection qui faisait du peuple une communauté religieuse et perd en prestige ce qu’il gagne en force: les prophètes seront là pour rappeler les problèmes. Et inversement le peuple, distingué alors de son statut religieux, se voit encore plus singularisé dans son aspect étatique, de sorte que l’Ecclesia qui, nouveau peuple de Dieu, reprend le flambeau en quelque sorte, doit commencer par se détacher de toute notion étatique et se proclamer universelle. On le voit, présent comme passé nous placent déjà dans une dialectique où l’homme devra trouver comment satisfaire le „droit du particulier“, caractéristique de la modernité, au travers des structures étatiques et des communautés éthiques où se joue, dans ses rapports avec l’universel, son statut de sujet singulier. Nous nous proposons ici, suivant les conseils de Habermas, de rappeler ce que Hegel nous apprend et nous permet de lire dans notre histoire concernant d’abord l’Etat et la Religion, avant de nous pencher sur la question de la communauté et de l’éthicité.
* Rappelons d’emblée, pour la religion et l’Etat, la formule provocatrice de Hegel au paragraphe 552 de l’Encyclopédie: „Cela a été l’immense erreur de notre époque, que de vouloir regarder ces aspects inséparables comme séparables l’un de l’autre, voire même comme indifférents l’un à l’égard de l’autre“.5 C’est d’abord vrai pour le sujet individuel en lequel, comme un tout, on ne peut séparer déterminations éthiques et religieuses: „Les deux aspects sont inséparables; il ne peut y avoir deux sortes de conscience (morale), l’une religieuse, et l’autre éthique, différente de la première suivant la teneur et le con5
Enz § 552. Trad. cit., 334. GW 20, 532, „Es ist der ungeheure Irrthum unserer Zeiten gewesen, diese Untrennbaren als voneinander trennbar, ja selbst als gleichgültig gegeneinander ansehen zu wollen.“
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tenu“.6 Et l’on connaît d’ailleurs l’affirmation de l’omniprésence religieuse notée par Hegel dans l’Oratio de 1830 sur la Confession d’Augsbourg: „La religion ne peut être enfermée dans un recoin de l’esprit et séparée de la règle de l’action et de l’organisation de la vie; si grandes sont sa force et son autorité qu’elle embrasse et dirige tout ce qui touche à la vie humaine, de sorte que, par une réforme religieuse, il convient aussi de réformer les mœurs et règles des cités et des lois“.7 Ce qui dirige l’action de l’homme c’est de modifier l’être par des normes pratiques, de l’élever donc au-dessus du domaine des désirs finis. Or tel est le sens de la religion en tant que „conscience de la vérité absolue“, de sorte que la disposition d’esprit éthique repose sur „la disposition d’esprit religieuse“ selon les termes du paragraphe 552 de l’Encyclopédie. Mais en même temps c’est bien la vie éthique qui mène réellement le fini à sa vérité par sa négation, en libérant „sa volonté de l’égoïsme du désir“, de sorte que c’est dans l’esprit éthique qu’on doit chercher „la religion véritable et la religiosité véritable“.8 C’est l’absoluité qui caractérise donc l’agir humain dans ces pratiques et l’importance même de l’éthique et du politique, n’est-ce pas justement qu’il en va, en eux, de l’absolu, ce qui paradoxalement, en leur conférant leur propre valeur, les ancre dans la religion même?9 Encore faut-il pour cela qu’il s’agisse d’une religion véritable: „Mais, pour que la vie éthique vraie soit une suite de la religion, il est requis que la religion ait le contenu vrai“.10 Cela implique que l’esprit divin correspondant à l’Idée de Dieu qui l’anime soit présent dans l’éthicité de la conscience de soi des peuples et des individus qui lui donnent son effectivité. Bref, sans être du monde comme la religion grecque, la religion moderne manifeste dans le monde une présence divine inscrite au cœur de la communauté des croyants dans leur action sous toutes ses formes. Ainsi, au minimum, une vraie religion n’ira pas à l’encontre de l’éthique et ne pourra autoriser de pratiques barbares ou irrationnelles. La vraie piété, comme le disait déjà l’Epître de Jacques, sera alors la pratique éthique, par exemple de la charité, ou une conduite morale tout simplement, telle que Kant 6
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Ibid., „Beides ist untrennbar; es kann nicht zweierlei Gewissen, ein religiöses und ein dem Gehalte und Inhalte nach davon verschiedenes sittliches, geben.“ Hegel, Oratio in Sacris Saecularibus Tertiis Traditae Confessionis Augustanae, GW 16, Hamburg 2001, 315-316. Trad. P. Büttgen. In: P. Büttgen, „Hegel à Augsbourg. Confession et commémoration“. Revue germanique internationale, 8(2008), 40. Enz. § 552. Trad. cit., 333. GW 20, 531. Cf. GW 20, 532: „Indem die Religion das Bewusstsein der absoluten Wahrheit ist, so kann was als Recht und Gerechtigkeit, als Pflicht und Gesetz, d.i. als wahr in der Welt des freien Willen gelten soll, nur in so fern gelten, als es Theil an jener Wahrheit hat, unter sie subsumirt ist und aus ihr folgt.“ Ou encore quelques lignes plus loin: „Aber der Form nach, d.i. für das Denken und Wissen (…) kommt der religiösen Inhalt, als der reinen an und für sich seyenden also höchsten Wahrheit die Sanctionirung der in empirischer Wirklichkeit stehenden Sittlichkeit zu.“ Enz. § 552, trad. cit, 334. GW 20, 532: „Dass aber das wahrhafte Sittliche Folge der Religion sei, dazu wird erfordert, dass die Religion den wahrhaften Inhalt habe.“
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proposait d’y voir, à cause de son caractère absolu, quelque chose de digne d’être appelé un commandement divin.11 Mais la conséquence principale de cette inséparabilité c’est que, contrairement à ce qu’on ne cessera de répéter toujours davantage, la religion n’est pas une affaire seulement privée, ni l’Etat seulement publique. Voilà d’ailleurs pourquoi Hegel peut déclarer: „Ainsi la religion est, pour la conscience de soi, la base de la vie éthique et de l’Etat“.12 Si en effet la religion n’était que privée, elle serait sentiment, opinion, fanatisme destructeur, mais non pas cette pensée ou cette dimension de l’intelligence que Hegel affirme toujours d’elle par opposition à Schleiermacher. Certes l’aspect communautaire et l’affirmation dans la réalité sociale de la religion, qui implique le rapport de la communauté ecclésiale à l’Etat sont capitaux. Le paragraphe 270 des Grundlinien der Philosophie des Rechts insiste sur ce point. Mais surtout il y a l’affirmation d’une doctrine, la confession de la foi, chère au luthérien, par laquelle, en se manifestant extérieurement, la pensée se donne effectivité, garantissant une intériorité, par là, qui n’est pas de sentiment ni enfermée sur soi, mais ouverture et témoignage de savoir, objet de partage comme de discussion, bref condition d’une vraie rencontre de sujets, d’une communion d’esprits. Si bien que l’intériorité dont témoigne l’inscription de la doctrine dans le domaine „du droit de la liberté subjective de la conscience de soi“ selon les termes des Grundlinien13 est loin d’apparaître comme indiquant le repli dans une sphère privée. D’ailleurs inversement, comme Hegel le souligne au même paragraphe 270, l’Etat aussi a une doctrine, à savoir son droit, sa constitution et ses lois qui témoignent de la vie rationnelle de la liberté consciente d’elle-même ressaisie en principes. L’intériorité pensante, ou la disposition d’esprit éthique essentielle à un Etat effectif, rejoint par là l’extériorisation que se donne la disposition d’esprit religieuse, pour animer la dialectique de l’Etat et de l’Eglise dans la rencontre oppositionnelle qui procède de leur affirmation doctrinale propre. Pourquoi ne veut-on pas admettre cet aspect spirituel de l’Etat? Parce que l’on se fait de lui une représentation empreinte de mécanisme, celle d’une „Veranstaltung der Not“14 restreinte aux tâches profanes de la protection de la sécurité, de la propriété et de la vie, mais dépourvue d’élément éthique. Or, loin de retirer de cette justification externe une force, l’Etat la perd par là, tandis qu’inversement la religion risque de se prétendre au-dessus ou hors des lois, comme les fanatismes de tous ordres. Si donc il faut retrouver une détermina11
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Cf. Kant, La religion dans les limites de la simple raison. (Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft [1793]. 4. Stück, 1. Teil. In: Kant’s gesammelte Schriften. Hrsg. Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Bd VI. Berlin 1914, 153-166.) Enz. § 552. Trad. cit., 334. GW 20, 532, „so ist die Religion für das Selbstbewusstsein die Basis der Sittlichkeit und des Staates.“ Hegel, Principes de la philosophie du droit. Trad. J. F. Kervégan. Paris 1998, 338. (Grundlinien der Philosophie des Rechts. In: Sämtliche Werke. Bd 7. Hrsg. von H. Glockner. Stuttgart 1964, 356.) Ibid., § 270. Trad. cit., 340.
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tion spirituelle pour l’Etat, quelle valeur se présentera? La seule revendication de laïcité, bref d’une spiritualité autonome, ne suffit pas, notre embarras actuel le montre, mais déjà les impasses d’une religion civile dans l’abstraction ne satisfaisaient à aucun des buts pour lesquels on cherchait à la promouvoir. Si l’individu privé pourtant reste extérieur à l’Etat et l’Etat extérieur pour lui, l’adhésion à des valeurs éthiques ne semblera possible que dans la communauté religieuse, comme Böckenförde le soulignera. Il convient donc de dépasser, de supprimer dialectiquement cette séparation de l’Etat et de la religion, qui sépare l’Etat et la religion d’abord de leur propre caractère éthique et mène à l’abstraction où le sujet ne s’exprime et ne se reconnaît plus. La Révolution le permet-elle, où le sujet s’exprimera? Mais à quel plan se place-t-on alors? A celui, formel, d’une politique qui justement, encore sous régime de séparation risque de laisser l’homme dans sa division. Tel est, pour Hegel, le problème d’une Révolution sans Réforme, hypothéquée déjà par la nature même de la religion du pays où elle s’est produite. Ainsi pour Hegel le catholicisme explique-t-il l’incapacité de la Révolution française, dans son contexte, de surmonter vraiment ce problème, dans la mesure où la séparation problématique est ancrée alors dans l’homme même, séparé de sa liberté au cœur de la disposition spirituelle qui devait lui permettre de s’épanouir et soumis à l’autorité d’un pouvoir spirituel ne lui permettant pas de voir non plus alors reconnue sa singularité subjective par l’Etat. La Révolution n’y change alors que la forme et, pourrait-on dire, nous voue encore à une séparation Eglise/Etat ultérieure drainant de nombreuses ambiguïtés. La proclamation de „Droits de l’homme“, pour importante qu’elle soit, „ne suffit pas à fonder le droit“ comme le rappelait Bernard Bourgeois, même si on le croit, de manière formaliste.15 „Les révolutions se passent dans l’intérieur“ précisent les Leçons sur la philosophie de l’histoire et c’est „avec la Réforme que les protestants ont opéré leur révolution“.16 Ainsi, pour Hegel, l’unité de la religion et de l’Etat n’est possible que là où le sujet est reconnu en sa liberté spirituelle et où l’Etat, avec sa normativité propre, témoigne de la vocation de tout homme à l’infinité, de sorte que c’est tout un d’agir bien et de pratiquer la religion. Telle est la différence entre l’éthicité et donc la religion véritable servant d’assise à l’Etat, et la sainteté repliée sur la négativité sacralisante, coupée de l’effectivité de la conscience de soi. Au lieu de la chasteté prévaut le mariage, au lieu de la pauvreté, l’activité de l’acquisition et le bon usage de la fortune, au lieu du vœu d’obéissance, l’obéissance aux lois et à l’Etat qui libèrent, comme le précise le paragraphe 552 de l’Encyclopédie.17 L’Oratio de 1830 disait aussi: „Ce dont les dirigeants des Etats ont proclamé l’abrogation, ce n’est donc pas seulement cette sainteté 15
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B. Bourgeois, „Hegel et les Droits de l’homme“. In B. Bourgeois (dir.), Philosophie et droits de l’homme: de Kant à Marx. Paris 1990, 23. Cité par B. Bourgeois, ibid. Enz. § 552. Trad. cit., 336. GW 20, 535.
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dont le pontife romain s’arrogeait le titre, ce sont aussi les principaux préceptes de sainteté, c’est-à-dire les plus dangereux; et c’est donc la réconciliation de l’Etat avec Dieu, et de Dieu avec l’Etat, qui a été rendue publique“.18 Mais par delà cette unité, évidemment, la religion détermine une communauté; c’est une institution à sa manière et par là aussi elle a des rapports nécessaires aux institutions de l’Etat. Or celui-ci non seulement peut dans ces rapports manifester de la tolérance, mais, ajoute Hegel, considérant la fin et la disposition d’esprit religieuses et son enjeu pour l’Etat, „il est dans la nature de la chose (…) d’exiger de tous ses membres qu’ils appartiennent à une communauté ecclésiale, quelle qu’elle soit au demeurant“.19 On retiendra plutôt pour la modernité l’éloge de la tolérance, même envers les communautés un peu en marge, et surtout la note sur l’octroi des droits civils aux Juifs. En fait, c’est la diversité qu’il faut retenir, dans le cadre de cette unité des dispositions et des institutions de la liberté. Il peut y avoir unité religion/Etat si l’homme est libre, et d’autant mieux que la diversité des Eglises y garantit que pas une seule ne peut s’identifier à l’Etat. Bref, il faut l’identité de l’identité et de la différence, l’unité dans la diversité, et comme l’indique la fin du paragraphe 270: „Par conséquent, c’est d’autant plus une faute de penser que la séparation des Eglises serait ou aurait été un malheur pour l’Etat que c’est seulement par elle qu’il a pu advenir à ce qui est sa destination, à la rationalité et à l’éthicité conscientes d’elles-mêmes. De même, c’est ce qui a pu arriver de plus heureux à l’Eglise pour sa liberté et sa rationalité propres, et à la pensée pour les siennes“.20 En fait la séparation des Eglises est une chance. Et que dirait Hegel aujourd’hui, alors que se sont accrues les diversités religieuses? Plus il y en a, mieux c’est, peut-être? Et que penser du multiculturalisme? On a envisagé les rapports, déterminants pour l’éthicité, de la religion et de l’Etat. Reste désormais à saisir l’enjeu de l’ancrage communautaire de l’éthique pour cet Etat, et sa signification pour la disposition d’esprit du sujet dans la réalisation de sa liberté. L’éthicité hégélienne se caractérise par sa capacité à réaliser la leçon de liberté que la moralité kantienne avait, aux yeux de Hegel, dégagée de façon fondamentale. A cet égard, le moment médiateur de la moralité au cœur des Grundlinien de 1821, loin de signifier son abrogation, est central pour bien comprendre l’éthicité qui l’assume en la supprimant dialectiquement. Mais si le droit du particulier à se trouver satisfait dans ses aspirations à la liberté est 18 19
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Oratio, GW 16, 320. Trad. cit., 41. Grundlinien, § 270. Trad. cit., 336-337. SW 7, 353, „Es ist in der Natur der Sache, dass der Staat eine Pflicht erfüllt (…), von allen seinen Angehörigen zu fordern, dass sie sich zu einer Kirchengemeinde halten, – übrigens zu irgend einer…“ Grundlinien. Trad. cit., 343-344. SW 7, 362, „Es ist daher so weit gefehlt, dass für den Staat die kirchliche Trennung ein Unglück wäre oder gewesen wäre, dass er nur durch sie hat werden können, was seine Bestimmung ist, die selbstbewusste Vernünftigkeit und Sittlichkeit. Ebenso ist es das Glücklichste, was der Kirche für ihre eigene und was dem Gedanken für seine Freiheit und Vernünftigkeit hat widerfahren können.“
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bien le propre de la modernité, le principe d’universalité régissant une morale formelle de „l’obligation pour l’obligation“, ancrant dans le sujet le principe de son action, le divisait lui-même entre la pureté formelle du Bien abstrait, que nous appellerions maintenant plutôt le Juste, et la singularité des raisons d’agir, qui laisse libre champ à l’arbitraire et à l’ère de l’individu. Hegel nous propose alors dans sa théorie de l’éthicité une médiation véritable permettant au sujet de se mobiliser pour la liberté en tendant dans son action vers un „Bien vivant“21 qui n’est plus extérieur comme pour les morales pré-kantiennes, ni abstrait comme l’est le seul principe formel d’universalité. C’est dans ce cadre qu’il faut comprendre le sens hégélien de la religion comme communauté dans l’éthicité et sa modernité eu égard aux problèmes de notre temps. Nous évoquions en commençant la formule de Böckenförde sur „l’asymétrie“ entre l’indifférence des citoyens aux valeurs des états démocratiques et l’adhésion des croyants des diverses communautés à ce qui les relie. On pourrait y voir le problème de l’universalisme abstrait confronté au particularisme concret, celui des morales déontologiques face à l’axiologie ou encore la dialectique du Juste et du Bien. C’est en effet la question du particulier qui se pose. Mais dans son évocation de Böckenförde, Habermas cherche avant tout une solution à son problème propre, tel qu’il ressortait de la position même de l’Ethique de la discussion. En effet celle-ci nous dit bien comment être moral, par l’application du principe selon lequel la seule norme valide sera celle qui pourrait requérir l’accord de ceux qu’elle régirait, dans le cadre d’une argumentation rationnelle, mise en œuvre dans une communauté dialogique. Mais, comme Taylor le remarquait, on ne nous dit pas alors pourquoi être moral, et Habermas reconnaît que le silence de l’éthique formelle sur les questions de motivation pose un redoutable problème.22 Or, comme Habermas lui-même le dit dans son dernier livre, Hegel, et notamment sa philosophie de la religion, peut nous apprendre beaucoup à cet égard. Il a en effet le mérite de déplacer, le tout premier, la question de la motivation du domaine psychologique ou psycho-moral, sur celui de l’éthicité et de la politique. Dès le paragraphe 142, au début de la partie sur la Sittlichkeit des Grundlinien, Hegel indique en effet que, si l’Idée de la liberté trouve son effectivité dans la conscience de soi et dans l’action de celle-ci, c’est dans „l’être éthique qu’on peut trouver“ son assise qui est en et pour soi et sa fin motrice.23 Ainsi le concept de liberté devient-il „monde présent-là“ de cette conscience de soi et le Bien cherché par celle-ci n’est autre que cette liberté même dont ce monde lui présente la réalisation par l’intériorisation des lois qui, contrairement à la nature, ne lui sont pas étrangères (§ 147). Ainsi, dans l’éthique des obligations, elle trouve la li21 22
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Cf. Grundlinien § 142. J. Habermas, De l’éthique de la discussion. Trad. M. Hunyadi. Paris 1992, 164 (Erläuterungen zur Diskursethik, Frankfurt a.M. 1991, 184). Grundlinien. Trad. cit., 231. SW 7, 226, „seine an und für sich seyende Grundlage und bewegenden Zweck...“
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bération de ses dépendances. Mais la libération est avérée par son institution comme un sujet éthique, i.e. avec les autres sujets, forme vivante de l’universalité intersubjective qui les assure de leur différence d’avec une individualité encore naturelle (§ 149). Le tout est de veiller à ce que cette motivation qui évite de laisser face à face l’universel et le singulier fasse bien sa place à la particularité qui assume la réalisation éthique. C’est là certes tout le travail de la Sittlichkeit, mais, dans la mesure même où la religion reprend et porte à la conscience ses diverses étapes ainsi que la garantie24 de sortir de la seule moralité pour constituer une communauté éthique, un „corps éthique“ comme disait Kant,25 c’est en elle que nous pouvons voir une instance privilégiée où s’effectue la médiation dans la prise en compte du particulier. Si l’adhésion aux lois civiles, condition essentielle de leur efficace, est toute relative en effet, celle qui se manifeste pour les valeurs d’une communauté semble présenter une voie privilégiée – comme l’indiquait Böckenförde.26 Elle nous rappelle en effet que l’adhésion est toujours liée à une histoire – une transmission, une tradition – et que la culture ne se décrète pas; en elle on devient soi. A cet égard on se rappelle les débats de la fin du XVIIIème siècle autour de Mendelssohn, sur l’émancipation des Juifs et la question de savoir si celle-ci devait en rester au point de vue universaliste, au détriment du judaïsme et de ses revendications particulières, ou si c’est à l’égard du judaïsme même qu’elle devait intervenir.27 Par rapport à l’intégration de la particularité dans une société civile dont les rouages économiques reconduisent autant qu’ils les transforment les exigences et les besoins de l’individuel, la médiation communautaire véhicule des valeurs qui requièrent l’ouverture de cet individu et la reconnaissance intersubjective. L’adhésion, qui ne fait parfois que reprendre l’inscription première liée à la communauté familiale, est par contre plus forte que celle, souvent artificielle et contrainte, aux lois d’un Etat parfois oublieux de la nécessité de former ou d’éduquer et qui se contente de „déclarer“. Là où la société civile est seule investie de la charge d’assumer le particulier, l’Etat demeure grevé de l’extériorité dénoncée par Hegel. Si, par contre, „l’intégration“, comme on dit, est déjà préparée sur le champ de valeurs et de la motivation communautaire, alors le sujet peut ainsi être sur la voie d’une politique véritable. Est-ce à dire que l’instance religieuse servirait de médiation du politique, bref qu’on pourrait envoyer les imams dans les cités pour contribuer à la socialisation? On se souvient que Hegel, dans les Grundlinien, envisageait que 24 25
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27
Cf. Enz. §552. Hegel y parle bien ici de „Sanctionirung“ par la religion. Cf. par exemple La religion dans les limites de la simple raison, 3ème partie, 1ère section, II et III. (Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. Drittes Stück. Erste Abtheilung, I, III, 95 f., 98 f). E. W. Böckenförde, „Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation“. In: ders., Recht, Staat, Freiheit, Frankfurt a.M. 1991, 92 ff. Cf. M. Roudaut, „Ambiguïtés et limites de la tolérance radicale de l’Aufklärung. Autour du débat sur l’amélioration civile des juifs“. In: Lumières, 13(2009), 117-134.
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ETHICITÉ ET RELIGION.
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l’Etat exige que tous ses membres participent à une communauté ecclésiale. Pourtant il s’agissait seulement de passer de l’idée d’une tolérance, passive, à celle, active, d’une reconnaissance. S’agirait-il plutôt alors d’envisager un Etat médiateur entre des religions qui toutes auraient à s’épanouir en lui? Pour n’être pas universel abstrait, il ne saurait se réduire à l’arbitrage des particularités néanmoins. C’est qu’il faut, en fait, dépasser la stricte correspondance de l’universel étatique, de la particularité communautaire religieuse, et de la singularité subjective qui en serait l’enjeu. Il faut syllogiser vraiment les termes. Ainsi il semble que ce n’est pas tant la religion qui doive aider l’Etat ou l’Etat la religion, mais que l’une peut parfois aider l’autre à être plus ou mieux lui-même, et réciproquement. C’est-à-dire que, dans le but de permettre la liberté du sujet, l’universalité et la particularité se convertissent. C’est parfois l’Etat qui a à rappeler à la religion de ne pas se figer dans une particularité séparatrice et opprimante pour le sujet, Hegel parlant de „vraie religion“, et l’Etat peut statuer alors sur les sectes par exemple.28 Il a donc à rappeler le droit du particulier contre les particularismes. Mais, inversement, face à la perversion d’un Etat qui peut se refermer dans sa propre particularité nationale, voire éthique, vis-à-vis de ses propres membres en se prenant pour tout et seul universel au détriment du sujet, c’est sans doute à la religion de rappeler les impératifs éthiques et de se faire le chantre d’un universel vraiment concret. Ainsi, pour reprendre l’exemple d’une „confession“ plus récente que celle d’Augsbourg, peut-on évoquer la haute figure d’un Karl Barth qui, en 1934, dans la Confession de Barmen, s’oppose au nationalisme nazi et à l’Eglise nationale. On aimerait finir sur le bel exemple de celui qui dénonçait, à partir de son christianisme sans concession et dont la liberté lui faisait dire qu’il n’était plus une religion, „les religions dangereuses qui faisaient l’amalgame (i.e. qui identifiaient sans différencier) du religieux et du politique: à savoir notamment le fascisme et le bolchevisme“.29 Souvenons-nous d’ailleurs que ce même Karl Barth30 s’étonnera justement que Hegel ne soit pas devenu pour le protestantisme ce que Thomas d’Aquin avait été pour le catholicisme…
* Dans l’Oratio de juillet 1830, Hegel revendiquait la liberté conquise pour le laïc par la Confession d’Augsbourg. Parlant avant le théologien, le philosophe évoque cette liberté de parler „sur un sujet touchant à la religion“ et dans une cérémonie très officielle, „pour nous autres qui ne sommes pas théologiens“.31 28
29 30 31
Ainsi, contrairement à l’Etat fédéral américain, qui, sous couvert du premier amendement, tolère tout ce qui se proclame religion, faut-il bien différencier le religieux du sectaire. K. Barth: Questions au christianisme. In: Le Semeur, 5, 1932, 258-261. K. Barth: Hegel. Trad. J. Carrère. In: Cahiers théologiques, n°38, 1955, 8. GW 16, 315. Trad. cit., 39.
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JEAN-MARIE LARDIC
Or si la déclaration des droits de l’homme ne suffit pas à les établir, la Confession (Bekenntnis) de l’Eglise est pleine de sens parce qu’elle rappelle une doctrine de liberté qui, s’extériorisant par là, a libéré les laïcs rendus alors à leur vocation initiale de „prêtres, prophètes et rois“. Pas de nouvelle coercition doctrinale ou dogmatique par là, car l’important est la Confession elle-même et son sujet – plus que son objet. Nous ne reviendrons pas sur la „Bekenntnisfrage“ et les débats avec Schleiermacher, mais évoquerons seulement cette liberté que la Grande Charte de l’Eglise évangélique a pour Hegel donnée aux hommes: „Rien de ce qui vient de l’esprit ne fut par conséquent oublié et laissé de côté, et ce sont les disciplines, les arts libéraux et les bonnes lettres qui, dans leur totalité, furent restituées aux mortels, et pas seulement restituées: recrées, elles ont crû par l’effet d’une ardeur nouvelle et infinie. Tous les jours encore elles croissent et augmentent avec une force continue, dans une liberté qui permet à chacun d’y accéder, et avec une nécessité qui invite, pousse et incite chacun, de toutes parts, à entrer de sa propre initiative dans la connaissance de ce qui est juste, de ce qui est vrai, de ce qui est divin“.32 Cette liberté de penser est celle que l’Etat doit garantir à la recherche scientifique et philosophique et que l’Eglise catholique par contre n’a pas respectée avec Giordano Bruno et Galilée.33 C’est alors à l’Etat de rappeler la liberté puisqu’il représente l’universel en sa forme. Si l’Etat protestant a pour Hegel d’office la „certification“ religieuse qui en retour ne permet pas l’oppression par une autorité ecclésiale détachée de lui, doit-on dire qu’à jamais cette liberté soit refusée aux catholiques? Par Vatican II, les catholiques n’ont-ils pas fait leur réforme, même si elle n’est pas allée assez loin, pour Hans Küng par exemple? C’est une autre question. Qu’il suffise au philosophe, entre religion et politique, de montrer comment l’une et l’autre se relativisent réciproquement pour mieux s’accomplir. A cet égard, l’Esprit absolu qui, au terme de l’éthicité, clôt la Philosophie de l’esprit, montre que la même logique par laquelle l’individu trouve en l’Etat et l’éthique l’exigence de supprimer sa limitation, comme la religion l’y incite en son élévation (Erhebung), empêche par contre de voir en l’Etat l’Absolu lui-même, tant la démonstration de son importance, ancrée dans l’absolu de l’Esprit, le rend aussi relatif à celui-ci et soumis à son jugement dernier – ou discours ultime.
32 33
Ibid. GW 16, 318. Trad., 43. Cf. Grundlinien, § 270. Trad. cit., 341. SW 7, 359.
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JEAN-LOUIS VIEILLARD-BARON
Politique et religion. La puissance de la vérité et la communauté, communio sanctorum À Bernard Bourgeois
Quelles sont les ressources que nous pouvons trouver dans l’œuvre de Hegel pour penser le rapport entre politique et religion? L’interprétation contemporaine de Hegel est fortement marquée par la vision sociologique du monde et la tendance à séparer la pensée politique du philosophe de l’ensemble de son système peut se transformer en une tendance à „socializer“ toute la philosophie de Hegel. Pourtant le dernier paragraphe de la Rechtsphilosophie1 nous indique la voie de la Versöhnung, thème qui a retenu l’attention de plusieurs interprètes.2 Bernard Bourgeois, dans ses leçons sur l’introduction au cours de Philosophie de l’histoire, Die Vernunft in der Geschichte, a abordé de front la question délicate du rapport Objectiver Geist/Absoluter Geist (OG/AG). Il pose en principe d’interprétation qu’il y a un moment objectif du surgissement de l’AG (l’esprit objectif universel), et un moment déjà absolu de ce surgissement de l’esprit universel absolu. Simultanément s’élaborent deux auto-négations, l’autonégation objective de l’OG et l’auto-négation absolue de ce même OG.3 Il est difficile, si l’on s’en tient aux textes publiés par Hegel dans le corpus même de son système, de trouver des analyses aussi fines.
I. Esprit objectif et esprit absolu L’articulation entre OG et AG mérite d’être examinée de près.4 On peut l’envisager formellement, selon la rhétorique présentée par Hegel pour introduire sa Philosophie des Geistes dans l’Encyclopédie, au § 385. Laissons de côté ce qui concerne l’esprit subjectif, le OG est l’esprit „dans la forme de la réalité comme d’un monde à produire et produit par lui, dans lequel la liberté 1
2
3 4
Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts [Principes de la philosophie du droit]. Gesammelte Werke (GW) Bd 14.1 Hrsg. von K. Grotsch und E. Weisser-Lohmann (cité: PPD), § 360, 281f. Par exemple, M. Herceg, „Le jeune Hegel et la naissance de la réconciliation moderne. Essai sur le Fragment de Tübingen (1792-1793)“. In: Les Études philosophiques. 70(2004/3), 383401. B. Bourgeois, Éternité et historicité de l’esprit selon Hegel. Paris, Vrin, 1991, 18. Elle peut être envisagée selon l’Encyclopédie de 1830 comparée aux données antérieures, travaux de Nuremberg, et l’Encyclopédie de 1816, puis les PPD où est notable la faiblesse des éléments donnés par Hegel.
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JEAN-LOUIS VIEILLARD-BARON
est en tant que nécessité présente — ou donnée“.5 Le AG est l’esprit „dans l’unité, étant en et pour soi et se produisant éternellement, de l’objectivité de l’esprit et de son idéalité ou de son concept, l’esprit en sa vérité absolue“.6 Ce que Hegel nous présente là est comme une juxtaposition des deux formes ultimes de l’esprit: OG et AG. En fait B. Bourgeois apporte une lumière décisive en parlant d’autonégation de l’OG comme position de l’AG.7 Il faut que le Weltgeist, en tant qu’aboutissement de l’OG, supprime sa propre Weltlichkeit pour que soit libéré l’AG. Le texte fort instructif du § 386 de l’Encyclopédie de 1827 mérite d’être rappelé parce qu’il explicite les trois niveaux de l’esprit en termes de Befreiung. Les deux premières formes de l’Esprit sont les formes de l’Esprit fini (endlicher Geist); or l’Esprit est infini en tant qu’Idée. Par conséquent il y a inadéquation de l’Esprit en son concept et de ses manifestations finies. Les formes finies de l’Esprit ne sont que des auto-limitations qu’il doit supprimer pour les dépasser. Hegel écrit alors admirablement: „Die verschiedenen Stufen der Thätigkeit des Geistes sind Stufen seiner Befreiung, in deren absoluten Wahrheit das Vorfinden einer Welt als einer vorausgesetzten, das Erzeugen derselben als eines von ihm gesetzten, und die Befreiung von ihr eins und dasselbe ist.“8
Sur ce point le commentaire de Bernard Bourgeois apparaît décisif. Il y a autonégation objective de l’OG et autonégation absolue de l’OG. Ce que nous dit ce texte se place clairement du point de vue de l’AG.
A. Le moment négatif de la réconciliation: Si l’on envisage d’une façon concrète la façon dont Hegel a travaillé ce passage du OG au AG, on se trouve en face de textes elliptiques, par exemple dans la première Encyclopédie, ou d’un texte dense et profond, assez mystérieux, celui du § 360 et dernier des PPD. Ce paragraphe a deux parties. La première est: 5
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Cf. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse. GW Bd 20. Hrsg. von W. Bonsiepen und H.-Chr. Lucas. 383, „in der Form der Realität als einer von ihm hervorzubringenden und hervorgebrachten Welt, in welcher die Freiheit als vorhandene Nothwendigkeit ist“. Op.cit., 383, „in an und für sich seyender und ewig sich hervorbringender Einheit der Objectivität des Geistes und seiner Idealität oder seines Begriffs, der Geist in seiner absoluten Wahrheit“. B. Bourgeois, Éternité et historicité de l’esprit selon Hegel, Paris, Vrin, 1991, premier chapitre, 15-38. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse. Hrsg. von W. Bonsiepen und H.-Chr. Lucas. 1989. GW Bd 19, 291 [„Les divers degrés de l’activité de l’esprit sont les degrés de sa libération. Dans la vérité absolue de celle-ci, il ne fait qu’une et même chose pour lui (l’esprit) de trouver là un monde comme un monde présupposé, de le créer comme un monde posé par lui, et de se libérer de lui.“]
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POLITIQUE ET RELIGION
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„Indem – in dem harten Kampfe dieser im Unterschiede, der hier seine absolute Entgegensetzung gewonnen, stehenden und zugleich in einer Einheit und Idee wurzelnden Reiche – das Geistliche die Existenz seines Himmels zum irdischen Diesseits und zur gemeinen Wirklichkeit, in der Wirklichkeit und in der Vorstellung degradiert, das Weltliche dagegen sein abstraktes Fürsichsein zum Gedanken und dem Prinzipe vernünftigen Seins und Wissens, zur Vernünftigkeit des Rechts und Gesetzes hinaufbildet, ist an sich der Gegensatz zur marklosen Gestalt geschwunden.“9
Le § 359 qui précède fait suite à la présentation des quatre empires, oriental, grec, romain et germanique. Ces quatre empires sont l’idée de l’esprit considérée dans l’histoire du monde (Die Idee des Geistes in der Weltgeschichte).10 Le dur combat évoqué en parenthèse au début de la phrase, est le combat de l’empire mondain (weltlicher Reich) et de l’empire intellectuel (intellektueller Reich). Cette opposition est celle du royaume du monde et du royaume des idées. Elle est proprement religieuse: „Es ist also das Reich der Kirche und der Welt“, dit le manuscrit Ringier.11 Le but de l’histoire est de les unir; on peut noter la proximité et la différence avec la Cité de Dieu de saint Augustin, qui montre la différence, mais soutient, contrairement à Hegel, qu’au jugement dernier, Dieu séparera radicalement les deux cités et fera triompher la cité divine.12 La parenthèse entre tirets indique la conception dialectique de la différence entre les deux mondes ou royaumes, en soulignant que cette différence atteint ici „son opposition absolue“; la différence est exaltée jusqu’à l’opposition totale; mais en même temps, cette tension maximale entre eux, ne doit pas nous masquer le fait que ces mondes prennent racine dans une unique unité et une unique Idée. Ils ont une racine commune, comme la moralité et le mal (PPD § 139 R). Cette Idée est l’Idée infinie de l’Esprit, en tant que la liberté réalisée. Le § 360 insiste plus sur le processus historique de dégradation et d’élévation que sur la dialectique idéelle. En effet, ce que Hegel souligne fortement c’est la dégradation du royaume de l’Église, ou empire intellectuel, dit encore „monde de l’au-delà“; l’élément spirituel dégrade l’existence de son ciel en un en-deçà terrestre. Qu’est-ce que cet en-deçà, inversé et parallèle de l’au-delà céleste? Rien d’autre que la représentation et la réalité commune, l’effectivité partagée. Corrélativement à cette dégradation, il y a élévation (Erhebung) de l’élément mondain, qui hausse son être-pour-soi abstrait à la pensée (Zum Gedanken). Ce n’est pas de l’acte de penser (das Denken) qu’il est question ici, mais de ce qui est pensé. De son être-là abstrait, de son être pour soi abstrait et 9 10
11 12
Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts. GW Bd 14.1, § 359, 281. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie des Rechts: Berlin 1819/1820. Nachgeschr. von J. R. Ringier. Hrsg. von E. Angehrn, M. Bondeli, H. N. Seelmann. Hamburg 2000 (cité: Ms. Ringier), 201. Ibidem, 205. Voir mon analyse de ce point, „État divin, État laïque, ou la place de la religion dans la philosophie de Hegel“, dans Hegel, Bicentenaire de la Phénoménologie de l’esprit, sous la direction de B. Bourgeois. Paris, Vrin, 2008, 111-125.
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JEAN-LOUIS VIEILLARD-BARON
fermé sur soi, l’élément mondain se transforme de l’intérieur en devenant Idée. Dans l’Encyclopédie, à propos du Denken (§ 465-468), Hegel explique que l’intelligence est reconnaissance pensante; pour elle, penser est avoir des pensées, des Idées. Il s’agit donc de l’élévation de l’effectivité à l’Idée, de la réalité politique à l’Etat. C’est ce qui se produit dans la neue Zeit, qu’on peut comprendre comme la période moderne (à partir de la Réforme luthérienne), ou comme la période contemporaine (à partir de la Révolution française). L’élévation culturelle (Hinaufbildung) de l’élément mondain va jusqu’à la rationalité du droit et de la loi, jusqu’au principe de l’être et du savoir rationnels. Estce donc de l’État rationnel, ou de l’Idée de l’État qu’il s’agit? Mais on peut en douter, car le membre de phrase suivant laisse planer le plus grand doute: der Gegensatz ist an sich zur marklosen Gestalt geschwunden. Qu’elle soit seulement „atténuée“ ou qu’elle ait „disparu“, cette opposition est devenue une „figure sans traits“, voire „inconsistante“. Il n’y a donc plus lieu d’opposer le royaume de l’église et le royaume du monde. Mais quel est le gain pour la réalisation de l’Esprit? Il se trouve que Hegel a commenté son propre texte du début du § 360 des PPD dans le premier article de Répliques paru dans les Jahrbücher für wissenschaftliche Kritik.13 Hegel proteste contre un geschichtliches Auffassen appliqué abusivement à son texte. L’auteur de l’article prend à parti le § 360 des PPD en proclamant d’une façon déclamatoire que „le but du philosophe est plus élévé que le cours ordinaire du monde, que s’il se dégrade (degradirt) au niveau de celui-ci, alors, le plus glorieux de la science est perdu pour lui“, alors qu’au contraire chez Hegel, prétend-il, c’est le moyen par lequel „la vraie réconciliation serait devenue objective“.14 Hegel répond en plusieurs points: 1. Le § 359 a indiqué que l’intériorité du principe est la réconciliation et la solution de toute contradiction, en tant qu’elle est encore abstraite et existante dans la sensation (Empfindung) en tant que croyance, amour et espérance. Le principe en son intériorité s’est développé en [devenant] un règne mondain (ou laïque), un royaume de l’arbitraire sauvage étant pour soi et de la barbarie des mœurs. Face à ce règne, [il y a] un monde de l’au-delà, un royaume intellectuel, dont le contenu est la vérité de l’esprit, mais caché encore impensé dans la barbarie de la représentation (aber noch ungedacht in die Barbarei der Vorstellung gehüllt); en tant que pouvoir spirituel sur le cœur, il se comporte comme une violence non libre et effrayante à l’égard du même.
13
14
Paru en juillet 1829; voir Hegel, Schriften und Entwürfe II (1826-1831). GW 16. édité par F. Hogemann et Ch. Jamme, 216-235; deuxième article, 235-251; et troisième article, 251-274. Les notices de présentation sont aux pages 471-474. Op.cit., 222.
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2. Hegel indique, à titre d’analogie historique, que ce qui s’est passé au Moyen Age correspond à cette violente opposition entre le royaume de Dieu et le royaume terrestre. A aucun moment il ne soutient que son raisonnement serait historique. Mais il reconnaît à l’auteur auquel il réplique d’avoir bien saisi la question de la corruption de l’Église; en fait c’est contre cette dégradation morale que Luther a réagi et a suscité le mouvement de la Réforme. Le cours publié par Dieter Henrich (que j’appelerai ici Ms. Henrich) dit très vigoureusement: Das kirchliche Reich hat sich selbst zu einem Reiche der Selbstsucht und der Laster degradiert.15 C’est ici sans ambiguïté et sans nuances. En revanche, ce que Hegel trouve blâmable est l’oubli de la fin de la phrase: ist an sich der Gegensatz zur marklosen Gestalt geschwunden. Et Hegel donne une explication de cette figure inconsistante et sans traits. En soi l’opposition entre les deux royaumes s’est évanouie en fumée (Zum Schein geschwunden); cela signifie qu’elle n’est pas encore „la réconciliation existante, par laquelle celle-ci a été portée à l’existence“. Pour le comprendre il faut lire la seconde partie du § 360. On voit que Hegel donne lui-même la réponse à notre question: la dégradation du royaume du ciel et l’élévation du royaume du monde ne suffisent pas à produire la réconciliation définitive; il faut l’auto-négation de l’OG pour qu’existe véritablement l’AG, peut écrire B. Bourgeois. Mais le moment négatif ne produit qu’une réconciliation disparaissante, évanouissante. L’amorce du moment positif est donnée dans la seconde partie du § 360.
B. Le moment positif de la réconciliation Hegel écrit: „Die Gegenwart hat ihre Barbarei und unrechtliche Willkür, und die Wahrheit hat ihr Jenseits und ihre zufällige Gewalt abgestreift, so daß die wahrhafte Versöhnung objektiv geworden, welche den Staat zum Bilde und zur Wirklichkeit der Vernunft entfaltet, worin das Selbstbewußtsein die Wirklichkeit seines substantiellen Wissens und Wollens in organischer Entwickelung, wie in der Religion das Gefühl und die Vorstellung dieser seiner Wahrheit als idealer Wesenheit, in der Wissenschaft aber die freie begriffene Erkenntnis dieser Wahrheit als einer und derselben in ihren sich ergänzenden Manifestationen, dem Staate, der Natur, und der ideellen Welt, findet“.16
Nous avons ici l’articulation entre OG et AG vue du point de vue de l’OG. Les „manifestations qui se complètent, l’État, la Nature et le monde idéel (le monde des Idées)“ sont des manifestations de la raison, mais non pas de l’Esprit 15
16
Hegel, Philosophie des Rechts, die Vorlesung von 1819/1820 in einer Nachschrift, Herausgegeben von D. Henrich. Frankfurt am Main 1983 (cité: MS Henrich), 290. Voir PPD, § 360, 281.
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absolu. Cette formulation est intéressante en ce qu’elle met l’Etat sur le même plan que la Nature et la Logique (les Idées). On peut en déduire que c’est dans l’Etat moderne que s’épanouissent la religion et la philosophie dans leur vérité; en fait cela signifie que l’Etat, la religion et la philosophie se conditionnent mutuellement. Ludwig Siep fait remarquer que tout cela n’est valable que „lorsque l’État est fondé inconditionnellement en soi, et que la vérité religieuse n’est plus transférée dans un au-delà, mais qu’au contraire elle se réalise dans le monde“.17 On doit en effet souligner que la réconciliation existante est objectivement présente dans l’État. Cela ne signifie pourtant pas que le point de vue de l’État soit la vérité de l’Esprit comme Absolu, ou de l’Absolu comme Esprit. Pour Siep, l’Etat est absolument fondé par Hegel de sorte que la religion est absorbée en lui, par une sécularisation complète et achevée, qui serait celle de la religion chrétienne luthérienne. L’absolutisation de l’État concorde alors avec la sécularisation complète du christianisme: il y a réconciliation, au profit de l’État, parce que la religion, en devenant philosophique, sacralise du même coup l’État comme divin. Revenons au texte de Hegel: La réconciliation (devenue) objective est la réconciliation étatique; elle s’oppose à la réconciliation „subjective“ (§ 359) qui peut s’opérer seulement „dans le sentiment comme foi, amour et espérance“. La réconciliation est toujours connotée religieusement,18 mais la réconciliation subjective est celle de la piété affective, et c’est aussi la réconciliation théologique, en tant qu’elle se place du point de vue de la foi subjective; la réconciliation objective est proprement philosophique. C’est celle qu’opère l’Idée de l’État. La présupposition de la réconciliation objective est l’expulsion de la barbarie, de l’arbitraire du monde sans-droit, de la violence et de l’au-delà de la vérité (violence terrestre et au-delà céleste, couple antithétique et indissociable). Notre présent est celui de l’état de droit, et non plus celui de l’état de nature; la justice n’est plus seulement un idéal supra-sensible ou religieuse. Ceci ne signifie pourtant pas que toute violence, tout arbitraire a disparu. La détermination de cette réconciliation objective est que dans l’État, la conscience de soi (propriété de l’esprit) trouve l’effectivité de son savoir et de son vouloir substantiels dans le développement organique parallèle suivant. Dans la religion, la conscience de soi trouve le sentiment et la représentation de sa vérité sous la forme d’une essentialité idéale; dans la philosophie, la conscience de soi trouve la libre connaissance de cette vérité. Le jeu du savoir et du vouloir est le lieu de cette réconciliation: la volonté libre accède à la conscience de soi, à la fois dans la religion et dans la philosophie. Hegel a beau jeu de répondre à son interlocuteur critique que ce n’est pas la dégradation du 17
18
L. Siep, Aktualität und Grenzen der praktischen Philosophie Hegels, Aufsätze 1997-2009, München-Paderborn 2010, 98-99. E. Rózsa, Art. Versöhnung, dans le Hegel-Lexikon. Hrsg. von P. Cobben und L. De Vos. Darmstadt 2006, 464-467.
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spirituel qui constitue l’essence de la réconciliation accomplie, mais qu’il a bien pris soin de distinguer explicitement les deux choses. L’erreur de l’interprète est d’avoir admis historiquement que, dans la dégradation du spirituel, s’accomplissait la réconciliation objective. Il s’exclame – ce que Hegel rapporte ironiquement –: „Celui qui veut oser dégrader le Ciel se dégrade luimême“. Hegel n’a pas de peine à montrer qu’il n’a en rien attaqué la religion, mais que le pouvoir spirituel a dégradé le ciel par la corruption de l’église. Le principe de la réconciliation est de „réconcilier Dieu et le monde“; le principe de la vérité est que la réalité corresponde au concept, celui-ci est la vérité, et celle-là est la liberté. „Dieu n’est pas conçu comme Esprit tant qu’il n’est pas conçu comme la trinité, comme ce qui fait retour en soi à partir de l’opposition. La vérité n’est pas encore réalisée; il faut une organisation du royaume du monde, et pour cela, comme l’avait vu Platon, il faut des corporations (Genossenschaft), il faut différencier des positions sociales, ce qui est advenu dans l’empire germanique. Le royaume de l’église et le royaume du monde ont combattu entre eux; le royaume de l’église, ou le règne ecclésiastique, s’est dégradé en un règne de l’égoïsme et du vice (zu einem Reiche der Selbstsucht und der Laster). C’est donc, par son élévation au spirituel, le règne mondain qui l’a emporté“.19
L’État est devenu ainsi une „image et une réalisation effective de la Raison“; toutefois c’est seulement dans la science (philosophique) que s’opère la complémentarité de l’État, de la Nature et de la Logique (monde des Idées). Je remarque ici au passage que L. Siep comprend die ideelle Welt comme AG, et parle, sans broncher de die ideelle Welt von Kunst, Religion und Philosophie.20 Je crois que Hegel emploie toujours ces mots pour désigner les reine Gedanke, la Logique dont la réalité effective dans les PPD n’est plus à démontrer. C’est ici le lieu de faire état de l’importante discussion que vient de publier Ludwig Siep à propos du livre de E.-W. Böckendörfe, Der säkularisierte Staat, dans un chapitre inédit de son recueil d’articles déjà mentionné, Ist Hegels Staat ein christlicher Staat?.21 La critique adressée par Siep est la même que Hegel par rapport à l’auteur mentionné, c’est de proposer une interprétation trop historique. Je souscris entièrement à l’interprétation donnée par Siep de l’Etat moderne comme but final de l’histoire, et je ne suis pas du tout d’accord avec la signification de la religion qu’il en déduit. C’est, dit très généralement, le danger d’isoler la pensée politique de Hegel de l’ensemble du système.
19 20
21
Ms. Henrich, 289-290. L. Siep, Aktualität und Grenzen der praktischen Philosophie Hegels, Aufsätze 1997-2009, München 2010, 98) L. Siep, „Ist Hegels Staat ein christlicher Staat?“. In: ders., Aktualität und Grenzen der praktischen Philosophie Hegels, Aufsätze 1997-2009, München 2010. 93-114. – E.-W. Böckendörfe, Der säkularisierte Staat. Sein Charakter, seine Rechtfertigung und seine Probleme im 21. Jahrhundert. Themenband 86 der Carl Friedrich von Siemens Stiftung. München 2007.
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Reprenons ces deux points. Sur la religion, pour Siep, elle est effectivement réalisée dans l’Etat moderne. On peut indiquer à l’appui de cela la conception culturelle de la religion dans l’introduction à la philosophie de l’histoire, même si ce texte est moins sûr que ceux que Hegel a publiés lui-même. L’Etat européen moderne n’est pas une forme achevée, mais il est bien le but final de l’histoire. La question est de savoir s’il repose sur l’autonégation de la religion, se réalisant effectivement en tant qu’Etat pensé philosophiquement comme étant en accord avec la théologie du christianisme. Pour expliquer le rapport entre religion et philosophie, Siep parle de l’Aufhebung de la religion chrétienne dans la philosophie hégélienne. Ce dépassement se fait sans que les concepts philosophiques n’aient plus rien à voir avec le contenu de la religion achevée qui est la révélation. Je cite Siep: „Abgeschlossen ist diese Erkenntnis [die freie begriffene Erkenntnis] allerdings erst dann, wenn die Grundstruktur des Staates auch als übereinstimmend mit der Theologie der wahren Religion, des Christentums, erwiesen wird. Dafür ist aber Philosophie zuständig und die kann diese Übereinstimmung letztlich in reinen, offenbarungsunabhängigen Begriffen lesiten. Das bedeutet die Aufhebung der Religion in Philosophie“.22
C’est la philosophie qui est nécessaire pour cette harmonisation car elle peut produire finalement celle-ci dans les purs concepts offenbarungsunabhängigen Begriffen. Ceci est contredit par le texte du § 384 de l’Encyclopédie (1830). La conceptualité hégélienne, y compris dans sa forme pure logique, n’est pas indépendante de la révélation. D’un point de vue littéral, c’est ce que montre le § 384: „Das Offenbaren, welches als die abstracte Idee unmittelbarer Uebergang, Werden der Natur ist, ist als Offenbaren des Geistes, der frei ist, Setzen der Natur als seiner Welt“.23
Dira-t-on qu’il s’agit, dans ces paragraphes introductifs à la philosophie de l’esprit, d’un acte de révéler au sens large de se manifester? Cela pourrait être juste, si le § 552 et sa longue remarque ne venaient contredire cette thèse minimaliste: le passage de l’OG à l’AG est la traduction spéculative de la preuve de l’existence de Dieu; „l’Esprit pensant de l’histoire du monde“, qui présuppose „l’Esprit pensant dans la vie éthique“ (der in der Sittlichkeit denkende Geist) se supprimant en se défaisant de sa finitude, se dépasse lui-même en rejetant sa mondanéité pour devenir „savoir de l’Esprit absolu“.24 Ce savoir de soi de l’AG n’est pas du tout exprimé en termes libres de toute révélation, mais en termes proprement théologiques; il est 22
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L. Siep, Aktualität und Grenzen der praktischen Philosophie Hegels, Aufsätze 1997-2009, München 2010, 99. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse. GW Bd 20. Hrsg. von W. Bonsiepen und H.-Chr. Lucas. § 384, 382. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse. GW Bd 20. Hrsg. von W. Bonsiepen und H.-Chr. Lucas. § 552, 530f.
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„savoir de la vérité éternellement effective, en laquelle la Raison sachante [le Logique] libre pour elle-même, et la nécessité, nature et histoire, sont uniquement au service de sa révélation et des vases en son honneur.“25
Logique, comme philosophie première, et Realphilosophie, à savoir nécessité naturelle et nécessité historique, ne sont que des instruments de la révélation de l’AG. La Remarque qui suit le § 384 explique: „Das Wort und die Vorstellung des Geistes ist früh gefunden, und der Inhalt der christlichen Religion ist, Gott als Geist eu erkennen zu geben. Dies, was hier der Vorstellung gegeben und was an sich das Wesen ist, in seinem eigenen Elemente, dem Begriffe, zu fassen, ist die Aufgabe der Philosophie, welche so lange nicht wahrhaft und immanent gelöst ist, als der Begriff und die Freiheit nicht ihr Gegenstand und ihre Seele ist.“26
Faudrait-il admettre que connaître Dieu comme Esprit veut dire connaître Dieu comme État? Cela paraît improbable à tout le moins. Si Siep avait raison, alors le passage de la représentation au concept, à savoir la tâche de la philosophie, serait seulement négatif. Or le travail de la philosophie est de concevoir l’absolu comme esprit; „c’est sur ce point que se sont concentrées toute religion et toute science (philosophique)“. Il ne saurait donc y avoir de concepts indépendants de la révélation, en particulier le concept d’Esprit.27 Si Siep avait raison, cela signifierait qu’il n’y a pas et ne peut pas y avoir de „philosophie de la révélation“ chez Hegel. En ce sens Hegel resterait malgré tout un homme des Lumières. Or les deux volumes de Dieter Henrich sur la crise philosophique et théologique au Stift de Tübingen apportent la démonstration historique de la rupture de Hegel (ainsi que de Schelling et de Hölderlin) par rapport à la philosophie des Lumières et de Kant.28 En fait le sens exact du dépassement de la religion par la philosophie n’est pas bien compris. Il ne signifie pas prise d’indépendance; il signifie reformulation et proprement conceptualisation. À ce sujet, on peut montrer la structuration théologique de la philosophie hégélienne, en particulier dans sa dimension trinitaire. Ceci ne signifie pas qu’il faille minimiser l’importance de la conscience de soi que l’esprit a dans le particulier. Siep cite à ce propos un texte de la Nachschrift de 1819/1820 publiée par Dieter Henrich. „Dieser Geist, weil er Geist ist, hat das Selbstbewußtsein in den Einzelnen. Die Individuen haben von ihrer Seite ihr Wesen, ihren Zweck, das, was ihr Resultat ist […] Das Recht des Staates ist einerseits das absolute Recht gegen die Individuen
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Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse. § 552. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse. GW Bd 20. Hrsg. von W. Bonsiepen und H.-Chr. Lucas. § 384, 382. Voir mon livre Hegel, système et structures théologiques, Paris, Le cerf, 2006, chapitre XII, „La définition religieuse de la religion“, 245-259. D. Henrich, Grundlegung aus dem Ich. Untersuchungen zur Vorgeschichte des Deutschen Idealismus. Tübingen-Jena 1790-1794. Frankfurt a.M 2004.
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und anderseits das, wozu sie zu diesem absoluten Recht gelangen. Es ist nichts im Himmel und auf Erden, was höher als dieser Geist.“29
Je retiens en particulier le fait que le droit de l’État se dédouble en, d’une part, le droit absolu par rapport aux individus, et, d’autre part, ce à quoi les individus sont parvenus pour ce droit absolu. L’absoluité du droit étatique ne s’oppose nullement à l’absoluité de l’AG, car là aussi il y a dédoublement de l’Etat. En tant qu’Etat particulier et empirique, il n’a pas d’absoluité en soi ni pour soi. Mais en tant que but final de l’histoire, et accomplissement inachevé de l’OG, il est absolu, et conscient de lui-même. On doit accorder à Siep qu’il a le juste point de vue sur la longue remarque ajoutée par Hegel au § 270 des PPD. Ce texte sur le rapport entre Etat et religion n’est nullement une genèse historique, mais une élucidation théorique.30 Il y a, dans les PPD en général, une opposition forte entre l’ordre d’exposition de l’ouvrage et l’ordre de la réalité effective. En effet, à l’intérieur de la Sittlichkeit, on a la séquence (1) Famille, (2) Société civile bourgeoise, (3) État. Mais l’ordre du passage est l’ordre de l’exposé scientifique, qui n’est pas absolu; la famille passe dans la société civile, qui passe dans l’État. Mais, du point de vue de l’effectivité, „c’est l’Idée même de l’État qui se divise en ces deux moments“: „In der Wirklichkeit ist darum der Staat überhaupt vielmehr das Erste, innerhalb dessen sich erst die Familie zur bürgerlichen Gesellschaft ausbildet, und es ist die Idee des Staats selbst, welche sich in diese beyden Momente dirimirt“.31
Ceci s’applique également au rapport entre SG, OG et AG. L’esprit absolu se divise en esprit subjectif et esprit objectif. Par conséquent, s’il y a réconciliation subjective et réconciliation objective, elles doivent avoir leur fondation dans la réconciliation absolue. Or qu’est-ce que cette absolute Versöhnung, sinon la religion, en sa forme accomplie, à savoir la religion chrétienne? En aucun cas il ne s’agit de soumettre l’État à l’autorité religieuse dans l’ordre de l’effectivité. Hegel insiste sur la nécessaire autonomisation de l’État, Siep a raison de la souligner. Mais il n’en va pas de même dans l’ordre scientifique et spéculatif. L’indépendance de l’Etat par rapport à la religion est compatible, parfaitement, avec la fondation spéculative de l’État par la religion. La réconciliation absolue est celle de la religion de l’amour. Cette réconciliation s’est manifestée dans l’histoire de la rédemption du Christ, et dans la Réforme. La fin du cours de Philosophie du droit de 1820 (manuscrit Ringier) se place d’un point de vue théologique et éclaire fortement ce concept de réconciliation, en dépassant toutefois l’opposition entre réconciliation subjective et réconciliation objective. 29 30
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Ms. Henrich, 155. L. Siep, Aktualität und Grenzen der praktischen Philosophie Hegels, Aufsätze 1997-2009, München 2010, 101. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts. GW 14.1, § 256 Anm.
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„In diesem Schmerz hat es [das Selbstbewußtsein] sich selbst erfaßt, es hat seinen Schmerz erfaßt; oder es hat sich gewußt als das, in welchem der Gegensatz selbst ist, und hat ihn erfaßt. Es ist die Idee der Menschwerdung Gottes unter den Völkern zur Anschauung gekommen, die Einheit der göttlichen und menschlichen Natur.“32
Cette réconciliation du devenir homme de Dieu n’est pas pour autant la réconciliation politico-historique de la cité divine avec la cité terrestre. Mais c’est une transformation radicale dans l’histoire de Dieu. Das Bewußtsein, daß das göttliche Selbst eins ist mit dem menschlichen ist in den Menschen gekommen.33 Comprendre l’incarnation de Dieu, ce qui est le travail de la philosophie, c’est devenir soi-même un être divin. Appliqué au christianisme, c’est très précisément le mode de vie philosophique selon Aristote, la vie théorétique ou contemplative.
II. Ouverture: le double statut de la religion et la dimension philosophique de la communion des saints Il y a, comme le montrent en particuliers les trois derniers paragraphes de l’Encyclopédie de 1830, un double statut de la philosophie dans l’œuvre de Hegel: d’une part, elle est le troisième et dernier élément de l’Esprit absolu; d’autre part, elle est l’englobant de tous les éléments du système encyclopédique. Il y a lieu de considérer également le double statut de la religion (dédoublement plus circonscrit que celui de la philosophie): institution sociale dans l’État et élément constitutif de l’AG.34 La religion, telle qu’elle apparaît dans les longues remarques aux § 270 des PPD et au § 552 de l’Encyclopédie de 1830, est envisagée comme une religion, la plus achevée, la religion de la liberté, religion chrétienne réformée. Mais c’est là le point de vue de l’État; c’est la religion qui est pratiquée dans l’Etat moderne. Elle est objective et non absolue. La religion qui est traitée dans le second élément de l’AG n’est pas envisagée simplement dans 32
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Ms Ringier, 205: „In diesem Schmerz hat es sich selbst erfaßt, es hat seinen Schmerz erfaßt; oder es hat sich gewußt als das, in welchem der Gegensatz selbst ist, und hat ihn erfaßt. Es ist die Idee der Menschwerdung Gottes unter den Völkern zur Anschauung gekommen, die Einheit der göttlichen und der menschlichen Natur.“ [„La conscience de soi s’est comprise ellemême dans la douleur du monde; elle s’est comprise comme le lieu même de la contradiction. L’idée de l’incarnation de Dieu parmi les peuples est devenue intuition, comme unité de la nature humaine et de la nature divine.“] Ms Ringier, 205: „Das Bewußtsein, daß das göttliche Selbst eins ist mit demmenschlichen, ist in den Menschen gekommen. Indem der Mensch es ergreift, ist er selbst ein Göttliches. Dies ist notwendig einem anderen Volke übertragen worden: dem Germanischen“. [„La conscience que le Soi divin est un avec le Soi humain est parvenue chez les hommes. Dès le moment que l’être humain comprend cela, il est lui-même un être divin (ein Göttliches). Et c’est échu à un peuple particulier, le peuple allemand.“] Peu d’articles sur la question.
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l’objectivité. C’est la religion en tant qu’elle a le même contenu que la philosophie. Le modèle de la réciprocité dépasse-t-il le modèle de l’intersubjectivité? La question que je pose est de savoir quelles sont les ressources hégéliennes pour penser aujourd’hui la dimension théologico-politique de la Communio Sanctorum. L’idée de théologie politique est-elle hégélienne? Je m’appuie sur le collectif récent publié par Philippe Capelle, Dieu et la cité.35 La question de l’intersubjectivité a été étudiée par des interprètes italiens, Claudia Melica,36 en relation avec la communauté religieuse (Gemeinde), et Luigi Ruggiu, par rapport à la socialité de la raison.37 L’intersubjectivité est présentée par Hegel, de façon très rigoureuse, comme étant l’élargissement de la conscience de soi devenue Esprit. C’est à la fin du chapitre 6 (der Geist) de la Phänomenologie des Geistes, et cette fin provoque le passage à la Religion. Il s’agit de la communauté apostolique où règne le pardon mutuel et la transparence entre les consciences. La question de la réalité de l’Esprit est-elle immanente à la relation d’échange (ce qui est le cas dans la société civile bourgeoise), ou s’avère-t-elle présente au-delà ou en-deçà de l’échange, dans une communication plus profonde? La communion des saints a une signification politique: on sait que, pour Bergson, pas très original en cela, la démocratie moderne est issue du christianisme, en particulier avec l’inspiration de l’égale dignité de tous, qui s’oppose radicalement à la démocratie antique fondée sur une autre idée de la citoyenneté comme privilège d’une élite. La dignité humaine n’est pas attachée à l’individualité particulière, mais à tout homme en général en tant que personne. Mais, comme l’avait brillamment montré Tocqueville, le vice interne de la démocratie moderne est sa tendance à l’égalitarisme, autrement dit son refus de reconnaître les différences de mérite entre les personnes. Or la Communio sanctorum est l’idée que les mérites des meilleurs servent au salut des plus médiocres; autrement dit, les saints obtiennent le salut du monde; l’élite du sacrifice obtient le rachat de la masse des pécheurs. Il y a là un sens profondément politique de ce dogme spirituel. Pour Bergson, l’humanité est entraînée à la stagnation par sa propre pesanteur, mais les héros et les saints sont ceux qui l’empêchent de stagner en la poussant vers les sommets. Certes Bergson ne se limite pas aux saints, et il admire le héros que fut Napoléon, lequel, sans aucune sainteté, a transformé l’histoire de l’Europe en entraînant les peuples eu-
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P. Capelle, Dieu et la cité, Le statut contemporain du théologico-politique, Paris, Le Cerf, 2008. C. Melica, La comunità dello spirito in Hegel, Padoue, Pubblicazioni di Verifiche. 40 (2007), ch.4 „Intersoggetività e Religione“, 127-169. L. Ruggiu, „Spirito assoluto, intersoggettività, socialità della ragione“. In: Giornale di Metafisica. XXV (2003), 393-418; „Intersoggettività e universale della communicazione“. In: L’universal ermeneutica. Hrsg. von G. Nicolaci et L. Samona. Gênes, Tilgher, 2003, 13-28.
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ropéens, malgré eux, et malgré lui-même, dans le sens de la démocratie.38 Cette analyse ne garde que la dimension politique de la communion des saints, négligeant la dimension ecclésiale et la recherche de la pureté morale. Mais elle montre que l’élitisme n’est en rien opposé au progrès des peuples tout entiers. Mais les saints et les héros ne forment pas un groupe clos; ils constituent une chaîne, où une „trait d’union“ lie les hommes exceptionnels entre eux.39 Il n’est pas question de „confessionnaliser“ le problème de l’intersubjectivité et de la reconnaissance mutuelle; ce qui est certain, c’est la provenance théologique de cette problématique. Mais elle doit être laïcisée pour que le message chrétien soit préservé dans son intégrité.
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Voir en particulier la lettre du 6 novembre 1933 à A. Suarès. In: H. Bergson, Correspondances. Éd. A. Robinet, Paris, PUF, 2002, 1426. Cette signification de la communion des saints comme modèle théologico-politique mérite d’être approfondie pour elle-même, et elle fera l’objet d’une prochaine étude.
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NORBERT WASZEK
Moses Mendelssohn und die Haskala in zwei innerjüdischen Rückblicken des 19. Jahrhunderts: Moritz Daniel Oppenheim und Heinrich Heine 1
Die jüdische Aufklärung (oder Haskala) um Moses Mendelssohn war lange ein Stiefkind der Forschung, denn was durch die zwölf Jahre des Hitlerregimes unterbrochen worden war, kam auch in den ersten beiden Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg nur mühsam wieder in Gange. Erst ab den späten 1960er und frühen 1970er Jahren erschienen wieder wichtige Studien, wie diejenigen von Michael Meyer und Alexander Altmann.2 In den 1990er Jahren gewann die Forschung zwar schon an Momentum,3 doch erst in den letzten zehn Jahren haben sich die einschlägigen Bemühungen zu einer breiteren Forschungsliteratur verdichtet und ausgefächert, aus welcher der Übersichtsband von Christoph Schulte, die Bände von Shmuel Feiner und die umfangreiche Studie Moses Mendelssohn: Begründer des modernen Judentums von Dominique Bourel wohl eine besondere Erwähnung verdienen.4 Bestimmten Fragen und Debatten der Forschung – wie etwa über den zeitlichen Verlauf sowie die philosophiegeschichtliche Einordnung und die inhaltliche Entwicklung der jüdischen Aufklärung –, soll in der Folge indirekt, über 1
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Eine erste Fassung dieses Beitrags wurde am 26. April 2010 im Rahmen der gemeinsamen Ringvorlesung ETH und Universität Zürich „Das Judentum und die Wissenschaften“ vorgetragen. Für die Tagung in Hagen wurde der Beitrag überarbeitet und um einen dritten Abschnitt gekürzt, der gesondert erscheinen soll. M. Meyer, The Origins of the Modern Jew. Detroit 1967 – deutsche Übers. von E.-P. Wiekkenberg, unter dem Titel: Von Moses Mendelssohn zu Leopold Zunz: jüdische Identität in Deutschland; 1749-1824. München 1994; A. Altmann, Moses Mendelssohn: a biographical study. London 1973. Gründer/Rothenstreich (Hrsg,), Aufklärung und Haskala in jüdischer und nichtjüdischer Sicht. Heidelberg 1990; Ismar Schorsch, From text to context: the turn to history in modern judaism. Hanover 1994; Michael Graetz, „Jüdische Aufklärung“, in: Breuer (Hrsg.), Deutschjüdische Geschichte in der Neuzeit. München 1996, Bd I, 249-358. Ch. Schulte, Die jüdische Aufklärung: Philosophie, Religion, Geschichte. München 2002; Shmuel Feiner veröffentlichte gemeinsam mit David Sorkin den Tagungsband New Perspectives on the Haskalah. London & Portland/Oregon 2001, dann auch eine Monographie Mahapechat haneorut, tenu’at hahaskala hajehudit bameah ha-18. Jerusalem 2002, von welcher die deutsche Ausgabe, übersetzt von Anne Birkenhauer, unter dem Titel Haskala – Jüdische Aufklärung. Geschichte einer kulturellen Revolution erschien: Hildesheim & Zürich 2007. D. Bourel, Moses Mendelssohn: La naissance du judaïsme moderne. Paris 2004; die deutsche Ausgabe, übersetzt von Horst Brühmann, erschien unter dem Titel Moses Mendelssohn: Begründer des modernen Judentums. Zürich 2007. Zuletzt erschienen: Gerhard Lauer, Die Rückseite der Haskala: Geschichte einer kleinen Aufklärung. Göttingen 2008, sowie der Tagungsband Buchenau (Hrsg.), Haskala et Aufklärung: Philosophes juives des Lumières allemandes. Paris 2009 [Revue Germanique internationale. Neue Folge, N° 9].
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die Rezeptionsgeschichte des 19. Jahrhunderts nachgegangen werden. Statt diese Rezeptionsgeschichte erschöpfend darstellen zu wollen, soll es dabei exemplarisch um zwei ihrer unbestrittenen Höhepunkte gehen, die sich in vielfacher Hinsicht ergänzen: neben Heinrich Heine, den sicher bedeutendsten deutsch-jüdischen Schriftsteller, soll der nur wenige Jahre jüngere Moritz Daniel Oppenheim (1800-1882) treten, der herausragende Maler des emanzipierten jüdischen Bürgertums. Dass der Weg über die Rezeptionsgeschichte kein Umweg ist, dürfte in der Durchführung selbst deutlich werden, doch seien zwei Argumente für diese Vorgehensweise schon eingangs angesprochen. Zunächst gelingt es dem Maler wie dem Schriftsteller, vieles, was sonst nur trokkene Gelehrsamkeit bliebe, lebendig vor unsere Augen treten zu lassen. Dann wird der Griff zur Rezeptionsgeschichte auch dadurch legitimiert, dass Heine und Oppenheim so erfolgreich waren. Heines Bücher wurden und werden mehr gelesen (Oppenheims Bilder werden mehr betrachtet), als diejenigen von Mendelssohn selbst oder gar diejenigen der noch unbekannteren Maskilim, der weiteren Vertreter der jüdischen Aufklärung. Unsere Wahrnehmung der Haskala ist daher unausweichlich und entscheidend von dieser Wirkungsgeschichte geprägt. Wenn es eine der Grundregeln der Hermeneutik ist, in den Worten Hans-Georg Gadamers, „soviel geschichtliche Selbstdurchsichtigkeit zu erwerben, wie […] nur irgend möglich ist“,5 dann erwächst daraus auch die Aufgabe, uns voll bewusst zu machen, genau welches Bild von der Haskala uns das 19. Jahrhundert überliefert hat, damit wir es kritisch prüfen können. Speziell für Heine tritt noch ein weiteres, drittes Argument hinzu: mag er als Dichter und Prosaschriftsteller inzwischen auch endlich den Rang eines unbestrittenen Klassikers errungen haben, wird seine bedeutende Rolle als Historiker der Religion und Philosophie wohl immer noch zu wenig anerkannt, seine Leistung als eigenständiger Philosoph gar nur von wenigen gewürdigt. In diesem Kontext könnten seine Ausführungen über die jüdische Aufklärung, die sich in seinem Buch über die Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland und in anderen Texten finden, exemplarisch zeigen, dass Heine es auch als Vertreter der Philosophie- und Ideengeschichte verdient, ernst genommen zu werden, selbst wenn er unterhaltsam schreibt und sich mit Humor und Ironie ausdrückt.
I. Mit Oppenheims Gemälde zum Begriff und zur philosophiegeschichtlichen Verortung der Haskala Keinen Zweifel kann es daran geben, dass Moses Mendelssohn (1729-1786) im Zentrum der jüdischen Aufklärung stand. Der aus bescheidenen, ja ärmlichen Verhältnissen in Dessau aufgestiegene, erst viel später sozusagen als 5
Hans-Georg Gadamer, Hermeneutik I: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Tübingen 1986 [Gesammelte Werke. Bd 1], 4.
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MOSES MENDELSSOHN UND DIE HASKALA
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zweiter Moses, als fast schon legendärer Begründer des modernen Judentums gefeierte Mendelssohn hatte es in den letzten Jahrzehnten seines Lebens nicht nur zu einer gutbürgerlichen Existenz gebracht,6 sondern auch dazu, dass er von Juden wie Christen als Familienvater, als Kaufmann und schließlich als Philosoph weithin geachtet wurde. Schon als Gewinner, vor Immanuel Kant, der Preisfrage des Jahres 1763 der Berliner Akademie der Wissenschaften,7 dann spätestens als Autor des philosophischen Bestsellers Phädon oder über die Unsterblichkeit der Seele (1767)8 hatte es Mendelssohn als Gelehrter zu weitem Ruhm und Ansehen gebracht. Gerade für den deutschen Kontext besiegelte die 1754 einsetzende, dann lebenslange Freundschaft mit Lessing diesen Ruhm.9 Schon bald nachdem sie sich kennen gelernt hatten, verhalf Lessing Mendelssohn zur Publikation seiner ersten deutschen Schrift, den 1755 erschienenen Philosophischen Gesprächen,10 und die Tatsache, dass Mendelssohn dem am Ende von Lessings Leben (1779) erschienen Nathan der Weise sozusagen als Prototyp diente,11 verwandelte Mendelssohn endgültig in eine Ikone, den Inbegriff der jüdischen Aufklärung. Viele dieser einleitenden Bemerkungen lassen sich in dem berühmten Gemälde „Lessing und Lavater zu Gast bei Moses Mendelssohn“ (1856) von Moritz Daniel Oppenheim wiederfinden.12 Oppenheim war damals schon für seine Porträts, u.a. von Heine (1831), von Ludwig Börne (ca. 1835), der Familie Rothschild, usw., sowie für seine Bilder aus dem jüdischen Familienleben und der jüdischen Zeitgeschichte (z.B. die „Heimkehr des [jüdischen] Freiwilligen aus den Befreiungskriegen zu den nach alter Sitte lebenden Seinen“; 1833/34) sehr berühmt. So ist es nicht erstaunlich, dass auch das Gemälde, welches hier im Mittelpunkt stehen soll, bald auch als Holzschnitt weite Verbreitung fand und in dieser Form zum Beispiel 1860 in der Zeitschrift Die Gartenlaube (8. Jahrgang, Nr. 25, S. 389) erschien. Als einer der wenigen jüdischen Maler seiner Generation, der akademisch an der Münchner Kunstakademie ausgebildet worden war, stammte Oppenheim nicht nur aus einem orthodoxen Elternhaus 6
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Zunächst (ab etwa 1754) als Buchhalter, später als Geschäftsführer und Teilhaber des Seidenhändlers und Seidenfabrikanten Isaak Bernhard. Moses Mendelssohn, Abhandlung über die Evidenz in metaphysischen Wissenschaften, welche den von der Kgl. Acad. d. Wiss. in Berlin auf das Jahr 1763 ausgesetzten Preis erhalten hat: Nebst noch einer Abhandlung über dieselbe Materie [von I. Kant: Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral]. Berlin 1764. Moses Mendelssohn, Phaedon oder über die Unsterblichkeit der Seele: in drey Gesprächen. Berlin & Stettin 1767. Noch im Widmungsschreiben seiner Psalmenübersetzung wird Mendelssohn über den am 15. Februar 1781 verstorbenen Lessing sagen, „wird er [Lessing; N.W.] doch für mich nie tod seyn“; Die Psalmen. Uebersetzt von Moses Mendelssohn. Frankfurt und Leipzig 1787, VI. Moses Mendelssohn, Philosophische Gespräche. Berlin 1755. Weniger bekannt ist, dass auch die junge Frau, Recha, die in Lessings Stück als Nathans Tochter erzogen wurde, ebenfalls ein Vorbild in Mendelssohns zweiter Tochter Recha/Reikel (geboren 1767, nach anderen Quellen 1766; gestorben 1831) besaß. Auch Ch. Schulte (2002; s.o. Anm. 4), 7-12, begann sein Buch mit einem längeren Hinweis auf dieses Gemälde.
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in Hanau, sondern er blieb dem Judentum sein Leben lang treu, zu einer Zeit als viele seiner Glaubensgenossen mit der christlichen Taufe liebäugelten. Gerade durch seine Bilder mit spezifisch jüdischen Themen und Gegenständen wurde Oppenheim der Maler des emanzipierten jüdischen Bürgertums.13 Das Bild von 1856 entstand fast hundert Jahre nach den Ereignissen, die es darzustellen vorgibt, denn der aus Zürich stammende und dort später wieder wirkende Johann Caspar Lavater,14 hat Mendelssohn wohl nur im Jahre 1763 besucht, als er sich länger in Berlin aufhielt (genauer vom 27. März bis 29. April 1763).15 Der am 15. November 1741 geborene Lavater war damals, 1763, erst im 22. Lebensjahr, also keineswegs der ältere Herr, als welcher er auf Oppenheims Gemälde zu sehen ist. Dies muss man dem Maler nachsehen, denn hätte er Lavater als jungen Mann dargestellt, hätten ihn sicher nur wenige Betrachter erkannt – und der ernste, ja, dramatische Charakter des ganzen Bildes wäre vielleicht verloren gegangen. Auch ist es ziemlich unwahrscheinlich, dass Lessing und Lavater Mendelssohn je gleichzeitig besuchten, denn als Lavater in Berlin weilte, arbeitete Lessing schon seit mehreren Jahren als Sekretär des Generals Tauentzien in Breslau (wo er die Jahre von 1760 bis 1765 größtenteils verbrachte und nur zu gelegentlichen Besuchen nach Berlin kam).16 Da diese Daten leicht zu überprüfen waren, dürfte auch Oppenheim sie gekannt haben, als er das Bild malte. Das Gemälde ist also nicht der Versuch, ein historisches Ereignis zu rekonstruieren; eher ist es in doppeltem Sinne Teil der Rezeptionsgeschichte: einerseits bereits ein Produkt der Stilisierung und Legendenbildung um Mendelssohn, die schon zu seinen Lebzeiten eingesetzt hatten und sich nach dessen Tod durch die vielen hagiographischen Nachrufe und biographischen Berichte fortsetzten, andererseits gibt Oppenheim durch sein berühmtes Bild diese Stilisierung verstärkt in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts und darüber hinaus weiter. Oppenheims Bild ist also eine freie Komposition, der es aber doch gelingt, eine bestimmte Konstellation überzeugend darzustellen. Sofort sichtbar wird der bürgerliche Aufstieg Mendelssohns: sein roter Rock, Mobiliar und Accessoires wie der Leuchter, die Bilder an den Wänden und das Schachbrett auf dem Tisch sind diejenigen einer guten Bürgerstube, nicht mehr der ärmlichen Talmudschule in Dessau. Auch die hereintretende Fromet (geborene Gugenheim, 1737-1812), Mendelssohns Gattin, elegant gekleidet und mit Tassen auf einem Tablett, bezeugt die bürgerliche Geselligkeit, die im Hause Mendels13
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Georg Heuberger/Anton Merk, Moritz Daniel Oppenheim – Die Entdeckung des jüdischen Selbstbewußtseins in der Kunst. Köln 1999. Zunächst an der Waisenhaus- (ab 1769 als Diaconus, ab 1775 als Pfarrer), dann an der Peterskirche (ab 1778 als Diaconus, ab 1786 als Pfarrer – zugleich mit der letztgenannten Berufung wurde er auch Mitglied des Konsistoriums); vgl. Franz Muncker, „Lavater, Johann Caspar“, in: Allgemeine Deutsche Biographie [ADB], herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 18 (1883), 783–793, hier 785. Vgl. D. Bourel (2007; s.o. Anm. 4), 283. Carl Christian Redlich, „Lessing, Gotthold Ephraim“, in: ADB, Bd 19 (1884), 756-802.
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sohn herrschte. Das volle Bücherregal im Hintergrund und die Folianten im linken, dunklen Vordergrund des Bildes (auf dem Holzschnitt besser zu erkennen) weisen den Gastgeber als Gelehrten aus. Das offene Buch zwischen Mendelssohn und Lavater auf dem Tisch zeigt, dass es sich bei dem Gespräch um eine gelehrte oder wissenschaftliche Diskussion handelt. Dass es sich um ein jüdisches Haus handelt, wird auf dem Gemälde nur diskret angedeutet – durch die Art des Messingleuchters,17 den biblischen Spruch auf dem Türrahmen,18 sowie den Kessel und das Becken aus Kupfer, die zum rituellen Händewaschen dienten – doch konnten stärkere Zeichen fehlen, da der berühmte Hausherr selbst das Judentum auch symbolisch vertritt. Entscheidend ist schließlich, dass Oppenheims Bild den keineswegs selbstverständlichen Besuch von zwei christlichen Gelehrten bei dem Juden Mendelssohn dokumentiert. Damit scheint die Trennung durch sichtbare oder unsichtbare Ghettomauern überwunden. Auch sind es nicht irgendwelche Christen, die hier zum Plaudern kamen, sondern der berühmte Lessing, den weit über den deutschen Sprachraum hinaus wirkenden Wortführer der deutschen Aufklärung, und der immerhin weit über die Grenzen Zürichs hinaus bekannte Lavater, die sozusagen von gleich zu gleich mit Mendelssohn diskutieren. Diese Gesellschaft ist also ein Zeichen für die Anerkennung, die Mendelssohn unter christlichen Gelehrten genoss. Natürlich spielt die Szene auch auf die heikle Lage an, in welche Lavater Moses Mendelssohn Jahre nach seinem Berlinaufenthalt einmal gebracht hat. Im Rahmen seiner Arbeit an einer deutschen Ausgabe von Charles de Bonnets philosophischer Untersuchung der Beweise für das Christentum (die 1769 in Zürich erschien)19, deren zweiter Teil übrigens Mendelssohn gewidmet ist, forderte Lavater Mendelssohn auf, Bonnets Beweise öffentlich zu widerlegen oder, sollte er dies nicht können, daraus wie Sokrates die Konsequenzen zu ziehen, sich also, so ist die Aufforderung wohl zu verstehen, taufen zu lassen.20 Dass diese Aufforderung Mendelssohn in ein Dilemma stürzte, wie es auch Bonnet sofort verstand und an Lavater schrieb,21 ist leicht nachvollziehbar. Hätte sich Mendelssohn auf eine überzeugende Widerlegung eingelassen, hätte 17
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Der Kenner identifiziert den Leuchter als eine unter dem Namen Judenstern damals verbreitete Lampe, die sowohl mit Kerzen (oben) als auch mit Öl (unten) betrieben werden konnte. Das Zitat in hebräischen Buchstaben entstammt dem 5. Buch Mose (28:6) und lautet in der Übersetzung Luthers „Gesegnet wirst du sein, wenn du eingehst, gesegnet, wenn du ausgehst.“ Vgl. Psalm 121,8: „Der Herr behüte deinen Ausgang und Eingang von nun an bis in Ewigkeit.“ Herrn C. Bonnets, verschiedener Akademieen Mitglieds, Philosophische Palingenesie. Oder Gedanken über den vergangenen und künftigen Zustand lebender Wesen: Als ein Anhang zu den letztern Schriften des Verfassers; und welcher insonderheit das Wesentliche seiner Untersuchungen über das Christenthum enthält. 2 Theile. Aus dem Französischen übersetzt von Johann Kaspar Lavater. Zürich 1769. In Bourels Buch über Mendelssohn (2007; vgl. die Angaben in Anm.4) finden sich viele Einzelheiten zur „Lavater-Affäre“, wie das einschlägige Kapitel heißt (279-318), dort ist auch (289) der genaue Wortlaut der Aufforderung Lavaters nachzulesen. Vgl. Bourel (2007), 289f.
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er sich wohl den Ruf eines Atheisten zugezogen und auf jeden Fall seinen Status als geduldeter Jude im christlichen Berlin kompromittiert. Wäre ihm die Widerlegung aber nicht gelungen, hätte er seinen Ruf als Aufklärer und Philosoph verspielt und vielleicht sogar zum Christentum konvertieren müssen. Viele deutsche Aufklärer, wie Lessing, Nicolai und Lichtenberg, verstanden die Verlegenheit, in welche Lavater Mendelssohn damit brachte, und bezogen sofort für Mendelssohn und gegen Lavaters Ansinnen Stellung. Mendelssohn selbst zog sich diplomatisch aus der Schlinge: als Angehöriger einer unterdrückten und nur geduldeten Minderheit stünde es ihm nicht an, öffentlich die Gründe darzulegen, warum er der Religion seiner Väter treu bliebe – eine solche Darlegung würde das friedliche Zusammenleben der Angehörigen verschiedener Konfessionen und den Status der Juden in Preußen gefährden und er müsse von daher auf eine solche verzichten. Auch Lavater scheint, vielleicht auch angesichts der breiten Kritik an seinem Vorgehen, diese Erklärung akzeptiert und nicht mehr auf einer Antwort Mendelssohns bestanden zu haben. Die Beurteilung seiner Vorgehensweise geht über den Rahmen dieses Beitrags hinaus und mag dem Leser überlassen bleiben. Oppenheims Gemälde, war es auch keine genaue historische Rekonstruktion – Lavaters Anfrage an Mendelssohn wurde gar nicht mündlich vorgetragen und erfolgte erst etwa sechs Jahre nach Lavaters Besuchen bei ihm –, gelingt jedenfalls eine dramatische Zuspitzung der ganzen Auseinandersetzung, die es sozusagen bildlich auf den Punkt bringt. Haltung und Gestik des Mendelssohn am Ärmel zupfenden Lavaters dürften für Oppenheim eine Weise sein, dessen missionarischen Eifer eher kritisch zu würdigen. Dass Lessing nicht mit am Tisch sitzt, scheint seine Distanz zu Lavaters Anliegen ebenso zum Ausdruck zu bringen, wie sein vielleicht empörter, jedenfalls wenig freundliche Gesichtsausdruck, der Lavater gilt. Dass Lessing räumlich Mendelssohn näher steht, soll dem Betrachter des Bildes wohl nahe legen, dass er auch inhaltlich zu Mendelssohn stand; ebenso wie die räumliche Entfernung zwischen Lessing und Lavater, sie sind durch einen Stuhl getrennt, den Betrachtern des Bildes wohl zeigen soll, dass sie in der Auseinandersetzung gegensätzliche Auffassungen vertreten. Soviel zum Bild von Oppenheim selbst, das tatsächlich eine populäre Einführung in die Konstellation und Problemlage der jüdischen Aufklärung bieten kann. Es sollte aber auch nicht verschwiegen werden, dass Oppenheim bestimmte Fragen vernachlässigt oder zumindest ausgeklammert hat. Dadurch, dass Mendelssohn der einzige Vertreter der jüdischen Aufklärung auf dem Bild ist, bleiben einerseits innerjüdische Auseinandersetzungen um die Haskala ausgespart, obwohl Mendelssohn in bestimmten orthodoxen Kreisen keineswegs unumstritten war. Zweitens vermittelt das Bild dadurch den Eindruck, der auch in der Forschung allerdings erst in den letzten Jahrzehnten in Frage gestellt wurde, als hätte Mendelssohn die jüdische Aufklärung sozusagen als Einzelkämpfer durchgesetzt. In Wahrheit konnte die Haskala als Aufklärungsbewegung natürlich nur die Leistung einer ganzen Trägerschicht, einer Gruppe von Maskilim sein – und so ist es leicht nachvollziehbar, dass sich
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die Forschung neuerdings nicht mehr nur auf Mendelssohn konzentriert, sondern auch andere Vertreter der Haskala wiederentdeckt und ihnen Aufmerksamkeit schenkt. Dass Saul Ascher (1767-1822), Lazarus Bendavid (17621832), David Friedländer (1750-1834), Markus Herz (1747-1803) und Salomon Maimon (1754-1800), um nur einige zu nennen, die jüdische Aufklärung nicht nur mitgetragen haben, sondern oft auch ein originelles, eigenständiges Profil aufwiesen, ist dann bald deutlich geworden. Da die eben genannten Vertreter der Haskala alle um ungefähr eine Generation jünger waren als Mendelssohn selbst, stellte sich damit auch die Frage nach der Dauer der jüdischen Aufklärung und diejenige nach den inhaltlichen Entwicklungen, welche die Bewegung nach Mendelssohns Tod genommen hat – Fragen, auf welche noch einzugehen ist. Zunächst sind indessen noch die Fragen nach Herkunft und Definition des Begriffs Haskala zu behandeln. Als terminus technicus für die jüdische Aufklärungsbewegung des 18. Jahrhunderts ist die Bezeichnung Haskala erst im Rückblick auf die Bewegung gebräuchlich geworden, denn diese spezifische Verwendung des Wortes scheint erst ab 1831 nachgewiesen,22 wohingegen Mendelssohn das Wort Haskala nur in einem weniger präzisen Sinn, nämlich als Synonym für ‘Philosophie’ zu gebrauchen scheint. Natürlich muss noch hinzugefügt werden, dass das Wort Haskala, im Gegensatz zu dem deutschen Wort Aufklärung, welches sich erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts durchsetzen konnte, schon alt war, denn wir finden das Wort, das etymologisch auf das hebräische Substantiv Sechel (= Vernunft oder Einsicht) zurückzugehen scheint, bereits in der Bereschit Rabba (60), einer Auslegungsmidrasch zum Buch Genesis aus dem 5. Jahrhundert. Auch bei den jüdischen Autoren des Mittelalters wurde das Wort Haskala im Sinne von Einsicht und Vernünftigkeit gebraucht. Die Vertreter der jüdischen Aufklärung benutzten als Selbstbezeichnung eher die Bezeichnung Maskilim (ursprünglich bezeichnete dies Wort einfach einen ‘Gelehrten’, erst im späten 18. Jahrhundert gewann es die Bedeutung von ‘aufgeklärter Mann’ oder ‘Anhänger der Aufklärung’), die noch zu Mendelssohns Lebzeiten geläufig wurde.23 Wie bei der europäischen Aufklärung insgesamt geht es auch bei der Haskala um fortschrittliche Ideen, um deren Träger und Verbreitung und schließlich um die Epoche, welche von diesen Erscheinungen charakterisiert wird. Wie der Begriff Aufklärung ist also auch derjenige der Haskala mehrdeutig: einerseits geht es philosophiegeschichtlich um bestimmte Ideen wie Kritik, Freiheit, Toleranz, usw., die damals besonders intensiv bearbeitet und in einer spezifischen Weise ausgeprägt wurden, über die philosophisch-systematisch natürlich auch ganz unabhängig vom 18. Jahrhundert nachgedacht 22
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In einem Aufsatz von Juda Loeb Jeiteles (1773-1838) in der auf Hebräisch erscheinenden Wiener Zeitschrift Bikkurej HaIttim; vgl. hierzu und zum Folgenden Ch. Schulte (2002), 17. Ch. Schulte (2002, 223) verweist auf die einschlägige Verwendung des Wortes Maskilim in einem Beitrag von Isaak Euchel (1756-1804) zu der in Königsberg erscheinenden hebräischen Zeitschrift Nachal HaBesor (1783).
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werden kann; andererseits geht es sozialgeschichtlich um bestimmte Konstellationen, wie Aufstieg des Bürgertums, Entstehung von Öffentlichkeit, von neuen Lesekulturen und Publikationsstrukturen usw., welche die Verbreitung solcher Ideen im 18. Jahrhundert (oder noch enger zu einem bestimmten Zeitpunkt des 18. Jahrhunderts) ermöglichten und dann weiter förderten. Sowohl ideen- als auch sozialgeschichtlich kann es kein Zufall sein, dass sich die Haskala zunächst in Preußen, genauer in preußischen Städten, zuvörderst natürlich in Berlin, aber auch etwa in Königsberg und Breslau entfaltete. Wie die Aufklärung in anderen Gegenden Europas war auch die Haskala vorzugsweise eine urbane Erscheinung. Es waren die Städte, die den Maskilim wie anderswo den nichtjüdischen Aufklärern die Gelegenheit boten, einerseits durch einen täglichen Umgang untereinander eine Gruppe zu bilden, andererseits die urbanen Berufe auszuüben, die sie als Kaufleute oder Unternehmer, wie Mendelssohn und Friedländer, als Ärzte, wie Markus Herz, als Lehrer, wie Bendavid, usw. hatten. Ideengeschichtlich bot Preußen einen günstigen Nährboden für die Haskala, denn Berlin war gleichzeitig ein Zentrum der deutschen Aufklärung mit Diskussionsrunden wie dem früh gegründeten „Montagsclub“,24 dann der berühmten „Mittwochsgesellschaft“25 um Friedrich Nicolai (1733-1811), an welcher Mendelssohn Anteil nahm, und die über so bedeutende Mitglieder verfügte wie Ernst Ferdinand Klein (1744-1810) und Karl Gottlieb Suarez (1746-1798), die Schöpfer des Preußischen Landrechts. Auch so bekannte aufklärerische Publikationsorganen wie die Allgemeine Deutsche Bibliothek (1765 bis 1806)26 oder die Berlinische Monatsschrift27 waren in Berlin behei24
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Der „Montagsclub“ (später auch „Montagsklub“) wurde bereits 1749 (nach anderen Quellen sogar schon 1748) gegründet; vgl. Der Montagsklub in Berlin 1749-1899. Fest- und Gedenkschrift zu seiner 150sten Jahresfeier. Hrsg. von Gustav Adolf Sachse und Eduard Droop. Berlin 1899; Kenneth Keeton, „The Berliner Montagsklub, a centre of German Enlightenment“, in: Germanic Review. Bd 39 (1961), 148-153. Vgl. Günter Birtsch, „Die Berliner Mittwochsgesellschaft“, in: Bödeker/Herrmann (Hrsg.), Über den Prozess der Aufklärung in Deutschland im 18. Jahrhundert: Personen, Institutionen und Medien. Göttingen, 1987, 94-112; James Schmidt, „The Question of Enlightenment: Kant, Mendelssohn, and the Mittwochsgesellschaft“, in: Journal of the History of Ideas. Bd 50:2 (1989), 269–291; Birgit Nehren, „Aufklärung – Geheimhaltung – Publizität: Moses Mendelssohn und die Berliner Mittwochsgesellschaft“, in: Albrecht (Hrsg.), Moses Mendelssohn und die Kreise seiner Wirksamkeit. Tübingen 1994, 93-111; Henri Hümpel, „Was heißt Aufklären – Was ist Aufklärung? Rekonstruktion eines Diskussionsprozesses, der innerhalb der Gesellschaft von Freunden der Aufklärung (Berliner Mittwochsgesellschaft) in den Jahren 1783-1789 geführt wurde“, in: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands: Zeitschrift für vergleichende und preußische Landesgeschichte. Bd. 42 (1994), 185-226; Günter Birtsch, „Die Berliner Mittwochsgesellschaft“, in: Albrecht (Hrsg.), Formen der Geselligkeit in Nordwestdeutschland 1750 – 1820. Tübingen 2003, 423-439; Eberhard Fromm, Herren der Mittwochsgesellschaft: zur Geschichte der Berliner Aufklärung. Berlin 2005; Ernst Haberkern, Limitierte Aufklärung: die protestantische Spätaufklärung in Preußen am Beispiel der Berliner Mittwochsgesellschaft. Marburg 2005. Vgl. Günther Ost, Friedrich Nicolais Allgemeine Deutsche Bibliothek. Berlin 1928; Ute Schneider, Friedrich Nicolais Allgemeine Deutsche Bibliothek als Integrationsmedium der Gelehrtenrepublik. Wiesbaden 1995.
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matet. Königsberg war die Stadt Kants, der die zweite Generation der Maskilim entscheidend beeinflusste. Auch in sozialgeschichtlicher Hinsicht war Preußen ein günstiges Umfeld für die Haskala. Zwar muss das von Friedrich II. 1750 erlassene „General-Reglement“ als Verschlechterung der jüdischen Lebensbedingungen angesehen werden, doch sollten sich die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen nach dem Siebenjährigen Krieg rasch verbessern und es den in Preußen lebenden Juden erlauben, an dem erweiterten Wohlstand zu partizipieren. Mit der Aufklärung auch sonst einhergehende Veränderungen der Lesekultur, des Buchdrucks und -handels und insgesamt der Publikationsstrukturen und des Verlagswesens lassen sich auch gerade in Berlin beobachten. Auf der Basis der verbesserten wirtschaftlichen Lage intensivierten sich auch die geselligen Kontakte unter Juden und Nichtjuden. Solche sozialen Transformationen gingen der Haskala voraus und ermöglichten dann ihre Entfaltung. Wie die Aufklärer in ganz Europa wollten auch die Maskilim zunächst zum Selberdenken gelangen und sich bestimmte Kenntnisse und Wissenschaften erst aneignen, ehe sie diese an eine möglichst große Zahl ihrer Mitmenschen weitergeben wollten. Ein deutsch-jüdischer Forscher, der in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu Weltruhm gelangte, Peter Gay (geb. 1923 in Berlin), verfasste in den 60er Jahren ein berühmtes zweibändiges Standardwerk über die Aufklärung,28 in welchem er die europäische Aufklärung als eine große Familie beschrieb: wie in einer Familie hätte es darin unterschiedliche Persönlichkeiten und manchmal stürmische Auseinandersetzungen gegeben, aber sie wäre eben doch eine Familie mit vielen Gemeinsamkeiten und Übereinstimmungen geblieben. Trotz solcher Unterschiede wie etwa desjenigen, dass sich die französische Aufklärung manchmal radikal gegen alle Religion oder mindestens gegen die katholische Kirche stellte, die deutsche Aufklärung aber, wie man im Anschluss an die bösen Bemerkungen des 10. Abschnitts von Nietzsches Antichrist sagen könnte, eine Lehre von und vielleicht auch für Pfarrer und Pfarrersöhne war, oder weniger polemisch ausgedrückt, eine Aufklärung, welche die evangelische Kirche von innen heraus verändern und verbessern wollte –, trotz solcher nicht unerheblichen Unterschiede überwog für Peter Gay die Übereinstimmung von Zielen und Methoden so sehr, dass er zwar regionale Varianten und Sonderwege einräumte, dennoch aber sein Bild von einer Familie, von einer großen europäischen Aufklärungsbewegung bewahren und verteidigen konnte.29 Nachdem nun schon Parallelen und Gemeinsamkeiten zwischen der Haskala und der euro-
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Berlinische Monatsschrift (1783–1796). Auswahl, herausgegeben von Friedrich Gedike und Johann Erich Biester mit einer Studie von Peter Weber. Leipzig 1986. Peter Gay, The Enlightenment: An Interpretation. Bd I: The Rise of Modern Paganism [1966]; Bd. II: The Science of Freedom [1969]; zitiert wird nach der Taschenbuchausgabe: London 1973. P. Gay, Enlightenment, Bd I, 17.
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päischen Aufklärung konstatiert worden sind,30 könnte natürlich im Anschluss an Peter Gay auch danach gefragt werden, worin denn die Besonderheit, die Spezifizität der jüdischen Aufklärung gelegen habe. Um die besondere Stimme der Haskala im Chor der europäischen Aufklärung hervortreten zu lassen, wäre eingangs daran zu erinnern, dass Mendelssohn und die anderen Maskilim zwar Aufklärer sein, dabei aber immer Juden bleiben wollten. Mendelssohns Antwort an Lavater erhielt bereits einen ergreifenden Beleg für diese Haltung: „was hätte mich“, so fragt er Lavater, „an eine, dem Ansehen nach so überstrenge, so allgemein verachtete Religion fesseln können, wenn ich nicht im Herzen von ihrer Wahrheit überzeugt wäre“?31 Aus dieser doppelten Rolle, zugleich Aufklärer und Juden zu sein, erwuchs für die Maskilim eine komplexe Aufgabe. Sie schrieben notgedrungen für ein jüdisches wie für ein nichtjüdisches Publikum und mussten sich, wie Christoph Schulte sagt, gleichzeitig an „einem jüdischen Binnendiskurs und einem nichtjüdischen Außendiskurs“ beteiligen.32 Die internen, innerjüdischen Ziele blieben für die Haskala vorrangig. Die Inhalte und Werte der Aufklärung sollten möglichst allen Juden vermittelt werden, was auch bedeutete, die Ideen und Ideale der europäischen Aufklärung für ein spezifisch jüdisches Publikum aufzubereiten und gegen eine innerjüdische, meist orthodoxe oder ultraorthodoxe Opposition zu verteidigen. In diese Richtung zielte eine der wichtigsten praktischen Initiativen der Maskilim, die Gründung und Betreibung von Schulen, in denen jüdischen Kindern weltliche Bildung vermittelt wurde.33 Die noch von Mendelssohn selbst unterstützte, 1778 in Berlin eröffnete Jüdische Freyschule, wurde in dieser Hinsicht zu einer paradigmatischen, dann an vielen Orten imitierte Einrichtung.34 Auch Mendelssohns Bibelübersetzungen (der Psalmen und des Pentateuch) stehen nicht zuletzt in diesem Zusammenhang, denn er betonte immer, er habe die Arbeit „zum Nutzen der Kinder“ übernommen, damit sich diese 30
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In diesem Zusammenhang sollte auch auf die vielfältigen Bemühungen hingewiesen werden, welche die Haskala unternahm, die englische und französische Aufklärung durch Übersetzungen, Rezensionen, Popularisierungen usw. zu verbreiten. Noch am Anfang seiner Laufbahn als selbständiger philosophischer Autor, trat Mendelssohn selbst bekanntlich als Übersetzer von Rousseaus Abhandlung von dem Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen (1756) hervor. Zu Mendelssohns Bemühungen um die britische Aufklärung, siehe Fritz Pinkus, „Moses Mendelssohns Verhältnis zur englischen Philosophie“, in: Philosophisches Jahrbuch der Görres-Gesellschaft. Bd LXVII (1929), 449-498. Mendelssohns auf den 12. Dezember 1769 datiertes Schreiben an den Herrn Diaconus Lavater. Berlin & Stettin 1770 – zitiert nach Bourel (2007), 291f. Ch. Schulte (2002), 30. Vgl. hierzu: Britta L. Behm, Moses Mendelssohn und die Transformation der jüdischen Erziehung in Berlin: eine bildungsgeschichtliche Analyse zur jüdischen Aufklärung im 18. Jahrhundert. Münster 2002; Behm (Hrsg.), Jüdische Erziehung und aufklärerische Schulreform: Analysen zum späten 18. und frühen 19. Jahrhundert. Münster 2002. Vgl. den Abschnitt „Zu Mendelssohns Beteiligung an der Gründung der Freischule und seine Mitwirkung am Institut bis 1786“ in: Behm, Moses Mendelssohn… (2002), 204-210; zur Freischule insgesamt siehe auch die umfangreiche Dokumentation: Lohmann (Hrsg.), Chevrat Chinuch Nearim: die jüdische Freischule in Berlin (1778-1825) im Umfeld preußischer Bildungspolitik und jüdischer Kultusreform; eine Quellensammlung. 2 Bde. Münster 2001.
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bereits dem Text der Bibel nähern können, auch wenn ihre Hebräischkenntnisse noch unzureichend sind.35 Dahinter mag indessen auch die Absicht gesteckt haben, den jüdischen Lesern die deutsche Sprache als Brücke zur Aufklärung näher zu bringen.36 Die orthodoxe Kritik an dem Unternehmen – etwa durch den Prager Rabbiner Ezekiel Landau (1713-1793), den Oberrabbiner von Hamburg-Altona-Wandsbeck, Raphael Cohen (1722-1803) und den Frankfurter Rabbiner Pinchas Horowitz (1731-1805) – scheint ihm auch dies gerade vorgeworfen zu haben.37 Im außerjüdischen Kontext versuchten die Maskilim einerseits sich einfach an den Diskussionen der Spätaufklärung zu beteiligen, so ließe sich Mendelssohn etwa in die popularphilosophischen Bemühungen einreihen, wie sie auf christlicher Seite etwa um Christian Garve (1742-1798) betrieben wurden.38 Andererseits bestand für die jüdischen Aufklärer als Juden doch immer wieder die Notwendigkeit, sich und die Religion ihrer Väter im nichtjüdischen Umfeld zu verteidigen. Einem Grundzug der deutschen Aufklärung entsprechend – Werner Schneiders stellte bekanntlich seine Habilitationsschrift über die deutsche Aufklärung unter den Titel der Vorurteilskritik39 –, war es in diesem Rahmen eine Hauptaufgabe der Haskala, Vorurteile über die Juden zu beseitigen oder positiv gewendet für die staatsbürgerliche Gleichstellung der Juden einzutreten. Die Mehrsprachigkeit der Haskala erklärt sich nicht zuletzt durch diese komplexe und komplizierte Aufgabenstellung. Zwar schrieben die Maskilim der jüngeren Generation, wie Markus Herz, David Friedländer und Lazarus Bendavid, vorwiegend auf Hochdeutsch, denn diese Sprache war die einzige, die im nichtjüdischen Aufklärungsdiskurs benutzt werden konnte, und zu dieser Sprache als Medium der Aufklärung sollten alle jüdischen Glaubensgenossen geführt werden. Dennoch behielt auch das Hebräische eine wichtige Rolle – Mendelssohn selbst bediente sich, wie Salomon Maimon, beider Sprachen –, denn es war nicht nur grundsätzlich für den innerjüdischen Dialog prädestiniert, sondern es wurde auch gezielt eingesetzt, um denjenigen Juden, besonders den Ostjuden, die der deutschen Sprache noch nicht mächtig waren, Kenntnisse aus den modernen Wissenschaften zu vermitteln, ihnen also Aufklärungsgüter weiterzureichen. Damit das Hebräische diese Aufgabe erfüllen konnte, musste es sich von einer reinen Sakralsprache zu einer erneuerten und gereinigten Gelehrtensprache entwickeln, die den gewünschten Informationstransfer ermöglichte und auch dafür setzten sich die Maskilim also ein. Da die Aufklärung eine europäische war, war auch die 35
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Mendelssohns Brief an Avigdor Levi, vom 25. Mai 1779, in: Jubiläumsausgabe, Bd 19, 251253; Bd 20.2, 370-374; vgl. Behm, Moses Mendelssohn… (2002), 209 und Bourel (2007), 460 f. Vgl. Schulte (2002), 24 und Bourel (2007), 451. Vgl. die detaillierten Ausführungen bei Bourel (2007), 475ff. Vgl. N. Waszek, „Die Popularphilosophie“, in: [Ueberweg Neubearbeitung] Grundriss der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie des 18. Jahrhunderts. Bd 4. Hrsg. von Helmut Holzhey. Basel, wird 2013 erscheinen. Werner Schneiders, Aufklärung und Vorurteilskritik: Studien zur Geschichte der Vorurteilstheorie. Stuttgart-Bad Cannstatt 1983.
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Benutzung des Englischen und Französischen für die Vertreter der Haskala unverzichtbar und sie übersetzten und popularisierten, durch Rezensionen und auf andere Weise, wichtige Texte der französischen und englischen Aufklärung.40 Das Jiddische war bei den Maskilim hingegen verpönt, obwohl es vielen von ihnen sicher aus dem Familiengebrauch vertraut war, denn sie hielten es als Gelehrtensprache für untauglich41 – und angesichts des damaligen Zustands dieser Sprache, die sich erst später zu einer wirklichen Schriftsprache entwickeln sollte, dürften sie damit auch recht gehabt haben. Zentrale Aspekte der bisherigen Ausführungen seien noch etwas zugespitzt, ehe aus Heines Rückblick weitere Thesen über den zeitlichen Verlauf und die inhaltliche Entwicklung der Haskala gewonnen werden sollen. So gibt es in der Forschung einen weitgehenden Konsens, der sich auch mit einem der wichtigsten Selbstzeugnisse der Epoche, nämlich desjenigen von Lazarus Bendavid aus dem Jahre 1793,42 deckt. Demnach begann die Haskala als Aufklärungsbewegung um 1770, jedenfalls nach dem Siebenjährigen Krieg, damit, dass Mendelssohn eine Gruppe von jüngeren Juden, darunter Bendavid, um sich versammelte und gemeinsam mit ihnen, autodidaktisch (also unabhängig von universitären oder anderen Bildungseinrichtungen), wie jenseits der beruflichen Tätigkeit, de facto also abends und nachts, „Weltweisheit“, d.h. nichtreligiöse Philosophie und Wissenschaften studierte. Dass es schon vorher vereinzelt immer wieder jüdische Gelehrte gegeben hatte, die sich weltliche Kenntnisse in verschiedenen Wissenschaften erarbeiteten, scheint diesen Konsens nicht anzufechten, denn einzelne Gelehrte, wie begabt sie auch gewesen sind, bilden noch keine Aufklärungsbewegung. Übrigens hat es sich doch auch in der Erforschung der deutschen Aufklärung durchgesetzt, bei Vorläufern von Frühaufklärung zu sprechen, warum nicht also auch bei der Haskala.43 Der Berliner Arzt Aaron Gumpertz (1723-1769), der ein Mentor des jungen Mendelssohn war und ihn mit Lessing bekannt machte, könnte et-
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Siehe oben, Anm. 30; für weitere Beispiele siehe die Bibliographie von Ch. Schulte, „Livres savants, philosophiques et politiques des auteurs juifs 1700-1835 – Bibliographie“, in: Haskala et Aufklärung (2009, s.o. Anm. 4), 205-230. Wie die meisten Maskilim äusserte sich auch Mendelssohn selbst eher abfällig über das Jiddische; siehe z.B. Jubiläumsausgabe, Bd 13. Hrsg. von Alexander Altmann. Stuttgart-Bad Cannstatt 1977, 80; vgl. hierzu Nils Römer, „Sprachverhältnisse und Leseverhalten der Juden in Deutschland (1770-1830)“, in: Lohmann/Weiße (Hrsg.), Dialog zwischen den Kulturen. Erziehungshistorische und religionspädagogische Gesichtspunkte interkultureller Bildung. Münster 1994, 49-58, hier besonders 54. Lazarus Bendavid, Etwas zur Charackteristick der Juden. Leipzig 1793 – es gibt einen Nachdruck dieses Textes, mit einer hebräischen Übersetzung, einer Einleitung von Michael Graetz und einer Bibliographie von Dominique Bourel. Jerusalem 1994. Steven S. Schwarzschild sprach verschiedentlich schon von jüdischer Frühaufklärung, z.B. „Raphaël Levi de Hanovre [1685-1779] et la Frühaufklärung juive“, in: Dix-Huitième Siècle. 13 (1981), 27-36; Steven and Henry Schwarzschild, „Two Lives in the Jewish Frühaufklärung: Raphael Levi Hannover and Moses Abraham Wolff“, in: Leo Baeck Institute Yearbook. 29 (1984), 229-276.
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wa in diese Kategorie der Wegbereiter der Haskala eingeordnet werden.44 Noch weniger könnte dieser Konsens durch den Hinweis auf gelehrte Juden des Mittelalters in Frage gestellt werden, die sich zwar, noch voll in der rabbinischen Tradition stehend, auch gelegentlich nicht-religiösen Wissensgebieten widmeten. Doch was die Maskilim entscheidend von dieser Tradition trennt, war nicht nur ihr Selbstverständnis als weltliche, säkulare Gelehrte, sondern auch ihr aufklärerischer Impetus, die weltlichen Wissensstoffe an alle Juden, ja, an alle Menschen weiterzugeben, statt sie nur in einem engen Kreis von Eingeweihten zu pflegen. Wenn sich über den Beginn der Haskala als Bewegung eine weitgehende Übereinstimmung feststellen lässt, ist ihr Ende und damit ihre Dauer schwieriger zu bestimmen. Machte die Französische Revolution, deren Errungenschaften Napoleon zumindest teilweise in Europa verbreitet hat, die Haskala überflüssig? Konnte sie nur noch in seinerzeit rückständigen Gebieten, wie etwa in Russland, bis weit ins 19. Jahrhundert überleben? War es die Romantik und/oder der aufkeimende Nationalismus, welche der Haskala wie der Aufklärung den Todesstoß versetzten? Und wie entwickelte sich die Haskala in den Jahrzehnten nach dem Tod ihres Gründervaters Mendelssohn? Auf diese Fragen bietet der Rückblick von Heinrich Heine Antworten, die es zumindest verdienen, nun näher betrachtet und diskutiert zu werden.
II. Heines engagierter Rückblick auf die Haskala45 In seiner Geschichte der Religion und der Philosophie in Deutschland (1834/ 35) und in seinem Nachruf auf seinen Berliner Jugendfreund „Ludwig Marcus“ (1844/1854),46 bietet Heine einen sehr aufschlussreichen Rückblick auf Mendelssohn und die anderen Vertreter der Haskala, von denen er einige noch persönlich kannte, als er in Berlin studierte. Natürlich darf man seine Stellungnahme nicht nur als unschuldigen, historischen Rückblick lesen, sondern man muss ihn auch als einen Beitrag zu den Debatten seiner eigenen Zeit sehen, genauer die Debatten des Berliner „Kulturvereins“, dessen offizieller Titel Verein für Cultur und Wissenschaft der Juden mit seiner Genitivwendung 44
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Vgl. Gad Freudenthal, „New Light on the Physician Aaron Salomon Gumpertz: Medicine, Science and Early Haskalah in Berlin“, in: Zutot: Perspectives on Jewish Culture. Bd 3 (2003), 66-77. Die folgenden Ausführungen berühren sich mit Ideen, die ich im Rahmen eines französischen Aufsatzes entfalten konnte: N. Waszek, „Heinrich Heine et ‘les trois générations’ de la Haskala“, in: Haskala et Aufklärung (2009, s.o. Anm. 4), 147-157. Heine wird nach den folgenden Ausgaben zitiert: HSA: Heinrich Heine Säkularausgabe. Berlin & Paris, Akademie & CNRS, 1970 ff. DHA: Heinrich Heine, Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke [Düsseldorfer Ausgabe]. Hamburg, Hoffmann & Campe, 1973 ff. Heine, Schriften: Heinrich Heine, Sämtliche Schriften. Hrsg. unter der Leitung von Klaus Briegleb [1968-1976]; zitiert nach der 2. Auflage in 12 Bdn. Frankfurt/Main, Ullstein, 1981. Heine, Schriften, Bd 9, 175-191 (DHA, Bd 14/1, 265-275).
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der Juden bewusst zweideutig war, denn so konnten ebenso wohl die jüdischen Beiträge zu allen Wissenschaften, die notwendig universell waren, behandelt werden, als auch die Wissenschaft des Judentums.47 In seiner Geschichte der Religion und der Philosophie in Deutschland, sicher Heines zentraler Text im Hinblick auf seine philosophischen Optionen, wird Mendelssohn zwar relativ kurz behandelt, doch darf die Tragweite seiner Bemerkungen deshalb nicht unterschätzt werden. Nach seinem „pantheistischen Ausflug“,48 über die Ideen von Spinoza und deren Einfluss in Deutschland („Der Pantheismus ist die verborgene Religion Deutschlands“)49 und nach einigen Bemerkungen über Christian Wolf, über Friedrich den Großen und über Nicolai, nähert sich Heine langsam Mendelssohn, den er zunächst unter den Denkern anführt, die „mehr oder minder in Gemeinschaft mit Nicolai zu Berlin tätig waren“. Er gibt dann eine Liste von sieben Namen: „Was Talent betrifft, so mögen wohl Mendelssohn, Sulzer, Abbt, Moritz, Garve, Engel und Biester als die ausgezeichnetsten genannt werden.“50 Zwar fügt er hinzu, dass ihm Karl Philipp Moritz (1756-1793), der Autor des berühmten Romans Anton Reiser (in vier Teilen von 1785 bis 1790 erschienen) darunter „der liebste“ sei, doch wird die besondere Rolle von Mendelssohn auf drei Weisen besonders hervorgehoben. Zunächst wird Mendelssohn als erster genannt, in einer Liste, die weder alphabetisch noch chronologisch geordnet ist. Unter den sieben Autoren, die er in diesem Zusammenhang nennt, ist es zweitens Mendelssohn, der am ausführlichsten kommentiert wird – ein Kommentar, auf den noch eingegangen werden muss. Drittens, und dies ist sicher die Weise, welche die Bedeutung von Mendelssohn am stärksten hervortreten lässt, ist es von ihm aus, dass Heine zu Lessing übergeht, welcher bekanntlich einer der großen Geistesheroen des ganzen Buches ist und dem Heine fast überschwängliches Lob zollt: „seit Luther hat Deutschland keinen größeren und besseren Mann hervorgebracht, als Gotthold Ephraim Lessind. Diese beiden sind unser Stolz und unsere Wonne“.51 Vor dieser Lobeshymne auf Lessing erläutert Heine indessen die besondere Rolle von Mendelssohn:
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Vgl. hierzu schon den bahnbrechenden Aufsatz von Siegfried/Sinaï Ucko, „Geistesgeschichtliche Grundlagen der Wissenschaft des Judentums (Motive des Kulturvereins vom Jahre 1819)“, in: Zeitschrift für die Geschichte der Juden in Deutschland. 5 (1935), 1-34, hier besonders 20 und N. Waszek, „‘Wissenschaft und Liebe zu den Seinen’. Eduard Gans und die hegelianischen Ursprünge der ‘Wissenschaft des Judenthums’“, in: Eduard Gans (17971839): Politischer Professor zwischen Restauration und Vormärz. Hrsg. von R. Blänkner, G. Göhler und N. Waszek. Leipzig 2002, 71-103, hier besonders 78f. Heine, Schriften, Bd. 5, 572 (DHA, Bd. 8/1, 62); vgl. hierzu N. Waszek, „L’excursion panthéiste dans l’Histoire de la religion et de la philosophie en Allemagne (1834/35) de Heinrich Heine“, in: Dieu et la nature. La question du panthéisme dans l’idéalisme allemand. Hrsg. von Christophe Bouton. Hildesheim 2005, 159-178. Heine, Schriften, Bd 5, 571 (DHA, Bd 8/1, 62). Heine, Schriften, Bd 5, 582 f. (DHA, Bd 8/1, 71). Heine, Schriften, Bd 5, 585 (DHA, Bd 8/1, 73).
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MOSES MENDELSSOHN UND DIE HASKALA
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„Mendelssohn hat jedoch vor allen übrigen eine große sociale Bedeutung. Er war der Reformator der deutschen Israeliten, seiner Glaubensgenossen, er stürzte das Ansehn des Talmudismus, er begründete den reinen Mosaismus. […] Wie Luther das Pabstthum, so stürzte Mendelssohn den Talmud, und zwar in derselben Weise, indem er nemlich die Tradizion verwarf, die Bibel für die Quelle der Religion erklärte, und den wichtigsten Theil derselben übersetzte. Er zerstörte hierdurch den jüdischen, wie Luther den christlichen Katholizismus. […] Moses Mendelssohn verdient daher großes Lob, daß er diesen jüdischen Katholizismus, wenigstens in Deutschland, gestürzt hat“.52
Heines Lob Mendelssohns ist also gleichzeitig eine herbe Kritik dessen, was er „Talmudismus“ und den „jüdischen Katholizismus“ nennt. Solche Äußerungen mögen schockieren, denn Mendelssohn selbst vermied tunlichst jede Konfrontation mit dem strengen Judentum und Christoph Schulte geht in seinem Buch sogar so weit, die Haskala grundsätzlich als „eine religionsnahe und religionsfreundliche Aufklärung“ zu bezeichnen, denn „Aufklärung der Juden als Juden wäre sonst nicht ihr Projekt geworden.“53 Heines Virulenz wird aber verständlich, wenn wir sie in den Rahmen der Diskussionen im Berliner „Kulturverein“ rücken, an denen Heine in den Jahren 1822 und 1823 teilnahm. Dort waren solche Urteile über den „Rabinismus“ und „Talmudismus“ nämlich gar nicht ungewöhnlich und Heine hat sie sicher aus dem Munde von Eduard Gans, Moses Moser u.a. gehört.54 Moser soll in diesem Zusammenhang sogar von „einer nützlichen Judenreformation“ gesprochen haben. Festzuhalten ist jedenfalls, dass die jungen Juden, die sich im Kulturverein trafen, in Mendelssohn einen entscheidenden Vorläufer ihres eigenen Kampfes gegen die scholastische und mittelalterliche Institution sahen, welche der „Rabinismus“ in ihren Augen war. In seiner dritten Rede als Präsident des Kulturvereins (gehalten am 4. Mai 1823) äußerte sich Gans jedenfalls ausdrücklich in diesem Sinne: „Es ist bekannt […] dass vor ungefähr fünfzig Jahren von Berlin aus über die deutschen Juden das Licht einer besseren Cultur aufging, davon zum Theil wohlthätige Folgen noch heute verspürbar sind. Die schlechte Mischung eines halb orientalischen, halb mittelaltrigen Lebens wurde gebrochen, an die Stelle einer vollkommen fremdartigen Bildung trat die Morgenröthe einer bessern Erziehung, und was bisher schroff eine ganz abgesonderte Stellung behauptet hatte, das neigte sich der allgemeinern Richtung zu. Dieser Bruch […] ging vornehmlich von Mendelssohn aus.“55
Die Verwurzelung von Heines Loblied auf Mendelssohn in den Debatten des Berliner Kulturvereins ist wichtig und sollte festgehalten werden. Da Ludwig Marcus, dem der andere Text von Heine gewidmet ist, den ich hier heranziehen möchte, eine der Zentralgestalten des Berliner Vereins war, ist es nicht er52 53 54 55
Heine, Schriften, Bd 5, 583 f. (DHA, Bd 8/1, 71). Ch. Schulte (2002), 43. Vgl. H.G. Reissner, Eduard Gans. Ein Leben im Vormärz. Tübingen 1965, 50-52. N. Waszek, Eduard Gans (1797-1839): Hegelianer – Jude – Europäer. Texte und Dokumente. Frankfurt am Main 1991, 80.
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staunlich, dass sein Nachruf auf Marcus Heine „unwillkürlich zu dem Nekrolog“ dieses Vereins leitete, wie er selber schreibt.56 Mit Hilfe dieses Textes über Ludwig Marcus (1798-1843) soll jetzt noch gezeigt werden, dass sich Heine schon lange vor Peter Gays berühmter These von den drei Generationen der europäischen Aufklärung57 die jüdische Aufklärung in ganz ähnlicher Form eingeteilt hat. In seiner eben bereits zitierten Rede hatte Gans schon von „ungefähr fünfzig Jahren“, also etwa zwei Generationen, gesprochen, die vergangen wären, seit Mendelssohn von Berlin aus das Leben aller deutschen Juden mit einem neuen Licht erhellt hätte. Für Heine wie für Gans und ihre Freunde im Kulturverein, waren es die rückständigen Teile der jüdischen Gemeinde, gegen welche sie selbst noch kämpften, gegen die Mendelssohn seine Erneuerung des jüdischen Lebens durchgesetzt hätte. Es steckt darin die Intention, eine Kontinuitäts- oder sogar eine Herkunftslinie zu zeichnen, welche von einem mit allen Attributen der Aufklärung ausgestatteten Mendelssohn, als dem Gründervater, zu den Mitgliedern des Kulturvereins, als den Erben, führt. Der schon angesprochenen Entfernung von fünfzig Jahren oder zwei Generationen nähert sich Heine in seinem Text über Marcus auf subtile Weise, indem er Inneres und Äußeres, Körper und Geist, Form und Inhalt einander näher rückt – eine Technik, die er auch sonst oft benutzt.58 So konstatiert er mit der ihm eigenen Ironie, dass es zwischen Mendelssohn und Marcus eine gewisse Ähnlichkeit gegen hätte, die ihm fast einen „frivolen Gedanken“ eingeben würde: „Ein kleiner schmächtiger Leib, wie der eines Jungen von acht Jahren und im Antlitz eine Greisenhaftigkeit, die wir gewöhnlich mit einem verbogenen Rückgrat gepaart finden. Eine solche Mißförmlichkeit aber war nicht an ihm zu bemerken, und eben über diesen Mangel wunderte man sich. Diejenigen, welche den verstorbenen Moses Mendelssohn persönlich gekannt, bemerkten mit Erstaunen die Aehnlichkeit, welche die Gesichtszüge des Marcus mit denen jenes berühmten Weltweisen darboten, der sonderbarerweise ebenfalls aus Dessau gebürtig war. Hätten sich die Chro56 57
58
Heine, Schriften, Bd 9, 181 (DHA, Bd. XIV/1, 269). Vgl. Gay, Enlightenment, Bd I, 17: „The Enlightenment, then, was the work of three overlapping, closely associated generations. The first of these, dominated by Montesquieu and the long-lived Voltaire, long set the tone for the other two; it grew up while the writings of Locke and Newton were still fresh and controversial, and did most of its great work before 1750. The second generation reached maturity in mid-century: Franklin was born in 1706, Buffon in 1707, Hume in 1711, Rousseau in 1712, Diderot in 1713, Condillac in 1714, Helvétius in 1715, and d’Alembert in 1717. It was these writers who fused the fashionable anticlericalism and scientific speculations of the first generation into a coherent modern view of the world. The third generation, the generation of Holbach and Beccaria, of Lessing and Jefferson, of Wieland, Kant, and Turgot, was close enough to the second, and to the survivors of the first, to be applauded, encouraged, and irritated by both.“ DHA, Bd 13/1, 45: „Nach unserer modernen Identitätslehre ist es ein Naturgesetz, daß der inneren, der geistigen Signatur eines Menschen auch seine äußere, die körperliche Signatur entspricht.“ Vgl. hierzu: Michel Espagne, „La bosse de Victor Hugo“, in: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte. Bd 6 (1982), 322-337; Nina Bodenheimer, „‘de la choucroute versifiée’: Heinrich Heine versus Victor Hugo“, in: Maillet/Waszek (Hrsg.), Heinrich Heine: témoin de la vie culturelle française. Erscheint Paris 2013.
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nologie und die Tugend nicht allzu bestimmt für den ehrwürdigen Moses verbürgt, so könnten wir auf einen frivolen Gedanken gerathen.“59
Der frivole Gedanke ist also derjenige einer biologischen Verwandtschaft zwischen dem Vertreter der Generation der Großväter (Mendelssohn) und derjenigen der Enkel im Kulturverein. Natürlich wird Heine den frivolen Gedanken einer physischen Verwandtschaft zurückweisen, doch lediglich um die geistige Nähe zwischen den beiden umso stärker hervorzuheben – für ihn auch eine weitere Gelegenheit sein Bild von Mendelssohn als dem großen Erneuerer des Judentums zu betonen: „Aber dem Geiste nach war Marcus wirklich ein ganz naher Verwandter jenes großen Reformators der deutschen Juden, und in seiner Seele wohnte ebenfalls die größte Uneigennützigkeit, der duldende Stillmuth, der bescheidene Rechtssinn, lächelnde Verachtung des Schlechten, und eine unbeugsame, eiserne Liebe für die unterdrückten Glaubensgenossen. Das Schicksal derselben war, wie bey jenem Moses, auch bey Marcus der schmerzlich glühende Mittelpunkt aller seiner Gedanken, das Herz seines Lebens.“60
Dieser Nachdruck auf die Kontinuität der Generation des Großvaters, Mendelssohn, Stammvater eines neuen Lichts aus Berlin und der Generation der Enkel, derjenigen von Heine, Marcus und Gans, drängt natürlich die legitime Frage nach dem fehlenden Glied der Kette auf, nach der Generation der Väter. Damit stellt sich auch die weitere Frage nach der inhaltlichen Ausrichtung des Mittelgliedes, derjenigen, die zwischen der Aufklärungsposition Mendelssohns und dem Hegelianismus von Gans stand, welcher den Kulturverein beherrschte. Heine beantwortet diese Fragen ebenso deutlich wie Eduard Gans. Gans unterschied in seinen Präsidialreden vor dem Kulturverein schon klar zwischen Mendelssohn selbst und „seinen Jüngern und Folgern“,61 und wenn er die „unausbleibliche Wirkung“ von dessen Lehre erläutert, spricht er nicht nur von Mendelssohn selbst, sondern er zielt auch auf die weiteren Verbreiter dieser Lehre ab. Er hebt die kritische, die negative Seite der ersten Etappe dieser Aufklärung deutlich hervor, als reine Negation der früheren Zustände. Als erster Schritt erscheint es ihm zwar hilfreich und notwendig, dass sich der subjektive Geist aus seinen Ketten befreit hätte. Doch scheint es ihm unzureichend, in der bloßen Negation zu verharren und es ist bemerkenswert, dass Gans, wenn er im Jahre 1823 über die Folgen Mendelssohns spricht, schon den Ausdruck einer „negativen Aufklärung“ benutzt: „Die Begeisterung für Religion, die Gediegenheit der alten Verhältnisse ist geschwunden, aber es ist keine neue Begeisterung hereingebrochen, es hat sich kein neues Verhältnis erbaut. Es ist bei jener negativen Aufklärung geblieben, die in der
59 60 61
Heine, Schriften, Bd 9, 176 f (DHA, Bd 14/1, 265f). Heine, Schriften, Bd 9, 177 (DHA, Bd 14/1, 266). N. Waszek, Gans (1991), 80.
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Verachtung und Verschmähung des Vorgefundenen bestand, ohne dass man sich die Mühe gegeben hätte, jener leeren Abstraction einen anderen Inhalt zu geben.“62
Die Tatsache, dass die Generation der geistigen Söhne Mendelssohns, diejenige von Markus Herz, Saul Ascher, Friedländer und Bendavid, die Leere einer „negativen Aufklärung“ mit Ideen und Inhalten von Kant zu füllen suchte,63 aber dass die darauf folgende Generation, diejenige von Heine und Gans (beide 1797 geboren) nicht mehr zu Füssen Kants saß, sondern zu Füssen Hegels – also ein doppelter Paradigmenwechsel, dies alles scheint schon in Heines Text über Marcus zu stecken: „Ich kann nicht umhin, auch hier meinen lieben Bendavid zu erwähnen, der mit Geist und Charakterstärke eine großartig urbane Bildung vereinigte und obgleich schon hochbejahrt, an den jugendlichsten Irrgedanken des Vereines Theil nahm. Er war ein Weiser nach antikem Zuschnitt, umflossen vom Sonnenlicht griechischer Heiterkeit, ein Standbild der wahrsten Tugend, und pflichtgehärtet wie der Marmor des kategorischen Imperativs seines Meisters Immanuel Kant. Bendavid war Zeit seines Lebens der eifrigste Anhänger der kantschen Philosophie, für diese litt er in seiner Jugend die größten Verfolgungen, und dennoch wollte er sich nie trennen von der alten Gemeinde des mosaischen Bekenntnisses, er wollte nie die äußere Glaubenskokarde ändern. Schon der Schein einer solchen Verläugnung erfüllte ihn mit Widerwillen und Ekel. Lazarus Bendavid war, wie gesagt, ein eingefleischter Kantianer, und ich habe damit auch die Schranken seines Geistes angedeutet. Wenn wir von hegelscher Philosophie sprachen, schüttelte er sein kahles Haupt und sagte, das sey Aberglaube.“64
Am Beispiel des „eingefleischten Kantianers“ Lazarus Bendavid (1762-1832) führt uns Heine die mittlere Generation der Haskala plastisch vor Augen. Übrigens übertreibt er den Altersunterschied, die 35 Jahre, die ihn von Bendavid trennen, wenn er den gerade 60jährigen als „hochbejahrt“ beschreibt. Der ältere, aber doch wohl nicht „hochbejahrte“ Bendavid brachte den Aktivitäten der jungen Leute um Gans und Heine im Kulturverein tatsächlich ein wohlwollendes Interesse entgegen und unterstützte die Zeitschrift des Vereins mit einem Beitrag. Bendavids Abhängigkeit von seinem Meister Kant hätte Heine kaum überzeugender ausdrücken können. Die Stelle erinnert übrigens sehr stark an die Beschreibung, die Heine im ersten Teil seiner Reisebilder, der Harzreise, von einem anderen Anhänger des Kantianismus unter den Vertretern der zweiten Generation der Haskala, Saul Ascher, geboten hat:
62 63
64
N. Waszek, Gans (1991), 80 f. Vgl. zum Kantianismus der zweiten Generation der Haskala den Überblick von Ch. Schulte (2002), Kapitel VI. Kant und die jüdische Aufklärung, 157-171 und die speziellen Studien von Dominique Bourel, „A l’origine du kantisme juif: Lazarus Bendavid“, in: G. Bensussan (Hrsg.), La Philosophie allemande et les juifs. Paris 1997, 67-79 (mit guter Bibliographie) und Stefanie Buchenau, „‘Der Grund zu allen liegt in Ihnen’. Le kantisme de Markus Herz“, in: Haskala et Aufklärung (2009, s.o. Anm. 4), 53-67. Heine, Schriften, Bd 9, 179 f (DHA, Bd 14/1, 268).
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„Was ist Furcht? Kommt sie aus dem Verstande oder aus dem Gemüth? Ueber diese Frage disputirte ich so oft mit dem Doctor Saul Ascher, wenn wir zu Berlin, im Café-Royal, wo ich lange Zeit meinen Mittagstisch hatte, zufällig zusammen trafen. Er behauptete immer: wir fürchten etwas, weil wir es durch Vernunftschlüsse für furchtbar erkennen. Nur die Vernunft sey eine Kraft, nicht das Gemüth. Während ich gut aß und gut trank, demonstrirte er mir fortwährend die Vorzüge der Vernunft. Gegen das Ende seiner Demonstrazion pflegte er nach seiner Uhr zu sehen, und immer schloß er damit: „Die Vernunft ist das höchste Prinzip!“ – Vernunft! Wenn ich jetzt dieses Wort höre, so sehe ich noch immer den Doctor Saul Ascher mit seinen abstrakten Beinen, mit seinem engen, transcendentalgrauen Leibrock, und mit seinem schroffen, frierend kalten Gesichte, das einem Lehrbuche der Geometrie als Kupfertafel dienen konnte.“65
Mit „Vernunft – Vernunft“ spielt Heine natürlich auf die ersten beiden Kritiken von Kant, die Kritik der reinen Vernunft (1781) und die Kritik der praktischen Vernunft (1788) an und auch Aschers „transcendentalgrauer Leibrock“ ist wohl eine eindeutige Bezugnahme, wird die ganze Philosophie Kant doch auch als Transzendentalphilosophie bezeichnet. Noch in seinem Text über Ludwig Marcus lässt Heine aber auch keinen Zweifel daran, dass sich seine Generation anstelle von Kant entschlossen Hegel zugewandt hatte: „Wenn wir von hegelscher Philosophie sprachen…“ So gelangte also schon Heine zu einer Einteilung der Haskala in drei Generationen, die von unterschiedlichen philosophischen Positionen bestimmt werden. Eine vorkantische Aufklärung, welche von Mendelssohn personifiziert wird; eine von Kant beherrschte Etappe, die von der Generation von Bendavid verkörpert wird; schließlich seine eigene, von Hegel geprägte Generation, welche etwa durch den jüdischen „Oberhegelianer“ (der Ausdruck stammt von Heine),66 Eduard Gans, umgeben von Moses Moser, Ludwig Marcus, Immanuel Wolf (Wohlwill) u.a., vertreten wird. Als Ausblick könnte kritisch angemerkt werden, dass Heines Einteilung der Haskala in drei Generationen die Verhältnisse vielleicht zu sehr vereinfacht. So vernachlässigt Heine die Vorläufer Mendelssohns, obwohl diese, wie z.B. Aaron Gumpertz (s.o. Anm. 44), sicher mehr Beachtung verdienen, wie er überhaupt die Möglichkeit einer jüdischen Frühaufklärung nirgendwo einzuräumen scheint. Heute wären wohl auch nur wenige Forscher bereit, eine Definition der Haskala zu akzeptieren, die wie diejenige Heines bis ins Berlin der 1820er Jahre reicht.67 Schließlich müsste doch auch berücksichtigt werden, dass sich Hegel gerade über die deutsche Aufklärung (im Vergleich zu Enligh65 66
67
DHA, Bd 6, 102 f. H. Heine, „Brief an Karl August Varnhagen von Ense, vom 24. Oktober 1826“, in: HSA, Bd. 20 (1970), 273. Zum Verhältnis von Heine und Gans, vgl. N. Waszek, „Aufklärung, Hegelianismus und Judentum im Lichte der Freundschaft von Heine und Gans“, in: Kruse/Witte/ Füllner (Hrsg.), Aufklärung und Skepsis. Internationaler Heine-Kongress 1997 zum 200. Geburtstag. Stuttgart 1998, 226-241. Ch. Schulte (2002, 19) betont z.B. ganz im Gegenteil, die kurze Dauer der Haskala und wie wenig Zeit ihr zur Verfügung stand, um Ergebnisse zu erreichen.
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tenment und Lumières, den britischen und französischen Vorbildern) in seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie oft besonders kritisch geäußert hat.68 Wie konnte Heine die Mitglieder des Kulturvereins also gleichzeitig als Hegelianer und als Erben Mendelssohns ansehen? Heines Sichtweise, wenn die vorangegangene Darstellung derselben als zuverlässig akzeptiert wird, wirft also eine Reihe von Fragen auf. Wenn es als gesichert gelten kann, dass Heine (wie übrigens auch Gans) bestrebt war, eine Kontinuitätslinie zwischen Mendelssohn und seiner eigenen, zweifellos von Hegel inspirierten Generation zu skizzieren, stellt sich immer noch die Frage nach den Gründen einer Haltung, welche doch bestimmte Widersprüche in sich trägt. Ohne dieser Antwort hier weiter nachgehen zu können, bietet Hegels Konzeption der Aufhebung – im dreifachen Sinne von überwinden (negare), bewahren (conservare) und auf eine höhere Stufe heben (levare) –, hier zumindest die Richtung, in welcher eine Antwort gesucht werden könnte. Wie Hegel die Aufklärung als ganze in diesem Sinne aufheben wollte, so wollte er diese Vorgehensweise auch auf Mendelssohn anwenden. Da Heine Hegels Denken sicher gut genug kannte, um diese Strategie zu verstehen, wird auch nachvollziehbar, wie er selbst glauben konnte, dass zwischen Mendelssohn, über einen Kantianer wie Bendavid, bis hin zu seiner eigenen Generation, die sich, junghegelianisch gewendet, darum bemühte, über Hegel hinauszugehen und aus den Lehren ihres Berliner Meisters ein Aktionsprogramm abzuleiten, eine Kontinuität bestünde. Dieser Lösungsansatz könnte auch anders ausgedrückt werden: mit Hilfe einer Erinnerung an das etwas in Vergessenheit geratene Projekt von Willi Oelmüller (1930-1999), das er unter den schönen Titel Die unbefriedigte Aufklärung stellte.69 Was Hegel selbst mit dem Ausdruck unbefriedigte Aufklärung bezeichnen wollte, war der Kampf der Aufklärung gegen den politischen und sozialen Status quo und gegen bestimmte Formen der Religion. Hegel verband damit die Hoffnung, dass sein eigenes Denken diesen Gegensatz versöhnen und die Aufklärung somit verwirklichen oder befriedigen würde. Dieses Ziel dürfte Heine weitgehend geteilt haben. Selbst wenn die Aufklärung bekanntlich ein Prozeß ist, und von daher nie ganz befriedigt oder abgeschlossen werden kann,70 bleibt sie es wert, ihrem Programm weiterhin nachzustreben.
68
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Mendelssohn selbst kommt dabei, etwa im Vergleich zu Eberhard, Tetens etc., zwar gar nicht so schlecht weg, doch kann kein Zweifel daran bestehen, dass ihn Hegel im Kontext der Aufklärung behandelt und dass diese insgesamt als schlechte Nachahmung der ausländischen Vorbilder ziemlich negativ bewertet wird. Hegel, Theorie Werkausgabe in zwanzig Bänden [TWA]. Hrsg. von K.M. Michel und E. Moldenhauer. Frankfurt 1969-1971, Bd 20, 308 ff. Willi Oelmüller, Die unbefriedigte Aufklärung. Beiträge zu einer Theorie der Moderne von Lessing, Kant und Hegel, Frankfurt am Main 1969, 2. Aufl. 1979. Diesen denkwürdigen Titel hatte Oelmüller übrigens bei Hegel gefunden, der ihn in seiner Phänomenologie des Geistes am Ende des Abschnittes über den Kampf der Aufklärung gegen den Aberglauben benutzte: Hegel, TWA, Bd 3, 424. Vgl. zum Beispiel Vierhaus (Hrsg.), Aufklärung als Prozeß, Hamburg 1988.
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Kunst, Politik, Selbstbewusstsein: Die Krise des Hegelschen Subjekts
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Bruno Bauer erklärt das Zerbrechen der Hegelschule in der Mitte der 1840er Jahre als das Resultat der inneren Instabilität von Hegels System. Wie 1845 Bauer die Sache in seiner Kritik am Feuerbach und Stirner darstellt, spaltet sich das Hegelerbe an zwei Achsen entlang, der Fichteschen und der Spinozistischen, die Hegel selber erfolglos zu verschmelzen versucht hatte.2 Die Kritik sieht so aus: „Hegel hat die Substanz Spinozas und das Fichtesche Ich in Eins zusammengefaßt. Die Einheit von beiden, die Verknüpfung dieser entgegengesetzten Sphären, das Oszillieren zwischen zwei Seiten, die keine Ruhe gönnen und in ihrem Abstoßen doch nicht voneinander lassen können, das Hervorbrechen und Überwiegen des Einen vor dem Anderen und des Anderen vor dem Ersten bilden das eigentümliche Interesse, das Epochemachende, das Wesenhafte, aber auch zugleich die Schwäche, die Endlichkeit und die Nichtigkeit der Hegelschen Philosophie. Während für Spinoza die Substanz, ‘das, was in sich ist, und durch sich gedacht und begriffen, d.h. das, dessen Begriff nicht des Begriffs eines anderen Dinges bedarf, um aus ihm erst gebildet zu werden’, alle Wirklichkeit ist; während Fichte das absolute Ich aufstellt, das alle Tätigkeit des Geistes und die Mannigfaltigkeit des Universums aus sich entwickelt, kommt nach Hegel alles darauf an, ‘das Wahre nicht als Substanz, sondern ebenso sehr als Subjekt aufzufassen und auszudrücken’. Er macht auf der einen Seite Ernst mit der Aufhebung des Endlichen... Er fordert vor allem, dass das Ich in seiner Einzelheit ‘in der Tat und Wirklichkeit auf sich Verzicht tue’, ‘als das Particulare gegen dem Allgemeinen, als das Akzidentelle an dieser Substanz, als ein Moment, als ein Unterschied, das zugleich nichts für sich ist, sondern dass auf sich Verzicht geleistet hat und sich als endlich weiß’. Auf der andern Seite ist aber der absolute Geist nichts, als der Begriff des Geistes, der in dem einzigen Geisterreiche, das es gibt, jenen langen Zug von Geistern in der Geschichte sich selber erfasst und entwikkelt, ‘Religion, politische Geschichte, Staatsverfassung, Künste und Wissenschaften wie die Philosophie’ nichts anderes, als ‘Werke des Gedankens’ – die Arbeit der bisherigen Geschichte mit keinem anderen Ziele, als ‘das Selbstbewusstsein als einzige Macht der Welt und der Geschichte zu erkennen’ – ‘die 1
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Der Beitrag wurde aus dem Englischen übersetzt von Hilmar Lorenz. Mit finanzieller Unterstützung von Killam Research Fellowship, Canada Council for the Arts; Social Sciences and Humanities Research Council of Canada; University Research Chair in Political Thought, University of Ottawa. Anonym [Bruno Bauer], „Charakteristik Ludwig Feuerbachs“. In: Wigands Vierteljahresschrift III, (1845), 86-146. Obwohl dieser Text anonym veröffentlicht wurde, ist die Autorenschaft von Bruno Bauer sicher begründet. S. Aldo Zerrnado, „Bruno Bauer hegeliano e giovane hegeliano“. In: Rivista Critica di Storia della Filosofia, XII/2 (1966), pp. 189-210; und XXI [sic ]/3 (1966), pp. 293-327.
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Bemühungen des Geistes durch fast 2500 Jahre seiner ernsthaftesten Arbeit’ in keiner anderen Absicht, als ‘sich selbst objectiv zu werden, sich zu erkennen: tantae molis erat, se ipsam cognoscere mentem...’. Dieser Widerspruch, dass das Absolute das Beste und Höchste, das Ganze, die Wahrheit für die Menschen, dass Maß, das Wesen, die Substanz, das Ende des Menschen ist, dass aber wiederum der Mensch die Substanz, das Selbstbewußtsein ist, welches das Resultat seiner eigenen Tätigkeit, sein eigenes schöpferisches Produkt ist und sein Bestehen in seiner Tat, seinem geschichtlichen Ringen verdankt, darum auch notwendig das Absolute zu einer beschränkten Macht, – dieser Widerspruch, in dem sich das Hegelsche System hin und her bewegte, aus dem es aber nicht herauskommen konnte, mußte gelöst und vernichtet werden. Er konnte es aber nur dadurch, dass die Aufstellung der Frage, wie verhält sich das Selbstbewußtsein zum absoluten Geiste und der absolute Geist zum Selbstbewußtsein wieder in der Glut der Substanz verbrennen, d.h. das reine Substanzverhältnis feststellen und bestehen, oder es muß aufgezeigt werden, dass die Persönlichkeit der Urheber ihrer Attribute und ihres Wesens ist, dass es im Begriffe der Persönlichkeit überhaupt liegt, sich selbst beschränkt zu setzen und diese Beschränkung, die sich durch ihr allgemeines Wesen setzt, wieder aufzuheben, da eben dieses Wesen nur das Resultat ihrer inneren Selbstunterscheidung, ihre Tätigkeit ist.“3
Diese Analyse erlaubt Bauer, die Topographie der Hegelschule aufzuspüren und ihre Mitglieder an ihre angemessene Stelle zu setzen. Diejenigen, welche Fichtes Weg folgen, wie bemerkenswerterweise (und nach seiner eigen Einschätzung fast einzig und allein) Bauer selber, betonen die Prinzipien von Einzelheit und Autonomie, wobei sie die Dialektik des Willens entwickeln, die Hegel in der Philosophie des Rechtes4 als das bewusste individuelle Verfügen über allgemeine Interessen darstellt. Dies ist eine Lehre vernünftiger Selbstgesetzgebung im Gegensatz zu Willkür und göttlichem Gebot. Für Bauer ist Allgemeinheit keine Eigenschaft, die unter ihren vielen besonderen Trägern bloß verteilt oder un-selbstbewusst geteilt wird, sondern muss von den Individuen als mit normativem Status versehen angesehen werden: Sie muss von ihnen aufgenommen und gesetzt werden und ist richtungweisend für das Handeln. Autonomie ist das Prinzip von Spontaneität oder Wahl, die sich unter die Disziplin allgemeiner Regeln stellt. Der alternative Spinozistische Weg aus Hegel heraus, dem D.F. Strauss und Ludwig Feuerbach gefolgt sind, führt auf die Behauptung von Allgemeinheit als Gemeinschaft oder geteiltem Interessen, wobei die formale Seite, das Element individuellen Wollens, weniger betont wird. In der politischen Anwendung, die Feuerbach von dieser Idee macht (zusammen mit Karl Marx und expliziter als Strauss), führt dieser Weg zur Notion einer kollektiven Substanz oder einer Wesensart, die durch partikularisti3
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Bauer, „Charakteristik Ludwig Feuerbachs“, In: Wigands Vierteljahresschrift. III (1845), 86146, 86-88. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts [1821]. Hrsg. v. R. Reichelt. Frankfurt am Main 1974, §5-§7. Michael Quante, „‘The Personality of the Will’ as the Principle of Abstract Right: An Analysis of §§ 34-40 of Hegels Philosophy of Right in Terms of the Logical Structure of the Concept“. In: Pippin/Höffe (Hrsg.), Hegel on Ethics and Politics. Cambridge 2004, 81-100.
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DIE KRISE DES HEGELSCHEN SUBJEKTS
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sche und egoistische Aktivitäten geschädigt ist, aber potentiell durch Veränderungen in gesellschaftlichen Beziehungen geheilt werden kann. Bauers Fichtesche und Feuerbachs Spinozistische Lesarten Hegels betonen die Bedeutung von Allgemeinheit, ein allgemeiner Wille transzendiert die unmittelbaren Interessen und Wünsche. Beide Strömungen repräsentieren charakteristische Weisen, das Allgemeine zu bestimmen, und so kommt es zu Spaltungen im Vormärz-Hegelianismus, als die Komponenten der Hegelschen Synthese auseinanderbrechen. Nach Bauer ist für die Krise des Hegelschen Subjekts die unaufgelöste Spannung zwischen Fichteschen und Spinozistischen Elementen bei Hegel verantwortlich: der völlige Kontrast zwischen vernünftiger Autonomiebehauptung und der Hingabe der Eigenpersönlichkeit in Substanzialität hinein, in die aufstrebende Massengesellschaft der nach-revolutionären Welt. Um seine Argumentation aufrechtzuerhalten, muss Bauer zeigen, dass Max Stirners Position, seine schonungslose Kritik in Der Einzige und sein Eigenthum selber eine Variante des Spinozismus ist.5 Mit seiner Unmittelbarkeit und deren Mangel an kritischer Selbstreflexion versagt Stirners Einziger darin, ein Subjekt in den Bedeutungen zu werden, die in Bauers Begriff des allgemeinen Selbstbewusstseins spezifiziert sind. Er bleibt in Heteronomie und Kausalität der Substanz eingebettet und versagt so darin, sich selber zu bestimmen. Nachfolgend soll die Aufsplitterungen der Hegelschule in den 1840er Jahre, wie auch die Krise des Hegelschen Subjekts aus einer anderen Perspektive, und zwar nicht der des Erbes von Spinoza und Fichte, sondern der des Vermächtnisses von Leibniz untersucht werden. Dieser Aspekt fand bislang wenig Aufmerksamkeit, liefert aber interpretatorische Einsichten, die auf Leibnizens Konzeption von der Beziehung zwischen den Grundtätigkeiten des Subjekts und dem Bereich der objektiven Formen basieren, die sie produzieren. Dieser Zugang gestattet es, die divergierenden Bewegungen von deutscher Romantik und Deutschem Idealismus in Beziehung zu setzen und die Krise des Hegelschen Subjekts in diesem Licht darzustellen. In den Werken Kants, Fichtes, Schillers und Hegels haben sich die Wirkungen der europäischen Aufklärung und einheimische Theorietraditionen zu einer philosophischen Revolution verdichtet. Das Wesentliche an dieser Revolution bestand in einem Engagement für die moderne Gesellschaft, einer Rechenschaftslegung hinsichtlich ihres Aufstrebens und ihrer Potenziale: eine ausgedehnte Reflexion auf Individualität, Autonomie und Freiheit. Diese entschlossene doch kritische Modernität erfüllt den Deutschen Idealismus mit seinen besonderen Charakteristika und macht ihn zu einem Idealismus sui ge5
Ich habe diese Diskussion anderswo erörtert, wo ich Bauers Behauptung gestützt habe, dass, wenn Feuerbach das Spinozistische Merkmal der Ausdehnung vertritt, Stirners Egoist die bloße Selbstrelation vertritt, die sich im Spinozistischen Merkmal des Denkens ausdrückt. Douglas Moggach, „The Subject as Substance: Bruno Bauer’s Critique of Max Stirner“. In: Owl of Minerva, 41 (2009/2010), Nr. 1-2, 63-86.
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neris. Mit allen seinen inneren Divergenzen6 handelt es sich um einen praktisch idealistischen Denkansatz, eine brillante Geltendmachung der Freiheit. Er entwickelt Ideen der praktischen Vernunft als der Fähigkeit, sich selbst Gesetze zu geben und autonom zu sein und betont die selbst-verursachende spontane Qualität menschlichen Handelns. Das Grundanliegen des Deutschen Idealismus ist nicht, die äußere Welt zu bestreiten, sondern zu fragen, wie wir vernünftig und in Freiheit zu ihr in eine Beziehung treten und in ihr handeln können. Dieser praktische Idealismus ist gegenüber den objektiven geschichtlichen und sozialen Bedingungen, die freie Selbstbestimmung behindern, grundsätzlich kritisch. Wie die Welt den Sinnen erscheint, ist sie nicht unreal, sondern abgeleitet; der Deutsche Idealismus richtet unsere Aufmerksamkeit auf die gestaltende Tätigkeit, welche den Gegenständen der Erfahrung zugrunde liegt. Subjekte üben ihr gestaltendes Vermögen in Blick auf Gegenstände aus. In Prozessen von Selbstgestaltung stellen sie in dieser Tradition enge Verbindungen zwischen Ästhetik und Politik her. Freiheit als Gestaltungskraft ist hier die wesentliche Idee. Indem Kant anerkennt, was er der Aufklärung schuldet, stellt er diese Periode als einen epochemachenden Wendepunkt dar: das Abschütteln der selbstverschuldeten Unmündigkeit, das die historische Reifung des Menschengeschlechts kennzeichnet. Individuen finden es jetzt möglich und notwendig, von sich und den Maximen vernünftige Rechenschaft zu geben, die ihre Tätigkeiten zu lenken haben, ohne sich dabei auf äußere Autoritäten zu verlassen.7 Diese Idee hatte Kant vorher schon formuliert, in der Ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft: „Unser Zeitalter ist das eigentliche Zeitalter der Kritik, der sich alles unterwerfen muss. Religion, durch ihre Heiligkeit, und Gesetzgebung durch ihre Majestät, wollen sich gemeiniglich derselben entziehen. Aber alsdann erregen sie gerechten Verdacht wider sich und können auf unverstellte Achtung nicht Anspruch machen, die die Vernunft nur demjenigen bewilligt, was ihre freie und öffentliche Prüfung hat aushalten können.“8 Nach Hegel besteht das große Verdienst der Aufklärung in seiner Entdekkung, dass alles für das Subjekt existiert. Traditionale und transzendentale Quellen von Autorität werden ihres unreflektierten Einflusses beraubt. Institutionen sind durch ihren Beitrag zur Befriedigung menschlicher Bedürfnisse zu rechtfertigen. Diese Bedürfnisse sowie die Empfänglichkeit der Natur werden geschmeidiger verstanden, als der antike Materialismus es erlaubte.9 Um ihrer 6
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Die Thematik dieses Papiers schließt eine Diskussion dieser Divergenzen im Detail aus, obwohl sie ziemlich ausgeprägt sein können. Zu Kontinuität und Verschiebungen in der nachkantischen Tradition vgl. R. Pippin, Hegel’s Idealism. Cambridge 1989. Kant, „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“ [1784]. In: AA VIII (1923), 33-45. Kant, Kritik der reinen Vernunft. AA IV, (1922), Fußnote A XI Trotz seiner Radikalität in mancher Hinsicht teilt die klassischen idealistischen Philosophien die Ansicht des antiken Materialismus und bemerkenswerterweise auch des Epikuräischen, dass die Natur unseren Anstrengungen hartnäckige Grenzen setzt, sodass unser Ziel darin bestehen sollte, den Schmerz möglichst gering zu halten und nicht etwa die Lust zu maximieren
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Legitimität willen müssen die Zwecke politischen Handelns als Ausdruck des Willens von Subjekten verstanden werden, die sich selbst als Quelle dieser Zwecke ebenso wie der Autorität und Rechtfertigung dafür sehen müssen, dass diese Zwecke gebieten. Neben traditionaler Autorität entmystifiziert die Aufklärung also die Vorstellung von der Natur. Die Rede Max Webers von der „Entzauberung“ der Natur bedeutet, dass wir unsere ethische und ästhetische Orientierung nicht mehr von der Unterstellung einer feststehenden Naturordnung ableiten, eine Sicht, die seit Platon in verschiedenen Weisen vorherrschend war, sondern von der Vorstellung vom Selbst und seinen Absichten. Freiheit wird zum Grundwert. Dies zieht keinen Widerstreit gegen alle Gesetze oder ihre Verneinung nach sich, sondern fragt auf verschiedene Weise, was das Selbst zu Recht beanspruchen und tun kann. Aufbauend auf Konzeptionen der Aufklärung unternimmt auch die Kantische Tradition eine Kritik und Umformulierung dieser Vorstellungen. Materialistische Theoretiker der Aufklärung (Helvetius, Holbach, Bentham) hatten ein grob naturalisiertes und überaus deterministisches Bild vom menschlichen Subjekt, das seine spezifische Fähigkeit zur Freiheit damit untergrub, dass es diese Fähigkeit wiederum Naturimperativen einer neuen Art unterordnete. Auch wenn die Natur ihrer früheren normativen Kraft beraubt war und jetzt als Feld wissenschaftlicher Untersuchung betrachtet wurde, so machte sie dennoch Imperative für Subjekte in einem anderen Sinne geltend. Für den Materialismus der Aufklärung waren die Subjekte selber völlig in den Kausalzusammenhang der Natur integriert; ihre Zwecke wurden von Druck und Stoß bestimmt, den Gegenstände auf sie ausübten (Hobbes). Dies brachte die mechanistische Bedeutung eines Selbst hervor, das fast automatisch auf Lust und Schmerz als von außen induziert reagiert. Bei aller seiner Zentralität ist ein solches Selbst passiv, ein Faustpfand von Naturkräften. Als Marx, der selber tief vom Deutschen Idealismus durchdrungen ist, in der Mitte des 19. Jahrhunderts sich mit dieser Position auseinandersetzt, bewahrt er den wesentlich passiven Charakter des Materialismus der Aufklärung, und folgt der Tendenz, Individuen sowie deren Bevorzugung von Konsum vor Produktion, Naturimpulsen unterzuordnen. Seine Version des Materialismus, der auf Arbeit basiert, ist abhängig von den Tätigkeitsvorstellungen seiner idealistischen Vorläufer. In seiner Reaktion auf das Bild vom passiven Selbst bedient sich der Deutsche Idealismus einheimischer Traditionen, die auf Leibniz zurückgehen, um dem subjektiven Handeln eine größere Spontaneität und Selbstbestimmung zuzuschreiben. Der daraus resultierende Sinn für gestaltendes Tätigsein will die Ästhetik ebenso wie das politische Denken mit spezifisch idealistischen Zügen ausstatten. Als Wissenschaftlicher veröffentlichte Beiträge, die von der Mathematik zur Dynamik, und vom Maschinenbau im Bergwesen bis zu den Sprachwissenschaften und zur Erfindung einer Rechenmaschine reichten. Seine Untersuchungen schließen die Entwicklung einer „Wissenschaft des Glücks“ ebenso
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ein (die Bestimmung der im Lichte der menschlichen Natur und der Erfordernisse für ihr Florieren angemessenen Handlungszwecke), wie eine perfektionistische Ethik, die ihn von Kant und dem späteren Deutschen Idealismus deutlich unterscheidet. Angesichts dieser enormen Spannweite seines Werks ist hier eine Konzentration auf Leibniz’ Konzeption von Spontaneität und Form notwendig. Leibniz verwarf die Außenbestimmtheit und den Naturalismus des materialistischen Denkens. Stattdessen begreift er Subjekte als innerlich selbstbestimmende Zentren von Kraft und Veränderung. Diese Zentren nannte er Monaden. Für Leibniz bedeutet die Spontaneität, mit der Monaden ausgestattet sind, ständige Veränderung als Antwort auf einen inneren Imperativ, der nur dem Subjekt gehört. Jede einzelne Monade ist mit ihrer Perspektive der Welt einzigartig. Jede einzelne ist tätig und lenkt sich selber, wobei sie mit ihren Handlungen einen inneren Gehalt offenbart. Und zwar kann die Tätigkeit dieser Monaden aus ihren eigenen inneren Eigenschaften erklärt werden und nicht etwa aus einer äußeren mechanistischen Kausalität heraus (wenngleich Leibniz mechanistische Kausalgesetze nicht verneint. Diese haben ihre legitime Operationssphäre in der abgeleiteten Phänomenwelt, der die Monaden mit ihren absichtsvollen, selbstbestimmten Bewegungen Struktur geben). Wie es dem Begründer der Infinitesimalrechnung zukommt, bedeutet Leibnizens Philosophie Veränderung denken, ebenso wie die Formen, die Veränderung hervorbringt. Handeln ist die Enthüllung oder Offenbarung einer spontanen Kraft, die in eine Gestalt als Ausdruck dieser Kraft resultiert. Gestalt ist so sichtbare Kraft, die sich selber in Raum und Zeit offenbart. Leibnizens grundlegender Schritt in Richtung auf den Deutschen Idealismus und besonders den Bereich neuzeitlicher Ästhetik ist diese Übertragung des Formbegriffs (das Kennzeichen, das ein Gegenstand als Ergebnis qualitativer Veränderung erwirbt) auf Gestaltung, die Struktur gebende Tätigkeit, die Körper in ihren Bewegungen beschreibt. Formen sind so nicht mehr feststehende, allgemeine Aspekte der Naturordnung wie in der klassischen Metaphysik, sondern tauchen aus einer dynamischen Beziehung zwischen Subjekten und ihrer Umgebung auf. Damit initiiert Leibniz die neuzeitliche Ästhetik als eine solche von Gestaltung und ihren Ergebnissen. Diese Ergebnisse bzw. Gestalten sind Gegenstände, die nicht aus dem Gesichtspunkt von Nützlichkeit oder wissenschaftlicher Berechnung heraus betrachtet werden, sondern als Konstruktionen, die eine subjektive Vorstellung projizieren oder (wie unvollkommen auch immer) materialisieren. Sie werden nicht auf streng künstlerische Werke begrenzt, sondern weiterreichend als Ergebnisse teleologischer oder absichtsvoller Tätigkeit begriffen, die kulturelle Artefakte aller Art umspannt. In gleicher Weise beschreibt die Ästhetik die Beziehungen, in denen sich diese Gegenstände zu ihren Schöpfern und deren Gesellschaft befinden, für die sie z.B. Haltungen wie Authentizität, Ironie oder Entfremdung als Beispiele aufführt. So aber trägt die Ästhetik zu einer Handlungs- und neuzeitli-
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chen Gesellschaftstheorie bei und will einen besonderen Zugang zum Deutschen Idealismus in seinem intellektuellen Zusammenhang bieten. Zu den Folgen der Betonung der subjektiven Ursprünge von Gestalt gehört das Problem der Entsprechung zwischen Subjekten, ihren Intentionen und ihren Äußerungen. So kommt es zu Fragen nach ästhetischem Ausdruck und Entfremdung. In welchem Ausmaß entsprechen objektive Gestalten den ursprünglichen Intentionen des Subjekts, machen diese offenbar und objektiv? Diese Frage ist grundlegend, weil deren unterschiedliche Beantwortung zwischen Typen romantischen Denkens differenziert (dem auf Ausdrucksstärke und dem auf Ironie setzenden Typ) und auch romantische Zugänge von idealistischen unterscheidet. Die verschiedenen Möglichkeiten von Entsprechung/Nicht-Entsprechung mögen folgendermaßen umrissen werden:
A. Entsprechung: Freiheit als Authentizität (ein besonderer Inhalt der in den Gestalten kultureller und politischer Produktion offenbar und anerkannt wird)
B. Nicht-Entsprechung: 1. Freiheit als Distanz; die Setzung einer ontologischen oder metaphysischen Lücke zwischen Subjekten und ihren Taten in den Modi der Ironie und der schönen Seele; 2. Freiheit als Imperativ: Die Diskrepanz zwischen vernünftiger Subjektivität und der gegenständlichen Welt ist keine ontologisch notwendige Bedingtheit. Gegenständliche Gestalten entsprechen nicht der subjektiven Absicht, sondern sollen es – Freiheit ist so eine praktische Aufgabe von Reform, welche die Welt unter die Herrschaft der Vernunft bringt. Dies ist die Haltung des Deutschen Idealismus, der mit einigen Romantikern die Sicht der Subjekt-Objekt-Spaltung teilt, aber sie als überwindbar ansieht.
A. Entsprechung: In Herders ausdruckstarker Version wird die Welt der Leibnizschen Monaden in der kollektiven Gestalt nationaler Subjekte verwirklicht. Herder setzt Stetigkeit zwischen gegenständlichen Gestalten und den Fähigkeiten von Subjekten, wesentlichen Inhalt authentisch zu vergegenständlichen. Indem Herder Leibnizens Übertragung von Form in Gestalt folgt, betont er die ästhetische, gestaltende Kraft des Selbst. Ethisch muss implizite Subjektivität sich in der Außenwelt authentisch offenbaren. Diese Echtheit ist der Stempel der Freiheit, ein besonderer kultureller Gehalt, der offenbar, bekannt
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und als solcher anerkannt wird. Aber wer sind diese gestaltenden Selbste? Herder deutet die Leibnizsche Monade als nationale Gruppierung, die ihre einzigartige Geschichte und ihr einmaliges Bewusstsein in Werken kultureller Produktion, Sprache etc. zum Ausdruck bringt. Herder sieht jedes Kollektivsubjekt als das Angebot einer einmaligen und unersetzlichen Perspektive der Gesamtheit menschlicher Leistungen an, sowie als Verwirklichung einer Ansicht der zusammengesetzten menschlichen Persönlichkeit. Der Verlust einer besonderen Perspektive durch Verdrängung oder Standardisierung bedeutet die endgültige Verarmung der Gesamtheit menschlicher Fähigkeiten. Damit integriert er das Nationalgefühl in eine kosmopolitische Weltsicht (während er seine Kritik auf die standardisierenden Tendenzen von Modernität und übersimplifizierender Arbeitsteilung überhaupt ausdehnt). (Der Einfluss dieser Ansichten auf die Gestaltung von neuzeitlichem Nationalbewusstsein war tief, besonders auf die Revolutionen von 1848).
B. Nicht-Entsprechung: Die Unfähigkeit von Subjekten, sich in ihren Werken zu verwirklichen, kann entweder metaphysischen oder geschichtlichen Ursachen zugeschrieben werden. B (I) Metaphysische Nicht-Entsprechung: Freiheit als Distanz B (I a) Ironie: Für Friedrich Schlegel stehen Form und Subjekt zu einander in einer widersprüchlichen und keiner positiven Beziehung. Subjekte können ihre echten Intentionen in ihren Taten nicht wiederfinden. Formen und Subjekte entsprechen sich hier nicht, und zwar aus ontologischen Gründen, die in der Natur von Innerlichkeit und der Unmöglichkeit liegen, ihre Fülle in Gegenständlichkeit zu offenbaren. Das Subjekt ist Quelle eines unendlichen schöpferischen Potenzials, aber seine Taten sind bruchstückhaft, verzerrt und endlich. (Diese Position stellt eine Versubjektivierung Platons mit seiner Unterscheidung von Idee und Phänomen dar). Diese Unvergleichbarkeit von spontanem Subjekt und einer bestimmten Repräsentation in der gegenständlichen Welt liegt der Haltung romantischer Ironie und Distanz zugrunde, wo das Selbst abseits von seinen Produkten steht bzw. bloß mit ihnen als unechten und entbehrlichen Bruchstücken von sich spielt. Freiheit liegt in dieser Anerkennung des notwendigen Abrückens des Subjekts von seinen Taten. Diese Haltung ist der Vorfahre von Nietzsche (trotz seiner Opposition gegen romantische Schlaffheit) und vieler zeitgenössischer Postmodernisten. B (I b) Schöne Seele: Ein verwandte Form metaphysischer Trennung von Subjet und Tat findet sich in der Gestalt der schönen Seele, einer reinen Innerlichkeit von Bewusstsein, die dessen Selbstverwirklichung in Gegenständlichkeit gering schätzt. Friedrich Schleiermacher schildert die schöne
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Seele als ein Subjekt, das sich von Gegenstandsbeziehungen gelöst hat, wobei es ablehnt, seine Reinheit mit Handeln (bloße Einbuße und Zerstreuung) zu besudeln, und äußere Kausalität auf Abstand hält. In der Romantik der „schönen Seele“ wird die Leibnizsche Monade als zu erfüllende Bedingungen umgestaltet, und zwar unter dem ethischen Imperativ, eine Monade zu werden. B (II) Geschichtliche Nicht-Entsprechung: Freiheit als Imperativ Jetzt haben wir das Feld des Deutschen Idealismus von der Perspektive der Ästhetik her erreicht; aber dies bringt uns auch dazu, seine Ethik und seinen Sinn für Geschichte zu betrachten. In diesem Sinne entsprechen sich zwar Formen und Subjekte nicht, aber sie sollten es. Der Imperativ, die Formen von Gegenständlichkeit unter die Herrschaft der Vernunft zu bringen, ist das Kennzeichen des Idealismus von Kant und Schiller bis zu Hegel und seiner Schule. Im Gegensatz zu Herders Ausdrucksstärke bestehen die handlungsleitenden Prinzipien nicht in besonderen Gemeinschaftswerten, sondern in allgemeinen Normen. Gegen romantische Ironiker behaupten Idealisten den Imperativ, Entfremdung zu überwinden und nicht darin zu schwelgen. Für den Deutschen Idealismus ist Geschichte der Ausdruck praktischer Vernunft, und zwar als Prozess, Subjekt und Objekt in Übereinstimmung zu bringen. Für Kant ist der fortschrittliche Charakter der Geschichte als Verwirklichung von Vernunft moralisches Postulat oder regulatives Prinzip. Indem wir aufgrund der Annahme handeln, dass die gegenständliche Welt unter der Herrschaft von Vernunft umgestaltet werden kann, helfen wir dabei, dieses Resultat auch hervorzubringen, wenngleich wir es nicht als wissenschaftliche Tatsache behaupten können. Hegel meint, Kants Irrtum läge darin, die Maßstäbe für Wollen als absolut zeitlos zu betrachten, während sie doch in die Entwicklungsgeschichte der Vernunft eingeschrieben wären. Ferner versage Kant dabei, innerliche Sittlichkeit mit äußerlichen Praktiken, Institutionen und den Wirkungen der Freiheit im sittlichen Leben zu vervollständigen, wo Autonomie konkret wird. Für Hegel ist die Logik der Geschichte für die rückblickende philosophische Rekonstruktion offen, welche auf die sich verschiebenden Beziehungsmuster zwischen Subjekten und ihren Eingriffen in die gegenständliche Welt aufmerksam ist und dabei von bestimmten Verständnissen von Freiheit geleitet ist. Die Möglichkeit des Überganges zu neuen Weisen des Sehens und Tuns liegt im widersprüchlichen Charakter der Begriffsschemata, mit denen Subjekte arbeiten. Sie versuchen eine bestimmte Sicht ihrer selbst und ihrer Welt in Szene zu setzen, und zwar als sanktioniert durch herrschende Normen, und finden, dass sie in entscheidenden Hinsichten systematisch versagen. Dieses Versagen führt zu einer Neuformulierung der Grundkategorien und zu neuen Arten von Selbstverstehen, auf welcher Basis eventuell neue Sozialordnungen erwachsen. Ältere Lesarten Hegels sahen dies als eine Art von metaphysisch-kosmischem Prozess an, der in der Hand eines Weltgeistes ist, der Menschen für seine eigenen Zwecke braucht, um zu seinem eige-
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nen Selbstbewusstsein zu kommen. Die jüngere Forschung sieht bei Hegel bescheidenere und immanente Behauptungen über den Fortschritt und die Versuche des menschlichen Selbstbewusstseins aufzustellen. Das Grundproblem, das eine Lösung erfordert, ist mit dem herrschenden Widerspruch oder der „bestimmten Verneinung“ innerhalb des Begriffsschemas gesetzt; aber wie dieses Problem zu lösen ist, ist nicht vorherbestimmt. Die Lösung bleibt ein Akt schöpferischer Freiheit. Personsein ist nichts Feststehendes, sondern eine Leistung, ein Akt der Freiheit, wenngleich keiner der absoluten Freiheit, da sie immer durch die besonderen Wahlmöglichkeiten bedingt ist. Hegel definiert Personsein als die Fähigkeit, die eigenen Zwecke und Attribute für sich zu bestimmen, durch reflexiven Willen die gegebene Besonderheit in bewusste Individualität zu verwandeln. Geschichtsepochen können durch die vorherrschenden Arten von Personsein in ihnen charakterisiert werden, als Offenbarungen von gewissen weitgehend geteilten Verständnisweisen der Freiheit: die schöne Individualität des alten Griechenland, das unglückliche Bewusstsein der mittelalterlichen Christenheit, die freie unendliche Persönlichkeit der Neuzeit. Nach Hegel bietet die Neuzeit ein beispielloses Feld für individuelle Spontaneität und Autonomie, ebenso wie breitere Aussichten auf vernünftige Interaktion. Die Freiheit der neuzeitlichen Persönlichkeit besteht erstens in der Entfaltung von Besonderheit und der Anerkennung ihrer Rechte, als Recht auf ein subjektives Gewissen und die Anerkennung öffentlicher Normen, wie als Recht, nach materieller Befriedigung eines wachsenden Bereichs von Bedürfnissen zu suchen. Diese Rechte gehen viel weiter als jene, die man in früheren Gesellschaftsformen genoss. Zweitens besteht ihre Freiheit in ihrer Allgemeinheit, ihrer Teilnahme an vernünftigen Institutionen und sozialen Lebensformen, in denen sie ihre eigene Autonomie erfährt und behauptet. Weil der neuzeitliche Staat, wie er aus dem Schmelztiegel der Französischen Revolution auftaucht, die Rechte subjektiver Freiheit eingestehen und allgemeine Ansprüche auf Selbstbestimmung vertreten kann, zeigt er einen höheren Grad von Rationalität als frühere Staatsformen wie die Polis, mittelalterliche Privilegienhierarchien und frühneuzeitlicher Absolutismus. Die Unendlichkeit, die Hegel der neuzeitlichen Persönlichkeit zuschreibt, ist diejenige, selbstreflexiv bzw. ihrer eigenen Leistungen bewusst zu sein und dieses Bewusstsein in ihren Beziehungen zu anderen Subjekten zum Ausdruck zu bringen. Dies ist das Gegenteil einer ironischen Subjektivität, weil sie sich selbst in ihren Taten anerkennt und behauptet. Wenn das moderne sittliche Leben recht verstanden und organisiert wird, stehen darin Freiheit und Gemeinschaft nicht im Gegensatz, sondern ergänzen sich. Die sich ausdehnende Bewegung der Besonderheit findet ihr Gegengewicht in der rückläufigen Bewegung zur Einheit bzw. zur Mitgliedschaft in einer vernünftig geordneten Gemeinschaft. Die Gestalt der freien und unendlichen Persönlichkeit hält beide Bewegungen in einer dynamischen Spannung.
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Hegel ist jedoch im Blick auf die Aussichten von Freiheit in der Neuzeit nicht sehr zuversichtlich. Wenn die Neuzeit neue Verständnisse und Praktiken von Freiheit ermöglicht, kann sie auch als Kultur der Entfremdung oder Zersplitterung erscheinen, als Behauptung von ungezügeltem Teilinteresse, die das Potenzial für vernünftige Selbstbestimmung und Gemeinschaft untergräbt. In dieser Version bleiben die von neuzeitlicher Subjektivität freigesetzten Interessen in starrem Gegensatz verschlossen; die rückläufige Bewegung zur Einheit ist blockiert. Wenn Hegel Modernität als Kultur zerbrochenen Sittenlebens betrachtet, dann ist seine Sicht diejenige einer Epoche, die von tiefen Widersprüchen zwischen Allgemeinheit und Besonderheit, zwischen Emanzipationsmöglichkeiten und den abwegigen oder einseitigen Formen verstört ist, in denen diese Möglichkeiten ihren Ausdruck finden, ob in liberalem Partikularismus oder romantischem Subjektivismus. Hier stellt die freie und unendliche Persönlichkeit weniger eine Wirklichkeit, sondern ein nur unvollständig erreichtes Ideal dar, weniger ein konstitutives Prinzip von Modernität, als ein regulatives, das normative Richtmaße vorsieht, in deren Licht wir handeln oder nach denen wir streben sollten. So verstanden die fortschrittlichen oder „linken“ Nachfolger Hegel, wobei sie die kantischen Elemente seines Denkens verstärkten, die auch in der gegenwärtigen Forschung betont werden. Wenn, wie Hegel feststellt, die Wirklichkeit vernünftig ist, dann ist sie es im Rahmen ihrer Grundtendenzen und nicht etwa, weil Vernunft ganz oder unproblematisch verwirklicht sei. Die Geschichte ist nicht an ihrem Ende, sondern neuzeitliche Individuen und sittliche Gemeinschaften sind mit vernünftigen Einsichten ausgestattet, mit denen sie, wenn sie wollen, befördern können, was in ihnen am wertvollsten ist; oder sie können der Macht der Entfremdung unterliegen. Aus dieser Perspektive ist das Zerbrechen der Hegelschule schon in Hegels eigenem Denken angedeutet, nicht ihrer eigenen ungefestigten Synthese von unvereinbaren (Fichteschen und Spinozistischen) Elementen, sondern der ethischen Alternativen wegen, welche die Neuzeit anbietet und die Hegel diagnostiziert. So entwickelt Bauers Begriff des unendlichen Selbstbewusstseins einerseits die Begleiterscheinungen der freien unendlichen Persönlichkeit, welche die ästhetischen Motive von Schönheit [die Harmonisierung der eigenen inneren Triebe im Lichte allgemeiner Maßstäbe] und Erhabenheit [Teilnahme am weitergehenden Kampf gegen unvernünftige Institutionen und Praktiken] unter dem Imperativ verbindet, das Selbst und die Welt unter die Herrschaft der Vernunft zu bringen. Stirner steht für Partikularismus und nicht Universalismus, wobei er alles vermeintliche Allgemeine als notwendig transzendente Macht sieht, die das (besondere) Selbst in Leibeigenschaft hält, während Bauer zwischen wahren und falschen Universalien unterscheidet. Er definiert die wahren Universalien als immanentes Streben der Vernunft, sich in der Welt zu verwirklichen und so die Ursache der Emanzipation zu befördern, während die falschen Universalien Allgemeinheit lediglich vortäuschen bzw. als exklusives Privileg behandeln. Bauer sieht so Freiheit als Selbstumwandlung im Lichte
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universaler Vorhaben und nicht als unmittelbare Zufriedenstellung oder Selbstbehauptung. Politisch überträgt sich dies in eine Differenz zwischen Stirners Anarchismus (in jüngerer Forschung genauer als ein schwacher Apriorianarchismus beschrieben)10 und dem republikanischen Rigorismus von Bruno Bauer.11 Stirner spiegelt romantische Einflüsse.12 Er stellt den Einzigen als in seinem Tun unbeschreiblich dar, während er ihnen gegenüber eine Haltung ironischer Distanz aufrechterhält13 und sich einfach äußere Gegenstände aneignet und wegwirft, statt nach Ausdruck durch sie zu suchen. Handlungen sind nicht die Ausdrucksweise des Egoisten, der Gegenstände einfach als für augenblicklichen Verbrauch und Vernichtung verfügbar ansieht. Man darf an die eigenen Taten nicht gebunden oder auf sie nicht übermäßig festgelegt sein. Sonst werden sie Fetische, ‘Gespenster’, die das Selbst besitzen und seine Freiheit begrenzen. Wie seine ironisch-romantischen Zeitgenossen trennt Stirner zwischen Selbst und Welt als Sinnbild der Freiheit selber. Aus dieser Perspektive bedeutet ‘Eigenheit’ nicht, durch seine eigenen Schöpfungen gebunden zu sein, sondern ironische Distanz von ihnen aufrechtzuerhalten.14 Stirner teilt mit Romantikern aus dem Schlegellager die Vorstellung, dass keine Tat die Fülle und Kreativität des Selbst vertreten kann. Freiheit besteht für die Romantiker in der Anerkennung dieser ontologischen Lücke zwischen Selbst und Welt sowie darin, in diesem Unterschied zu schwelgen. Dieser Sinn ständiger Trennung und Entfremdung ist das Wesen der romantischen Ironie und durchdringt Stirners ‘Eigenheit’.15 Dagegen besteht Bauer auf dem ethischen Imperativ, die Sinnenwelt unter der Ägide der vernünftigen Idee, der vernünftigen Freiheit, zu verwandeln. Entfremdung bzw. die Nicht-Entsprechung von Denken und Sein stellt eine zu lösende Aufgabe dar; sie zeichnet nicht die ständige Grenze der Freiheit. Nach Bauer kann man selbst verursachend im Sinne Stirners sein ohne dabei völlig autonom zu sein, zumal Autonomie es erfordert, dass wir unsere Augenblicksimpulse und unsere Besonderheit vernünftiger Kritik unterwerfen und allgemeine Urteilsstandards beibehalten, in deren Licht wir einige beson-
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D. Leopold, „‘The State and I’: Max Stirners Anarchismus“. In: Moggach (Ed.), The New Hegelians. Cambridge 2006, 176-199. D. Moggach, „Republican Rigorism and Emancipation in Bruno Bauer“. In: Moggach (Ed.), The New Hegelians, 114-135. M. Stirner, Der Einzige und sein Eigentum [1845]. Stuttgart 1972. W. De Ridder, „Nawoord“. In: Max Stirner, De enige en zijn eigendom, vertaling van Thomas Eden en Widukind De Ridder. Brüssel 2008), 270-272. M. Stirner, Der Einzige und sein Eigentum [1845]. Stuttgart 1972. 189ff. D. Moggach, „Aesthetics and Politics“. In: Jones/Claeys (Ed., Cambridge History of Nineteenth-Century Political Thought, Cambridge 2011, pp. 495-502; de Ridder, “Nawoord“, In: Max Stirner, De enige en zijn eigendom, 270-272.
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dere Wünsche und Gegenstände billigen, aber andere nicht.16 Die unmittelbare abstrakte Beziehung auf sich selbst in der Einzige hat zum Ergebnis, dass deren Inhalt empirisch und nicht kritisch gefüllt ist, so wie es der Augenblicksimpuls lenkt. Dies kennzeichnet die Bedeutung von Bauers Charakterisierung Stirners als Anwalt einer „von Innerlichkeit beherrschten Kritik“; Stirners Ethik ist wesentlich heteronom. Wie Bauer es anderswo behauptet, „die Anschauung der Substanz ist kritisch – siehe Spinoza – aber eben so sehr fällt sie zu unmittelbarer Anerkennung des positiven wieder herab – siehe Spinoza“.17 Nach Bauer muss das Besondere, wie auch das von zufälligen Wünschen und Erfahrungen gelieferte Material des Willens, der Kritik unterworfen werden und kann nicht als unmittelbar geltend zählen. In ihren verschiedenen Aufmachungen ist Besonderheit durch den Eindruck der bestehenden Ordnung und durch die entsprechenden engen und egoistischen materiellen Interessen heteronom geprägt. Diese Formen vertreten in Substanzialität abgesunkenen und noch nicht frei sich selbst bestimmenden Geist. Autonomie ist so Ergebnis der Kritik des Positiven und Besonderen und nicht etwa des Ausspielens unmittelbarer Interessen. Von Appetit gelenkt lassen es die Handlungen des Stirnerschen Selbst an vernünftiger Selbstbestimmung fehlen. Damit setzt Bauer der ‘Eigenheit’ eine Konzeption von Freiheit entgegen, die allgemein und kritisch ist und nicht einfach ein müßiger Wunsch. Die Spaltungen in der Hegelschule setzen so die Grundspannungen in Szene, die in die Neuzeit selber eingewoben sind, zwischen Emanzipation und Entfremdung, Autonomie und Heteronomie. Wir leben im Schatten dieser Entwicklungen. Was gültig und lebendig bleibt, die reichsten Beiträge der Aufklärung und des Idealismus, der sie gesammelt hat, ist die Aussicht auf vernünftige Selbstbestimmung, auf die Aneignung der Welt durch Entwicklungsmaßstäbe für Vernunft und Freiheit. Der Deutsche Idealismus schlägt neue Wege vor, die moderne Welt und die Kapazitäten moderner Subjekte zu verstehen, während er auf die Konflikte und Widersprüche aufmerksam bleibt, die ihre Welt heimsuchen. Hegel behauptet, dass Philosophie den Weg der Zukunft nicht vorhersagen oder vorschreiben kann. Dies ist die Bedeutung seines berühmten Bildes der Eule der Minerva, die in der Abenddämmerung 16
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Vgl. Max Stirner, „Das unwahre Prinzip unserer Erziehung oder der Humanismus und Realismus von 1842“. In: Pepperle (Hg.), Die Hegelsche Linke. Dokumente zu Philosophie und Politik im deutschen Vormärz. Frankfurt/M. 1986. 412-439. Der Aufsatz unterscheidet Egoismus von Selbstbestimmung. Der erstere wird als heteronom gesehen, da er von anderen und von den Leidenschaften abhängt. Diese Unterscheidung wird im Begreifen von Eigenheit in Der Einzige umgestaltet. Jetzt sind Egoismus und Eigenheit synonym. (Stirner, Der Einzige, 165). Jetzt wird zwischen Egoismus einerseits und Besessensein andererseits unterschieden, wo wir nicht die erforderliche ironische Distanz von unseren Taten, von Gegenständen und von anderen offenbaren. So aber verschiebt sich die Betonung vom früheren Anliegen des Verhältnisses zwischen telos oder Maxime und Handeln zu demjenigen zwischen Handeln und seiner Wirkung. Bruno Bauer, Kritik der evangelischen Geschichte der Syniptiker. Erster Band. Leipzig 1841. IX.
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losfliegt. Die Philosophie kann aber die Vergangenheit untersuchen und damit Subjekten Entwicklungsperspektiven für ihre Welt anbieten. Ferner kann sie Widersprüche im Herzen gegenwärtiger Praktiken analysieren. Auch als Anregung kann sie tätig werden, indem sie zu einem weitergehenden Befragen der Rechtskraft moderner Institutionen, ihrer Emanzipationsansprüche, ihrer Erfolge und Misserfolge einlädt. Zumal der Deutsche Idealismus diese strittigen Punkte abschätzt, wird er besser nicht als ein geschlossenes und bedrohliches Gebäude angesehen, sondern als ein Leuchtfeuer, welches das geschichtliche Werden von Freiheit ebenso wie die Hindernisse, die ihr im Wege stehen, beleuchtet.
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Das Problem der „Machbarkeit der Geschichte“ im deutschen Idealismus Die Menschen machen ihre eigene Geschichte. Dieser Satz wird oft als ein allgemein anerkanntes Prinzip oder aber als eine Illusion vorgestellt. In der Tat wirft die Idee der Machbarkeit der Geschichte einige heikle Fragen auf. Einerseits gehört sie anscheinend zu unserer modernen Geschichtsauffassung, wie wir sie explizit bei Marx, Lukács, Bloch, Sartre oder Castoriadis finden. Andererseits wurde sie von verschiedenen Philosophen des 20. Jahrhunderts wie Hannah Arendt oder Hermann Lübbe als einer der tragenden Pfeiler des Totalitarismus scharf kritisiert. In meinem Beitrag möchte ich zuerst auf den Ursprung dieser Idee eingehen und danach ihre philosophische Bedeutung bewerten. Mein Ausgangspunkt ist die Reflexion Kosellecks, der dieser Frage der „Machbarkeit“ bzw. der „Verfügbarkeit“ der Geschichte nachgegangen ist. Koselleck stellte fest, „dass jemand Geschichte macht, ist eine neuzeitliche Wendung, die vor Napoleon oder vor der französischen Revolution nicht formulierbar war“.1 Er weiß natürlich, dass diese Idee in Vicos Buch „Die neue Wissenschaft“ (1728) vorformuliert ist. Vico vertritt darin die These, dass die Menschen die geschichtliche Welt besser als die Natur erkennen könnten, weil sie jene gemacht hätten, während diese von Gott geschaffen worden sei. Dennoch setzt der Ausdruck „die Geschichte machen“ die moderne Auffassung der Geschichte als eine einzige Geschichte voraus. Nach Koselleck ist der heutige Begriff der Geschichte eine Idee der Aufklärung, der erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts auftaucht. Folglich ist auch die Idee der Machbarkeit der Geschichte erst zurzeit und im Rahmen des deutschen Idealismus entstanden. Der Begriff der Geschichte ist die Synthese zweier Ideen: Das Wort Geschichte wird als „Kollektivsingular“ benutzt und dann als „Handlungsbegriff“ definiert. Diese Synthese meint Koselleck, sei durch den deutschen Idealismus hervorgebracht worden: „Die Geschichte, die sich früher ‘ereignete’ und in gewisser Weise mit den Menschen geschah, konnte erst als Handlungsfeld, als machbar und produzierbar erachtet werden, nachdem sie der deutsche Idealismus als Prozess menschlicher Selbstverwirklichung entworfen worden war.“2
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R. Koselleck, „Über die Verfügbarkeit der Geschichte“. In: ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt am Main 1979, 262. R. Koselleck, „Geschichte“. In: Brunner/Conze/Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Bd 2. Stuttgart 1975, 712.
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Um diese These zu illustrieren hat Koselleck neben Kant und Fichte auch auf den jungen Schelling verwiesen. Hegel wird in diesem Zusammenhang von ihm allerdings nicht erwähnt. Es ist insofern erstaunlich, als der Begriff des deutschen Idealismus ohne Hegel nicht vorstellbar ist. Natürlich sind die vier Philosophen, die durch den Terminus „deutscher Idealismus“ zusammengefasst werden, sehr verschieden. Die sich stellende Frage lautet deshalb: Hat Hegel ebenfalls die These der Machbarkeit der Geschichte vertreten? Bevor ich auf diese Frage eingehe, möchte ich die Positionen Kants, Fichtes und Schellings kurz in Erinnerung rufen.
1. Kant In seiner Schrift Der Streit der Fakultäten (1798) umreißt Kant u.a. in groben Zügen eine wahrsagende Geschichte der Menschheit.3 Nach zwei Seiten richten sich dabei seine Überlegungen. Einerseits die naturwissenschaftliche Vorhersage für Handlungsabläufe, die auf Naturgesetzen beruhen und die beim menschlichen Handeln nicht anwendbar sind, sowie andererseits die weissagende (prophetische) Rede, die auf übernatürlicher Inspiration zu beruhen vorgibt. Wie nun kann der Philosoph eine Geschichte der künftigen Zeit ausarbeiten? „Als wahrsagende Geschichtserzählung des Bevorstehenden in der künftigen Zeit: mithin als eine a priori mögliche Darstellung der Begebenheiten, die da kommen sollen. – Wie ist aber eine Geschichte a priori möglich? – Antwort: wenn der Wahrsager die Begebenheiten selber macht und veranstaltet, die er zum Voraus verkündigt.“4 Diese Antwort gibt die Vorstellung wieder, dass die Menschen ihre eigene Geschichte machen können, und doch schwingt hier noch ein Unterton der Ironie mit. Kant führt nämlich das Beispiel der Propheten an, die den Untergang ihres Staates förmlich herbeipredigen und der dann auch dadurch tatsächlich eintreten wird. Ganz allgemein steht die Voraussage nach Kant im Konflikt mit der Unberechenbarkeit der menschlichen Freiheit, die auch einen möglichen Rückschritt nicht ausschließt. Auch die Vernichtung der Menschheit durch eine Naturkatastrophe ist möglich. Die wahrsagend-voraussagende Geschichte allerdings ohne das prophetische Wort beschränkt sich nur mehr darauf zu behaupten, dass sich das Menschenge3 4
Kant, Akademie-Ausgabe (im folgenden Ak). Bd VII, 87. Der Text fährt fort: „Jüdische Propheten hatten gut weissagen, daß über kurz oder lang nicht bloß Verfall, sondern gänzliche Auflösung ihrem Staat bevorstehe; denn sie waren selbst die Urheber dieses ihres Schicksals. – Sie hatten als Volksleiter ihre Verfassung mit so viel kirchlichen und daraus abfließenden bürgerlichen Lasten beschwert, daß ihr Staat völlig untauglich wurde, für sich selbst, vornehmlich mit benachbarten Völkern zusammen zu bestehen, und die Jeremiaden ihrer Priester mußten daher natürlicher Weise vergeblich in der Luft verhallen: weil diese hartnäckicht auf ihrem Vorsatz einer unhaltbaren, von ihnen selbst gemachten Verfassung beharrten, und so von ihnen selbst der Ausgang mit Unfehlbarkeit vorausgesehen werden konnte“. Ak VII, 79-80.
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schlecht immer im Fortschreiten befand und es auch zukünftig sei. Eine Annahme ohne hinreichenden Grund, außer der Begeisterung für die französische Revolution, die ein „Geschichtszeichen (signum rememorativum, demonstrativum, prognostikon)“ darstellt, das den sittlichen Fortschritt der Menschheit anzeigt. Kant geht dadurch auch positiver die Hypothese der Machbarkeit der Geschichte an: „Es muß irgend eine Erfahrung im Menschengeschlechte vorkommen, die als Begebenheit auf eine Beschaffenheit und ein Vermögen desselben hinweiset, Ursache von dem Fortrücken desselben zum Besseren und (da dieses die That eines mit Freiheit begabten Wesens sein soll) Urheber desselben zu sein.“ 5 Bei dieser Erfahrung handelt es sich um die französische Revolution. Hier wird für alle die Möglichkeit sichtbar, dass der Mensch Schöpfer seiner Geschichte ist.
2. Schelling In seinem Beitrag „Über die Verfügbarkeit der Geschichte“ erwähnt Koselleck ebenfalls eine 1798 erschienene Schrift des jungen Schelling, die nach meiner Kenntnis die erste vollständige Formulierung des Ausdrucks „Geschichte machen“ ist: „Dem Menschen aber ist seine Geschichte nicht vorgezeichnet, er kann und soll seine Geschichte sich selbst machen; […] Wenn also der Mensch Geschichte (a posteriori) hat, so hat er/sie nur deswegen, weil er keine (a priori) hat; kurz, weil er seine Geschichte nicht mit- sondern selbst hervorbringt.“6
Die Geschichte ist einem Drama vergleichbar, bei dem die Menschen die Mitdichter7 sind. Habermas fand eine Ausgestaltung dieser Idee in Schellings Werk Die Weltalter. Die aktuelle Epoche, die Gegenwart, ist aus dem Rückzug Gottes aus dem ersten Zeitalter der Vergangenheit entstanden, was dem Menschen freie Hand lässt: „Gleichwohl bleibt dieses Menschengeschlecht, wenn auch auf verkehrte Weise, ein Gott, weil es seine Geschichte selber macht; als das Subjekt seiner Geschichte ist, ohne es doch als Subjekt schon sein zu können – sonst wäre Geschichte wiederum Schöpfung.“8
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Kant, Ak VII, 84. Schelling, „Ist eine Philosophie der Geschichte möglich?“. In: Schelling: Sämtliche Werke (im folgenden SW). Bd I,1, 470, 471-472. Schelling, System des transzendentalen Idealismus. In: SW I, 602. J. Habermas, „Dialektischer Idealismus im Übergang zum Materialismus – Geschichtsphilosophie Folgerungen aus Schellings Idee einer Contraction Gottes“. In: Theorie und Praxis. Sozialphilosophische Studien, Neuwied und Berlin 31969, 130.
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3. Fichte Die Idee der Machbarkeit der Geschichte hat von Anbeginn an einen eindeutig politischen Bezug. Fichte schreibt im Vorwort zum Beitrag zur Berichtigung der Urtheile des Publicums über die französische Revolution von 1793: „wir werden in der ganzen Weltgeschichte nie etwas finden, was wir nicht selbst erst hineinlegten“.9. Die Revolution von 1789 vollendet in der Weltgeschichte das, was Kant in der Welt des Denkens vollzogen hatte. Einige Jahre später, als Deutschland von napoleonischen Truppen besetzt war, rief Fichte das deutsche Volk dazu auf, sein Schicksal in die Hand zu nehmen, und seine eigene Geschichte zu gestalten: „Ihm wickelt sich die Geschichte, und mit ihr das Menschengeschlecht, nicht ab nach dem verborgenen und wunderlichen Gesetze eines Kreistanzes, sondern nach ihm macht der eigentliche und rechte Mensch sie selbst, nicht etwa nur wiederholend das schon Gewesene, sondern in die Zeit hineinerschaffend das durchaus Neue.“10
4. Hegel Findet sich die Idee der Machbarkeit der Geschichte auch bei Hegel? Hermann Lübbe hat dies energisch bestritten. Er behauptet, die Begriffe ‘Sinn der Geschichte’ oder ‘Geschichtszweck’ gehörten zu einer totalitären Ideologie. Niemand könne für sich das Recht beanspruchen, im Namen der Geschichte zu handeln oder ihre Gesetze vollziehen zu wollen. Dabei richtet er sich vor allem gegen Marx und dessen Ausdruck der weltgeschichtlichen Rolle des Proletariats, wodurch dieser sich von Hegel unterscheiden will, den er als Denker der Geschichte ohne Subjekt verstand. Nach ihm habe Hegel die Weltgeschichte so verstanden, dass sie weder in den Bereich des Machens, noch in den des Tuns gehöre. Niemand mache die Geschichte, diese könne sich nur historisch erklären, d.h. ohne Bezug auf Absichten, Pläne oder Entwürfe. Die Geschichte ist kein Strom, den man kontrollieren oder leiten kann. Der Platz des Subjekts muss folglich leer bleiben, und dies obgleich die Menschen oft vor dem horror vacui zurückschrecken und sich zum Führer der Menschheit erheben möchten. Falls dies doch geschieht, und das wissen wir nur allzu gut, geschieht es zu ihrer größten Gefährdung.11 Ich selber habe dafür plädiert, dass Hegel diese Idee berücksichtigt hatte, wobei ich mich auf zwei Argumente stütze. Er überlässt den großen Menschen 9
10
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Fichte, Beitrag zur Berichtigung der Urtheile des Publicums über die französische Revolution. In: Fichtes Sämmtliche Werke. Hrsg. von I. H. Fichte. Bd VI. Berlin 1845, 39. Fichte, Reden an die deutsche Nation (1807). In: Fichtes Sämmtliche Werke. Hrsg. von I.H. Fichte. Bd VII, 368. H. Lübbe, „Geschichtsphilosophie und politische Praxis“. In: Koselleck, Stempel (Hrsg.), Geschichte-Ereignis und Erzählung, Poetik und Hermeneutik Band 5. München 1973, 222-240.
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einen hervorragenden Platz in der Weltgeschichte und gebraucht reichlich die Konzepte der Arbeit, der Freiheit, der Handlung und der Tat um das historische Geschehen zu beschreiben.12 Selbst wenn sich der Ausdruck „Geschichte machen“, soweit ich weiß, nicht direkt bei ihm findet, kann man doch zahlreiche Textstellen finden, die in diese Richtung gehen. Der Philosoph darf nicht vergessen: „an der Spitze aller Handlungen, somit auch der welthistorischen, stehen Individuen als die das Substantielle verwirklichenden Subjektivitäten“.13 Für Hegel ist die Geschichte das Werk der schöpferischen Vernunft, die Arbeit des Weltgeistes, der sich in den Völkern und Individuen manifestiert und sie leitet. Der Geist ist der Geschichte nicht unterworfen: „in dem Geiste ist die Geschichte anderer Art [als in der Natur], was ihm geschieht, dies thut er; er ist (seine Geschichte ist), nur in der Reihe von seiner Thaten, wie er sich in der Existenz darstellt.“14 Die Tat ist eine zentrale Kategorie in Hegels Geschichtsphilosophie, wie eine weitere Textstelle belegt: „Die Geschichte des Geistes ist seine Tat, denn er ist nur, was er tut, und seine Tat ist, sich, und zwar hier als Geist, zum Gegenstande seines Bewußtseins zu machen, sich für sich selbst auslegend zu erfassen.“15 Es bleibt aber zu klären, ob nicht jene berühmte „List der Vernunft“ diese grundlegende Kategorie völlig ihres Sinns entleert. Wenn das Individuum, das handelt und an einem geschichtlichen Ereignis teilnimmt, zu keinem Zeitpunkt sich dessen bewusst ist, was es gerade verwirklicht, wenn seine Absichten letztendlich fehlgeleitet, ins Gegenteil gekehrt, ja verraten sind, dann ist es nicht der Schöpfer, sondern nur der Handelnde – der Mensch macht also die Geschichte nicht, er erleidet sie. Und dies würde ich als das Argument der Unkenntnis bezeichnen, das oft gegen die Machbarkeit der Geschichte vorgebracht wird: die Menschen machen die Geschichte, aber sie kennen die Geschichte nicht, die sie machen. Desweiteren ist es nötig, Hegels Theorie des großen Menschen näher in Augenschein zu nehmen. Der große Mensch bildet zusammen mit dem Volk den Platzhalter der Geschichte. Der große Mensch, das welthistorische Individuum ist dazu bestimmt, eine entscheidende Rolle innerhalb der Weltgeschichte zu spielen, so wie beispielsweise Alexander der Große, Cäsar oder Napoleon. Hegels Meinung schwankt zwischen zwei anscheinend entgegengesetzten Positionen. Er beginnt seine Untersuchungen über die Rolle der Individuen in der Geschichte mit der Behauptung, dass sie die Folgen ihrer Handlungen nicht kontrollierten:
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Vgl. Ch. Bouton, Le Procès de l’histoire, Paris, 2004, 133-166. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 348, Theorie Werkausgabe (im folgenden Werke) Bd 7, Frankfurt am Main 1986, 506. Hegel, Naturrecht und Staatswissenschaft, Nachschrift C. G. Homeyer 1818/19. In: ders., Vorlesungen über Rechtsphilosophie, 1818-1831. Hrsg. von K.-H. Ilting, Stuttgart 1973. Bd 1, 342. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts. Werke 7, § 343, 504.
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„jener Zusammenhang enthält nämlich dies, dass in der Weltgeschichte durch die Handlungen der Menschen noch etwas Anderes überhaupt heraus komme, als sie bezwecken und erreichen, als sie unmittelbar wissen und wollen“.16
Genau diese Situation nun bezeichnet Marquard als „die Unverfügbarkeit der Konsequenzen“.17 In diesem Zusammenhang führt Hegel das beredte Beispiel eines Brandstifters an, der aus Rache Feuer legt, das dann aber auf andere Häuser übergreift, diese zerstört und dem sogar viele Menschen zum Opfer fallen. Der Brandstifter lässt uns nun an zwei Möglichkeiten denken, die uns in der Geschichte begegnen: Der Mensch, der Feuer legt sowie das Problem, das man heute als „Kollateralschaden“ bezeichnet. Dem Konzept des großen Menschen fügt er dann noch die Theorie der „List der Vernunft“ hinzu, nach der die Vernunft die menschlichen Leidenschaften (Ruhmsucht, Machthunger usw.) benutzt, um ihre eigenen Ziele auf deren Kosten durchzusetzen, denn die Menschen müssen den Schaden tragen. So gesehen, wird der große Mensch auf ein blindes Werkzeug herabgestuft, denn groß ist er nur, insofern er einem größeren als seinem eigenen, begrenzten Zwecke dient, ohne es zu wissen. Die Staaten, Völker und Individuen sind nur unbewusste Werkzeuge des Weltgeistes: „Die Staaten, Völker und Individuen in diesem Geschäfte des Weltgeistes stehen in ihrem besonderen bestimmten Prinzipe auf, das an ihrer Verfassung und der ganzen Breite ihres Zustandes seine Auslegung und Wirklichkeit hat, deren sie sich bewußt und in deren Interesse vertieft sie zugleich bewußtlose Werkzeuge und Glieder jenes inneren Geschäfts sind, worin diese Gestalten vergehen, der Geist an und für sich aber sich den Übergang in seine nächste höhere Stufe vorbereitet und erarbeitet“.18
Der große Mensch ist trotz seiner groß! So folgert Rudolf Haym: „Nicht die Freie Selbstbestimmung der Menschen sorgt hier für den Fortschritt und Verwirklichung der humanen Interesse, sondern die absolute Idee bedient sich des Thuns der Menschen nur, um sich selbst zu genießen. Dieses Thun ist nur eine dem Menschen vom Weltgeist geliehen Rolle; es ist wie das Agieren eines Schauspielers, den der Dichter eine Weile den König spielen lässt, bis er die die Welt bedeutenden Bretter wieder verlassen muss“.19
Wegen dieser List der Vernunft ist der Handelnde niemals der Urheber seines Tuns. An anderen Textstellen der Philosophie der Geschichte finden wir allerdings eine ziemlich verschiedene Auffassung von der vorhergehenden. Der große Mensch erscheint mitten in den entscheidenden Ereignissen, in Krisenzeiten, wenn der Geist einer Epoche von der Bühne abtritt und den Platz ei16
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Hegel, Vorlesungsmanuskripte II (1816-1831), In: Gesammelte Werke, Bd 18, Hrsg. von W. Jaeschke, Hamburg, 1995, 163. O. Marquard, „Ende des Schicksals? Einige Bemerkungen über die Unvermeidlichkeit des Unverfügbaren“. In: Schicksal? Grenzen der Machbarkeit, München 1977, 7-25. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 344, Werke 7, 505. R. Haym, Hegel und seine Zeit, Leipzig 21927, 447.
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nem neuen Prinzip überlassen muss. Hegel sieht nun die Größe des großen Menschen in seiner außergewöhnlichen Fähigkeit dieses Prinzip zu erfassen, zu willen und zu verwirklichen. Der große Mensch steht keineswegs in Unkenntnis vor den Herausforderungen seiner Aufgabe, sondern im Gegenteil, er weiß um die Bedeutung der geschichtlichen Stunde, und es ist gerade dieser Scharfsinn, der ihn vom Normalsterblichen unterscheidet. Die großen Menschen sind diejenigen, die den Geist ihrer Zeit besser erfassen, sie tragen ihn vor das Bewusstsein der übrigen Menschen, denen er verborgen blieb, und aus diesem Grunde folgt ihnen das Volk wie Heroen: „Es sind eben die großen, welthistorischen Individuen, die ein solches Allgemeines ergreifen und zu ihrem Zweck machen. Sie können so Heroen genannt werden, die ein Allgemeine erschaffen, das sie aus sich schöpfen, wissen, wollen und vollbringen, und das, da es ein Allgemeines ist, anerkannt ist.[…] Um die Paniere solcher Helden sammeln sich alle, weil diese aussprechen, was an der Zeit ist“.20
Hegel benutzt ganz unterschiedliche Verben, um die charakteristischen Fähigkeiten des großen Menschen zu unterstreichen: wissen, verstehen, erfassen. Einer Wendung begegnen wir des öfteren: Die Menschen der Weltgeschichte sind „die einsichtsvollsten in ihrer Welt. Sie verstehen am besten, um was es zu tun ist“.21 Wie kann man also unter diesen Voraussetzungen von einem unbewussten oder blinden Werkzeug sprechen? Es scheint also, als ob die Konzeption des „großen Menschen“ bei Hegel eine spezifische Antinomie hervorrufe. Einerseits handelt es sich um einen außergewöhnlich scharfsinnigen und klugen Geist, andererseits um ein überlistetes Instrument. Der „große Mensch“ ist in einer Hinsicht Handelnder und Schöpfer der historischen Ereignisse, auf der anderen Seite Handelnder ohne deren Urheber zu sein, insofern er sich nämlich dessen nicht bewusst ist, was er tatsächlich macht, als ob er ein Spielzeug des Weltgeistes wäre. Als Folge dieser unterschiedlichen Auffassungen vertreten gewisse Interpreten die Meinung, Hegels Konzeption des welthistorischen Individuums sei nicht kohärent.22 Andere hingegen behaupten, dass der große Mensch über keine Gestaltungskraft verfüge, die „Geschichte zu machen“.23 Es scheint mir aber, dass die Antinomie des großen Menschen einen anderen Lösungsvorschlag ermöglicht, unter der Bedingung allerdings den Begriff der geschichtlichen Tat vorher näher zu bestimmen. Hegel weist eine zu rationale Auffassung der geschichtlichen Tat, die dem Handelnden eine totale Beherrschung der Ereignisse zugesteht, zurück. Der junge Hegel hing einem neuen Ge20
21 22
23
Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte, Berlin, 1822-1823, Nachschriften von K. G. J. von Griesheim, H. G. Hotho und F. C. H. V. von Kehler. Hrsg. von Ilting, Brehmer und Seelmann. Hamburg 1996, 68. Ebd. 69. Vgl. Sh.Avineri, „‘Consciousness in History’: List der Vernunft in Hegel and Marx“. In: Steinkraus (ed.), Newstudies in Hegel’s Philosophy, New York 1971. Vgl. M. Bienenstock, „Hegel et les faits“. In: Bourgeois (dir), Hegel: bicentenaire de la Phénoménologie de l’esprit, Paris 2008, 103-104.
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schichtsverständnis an, wie es von der Aufklärung verbreitet wurde, die die Rolle des großen Menschen (Könige, Staatsmänner, Heerführer etc.) zu Gunsten der sozialen, ökonomischen und kulturellen Bedingungen relativierte. In einem Text über Hume unterstreicht er, dass die historische Tat stets durch die politischen Umstände bestimmt und in verschiedene Einzelaktionen fragmentiert sei, so dass kein Handelnder den gesamten Geschichtsprozess beherrsche: „das Bewusstsein der Tat als ein Ganzes ist in keinem der Handelnden“. Diese Herabsetzung des großen Menschen führte nicht zu einer fatalistischen Sichtweise der Geschichte, denn Hegel kommt zu dem Schluss: „seine Handlung ist mehr nur Betragen in einem bestimmten, gegebenen Kreise“.24 Wie Michael Rosen bemerkt, sind sich die weltgeschichtlichen Individuen des Geistes ihrer Epoche wohlbewusst, dies aber auf intuitive Weise, nicht verstandesgemäß, sondern durch Einsicht.25 Dieses Wissen des großen Menschen ist in doppelter Hinsicht begrenzt. Er weiß um den Auftrag seiner Epoche, den genaueren Plan jedoch, den der „Weltgeist“ bestimmt hat, kennt er nicht. Zudem steht es außerhalb seiner Macht, alle Konsequenzen seiner Taten im Voraus zu bedenken. Greifen wir dazu wieder auf das von Hegel so geschätzte Beispiel Cäsars. Cäsar kannte die Grenzen der römischen Republik, er wusste um die Notwendigkeit, ihr ein Ende zu setzen, ohne dass er voraussah, das der Übergang zum Kaisertum in Zusammenhang mit dem weiteren Fortgang der Weltgeschichte stand und im vorliegenden Fall zur Verbreitung des römischen Rechts in zahlreichen Ländern beitragen sollte. Cäsar ist ein Mann der Tat, kein Philosoph der Geschichte. Er war sich auch nicht aller künftigen Auswirkungen seiner Taten bewusst und primär nicht der Errichtung einer Diktatur, die zu seiner eigenen Verderbnis führte. Aber die Tatsache, dass die Tat des großen Menschen noch etwas anderes verursacht, als das, was er voraussieht und unmittelbar will, heißt das aber nicht auch, dass sein Urteilsvermögen völlig eingeschränkt ist? Hegel sagt ja in Wirklichkeit nicht, dass die Taten der großen Individuen das Gegenteil dessen hervorbringen, was sie wollten26 – nach dem Bild der „Ironie der Geschichte“, das Marx verwendet hat – und auch nicht, dass sie etwas Anderes hervorrufen, er schreibt, dass sie „noch etwas Anderes“ hervorbringen. Reicht dies, um die Freiheit ihrer Tat aufzuheben? Um dieser Frage nachzugehen, werfen wir noch einen Blick auf die Grundlinien der Philosophie des Rechts,27 in denen sich Hegel mit dem Problem des 24
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27
Hegel, Werke 1, 446. Vgl. N. Waszek, „David Hume als Historiker und die Anfänge der Hegelschen Geschichtsphilosophie“. In: Hegel in der Schweiz, Hegeliana 8. Hrsg. von H. Schneider et N. Waszek, Frankfurt am Main 1997. Vgl. M. Rosen, „Liberté, esprit et histoire“. In: Archives de philosophie, 65(2002), besonders 472-477, wo Rosen die Kritik Avineris widerlegt. Dies behauptet Jacques d’Hondt, Hegel, Philosophe de l’histoire vivante, Paris 21987, 264. Dagegen wendet sich Gilles Marmasse, Penser le réel. Hegel, la nature et l’esprit, Paris, 2008, 60-66. Vgl. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts. Werke 7, §§ 115 bis 132.
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„dolus indirectus“ beschäftigt, das sich dann stellt, wenn der verursachte Schaden den einkalkulierten übertrifft. Der Handelnde kann nach Hegel weder die Folgen seiner Tat leugnen, noch sie außer Acht lassen, denn es ist das Eigentümliche jeder Handlung, dass sie unvorhergesehene Folgen nach sich zieht. Handeln bedeutet immer auch dem Gesetz des Zufalls ausgeliefert zu sein. In der Anmerkung zu §119 nimmt er abermals das Beispiel des Brandstifters wieder auf, der ungewollt mehrere Häuser in Brand setzt: „Es ist allerdings der Fall, daß bei einer Handlung mehr oder weniger Umstände zuschlagen können: es kann bei einer Brandstiftung das Feuer nicht auskommen oder auf der anderen Seite dasselbe weiter greifen, als der Täter es wollte. Trotzdem ist hier keine Unterscheidung von Glück und Unglück zu machen, denn der Mensch muß sich handelnd mit der Äußerlichkeit abgeben. Ein altes Sprichwort sagt mit Recht: der Stein, der aus der Hand geworfen wird, ist des Teufels. Indem ich handele, setze ich mich selbst dem Unglück aus, dieses hat also ein Recht an mich und ist ein Dasein meines eigenen Wollens“.28
Nach Hegels Ansicht ist es eindeutig, dass der Brandstifter für die Gesamtheit seiner Handlung die Verantwortung trägt. Auch ein Handeln aus Leidenschaft oder in Trunkenheit hebt die Verantwortung des Täters nicht auf. Der Unterscheidungskraft steht nur der Wahnsinn gegenüber, nicht die Leidenschaft. Wie man sieht, dient das Beispiel des Brandstifters dazu, die Verantwortung der Menschen zu unterstreichen und keineswegs sie zu mindern. Der kriminelle Brandstifter hat das Haus desjenigen durch Feuer zerstört, an dem er sich rächen wollte, dies war sein Wille. Für weitere unbeabsichtigte Folgen seines Tuns, „Kollateralschäden“ also, ist er ebenso verantwortlich, und zwar in dem Sinne, dass sie zur Tat dazugehören. Ebenso ist der große Mensch als Verursacher für seine Handlungen verantwortlich, umso mehr, als ihm ein überdurchschnittliches Unterscheidungsvermögen zu eigen ist. Deshalb schließt Hegel seine Betrachtung des welthistorischen Individuums mit einer Lobrede auf die Schuld ab.29 Zu behaupten, der „große Mensch“ sei nicht verantwortlich für seine Taten, unter dem Vorwand, er hätte nicht alle Folgen in ihrer Gänze im Voraus bedacht, heißt von einer irrigen Vorstellung des Handelns ausgehen, die möchte, dass das Individuum den Handlungsablauf in seiner Gesamtheit im Griff habe und die Zukunft kenne.30 Dabei wird folgendermaßen argumentiert: 1) Der Handelnde ist der Tatverantwortliche, wenn und nur dann, wenn er vollkommen die Handlung im Griff hat, von der Absicht bis hin zu allen damit verbundenen Auswirkungen. 2) In der Geschichte haben die Taten unvorhersehbare Auswirkungen zur Folge. 3) Also ist der geschichtliche Mensch auch nicht der Urheber seiner Taten, er macht nicht die Geschichte. Die Voraussetzung dieser Schlussfolgerung ist in Frage zu stellen. Das über28 29 30
Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 119, Werke 7, S. 225. Hegel, GW 18, 167-168. Wie M. Rosen feststellte, vgl. M. Rosen, „Liberté, esprit et histoire“. In: Archives de philosophie, 65 (2002), 477.
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zogene Argument soll nur dazu dienen, das Unberechenbare, das außerhalb der intentionierten Tat Liegende der geschichtlichen Tat hervorzuheben. Tatsächlich aber würde kaum jemand handeln, wenn eine volle Vorwegnahme der Folgen eine notwendige Bedingung der Handlung wäre. Jede Tat fordert eben das Unvorhersehbare voraus. Und jede geschichtliche Tat beinhaltet dies umso mehr, als die Zahl der Mitwirkenden proportional ansteigt. Doch mindert dies in keinerlei die Verantwortung des eigentlichen Urhebers. Zwischen diesen beiden Extremfällen, einerseits einer Absicht, die sich genauso realisiert wie vorgesehen und andererseits einer Willensentscheidung, die an den widrigen Handlungsumständen zerbricht, gibt es zahlreiche Zwischenstufen, wo die Absicht des Akteurs zumindest teilweise in Erfüllung geht. Der „große Mensch“ besitzt ein begrenztes Wissen der Tragweite seiner Tat. aber es genügt, ihn zum Akteur und Urheber seiner Handlungen zu machen. Ein weiteres Argument gegen die Machbarkeit der Geschichte ist, was Marquard „die Unverfügbarkeit der Vorlagen“31 nennt. Anders gesagt, die Individuen haben zwar keinen Einfluss auf die ihnen überkommene Geschichte, was aber nicht besagt, es gäbe keinen Handlungsspielraum. So gewiss die Vergangenheit unverfügbar ist, so sicher ist die Zukunft machbar, zumindest im begrenzten Umfang. Gleich zu Beginn seiner Schrift Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte bringt Marx gerade diese Mehrdeutigkeit des geschichtlichen Handelns mit folgender Aussage auf den Punkt: „Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefunden, gegebenen, überlieferten Umständen“.32
Und nach Koselleck hat Marx die Machbarkeit der Geschichte und deren Übermacht über die Menschen zusammengedacht.33
Schlussbetrachtung: Die geschichtliche Verantwortung Abschließend können wir sagen, dass Kosellecks Behauptung, die ich anfangs zitierte, gerechtfertigt scheint: Die Idee der Machbarkeit der Geschichte ist zweifelsohne im deutschen Idealismus gegenwärtig. Was aber nicht bedeutet, dass nur er diese Frage aufwirft. Ich möchte hinzufügen, dass von den vier Philosophen des deutschen Idealismus, Hegel ohne Zweifel derjenige ist, für den die Frage nach der Machbarkeit am schwierigsten zu beantworten ist. Und wie geht die Philosophie des 20. Jahrhundert mit der Frage um? Die Idee der Machbarkeit der Geschichte wurde äußerst heftig entweder als Illusion 31
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Vgl. O. Marquard, „Ende des Schicksals? Einige Bemerkungen über die Unvermeidlichkeit des Unverfügbaren“. In: Schicksal? Grenzen der Machbarkeit, München 1977, 14. Marx, MEW Bd 8, 115. R. Koselleck, „Geschichte“. In: Brunner, Conze, Koselleck (Hrsg.),Geschichtliche Grundbegriffe. Bd 2. Stuttgart 1975, 710-711.
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oder als eine gefährliche, die Gewalt rechtfertigende Idee kritisiert. (Arendt). Die blutige Geschichte des 20. Jahrhunderts ist geprägt von Kriegen und Genoziden und hat zu einer sicher verständlichen weniger optimistischen Geisteshaltung geführt. Der Optimismus der Geschichtsphilosophen ist inzwischen begraben. Nicht mehr die Welt zu verändern suchen ist das Programm, sondern nach Marquards Ausspruch genügt es, die Welt zu schonen. Doch kann gegen den historischen Pessimismus angemerkt werden, dass es beinahe unmöglich ist, auf die Idee der Machbarkeit zu verzichten. Sie gehört unumkehrbar zu unserer Modernität. Sie ist die theoretische Grundlage jedes geschichtlichen Handelns und besonders der politischen Entscheidungen, die darauf abzielen, die Kriegsrisiken zu mindern und sich den unterschiedlichen diktatorischen Formen entgegenzustellen. Aber so wird man einwenden, die Ereignisse beeinflussen, heißt nicht sie „machen“. Der Ausdruck „die Geschichte machen“ ist tatsächlich ambivalent. Er kann bedeuten eine begrenzte Kontrolle der Menschen über ihre eigene Geschichte oder aber eine totale, totalitäre Kontrolle – die maßlose Willensabsicht, sich die Ereignisse zu unterwerfen. Hannah Arendt hat letzteres kritisiert. Für sie beruht die Idee „Geschichte machen“ in der Verwechselung von Handlung und „Fabrikation“. Sie bedeutet auch Tür und Tor den Gewaltakten der totalitären Regimes öffnen, die glauben „alles sei möglich“. Um diese Kritik zu berücksichtigen, kann man das Prinzip der Machbarkeit der Geschichte als Prinzip der geschichtlichen Verantwortung verstehen. Während der Begriff der „Machbarkeit“ umstritten bleibt, findet derjenige der Verantwortung breite Zustimmung. Am Ende seines Beitrags „Über die Verfügbarkeit der Geschichte“, meint Koselleck: „Wir sollten uns davor hüten, die moderne Redewendung von Machbarkeit der Geschichte pauschal zu verwerfen. Die Menschen sind für ihre Geschichten, in die sie verstrickt werden, verantwortlich, gleich ob sie schuldig sind an der Folgen ihres Tuns oder nicht“.34 Zwei Arten der geschichtlichen Verantwortung sind notwendigerweise zu unterscheiden (ich gebe hier nur ein paar Ideen, die mehr vollständig entwikkelt werden müssen): 1) Die Menschen sind schuldig für ihre Taten, die sie vollbracht haben, wie auch für deren Folgen, selbst wenn sie nicht in ihrer Absicht lagen. 2) Die Menschen sind verantwortlich für ihre Geschichte, selbst wenn sie nicht direkt involviert waren. Im Unterschied zur Schuldzuweisung, die begrenzt auf gegenwärtiges und vergangenes Handeln bleibt, kann sich die Verantwortung gleichfalls auf die zukünftige Geschichte richten, wie es Hans Jonas in Bezug auf die Verantwortung für die zukünftigen Generationen gezeigt hat. Die Verantwortung für die Geschichte bedeutet zu wissen, wir sind in die Geschichte eingebunden, sie betrifft uns, in dem Maße, das unsere heutigen Entscheidungen den zukünftigen Ablauf der Ereignisse ändern können. Wir müssen uns aber auch immer der vergangenen Verbrechen erinnern und 34
R. Koselleck, „Über die Verfügbarkeit der Geschichte“. In: ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt am Main 1979, 276.
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sie in unserem Gedächtnis wachhalten. Die Verantwortung für die Geschichte ist nicht begrenzt auf einige wenige, die „großen Menschen“ oder auf eine Elite, sie betrifft berechtigterweise jeden von uns. Es handelt sich nicht um eine kollektive Schuld, sondern um eine gemeinsame Fürsorge. Die Menschen machen ihre eigene Geschichte bedeutet, dass sie verantwortlich sind für ihre Geschichte in ihrer dreifachen Ausformung: der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.
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Politikkonzeptionen im deutschen Idealismus Geht man davon aus, dass auch um 1800 der Theorietitel „Politik“ im Kern auf die aristotelische Konzeption verweist, so markiert der Verzicht auf die Inanspruchnahme dieses Titel in den politikphilosophischen Konzeptionen des deutschen Idealismus einen radikalen Bruch: Mit einer Ausnahme bei Fichte trägt keiner der „politischen“ Texte des Deutschen Idealismus den TheorieTitel ‘Politik’.1 Dieser Verzicht ist allerdings nicht nur Ausdruck für die Zurückweisung des verdächtig gewordenen Inhalts dieser Wissenschaft, der Mensch als zoon politikon, sondern wendet sich insbesondere gegen den Theoriestatus der klassischen Politik. Darüber hinaus ist der Verzicht auf den Theorietitel „Politik“ trotz der angedeuteten Ambivalenz noch kein klares Indiz für den vollständigen Bruck mit der aristotelischen Lehre. Die Neuorientierung weist zwar den traditionellen Gegenstand der Politik zurück, die methodische Neuorientierung ist aber keineswegs ausschließlich dem wissenschaftstheoretischen Modell des Kontraktualismus verpflichtet. Nachfolgend soll gezeigt werden, wie die idealistischen Politik-Konzeptionen durch eine komplexe Verarbeitung der beiden alternativen Konzeptionen, den Herausforderungen der Moderne gerecht zu werden suchen.2 Eine oberflächliche Zuordnung zu kontraktualistischen bzw. neuaristotelischen Theoriemodellen kann diesen komplexen Sachverhalt nur schwer erfassen.3 In einem ersten Schritt soll zunächst die Grundprinzipien dieser beiden alternativen Modelle erinnert werden. Der Fokus der Analysen soll dabei auf dem jeweiligen Wissenschaftsverständnis der Politikkonzeptionen liegen.
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Vgl. Fichtes Geschlossener Handelsstaat verweist im Untertitel auf eine „künftig zu liefernde Politik“. 1800. Der Wandel in der Bestimmung des Politischen soll hier nicht im Rückgriff auf den Wandel in der Bestimmung der Freiheit erschlossen werden (so A. Honneth, Das Recht der Freiheit. Frankfurt 2011), sondern im Rekurs auf die Wissenschaftskonzeption der Protagonisten. Der Frage, wie Freiheitsbegriff und Wissenschaftskonzeption zusammenhängen, kann hier nur ansatzweise nachgegangen werden. Sowohl mit Blick auf die Vertragslehre als auch mit Blick auf die Rezeption der aristotelischen Politik liegt der Fokus der hier verfolgten Fragestellung weniger auf der Prüfung der Angemessenheit der Rezeption als in dem Bemühen deren Transformation zu erfassen. Damit wird allerdings nicht unterstellt, dass die Rezeption lediglich auf eine Instrumentalisierung mit dem Ziel „to counter contemporary natural right und modern individualistic contractarianism“ zielt, wie Ferrarin mit Blick auf Hegels Rezeption der Politik des Aristoteles behauptet. Vgl. A. Ferrarin, Hegel and Aristotle. Cambrigde 2001, 349.
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I. Die Frage, ob die Platonischen Politeia oder aber die Aristotelische Politik als Gründungsurkunde der politischen Philosophie zu gelten hat, verweist im Kern auf das Problem des wissenschaftstheoretischen Status der praktisch/politischen Philosophie. Kontrovers ist dabei die Frage, inwieweit es sich hier um eine Wissenschaft mit einem eigenständigen Problemfeld handelt, dessen Bearbeitung andere Instrumente verlangt als die Bearbeitung theoretischer Fragen. Platon wie Aristoteles rekurrieren für die Beantwortung der Frage nach den Gesetzmäßigkeiten menschlichen Handelns auf die Verfasstheit der menschlichen Seele. Die Platonische Gerechtigkeitslehre erfasst analog zur Ordnung der Seele in der Ständelehre die Gestalt der gerechten politischen Ordnung. Abgrenzend von Platon führt Aristoteles mit der Bewegungslehre und dem Zweckbegriff zusätzlich ein Prinzip ein, das für das zoon logon echon unter den in Gemeinschaft lebenden Wesen einen eigenständigen praktischen Wissenschaftstyp hervorbringt: Der Gegenstand des praktischen Wissens ist die Orientierung der Handelnden an unterschiedlichen Zwecken in wechselnden Situationen.4 Für das sich selbst Zwecke setzende Wesen muss die Wissenschaft zeigen, dass alle willkürlich verfolgten Zwecke auf einen Endzweck verweisen, der selbst unverfügbar ist: die Eudaimonia. Der spezifische Charakter dieses Endzweckes – er ist nur eine handelnd realisierbare Möglichkeit – verlagert das Kerngeschäft dieser Wissenschaft weg von der rein begrifflichen Bestimmung auf die Bestimmung der Bedingungen, die zur Realisierung dieses Zweckes notwendig sind. Aristoteles identifiziert die Realisierung der Eudaimonia mit dem tätigen Vollzug. Dieser ist aber an ein jetzt und hier gebunden, damit scheint eine allgemeine – das jetzt und hier transzendierende – Bestimmung unmöglich. Die praktische Philosophie reflektiert daher in der Tugendlehre die Rahmenbedingungen eines gelungenen Vollzugs: Welche aretai sind für diesen Vollzug notwendig? Diese Tugendlehre führt zu keiner inhaltlichen Bestimmung der eudaimonia, sondern benennt das Instrumentarium und die Kriterien des richtigen Einsatzes dieser Werkzeuge für ein Tätigsein gemäß der eudaimonia. Formal bestimmt Aristoteles die Eudaimonia als ein Leben gemäß dem vernünftigen Seelenteil. Mit der Tugendlehre nennt Aristoteles die Instrumente (Hexei), die für dieses Leben nötigt sind. Allerdings die Ausbildung und Anwendung der richtigen Hexei ist ebenso kontingent wie der richtige Einsatz bereits erworbener Tüchtigkeiten. Damit verfügt die praktische Philosophie zwar über das Wissen um die technai, ihr richtige Einsatz hat aber in Auseinandersetzung mit den kontingenten gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen und der Verfasstheit der polis 4
Der Wissensart nach liegt ein Grundriß-Wissen (typo) und ein Zumeist-Wissen (hos epi to poly) vor. Zur Konzeption der praktischen Philosophie bei Aristoteles vgl. O. Höffe, Praktische Philosophie – das Modell des Aristoteles. Salzburg/München 1996. U. Wolf, Aristoteles’ Nikomachische Ethik. Darmstadt 2002.
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zu erfolgen und fordert Erfahrung. Es ist diese Kontextabhängigkeit und die Orientierung an einem allererst herzustellenden Gegenstand, die die episteme practicae von der theoria unterscheiden und die eine von der theoria abweichende Methodenlehre fordert. „Während die theoretischen Wissenschaften in der Regel einem zweigliedrigen Aufbau folgen, bei dem dem Aufstieg zu den Beweisprinzipien die apodeixis folgt, die syllogistische Darlegung der abgeleiteten Sätze, sind die praktischen Wissenschaften in ihrem Aufbau ‘defektiv’, d.h. sie steigen zur Definition des Ziels hinaus, überlassen aber den Abstieg, d.h. die Nutzanwendung der Normen den praktischen Syllogismen des Einzelnen“.5 Aristoteles spricht daher von einer berechtigten Ungenauigkeit der praktischen Wissenschaft. Der Grad der Genauigkeit einer Wissenschaft ergibt sich aus der Beschaffenheit des Gegenstandsbereichs: der Bereich der unveränderlichen Zahlen ermöglicht der Mathematik allgemeine und notwendige Aussagen, während die veränderlichen Gegenstände der technai zu nur wahrscheinlichen Aussagen führen. Mit Blick auf die Bestimmung der eudaimonia gilt daher, dass da diese kein eigenständig Seiendes ist, sondern als Eigenschaft, als Tätigsein des Menschen zu verstehen ist, es für die praktische Philosophie nur darum gehen kann, Strukturen aufzuzeigen, die ein Tätigsein gemäß der eudaimonia ermöglichen. Der Grad der angestrebten Genauigkeit richtet sich darüber hinaus auch nach dem angestrebten Zweck, es geht für die praktische Philosophie um das Handeln, das sich in konkreten Situationen durch den richtigen klugen (phronesis) Einsatz der aretai bewähren muss: Wie dieses Bewähren im Rahmen der Polis aussieht, kann gemessen an den Gesetzmäßigkeiten der Natur nicht mit Genauigkeit bestimmt werden, da die Verwirklichung und Vollendung der Tugenden unter den Bürgern des Staates differieren, kommt es zu verschiedenen Staatsverfassungen. Diese Unbestimmtheit mit Blick auf die Verfassung der polis erklärt auch die Rolle der Rhetorik: Die politische Entscheidung kann nicht durch demonstrative Beweise getroffen werden, sondern verlangt das Überzeugen mit den Mitteln der Rhetorik.6 Es ist diese Ungenauigkeit des praktisch-politischen Wissens, die Hobbes beseitigen will. Auf der Grundlage des neuzeitlichen Wissenschaftsideals rekurriert Hobbes zwar auf die aristotelische Zwecklehre. Abweichend von dem bei Aristoteles durch die Natur vorgegebenen, das menschliche Handeln bestimmenden Zweck (eudaimonia) konstruiert Hobbes diesen Zweck durch Zergliederung der Welt der natürlichen Körper. Die physikalischen Gesetzmäßigkeiten gelten auch für menschliche Körper: Das Selbsterhaltungsgesetz der Körper gilt als Prinzip auch für die voluntative Bewegungen des Handelns. Reduziert auf dieses Körpersein isoliert Hobbes die Individuen von allen ge5
6
W. Kullmann, Wissenschaft und Methode. Interpretationen zur aristotelischen Theorie der Naturwissenschaft. Berlin, New York 1974, 30. Zu Heideggers Verarbeitung des aristotelischen Ansatzes vgl. E. Weisser-Lohmann, „Phänomenologie und praktische Philosophie. ‘Hexis’ und ‘Pathe’ und die Grundlegung einer praktischen Philosophie“. In: Kamp/Thiele (Hrsg.) Erkennen und Handeln. München 2009, 423440.
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sellschaftlichen Bezügen und erfasst diesen „natürlichen“ Zustand des Menschen als ‘Krieg aller gegen alle’. Das dem Menschen von Natur zukommende Recht auf Selbsterhaltung ist im Naturzustand in ständiger Bedrängnis und erst die Einsicht der „rechten Vernunft“ ermöglicht über die Abtretung dieses Rechts ein Verlassen des gesetzlosen Naturzustandes. Der Gesellschaftsvertrag – als Gedankenexperiment – konstituiert die politische Ordnung, die den Souverän mit allen Befugnissen gegenüber den Bürgern ausstattet. Der auf der Basis der Naturbestimmung des Menschen konstruierte Hobbessche Staat stattet den Souverän mit allen Rechten (gegenüber den Bürgern) aus, die Vertragspartner sind nur dort, wo der Schutzauftrag verletzt wird, zu Widerstand berechtigt sind. War der aristotelische Kreislauf der Verfassungen einer veränderlichen Verfassung der Bürgerschaft und ihrer Tugenden geschuldet, so bildet die immer gleiche Natur des Menschen die Grundlage für die Hobbessche universal gültige Konstruktion des Staates. Dieser kontraktualistische, im Wesentlichen der Selbsterhaltung verpflichtete Staat eröffnet darüber hinaus ein weites Feld gesellschaftlichen Handelns, das der politischen Verantwortung entzogen ist. Kritiker wenden gegen das Hobbessche Vertragsmodell ein, dass diese Konstruktion des Gemeinwesens die Konflikte der bürgerlichen Gesellschaft nicht angemessen zur Geltung bringt. Damit ist die Problemlösungskapazität dieses Politikmodells beschränkt. Diese Beschränkung resultiert aus der Nichtberücksichtigung der Privatinteressen. Hobbes entzieht diese Sphäre der politischen Regulierung. Die szientistische Version einer kontraktualistischen Fundierung des Gemeinwesens sichert lediglich das Überleben, ohne Normen für das Wie bereitzustellen. Die Behebung dieses Defizits fordert insbesondere die Klärung zweier Fragen: Ist das szientistische Theoriemodell an ein abstrakt gefasstes Willenskonzept gebunden? Ist eine allgemeingültige und notwendige Bestimmung des politischen Handelns auch für Konzepte erreichbar, die nicht bereit sind, die Konkretheit praktischen Wissens preiszugeben? Diese Fragen verweisen auf ein Zentralproblem der neuzeitlichen Politik-Konzeptionen: die durch Abstraktion gewonnene allgemeine Geltung bedeutet noch keineswegs die soziale Geltung dieser Prinzipien. Vielmehr bleibt die Aufgabe der Realisierung dieses Vernunftstaates im Rahmen des kontraktualistischen Arguments ungeklärt. Das neuzeitliche Naturrecht lässt die Frage offen, wie die Umsetzung des Vertragsinhaltes zu gestalten ist. Hobbes Nachfolger übertragen diese Aufgabe der ‘Politik’ bzw. den ‘Staatswissenschaften’. Die Vagheit der Wissenschaft der Politik resultiert bei Aristoteles aus der Verknüpfung der konkreten Bestimmung der eudaimonia mit der Verfasstheit der Bürger in der polis. Die neuzeitliche politische Philosophie löst diese Einheit auf, mit der Folge, dass die Lehre vom Natur- bzw. Vernunftrecht und die Aufgabe der Politik auseinandertreten. Mit der Zurückweisung der onto-teleologischen Voraussetzungen wird ein Kernanliegen der aristotelischen Konzeption preisgegeben: die von der Platonkritik getragene These von der notwendigen Einheit von Normengewinnung und Analyse menschlicher Praxen. Mit dem von Natur ge-
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gebenen Zweck der Eudaimonia ist das praktische Wissen für Aristoteles nicht auf Prinzipien (Ideen) bezogen, die von der menschlichen Natur und der kontingenten menschlichen Praxen ablösbar sind.7 Im Anschluss an die skizzierten Modelle ergeben sich die folgenden zwei Problemfelder: 1. Die Instrumente zur Bestimmung der Polis gewinnen beide Konzeptionen aus der Anthropologie: Aristoteles wie Hobbes erschließen das gesellschaftliche Erscheinungsbild menschlichen Zusammenlebens über abstrakte Prinzipien. Die Unterschiede ergeben sich aus den jeweiligen Vorgaben der Abstraktion: Das physikalische Modell bei Hobbes, die onto-teleologischen Vorgaben bei Aristoteles. Ein erstes Problemfeld bildet daher die Frage nach den konstitutiven Prinzipien der Politik, welchen Vorgaben folgt die Abstraktion zur Gewinnung der Prinzipien? 2. Eng damit verknüpft ist die Frage, ob der Grad der zur Normgewinnung und Normbegründung vollzogenen Abstraktion Konsequenzen für den Status der Normen hat? Auch technische Normen abstrahieren von konkreten Bedingungen, sie unterscheiden sich bezüglich ihres Normcharakters nicht von Menschenrechten, wohl aber mit Blick auf die Durchsetzungspraxis. Die Politik muss die Einhaltung von Normen, die bestimmte Konfliktbereiche regeln, durchsetzen, die Anerkennung von Normen, die die technische Realisation eines gewollten Zweckes betreffen, kann vielfach dem Handelnden überlassen bleiben. Mit Blick auf die Durchsetzung stellt sich die Frage nach den Instrumenten, die zur Verfügung stehen. Zwischen vier Modellen kann hier unterschieden werden: i. Die machtvolle – auch Gewalt gestattende – Durchsetzung des allgemeinen Willens durch den Souverän ii. Erzeugung von allgemeiner Geltung und sozialer Akzeptanz durch die Darlegung des individuellen Vorteils: Konsens- Kohärenzmodelle, die zwischen begründeten gesollten (abstrakten) Normen und faktisch bereits gewollten Normen Verknüpfungen anstreben iii. Die Etablierung von Institution, die Normenbegründung und Normendurchsetzung über ein Verfahren verknüpft: Geschäftsordnungen, Satzungen und parlamentarische Gesetzgebungsverfahren sind Instrumente, die Normenfindung und Normeninkraftsetzung verknüpfen. iv. Verzicht auf universalistische kontextunabhängige allgemeingültige Normen zugunsten kontextuell etablierter, aus und in der Praxis gefestigter Normen. Nachfolgend sollen die Position von Kant und Hegel mit Blick auf die beiden genannten Problemfelder und deren Lösung durch die Inanspruchnahme der genannten Lösungsmodelle vorgestellt werden. 7
H. Flashar verweist auf die aristotelische Kategorienlehre und die Verschränkung von ontologischem und grammatisch-linguistischen Aspekt: Aristoteles fragt nicht nur „Was ist das höchste Gut?“ sondern „Wie wird dieses Gute ausgesagt“ (legetai). Vgl. H. Flashar, „Die Platonkritik“. In: Aristoteles, Die Nikomachische Ethik. Hrsg. von O. Höffe. Berlin1995, 63-82, 75.
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II. Für Kant liegt der Schlüssel für die Lösung der identifizierten Probleme im Begriff der Freiheit als Selbstbestimmung. Die kritische Prüfung der Grundregeln moralischen Handelns führt zur Lehre vom „moralischen Gesetz“ und zum „kategorischen Imperativ“ als Formen der Verwirklichung von Freiheit. Auf dieser Grundlage entwickelt Kant in der Metaphysik der Sitten8 nicht nur eine moralische Pflichtenlehre, sondern zeigt auch, welche allgemeinen Regeln für jene Pflichten deren Einhaltung erzwingbar ist, d.s. die Rechtspflichten, gelten. Die Aufgabe der Politik wird vor diesem Hintergrund als Verwaltung des Rechts bestimmt: Politik ist ausübende Rechtslehre, ein Geschäft, das Kant als ‘mechanistisch’ bezeichnet. Im Ewigen Frieden fordert Kant: „Alle Politik muß ihre Kniee vor den erstern beugen, nämlich vor dem unbedingten, nicht pragmatisch eingeschränkten Rechtsbegriff “.9 Hintergrund dieser Binnenstruktur der praktischen Philosophie ist die Unterscheidung zwischen theoretischem und praktischem Vernunftgebrauch, die für Kant in der besonderen Natur der praktischen Freiheitsbestimmung begründet liegt: Ein Faktum der Vernunft ist im Rahmen des theoretischen Vernunftgebrauch zwar denkbar, nicht aber weiter bestimmbar. Die positive Freiheitsbestimmung ist Aufgabe des praktischen Vernunftgebrauchs. Im Zentrum der Kantischen Politikkonzeption steht der Rechtsbegriff als einheitsstiftendes Prinzip, das die freie Willkür der Individuen beschränkt, nicht aber bestimmte Berechtigungen sicher stellt. Auf der politischen Ebene führt dieser Rechtsbegriff zu einer funktionalen Gewaltenteilung, die zwischen Exekutive, Legislative und Judikative unterscheidet, dabei aber allein der Gesetzgebenden Gewalt jene Souveränität zuschreibt, die „dem vereinigten Willen des Volkes“ zukommt.10 Exekutive und Judikative haben nach dem Gesetz zu arbeiten. Das Problem, das die politische Organisation des Rechts zu bewältigen hat, ist die Frage der Verbindlichkeit. Denn, wie Kant in der Metaphysik der Sitten ausführt, es gibt für den empirischen Menschen, der sich zur Bewältigung seiner Lebensprobleme des Verstandes bedient und der um Ordnung und Konsistenz seiner Präferenzen bemüht ist, den Begriff der Verbindlichkeit noch nicht. Aus der Betrachterperspektive löst das Recht den geforderten Verbindlichkeitsanspruch durch Berufung auf die Richtigkeit des Rechts ein. Erst aus der Teilnehmerperspektive wird der Verbindlichkeitsanspruch virulent. Dieser Perspektivenwechsel ist grundlegend für Kants Programm einer Kritik der praktischen Vernunft.11 Damit sich, so W. Kersting, „eine Welt autonomer Verbindlichkeiten entfalten kann, muss der naturkausa8
9
10 11
Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre (1797) Metaphysik der Sitten Erster Teil. Hrsg. von B. Ludwig. 2. Aufl. Hamburg 1998 (im folgenden, MdS). Kant, Zum Ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf. (1795). Hrsg. v. H.F. Klemme. Hamburg 1992, 49-96. MdS, § 45 Vgl. Kant, Kritik der praktischen Vernunft. Werke Bd V, 29. (im folgenden, KprV), 29
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len Ursache eine freiheitskausale Alternativ- und Konkurrenzursache gegenübertreten.“12 In der Folge dieser Unterscheidung ist nur der sich selbst als Willensursache seiner Handlung denkende Mensch frei. Diese Zuschreibung von Freiheit erfüllt eine doppelte Aufgabe: zum einen stiftet Freiheit Einheit unter den Willkürhandlungen, insofern der Kategorische Imperativ die Konsistenz der Maximen in einem Reich der Freiheit prüft. Zum anderen ist Freiheit ein hinreichender Grund zur Willensbestimmung und bildet somit die Grundlage für die Zurechenbarkeit von Handlungen. Beim Übergang in die Sphäre der äußeren Handlungen ist zusätzlich zu diesen beiden – die moralische Qualität meiner Handlung beurteilenden Kriterien (Gesetzesförmigkeit und Freiheitskausalität) noch der Zwang, der die Einhaltung jener Ordnung, die die Handlungsfreiheit jedes Einzelnen gewährleistet, zu rechtfertigen. Die Ordnung steht für die Ermöglichung von Handlungsfreiheit und dieser Zweck rechtfertigt die Ausübung von Gewalt durch die Allgemeinheit. Diese Berechtigung basiert auf einem einzigen angeborenen (Natur)Recht, dem sogenannten Menschheitsrecht: „Freiheit (Unabhängigkeit von eines anderen nöthigender Willkür) sofern sie mit jedes Anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammenbestehen kann, ist dieses einzige, ursprüngliche, jedem Menschen kraft seiner Menschheit zustehende Recht.“13 Rechtmäßig sind daher durch Zwang eingeforderte Freiheitseinschränkungen nur insofern, als sie als wechselseitige denkbar sind; in allen anderen Fällen liegt Fremdbestimmung vor. Diese Begrenzung der Handlungsfreiheit ist formal und negativ, sie dienen allein der Sicherstellung von Gleichheit, Selbständigkeit und Selbstbestimmung. Die Bewältigung der hier entstehenden Konflikte ist einer öffentlichen Gesetzgebung aufgeben. Die Prinzipien dieser öffentlichen Gesetzgebung bestimmt Kant analog zum moralischen Prüfungsverfahren, das die mögliche allgemeine Gesetzestauglichkeit einer Maxime überprüft. Damit ist dieses Prüfungsverfahren nicht auf die Existenz republikanischer Institutionen angewiesen, das faktische Gesetzgebungsverfahren ist vielmehr im Gedankenexperiment eines jeden Bürgers überprüfbar. Im Zentrum der Kantischen Politikkonzeption steht die Lehre von den angeborenen bzw. erworbenen Rechten. Die „angeborene Idee“ stellt sicher, dass der Gesellschaftsvertrag nicht als eine Abtretung von (natürlichen) Rechten gefasst wird, sondern als die Konstitution einer Verfassung gedeutet wird, die allein dem Zweck der Rechtsverwirklichung dient. Die Behandlung des Rechts außerhalb des kritischen Programms in der Metaphysik der Sitten macht deutlich, dass sich die Erörterung bereits im geschichtlichen Zusammenhängen bewegt. Gleichwohl ist der Gesellschaftsvertrag kein geschichtliches Ereignis, sondern dient der Regulierung faktischer politischer Einigungsprozesse. Die Behandlung der Rechtslehre in der Metaphysik der Sitten macht 12
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W. Kersting, Politik und Recht. Abhandlungen zur politischen Philosophie der Gegenwart und zur neuzeitlichen Rechtsphilosophie. Weilerswist 2000. MDS, 237.
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deutlich, der dort konstruierte Übergang in den Vertragsstaat ist ein Modell für alle geschichtlichen Staaten. Zusammenfassend kann festgehalten werden: Im Rahmen des kritischen Programms erneuert Kant die aristotelische Unterscheidung zwischen theoretischer und praktischer Philosophie: die Lehre vom Faktum der Vernunft ersetzt die Lehre von der natürlichen Bestimmtheit jenes Wesens, das als zoon politikon zugleich zoon logon echon ist, und verankert die Gewissheit der praktischen Philosophie in der Freiheit als dem Faktum der Vernunft. Damit hat Kant eine für das Handeln bestehende Verbindlichkeit aufgewiesen und zwar unter Beibehaltung der aristotelischen Unterscheidung zwischen theoretischer und praktischer Philosophie. Kant bestätigt diese Trennung auf der Basis der neuzeitlichen Subjektphilosophie. Die Einsicht, dass für die Orientierung im Handeln andere Formen des Wissens relevant sind, macht Kant in der Folge auch für die politische Philosophie im Rückgriff auf das kontraktualistische Programm von Hobbes fruchtbar. Für Kant ist die Basis dieser Lehre allerdings nicht der physikalisch vom Gesetz der Massenerhaltung her gedachte Grundtrieb der Selbsterhaltung, der bei Hobbes die Einheit von Theorie und Praxis sichert. Die Lehre vom Übergang in den bürgerlichen Zustand basiert vielmehr auf zwei normativen Pfeilern. Zum einen sind es jene normativen Bestimmung, die sich aus dem Faktum der Vernunft und dem darauf gründenden angeborenen Recht ergeben, zum anderen sind es die erworbenen Rechte, die die Grundlage für den Übergang vom provisorischen zum peremptorischen Recht bilden. Kernstück seiner politischen Theorie ist die Lehre von der Republik, die eine funktionale Gewaltenteilung zwischen Legislative, Exekutive und Judikative vornimmt. Indem Kant die gesetzgebende Gewalt dem vereinigten Willen des Volkes überträgt, gründet die Rechtsstaatlichkeit seiner Republik auf der Souveränität des Volkes. Dieses Volk ist die Gesamtheit aller vernünftigen Wesen, für die Kant in der Pflichtenlehre seiner Ethik bereits die Kompatibilität mit dem allgemeinen Willen zum Prüfkriterium der Willensbestimmung erhob. Auch in Kants politischer Philosophie findet sich, wenn auch unter vollständig gewandelten Vorzeichen, die aristotelische Verknüpfung von Ethik und Politik. Mit der Verpflichtung auf die Verallgemeinerbarkeit der Maxime des Handelns ist das Verfahren der gesetzgebenden Gewalt bereits bei jedem vernünftigen Individuum vorhanden, der kantische Gesellschaftsvertrag institutionalisiert dieses Verfahren lediglich. Mit der Lehre von dem angeborenen Recht der Freiheit hält Kant an einem überpositiven Naturrecht fest. Die Neubestimmung dieses Naturrechts erzwingt freilich die Preisgabe des aristotelischen Theorieprogramms der „Politik“. Die mit dem angeborenen Recht auf Freiheit ausgestatteten Individuen sind in dem berechtigten Anspruch auf Selbstbestimmung gleich und zwar vor dem Hintergrund aller bestehenden natürlichen und sozialen Differenzen. Aufgabe der Politik ist es somit dem rationalen Naturrecht Geltung zu verschaffen (in Gestalt der Freiheit als Selbstbestimmung, insbesondere als Schutz vor Fremdbestimmung). Die Sicherung des angeborenen Rechts sowie der Schutz der erworbenen
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Rechts durch Institutionalisierung zu leisten ist das unveränderliche politische Kerngeschäft. Die Unterscheidung zwischen dem Vernunftbegriff des Rechts und dem Gesetz als einer Verpflichtung der Vernunft und dem positiven Recht soll durch ein deduktives Politikkonzept überbrückt werden, das den Übergang zwischen wahrem Vernunftrecht und empirischem Recht, zwischen Vernunftstaat und empirischem Staat vollzieht, indem die Politik nach klugen Wegen der Implementierung der normativen Prinzipien sucht. War für das aristotelische Politikmodell das kluge Handeln auf die Tugenden angewiesen, so tritt in Kants Konzept an die Stelle der Tugenden eine im Gesellschaftsvertrag gesicherte Freiheit aller Bürger. Diese Gleichheit sichert den Grundbestimmungen der Kantischen Politikkonzeption allgemeine Geltung. Hegel teilt die neuzeitliche Ablehnung eines an Tugenden orientierten politischen Handelns. Hegel distanziert sich aber auch von der kontraktualistischen Konstruktion eines Vernunftstaates. Die Defizite beider Konzeptionen werden schon früh – in den Jenaer Arbeiten – erkannt: zum einen führt die in einer Ständelehre verankerte Tugendlehre nicht zu allgemeinen für jedermann gültigen Pflichten, zum anderen verhindert die Abstraktheit des Vernunftstaates einem Übergang in die Empirie. Das Programm für die Überwindung dieser Schwierigkeiten stellt Hegel nicht unter den Theorietitel „Politik“ sondern entwickelt seine „Philosophie des Rechts“ am Leitfaden von „Naturrecht und Staatswissenschaften“. Dieser Zweittitel der Grundlinien signalisiert eine zweischrittige Argumentation, die in Anlehnung an die aristotelische Methode „defektiv“ ist: 1.) Die traditionelle Aufgabe des „Naturrechts“ erfüllen die beiden ersten Abschnitte der Grundlinien: Hegel erarbeitet hier die mit dem Person- bzw. Subjektbegriff verknüpften Rechtsprinzipien: die Bestimmung dieser Prinzipien werden allerdings nicht aus der Vernunft deduziert, sondern abstrahierend aus historischen Rechtsbestimmungen gewonnen (historische Genese der Rechtsprinzipien). 2.) Der dritte Abschnitt bearbeitet unter dem Titel „Sittlichkeit“ jene Aufgabe die Aristoteles der Verfassungslehre, das neuzeitliche Naturrecht den Staatswissenschaft bzw. der Politik überträgt: die Verwirklichung der abstrakten Rechtsprinzipien. Hegel löst diese Aufgabe durch die Konstruktion von Institutionen im Rückgriff auf tradierte Institutionen. Die skizzierte Aufteilung in einen naturrechtlichen und staatswissenschaftlichen Argumentationsgang legt freilich den Verdacht nahe, auch Hegel gelingt die Überwindung der kritisierten Zweiteilung des Rechts in Vernunftrecht und empirisches Recht nicht. Gegen diesen Einwand ist auf die Programmatik des Haupttitels „Grundlinien der Philosophie des Rechts“ zu verweisen: Hegel entwickelt die beiden traditionellen Lehrstücke am Leitfaden der Idee des Rechts. Ausgangspunkt aller in diesem Zusammenhang erfassten Rechtsbegriffe bildet das konkret be-
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stimmte Individuum. Grundlage der einzelnen Rechtsbestimmungen bildet nicht eine im Rahmen einer Anthropologie gewonnene natürliche oder eine von Natur gesetzte Bestimmtheit, sondern die Selbstbestimmung des Menschen als Person: Grundlage des Rechts als das Dasein der Freiheit ist das sich wissende und wollende Individuum. Damit die mit dem Person- bzw. Subjektsein gesetzten Rechte kein bloßes Ideal, keine bloßen Sollensforderungen sind, müssen Institutionen, Gestalten des objektiven Geistes aufgewiesen werden, die als Handlungsoptionen diese Rechte realisieren. In exemplarischer Weise konstruiert Hegel „Familie“, „Bürgerliche Gesellschaft“ und „Staat“ als rechtsverwirklichende Gestalten. Keineswegs sind diese Rechtsgestalten mit den faktisch in Preußen bestehenden Institutionen identisch. Die entwickelten Rechtsgestalten sind daseiende Gestalten, die erst dort faktische Ansprüche an das Individuum formulieren, wo die Institutionen auch faktisch die inneren Voraussetzungen, wie Eigentumsrecht, Vertrag, Moralität, realisieren. Die Erfüllung dieser Voraussetzungen verlangt eine „höher, vollendete Bildung“: D.h. der Staat als sittliche Gestalt setzt nicht nur die Anerkennung des abstrakten Rechts, des Eigentums- und Vertragsrecht voraus, sondern ebenso die Anerkennung des Rechts handelnd dem Gewissen zu folgen. Wie Hegel bereits in Jena gezeigt hat, wird mit dem Christentum die Bildung des Individuums zu einem politischen Machtfaktor. Für die politische Philosophie ergeht hieraus die Forderung, faktische Institutionen daraufhin zu prüfen, inwieweit sie die „inneren Voraussetzungen“ (Gleichheit und Selbstbestimmung) realisieren. Diese Prüfung erfolgt in der (Re)Konstruktion freiheitsverwirklichender Institutionen, die nur nominell mit den faktisch bestehenden Einrichtungen zu identifizieren sind. Dieser argumentative Leitfaden verdeutlicht auch, inwiefern Hegels tagespolitische Schriften als integraler Bestandteil seiner Politikkonzeption zu begreifen sind:14 Die Gesetzesinitiativen und Verfassungsvorhaben der Zeit mit denen Hegel sich auseinandersetzt, müssen nicht nur hinsichtlich der Frage, inwieweit hier die Rechte der Person bzw. die Rechte des Subjekts realisiert werden, geprüft werden, vielmehr muss von der Philosophie gezeigt werden, inwiefern diese Maßnahmen geeignet sind, die inneren Voraussetzungen der Institutionalisierung des Rechts zu erfüllen. Diese Aufgabe soll abschließend an einem Beispiel aus den tagespolitischen Schriften Hegels veranschaulicht werden. 1817 erscheint in den Heidelberger Jahrbüchern Hegels Rezension der „Verhandlung ... der Landstände des Königreichs Würtemberg“.15 Streitpunkt 14
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Gegen Karl Heinz Ilting, der Hegels Ansatz zur Grundlegung einer praktischen Philosophie in den Grundlinien streng von den zeitgebundenen Stellungnahmen Hegels zur Tagespolitik trennt, ist es wichtig deutlich zu machen, dass Hegels tagespolitische Schriften integraler Bestandteil seiner politischen Philosophie sind. Vgl. hierzu auch B. Bourgeois, Penseur du politque. Paris 2006, 57ff. Hegel, Verhandlungen in der Versammlung der Landstände [1817]. In: Gesammelte Werke Bd 15 Schriften und Entwürfe. Hrsg. von F. Hogemann und C. Jamme. Hamburg 1990, 30125.
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der Verhandlungen ist die vom württembergischen König vorgelegte Verfassung, gegen die die einberufenen Landstände das „gute, alte Recht“ geltend machen. Hegels nahezu uneingeschränkte Parteinahme für den König wurde vielfach als bloßer Opportunismus kritisiert. Diese Bewertung ignoriert den eigentlichen Motor der Hegelschen Position: der moderne Verfassungsstaat ist nicht auf der Grundlagen des alten Privilegienrechts zu etablieren: die Landstände fordern, dass nach ständestaatlicher Tradition, die neue Verfassung durch einen Vertrag zwischen Fürst und Ständen verabschiedet wird. Mit dieser Forderung ignorieren die Landstände für Hegel eine zentrale innere Voraussetzung des modernen Staats: der Gleichheitsgrundsatz des Rechts fordert, dass nur freie und gleiche Personen und deren Interessen konstitutives Prinzip des modernen Staats sind, alle zufälligen ständischen Privilegien müssen aufgegeben werden. Unter systematischen Gesichtspunkten entspringt Hegels Votum für den königlichen Verfassungsentwurf seiner Prüfung der „inneren Voraussetzungen“ der Institutionalisierung von Recht. Institutionen sind nicht bloß Ausdruck des Interessen verfolgenden Individuums. Als Gestalten des objektiven Geistes müssen diese Interessen vielmehr die Bedingungen der Rechtsförmigkeit erfüllen. Dort, wo diese Bedingung erfüllt ist, eröffnet eine Institution Handlungsoptionen, in denen sich die Individuen als Rechtssubjekte erfassen und konstituieren. Mit Blick auf die Verfassung des Rechtsstaates macht Hegel die folgende hier zu beachtenden Voraussetzungen geltend: 1. Die Staatsverfassung darf nicht als Vertrag zwischen privilegierten Ständen und dem Monarchen im Sinne eines Interessenausgleichs konstituiert werden. Denn 2. ein Vertrag, der zwischen den Individuen als Personen geschlossen wird, ist insofern unangemessen und abstrakt, da – wie Hegel formuliert –: das Allgemeine hier bloß als Willkür zur Tat zu kommen vermag. 3. Zu den inneren Voraussetzungen der Institutionalisierung von Freiheit gehören die besonderen Interessen der handelnden Individuen, die über die berufsständischen Organisationen zur allgemeinen Willensbildung geführt werden. In Abgrenzung von Kant steht für Hegel nicht das Prinzip der Ethik, die freie Subjektivität, sondern die Analyse der jeweiligen Gegenwart im Zentrum der politischen Philosophie: dem rein deduktiven Politikverständnis, das die Verwirklichung der Rechte des Subjekts durchzusetzen sucht, stellt Hegel „Politik“ als komplexe Gesellschaftsanalyse entgegen, die aufzeigt, wie die Realisierung von Rechten strukturelle Defizite einer Gesellschaft mit zu reflektieren hat. Zusammenfassend kann festgehalten werden: Für die beiden hier betrachteten idealistischen Politikkonzeptionen ist der „Rechtsbegriffe“ konstitutiv. Die Bestimmung der Politik führt auf dieser Basis zu einer Distanzierung von Aristoteles: ‘Gleichheit’ bei Kant bzw. ‘Gleichheit’ und ‘Selbstbestimmung’ bei
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Hegel verbieten als fundamentale Prinzipien der politischen Philosophie die Orientierung an der Tugendlehre und einer damit verbundenen zwangsläufigen Ungleichheit der Individuen. Darüber hinaus führt bei beiden Konzeption der Verzicht auf eine materiale Bestimmung letztgültiger Zwecke (eudaimonia) zu einer formalen Bestimmung der Politik, die bei Kant eingeschränkt ist auf im Wesentlichen negative Bestimmung: Die Institutionalisierung des Rechtsbegriff schützt die freie Selbstbetätigung, verhindert Fremdbestimmung. Als problematisch erwies sich Kants Konzeption des praktisch/politischen in Analogie zur Bestimmung der Natur in der KrV und in der Metaphysik der Natur insofern als dieser Bezug zur Bestimmung der Natur dazu führt, dass vor allem die Prüfung von Verboten die politische Praxis bestimmt. Darüber hinaus grenzt die Fokussierung auf eine (abstrakte) Praxis, die dem Universalisierungsgebot entspricht, lebensweltlich relevante Praxen als der vernünftigen Regulierung unzugänglich aus. Hegel konstruiert am Leitfaden des Rechtsbegriffs (Gleichheit und Selbstbestimmung) politische Praxen im Rekurs auf bestehende sittliche Lebensformen. Die Darstellung der Gestalten der Sittlichkeit in den Grundlinien beschreiben keineswegs eine zeitgenössische Gestalt des Staates, vielmehr konstruiert Hegel die Idee des Rechts als das Dasein des Rechtsbegriffs in den vorgängigen Praxen: Diese Konstruktion zeigt exemplarisch, wie Sittlichkeit als Rechtsgestalt in den gegenwärtig vorhandenen Institutionen gefasst werden muss. Die in dieser Weise konstituierten sittlichen Gestalten haben den Status von Beispielen: in anderen geschichtlichen Situationen sind andere Gestalten möglich. Für die politische Philosophie erwächst hieraus die Aufgabe, die jeweilige sittliche Praxis auf ihre Rechtsfähigkeit hin zu prüfen und aufzuzeigen, wie das Bestehende dem Gebot der Gleichheit und Selbstbestimmung zu genügen vermag. Hegel selbst hat sich in den tagespolitischen Schriften dieser Aufgabe unterzogen.
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