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German Pages 291 [293] Year 2014
CLASSICA MONACENSIA
Sokrates bei Xenophon Moral - Politik - Religion von Olga Chernyakhovskaya
Sokrates bei Xenophon
CLASSICA MONACENSIA Münchener Studien zur Klassischen Philologie Herausgegeben von Martin Hose und Claudia Wiener Band 49 · 2014
Olga Chernyakhovskaya
Sokrates bei Xenophon Moral - Politik - Religion
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des DFG-Graduiertenkollegs »Generationenbewusstsein und Generationenkonflikte in Antike und Mittelalter« (Otto-Friedrich-Universität Bamberg)
© 2014 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: www.narr.de E-Mail: [email protected] Printed in Germany ISSN 0941-4274 ISBN 978-3-8233-6863-2
Manibvs Victoris Vald-Perlov (mcmxxix-mmxii) ingentem qvi doctrinam virtvti ivngere sapvit
Inhaltsverzeichnis Vorwort ............................................................................................................ IX Einleitungg .........................................................................................................
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I
Lebensweise des Sokrates bei Xenophon ...........................................
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1. Honorarverzicht ................................................................................... 2. ‚Sokratische Diät‘ ................................................................................. 2.1. Die Karterie .................................................................................... 2.2. Die Enkrateia .................................................................................. 2.3. Enkrateia und Karterie .................................................................. 2.4. Die Autarkie ...................................................................................
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II
Enkrateia und Akrasia ........................................................................... 51 1. Problemstellung. Enkrateia als Grundlage der Tugend .................. 51 2. Mem. 3.9.4 ............................................................................................ 64 3. Mem. 4.5.6 ............................................................................................ 76 4. Die Begriffe ff der Enkrateia und Akrasia ............................................ 87
III Der Begriff ff der Tugend ......................................................................... 94 1. Tugend als Wissen ............................................................................... 94 2. Das Gute und das Böse ....................................................................... 105 2.1. Begriffe ff des Guten und des Schönen ........................................... 105 2.2. Mem. 4.2 ......................................................................................... 110 3. Wissen und Handeln ........................................................................... 116 4. Tugend ist lernbar ................................................................................ 123 4.1. Natur und Ausbildung .................................................................. 123 4.2. Tugend und die weibliche Natur .................................................. 134 5. Das Glück .............................................................................................. 144 IV Der Begriff ff der Freundschaft ............................................................... 155
V
1. Freundschaft ft und Nutzen ................................................................... 155 2. Paidikos Eros ........................................................................................ 166 3. Mem. 3.11 ............................................................................................ 177 Gesetze und Gesetzestreue ................................................................... 196 1. Das Gesetzliche und das Gerechte ..................................................... 196 1.1. Mem. 4.6.5-6 ................................................................................... 196 1.2. Mem. 4.4 ......................................................................................... 199 1.3. ‚Das Gesetzliche ist gerecht‘ ......................................................... 203
VIII
2. Mögliche Widersprüche ...................................................................... 205 2.1. Alkibiades’ Gespräch mit Perikles über Gesetze ........................ 205 2.2. Die ‚königliche Kunst‘ .................................................................... 213 2.3. Ist Xenophons Sokrates gesetzestreu? .......................................... 222 3. Positivistische und idealistische Auff ffassung .................................... 226 VI Xenophons Sokrates und die Götter .................................................. 230 Zusammenfassungg .......................................................................................... 256 Literaturverzeichnis ....................................................................................... 259 Stellenregister .................................................................................................. 270
Vorwort Die vorliegende Arbeit stellt die für den Druck überarbeitete Fassung meiner Dissertation dar, die im Sommersemester 2011 von der Fakultät Geistes- und Kulturwissenschaft ften der Otto-Friedrich-Universität Bamberg angenommen wurde. An erster Stelle sei meinen hoch geschätzten Gutachtern Frau Prof. Dr. Sabine Föllinger (jetzt Marburg) und Herrn Prof. Dr. Martin Hose (München) herzlichst gedankt, die mich nicht nur durch die konstruktive Kritik und den fachlichen Rat, sondern auch durch ihre wertvolle Hilfe in allen Angelegenheiten stets wohlwollend unterstützt haben. Meine Dissertation entstand im Rahmen des Bamberger DFG-Graduiertenkollegs 1047 „Generationenbewusstsein und Generationenkonflikte fl in Antike und Mittelalter“, dessen Professoren und Stipendiaten, die all die ganzen Jahre für eine freundliche Umgebung und eine höchst motivierende Arbeitsatmosphäre gesorgt haben, ich meinen herzlichsten Dank abstatte. In ganz besonderer Weise gebührt mein überaus großer und herzlicher Dank dem Leiter des Graduiertenkollegs, Herrn Prof. Dr. Hartwin Brandt, der mich und meine Arbeit stets wohlgesinnt gefördert und mich in den zahlreichen Krisensituationen mehrmals gerettet hat. Herrn Professor Brandt, dem Graduiertenkolleg und der Universität Bamberg werde ich immer meine glücklichen Bamberger Jahre verdanken. Dem Graduiertenkolleg und der Deutschen Forschungsgemeinschaft ft danke ich ferner für die Gewährung eines großzügigen Druckkostenzuschusses für die Publikation dieses Buches. Mein großer Dank gilt Frau Prof. Dr. Sabine Vogt (Bamberg), die mir schon in der Phase der Fertigstellung der Druckfassung mit Rat und Tat vielfach geholfen hat. Den Frauenbeauft ftragten der Universität Bamberg, insbesondere Frau Prof. Dr. Ada Raev und Frau Prof. Dr. Margarete Wagner-Braun, danke ich für die Gewährung eines sechsmonatigen Abschlussstipendiums, während dessen Zeit ich meine Dissertation fertig gestellt und eingereicht habe. Allen Mitgliedern des Bamberger Graduiertenkollegs sowie den Teilnehmern des gräzistischen Forschungskolloquiums bei Frau Professor Föllinger, von denen mir viele in diesen Jahren gute Freunde geworden sind, danke ich herzlich für die Möglichkeit, Thesen Th aus meiner Arbeit zu präsentieren, und für anregende und horizonterweiternde Diskussionen, von welchen meine Untersuchung viel profitiert fi hat. Einen sehr großen Dank für seine selbstlose Hilfe schulde ich Herrn Dr. Alexander Müller (Heidelberg), der die Mühe nicht gescheut hat, das gesam-
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te Manuskript akribisch und geduldig durchzulesen und mein von Vollkommenheit immer noch weit entferntes Deutsch rasch und zuverlässig zu korrigieren. Es ist selbstverständlich und braucht kaum weiterer Erwähnung, dass ich alleine die Verantwortung für alle noch verbleibenden Fehler trage. Für die Aufnahme dieser Arbeit in die Reihe „Classica Monacensia“ sei den Herausgebern der Reihe recht herzlich gedankt, insbesondere Herrn Professor Hose, der die Entstehung meiner Dissertation von erstem Beginn, seit der frühen Phase noch des Forschungsvorhabens, alle Jahre aufmerksam und wohlwollend verfolgt und vielfältig gefördert hat. Dem Narr-Verlag insgesamt und insbesondere Frau Karin Burger und Herrn Dr. Bernd Villhauer gebührt mein Dank für hilfreiche Korrekturvorschläge und die Betreuung während der Erstellung der Druckvorlage. Herrn Doktor Villhauer danke ich darüber hinaus für seine freundliche und verständnisvolle Unterstützung in allen Angelegenheiten. Für die rasche Hilfe bei Erstellung des Layouts danke ich Herrn Dr. Florian Ruppenstein (Berlin). Mein herzlicher Dank richtet sich weiterhin an alle Dozenten des Instituts für Klassische Philologie der Moskauer Lomonossow-Universität und insbesondere an Herrn Dr. Wladimir Feier, der mir die Klassische Philologie eröffnet und mich zum Studium dieser inspiriert hat, und an meinen verehrten Lehrer Herrn Prof. Dr. Andrei Rossius, der mir die Liebe zur altgriechischen Sprache beigebracht und mein Interesse an Xenophon und seinem Sokrates angeregt hat. Den Moskauer Philosophen und insbesondere Herren Professoren Juri Schichalin und Alexander Dobrokhotov danke ich für die Unterstützung meines Interesses an philosophischen Aspekten der oft ft für kaum philosophisch gehaltenen Schrift ften Xenophons. Besonderer Dank gebührt Herrn Professor Myles F. Burnyeat (Oxford und Cambridge), der meine Arbeit in ihrer frühen Phase freundlicherweise angesehen und sie durch die positive Beurteilung und sein kritisches Interesse ermutigt hat. Mit einem wertvollen Hinweis hat mir auch Herr Professor Anthony Price (London) sehr geholfen, dafür schulde ich ihm einen großen Dank. Frau Prof. Dr. Liudmila Lokshtanova (Düsseldorf) danke ich recht herzlich für die wunderschönen und fesselnden Gespräche über die deutsche Syntax und Stilistik, die mich viel gelehrt und meine Liebe zu dieser Sprache noch mehr entfacht haben. Herrn Professor Louis-André Dorion (Montréal) danke ich für die freundliche Zusendung seiner Aufsätze, die in Deutschland nicht zugänglich sind. Sein Kommentar zu den 2.-4. Büchern der „Memorabilien“ Xenophons ist nach der Fertigstellung meiner Dissertation und nach meiner Disputation erschienen, in der vorliegenden Druckfassung konnte ich ihn in mehreren Einzelfällen berücksichtigen. Gleiches gilt auch dem Kommentar von Frau
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Professor Fiorenza Bevilacqua (Mailand), der ich für die Hilfe bei dem mühevollen Erwerb ihres Kommentars danke. Aus verschiedenen Gründen hat sich die Publikation meiner Arbeit lange hingezogen, und ich danke recht herzlich wieder einmal Frau Professor Föllinger, Frau Professor Vogt, Herrn Professor Brandt und Herrn Professor Hose für das freundliche Verständnis und ihre endlose Geduld. In dieser Zeit hat sich auch meine Auff ffassung weiter entwickelt und es haben einige meiner Meinungen einen Wandel erfahren, so dass die vorliegende Arbeit keineswegs eine endgültige und erschöpfende (so wurde sie allerdings auch nicht konzipiert) Untersuchung, sondern nur eine Basis für weitere Forschungen darstellt. Mit Freude denke ich an viele Fragen und Probleme, die sich noch erforschen und vertiefen lassen: Es ist ein echt sokratisches Vergnügen, eigene Fehler und sich selbst zu verbessern. Gewidmet sei das Buch meinem unvergesslichen Großvater, dem großen Physiker, der mich durch sein Beispiel gelehrt hat, dass man den Weg der Forschung sogar in schlechten Zeiten und unter schwierigsten Umständen dennoch standhaft ft gehen kann. Leider kann ich ihm dieses Buch nicht mehr in die Hände legen, was ihm bestimmt eine große Freude wäre. Bamberg, im Sommer 2013
Olga Chernyakhovskaya
Einleitung Als man sich von der Suche nach den Ideen des ‚historischen‘ Sokrates löste, rief dies ein genuines Interesse an den sokratischen Schriften ft Xenophons hervor, die vorher, wenn sie überhaupt Beachtung fanden, meistens im Lichte von Platons Dialogen kritisiert wurden. Von der in letzter Zeit veränderten Beurteilung Xenophons als Vertreters der sogenannten sokratischen Literatur und des von ihm geschaff ffenen Sokrates-Bildes zeugt die unlängst erschienene Bibliographie von Louis-André Dorion „Les écrits socratiques de Xénophon. Supplément bibliographique (1984-2008)“1: Während die einen Zeitraum von fast 400 Jahren umspannende und nicht nur sokratische Schrift ften, sondern auch Hieron und Agesilaos berücksichtigende Bibliographie von Donald R. Morrison 1382 Titel registriert2, erfasst Dorions Bibliographie 246 Titel für den Zeitraum von bloß 24 Jahren und nur für die Schriften, ft in welchen die Sokrates-Figur dargestellt wird: Memorabilien, Apologie, Symposion, Oikonomikos (es sei angemerkt, dass es in dieser Bibliographie verständlicherweise einige Lücken gibt, so dass die Anzahl der dem Xenophontischen Sokrates gewidmeten Arbeiten noch größer ist). Die Vernachlässigung der sokratischen Schriften ft Xenophons wurde durch das Bestreben hervorgerufen, die historische Gestalt des Sokrates in den erhaltenen Quellen fest zu stellen. Daher erfolgte die Kritik an Xenophon immer im Rahmen der sogenannten ‚Sokratischen Frage‘3: Nachdem die Einstellung, es sei eine unlösbare und daher sogar falsche Frage, communis opinio wurde, erwies sich auch die negative Beurteilung Xenophons als Autors von sokratischen Schrift ften und seines Sokrates als unbegründet. Die Meinung, dass nur Platons Dialoge für die Untersuchung von Sokrates’ Philosophie von Bedeutung sind, stammt aus dem Beitrag von Friedrich Schleiermacher „Ueber den Werth des Sokrates als Philosophen“ von 1815, der im Laufe von fast 200 Jahren das Urteil der Forscher über die sokratische Literatur beeinfl flusste4. Die Hauptargumente dieser Kritik, die dann immer 1
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Siehe in Narcy & Tordesillas, 2008, 283-300. Siehe auch die Bibliographie von Louis L’Allier, die online verfügbar ist und regelmäßig aktualisiert wird (die letzte Revision ist vom November 2012): http://www3.sympatico.ca/lallier.louis/. Morrison, 1988. Für eine ausführliche Darlegung der Geschichte der ‚Sokratischen Frage’ siehe z.B. A. Patzer, Einleitungg in Patzer, 1987, 1-40; L.-A. Dorion, Introduction in Dorion & Bandini, 2000, viii-cxviii; siehe auch Montuori, 1981 und 1992; Dorion, 2011; Bevilacqua, 2010, 63-92. Schleiermacher, 1818. Vgl. Patzer, 1987, 10: „Es leidet keinen Zweifel, daß Schleiermachers Abhandlung für die Sokratesforschung von epochemachender Bedeu-
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Sokrates bei Xenophon
wieder ihre Anhänger gefunden hat, bestanden darin, dass Xenophon kein Philosoph war und daher Sokrates’ philosophische Anschauungen nicht zuverlässig ausdrücken konnte und dass Xenophons Ziel war, Sokrates zu rechtfertigen, weswegen er ihm konventionelle Ansichten zuschrieb. Im Ergebnis vertrete Xenophons Sokrates so konservative und banale Ansichten, dass solche Schüler wie Platon und Euklid sich ihm nie hätten anschließen können, wäre der wahre Sokrates dem Xenophontischen ähnlich gewesen. Sogar in letzter Zeit wurden diese Hauptargumente Schleiermachers von Thomas C. Brickhouse und Nicholas D. Smith wiederholt: „But whatever his merits as a writer and though he must have been a devoted friend of Socrates, Xenophon was nott a philosopher, which helps explain why his account of Socrates’ conversations appear philosophically dull. […] The ‘Socrates’ we find in the Memorabilia is such a model of decorum, according to the average fi person’s sense of what morality requires, that it is impossible to see why any Athenians would have wanted him silenced, much less put to death. […] Xenophon’s portrait in the Memorabilia also fails to explain why fine young minds would have been attracted to Socrates in the first place“5. Die sokratischen Schrift ften Xenophons werden in der Regel von denen negativ beurteilt, die glauben, dass die ‚Sokratische Frage‘ beantwortet werden kann und dass der historische Sokrates in der Sokrates-Figur der früheren Platonischen Dialoge geschildert ist. In diesem Zusammenhang ist es bemerkenswert, dass diejenigen als erste die Unlösbarkeit der ‚Sokratischen Frage‘ behauptet und die sokratischen Schriften ft Xenophons positiv bewertet haben, die Gregory Vlastos’ Werke über die Philosophie des Sokrates kritisierten: 1971 hat Vlastos die ersten drei Seiten seines Aufsatzes „Th The paradox of Socrates“ der Gestalt des Xenophontischen Sokrates gewidmet, um zu beweisen, dass die Schrift ften Xenophons im Gegensatz zu den Dialogen Platons keine Berücksichtigung verdienen6. Diesem Urteil haben sich danach unter anderen Gerasimos Santas und Richard Kraut angeschlossen, indem sie sich zum Beweis für die Richtigkeit dieser Meinung allein auf diesen Aufsatz von Vlastos berufen haben7. Donald Morrison hat als Antwort auf diesen Aufsatz von Vlastos versucht, seine Argumente zu widerlegen, und war dabei einer der ersten, die für die Rehabilitation des Xenophontischen Sokrates kämpften: „I wish to suggest that the philosophical differences ff between Xenophon’s and Plato’s Socrates uniformly make Xenophon’s writings more philosophically interesting rather than less. For it is because of these differences ff that
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tung gewesen ist.“ Für die Analyse dieses Beitrages Schleiermachers siehe Dorion, 2001a. Brickhouse & Smith, 2000, 38 und 42 f. Vlastos, 1971. Santas, 1979, x; Kraut, 1984, 4.
Einleitung
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Xenophon gives us an independent window onto the variety and richness of Socratic philosophy at the end of the 5th century B.C. And our interest in Socrates, I submit, ought really to be an interest in this movement. […] Socrates-as-seen-through-the-many-facets-of-the-Socratic-movement – that is a Socrates which is available to us, and one which is endlessly fascinating. From the point view of this interest, the obsessive preoccupation of our scholarly community with Plato is unfortunate. Plato was the greatestt of the Socratics; but he was only the greatest of the Socratics. Our richest single source of evidence about the Socratic movement is Xenophon. If one is interested in what Socrates meant to his time, or could mean to ours, then Xenophon’s Socratic writings are a precious treasure“8. Wieder als Antwort zu Vlastos, aber schon auf sein einfl flussreiches Buch „Socrates. Ironist and Moral Philosopher“9, behauptete 1992 Charles H. Kahn, die ‚Sokratische Frage‘ sei unlösbar: „Our evidence is such that […] the philosophy of Socrates himself, as distinct from his impact on his followers, does not fall within the reach of historical scholarship. In this sense the problem of Socrates must remain without a solution“10. Morrisons Urteil war aber nicht ganz neu, es wiederholte die These von Olof Gigon, welche er 1947 seinem Buch „Sokrates. Sein Bild in Dichtung und Geschichte“ zugrunde gelegt hatte: „So haben wir zwei grundlegende Elemente. Auf der einen Seite steht eine durch Umfang und geistigen Rang ausgezeichnete Literatur, die grundsätzlich Dichtung ist, sich selber als Dichtung gibt und als Dichtung genommen werden muss. Auf der andern Seite steht die historische Person des Sokrates, die wir niemals wirklich kennen werden, weil kein Zeitgenosse als Historiker von ihr gesprochen hat. […] Die geschichtliche Realität des Sokrates wird vermutlich niemals aufhören, uns zu beunruhigen, aber es hat keinen Sinn, wissenschaftlich ft nach ihr zu fragen, weil wir einfach keine Texte besitzen, die wir darauf befragen könnten. […] Da bleibt nur eines: in entschlossener Resignation die Frage nach der Persönlichkeit und Lehre des geschichtlichen Sokrates als unbeantwortbar beiseitezulegen und dafür die Freiheit zu gewinnen, die sokratische Literatur unbefangen als Dichtung zu verstehen […]. Was aber für uns fassbar ist, ist nicht Sokrates als geschichtlicher Lehrer seiner Schüler, sondern Sokrates als zentraler Gegenstand einer philosophischen Dichtung“11. Die 8 9 10 11
Morrison, 1987, 19. Vlastos, 1991. Kahn, 1992, 240. Gigon, 31994, 15 f. Vgl. aber Patzer, 2012, 318: „Die historische Gestalt des Sokrates ist uns, aller quellenkritischen Mühewaltung zum Trotz, immer nur in fiktionaler fi Verfremdung gegeben, und je mehr man diese Verfremdung zu durchschauen lernt, desto mehr rückt das «historische Substrat» (O. Gigon), von dem doch alle Fiktionalität ihren Ausgang genommen hat, in den Hintergrund. Die Frage ist, ob die historische
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Sokrates bei Xenophon
Kritik gegen Xenophon findet fi aber, wie oben erwähnt, auch heute ihre Vertreter, so dass das 1984 geäußerte Urteil von Andreas Patzer auch jetzt noch – mindestens teilweise – stimmt: „So bedeutsam der Einfl fluß gewesen ist, den Gigon auf die Entwicklung der Sokratesphilologie der letzten dreißig Jahre ausgeübt hat, so ist doch die alte, von Schleiermacher begründete Communis opinio dadurch keineswegs verdrängt worden“12. Im Ganzen erleben dennoch die Studien der sokratischen Schriften ft Xenophons seit den neunziger Jahren des XX. Jahrhunderts ihre Blütezeit. Es wäre überflüssig, fl die große Menge der dem Xenophontischen Sokrates in den letzten etwa 20 Jahren gewidmeten Untersuchungen hier zu nennen; als ein aufschlussreiches Beispiel können allein die Ausgaben, Kommentare und Sammelbände dienen: die Ausgabe mit Kommentar zum Oikonomikos von Sarah B. Pomeroy, der Kommentar zum Symposion von Bernhard Huß, die Ausgabe der Memorabilien von Michele Bandini und der Kommentar von Louis-André Dorion und noch eine Ausgabe mit Kommentar zu den Memorabilien von Fiorenza Bevilacqua13 und Sammelbände: „Xenophon and his world. Papers from a conference held in Liverpool in July 1999“, „Les écrits socratiques de Xénophon“, „Xénophon et Socrate. Actes du colloque d’Aixen-Provence (6-9 novembre 2003)“, „The Th Political Thought of Xenophon“14. Wenn man die ‚Sokratische Frage‘ für unbeantwortbar und sogar für falsch hält, bleibt den Interpretatoren nur, Sokrates-Gestalten bei verschiedenen Autoren – vor allem bei Platon und Xenophon – zu vergleichen. Das Ziel eines solchen Vergleichs besteht nun nicht in der Feststellung der Ideen des ‚historischen‘ Sokrates, sondern in der Registrierung der Übereinstimmun-
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Gestalt auf diesem Hintergrund noch zu erkennen oder, bescheidener gesprochen, noch zu erahnen ist oder nicht. So und nicht anders stellt sich die Sokratische Frage heute. Sie zu beantworten, ja auch nur zu beantworten zu versuchen, ist aller Mühe wert. Denn von der Antwort hängt – stricte sic dictum – nichts Geringeres ab als das Verständnis der griechischen Philosophiegeschichte.“ Patzer, 1987, 38. Pomeroy, 1994; Huß, 1999; Dorion & Bandini, 2000, 2011a und 2011b; Bevilacqua, 2010. Dorions Kommentar zu den Büchern 2-4 der Memorabilien ist nach der Fertigstellung meiner Dissertation erschienen; die vorliegende Druckfassung konnte ich aber mit Hinweisen auf ihn ergänzen: Man wird leicht sehen, dass unsere Auffassunff gen in vielem in die gleiche Richtung gehen und wir oft ft unabhängig voneinander zu den gleichen Schlussfolgerungen kommen; es gibt aber auch wesentliche Differenzen. ff Außerdem konnte ich den Kommentar von F. Bevilacqua berücksichtigen, der ebenfalls erst nach meiner Disputation erschienen ist. Tuplin, 2004; Dorion & Brisson, 2004a; Narcy & Tordesillas, 2008; Gish & Ambler, 2009. Bald wird außerdem der Tagungsband der „Socratica III“ (23.-25. Februar 2012, Trient, Italien), von F. De Luise und A. Stavru herausgegeben, erscheinen, in dem ein großer Teil der Beiträge auch den sokratischen Schriften ft Xenophons gewidmet ist.
Einleitung
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gen und der Unterschiede, die in den Urteilen der beiden Sokrates-Figuren über ein und dasselbe Thema zu finden sind. Diese Vergleichsmethode hilft ft, zwei abweichende und nicht aufeinander zurückzuführende Gestalten zu sehen, die auf dieselben Fragen oft ft verschiedene Antworten geben. Zur Illustration dieser These genügt es, nur einige der wesentlichsten Diff fferenzen kurz zu erwähnen. Während Platons Sokrates behauptet, dass er nichts weiß, und vergeblich nach den Defi finitionen der Tugenden sucht, gelingt es dem Xenophontischen Sokrates, solche Defi finitionen zu geben, und er behauptet niemals, kein Wissen zu besitzen. Allen Ansichten des Xenophontischen Sokrates zugrunde liegt der Begriff ff der Enthaltsamkeit als einer notwendigen Bedingung des Erwerbs und der Aufrechterhaltung der Tugend, in der Ethik des Platonischen Sokrates gibt es aber diese Bedingung der Tugend nicht und es geht nur darum, dass Tugend Wissen ist. Da sowohl die Enthaltsamkeit ein ständiges Training als auch das Wissen eine ständige Übung erfordern, können die Enthaltsamkeit und die Tugend nach Xenophons Sokrates verloren gehen, während der Platonische Sokrates behauptet, dass der tugendhafte Mensch seine Tugend nicht verlieren kann. Sokrates bei Xenophon spricht darüber, dass man den Freunden Nutzen, den Feinden aber Schaden bringen muss, bei Platon behauptet aber Sokrates, dass man unter keinen Umständen das Böse tun soll und folglich auch nicht Böses mit Bösem erwidern soll. ‚Sich selbst zu kennen‘ bedeutet für den Xenophontischen Sokrates eigene Fähigkeiten und ihre Grenzen zu kennen, beim Platonischen Sokrates ist die Selbsterkenntnis mit der Vorstellung von der dreiteiligen Struktur der Seele verbunden, aufgrund derer sich der Mensch darum kümmern muss, dass der rationale, vernunft ftbegabte Teil über die beiden anderen herrscht. In der Hierarchie der Künste stellt Xenophons Sokrates die Kunst der Staatsverwaltung auf die höchste Stufe, aber als Gegenstand dieser Kunst dient ein technisches Wissen, welches auch spezielle Fachkenntnisse erfordert, während die politische Kunst des Platonischen Sokrates sich von allen anderen Künsten dadurch unterscheidet, dass ihr Gegenstand kein technisches Wissen ist, sondern das sittliche Wissen vom Guten und vom Bösen, so dass die politische Kunst alle anderen leitet, indem sie das Ziel bestimmt, zu dessen Erreichung alle technischen Künste nötig sind. Der Unterschied im Charakter des die politische Kunst bildenden Wissens hat zur Folge, dass Xenophons Sokrates den Wohlstand des Staats für wichtig hält, während das dem Platonischen Sokrates gleichgültig ist. Während Sokrates bei Platon seine philosophische Tätigkeit als Dienst für den delphischen Gott bezeichnet, hat Sokrates bei Xenophon keine solche Mission. Nach der Überzeugung des Platonischen Sokrates können die Götter kein Böses tun, der Xenophontische Sokrates hält das aber für möglich und hat im Ganzen eher konventionelle Ansichten über Religion. Das Daimonion des Xenophontischen Sokrates teilt ihm mit,
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Sokrates bei Xenophon
was er oder auch seine Freunde tun müssen und was er oder sie nicht tun sollen, während das Daimonion des Platonischen Sokrates nichts mit seinen Freunden zu tun hat, und diese göttliche Stimme hört Sokrates bei Platon ausschließlich dann, wenn das Daimonion ihn von irgendeiner Handlung abhalten will. Das Ziel der nachstehenden Untersuchung ist es nicht, Parallelen und Diff fferenzen in den Ansichten und Aussagen der beiden Sokrates-Gestalten festzustellen, die allerdings schon mehrfach von den Forschern, die sich mit den sokratischen Schrift ften Xenophons beschäft ftigen, nachgewiesen und beschrieben wurden15, sondern die Ansichten des Xenophontischen Sokrates als eine selbständige und in sich geschlossene Ganzheit zu analysieren, d.h. das ihnen eigene System der Argumentation und die innere Logik im Gedankengang und in den Handlungen der von Xenophon geschaffenen ff Sokrates-Figur bloßzulegen. Aus diesem Grund erwähne ich in der vorliegenden Arbeit bewusst keine Parallelen – auch nicht die naheliegenden – mit den Platonischen Dialogen (so dass ‚Sokrates‘ hier immer ‚der Xenophontische Sokrates‘ bedeutet): Wichtig ist hier nicht, Parallelen zwischen Xenophons und Platons Sokrates-Figuren noch einmal aufzuzeigen, sondern die Gestalt des Sokrates bei Xenophon systematisch zu beschreiben und die Struktur seines Denkens und seine Argumentation off ffen zu legen. Welche Ansichten vertritt eigentlich der Xenophontische Sokrates? Worin bestehen seine Handlungen? Welche Fragen und Probleme erörtert er? Wie werden seine Einstellungen argumentativ vertreten? Gibt es eine logische Verbindung zwischen ihnen und bilden sie eine Einheit? Oder sind sie, wie nicht nur einmal behauptet wurde und wird, eine nicht sehr geschickte Zusammenstellung der verschiedenartigen und daher einander widersprechenden Thesen? Th Die Antworten auf diese Fragen können als Ausgangsposition für weitere Forschung in mehreren Hinsichten dienen: für den Vergleich der sokratischen Schrift ften Xenophons mit seinen nicht-sokratischen Schrift ften, da Xenophons Werke in vielem von ein und derselben Ideologie zeugen, so dass auch die Schrift ften, in welchen es die Sokrates-Gestalt nicht gibt, viele ‚sokratische‘ Merkmale haben; und für den Vergleich der Ansichten des Xenophontischen Sokrates nicht nur mit Platon und Aristoteles, zu deren Werken es naheliegenderweise in vielen Fragen Parallelen gibt, sondern auch mit der – streng genommen – nicht-philosophischen Literatur des 4. Jhdts. v. Chr., da solche Gebiete des Denkens wie Probleme der Selbstbeherrschung, der Tugend, der Weisheit, des Glücks, der Freundschaft ft u.v.a. nicht 15
Für eine knappe Aufzählung der Unterschiede siehe z.b. Dorion, 2004a, 98 ff ff.; einen detaillierteren Vergleich mit Angaben der Parallelstellen siehe in Dorions Kommentar zu den Memorabilien (Dorion & Bandini, 2000, 2011a, 2011b).
Einleitung
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einem Denker gehören und nicht nur für die sogenannte sokratische Literatur kennzeichnend sind, sondern auch für die Philosophie und die ganze Literatur im allgemeinen. Bei diesem Vergleich sind nicht nur die Ansichten von verschiedenen Autoren oder Gestalten über eine Frage ein bedeutendes Kriterium, sondern auch die Argumentation, die innere Logik, die rationale Begründung der Ansichten oder der Mangel an einer solchen Begründung. Das Ergebnis solcher weiteren Forschung kann in einer besseren Auff ffassung des griechischen Denkens und der Moral des 4. Jhdts. bestehen.
I Lebensweise des Sokrates bei Xenophon Lebensweise und Sozialverhalten des Xenophontischen Sokrates sind durch zwei Hauptzüge gekennzeichnet: Askese und Honorarverzicht für seine Gespräche. Diese sind nicht nur äußerliche Merkmale seiner Lebensführung, sondern eine logische Folge seiner Anschauungen: Sokrates’ Lebensführung ist durch seine Ansichten direkt bedingt.
1. Honorarverzicht Zwischen Sokrates und seinen Gesprächspartnern besteht ein Freundschaftsverhältnis, ft welches von hierarchischen Strukturen wie ‚LehrerSchüler‘ oder ‚Verkäufer-Käufer‘ frei ist. Sokrates’ Gespräche sind keine Lehren, sondern Dialoge der gleichberechtigten Freunde, die einander freiwillig und nach gegenseitigem Wunsch gewählt haben. Indem Sokrates kein Honorar für seine Gespräche verlangt und seine Gesprächspartner damit zu Freunden macht, handelt er als καλὸς κἀγαθὸς πολίτης, was unter anderem noch einmal auch die Ungerechtigkeit der gegen ihn erhobenen Anklage beweist.
Sokrates kam im praktischen Bereich seines täglichen Lebens mit geringsten Mitteln aus. Sokrates brauche so wenig Geld, so Xenophon, dass sicher jeder, der irgendetwas arbeitet, mindestens so viel verdiene, wie ein so bedürfnisloser Mensch wie Sokrates zum Leben braucht1. Die Quelle 1
Mem. 1.2.1; 1.2.14; 1.3.5; Oec. 2.3; 2.11; 11.3. In den Worten οὕτω γὰρ εὐτελὴς ἦν, ὥστ’ οὐκ οἶδ’ εἴ τις οὕτως ἂν ὀλίγα ἐργάζοιτο ὥστε μὴ λαμβάνειν τὰ Σωκράτει ἀρκοῦντα (Mem. 1.3.5) finden Gigon und ihm nachfolgend Dorion eine Widerlegung des möglichen Vorwurfes gegen Sokrates, dass er nicht arbeite: „Der Sache nach ist der Satz eine fast groteske enkomiastische Uebertreibung. Oder soll er im Grunde dem Einwand begegnen, warum sich Sokrates nicht durch ein richtiges ἐργάζεσθαι sein Leben verdient? Wenn er nicht als aristokratischer ἀργός gelten durfte ft oder als Parasit, so war seine Verteidigung nur zu führen, wie es hier geschieht: er braucht eben nichts“ (Gigon, 1953, 101; Siehe Auch Dorion & Bandini, 2000, 127). Dieses Urteil ist kaum zu bestreiten, aber mir scheint dennoch bemerkenswert, dass Xenophon nie direkt darüber spricht, dass Sokrates nicht arbeitet; aus den zitierten Worten folgt nur, dass es Sokrates keine Schwierigkeiten bereitet, sich selbst zu versorgen, da er mit geringsten Mitteln auskommt. Zur Frage, ob (der Xenophontische) Sokrates arbeitet oder nicht, kann man aus diesem Satz nur dann eine Antwort ziehen, wenn man schon vorher eine Stellung zu diesem Problem genommen hat. Außerdem braucht Sokrates immerhin ein wenig (wenn auch sehr wenig) Geld zum Leben; und wenn man den Text Xenophons unter dem Gesichtspunkt der landläufi figen Vorstellung von Sokra-
Honorarverzicht
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von Sokrates’ Einkommen erwähnt Xenophon nicht, aber er wiederholt mehrmals, dass Sokrates sich mit allen seinen Schülern nur unentgeltlich unterhielt2. Die Tatsache, dass Sokrates kein Honorar von seinen Gesprächspartnern verlangte (und nach Xenophon lässt Sokrates’ Charakter vermuten, dass er nie einen Lohn nähme, wenn jemand ihm diesen als eine Bezahlung für den ‚Unterricht‘ anböte3), ist keineswegs damit zu erklären,
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tes betrachtet, sieht man im Xenophontischen Sokrates unvermeidlich gerade den Parasiten, von welchem Gigon schreibt (vgl. die nächste Anm.). Mit Rücksicht auf Xenophons apologetische Aufgaben ist es m.E. nicht zufällig, dass die Frage über die Arbeit des Sokrates mit Stillschweigen übergangen wird und nur betont wird, dass Sokrates sehr wenig benötigt. Mem. 1.2.6; 1.2.60; 1.5.6; 1.6.3; 1.6.5; 1.6.11; Apol. 16; 26. Da Sokrates an anderer Stelle behauptet, dass Freunde alles gemeinsam haben (Mem. 2.6.23 – siehe unten S. 18 Anm. 23; siehe auch Oec. 2.8 in der nächsten Anm.), liegt die Vermutung nahe, dass Sokrates in einem oder anderem Maße von seinen Freunden versorgt wird. Siehe auch Dorion & Bandini, 2000, 71, 127, 165 und 2011a, 216. Siehe Apol. 16: τίνα δὲ ἀνθρώπων [ἐπίστασθε] ἐλευθεριώτερον, ὃς παρ’ οὐδενὸς οὔτε δῶρα οὔτε μισθὸν δέχομαι; Aber die Anzahl von Menschen, welche Sokrates ein Geschenk machen wollen, ist sehr groß; er spricht darüber selbst nur ein paar Zeilen weiter (Apol. 17): ἐκείνου δὲ τί φήσομεν αἴτιον εἶναι, τοῦ πάντας εἰδέναι ὅτι ἐγὼ ἥκιστ’ ἂν ἔχοιμι χρήματα ἀντιδιδόναι, ὅμως πολλοὺς ἐπιθυμεῖν ἐμοί τι δωρεῖσθαι; Aus diesen Worten ist aber nicht ersichtlich, ob seine Freunde ihm Geschenke nur vorlegen und Sokrates alle diese immer ablehnt, oder ob es auch vorkommt, dass er einige annimmt. Die ausgedachte Situation, die Sokrates im Gespräch mit Kritobulos schildert, macht das auch nicht klar (Oec. 2.8): καὶ ἐμοὶ μέν, εἴ τι καὶ προσδεηθείην, οἶδ’ ὅτι καὶ σὺ γιγνώσκεις ὡς εἰσὶν οἳ καὶ ἐπαρκέσειαν ἂν ὥστε πάνυ μικρὰ πορίσαντες κατακλύσειαν ἂν ἀφθονίᾳ τὴν ἐμὴν δίαιταν. Sokrates stellt in dieser imaginären Situation sich selbst seinem Gesprächspartner gegenüber: Freunde von Kritobulos trachten nicht danach, ihm zu helfen, während Sokrates’ Freunde hingegen darauf brennen, ihm im Notfall zu Hilfe zu kommen. Ob eine solche Notwendigkeit schon einmal bestand und ob er die ihm angebotene Hilfe wenigstens einmal nicht abgelehnt hat und ein Geschenk angenommen hat, davon sagt Sokrates nichts. Folgender Schluss lässt sich m.E. ableiten: Sokrates verlangt kein Honorar von seinen Gesprächspartnern und würde kein Geschenk als solches Honorar von ihnen annehmen, es ist aber möglich, dass er ein Geschenk von seinem Freund akzeptiert, wenn dieser ihm im Unglück helfen oder auf diese Weise seine Zuneigung zeigen will. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang doch, dass im Gespräch mit Perikles, wenn Sokrates darüber redet, wie derjenige sich verhalten müsse, welcher Strategie erlernen wolle, er denjenigen als gut charakterisiert, der weder Geschenke noch andere Gefälligkeiten für den Lehrer spart (Mem. 3.5.23: οὔτε δώρων οὔτε χαρίτων φειδόμενον). An dieser Stelle scheint Sokrates zu meinen, dass der Lehrer nichts Schlechtes tut, wenn er Geschenke von seinem Schüler annimmt. Ob Sokrates nur für sich selbst eine Ausnahme macht, bleibt aber unklar. Azoulay vergleicht einen „entwürdigenden“ Lohn (μισθός) und gebührliche Geschenke (δῶρα) und schlägt eine folgende Lösung der genannten Inkonsequenz in Sokrates’ Äußerungen vor: „… il s’agit pour Xénophon de mettre en exergue l’autarcie
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dass er ‚reich‘ war4 und kein Geld brauchte. Im Xenophontischen Text kann man eine rationale Erklärung dafür fi finden, warum Sokrates einer solchen Lebensregel absichtlich folgte. Sokrates’ Gespräch mit Antiphon ist in diesem Zusammenhang bemerkenswert5: Antiphon behauptet, dass der Unterricht des Sokrates nichts Wertvolles anbieten könne, weil der Lehrer sich bereitwillig zeige, seine Kenntnisse mit allen Menschen kostenlos zu teilen, denn sein Haus oder etwas Anderes, das ihm gehöre, würde er niemandem gratis oder auch für einen geringeren Preis als den angemessenen geben. Darauf erwidert Sokrates: παρ’ ἡμῖν νομίζεται τὴν ὥραν καὶ τὴν σοφίαν ὁμοίως μὲν καλόν, ὁμοίως δὲ αἰσχρὸν διατίθεσθαι εἶναι6.
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socratique, dans une sorte de surenchère qui vient ajouter le refus des dons à celui du misthos dégradant“ (Azoulay, 2004, 138). Sokrates bezeichnet sich als reich, weil er unter keinen Umständen Not leidet, während er den wohlhabenden Kritobulos hingegen für arm hält, denn wenn Kritobulos auch dreimal so viel hätte wie er in Wirklichkeit hat, empfände er trotzdem einen Mangel (Oec. 2.2-4). In der Frage, welcher Mensch als reich bezeichnet werden kann und welcher hingegen als arm, unterscheidet sich also Sokrates’ Meinung von der üblichen Ansicht. In der sokratischen Defi finition ist derjenige reich, dem das Vorhandene genügt, derjenige aber arm, welchem nicht genug ist, was er hat (so können die ‚Reichen‘ im sokratischen Sinne sowohl arm (Sokrates selber) als auch reich (wenn ihr Reichtum ihnen genügt) im üblichen Sinne sein; und gleichfalls können zu den sokratischen ‚Armen‘ sowohl reiche als auch arme Leute gehören, da das Kriterium ist, ob sie einen Mangel empfinden). fi Während es sich im Oikonomikos im Ganzen darum handelt, dass der gute Hausherr nach dem Erhalt und der Erweiterung seines Haushalts und seiner Güter streben muss, bietet Sokrates, wie Natali es zu Recht bemerkt, „un modello alternativo“: Die sokratische Methode, reich zu werden und zu sein, besteht in außerordentlicher Beschränkung der Bedürfnisse (Natali, 32003, 219). Auf diese Weise überwindet der Mensch eine Empfi findung des Mangels an irgend etwas. Die Kategorie des ‚Reichtums‘ wird also auf denjenigen angewandt, welcher nicht mehr braucht, als er hat. Zu demselben Schluss kommt auch Dorion: „La richesse et la pauvreté ne dépendent pas de la somme d’argent dont on dispose, mais de la limitation des besoins“ (Dorion, 2004a, 108; vgl. auch 2004b, 58 und 2004c, 238). Siehe auch Nickel, 1972, 43f. Erwähnenswert ist auch, dass Sokrates mit seiner Bemerkung, er sei reich genug (ἱκανῶς πλουτεῖν), zu verstehen gibt, dass er selber kein Interesse am Gegenstand des Gesprächs hat (d.h. daran, wie man den Haushalt besorgen muss, um ihn zu behalten und zu erweitern). Vgl. unten S. 20 Anm. 26. Mem. 1.6.11-14. Mem. 1.6.13: „Bei uns ist man der Ansicht, man könne von seiner Schönheit wie von seiner Weisheit einen schönen oder hässlichen Gebrauch machen.“ Hier und im folgenden werden die sokratischen Schrift ften Xenophons nach – von mir gelegentlich leicht geänderter – deutscher Übersetzung von Ernst Bux zitiert.
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Obgleich der Ausdruck παρ’ ἡμῖν in dieser Passage als Streitfall dienen kann7, ist in diesem Fall von Bedeutung, dass es im weiteren Gespräch darum geht, welches Verhalten als schicklich oder im Gegenteil als unzulässig von einem bestimmten Kreis von Menschen beurteilt wird, in den Xenophons Sokrates sich hier einreiht und dessen Anschauungen er vertritt. Derjenige, der seine Jugend und Schönheit (im Wort ὥρα sind hier beide Begriffe ff vereint) jedem beliebigen (τῷ βουλομένῳ) für Geld verkaufe, bekomme zu Recht die Bezeichnung πόρνος; der aber, welcher zum Freund denjenigen mache, in dem er seinen guten Verehrer (καλόν τε κἀγαθὸν ἐραστὴν ὄντα) sehe, müsse als σώφρων bezeichnet werden. Die sokratische Antithese bezeichnet 7
Dieser Ausdruck ist ein Gegenstand der scharfen Polemik zwischen E.R. Dodds und J.S. Morrison geworden: Dodds hat behauptet, dass die Athener damit gemeint sind (Dodds, 1951, 132; 1954, 94 f. und 1973, 178), und Morrison hat versucht zu beweisen, dass es einen Kreis der Schüler von Sokrates bedeutet (Morrison, 1953, 5 und 1955, 8 ff.). Da ich mir in dieser Arbeit nicht die Aufgabe stelle, aufzuklären, welche historische Person sich hinter dem Namen des Antiphon in dieser Xenophontischen Passage verbirgt (darüber siehe z.B. Pendrick, 1993, 219 ff.), ff erlaube ich mir, die Argumente der Forscher hier nicht darzulegen. Dieses Problem scheint im Rahmen dieser Arbeit nicht von Bedeutung zu sein (nur nebenbei sei bemerkt, dass ich die Meinung von Morrison wie auch Gigon (Gigon, 1953, 160) und Dorion (Dorion & Bandini, 2000, 160) teile). Folgendes Detail ist aber m.E. bemerkenswert: Obwohl Sokrates seine Antwort damit beginnt, dass „bei uns“ angenommen werde, dass die Schönheit und die Weisheit sowohl gut als auch schlecht gebraucht werden können, benutzt er im Weiteren das Verb in der ersten Person nur für die positive Seite (σώφρονα νομίζομεν, τοῦτον νομίζομεν […]); wenn er aber die negativen Beispiele der Verhältnisse charakterisiert, k benutzt er das Verb in der dritten Person (πόρνον αὐτὸν ἀποκαλοῦσιν, σοφιστὰς ἀποκαλοῦσιν). Unabhängig davon, welche Person mit dem Namen Antiphon gemeint ist, ist es wichtig, dass Xenophon diesen Gesprächspartner des Sokrates als einen Sophisten bezeichnet (Mem. 1.6.1: Ἀντιφῶντα τὸν σοφιστήν). Sein missbilligendes Urteil über das Verhalten der Sophisten gibt Sokrates also gerade einem von ihnen ins Gesicht ab. Um seine Worte zu mildern, damit sie nicht als eine persönliche Beleidigung des Antiphon erscheinen, benutzt Sokrates die Verben in der dritten Person. Auf diese Weise betont er das Subjekt dieser Verben nicht. In seiner Antwort auf Morrisons Kritik macht Dodds folgende Fußnote: „Alternatively, as Mr. D.A. Russell suggests to me, Socrates may use the third person merely for politeness’ sake, to avoid the appearance of associating himself with an impolite parallel between sophists and πόρνοι“ (Dodds, 1954, 95). M.E. handelt es sich nicht um eine abstrakte Höflichkeit, fl sondern um die Milderung der Rede um des unmittelbaren Gesprächspartners willen. Vgl. die gegensätzliche Auff ffassung von Hindley: „Mem. 1.6.13 is, of course, irreconcilable with Socrates’ teaching elsewhere on male love. The Th explanation, no doubt, is that Xenophon allows Socrates to give expression (by way of illustration) to a view commonly held in gentlemanly circles, though one which Socrates did not share“ (Hindley, 2004, 129). Siehe auch S. 172 Anm. 45 und S. 174 Anm. 48.
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einerseits als schmählich, Schönheit jedem beliebigen für Geld zu verkaufen, und andererseits als untadelig, einen bestimmten Menschen (unentgeltlich) zum Freund zu machen8. In Bezug auf die Weisheit formuliert Sokrates eine gleiche Antithese: Die Menschen, die ihre Kenntnisse jedem beliebigen für Geld verkaufen, nennt man Sophisten; für einen guten Staatsmann (τῷ καλῷ κἀγαθῷ πολίτῃ) gehört es sich hingegen, einen zu seinem Freund zu machen, in dem er gute geistige Anlagen (εὐφυᾶ ὄντα) bemerkt, und ihm alles unentgeltlich beizubringen. Auch wenn man die Worte ὥσπερ πόρνους nach dem Wort σοφιστάς mit Ruhnken und Sauppe tilgt, taucht beim Leser unvermeidlich dieser Vergleich auf. Sokrates selber konnte ihn nicht übersehen (d.h. Xenophon wollte ihn), weil sowohl die syntaktische Struktur des Satzes als auch lexikalische Wiederholungen eben diesen Vergleich betonen. Bilden wir den angestellten Vergleich schematisch ab, bekommen wir folgende Paare: I. ὥρα (schlecht) πόρνος – ὁ βουλόμενος (gut) σώφρων – καλός τε κἀγαθὸς ἐραστής II. σοφία (schlecht) σοφιστής – ὁ βουλόμενος (gut) καλὸς κἀγαθὸς πολίτης – εὐφυής
Während der Gedanke, es sei schmählich, seine eigene Schönheit zu verkaufen, durchaus verständlich scheint, kann eine solche harte Beurteilung der Sophisten erstaunlich scheinen – wenn auch sie ‚Verkäufer‘ sind, ist es doch die Weisheit, die sie verkaufen. Damals sah man es, wie W.K.C. Guthrie konstatiert, keineswegs für ungehörig an, seinen Lebensunterhalt zu verdienen; die Ursache der Missbilligung der Sophisten lag nicht darin, dass sie für Geld unterrichteten, sondern in der Eigenschaft ft des ‚Faches‘, welches sie lehrten: vor allem Tugend (ἀρετή) und Rhetorik, die als das wichtigste Instrument für Erfolg in der politischen Karriere galt9. Nach Guthrie herrschte in der damali-
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In diesem Fall appelliert der Xenophontische Sokrates in seiner Argumentation an die landläufi figen Ansichten (siehe Dover, 1974, 215 f.; die Form des Verbs in der dritten Person ist hier deshalb nicht fehlerhaft ft), seine Eigenart besteht aber darin, dass er die Ansichten aus dem Bereich der Sexualität auf sein ‚Schüler-Lehrer‘ Beziehungsmodell anwendet, in welchem alles von Gesetzen der Freundschaft ft bestimmt wird. Guthrie, 1969, 38 ff. ff Dodds in seinem Kommentar zum Pl. Gorg. 520 bemerkt, dass das Unterrichten für Geld im 5. Jh. v. Chr. „an ungentlemanly innovation“ war; im 4. Jh. v. Chr. war aber ein berufsmäßiger Lehrer schon eine anerkannte und angesehene Figur in der Gesellschaft. ft Der Standpunkt des Xenophontischen Sokrates sei also „a genuine fift fifth-century point of view“ (Dodds, 1959, 365 ff.). Nach Meinung von Blank
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gen Gesellschaft ft die Ansicht, dass die Tugendhaft ftigkeit und die Fähigkeit, im politischen Bereich tätig zu sein, die notwendigen Eigenschaft ften jedes Bürgers sind, sie galten als etwas Selbstverständliches, welches wie Instinkt von Generation zu Generation weitergegeben wird und kein Studium bei einem Lehrer braucht10. Die Missbilligung der Sophisten war also mit der Verweigerung verbunden, professionelle Lehrer anzuerkennen, die berechtigt sein können, gegen Honorar solche Fächer zu unterrichten, in denen jeder Staatsmann nach der allgemeinen Meinung bestimmte Kenntnisse hat oder haben muss. So ist es off ffensichtlich, dass Sokrates bei Xenophon andere Gründe für seine Kritik der Sophisten haben musste: Einerseits kann er die übliche Meinung nicht teilen, weil er behauptet, die Tugend sei lehrbar11, andererseits stellt er sich selbst im erwähnten Gespräch mit Antiphon auch den Sophisten gegenüber. Nach der Meinung des Xenophontischen Sokrates steht das Versprechen der Sophisten, ihren Schülern Tugend beizubringen, im Widerspruch zu ihrem Wunsch, ein Honorar für diesen Unterricht zu bekommen. Ein solcher Lehrer sei seinem Schüler nicht weniger verpflichtet fl als der Schüler ihm: Falls er in der Tat seinem Schüler die Tugend beibringen könne, gewinne er einen guten Freund. Und dies werde seine Belohnung sein. In diesem Fall sei es also schändlich, außerdem ein Honorar haben zu wollen. Andererseits sei es unvorstellbar, dass der Schüler nicht große Dankbarkeit seinem Lehrer gefinde, nachdem er die Tugend erlernt habe und καλὸς κἀγαθός genüber empfi geworden sei. Es sei deshalb von vornherein klar, dass der Schüler dem Lehrer gegenüber unbedingt erkenntlich sein werde; der Lehrer werde also keineswegs ohne Belohnung bleiben12. Die Frage, warum der Lehrer auch im Voraus
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handelt es sich aber nicht um das Lehrersein, sondern um den Professionalismus als solchen: „Th The gentleman was always supposed to be a layman, an amateur or a specialist in nothing, so the emphasis no longer seems to be on the ungentlemanly character of teaching for money but, rather, on the ungentlemanly character of being a professional of any sort“ (Blank, 1985, 10). Siehe auch Corey, 2002, 190 f. und 205. Guthrie, 1969, 39. Vgl. auch Blank, 1985, 2: „[…] teaching virtue or aretē, which needs no teacher but should be acquired through the good genes and upbringing given by one’s father and his fellow gentlemen.“ Darüber siehe unten S. 123 ff. ff Mem. 1.2.7. Gigon behauptet, dass „dieser Gedanke ein fester Topos in der Polemik gegen die Sophisten ist“ (Gigon, 1953, 35). Azoulay setzt in seiner Analyse dieser Passage einen anderen Akzent: „Logique monétaire et pratiques charismatiques sont donc a priori antinomiques. Xénophon ne manque pas de dénoncer le mauvais calcul que font en la matière les rivaux de Socrate : les sophistes, non contents de dégrader ffet ignorants de leur véritable intérêt. leurs âmes en réclamant un misthos, sont en eff Grâce à « l’évergétisme philosophique », la réciprocité qui fonde l’amitié se trouve en effet ff déséquilibrée au profi fit celui qui prodigue le savoir. Pour Xénophon, la connais-
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kein Honorar verlangen oder es im Voraus nicht vereinbaren muss, um sich für den Fall abzusichern, dass ein Schüler auch nach der Ausbildung nicht tugendhaft ft wird und deshalb seinem Lehrer kein Freund werden kann und ihm nicht danken will (da das Gefühl der Dankbarkeit in diesem Fall ihm fern steht), lassen wir vorläufi fig off ffen und kehren zu unserer Erläuterung des Gesprächs zwischen Sokrates und Antiphon zurück. Derjenige, der seine Kenntnisse jedem beliebigen für einen Lohn verkauft, ft benimmt sich folglich genau so schändlich wie derjenige, der seine Schönheit und Jugend jedem beliebigen für Geld verkauft. ft Indem Sokrates die Jugend und die Weisheit auf diese Weise gegenüberstellt, vergleicht er einen jungen und einen erwachsenen Menschen, einen ‚Schüler‘ und einen ‚Lehrer‘, und schreibt ihnen die gleiche Verhaltensnorm vor. Die Beziehungen dieser beiden sind in dem Fall nicht schändlich, wenn sie mit Geld nichts zu tun haben: Es ist ebenso würdelos, wenn ein Junge seine Schönheit und ein Erwachsener seine Weisheit für Geld dem erstbesten geben. Aber wie nichts Schmähliches daran ist, wenn der Junge einem anständigen Verehrer nachgibt, so ist es auch in keiner Weise schändlich, die Weisheit demjenigen vermitteln zu wollen, bei dem gute natürliche Anlagen zu finden fi sind. Im zweiten Teil seiner Gegenüberstellung, wenn Sokrates über die Weisheit spricht, beschreibt er sein eigenes Auftreten ft als ein Vorbild. So erklärt er Antiphon, dass er – Sokrates – im Unterschied zu den Sophisten als καλὸς κἀγαθὸς πολίτης handelt. Der Xenophontische Sokrates sieht sich also in Opposition zu den Sophisten nicht nur aus dem Grund, dass er keinen Lohn für seine Gespräche nimmt, sondern auch, weil er nicht jeden zu seinem Gesprächspartner macht, während die Sophisten sich bereit zeigen, jeden beliebigen in der Weisheit auszubilden. Da Sokrates ein andermal denjenigen, der Geld vom erstbesten nimmt, als einen Sklaven bezeichnet13, bekommen die Sophisten von ihm noch einen wenig schmeichelhaften ft Spitznamen. Sokrates selber verlangt kein Honorar von seinem Gesprächspartner, weil er der Ansicht ist, dass er sonst ein Sklave wird: Soll er mit demjenigen notgedrungen sprechen, der ihn bezahlt hat, so verliert er die Freiheit, aus eigenem Willen mit einem Auserwählten zu sprechen14. Nach Dovers Worten
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sance, donnée gracieusement et non monnayée comme une vulgaire marchandise, produit l’effet charismatique le plus intense“ (Azoulay, 2004, 137). Mem. 1.5.6: νομίζων τὸν παρὰ τοῦ τυχόντος χρήματα λαμβάνοντα δεσπότην ἑαυτοῦ καθιστάναι καὶ δουλεύειν δουλείαν οὐδεμιᾶς ἧττον αἰσχράν. Mem. 1.2.6; 1.5.6; 1.6.5. Blank bemerkt außerdem, dass der vorsätzliche Verzicht des Sokrates auf den Lohn noch eine andere Motivation hatte: Wenn jemand dafür bekannt wäre, dass er Stunden gegen Bezahlung gäbe oder andere Dienstleistungen für Geld anböte, so wäre es nicht leicht, die ihm unerwünschten Schüler bzw. Kunden abzulehnen, die gern bereit wären, zu zahlen (Blank, 1985, 12 f.). Aber auch in diesem
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„some ways of making money were open to reproach as aiskhros, for a combination of reasons: because they resembled servile work, or because they seemed to make the producer or seller dependent on the favour of others […]“15. Zur Illustration seiner These weist Dover auf den Standpunkt des Xenophontischen Sokrates hin, dass der freiwillige Verzicht auf den Lohn auch als Anlass zum Stolz dienen konnte. Von Bedeutung ist m.E. auch eine Andeutung des Sokrates, dass er nur mit demjenigen sprechen wird, den er als εὐφυής betrachtet16. Es ist noch einmal darauf hinzuweisen, wie Sokrates die Mitglieder der Paare beschreibt, deren Verhältnisse er im Gespräch mit Antiphon als ein gutes Vorbild darstellt: I. σώφρων – καλός τε κἀγαθὸς ἐραστής; II. καλὸς κἀγαθὸς πολίτης – εὐφυής.
Auf diese Weise nennt Sokrates nicht zwei verschiedene Verhältnistypen, sondern dieselben Verhältnisse von verschiedenen Seiten: Zuerst sieht er die Sache mit den Augen des Jungen – des ‚Schülers‘ – an, und dann mit den Augen des Erwachsenen – des ‚Lehrers‘. Das richtige Paar, in welchem Sokrates die Verhältnisse als gut und anständig bezeichnet, ist deshalb nur ein einziges: σώφρων, εὐφυής – καλός τε κἀγαθὸς ἐραστής / πολίτης17.
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Fall scheint mir die unvermeidliche Folgerung am bedeutendsten, dass Sokrates sich nicht mit jedem Beliebigen unterhalten wollte. Vgl. aber Coreys Bemerkung: „It is perfectly acceptable for Socrates to refrain from teaching for pay if he feels bound and enslaved by it. But to denounce the practice for everyone else is to assume that they also feel bound and enslaved by it. There Th is in fact no indication that this was ever a concern of the sophists“ (Corey, 2002, 197). Dover, 1974, 172. Der Gesprächspartner des Sokrates muss εὐφυής, aber καλὸς κἀγαθός kann er noch nicht sein, Coreys Verweis ist deswegen halb fehlerhaft: ft „See Xenophon, Memorabilia, I.6.13, where Socrates seeks only the kalon te k’agathon and those who are known to have natural talent (euphua)“ (Corey, 2002, 196). Dorions Auff ffassung trifft fft hingegen völlig zu: „Comme il s’agit d’un jeune homme, il ne faut pas s’étonner qu’il ne soit pas encore un homme de bien confi firmé ; ce « défaut » n’est cependant pas rédhibitoire, car l’aspiration au bien, qui signale sa bonne nature, suffi ffit amplement à justifi fier la formation du lien d’amitié. Il n’est donc pas toujours nécessaire d’être déjà soi-même un homme de bien accompli pour se lier d’amitié avec un kalos kagathos“ (Dorion & Bandini, 2000, 163). Gigons Interpretation scheint mir fehlerhaft ft zu sein: „Das Entscheidende ist die Gleichung, die zwischen dem sokratischen Philosophen und dem ἐρώμενος einesteils, zwischen dem Sophisten und dem πόρνος andernteils vollzogen wird“ (Gigon, 1953, 161). Es ist ganz richtig, dass der Sophist mit dem πόρνος verglichen wird. Mit dem Gegenteil des Sophisten (d.h. mit dem καλὸς κἀγαθὸς πολίτης) wird aber aus dem ersten Paar, wenn Sokrates über die Schönheit spricht, nicht der σώφρων, sondern
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Hier liegt wohl der wichtigste Grund dafür, dass Sokrates sich den Sophisten gegenüberstellt. Wenn Geldbeziehungen zwischen den Menschen aufgenommen werden, ist ein Mitglied des Paares von dem anderen abhängig: Der ‚Verkäufer‘ (der Schönheit oder der Weisheit) ist ein ‚Sklave‘ des ‚Käufers‘, der bezahlt. Im Paar, das Sokrates als ein gutes Beispiel der Verhältnisse schildert, gibt es hingegen keinen Verkaufenden und keinen Kaufenden, keinen Abhängigen und keinen Führenden – obwohl einer von ihnen älter ist und der andere jünger, stehen die Mitglieder dieses Paares im übrigen gleich zu gleich, weil sie in Freundschaft ft verbunden sind. Wenn Sokrates diese Verhältnisse von beiden Seiten beschreibt – zuerst von der Seite des ‚Schülers‘, des jüngeren Freundes, und dann von der Seite des ‚Lehrers‘, des älteren Freundes, – sucht er zu zeigen, dass dieser freundschaft ftliche Bund freiwillig und auf beiderseitigen Wunsch hin geschlossen ist. Der Junge stellt selbst fest, ob sein Verehrer tugendhaft ft ist (ὃν ἂν γνῷ καλόν τε κἀγαθὸν ἐραστὴν ὄντα), und wählt selbst diesen Menschen zu seinem Freund (τοῦτον φίλον
καλός τε κἀγαθὸς ἐραστής parallelisiert; und mit dem σώφρων wird hingegen der εὐφυής aus dem zweiten Paar parallelisiert. Es handelt sich aber nicht nur um die Parallelisierung, sondern um die volle Koinzidenz: Sokrates beschreibt zweimal ein und dasselbe ‚Schüler-Lehrer‘ Paar. Beim ersten Mal nennt er den ‚Schüler‘ σώφρων und den ‚Lehrer‘ καλός τε κἀγαθὸς ἐραστής; beim zweiten Mal nennt er den ‚Schüler‘ εὐφυής und den ‚Lehrer‘ καλὸς κἀγαθὸς πολίτης. Um Gigons Fehler zu berichtigen, muss man sagen, dass die Gleichung nicht zwischen dem Philosophen und dem ἐρώμενος, sondern zwischen dem Philosophen und dem ἐραστής vollzogen wird. Dorions Beobachtung ist deshalb ganz recht: „[…] entre le premier terme de la première comparaison (les prostitués) et le premier terme de la deuxième comparaison (les sophistes), il n’y a qu’un rapport d’analogie : les sophistes entretiennent avec le savoir le même rapport vénal que les prostitués avec les attraits de leur jeunesse. […] Or entre le deuxième terme de la première comparaison (le jeune homme « sensé ») et le deuxième terme de la deuxième comparaison (l’homme de bien qui enseigne), il ne s’agit pas tant d’un rapport d’analogie que d’un rapport de complémentarité“ (Dorion & Bandini, 2000, 162). Bemerkenswert ist aber noch ein Irrtum, den Gigon hier begangen hat: Es ist kein Zufall, dass Sokrates das Wort ἐρώμενος in seiner Antwort auf Antiphons Frage kein einziges Mal ausspricht. Ansonsten würden die nebeneinander stehenden Wörter ἐρώμενος und ἐραστής unumgänglich auf eine Hierarchie in den beschriebenen Beziehungen verweisen. Für Sokrates ist es aber wichtig, vor allem gerade die Gleichheit von denjenigen hier zu betonen, deren Verhältnisse er als ein Vorbild darstellt. Diesem Irrtum konnte auch Azoulay nicht ausweichen, der das Vergleichssystem des Sokrates zu direkt aufgefasst hat: „[…] le philosophe, comme l’éromène, noue des liens avec autrui sur un tout autre plan […]. Au-delà de toutes ces distinctions, un point de comparaison unit cependant Socrate aux sophistes : certes, l’un est comparé à un prostitué dégradant et l’autre à un éromène vertueux, mais tous deux sont identifi fiés à des objets de désir pour autrui“ (Azoulay, 2004, 180).
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ἑαυτῷ ποιῆται); so erkennt der Erwachsene auch selbst eine begabte Natur (ὃν ἂν γνῷ εὐφυᾶ ὄντα) und befreundet sich nach seinem eigenen Wunsch mit der Person (φίλον ποιεῖται). Im betrachteten Dialog mit Antiphon stellt der Xenophontische Sokrates der Belohnung durch Geld zweimal einen anderen Lohn gegenüber, nämlich die Gewinnung des guten Freundes18. Aufgrund dieses Vergleiches kommen wir zum Schluss, dass keine Freundschaft ft zwischen einem Lehrer und seinem Schüler aufk fkommen kann, wenn sie in Beziehung des Verkäufers und des Kunden stehen. Auch eine folgende rhetorische Frage des Sokrates aus dem Xenophontischen Symposion scheint diese These Th zu bestätigen: ἀλλὰ μὴν καὶ ὁ χρημάτων γε ἀπεμπολῶν τὴν ὥραν τί μᾶλλον στέρξει τὸν πριάμενον ἢ ὁ ἐν ἀγορᾷ πωλῶν καὶ ἀποδιδόμενος19;
Der Markthändler und der Käufer können ein freundliches Gefühl zueinander nicht empfi finden. Sokrates verlangt keine Bezahlung für seine Gespräche, damit es von Anfang an nicht ausgeschlossen wird, dass eine Freundschaft ft ihn und seinen Gesprächspartner verbinden kann20. Und auch für den Fall, dass sein Gesprächspartner nicht nach der Tugend streben will und deswegen kein Freund für ihn werden kann, braucht Sokrates sich nicht durch
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Vgl. auch Mem. 1.2.7. ft inwiefern soll der den Käufer mehr Symp. 8.21: „Wer seine Jugend für Geld verkauft, lieben als der, welcher auf dem Markt etwas verkauft ft?“ Es ist kein Zufall, wie Huß bemerkt, dass nicht das Verb φιλεῖν hier benutzt wird, sondern στέργειν: Einerseits passt es besser zum Vergleich mit den Verhältnissen zwischen dem Verkäufer und dem Einkäufer auf dem Markt, andererseits betont es einen Mangel an Zuneigung für den ‚Käufer‘ bei demjenigen, der seine Schönheit verkauft ft (Huß, 1999a, 394). Ich stimme völlig darin überein, dass die Zuordnung dieser Stelle im Lexikon LSJ zur seltenen Bedeutung des στέργω – „sexual love“ – irrtümlich ist (Huß, 1999a, 382). Bowens Erläuterung scheint mir auch fehlerhaft ft zu sein: „Trading sex for money is prostitution, but Sokrates’ analysis is more uncomfortable for his audience than that: lovers, men with means, made gift fts (birds and hares are frequent on vase paintings) to youths without means; even when the relationship was acceptable personally and socially there was a mercenary element in it“ (Bowen, 1998, 121). Eine detaillierte Untersuchung des Problems kann z.B. bei Dover gefunden werden (Dover, 1978). Hier genügt es zu bemerken, dass der Xenophontische Sokrates an dieser Stelle keinesfalls andeutet, dass alle Liebesbeziehungen zwischen einem Mann und einem Jungen unbedingt einen gewinnsüchtigen Grund haben, sondern er will darauf hinweisen, dass dann, wenn dieser Letztere vorhanden ist, die Entstehung von Sympathie zwischen ihnen ganz ausgeschlossen ist. Dorion kommt zu demselben Schluss, dass nur die sokratischen Gespräche – im Gegensatz zum bezahlten Unterricht der Sophisten – zur echten Freundschaft ft zwischen dem Lehrer und dem Schüler führen können (Dorion & Bandini, 2000, 161).
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einen Geldlohn abzusichern, weil er nicht mit jemandem spricht, den er für unfähig zur sittlichen Besserung hält, d.h. der nicht εὐφυής ist21. Der wichtigste Grund dafür, dass Sokrates keine Bezahlung für seinen ‚Unterricht‘ bekommen will, liegt also darin, dass seine Gespräche keineswegs ein Unterricht sind, sondern Dialoge von Freunden; die finanziellen Beziehungen schließen dagegen die Möglichkeit der Freundschaft ft aus. Im Unterschied zu den Sophisten hält Sokrates sich nicht für einen professionellen Lehrer der Tugend22. Bemerkenswert ist außerdem folgendes Detail in seiner Antwort auf Antiphons Vorwurf: Er nennt Sophisten ‚Verkäufer der Weisheit‘ (τὴν σοφίαν τοὺς ἀργυρίου πωλοῦντας), wenn er aber das richtige Verhalten beschreibt und darunter seine eigene Lebensweise versteht, meidet er das Wort ‚Weisheit‘. Auch das Verb ‚wissen‘ spricht er nicht aus. Er sagt anders: Der tugendhaft fte Mensch bringt seinem Freund das Gute bei, welches er selbst hat (διδάσκων ὅ τι ἂν ἔχῃ ἀγαθόν). Ein paar Zeilen später, wenn Sokrates schon direkt von sich selbst spricht, greift ft er wieder zu diesem umschreibenden Ausdruck (ἐάν τι ἔχω ἀγαθόν, διδάσκω). In Bezug auf sich selbst sagt er hier weder ‚Weisheit‘ noch ‚wissen‘23. Sokrates stellt sich den Sophisten also auch dadurch gegenüber, dass er sein ‚Unterrichtsprogramm‘ anders formuliert. 21
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Vgl. auch Mem. 4.1.2: πολλάκις γὰρ ἔφη μὲν ἄν τινος ἐρᾶν, φανερὸς δ’ ἦν οὐ τῶν τὰ σώματα πρὸς ὥραν, ἀλλὰ τῶν τὰς ψυχὰς πρὸς ἀρετὴν εὖ πεφυκότων ἐφιέμενος. Siehe auch Dorion & Bandini, 2011b, 59 f. Mem. 1.2.3: οὐδεπώποτε ὑπέσχετο διδάσκαλος εἶναι τούτου; 1.2.8: ἐπηγγείλατο οὐδενὶ πώποτε τοιοῦτον οὐδέν. Antiphons Spott besteht in der Behauptung, dass Sokrates nicht weise sei. Und in seiner Gegenrede vermeidet Sokrates absichtlich eine direkte Antwort auf diesen Tadel: Niemals sagt er, dass er weise ist oder dass er die Weisheit lehrt. Es scheint also, dass er Antiphons Vorwurf zugibt. Deswegen kann ich weder Gigon darin, dass es Sokrates gelinge, seinen Gesprächspartner zu widerlegen (Gigon, 1953, 162), noch Dorion darin, dass Sokrates auf sein Wissen-Haben bestehe (Dorion & Bandini, 2000, 160: „Socrate revendique la σοφία“, 167: „[…] Socrate reconnaît explicitement, dans ce passage-ci (cf. §13), qu’il détient un savoir“), beistimmen. M.E. erklärt Sokrates in seiner Antwort, warum er kein Honorar für seine Gespräche nimmt. Antiphon verspottet aber nicht die Gewohnheit des Sokrates, unentgeltlich zu sprechen, sondern er überführt ihn, dass diese Gewohnheit seinen Mangel an Wissen bestätige – es ist kein Zufall, dass Antiphon seine Rede mit der Behauptung, dass Sokrates nicht weise sei, sowohl beginnt wie beendet (σοφὸν δὲ οὐδ’ ὁπωστιοῦν [νομίζω]; σοφὸς δὲ οὐκ ἄν [εἴης]). Aber Sokrates umgeht dies: Seine Erklärung, warum er kein Honorar nimmt, dient nicht als Beweis dafür, dass er über die Weisheit verfügt. Vgl. auch Morrison, 1987, 20: „At Mem. i 6.13-14 we have a typical example of Xenophontic subtlety. Socrates describes what he would do if he could teach, but the whole thing ffirms that he can.“ Es ist daher nicht zufällig, dass remains hypothetical: he never affi Sokrates Antiphons Urteil unbeachtet lässt, dass er – Sokrates – nichts von seinem
Honorarverzicht
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Die sokratischen Gespräche sind folglich Freundschaft ftsgespräche des ‚Lehrers‘ mit dem ‚Schüler‘, die eine innige Sympathie für einander empfinfi den und im gemeinsamen Streben nach der Tugend verbunden sind. Dorion behauptet, dass hier allein Freundschaft ftsverhältnisse gemeint sind. M.E. lässt Dorion aber das Wort ἐραστής in dieser Passage unberücksichtigt24. Doch sagt Sokrates, dass es gut sei, sich denjenigen zum Freund zu machen, in dem man seinen edlen Verehrer sehe (ὃν ἂν γνῷ καλόν τε κάγαθὸν ἐραστὴν ὄντα). Das griechische Wort ἐραστής kann man unterschiedlich auffassen, ff aber es
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Besitz anderen unentgeltlich weggeben würde, obwohl derselbe Sokrates an anderer Stelle behauptet, dass Freunde alles gemeinsam haben (Mem. 2.6.23: τὸν δὲ φθόνον παντάπασιν ἀφαιροῦσι, τὰ μὲν ἑαυτῶν ἀγαθὰ τοῖς φίλοις οἰκεῖα παρέχοντες, τὰ δὲ τῶν φίλων ἑαυτῶν νομίζοντες): Hätte Sokrates auf die Worte Antiphons erwidert, dass er ganz im Gegenteil alles mit seinen Freunden unentgeltlich teile, könnte dies wirklich als eine Anerkennung klingen, dass er über die Weisheit verfügt. In der Tatsache, dass Sokrates hier als σώφρων (im Gegensatz zu πόρνος) denjenigen bezeichnet, der nach Gigons Worten „sich frei einem – wenn auch noch so edlen – Liebhaber hingibt“, sieht Gigon einen krassen Widerspruch zu der scharfen Polemik gegen den paidikos Eros, die an anderen Stellen der Memorabilien geführt wird (Gigon, 1953, 161). Nach Dorions Meinung gibt es keinen Widerspruch im Xenophontischen Text, er sei ein Resultat von Gigons Missdeutung, denn Sokrates spreche hier ausschließlich von der Freundschaft ft und nicht vom Eros: „Il n’est pas question, dans ce passage, d’une relation pédérastique, mais d’une relation amoureuse chaste, qualifiée fi d’« amitié », qui consiste en fait en une relation pédagogique où l’homme mûr enseigne ce qu’il sait au jeune homme avec lequel il s’est lié d’amitié“ (Dorion & Bandini, 2000, 161). Das Wort ἐραστής, welches Dorion als neutrales auslässt, spricht aber dafür, dass Gigon sich nicht so gründlich irrt: Er hat nur zu direkt gesagt, was Sokrates hier nicht off ffen äußert und keineswegs besonders betonen möchte. Dem Wort ἐραστής misst Dorion keine Bedeutung bei und findet fi hingegen im Wort σώφρων noch einen Beweis dafür, dass es sich hier um „une relation chaste“ handelt. M.E. ist diese Interpretation nicht fehlerfrei, aber die Bedeutung des Adjektivs σώφρων beim Xenophontischen Sokrates können wir erst später analysieren (siehe S. 70 Anm. 34); vorläufig fi genügt es, auf den Widerspruch zwischen den Worten σώφρων und ἐραστής hinzuweisen, den Dorion außer Betracht lässt. Aber ich stimme Dorion darin zu, dass es keinen Widerspruch diesbezüglich in den Ansichten des Xenophontischen Sokrates gibt (siehe S. 70 Anm. 34). Vgl. auch Hindleys These Th dazu: „It would however be wrong to argue from the word φίλος that the σώφρων ἐρώμενος will pursue friendship while permitting no physical contact. Th The comparison with the philosopher who renounces fees only runs if both characters (philosopher and ephebe) have a saleable service to off ffer – which in the young man’s case is sex. He wins honour by not charging, and by giving himself in a loving relationship to his erastês. The comparison would be rendered worthless if the service provided by the young man were at that point transformed into a non-physical relationship“ (Hindley, 2004, 128 f.).
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Lebensweise des Sokrates bei Xenophon
ist klar, dass Sokrates hier nicht einfach über einen tugendhaften ft Menschen oder Bürger spricht. Im Unterschied zu den beiden letztgenannten kann das Wort ἐραστής nicht als neutral betrachtet werden: Es weist unzweideutig auf Liebesverhältnisse hin25. Hätte Sokrates eine solche Assoziation vermeiden wollen, könnte er hier einfach ein anderes neutrales Wort benutzen. Aber diesen Aspekt unterstreicht Sokrates in seiner Antwort freilich nicht; er besteht darauf, dass der ‚Lehrer‘ und der ‚Schüler‘ in Freundschaft ft verbunden sein müssen. Auf die Frage, welche anderen Züge ihr Verhältnis haben kann, kommt es Sokrates hier nicht an. Hätte Sokrates jedoch Liebesbeziehungen missbilligen wollen, hätte er sehr wahrscheinlich eine Andeutung auf potenzielle Beziehungen solcher Art in seiner Formulierung vermieden, um sie somit wenigstens implizit auszuschließen. Zum Schluss der Untersuchung der Frage, welche Überlegungen den Xenophontischen Sokrates dazu führen, im Gegensatz zu Sophisten keinen Lohn für seine Gespräche zu nehmen (und wie es klar geworden ist, hat Sokrates diese Gewohnheit nicht infolge des Wunsches angenommen, der ‚Schande‘ der Sophisten auszuweichen), kann noch darauf hingewiesen werden, dass die Geldgier als solche ihm völlig fern liegt. Im eben analysierten Dialog drückt Antiphon die übliche Meinung aus, dass das Geld dem Menschen zweimal Vergnügen macht: Das erste Mal schon im Augenblick, wenn man das Geld bekommt, das zweite Mal wenn das Geld die Möglichkeit gibt, besser zu leben26. Aber Sokrates ist gegenüber solchem Vergnügen völlig gleichgültig, denn ihn fesseln ganz andere Freuden – darauf wird später zurückzukommen sein.
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H. Patzer weist darauf hin, dass „die Bezeichnungen ‚Erastes‘ und ‚Eromenos‘ sexuelle Betätigungen nicht notwendig implizieren“ (Patzer, 1982, 49), führt aber leider keine Zitate an, die sein Urteil bestätigen können, während viele Kontexte, die z.B. Dover angibt, eben das Gegenteil beweisen. In jedem Fall ist es allerdings offensichtlich, ff dass die beiden Worte diese Bedeutung haben können, deswegen hätte der Xenophontische Sokrates diese Worte meiden müssen, wenn es für ihn in diesem Zusammenhang wichtig gewesen wäre, die freundschaft ftlichen Beziehungen von den Liebesbeziehungen zu trennen. Nach Dover ist das Wort ἐραστής „equally applicable to heterosexual and homosexual relations“ (Dover, 1978, 16), aber es ist ganz klar, dass es sich nicht um das weibliche Geschlecht in dieser Episode handelt. Mem. 1.6.3: ἃ καὶ κτωμένους εὐφραίνει καὶ κεκτημένους ἐλευθεριώτερόν τε καὶ ἥδιον ποιεῖ ζῆν. Sokrates widerlegt aber Antiphons Th These und beweist, dass er auch ohne Geld frei und angenehm lebt. Vgl. auch Mem. 1.2.5: οὐ μὴν οὐδ’ ἐρασιχρημάτους γε τοὺς συνόντας ἐποίει. τῶν μὲν γὰρ ἄλλων ἐπιθυμιῶν ἔπαυε, τοὺς δὲ ἑαυτοῦ ἐπιθυμοῦντας οὐκ ἐπράττετο χρήματα. Ich kann aber Corey nicht darin zustimmen, dass diese Worte auf Sokrates’ Absicht hinweisen, seine Gesprächspartner vor der Geldgier zu schützen: „In the Memorabilia Xenophon makes clear that philarguria
‚Sokratische Diät‘
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Der Honorarverzicht und als Ergebnis die materielle Knappheit von Sokrates sind seine vorsätzliche Wahl, welche ein Produkt der festen Ansichten und logischen Schlussfolgerungen ist. Äußeres Auftreten ft und Verhalten der literarischen Gestalt des Xenophontischen Sokrates haben eine nachdrücklich rationale Grundlage.
2. ‚Sokratische Diät‘ Die spezifische fi ‚sokratische Diät‘, die in diesem Abschnitt behandelt wird, besteht aus drei Regeln, die man befolgen muss, um enthaltsam zu sein. Enthaltsamkeit und Standhaft ftigkeit sind grundlegende Begriff ffe bei Darstellung der Lebensweise des Xenophontischen Sokrates. Die Notwendigkeit dieser Eigenschaft ften für alle Menschen wird rational begründet. Außerdem ist für den Xenophontischen Sokrates auch materielle und intellektuelle Autarkie kennzeichnend: die materielle ist mit seiner Enthaltsamkeit eng verbunden, die intellektuelle ist ein potentielles Ziel seiner Bestrebungen.
Obwohl Sokrates im üblichen Sinne nicht reich ist und kein großes Vermögen besitzt, nimmt er trotzdem auf Grund der oben beschriebenen Ansichten keinen Lohn für seine Gespräche und verfügt daher über sehr kärgliche Mittel fürs Leben27. Es könnte den Anschein haben, dass hier die Ursache seiner asketischen Lebensart liegt, als ob er spare, um einigermaßen auszukommen. Das stimmt aber nicht: Mäßigkeit im Essen und Trinken und Bescheidenheit in der Kleidung lassen in Sokrates’ Fall nicht die Notsituation des mittellosen Menschen erkennen, sondern sie sind seine vorsätzliche und wissentliche Wahl28.
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was something that Socrates consciously set out to avoid not only in himself but in his associates“ (Corey, 2002, 206). Xenophon spricht hier darüber, dass Sokrates seine Anhänger de facto nicht geldgierig machen kann, denn diese Leidenschaft ft steht ihm selbst fern (siehe auch oben S. 10 Anm. 4). Das zeigt sich auch darin, dass er kein Honorar verlangt. Aber kein Honorar verlangt er aus ganz verschiedenen Gründen, und nicht deshalb, weil er auf diese Weise mit seinem eigenen Beispiel seine Gesprächspartner von der Geldgier abbringen will. Coreys Urteil scheint mir deswegen unbegründet: „Th Thus the concern attributed to Socrates by Xenophon that taking fees will lead to philarguria in one’s students seems to me a matter of sloppy causal reasoning“ (Corey, 2002, 209). Mem. 1.2.14; Oec. 2.2; 2.3; 2.11; 11.3. Vgl. Dorion, 2004c, 237: „Certes, il se promène pieds nus et porte toujours le même vêtement, été comme hiver; mais ce dénuement vestimentaire est délibéré et volontaire, et non pas la conséquence voyante d’une grande indigence matérielle.“
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Lebensweise des Sokrates bei Xenophon
In Antiphons Darstellung in dem Dialog, welcher schon oben zum Teil betrachtet wurde, ist Sokrates einem Bettler ähnlich: Er gehe immer barfuß, trage kein Hemd und ein und denselben schlechten Mantel im Winter wie im Sommer, seine Speisen und Getränke seien die ärmlichsten und selbst Sklaven würden ein solches Dasein für unerträglich halten29. Indem Antiphon Sokrates’ Lebensweise schildert, spricht er über die äußerlichen Erscheinungen von zwei Hauptzügen der Persönlichkeit des Sokrates: Ausdauer (καρτερία) und Enthaltsamkeit (ἐγκράτεια). 2.1. Die Karterie Seine Gewohnheit, immer barfuß zu spazieren und kein Unterkleid zu tragen, erklärt Sokrates zuerst damit, dass er Schuhe und Kleidung einfach nicht brauche: Er sei so abgehärtet, dass er gegen Kälte und Hitze nicht empfindlich sei und ungehindert und schmerzlos immer barfuß gehen könne30. Außerdem, dank der Gewohnheit, sich auf solche Weise anzukleiden, unterzieht Sokrates seinen Körper dem täglichen Training, was ihm gymnastische Übungen ersetzt, die – nach seiner eigenen Meinung – für körperliche Gesundheit notwendig sind31. Obwohl er keinen Sport treibt32, ist Sokrates
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Mem. 1.6.2. Mem. 1.6.6: τά γε μὴν ἱμάτια οἶσθ’ ὅτι οἱ μεταβαλλόμενοι ψύχους καὶ θάλπους ἕνεκα μεταβάλλονται, καὶ ὑποδήματα ὑποδοῦνται, ὅπως μὴ διὰ τὰ λυποῦντα τοὺς πόδας κωλύωνται πορεύεσθαι· ἤδη οὖν ποτε ᾔσθου ἐμὲ ἢ διὰ ψῦχος μᾶλλόν του ἔνδον μένοντα, ἢ διὰ θάλπος μαχόμενόν τῳ περὶ σκιᾶς, ἢ διὰ τὸ ἀλγεῖν τοὺς πόδας οὐ αδίζοντα ὅπου ἂν βούλωμαι; Der Xenophontische Sokrates spricht mehrmals darüber, dass es wichtig ist, sich um die Gesundheit und um ein gutes körperliches Gesamtbefinden fi zu kümmern: Mem. 1.2.4; 1.4.13; 1.6.7; 4.7.9; Symp. 2.17; Oec. 10.11; 11.13. Davon sucht Sokrates den schwächlichen Epigenes eben so zu überzeugen (Mem. 3.12) wie auch die Arete den am Scheideweg stehenden Herakles (Mem. 2.1.28). Vgl. auch den Vorwurf, den Perikles der Jüngere im Gespräch mit Sokrates gegen die Athener ausspricht, dass sie die finden vernachlässigen (εὐεξίας ἀμελοῦσιν) und sogar Sorge um körperliches Wohlbefi über denjenigen lachen, der seinen Körper hingegen trainiert (Mem. 3.5.15; vgl. auch Symp. 2.17 und Huß, 1999a, 149). Im Oikonomikos sagt Sokrates, dass die landwirtschaftliche ft Beschäft ftigung die Rolle des körperlichen Trainings spielen kann: ἔοικε γὰρ ἡ ἐπιμέλεια αὐτῆς [τῆς γεωργίας] εἶναι ἅμα τε ἡδυπάθειά τις καὶ οἴκου αὔξησις καὶ σωμάτων ἄσκησις εἰς τὸ δύνασθαι ὅσα ἀνδρὶ ἐλευθέρῳ προσήκει (Oec. 5.1). Mem. 1.6.6-7. Siehe auch Symp. 2.17-19: Sokrates spricht über Tänze und nennt sie die beste gymnastische Übung, die die Gesundheit stärkt und zum Trainieren des gleichmäßigen Körpers nützlich ist. Es ist aber fraglich, ob er selbst wirklich tanzt: Huß’ Urteil über den scherzhaft ften Charakter des ganzen Abschnittes scheint mir stichhaltig und schlagend zu sein (Huß, 1999a, 146 f.; eine ausführliche Untersuchung dieser Szene siehe in Huß, 1999b).
‚Sokratische Diät‘
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ausschließlich infolge seiner Lebensweise gesundheitlich in gutem Zustand. Xenophons Sokrates ist also davon überzeugt, dass seine Kleidung keineswegs schlechter ist als die der anderen Menschen, weil er ihretwegen keine Unbequemlichkeiten und keine Beschränkungen empfindet. fi Diese Gewohnheit hat Sokrates sich aber mit einer konkreten Absicht angeeignet: um des körperlichen Wohlbefindens fi willen. Auf die eine oder andere Art – wenn auch nicht auf sokratische Weise – müssen alle Menschen dieses Ziel verfolgen, da Karterie für alle notwendig ist. Im Xenophontischen Text bedeutet der Begriff ff καρτερία die Ausdauer in der Kälte, Hitze und bei verschiedenen Anstrengungen und Arbeiten33. Die Fähigkeit, unterschiedliche Witterungsbedingungen zu ertragen, ist für alle diejenigen notwendig, deren Beschäft ftigung sich im Freien abspielt: für Soldaten, Ackerbauern sowie Herrscher – den wichtigsten Beruf in der Berufshierarchie des Xenophontischen Sokrates34. Andererseits sind Standhaftigkeit, Ausdauer und Beharrlichkeit bei Anstrengungen für alle Menschen erforderlich, da kein Gutes dem Menschen ohne Arbeit und Mühe verschafft fft wird35. In diesem Zusammenhang ist das Folgende bemerkenswert: Während dem Problem der Bedeutung des körperlichen Wohlbefindens fi (εὐεξία) ein einzelner ganzer Dialog mit Epigenes (Mem. 3.12) gewidmet ist, betont Xenophon, wenn er Sokrates selbst schildert, nicht sein gutes körperliches Gesamtbefinden, fi sondern nur ein Zeichen von diesem: die Standhaft ftigkeit (καρτερία)36. Auch in den erwähnten Worten Antiphons ist nicht von
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Mem. 1.2.1: πρὸς χειμῶνα καὶ θέρος καὶ πάντας πόνους καρτερικώτατος; siehe auch Mem. 1.6.6; Oec. 5.4. Vgl. Dorion & Bandini, 2000, 69. Mem. 2.1.6. Siehe S. 221 Anm. 73. Mem. 2.1.20: ἔτι δὲ αἱ μὲν ῥᾳδιουργίαι καὶ ἐκ τοῦ παραχρῆμα ἡδοναὶ οὔτε σώματι εὐεξίαν ἱκαναί εἰσιν ἐνεργάζεσθαι, ὥς φασιν οἱ γυμνασταί, οὔτε ψυχῇ ἐπιστήμην ἀξιόλογον οὐδεμίαν ἐμποιοῦσιν, αἱ δὲ διὰ καρτερίας ἐπιμέλειαι τῶν καλῶν τε κἀγαθῶν ἔργων ἐξικνεῖσθαι ποιοῦσιν, ὥς φασιν οἱ ἀγαθοὶ ἄνδρες. Das Wort καρτερία findet Gigon in diesem Zusammenhang merkwürdig: „Sonderbar und wenig motifi viert tritt an dieser einzigen Stelle unseres Kapitels der Begriff ff καρτερία auf “ (Gigon, 1956, 57). Die Tatsache aber, dass Karterie unter anderem Ausdauer bei Anstrengungen bedeutet, zerstreut m.E. das Erstaunen (siehe Mem. 1.2.1 oben in Anm. 33; es ist bemerkenswert, dass auch Gigon auf diese Stelle nebenbei verweist, aber er lässt sie hier außer Betracht). So werden in Mem. 2.1.20 Faulheit und Ungeduld einerseits und Beschäft ftigungen, die Ausdauer im Ertragen der Anstrengungen erfordern, andrerseits aus der Sicht gegenübergestellt, dass nur die Letzteren den Menschen zum Wohl führen können – zum körperlichen Wohlbefinden fi sowie zum Wissen, während der Müßiggang dem Menschen nichts Gutes mit sich bringen kann. Siehe auch Mem. 2.1.19 und 2.1.28 und S. 59 Anm. 17. Siehe oben Anm. 33.
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Lebensweise des Sokrates bei Xenophon
der εὐεξία und ἐγκράτεια die Rede, sondern eben von der καρτερία und ἐγκράτεια als Sokrates’ zwei Hauptzügen. Und an vielen anderen Stellen, an denen über die notwendigen Eigenschaft ften des tugendhaft ften Menschen gesprochen wird, ist es immer die Standhaft ftigkeit, die im Paar mit der Enthaltsamkeit steht, und nicht das körperliche Wohlbefinden fi im Ganzen37. Das ist m.E. damit zu erklären, dass ἐγκράτεια und καρτερία primär sind, εὐεξία aber sekundär ist. Über die Enthaltsamkeit wird im Folgenden ausführlicher gesprochen; was aber die Standhaft ftigkeit angeht, lässt sich folgende Logik nachvollziehen: Um das gute körperliche Gesamtbefinden fi zu erreichen, muss man ständig trainieren, aber nur derjenige kann die damit verbundenen Anstrengungen (πόνοι) standhaft ft ertragen, der Karterie besitzt. 2.2. Die Enkrateia Betrachten wir die zweite von Antiphon erwähnte Seite der Askese von Sokrates – seine Ernährungsweise –, finden wir dieselben Argumente: Zum einen meint Sokrates nicht, dass seine Kost schlechter sei als die der anderen Menschen; zum anderen ist er vom Nutzen seiner Ernährungsweise völlig überzeugt; und schließlich ist solche Diät im einen oder anderen Maße für alle Leute notwendig. Da aber Enthaltsamkeit zu Recht als der Basisbegriff ff der Ethik des Xenophontischen Sokrates betrachtet werden kann, sind die rationalen Beweisgründe ihrer Bedeutung viel ausführlicher dargelegt, als es bei der Standhaft ftigkeit der Fall war. Sokrates isst und trinkt die einfachste Nahrung, und auch von dieser sehr wenig und erst dann, wenn er von Hunger oder Durst ergriffen ff wird38. Solche Lebensweise betrachtet Sokrates aber keineswegs als schlecht oder bedrückend – sein guter Charakter und seine immer fröhliche Stimmung können als Beweis dafür dienen39. Nach seiner Überzeugung lebe er keineswegs weniger angenehm als die anderen Leute, denen es zumindest so
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Siehe z.B. Mem. 1.2.1: πρῶτον μὲν ἀφροδισίων καὶ γαστρὸς πάντων ἀνθρώπων ἐγκρατέστατος ἦν, εἶτα πρὸς χειμῶνα καὶ θέρος καὶ πάντας πόνους καρτερικώτατος; 1.2.2: λίχνους ἢ ἀφροδισίων ἀκρατεῖς ἢ πρὸς τὸ πονεῖν μαλακούς. Siehe auch Mem. 2.1.3. Von der Enthaltsamkeit ist im Xenophontischen Text allerdings viel öfter ft die Rede als von der Standhaft ftigkeit, da der Begriff ff Enkrateia von allergrößter Bedeutung ist (darüber siehe unten und S. 51 ff.). Ich erlaube mir, auf die Frage hier nicht einzugehen, warum Sokrates trotz seiner spärlichen Ration durch seinen zu dicken Bauch bekannt ist, was er auch selbst im Symposion erwähnt (Symp. 2.19: μείζω τοῦ καιροῦ τὴν γαστέρα ἔχων). Mem. 4.8.2: εὐθύμως τε καὶ εὐκόλως ζῆν.
‚Sokratische Diät‘
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scheinen könnte, sondern gerade das Gegenteil sei der Fall. Diese positive Einschätzung seiner Lebensweise erklärt Sokrates folgendermaßen: Seine Nahrungsmittel schmecken ihm so gut wie allen anderen Menschen ihre, und sein Vergnügen am Essen und Trinken sei folglich nicht geringer als das der anderen. Denn er fange mit dem Essen erst an, wenn er sehr hungrig sei, und er esse und trinke nur so viel, wie viel er mit Appetit essen könne. Habe man aber einen großen Durst, trinke man auch bloßes Wasser mit großem Vergnügen. Und auch derjenige esse einfaches Brot mit Vergnügen und brauche den Leckerbissen am wenigsten, der mit bestem Appetit esse40. Und sogar noch mehr: nur derjenige, der eine solche Diät einhält, kann nach Sokrates das höchste Vergnügen erreichen, welches überhaupt am Essen
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Mem. 1.3.5: σίτῳ μὲν γὰρ τοσούτῳ ἐχρῆτο, ὅσον ἡδέως ἤσθιε, καὶ ἐπὶ τοῦτο οὕτω παρεσκευασμένος ᾔει, ὥστε τὴν ἐπιθυμίαν τοῦ σίτου ὄψον αὐτῷ εἶναι. ποτὸν δὲ πᾶν ἡδὺ ἦν αὐτῷ διὰ τὸ μὴ πίνειν, εἰ μὴ διψῴη (siehe auch Mem. 2.1.30; 3.11.13; 3.13.2; Symp. 4.41). Mem. 1.6.5: οὐκ οἶσθ’, ὅτι ὁ μὲν ἥδιστα ἐσθίων ἥκιστα ὄψου δεῖται, ὁ δὲ ἥδιστα πίνων ἥκιστα τοῦ μὴ παρόντος ἐπιθυμεῖ ποτοῦ; Dorions Auffassung ff des Wortes ὄψον in diesen Passagen scheint mir fehlerhaft ft zu sein: „Car il ne prenait pas plus de nourriture qu’il ne pouvait en manger avec plaisir, et il se présentait au repas en étant ainsi disposé que l’appétit lui était un aliment“ (1.3.5) und „Ne sais-tu pas que plus on a de plaisir à manger, moins on a besoin de nourriture, et que plus on a de plaisir à boire, moins on désire la boisson qui n’est pas disponible“ (1.6.5; Hervorhebung von mir). Nach Dorion sei es der Hunger selbst, der dem Sokrates als Nahrung diene. Obwohl Dorion zugibt, dass eine solche Auff ffassung extravagant und paradox scheinen kann, ist er davon überzeugt, dass sie mit der Askese und der Autarkie des Xenophontischen Sokrates gut übereinstimmt (Dorion & Bandini, 2000, 128). Doch kann ich diesem ungewöhnlichen Verständnis nicht beistimmen, vor allem deshalb, weil das Wort ὄψον nicht ‚Nahrung‘ bedeutet, sondern ein Gesamtbegriff ff ist für alles, was Menschen zusammen mit Brot und Wein essen. Dass Xenophon und sein Sokrates dieses Wort in seinem üblichen Sinne verwenden, wird z.B. aus Mem. 3.14 klar, wo das Wortspiel eben auf der Entgegenstellung von Brot und ‚Beigabe‘ beruht (hier teilt auch Dorion die traditionelle Auff ffassung: „Le pain est l’aliment de base, alors que l’ὄψον désigne l’extra, le superfl flu qui accompagne le pain“ (Dorion & Bandini, 2011a, 402; siehe auch Chantraine, 1999, sub voce; vgl. auch Symp. 4.8)). In den angegebenen Passagen Mem. 1.3.5 und 1.6.5 greift ft Xenophon m.E. zu einer Metapher: Mit dem Essen wartet Sokrates immer darauf, dass sein Hunger so groß wird, um ihm als ‚Beikost‘, d.h. als eine leckere und Vergnügen bereitende ‚Beigabe‘ zum Brot, dienen zu können. Damit wird gemeint, dass das Brot allein Sokrates genügt, damit er nicht nur seinen Hunger stillen, sondern auch das Vergnügen empfinden fi kann. Auf eine solche übliche Auff ffassung weist die Gegenüberstellung von ὁ σῖτος und τὸ ὄψον in Mem. 1.3.5 hin sowie der syntaktische Parallelismus der Sätze (jedes Mal wird er mit den Partikeln μέν… δέ betont): An beiden Stellen handelt es sich nicht nur um Essen, sondern auch um Trinken. Vom Trinken wird aber ganz direkt gesagt – hier ist
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Lebensweise des Sokrates bei Xenophon
gefunden werden kann. Im Gespräch mit Euthydemos gibt Sokrates seine Anweisungen zu dieser Diät: Zuerst muss man geduldig warten, bis Hunger oder Durst so stark werden, dass sie nicht mehr zu ertragen sind. Dann ist ihre Stillung im höchsten Grade angenehm, weil nur derjenige mit Vergnügen isst und trinkt, der zuerst Hunger oder Durst gelitten hat (je größer sie sind, desto größer ist folglich das Vergnügen am Essen und Trinken)41. Die zweite Anweisung zu dieser Diät besteht darin, dass man genau so viel essen und trinken muss, wie es angenehm ist, d.h. solange der Appetit oder Durst einem bleibt, doch nicht mehr42. In diesem Zusammenhang ist folgendes zu beachten: Wenn das Maß in allen Lüsten nach der Meinung des Xenophontischen Sokrates das Gefühl des Angenehmen ist, ist folglich dieses Maß bei den Menschen verschieden. Das bedeutet, dass die Enthaltsamkeit kein objektives Merkmal ist, sondern ein subjektives: Zwei Menschen müssen im gleichen Maße enthaltsam genannt werden, auch wenn der eine viel öft fter isst und trinkt als der andere, aber doch immer erst dann, wenn sein Hunger oder Durst ihren Höhepunkt erreichen; und ebenso wenn der eine jedes Mal viel mehr isst und trinkt als der andere, aber doch beide die Regel beachten, so viel zu essen und zu trinken, wie viel sie mit Appetit essen und trinken können, d.h. solange bei jedem das Gefühl des Angenehmen bleibt. Es muss allerdings zugegeben werden, dass der Xenophontische Sokrates über das Wesen dieses Gefühles nicht diskutiert. Er untersucht nicht die Frage, auf welche Weise sich die ‚Diät‘ der Menschen unterscheiden kann,
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eine andere Auff ffassung kaum möglich –, dass dem, der Durst hat, jedes Getränk gut schmeckt, so dass bloßes Wasser einem solchen Menschen nicht nur den Durst stillt, sondern auch das Vergnügen gewährt. In Dorions Interpretation sollte dann doch auch hier davon auszugehen sein, dass schon das Durstgefühl selber demjenigen als Getränk diente, der Durst hatte. Mem. 4.5.9. Vgl. Dorion & Bandini, 2011b, 178: „L’enkrateia […] est aussi ce qui permet de retirer le maximum de plaisir des “activités” à l’égard desquels elle s’exerce, soit manger, boire, faire l’amour et dormir.“ Siehe auch Dorion & Bandini, 2000, 33. Außerdem, kann das Vergnügen durch die körperliche Aktivität verstärkt werden, da diese offensichtlich ff den Hunger und Durst verschärft ft. Siehe z.B. Symp. 2.17: γυμναζόμενος ἥδιον ἐσθίειν καὶ καθεύδειν und Oec. 10.11: γυμναζομένην ἐσθίειν ἥδιον. Vgl. auch Oec. 4.24: ὅτανπερ ὑγιαίνω, μηπώποτε δειπνῆσαι πρὶν ἱδρῶσαι ἢ τῶν πολεμικῶν τι ἢ τῶν γεωργικῶν ἔργων μελετῶν ἢ ἀεὶ ἕν γέ τι φιλοτιμούμενος. Mem. 1.2.4; siehe auch unten S. 30 Anm. 49. Gigon bemerkt zu Recht, dass diese ‚Diät‘ hauptsächlich den Freunden von Sokrates verordnet ist, während er selbst noch größere Zurückhaltung übt (siehe z.B. Mem. 1.3.6 und 1.3.14). Richtig ist auch eine andere Beobachtung Gigons, dass „das rechte Maß der Nahrung ist das ἡδύ, das subjektive Verlangen“ (Gigon, 1953, 101). Gigon entwickelt diesen Gedanken aber nicht.
‚Sokratische Diät‘
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die in gleichem Maße enthaltsam sind, aber ein verschiedenes Gefühl des Angenehmen haben. So ist es gerade Sokrates, dessen Ration Antiphon verächtlich beurteilt hat, der die Lebensweise führt, welche das größtmögliche Vergnügen am Essen und Trinken bringt. Das Vergnügen derjenigen, die sich an den auserlesenen Speisen und Getränken im Überfl fluss ergötzen – wenn man das Vergnügen in diesem Fall überhaupt empfinden fi kann43 –, ist mit dem Genuss derjenigen, die die sokratische Diät halten, nicht zu vergleichen. Zugrunde liegt dieser Diät der Gedanke, dass das Vergnügen nicht von den Geschmackseigenschaft ften der Kost abhängt (wie Antiphon und die meisten Menschen denken), sondern ausschließlich von der Stärke des früheren Hungers oder Durstes. Das Vergnügen, welches der Mensch am Essen und Trinken gewinnen kann, ist folglich ein Genuss, der von der Stillung des Hungers und Durstes herrührt: Eben in dieser Stillung besteht
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Bemerkenswert ist ein zweimal von Sokrates gemachter Vorbehalt im oben erwähnten Gespräch mit Euthydemos: ἡ μὲν ἀκρασία […] κωλύει τοῖς ἀναγκαιοτάτοις τε καὶ συνεχεστάτοις ἀξιολόγως ἥδεσθαι. ἡ δ’ ἐγκράτεια μόνη ποιοῦσα καρτερεῖν τὰ εἰρημένα μόνη καὶ ἥδεσθαι ποιεῖ ἀξίως μνήμης ἐπὶ τοῖς εἰρημένοις (Mem. 4.5.9). Vergnügungen, die unmäßige Leute angeblich haben, sind nach dem Xenophontischen Sokrates in der Tat keine Vergnügungen (vgl. a.a.O.: καὶ ἐπὶ τὰ ἡδέα, ἐφ’ ἅπερ μόνα δοκεῖ ἡ ἀκρασία τοὺς ἀνθρώπους ἄγειν, αὐτὴ μὲν οὐ δύναται ἄγειν), deshalb ist das nicht der Rede wert; nur was der enthaltsame Mensch empfi findet, kann ein ‚Vergnügen‘ genannt werden und ist deswegen einer Erwähnung wert. Dies ist m.E. die Bedeutung von ἀξιολόγως und ἀξίως μνήμης in diesem Zusammenhang (vgl. Dorions Übersetzung: „un plaisir digne de ce nom“ und „un plaisir digne de mémoire“, siehe auch seinen Kommentar dazu: Dorion & Bandini, 2011b, 177 f.). Diese Bedeutungsnuance fehlt in der Übersetzung von Bevilacqua: „godere pienamente“ und „godere ficativo“ (Bevilacqua, 2010, 649). Nach Bevilacqua genieße der unmäin modo signifi ßige Mensch ein Vergnügen nicht in vollem Maße, deswegen „l’utilitarismo applicato alla enkrateia finisce per risolversi in un calcolato edonismo“ (Bevilacqua, 2010, 648, siehe auch 160). M.E. spricht aber Sokrates im Gespräch mit Euthydemos von den gastronomischen Genüssen, um nur noch einmal seine Th These von der unbedingten Notwendigkeit der Enthaltsamkeit zu beweisen (sogar in dem Bereich, wo sie ein Hindernis zu sein scheint), aber in keinem Moment des Gespräches verleiht Sokrates solcher Lust irgendwelche absolute Bedeutsamkeit. Es ist kein Zufall, dass im nächsten Paragraphen Sokrates über die ἡδοναὶ μέγισται spricht, die ihrerseits mit dem Bereich des Körperlichen schon nichts zu tun haben (Mem. 4.5.10; vgl. auch Mem. 1.6.8; darüber siehe unten S. 184 ff. Die Hauptaufgabe der Enthaltsamkeit besteht nicht in der Hilfe, den Höhepunkt des möglichen Vergnügens am Essen etc. zu erreichen, sondern in anderem (darüber siehe unten S. 57 ff.), aber das Vergnügen ist eine unumgängliche Nebenwirkung der enthaltsamen Lebensweise. Indem wir momentan
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das Angenehme für den Menschen und nicht in der Weise, auf welche diese Stillung sich vollzieht44. Der Xenophontische Sokrates stellt also die Extreme gegenüber, er betrachtet aber eine denkbare Situation nicht, nämlich die, dass der enthaltsame Mensch zwar alle notwendigen Regeln befolgt – d.h. erst dann isst, wenn sein Hunger seinen Höhepunkt erreicht hat, und nie mehr isst, als es die Stillung des Hungers verlangt –, aber seinen Hunger und Durst nicht mit einfachem Brot und bloßem Wasser stillt, sondern mit feinen Speisen und seltenen Getränken. Sokrates spricht nicht darüber, wie sich die Lebensweise eines solchen Menschen von der Enthaltsamkeit desjenigen unterscheidet, der eine einfache und einseitige Kost hat. Die Beschaffenheit ff der Kost bestimmt aber nicht das Maß der Enthaltsamkeit: Der Mensch muss im gleichen Maße enthaltsam genannt werden, ob er nun seinen Hunger mit der wohlschmeckenden Speise stillt oder mit der einfachen und nicht so gut schmeckenden, solange er dabei die wichtigsten Regeln der sokratischen ‚Diät‘ befolgt. Die ἐγκράτεια betrifft fft aber nicht nur das Essen und Trinken, sondern auch das Schlafen und die Sexualität. Die Regeln der sokratischen Diät erstrecken sich auch auf diese Bereiche des menschlichen Lebens: Es muss auf alle körperlichen Genüsse so lange verzichtet werden, bis das Verlangen des Körpers seinen Höhepunkt erreicht hat; erst dann darf man dem Verlangen Zugeständnisse machen, doch nicht länger, als das Gefühl des Angenehmen es verlangt. Nur auf diesem einzigen Wege kann das Vergnügen am Essen, Trinken und Schlafen und die Freude der Liebe erreicht werden. Obwohl es im Xenophontischen Text nie direkt gesagt wird, kann kein Zweifel darüber bestehen, dass nur derjenige als ἐγκρατής bezeichnet werden kann, der in Bezug auf alle vier Arten des körperlichen Vergnügens Enthaltsamkeit übt45.
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nur die ‚körperlichen‘ Vergnügungen betrachten, haben wir zunächst keine Gründe, vom Hedonismus des Xenophontischen Sokrates zu sprechen – hier ist der Begriff ff „die hedonistische Askese“ eher am Platz, der von Dorion erwähnt wird („ascétisme hédoniste“: Dorion & Bandini, 2011b, 178), und nicht „der asketische Hedonismus“ (vgl. „moderate hedonism“: Gosling & Taylor, 1982, 38). Vgl. auch Dorions Urteil: „[…] le véritable plaisir du boire et du manger n’est pas celui, artifi ficiel, que procurent des mets raffi ffinés et dispendieux, mais celui, naturel, qui découle de l’apaisement de la faim et de la soif, de sorte qu’une nourriture très simple suffi ffit à faire « goûter » ce plaisir“ (Dorion, 2004a, 110). Mem. 4.5.9. Die Ganzheit dieses Begriffes ff bemerkt zu Recht Dorion (Dorion, 2003, 664: „conception monolithique“). In einem anderen Punkt kann ich ihm aber nicht
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Die sokratische Diät hat auch eine dritte Regel: Derjenige, der wohlschmeckenden Gerichten und Getränken nicht widerstehen kann und sie essen und trinken würde, ohne Hunger oder Durst zu haben, oder viel mehr essen würde, als sein Hunger es verlangt, muss sorgfältig vermeiden, solche Speisen anzusehen46. Auch derjenige, der im Beisein von schönen Jungen nicht standhaft ft bleiben kann, muss sich von diesen fern halten und sich vor der verleitenden Kraft ft ihrer Schönheit hüten, um nicht verführt zu werden, bevor das Verlangen des Körpers den Höhepunkt erreicht hat47. Diese dritte Regel kann als Zusatz erscheinen, weil sie nicht an alle adressiert ist, sondern nur an diejenigen, die leicht verführt werden können; in Wirklichkeit ist es aber nach Xenophons Worten nur einzig und allein Sokrates, der über eine solche unverführbare Standhaft ftigkeit verfügt48. Einerseits fußt der dritte
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zustimmen: Dorion versteht den monolithischen Charakter der ἐγκράτεια folgendermaßen: Der Mensch verfüge über Enthaltsamkeit entweder in allen vier Arten des körperlichen Vergnügens oder in keiner einzigen. M.E. ist ἐγκράτεια in dem Sinne einheitlich, dass der Mensch als ἐγκρατής nicht bezeichnet werden kann, wenn er mindestens in einem Vergnügen unmäßig ist. Um als ἀκρατής bezeichnet zu werden, braucht der Mensch also nur in einer Art des Vergnügens unmäßig zu sein. Es ist für ihn nicht nötig, gleichzeitig auch in den übrigen drei Arten unmäßig zu sein – in jedem Fall kann er nicht mehr als ἐγκρατής bezeichnet werden. Folgendes Beispiel scheint diese Auff ffassung erhärten zu können: Anytos’ Sohn war der Trunksucht verfallen; es ist unbekannt, ob er zugleich noch in den anderen Lüsten unmäßig war, aber die Unmäßigkeit im Wein allein genügte, dass er nichtsnutzig wurde. Damit zeigte er die schlechteste Auswirkung der Unmäßigkeit (Apol. 30-31). Auch Sokrates’ Worte, der ein solches Geschick dem Sohn des Anytos prophezeit hatte, sprechen für die Auff ffassung, dass eine Art der Unmäßigkeit genügt, damit der Mensch als ein Beispiel eines von der ἀκρασία befallenen Menschen dienen kann: προσπεσεῖσθαί τινι αἰσχρᾷ ἐπιθυμίᾳ. Da Sokrates außerdem die unmäßigen Menschen mit den unvernünft ftigen Tieren vergleicht (Mem. 2.1.4-5; 4.5.11), ist es in diesem Zusammenhang bemerkenswert, dass er die Möglichkeit einer Art der ‚Unmäßigkeit‘ bei Tieren zugibt (Mem. 2.1.4). Auch im Oikonomikos unterscheiden Sokrates und Ischomachos die Unmäßigen im Wein, Schlaf und Sex – jeder der drei Gruppen der Unmäßigen stellt Sokrates immer wieder ἄλλοι τινές gegenüber: Der Unmäßige im Wein ist nicht notwendigerweise auch im Schlaf unmäßig, d.h. Sokrates kann annehmen, dass ein solcher Mensch im Schlaf hingegen mäßig ist. Da er im Wein aber unmäßig ist, kann er doch nicht als ἐγκρατής bezeichnet werden (Oec. 12.11-14). Mem. 1.3.6-7. Mem. 1.3.8; 1.3.14. Mem. 1.3.6; 1.3.14. Siehe Gigons Interpretation dieser Passage: „[Die Stelle Mem. 1.3.6] wird man erst recht am besten als eine Xenophontische Abstraktion aus einer größeren, anschaulich ausgeführten Szenerie verstehen können. Gleich der erste Satz ist, so wie er dasteht, absurd. Das ὑπὲρ τὸν κόρον ἐμπίμπλασθαι als allgemeine Regel
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Grundsatz der sokratischen Diät darauf, dass das Verlangen des Körpers in der unmittelbaren Nähe des gewünschten Objektes stärker wird und dass es daher dann noch schwieriger wird, ihm zu widerstehen; andererseits ist diese Regel aber mit Sokrates’ ‚Th Theorie des Angenehmen‘ eng verbunden: Es ist nicht der Körper des Menschen, der das zulässige Maß des Angenehmen an allen Genüssen bestimmt, sondern die Seele. Man darf folglich so viel essen, wie viel seine Seele mit Vergnügen nimmt49. Wird der Körper vom
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aufzustellen ist ein Unsinn. Übersetzen wir es aber zurück in eine einmalige konkrete Situation, so ahnen wir die Geschichte von einem Deipnon […]“ (Gigon, 1953, 102). Mem. 1.2.4: τὸ μὲν οὖν ὑπερεσθίοντα ὑπερπονεῖν ἀπεδοκίμαζε, τὸ δὲ ὅσα γ’ ἡδέως ἡ ψυχὴ δέχεται, ταῦτα ἱκανῶς ἐκπονεῖν ἐδοκίμαζε. In letzter Zeit pflegen fl die Forscher das Wort ψυχή in diesem Zusammenhang als ‚Appetit‘ zu verstehen (siehe z.B. Dorion & Bandini, 2000, 9 und Bevilacqua, 2010, 279). Da aber in diesem Fall die übliche Bedeutung von der ψυχή als einem Mittelpunkt der Wünsche und Gefühle gemeint ist (siehe z.B. Sarri, 21997, 218), ist es letzten Endes immerhin die Seele, die „mit Vergnügen nimmt“, und nicht der Körper. Außerdem übersetzen dieselben Forscher das Wort ψυχή in einem ähnlichen Zusammenhang – mit einem Unterschied, nämlich dass es sich nicht mehr um das Essen, sondern um die Sexualität handelt –, doch als ‚Seele‘ und bringen damit eine Inkonsequenz in ihre Interpretation: οὕτω δὴ καὶ ἀφροδισιάζειν τοὺς μὴ ἀσφαλῶς ἔχοντας πρὸς ἀφροδίσια ᾤετο χρῆναι πρὸς τοιαῦτα, οἷα μὴ πάνυ μὲν δεομένου τοῦ σώματος οὐκ ἂν προσδέξαιτο ἡ ψυχή (Mem. 1.3.14; Dorion & Bandini, 2000, 33 und Bevilacqua, 2010, 335; siehe auch die nächste Anm.). Bemerkenswert ist, dass Dorion – Gigon nachfolgend (Gigon, 1953, 31 f. und 116 f.) – die beiden betrachteten Passagen vergleicht: „D’où le conseil de Socrate: il faut éviter les plaisirs que l’âme désapprouve lorsque le corps n’est pas en proie à ces désirs […]. Il est pertinent de rapprocher ce passage, qui est l’énoncé d’une espèce de « diète sexuelle », de I 2, 4, où Xénophon formule la diète alimentaire préconisée par Socrate“ (Dorion & Bandini, 2000, 135). Die Parallelität geht aber verloren, wenn wir in dem einen Fall von ‚Appetit‘ sprechen und in dem anderen von ‚Seele‘. Mem. 1.2.4 ist beachtenswert auch in einer anderen Hinsicht: Die Diät, bei der man zu viel Nahrung zu sich nimmt und dann ὑπερπονεῖν muss, ist also verderblich; man benimmt sich aber richtig, wenn man mäßig essen und ἱκανῶς ἐκπονεῖν kann. In den Xenophontischen Schrift ften kommt das Verb ὑπερπονεῖν nur einmal noch vor – im Hipparchikos 4.1 – und an dieser Stelle bedeutet es ‚sich überanstrengen, ermüden‘. Es bleibt aber noch unklar, ob es sich im Mem. 1.2.4 um Überanstrengung des Organismus beim Verdauen der überreichen Nahrung handelt oder um die Notwendigkeit des Menschen, übermäßig viel körperliche Tätigkeit auszuüben, um das Gegessene zu verdauen. Das Verb ἐκπονεῖν scheint Klarheit schaffen ff zu können: Wenn vom Ernährungsproblem die Rede ist, bedeutet dieses Verb in Xenophons Schriften ft nicht einfach ‚verdauen‘, sondern ‚die Nahrung durch körperliche Bewegung verarbeiten‘. Siehe vor allem Cyr. 1.2.16 und 8.8.8 und auch Cyr. 1.6.17 und Oec. 11.12
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richtigen Hunger erfasst, muss die Seele nüchtern bleiben, um fähig zu sein, den Menschen beim Essen rechtzeitig zurückzuhalten, d.h. wenn die Grenze des erlaubten Angenehmen noch nicht überschritten ist. Auf dieselbe Weise muss auch derjenige, der der Schönheit nicht standhalten kann, die Begegnung mit denen meiden, die die Festigkeit seiner Seele erschüttern können, damit diese immer gelassen bleibt und den Wünschen des Körpers erst dann
(vgl. auch Delebecque, 1978, 173). Da die Wörter ὑπερπονεῖν und ἱκανῶς ἐκπονεῖν in Mem. 1.2.4 deutlich gegenübergestellt sind, handelt es sich beim ὑπερπονεῖν folglich nicht darum, dass übermäßige Nahrung beim Verdauen zur Überanstrengung des Organismus führt, sondern darum, dass man viel körperliche Tätigkeit ausüben muss, wenn man sich überisst (vgl. auch Gigon, 1953, 31: „Bei zuviel Nahrung muß man ὑπερπονεῖν, übermäßig viel körperliche Tätigkeit verrichten, um die Nahrung ordentlich verdauen zu können. Man soll also nur so viel zu sich nehmen, als man mag; dann kann man es auch richtig verarbeiten“). Einige Forscher sehen in den Worten ὅσα γ’ ἡδέως ἡ ψυχὴ δέχεται einen Hinweis nicht auf die Menge der Nahrung, sondern auf das Maß der körperlichen Übungen. Z.B. ignoriert Marchant in seiner Übersetzung irrtümlicherweise das Problem des Verdauens, wenn er in dieser Passage nur den Hinweis auf das körperliche Training sieht: „Th Thus over-eating followed by over-exertion he disapproved. But he approved of taking as much hard exercise as is agreeable to the soul.“ Unlängst hat Narcy diese Stelle auf solche Weise aufgefasst: „Faire trop d’exercice et manger trop, il se prononçait contre: sa position était de faire juste la quantité d’exercice que l’âme supporte avec plaisir“ (Narcy, 2008, 34). Die Erklärung dieser Auff ffassung scheint mir nicht überzeugend: „L’opposition ne porte pas sur le plus ou moins de nourriture, mais sur le plus ou moins d’exercice: il n’y a donc pas de raison de donner ἐκπονεῖν le sens médical.“ Nach Narcy sei nicht die übermäßige Nahrung das, was der Seele schadet, sondern übermäßige körperliche Übungen, Sport. Diesem Urteil widerspricht m.E. das Folgende: Xenophons Sokrates spricht nie mehr darüber, dass die Seele des Menschen das Ausmaß der erlaubten körperlichen Anstrengungen bestimmt, während er im Gegenteil mindestens noch einmal erwähnt, dass das körperliche Vergnügen von der Seele zugelassen werden soll (siehe oben in dieser Anm. Mem. 1.3.14). Außerdem ist der Abschnitt Mem. 1.2.1-8 der Beschreibung von Sokrates’ Enthaltsamkeit und Mäßigkeit gewidmet. Gleich nach den zu analysierenden Worten schreibt Xenophon: ἀλλ’ οὐ μὴν θρυπτικός γε οὐδὲ ἀλαζονικὸς ἦν οὔτ’ ἀμπεχόνῃ οὔθ’ ὑποδέσει οὔτε τῇ ἄλλῃ διαίτῃ. οὐ μὴν οὐδ’ ἐρασιχρημάτους γε τοὺς συνόντας ἐποίει. τῶν μὲν γὰρ ἄλλων ἐπιθυμιῶν ἔπαυε […] (Mem. 1.2.5). Es scheint mir also unbegründet, in diesem Zusammenhang Kritik an den körperlichen Übungen zu sehen, die nicht zu den körperlichen ἐπιθυμίαι gehören. Sogar der syntaktische Parallelismus des Satzes gibt keinen Anlass zu solcher Auff ffassung: Zugleich werden ὑπερπονεῖν und ἐκπονεῖν sowie ὑπερεσθίοντα und ὅσα ἡδέως ἡ ψυχὴ δέχεται gegenübergestellt. Dass das Partizip ὑπερεσθίοντα auf übermäßige Nahrung hinweist, lässt sich kaum bestreiten.
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nachgibt, wenn sie ihren Höhepunkt erreicht haben50. Der Xenophontische Sokrates unterscheidet folglich Begierden des Körpers einerseits und die Fähigkeit der Seele, von der Schönheit gefesselt zu werden, andererseits. Da ein solches Gefühl die Fähigkeit der Seele, dem Körper zu widerstehen, abschwächt und dadurch den Menschen weniger enthaltsam macht, lässt sich folgender Schluss ziehen: Nur derjenige kann ungefährdet die Schönheit anschauen, dessen Seele stark genug ist, um ihre Festigkeit unter der Einwirkung des Eindruckes nicht zu verlieren. Das Vergnügen von den körperlichen Begierden entsteht, wie schon angedeutet, bei der Stillung dieser Begierden, bei der Befriedigung des Verlangens des Körpers. Aber dieses Vergnügen ist nicht immer und nur bis zu einer bestimmten Grenze erlaubt: Die beiden richtigen Momente – der erlaubte Zeitpunkt des Anfanges und der rechtzeitige Augenblick des Endes – können ausschließlich von der Seele des Menschen festgelegt werden. Vom Körper kann gesagt werden, dass er gierig ist: Er strebt nicht nur nach der Stillung des Verlangens, sondern nach den ununterbrochenen Lüsten, ohne das rechte Maß halten zu können. Die dritte Regel der sokratischen Diät geht aber unter anderem davon aus, dass auch die Seele nicht immer imstande ist, dem Körper so lange zu widerstehen, bis sein Verlangen den Höhepunkt erreicht, und früher nachgeben kann, und dass sie nicht immer fähig ist, die Grenze des Angenehmen rechtzeitig festzusetzen und den Körper zurück-
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Siehe in der vorhergehenden Anm. Mem. 1.3.14: Diese Worte sprechen dafür, dass es möglich ist, dass die Seele dem Verlangen des Körpers nachgibt, bevor es seinen Höhepunkt erreicht hat, weil in diesem Augenblick schon die Seele selbst sich von der Schönheit beeinfl flussen lässt. Vgl. zu dieser Stelle: „Wenn der Körper nicht nach Aphrodisia verlangt, soll man sich nicht durch die Seele dazu verleiten lassen, wenn aber der Körper danach verlangt, so soll man sie so genießen, dass es die Seele nicht belästigt. Das ist dieselbe Diät, die an unserer Stelle [Mem. 1.2.4, siehe die vorhergehende Anm.] für die Nahrung vorgeschrieben wird“ (Gigon, 1953, 31 f.) und „Wie dort [Mem. 1.2.4] eine Diätregel für diejenigen aufgestellt wird, die der vollen Enkrateia in Speise und Trank nicht fähig sind, so hier eine Regel für die, die sich in den Aphrodisia nicht völlig beherrschen können. […] Der Maßstab des Verhaltens ist das körperliche Bedürfnis auf der einen, die Rücksicht auf die Seele auf der andern Seite“ (Gigon, 1953, 116). Infolge des oben Gesagten kann ich dem Urteil von Bevilacqua nicht beistimmen: „Da notare, per altro, che la soluzione prospettata da Socrate ha poco o nulla a che vedere con la enkrateia: non si tratta, infatti, di frenare o di contenere i propri impulsi sessuali, bensì di trovare il modo di soddisfarli senza esporsi a inutili rischi“ (Bevilacqua, 2010, 334). Es handelt sich eben darum, wie man sich benehmen muss, um fähig zu sein, dem Verlangen des Körpers gebührend zu widerstehen.
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zuhalten. Deshalb hat man sich vor allem darum zu kümmern, dass die Seele fähig bleibt, die Grenze zwischen dem erlaubten Angenehmen und dem unzulässigen Überschuss klar zu sehen. Allein in diesem Fall ist die Seele imstande, den Körper in seinen Leidenschaft ften zu bändigen. Da dazu aber nur diejenige Seele imstande ist, die mit der Enthaltsamkeit ausreichend ausgestattet ist, muss jeder Mensch in sich vor allem diese Letztere ausbilden51. Im folgenden ist die Frage zu untersuchen, warum und wozu man die Enthaltsamkeit halten muss, da die anspruchslose Lebensweise des Xenophontischen Sokrates – und das ist der Wiederholung wert – sich keinesfalls durch seine Mittellosigkeit zu erklären lässt: Er folgt konsequent seinen rationalen Überlegungen. Die Enkrateia ist wie die oben betrachtete Karterie für alle Menschen erforderlich. Nach Xenophons Sokrates kann nur derjenige seine Gesundheit aufrechterhalten, der enthaltsam ist, während die unmäßige Befriedigung der Begierden der Gesundheit im Gegenteil schadet52. Außerdem muss man, wie schon oben gesagt, für die Erhaltung und Stärkung der Gesundheit körperliche Übungen betreiben, wozu aber laut dem Xenophontischen Sokrates wieder nur die enthaltsamen Menschen imstande sind, weil der Unmäßige beständig nach den Genüssen strebt und deswegen keine Möglichkeit hat, den Körper zu trainieren53. Der unmäßige Mensch schadet seinem körperlichen Gesamtbefinden fi also auf zweierlei Weise. Die auf den ersten Blick selbstverständliche Notwendigkeit des körperlichen Wohlbefindens fi hat auch eine bestimmte Motivation im Denken des Xenophontischen Sokrates. Es liegt für Sokrates auf der Hand, dass ein durchtrainierter und abgehärteter Körper bei jeder Tätigkeit nützlich ist54. Er nütze unter anderem im Krieg, damit ein Mann in der Schlacht nicht falle
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Siehe darüber S. 57 ff. ff Mem. 1.3.6; 1.5.3; 1.5.5; 2.1.20; 2.1.22; 2.1.31. Es ist aber anzumerken, dass der Xenophontische Sokrates nie darüber diskutiert, zu welchen Konsequenzen für die Gesundheit die unmäßige Lebensweise seiner Meinung nach führen kann. Zu beachten ist außerdem, dass das sokratische Schema der Wechselbeziehung zwischen der unmäßigen Lebensweise und der Gesundheit einen ursprünglich gesunden Menschen berücksichtigt: Alle Krankheiten, die mit der Unmäßigkeit nicht zusammenhängen, bleiben hier außer acht. Siehe auch unten. Mem. 4.5.10. Der unmäßige Mensch kann off ffenbar nicht καρτερικός sein (ausgenommen, wenn er so einer von Natur aus ist), weil für Entwicklung und Training der Karterie ständige Übungen erforderlich sind, die ihrerseits Geduld verlangen; der unmäßige Mensch ist aber nicht imstande, sich zu gedulden und die Schwierigkeiten zu bewältigen (σπουδάζειν περὶ τὰς ἐγγυτάτω ἡδονάς). Darüber siehe S. 57 ff. ff und 146 f. Mem. 3.12.5.
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und auch nicht in Gefangenschaft ft gerate. Derjenige, der seinen Körper gesund, kräft ftig und gut trainiert habe, könne seinen Freunden und dem Staat von Nutzen sein und deswegen große Ehre und Anerkennung erwerben. Die Anstrengungen, die derjenige aushalten müsse, der seinen Körper trainiere, seien nicht so mühevoll und dabei viel angenehmer als das Leid, welches derjenige ertragen müsse, der wegen seiner körperlichen Schwäche ins Unglück geraten sei55. Zum anderen könne derjenige, der seinen Körper vernachlässige, auch im Denkvermögen und in seinen geistigen Fähigkeiten schwach werden: Er werde für Vergesslichkeit, Verlust der erworbenen Kenntnisse, Mutlosigkeit, Verdrießlichkeit und sogar Wahnsinn anfällig56. Die beiden Argumente sind aber eng miteinander verbunden: Wohl kaum kann derjenige in irgendeiner Beschäft ftigung erfolgreich sein, der wegen des körperlichen Unwohlseins verzagt oder in Stumpfsinn verfallen ist. Indem Sokrates die Notwendigkeit des körperlichen Wohlbefindens fi hervorhebt, spricht er in erster Linie über praktische Aufgaben, weil dieser Aspekt seinem Gesprächspartner näher ist57. Auf welche Weise ein schlechtes Befi finden des Körpers auf
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Mem. 3.12.2-4. Darüber, dass das Lob des körperlichen Wohlbefi findens gleichzeitig auch ein polemisches Plädoyer für die Gymnastik gegen ihre Tadler ist, siehe z.B. Delatte, 1933, 163 ff. und Bevilacqua, 2010, 574 f.; siehe auch Dorion & Bandini, 2011a, 394 f. Mem. 3.12.6-7. Vgl. Johnson, 2005, 67: „Xenophon’s Socrates praises bodily health in large part because of its contribution to thought; the worst aspect of old age for him is the mental deterioration it so oft ften brings.“ Darüber siehe S. 150. Mem. 3.12.6: ἐπεὶ καὶ ἐν ᾧ δοκεῖς ἐλαχίστη σώματος χρεία εἶναι, ἐν τῷ διανοεῖσθαι, τίς οὐκ οἶδεν, ὅτι καὶ ἐν τούτῳ πολλοὶ μεγάλα σφάλλονται διὰ τὸ μὴ ὑγιαίνειν τὸ σῶμα; Zwei mögliche abweichende Lesarten sind zu beachten. In der Oxford-Ausgabe der Xenophontischen Werke weist Marchant auf eine Handschriftenvariante ft hin: ἐν ᾧ δοκεῖς ἐλαχίστην σώματος χρείαν εἶναι, selbst aber vertritt er die Lesart ἐν ᾧ δοκεῖ ἐλαχίστη σώματος χρεία εἶναι, die Pietro Vettori zugeschrieben ist. In der LoebAusgabe der Memorabilien folgt Marchant dem Text von Sauppe mit δοκεῖς, seine Übersetzung aber folgt der anderen Variante: „in which the use of the body seems to be reduced to a minimum.“ Ich folge den neuesten Ausgaben (siehe Dorion & Bandini, 2011a, 107: δοκεῖς und „à ton avis“; Bevilacqua, 2010, 578: δοκεῖς und „[tu] credi“) und vertrete die Lesart δοκεῖς: M.E. wäre es in diesem Dialog von Bedeutung, dass es Epigenes ist, der denkt, dass das körperliche Befi finden mit der geistigen Tätigkeit nichts zu tun hat, oder dass es wenigstens Sokrates ist, der ihn so darstellen und damit die Meinung von Epigenes und seine eigene (sowie die übliche – siehe die nächste Anm.) gegenüberstellen will. In diesem Zusammenhang ist zu erwähnen, dass Epigenes in diesem Gespräch und Kapitel nur einen Satz spricht: dass er sich nicht um seinen Körper zu kümmern braucht, da er kein Sportler ist (Mem. 3.12.1: ἰδιώτης γάρ, ἔφη, εἰμί). In seinem darauffolgenden ff Monolog, in dem er die Notwendigkeit
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die geistige Gesundheit einwirken kann, erklärt der Xenophontische Sokrates nicht, er erwähnt das als ein allgemein bekanntes Faktum58. Das gute körperliche Befi finden ist folglich eine Voraussetzung für die richtige geistige Arbeit. Da der schlechte Körperzustand zum Gedächtnisschwund und sogar zum Verlust der Kenntnisse führen kann59 und da andererseits die Tugend ein Wissen ist60, folgt daraus, dass der Zustand des Körpers einer der bestimmenden Faktoren der Möglichkeit von Tugend ist. Mit anderen Worten ist der gesunde Körper eine notwendige Bedingung des Erwerbs und der Erhaltung der Tugend61. Daraus folgt wiederum – so könnte es zumindest scheinen –, dass nach den ethischen Ansichten des Xenophontischen Sokrates kranke und behinderte Menschen (oder wenigstens ein Teil von ihnen) a priori nicht tugendhaft ft sein können. Diese Schlußfolgerung aus dem Xenophontischen Text zu ziehen wäre aber m.E. nicht stichhaltig: Xenophons Sokrates betrachtet nur den Fall des schlechten Körperzustandes, dessen Ursache entweder in der Unmäßigkeit oder in der Vernachlässigung des körperlichen Befi findens liegt, alle anderen Krankheiten und Schwächen, deren Ursache nicht im Verhalten des Menschen selbst liegt, lässt er aber unberücksichtigt. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Enthaltsamkeit für körperliches Wohlbefi finden und dieses wiederum für die Tugend notwendig sind. Die Enkrateia ist folglich mittelbar über die Notwendigkeit der körperlichen Gesundheit letzten Endes für die Tugend erforderlich. Aber diese Bedeutung der Enkrateia für die Tugend ist auch unmittelbar begründet, nämlich damit, dass der Xenophontische Sokrates Enthaltsamkeit für die Grundlage der Tugend hält, d.h. für ihre notwendige Bedingung62.
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der Sorge um den Körper zu beweisen versucht, geht Sokrates von dem aus, was für Epigenes off ffensichtlich ist – von den Olympischen Spielen; und von dort aus geht er durch den allgemeineren Bereich der aktiven Tätigkeit des Menschen (wie z.B. Krieg) zu dem am allerwenigsten off ffensichtlichen – zur geistigen Tätigkeit. Mem. 3.12.6: τίς οὐκ οἶδεν, ὅτι… (siehe das Zitat in der vorhergehenden Anm.). Siehe auch Delatte, 1933, 165 f. und Dorion & Bandini, 2011a, 397 f. Mem. 3.12.6: καὶ λήθη δὲ καὶ ἀθυμία καὶ δυσκολία καὶ μανία πολλάκις πολλοῖς διὰ τὴν τοῦ σώματος καχεξίαν εἰς τὴν διάνοιαν ἐμπίπτουσιν οὕτως ὥστε καὶ τὰς ἐπιστήμας ἐκβάλλειν. Siehe S. 94 ff. Vgl. Dorion & Bandini, 2011a, 395 und 399: „[…] le corps revêt, pour SocrateX, une très grande valeur éthique: un corps vigoureux et en santé est une condition de l’acquisition et de la pratique de la vertu“ und „[…] SocrateX insiste surtout sur la nécessité de prendre soin de son corps pour être en mesure d’exercer la vertu.“ Mem. 1.5.4: τὴν ἐγκράτειαν ἀρετῆς εἶναι κρηπῖδα. Darüber siehe S. 55 ff ff.
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Lebensweise des Sokrates bei Xenophon
2.3. Enkrateia und Karterie Oben war die Rede von zwei Begriffen, ff welche für die Lebensweise des Xenophontischen Sokrates kennzeichnend sind: Sie sind die ἐγκράτεια (Enthaltsamkeit in vier körperlichen Vergnügungen: im Essen, Trinken, Schlafen und Sexualverhalten) und die καρτερία (Ausdauer in der Hitze und Kälte und bei Anstrengungen). Die καρτερία ist also vor allem eine Eigenschaft ft des Körpers: das ist seine Standhaft ftigkeit bei unangenehmen äußerlichen Einwirkungen63; während die ἐγκράτεια eine Eigenschaft ft der Seele des Menschen ist: das ist ihre Standhaft ftigkeit beim Widerstehen dem Verlangen nach Vergnügen64, d.h. dem natürlichen inneren Streben des Körpers, in welchem sie sich befi findet. Im Text Xenophons sind also die beiden Begriff ffe deutlich getrennt65. Sie haben aber einige Berührungspunkte. Erstens gehört das Schlafen als Vergnügen, als Verlangen des Körpers nach Genuss, in den
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Mem. 1.2.1: πρὸς χειμῶνα καὶ θέρος καὶ πάντας πόνους καρτερικώτατος; Mem. 1.6.7: τῷ σώματι ἀεὶ τὰ συντυγχάνοντα μελετῶντα καρτερεῖν; siehe auch Mem. 1.6.6; 2.1.6; Oec. 5.4; 7.23. Mem. 1.2.1: ἀφροδισίων καὶ γαστρὸς πάντων ἀνθρώπων ἐγκρατέστατος ἦν; Mem. 1.2.14: τῶν ἡδονῶν δὲ πασῶν ἐγκρατέστατον ὄντα; Mem. 1.6.8: μὴ δουλεύειν γαστρὶ μηδ’ ὕπνῳ καὶ λαγνείᾳ; Apol. 16: δουλεύοντα ταῖς τοῦ σώματος ἐπιθυμίαις; Oec. 9.11: ἐγκρατεστάτη καὶ γαστρὸς καὶ οἴνου καὶ ὕπνου καὶ ἀνδρῶν συνουσίας; siehe auch Mem. 1.3.5-8; 2.1.1; 2.6.1 (siehe unten S. 37 Anm. 67); 4.5.9; 4.8.11; Oec. 1.22; 12.11-14. Vgl. Erbse, 1961, 276: „Die strenge aristotelische Unterscheidung […] zwischen ἐγκράτεια und καρτερία findet fi sich meines Wissens bei Xenophon noch nicht. Letztere ist meist die Fähigkeit, äußere Einwirkungen standhaft ft zu ertragen, vor allem Hitze, Kälte und Hunger […], ἐγκράτεια dagegen bedeutet Kontrolle der eigenen Leidenften.“ Zum einen gehört aber der Hunger eben zu den „eigenen Leidenschaft ften“ schaft und daher nicht zum Bereich der καρτερία, sondern zum Bereich der ἐγκράτεια. Zum anderen aber gibt es die aristotelische Unterscheidung zwischen diesen beiden Begriff ffen bei Xenophon tatsächlich nicht: ἀντίκειται δὲ τῷ μὲν ἀκρατεῖ ὁ ἐγκρατής, τῷ δὲ μαλακῷ ὁ καρτερικός· τὸ μὲν γὰρ καρτερεῖν ἐστὶν ἐν τῷ ἀντέχειν, ἡ δ’ ἐγκράτεια ἐν τῷ κρατεῖν, ἕτερον δὲ τὸ ἀντέχειν καὶ κρατεῖν, ὥσπερ καὶ τὸ μὴ ἡττᾶσθαι τοῦ νικᾶν· διὸ καὶ αἱρετώτερον ἐγκράτεια καρτερίας ἐστίν (Arist. Nic. Eth. 1150a 32-36). Im Xenophontischen Text gibt es dennoch eine andere Unterscheidung, die nicht weniger scharf ist, aber auf einem anderen Kriterium beruht. Dies betont Dorion ganz zu Recht, indem er auch die Meinung von Erbse nicht teilt: „En fait, le partage des tâches entre la karteria et l’enkrateia est très net […] la karteria permet de supporter la douleur physique, alors que le rôle de l’enkrateia est de maîtriser les plaisirs corporels. […] La distinction xénophontienne entre karteria et enkrateia est donc tout à fait limpide et rigoureuse“ (Dorion & Bandini, 2000, 69 f.). Irrtümlicherweise rechnet Kroschel das Ertragen von Anstrengungen und Hitze und Kälte der Kompetenz der Enkrateia zu: „Die Selbstbeherrschung des Sokrates äußert sich nach Xenophon in
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Bereich der Enthaltsamkeit, während die von der körperlichen Erschöpfung verursachte Schläfrigkeit in den Bereich der Karterie gehört66. Und zweitens ist es die Aufgabe der körperlichen Ausdauer, Anstrengungen zu bewältigen und Müdigkeit bei der Arbeit zu ertragen; es ist aber schon Enthaltsamkeit, die für den Kampf mit der Faulheit (d.h. für die Bewältigung der inneren Weigerung, an die Arbeit zu gehen, für den Widerstand gegen das Verlangen nach Vergnügen durch Müßiggang) und für die willige Annahme der Mühen zuständig ist67.
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der Zurückhaltung beim Essen und Trinken und hinsichtlich der Sexualität sowie im Ertragen von Mühen und von unterschiedlichen Witterungseinfl flüssen“ (Kroschel, 2008, 56). Im ersten Satz des zweiten Buches (Mem. 2.1.1: ἐδόκει δέ μοι καὶ τοιαῦτα λέγων προτρέπειν τοὺς συνόντας ἀσκεῖν ἐγκράτειαν πρὸς ἐπιθυμίαν βρωτοῦ καὶ ποτοῦ καὶ λαγνείας καὶ ὕπνου [καὶ ῥίγους καὶ θάλπους καὶ πόνου]) folge ich der von Bandini vorgeschlagenen Athetese (Dorion & Bandini, 2011a, 1) wie auch Dorion (Dorion & Bandini, 2011a, 114) und Bevilacqua (Bevilacqua, 2010, 248 f.), denn die Worte καὶ ῥίγους καὶ θάλπους καὶ πόνου kongruieren weder mit ἐπιθυμία („Verlangen nach Kälte, Hitze und Mühe“) noch mit ἐγκράτεια („Mäßigkeit in Kälte, Hitze und Mühe“ – wenn wir statt des letzten Teils des Satzes die Worte πρὸς ἐπιθυμίαν athetieren). Siehe darüber Dorion & Bandini, 2011a, 113 ff. Es gibt keine Verwirrung in den Begriff ffen ἐγκράτεια und καρτερία bei Xenophon. Dass er das Verb καρτερεῖν in dem Zusammenhang benutzt, wo es sich um das Vergnügen handelt (siehe z.B. Mem. 2.6.22: τοῖς τῶν ὡραίων ἀφροδισίοις ἡδόμενοι καρτερεῖν und Mem. 4.5.9: ἡ μὲν ἀκρασία οὐκ ἐῶσα καρτερεῖν οὔτε λιμὸν οὔτε δίψος οὔτε ἀφροδισίων ἐπιθυμίαν οὔτε ἀγρυπνίαν), zeugt von keiner terminologischen Begriffsverwechselung: ff Solcher Wortgebrauch entspricht der Semantik des Verbs καρτερεῖν (siehe Beispiele in LSJ). Dorion unterscheidet den Begriff ff der Faulheit nicht (siehe die nächste Anm.), daher findet er nur ein „point de recoupement“: „Le vocabulaire employé par Xénophon est fi à cet égard très rigoureux; en eff ffet, il ne parle jamais de karteria à l’endroit de sommeil (car c’est un plaisir), ni d’enkrateia à l’endroit de la fatigue (car c’est une douleur)“ (Dorion & Bandini, 2000, 70 und 2011b, 165). M.E. lässt Xenophons Text es zu, die Faulheit wenn nicht als die fünft fte Begierde zu unterscheiden, dann wenigstens für die Gesamtbezeichnung für die vier anderen zu halten. Im Gespräch mit Kritobulos, in dem Sokrates den von den körperlichen Vergnügungen unabhängigen Menschen schildert, stellt er in einer Reihe mit den gewöhnlichen vier Leidenschaften ft (für Essen, Trinken, Schlafen und Sex) auch die Faulheit auf: ἆρα πρῶτον μὲν ζητητέον, ὅστις ἄρχει γαστρός τε καὶ φιλοποσίας καὶ λαγνείας καὶ ὕπνου καὶ ἀργίας; (Mem. 2.6.1). M.E. irrtümlicherweise findet Gigon im Begriff ff der Faulheit einen Repräsentanten der Karterie hier: „Reduziert ist nur die Karteria, die durch die dem Ponos entgegenstehende ἀργία vertreten ist“ (Gigon, 1956, 127; vgl. auch Bevilacqua, 2010, 438: „[…] per quanto concerne la karteria, viene menzionata soltanto la capacità di dominare la pigrizia, vale a dire la capacità di sopportare la fatica“). Die Fähigkeit, Mühen zu ertragen, ist mit der Fähigkeit, die
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Wie bereits oben gesagt, sind nach der Meinung des Xenophontischen Sokrates die beiden Eigenschaften ft – sowohl die Enkrateia wie auch die Kar-
Faulheit zu überwinden und Mühen gern zu übernehmen, nicht identisch. Karterie ist eine physische Fähigkeit des Menschen, den ‚Schmerz‘ (wenn ich hier die geschickte Terminologie Dorions benutzen darf: siehe oben S. 36 Anm. 65) zu ertragen; die Faulheit ist aber kein Schmerz, sondern die Weigerung, ihn zu haben, d.h. das Verlangen nach dem Angenehmen, nach dem, was dem Schmerz entgegengesetzt ist, mit anderen Worten: nach dem Vergnügen. Daher handelt es sich in Mem. 2.6.1 m.E. um die Enkrateia allein. Noch deutlicher ist derselbe Gedanke im ersten Kapitel des zweiten Buches ausgedrückt: Wenn Sokrates über die notwendigen Eigenschaften ft des Herrschers diskutiert, spricht er ausführlicher, aber genau in derselben Reihenfolge, zunächst über die Enthaltsamkeit im Essen und Trinken (Mem. 2.1.2) und im Schlafen und Sexualverhalten (Mem. 2.1.3) und sofort danach darüber, dass der Herrscher den Mühen nicht ausweichen, sondern sie gern ertragen soll (Mem. 2.1.3: τὸ μὴ φεύγειν τοὺς πόνους, ἀλλ’ ἐθελοντὴν ὑπομένειν). Es liegt auf der Hand, dass hier nicht von der Notwendigkeit der physischen Ausdauer für den Herrscher die Rede ist. Von Bedeutung scheint mir, dass hier φεύγειν und ἐθελοντήν gegenübergestellt sind; diese Gegenüberstellung bleibt aber von den Kommentatoren unbemerkt, die nur auf das Wort πόνους Wert legen und irrtümlicherweise in ihm einen Hinweis auf Karterie finden: „Mit den πόνοι folgt das erste Stück der Karteria, wo es nicht um ein Verzichten, sondern um ein Ausharren geht“ (Gigon, 1956, 19); „Con le fatiche (πόνοι) si entra nell’ambito della karteria, che consiste appunto nella capacità di sopportare le fatiche […]“ (Bevilacqua, 2010, 376); fforts et la fatigue“ (Dorion & Bandini, 2011a, 2). Davon, „l’aptitude à supporter les eff dass Xenophon (und folglich sein Sokrates) die physische Fähigkeit, Mühen zu ertragen (καρτερία), und die Weigerung, sich ihnen auszusetzen (ἀργία), unterscheidet, zeugen z.B. Ischomachos’ Worte, dass die Faulheit in der Landwirtschaft ft (für welche Karterie erforderlich ist: siehe oben S. 23 Anm. 35) schlechte Seelen enthüllen könne: ἡ ἐν γῇ ft ἀργία ἐστὶ σαφὴς ψυχῆς κατήγορος κακῆς (Oec. 20.15). Denn in der Landwirtschaft habe keinen Erfolg nur derjenige, der nichts tue (obwohl er über die Karterie und sogar über das Wissen verfügen kann: siehe Oec. 20; aus diesem Grund ist für Xenophon und ff der ἐπιμέλεια so wichtig: siehe darüber S. 123 ff.). Dass die seinen Sokrates der Begriff Faulheit mit der Seele verbunden ist (und daher eher dem Bereich der Enkrateia als dem der Karterie angehört), bestätigt auch eine andere Passage, wo Sokrates in einer Reihe Faulheit, Weichlichkeit der Seele und Nachlässigkeit aufstellt: […] εἴπερ πονηρίαν γε νομίζεις ἀργίαν τ’ εἶναι καὶ μαλακίαν ψυχῆς καὶ ἀμέλειαν (Oec. 1.19); die ἀργία steht im Paar mit der ἀμέλεια auch in Mem. 2.7.7, während die ἐπιμέλεια im Paar mit der φιλοπονία steht: Mem. 3.4.9. Aus alledem folgt m.E., dass es möglich ist, die Worte ἢ πόνου in Mem. 1.5.1 nicht zu athetieren (siehe z.B. die Loeb-Ausgabe der Memorabilien), wo Sokrates über die notwendigen Eigenschaft ften des Herrschers spricht: ἆρ’ ὅντινα [ἂν] αἰσθανοίμεθα ἥττω γαστρὸς ἢ οἴνου ἢ ἀφροδισίων ἢ πόνου ἢ ὕπνου, τοῦτον ἂν αἱροίμεθα; Wenn man πόνοι ausschließlich dem Bereich der Karterie zurechnet, neigt man zur Athetese, da in diesem Kapitel von der Enkrateia die Rede ist (siehe Bevilacqua, 2010, 248). Wenn wir aber die Worte ἥττω πόνου nicht als „qu’il est dominé par la fatigue“ (Dorion & Bandini, 2000, 40), sondern als „wer sich vor Mühen fürchtet“ verstehen, dann entsteht kein Widerspruch.
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terie – für jeden Menschen erforderlich. Auf die Enkrateia legt er besonders großen Wert68: Die Frage, warum Xenophons Sokrates ihr viel mehr Aufmerksamkeit widmet, lässt sich m.E. erstens damit erklären, dass sie eine grundlegende und alles vorbestimmende notwendige Bedingung der Tugend und daher des Wohles des Menschen ist69. Zweitens ist sie als eine Eigenschaft ft der Seele viel schwieriger zu erwerben und beizubehalten als die körperliche Karterie. Und drittens ist die Enkrateia primär: Die Karterie hängt in vielem von der Enkrateia ab, während die Enkrateia ihrerseits von der Karterie nicht abhängt. Derjenige, der keine Karterie hat, kann sie ohne Enkrateia nicht erwerben70; und derjenige, der Karterie ohne Enkrateia hat (der Mensch kann über Karterie von Natur aus verfügen oder sie vor dem Verlust der Enkrateia trainiert haben), verliert schnell auch diese, da er ohne Enkrateia nicht imstande ist, sie ständig zu trainieren71. 2.4. Die Autarkie Xenophons Sokrates besitzt Enthaltsamkeit und Ausdauer in höchstem Maße: Er sei ἐγκρατέστατος und καρτερικώτατος unter den Menschen72. Bei der Schilderung seines Sokrates benutzt Xenophon aber noch einen weiteren Superlativ: Σωκράτην ἀπ’ ἐλαχίστων μὲν χρημάτων αὐταρκέστατα ζῶντα73. Die αὐτάρκεια – Autarkie, Selbständigkeit – ist noch eine kennzeichnende Eigenschaft ft des Xenophontischen Sokrates. Nach der Meinung der Kommentatoren wird sein Wesen mit diesen drei Begriffen ff beschrieben74. Im Fol-
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Vgl. die oben (S. 36 Anm. 65) angeführten Worte von Aristoteles: αἱρετώτερον ἐγκράτεια καρτερίας ἐστίν. Siehe darüber S. 55 ff. ff Siehe oben S. 33 Anm. 53. Den Schluss von der Priorität der Enkrateia begründet Dorion zum Teil mit anderen Argumenten (Dorion & Bandini, 2000, 70): Zunächst beachtet er die Tatsache, dass der Enkrateia zwei Kapitel der Memorabilien ganz gewidmet sind (Mem. 1.5 und 4.5), während von Karterie immer nur beiläufi fig gesprochen wird. Zum anderen ist Enkrateia die Basis der Tugend (in meinen oben gefassten Argumenten steht das an erster Stelle). Und zuletzt, wenn Xenophon Sokrates’ Tugenden aufzählt, vergisst er nie, Enkrateia zu nennen, während er die Karterie oft ft nicht erwähnt (m.E. lässt sich dies wie auch die Tatsache, dass von Karterie niemals ausführlich gesprochen wird, damit erklären, dass es besonders schwierig ist, Enkrateia zu erwerben; deshalb wird dieser besonders viel Aufmerksamkeit geschenkt). Mem. 1.2.1; siehe auch 1.2.14 und 4.5.1. Mem. 1.2.14. Siehe z.B. Gigon, 1953, 25: „Die drei Dinge, die für Xenophon den Charakter des Sokrates ausmachen, sind: 1. Seine Zurückhaltung gegenüber den Begierden der
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genden soll die Bedeutung der ‚Selbständigkeit‘ im Xenophontischen Text untersucht werden. Wenn von Sokrates selbst die Rede ist, verwendet Xenophon ein Wort mit diesem Stamm an zwei Stellen. Dies ist einmal der Fall in dem Abschnitt, der der Analyse von Sokrates’ Beziehungen zu Kritias und Alkibiades gewidmet ist: Xenophon schildert ihre Charaktere und politischen Ambitionen, um zu beweisen, dass sie nicht dieselben Absichten wie Sokrates (von dem sie wussten, dass er mit den geringsten Mitteln αὐταρκέστατα lebte) haben konnten75. Zum zweiten Mal erwähnt Xenophon Sokrates’ Autarkie, wenn er zum Schluss das Resümee mit seinen kennzeichnenden Hauptzügen zieht: Unter anderem schreibt er, dass Sokrates imstande war, zwischen Gutem und Bösem selbständig zu unterscheiden und dazu keine Hilfe von anderen brauchte76. Sokrates ist folglich nach Xenophons Behauptung sowohl in materieller als auch in intellektueller Hinsicht αὐτάρκης77 – doch nur in gewissem Maße: Es muss zugegeben werden, dass weder seine materielle Autarkie noch die intellektuelle vollkommen ist. Wenn auch seine Bedürfnisse äußerst gering sind, braucht er immerhin die Nahrung zum Leben, um nicht zu verhungern78. Gewissermaßen ist Sokrates deswegen offensichtlich ff doch von seinen Freunden abhängig, die ihn – wenn auch ein wenig – materiell
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Aphrodite und des Bauches. 2. Als Komplement dazu seine Ausdauer in Kälte, Hitze und Strapazen. 3. Seine materielle Bedürfnislosigkeit“ und Dorion, 2004a, 103: „Ces trois qualités de Socrate [l’enkrateia, la karteria et l’autarkeia] sont souvent mentionnées dans la suite des Mémorables et cette insistance se comprend aisément puisque cette triade forme le noyau ou le cњur de l’éthique socratique dans les écrits de Xénophon.“ Mem. 1.2.14: ᾔδεσαν δὲ Σωκράτην ἀπ’ ἐλαχίστων μὲν χρημάτων αὐταρκέστατα ζῶντα, τῶν ἡδονῶν δὲ πασῶν ἐγκρατέστατον ὄντα, τοῖς δὲ διαλεγομένοις αὐτῷ πᾶσι χρώμενον ἐν τοῖς λόγοις ὅπως βούλοιτο. Mem. 4.8.11: φρόνιμος δὲ ὥστε μὴ διαμαρτάνειν κρίνων τὰ βελτίω καὶ τὰ χείρω μηδὲ ἄλλου προσδεῖσθαι, ἀλλ’ αὐτάρκης εἶναι πρὸς τὴν τούτων γνῶσιν. Bemerkenswert ist, dass Sokrates im Text Xenophons nur einmal unmittelbar als αὐτάρκης bezeichnet wird und dass in diesem Fall gerade seine intellektuelle Selbständigkeit gemeint ist (vgl. Mem. 4.8.11 in Anm. 76 und 1.2.14 in Anm. 75). Vgl. unten S. 47 Anm. 94. Vgl. Dorion & Bandini, 2000, 136: „Il est d’une certaine façon plus facile d’être autosuffi ffisant sur le plan sexuel que sur le plan alimentaire. Bien qu’ils relèvent l’un et l’autre de l’enkrateia, le désir de nourriture et le désir sexuel n’ont pas la même nécessité : la nourriture est essentielle à la vie, alors que la sexualité ne l’est pas ; le sage peut diffi fficilement pourvoir lui-même à tous ses besoins alimentaires, alors qu’il peut atteindre l’autarcie sexuelle…“.
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unterstützen (oder ihm zu essen geben) . Was seine intellektuelle Autarkie betrifft fft: Auch wenn er von keinem anderen Menschen abhängig ist, ist Xenophons Sokrates doch auch in dieser Hinsicht nicht vollkommen selbständig, da er einerseits nicht alles weiß80 und andererseits behauptet, dass Götter alles wissen, und daher sich auf ihr Wissen verlässt und in seinen Gebeten einfach um das Gute bittet81. Wir können deswegen davon reden, dass Sokrates einen Mangel an dem Wissen hat, welches außerhalb des seinigen oder überhaupt außerhalb der Erreichbarkeit für Menschen liegt. Als Anhaltspunkt für weitere Erörterungen darf ich hier Dorions Interpretation nehmen, nach dessen Auff ffassung in der Ethik des Xenophontischen Sokrates das Glück des Menschen, d.h. das Endziel seiner Bestrebungen, in der Autarkie bestehe. Dieses Ziel zu erreichen, sollen unter anderem Enkrateia und Karterie (wie auch materielle Armut) helfen: Je weniger Wünsche man habe, d.h. je größer Enthaltsamkeit und Askese seien, desto leichter sei es, Selbständigkeit zu erreichen82. 79
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Siehe oben S. 9 Anm. 2 und 3. Siehe auch Dorion & Bandini, 2000, 71 und 127. Mem. 4.7.1: ὧν δὲ προσήκει ἀνδρὶ καλῷ κἀγαθῷ εἰδέναι, ὅ τι μὲν αὐτὸς εἰδείη, πάντων προθυμότατα ἐδίδασκεν· ὅτου δὲ αὐτὸς ἀπειρότερος εἴη, πρὸς τοὺς ἐπισταμένους ἦγεν αὐτούς. Es ist hier bemerkenswert, dass Sokrates etwas von dem nicht weiß, was zum ἀνδρὶ καλῷ κἀγαθῷ zu wissen gehört. Siehe darüber Dorion & Bandini, 2011b, 208. Mem. 1.3.2: καὶ ηὔχετο δὲ πρὸς τοὺς θεοὺς ἁπλῶς τἀγαθὰ διδόναι, ὡς τοὺς θεοὺς κάλλιστα εἰδότας ὁποῖα ἀγαθά ἐστι. Siehe auch Mem. 1.1.8-9 und 4.7.10; Dorion & Bandini, 2011b, 228 und unten S. 239 ff. ff mit Anm. 25. „Enfi fin, l’enkrateia a certes la préséance par rapport à la karteria, mais elle est ellemême subordonnée à l’autarkeia, qui est la fin ultime poursuivie par le sage“ (Dorion & Bandini, 2000, 70); „[…] une fois ces besoins [alimentaires et sexuels] domptés et limités au strict nécessaire, l’autarkeia ne semble plus un idéal hors d’atteinte“ (ibidem, 126); „[…] la karteria […] et l’enkrateia sont subordonnées à l’autarkeia, en ce qu’elles sont des instruments qui favorisent l’accès à l’auto-suffi ffisance“ (ibidem, 157). Gigons Urteil „Sokrates besitzt die Karteria; aber wie schon die Autarkie und Enkrateia ist auch sie keineswegs ein Selbstzweck. Sie ist nur ein Mittel zur Bewahrung der Unabhängigkeit“ (Gigon, 1953, 156) kommentiert Dorion folgendermaßen: „Mais cette indépendance (‚Unabhängigkeit‘) n’est rien d’autre, justement, que l’autarcie!“ (Dorion & Bandini, 2000, 158). Dorion schreibt aber Gigon solche Inkonsequenz irrtümlicherweise zu, da Gigon nur Sokrates’ Unabhängigkeit vom Geld als ‚Autarkie‘ bezeichnet. Deshalb schreibt er ganz zu Recht, dass Sokrates’ ‚Unabhängigkeit‘ drei Bestandteile habe: Enkrateia – Unabhängigkeit von körperlichen Vergnügungen, Karteria – Unabhängigkeit von äußerlichen Bedingungen, Autarkie – Unabhängigkeit vom Geld. Dorion hat aber eine andere Terminologie: Was Dorion als ‚Autarkie‘ bezeichnet, nennt Gigon ‚Unabhängigkeit‘. Die beiden Forscher haben aber m.E. nicht völlig Recht, wenn sie dies für das Endziel des Xenophontischen Sokrates halten.
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Als Grund für einen solchen Schluss kann m.E. nur die Episode dienen, welcher ich mich im Nachstehenden zuwenden werde, während alle anderen Zusammenhänge, in denen direkt oder indirekt von der Autarkie die Rede ist, m.E. diese Idee nicht aufweisen. So wird in der soeben erwähnten Schilderung von Sokrates’ Beziehungen zu Kritias und Alkibiades gesagt, dass Sokrates’ Armut und seine autarke Lebensweise vielen (oder sogar allen) bekannt waren und dass dies folglich auff ffällig war. Hier gibt es aber nichts, was uns über die Gründe solcher Lebensweise und über die von Sokrates angestrebten Ziele diskutieren lassen könnte: Ein allgemeines Urteil berücksichtigt manchmal nur die oder jene äußerlichen Seiten des menschlichen Lebens und bleibt in Bezug auf ihre inneren Gründe völlig ahnungslos. Auch in den letzten Worten der Memorabilien, wenn Xenophon Sokrates’ intellektuelle Unabhängigkeit erwähnt, können wir keinen Beweis dafür finden, fi dass eben in dieser Selbständigkeit das Glück für Xenophons Sokrates besteht. Dass Sokrates ein glücklicher Mann war, sagt Xenophon erst nach der Aufzählung aller seiner kennzeichnenden Züge83, so dass der Leser den Eindruck gewinnt, dass es diese Gesamtheit von Eigenschaften ft war, die Sokrates glücklich machte, und nicht die Autarkie alleine. Außer diesen zwei Fällen kommen in den sokratischen Schriften ft Xenophons Worte mit dem hier zu betrachtenden Stamm nur noch zweimal vor. In diesem Zusammenhang stellt sich folgende Frage: Wenn der Begriff ff αὐτάρκεια eine so große Bedeutung in der Ethik des Xenophontischen Sokrates hat, wie es Dorion meint, warum benutzt dann Sokrates dieses Wort so selten – im Unterschied z.B. zu dem für ihn äußerst wichtigen Begriff ff ἐγκράτεια, der allein in den Memorabilien 21 Mal vorkommt84? Sokrates selber verwendet dieses Wort im Gespräch mit Kritobulos über Freunde: Man
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Mem. 4.8.11: […] ἐδόκει τοιοῦτος εἶναι οἷος ἂν εἴη ἄριστός τε ἀνὴρ καὶ εὐδαιμονέστατος. Siehe darüber S. 144 ff. ff Sein Urteil von der größeren Bedeutung der Enkrateia gegenüber der Karterie begründet Dorion zum Teil damit, dass über die Karterie viel seltener gesprochen wird, während der Enkrateia außer häufi figen Erwähnungen zwei einzelne Kapitel gewidmet sind: Siehe oben S. 39 Anm. 71. Von der Autarkie ist m.E. im Xenophontischen Text noch seltener die Rede als von der Karterie. Dorion meint anders: „… dans les Mémorables, Xénophon insiste à plusieurs reprises sur l’autarcie de Socrate“ (Dorion & Bandini, 2000, 158 f.). Zur Bestätigung seiner These verweist er auf folgende Passagen: Mem. 1.2.14; 1.2.60; 1.6.10; 4.7.1; 4.8.11 (ibidem, 70 f.). Explizit erwähnt Xenophon Sokrates’ Autarkie nur in zwei der genannten Fälle: Mem. 1.2.14 und 4.8.11 (von diesen beiden siehe oben); in Mem. 1.6.10 kommt dieses Wort nicht vor (die Analyse dieser Passage siehe unten). In den beiden anderen genannten Passagen handelt es sich m.E. um etwas Anderes. So spricht Xenophon in Mem. 1.2.60 darüber, dass Sokrates
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müsse nach Sokrates’ Meinung diejenigen meiden und keineswegs zu Freunde machen, deren Bedürfnisse ihre eigenen Möglichkeiten übersteigen85. Ein solcher Mensch bitte ständig um Hilfe und Unterstützung und könne einen Dienst mit keinem anderen vergelten und sei deswegen ein lästiger Freund. Von der Autarkie ist hier also in dem Sinne die Rede, dass ihr Fehlen bei einem Menschen allen anderen Unbequemlichkeiten verursacht, es wird aber über das Glück eines solchen Menschen selber und über die Abhängigkeit oder Unabhängigkeit seines Glückes von der Selbständigkeit nichts gesagt. Schließlich wird der Begriff ff in einer vierten Bedeutung verwandt: Nach Xenophons Worten kümmerte Sokrates sich um die intellektuelle Autarkie seiner Schüler, d.h. er regte sie zu dem für Menschen notwendigen Wissen an86. An dieser Stelle wird zwar die Wichtigkeit der Autarkie solcher Art betont, aber auch diese Passage lässt uns nicht den Schluss ziehen, dass das Endziel und das Glück des Menschen in der Autarkie besteht. Dieses Kapitel lässt beides vermuten: Sowohl dass vor allem die (intellektuelle) Autarkie wichtig ist als auch dass das Endziel in etwas anderem besteht – es gibt hier m.E. stichhaltige Argumente weder für die eine noch für die andere Hypothese. Es ist übrigens bemerkenswert, dass am Ende desselben Kapitels Xenophon schreibt, dass Sokrates seine Gesprächspartner zur Sorge um ihre Gesundheit anregte, weil kein Arzt das Nützliche für die Gesundheit des Menschen so gut wissen könne wie dieser Mensch selbst87. Wenn der Mensch von Ärzten unabhängig ist, bedeutet das, dass er fähig ist, sich um seine Gesundheit nicht nur selbständig zu kümmern, sondern auch besser (oder wenigstens
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kein Honorar für seine Gespräche verlangte, um zu beweisen, dass er δημοτικός und φιλάνθρωπος war. Und in Mem. 4.7.1 ist davon die Rede, dass Sokrates sich darum kümmerte, dass seine Schüler αὐτάρκεις ἐν ταῖς προσηκούσαις πράξεσιν waren, aber es ist hier keine Rede von Sokrates selbst. In diesem Zusammenhang empfiehlt fi es sich, auch auf Mem. 1.2.1 (πρὸς τὸ μετρίων δεῖσθαι πεπαιδευμένος οὕτως, ὥστε πάνυ μικρὰ κεκτημένος πάνυ ῥᾳδίως ἔχειν ἀρκοῦντα) und 1.3.5 (οὕτω γὰρ εὐτελὴς ἦν, ὥστ’ οὐκ οἶδ’ εἴ τις οὕτως ἂν ὀλίγα ἐργάζοιτο ὥστε μὴ λαμβάνειν τὰ Σωκράτει ἀρκοῦντα) hinzuweisen: In diesen Passagen handelt es sich jedoch m.E. nicht um Sokrates’ Selbständigkeit, sondern um seine äußerst geringen Bedürfnisse, dank deren er sogar mit den geringsten Mitteln gut auskam, aber die Quelle dieses – wenn auch geringen – Einkommens bleibt dennoch unklar. Mem. 2.6.2: τί γάρ; ἔφη, ὅστις δαπανηρὸς ὢν μὴ αὐτάρκης ἐστίν, ἀλλ’ ἀεὶ τῶν πλησίον δεῖται, καὶ λαμβάνων μὲν μὴ δύναται ἀποδιδόναι, μὴ λαμβάνων δὲ τὸν μὴ διδόντα μισεῖ, οὐ δοκεῖ σοι καὶ οὗτος χαλεπὸς φίλος εἶναι; Mem. 4.7.1: […] ὅτι δὲ καὶ τοῦ αὐτάρκεις ἐν ταῖς προσηκούσαις πράξεσιν αὐτοὺς [τοὺς ὁμιλοῦντας αὐτῷ] εἶναι ἐπεμελεῖτο, νῦν τοῦτο λέξω. πάντων μὲν γὰρ ὧν ἐγὼ οἶδα μάλιστα ἔμελεν αὐτῷ εἰδέναι ὅτου τις ἐπιστήμων εἴη τῶν συνόντων αὐτῷ […]. Mem. 4.7.9.
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nicht schlechter) als wenn er von Anweisungen der anderen abhängig wäre. Hier wird also von Unabhängigkeit solcher Art in dem Sinne gesprochen, dass sie nützlich ist. Das bringt den Gedanken, ob ein wenig früher in diesem Kapitel nicht gemeint sein könnte, dass auch die intellektuelle Unabhängigkeit nützlich, d.h. vorteilhaft ft für ihren Besitzer ist. In den letzten zwei kurz betrachteten Episoden handelt es sich in der einen um die materielle Selbständigkeit und in der anderen um die intellektuelle. Dieselbe Korrelation haben wir auch oben in den Passagen gefunden, wo von Sokrates selbst die Rede ist. Die vier Fälle, in denen im Xenophontischen Text ein Wort mit dem Stamm αὐτάρκ- vorkommt, können also in zwei Gruppen geteilt werden: Zweimal wird von Selbständigkeit im Zusammenhang mit Unabhängigkeit von Geld bzw. von anderen materiellen Werten gesprochen und zweimal im Zusammenhang mit der Untersuchung des Problems des Wissens. Aber in keinem von diesen vier Abschnitten, in denen Xenophon explizit von Autarkie schreibt, findet fi sich der Gedanke, dass in der Autarkie das Glück des Menschen und das Ziel seiner Bestrebungen liegen. Es empfiehlt fi sich, andere inhaltlich ähnliche Passagen kurz zu betrachten, in welchen der hier zu behandelnde Begriff ff selbst nicht vorkommt, und hierfür darauf hinzuweisen, in welchen Fällen der Xenophontische Sokrates von der inneren Freiheit oder Unfreiheit des Menschen spricht, auch wenn er sie dabei nicht ‚Autarkie‘ nennt. Es gibt drei solche Fälle, von denen zwei zum Thema der materiellen Werten gehören und einer zum Thema des Wissens. Im folgenden sind alle drei kurz zu behandeln. Sokrates stellt seine Freiheit der Unfreiheit (oder sogar der Sklaverei) der Sophisten gegenüber, weil sie nur gegen Bezahlung unterrichten und deswegen in Abhängigkeit von ihren Schülern geraten, während Sokrates in seiner Wahl der Gesprächspartner frei ist, weil er von niemandem eine Bezahlung erhält88. Es war aber oben am Anfang dieses Kapitels davon die Rede, dass Sokrates sich mit seinen Gesprächspartnern ohne Bezahlung nicht unterhält, um selbständig, d.h. unabhängig von anderen, zu sein, sondern, weil Freundschaft ft zwischen ihm und seinen Gesprächspartnern nur in diesem Fall möglich sei. Von der ‚Freiheit‘ und ‚Sklaverei‘ spricht Sokrates hier nur, um den möglichen Vorwurf der Sophisten abzuwehren, der in den Memorabilien von Antiphon ausgesprochen wird, der behauptet, dass das Geld den Menschen freier leben lasse89.
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Mem. 1.2.6; 1.5.6; 1.6.5. Mem. 1.6.3: ἃ [sc. χρήματα] καὶ κτωμένους εὐφραίνει καὶ κεκτημένους ἐλευθεριώτερόν τε καὶ ἥδιον ποιεῖ ζῆν.
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Zum anderen spricht Sokrates von der Freiheit und der Unfreiheit des Menschen, wenn er über die Notwendigkeit der Enthaltsamkeit diskutiert: Die Enthaltsamen hält er für frei, die Unmäßigen bezeichnet er hingegen als Sklaven, die von den körperlichen Vergnügungen abhängig sind90. Im nachstehenden Kapitel II wird die Frage der Notwendigkeit der Enthaltsamkeit ausführlich erörtert: Enkrateia ist nicht für die innere Zufriedenheit des Menschen erforderlich, d.h. nicht für die Befreiung von Wünschen, sondern um des Wissens willen, denn ohne Enthaltsamkeit kann man kein Wissen erwerben. Und schließlich bezeichnet Sokrates diejenigen als Sklaven, die das die Tugend bildende Wissen nicht besitzen91. Man kann nur vermuten, wer für den ‚Herrn‘ eines solchen Sklaven angesehen wird – ob die das Wissen besitzenden Menschen damit gemeint sind –, aber das wichtigste ist (wie es im nachstehenden Kapitel III besprochen wird), dass der Mensch nicht dafür das Wissen letzten Endes braucht, um unabhängig und selbständig zu sein, sondern dafür, um zu seinem Nutzen handeln zu können, weil nur der Wissende Nützliches von Schädlichem unterscheiden kann. Folglich spricht Xenophons Sokrates von der Bedeutsamkeit der Unabhängigkeit als solcher in keinem der betrachteten Fälle. Unabhängigkeit (= Autarkie) ist jedes Mal nicht das Endziel der Bestrebungen, sondern ein Mittel, d.h. ein notwendiges Instrument, für das Erreichen irgendeines Ziels. Nach dieser knappen Untersuchung des Xenophontischen Textes hinsichtlich des Problems der Autarkie im Ganzen ist jetzt Dorions Hauptargument – und wie es aus allem Gesagten folgt, das einzig mögliche Argument – zu betrachten: Den Grund für seine Auff ffassung findet er in den folgenden Worten des Sokrates in dessen schon mehrmals erwähnten Gespräch mit Antiphon: ἔοικας, ὦ Ἀντιφῶν, τὴν εὐδαιμονίαν οἰομένῳ τρυφὴν καὶ πολυτέλειαν εἶναι· ἐγὼ δὲ νομίζω τὸ μὲν μηδενὸς δεῖσθαι θεῖον εἶναι, τὸ δ’ ὡς ἐλαχίστων ἐγγυτάτω τοῦ θείου, καὶ τὸ μὲν θεῖον κράτιστον, τὸ δ’ ἐγγυτάτω τοῦ θείου ἐγγυτάτω τοῦ κρατίστου92.
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Mem. 1.3.11; 1.6.8; 4.5.4. Mem. 1.1.16; 4.2.22; 4.2.39. Mem. 1.6.10: „Es scheint, mein lieber Antiphon, du setzt Glückseligkeit gleich Üppigkeit und Verschwendung. Ich aber halte es für göttlich, gar nichts zu gebrauchen, so wenig wie möglich aber für sehr nahe dem Göttlichen. Und das Göttliche ist das Beste, das dem Göttlichen Nächste aber das dem Besten Nächste.“ Siehe Dorions Komffi pas expressément, il faut sans doute commentar dazu: „Même si le texte ne l’affirme prendre que Socrate considère que le bonheur véritable consiste en l’auto-suffi ffisance“
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Einerseits sei das Glück ein Zustand der Zufriedenheit, d.h. glücklich sei derjenige, der vollkommen zufrieden sei und keiner Sache bedürfe. Andererseits sei die Bedürfnislosigkeit das Zeichen der Gottheit. Da den Göttern aber das Glück eigen sei, bestehe das Pfand des menschlichen Glücks in der höchstmöglichen Beschränkung der Bedürfnisse (denn im Unterschied zu der Gottheit könne der Mensch sich nicht von den Bedürfnissen völlig befreien). So Dorion, wenn ich seine Erläuterung hier kurz zusammenfassen darf. Ganz zu Recht bezieht sich Dorion auf Platon und Aristoteles wie auf andere Quellen; die Frage ist aber, ob es berechtigt und angemessen ist, die Gleichung von Glück und Autarkie in gleichem Maße auch dem Xenophontischen Sokrates zuzuschreiben. Dies ist m.E. nicht der Fall. Im zitierten Abschnitt resümiert Sokrates zunächst die Stellung des Gegners: „Das Glück bestehe in Pracht und Luxus“ – und danach geht er sofort über zur Darstellung seiner eigenen Meinung (ἐγὼ δὲ νομίζω – der Kontrast zwischen den Diff fferenzen wird durch Verwendung des Pronomens betont). Beachtenswert ist aber, dass er das Wort ‚Glück‘ nicht mehr ausspricht und in seinen Ausführungen von der rechten Seite der Gleichung des Gesprächspartners „Glück = Pracht“ ausgeht (m.E. vergleicht Sokrates τρυφὴν καὶ πολυτέλειαν einerseits und τὸ μηδενὸς δεῖσθαι andererseits). Sokrates’ Gedankengang lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Keine Bedürfnisse zu haben bedeutet vollkommen zu sein, möglichst wenige Bedürfnisse zu haben ist folglich ein Pfad des Seins in der Nähe von Vollkommenheit. Vollkommen ist die Gottheit: Sie benötigt nichts; es gibt nichts, an dem sie einen Mangel empfi finden könnte; in der Gottheit gibt es schon alles. Vollkommenheit ist also Vollständigkeit. In diesem Zitat beschreibt Sokrates zwei mögliche Wege zu einem solchen Zustand der Vollständigkeit: Antiphons Weg und seinen eigenen. Antiphon und die meisten Menschen haben viele Bedürfnisse, und ihre Methode zur Erreichung der Vollständigkeit besteht daher in der Jagd nach der Befriedigung all dieser zahlreichen Wünsche (unter anderem durch Prachtentfaltung und Ausschweifung). Sokrates’ Methode ist anders: Er reduziert seine Bedürfnisse auf ein mögliches Minimum und macht sich damit von der Notwendigkeit, ihnen eine Befriedigung zu suchen, (fast) frei93. Letzten Endes führen beide Wege, sowohl der des Antiphon als auch
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(Dorion & Bandini, 2000, 157). Bevilacqua teilt diese Meinung: „… [l’autosufficienza] ffi costituisce per l’uomo la condizione più vicina possibile al divino e, anche se Senofonte non lo afferma ff esplicitamente, finisce per coincidere con la felicità“ (Bevilacqua, 2010, 361 f.; Hervorhebung in beiden Zitaten von mir). Auf dieselbe Weise macht Sokrates sich selbst ‚reich‘: Siehe oben S. 10 Anm. 4.
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der des Sokrates, potenziell zu demselben Ergebnis: Die vollständige und stetige Befriedigung aller zahlreichen Bedürfnisse ist mit der Verneinung der Bedürfnisse und ihrer Absenz logischerweise identisch. Der Zustand der Vollständigkeit, wenn es keine unbefriedigten Bedürfnisse gibt, ist aber ein autarkischer Zustand. Vollkommenheit ist folglich Autarkie (bemerkenswert ist immerhin, dass Sokrates in diesem Zusammenhang dieses Wort nicht verwendet). Es wäre dennoch voreilig, einen Schluss über das Endziel der Bestrebungen des Sokrates und über sein Glück zu ziehen, weil Xenophon und sein Sokrates – wie es oben demonstriert wurde – materielle und intellektuelle Autarkie unterscheiden, während Sokrates in der soeben behandelten Episode offensichtlich ff nur von der materiellen Autarkie spricht. Und es handelt sich hier nicht nur um die Gesamtthematik des Gesprächs mit Antiphon, sondern auch darum, dass Sokrates’ beschriebene Methode für die Erreichung der intellektuellen Vollständigkeit völlig untauglich ist: Das Bedürfnis nach dem Wissen ist off ffenkundig extensiv, in diesem Fall ist es daher unmöglich, Vollständigkeit (= Vollkommenheit = Autarkie) im Wege der Verneinung des Bedürfnisses als solches und durch seine Beseitigung zu erreichen. Es ist daher kein Zufall, dass Dorion zur Reduzierung der Autarkie des Xenophontischen Sokrates auf ausschließlich materielle Autarkie verweist94: Hier ist Sokrates’ Methode verwendbar, sie wird aber sofort ungeeignet, sobald die Rede auf die intellektuelle Seite kommt. Das bedeutet nicht, dass Xenophons Sokrates nach der intellektuellen Vollständigkeit nicht strebt, das bedeutet aber, dass er danach auf andere Weise streben muss. In Kapitel III dieser Arbeit soll ausführlich besprochen werden, dass als potenzielles Endziel der Bestrebungen des Sokrates bei Xenophon der Zustand von intellektueller Vollkommenheit bezeichnet werden kann, d.h. die absolute intellektuelle Vollständigkeit, der Zustand, wenn man alles weiß, wenn alle Bedürfnisse nach Wissen völlig befriedigt sind. Bestände aber Sokrates’ Glück in der absoluten (intellektuellen) Autarkie, könnte er nicht glücklich sein, da er – wie oben erwähnt – das Wissen von allem nicht be-
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Dorion & Bandini, 2000, 71: „Pour autant qu’elle concerne exclusivement les moyens de subsistance, l’autarcie du Socrate de Xénophon est de nature strictement matérielle.“ Intellektuelle Autarkie steht nach Dorions Meinung im Widerspruch zu dem, was Xenophon über Sokrates’ Frömmigkeit schreibt (Dorion & Bandini, 2011b, 228; siehe oben S. 41 Anm. 81). M.E., wie schon angedeutet, besitzt der Xenophontische Sokrates sowohl die eine als auch die andere Art der Autarkie, aber die beiden nicht in vollem Maße.
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sitzt. Doch ist m.E. Xenophons Sokrates glücklich: Für sein Glück braucht er die intellektuelle Autarkie nicht; um glücklich zu sein, hat er es nicht nötig, sein Endziel erreicht zu haben, es genügt ihm, zu empfinden, fi dass er auf dem Wege zum Ziel geht95. Es ist nicht zufällig, dass auch in der oben zitierten Antwort von Sokrates aus dem Gespräch mit Antiphon, in welcher es sich um die materielle Autarkie handelt, Sokrates – wie schon angedeutet – vom Glück nicht spricht, wenn er seine eigene Stellung darstellt: Hätte er nicht gesagt, dass die Gottheit vollkommen ist, sondern dass die Gottheit glücklich ist, ergäbe es sich, dass seine Methode ihn nah an das Glück heranführt; in der Nähe vom Glück zu sein bedeutet aber noch nicht, glücklich zu sein96. Der Xenophontische Sokrates scheint mir in allen diesen wichtigen Bereichen inhaltlich äußerst fein zu nuancieren. Nach Dorions Meinung, wie oben schon erwähnt wurde, ist die Enthaltsamkeit des Xenophontischen Sokrates für die materielle Autarkie nötig; m.E. aber ist die Enthaltsamkeit eine notwendige Bedingung der Möglichkeit, nach der intellektuellen Autarkie zu streben97, während die materielle Autarkie nicht das Ziel der Bestrebungen, sondern ein Nebenprodukt der Enthaltsamkeit ist. Nebenbei sei bemerkt, dass dieses ‚Nebenprodukt‘ nicht wertlos ist: Die materielle Autarkie ist nützlich. Ihre Nützlichkeit ist der Bequemlichkeit des Tanzes als einer Art sportlicher Tätigkeit ähnlich: Nach Sokrates’ Behauptung ist das Tanzen deswegen gut, weil man keinen Partner für diese Aktivität brauche, der Tanzende sei von niemandem abhängig, es sei daher leicht und einfach, diesen ‚Sport‘ zu betreiben98. Als Folge – und gleichzeitig m.E. als indirekter Beweis – der These, Th dass die materielle Au-
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Ausführlich darüber siehe S. 144 ff. In diesem Zusammenhang ist zu bemerken, dass in der Auff ffassung Dorions, in welcher das Glück mit der materiellen Autarkie gleichgesetzt ist, Xenophons Sokrates nicht bedingungslos glücklich sein kann, weil er die (materielle) Autarkie nicht in vollem Maße besitzt. Oder genügt es, so viel von materieller Autarkie (allein) zu haben, wie viel sie Sokrates hat, damit der Mensch glücklich wird, da „l’autarcie humaine n’est jamais absolue“ (Dorion & Bandini, 2011b, 218)? Wie viel soll dann der Mensch an Selbständigkeit haben, um glücklich sein zu können? Welches Minimum an Selbständigkeit ist notwendig für das Glück? Denn der unmäßige Mensch ist fähig, sich nur um Befriedigung seiner körperlichen Wünsche zu kümmern, und ist nicht imstande, Wissen zu erwerben: Siehe darüber S. 57 ff ff. Symp. 2.18: ἢ ἐπ’ ἐκείνῳ γελᾶτε, ὅτι οὐ δεήσει με συγγυμναστὴν ζητεῖν […]; Freilich hat diese Passage im Symposion einen scherzhaft ften Charakter, aber jeder Scherz hat
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tarkie nicht das Endziel, sondern eine Nebenwirkung ist, dient die Tatsache, dass es keine rationale Erklärung der Notwendigkeit der materiellen Autarkie im Xenophontischen Text gibt, welche es im Gegenteil sowohl für Enkrateia als auch Karterie gibt, wie oben gezeigt wurde99 (oder solche rationale Begründung ist einzig für Enkrateia und die von ihr abhängige materielle Autarkie vorhanden, aber in diesem Fall ist es schwierig, die Letztere von der Ersten zu unterscheiden). Sokrates’ Worte über τὸ θεῖον (es sei göttlich, nichts zu bedürfen, derjenige sei folglich dem Göttlichen näher, der weniger Bedürfnisse habe) sind noch ein Argument zur Verteidigung der Enthaltsamkeit in Sokrates’ Widerlegung der Stellung Antiphons: Enthaltsamkeit bringe nicht nur das Vergnügen (das Leben des enthaltsamen Menschen sei deshalb trotz der üblichen Meinung keineswegs weniger angenehm als das Leben des unmäßigen Menschen), sondern sei auch dem göttlichen Zustand ähnlich, während die unmäßige Lebensweise hingegen dem tierischen Zustand ähnele100. Außerdem ist zu beachten, dass Sokrates mit keinem Wort zu verstehen gibt, dass es die materielle Vollständigkeit (= Autarkie) ist, wonach er strebt; er sagt nur, dass er sich de facto (dank seiner Enthaltsamkeit) in solchem Zustand befi finde. Bestände das Endziel von Sokrates’ Bestrebungen in der materiellen Autarkie, dann hätte Selbstverbesserung, in der er doch 101 das größte Vergnügen für sich findet fi , für ihn keinen Wert. So wäre es kein Fehler, zu behaupten, dass Autarkie, wenn auch mit dem oben genannten Vorbehalt, eine kennzeichnende Eigenschaft ft des Xenophon-
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einen ernsthaft ften Teil: „Der scherzhaft fte Charakter des ganzen Abschnittes liegt off ffen zutage […]. Dass dennoch manches Mißverständnis entstehen konnte, liegt daran, dass X., wie so oft ft in Symp., in die scherzhaft fte Erörterung und den neckischen Wortwechsel viele Motive abwandelnd integriert, die sonst in völlig ernsthaftem ft Zusammenhang auft ftreten“ (Huß, 1999a, 147). Vgl. auch Mem. 4.7.9 oben S. 43 mit Anm. 87, wo davon die Rede ist, dass es besser ist, von Ärzten nicht abhängig zu sein. Außerdem sind Bescheidenheit der Bedürfnisse und materielle Selbständigkeit auch deswegen nützlich, weil sie den Menschen in dem Fall weniger empfindlich fi machen, wenn äußere Verhältnisse schlechter werden: Apol. 18, vgl. auch Mem. 3.14.6 und 1.3.15. Aus diesem Grund können diese Eigenschaften ft des Xenophontischen Sokrates – Gigons Urteil zuwider – m.E. zu Recht als ‚philosophisch‘ bezeichnet werden: „Diese Dinge bilden unverkennbar eine Einheit, aber gerade sie haben den von Platon herkommenden Leser seit jeher aufs stärkste befremdet. Denn was da herauskommt, ist ein Bild asketischer Tüchtigkeit, das mit Moralität in einem philosophischen Sinne so gut wie nichts zu tun hat“ (Gigon, 1953, 26). Siehe z.B. Mem. 4.5.11: Τί γὰρ διαφέρει, ἔφη, ὦ Εὐθύδημε, ἄνθρωπος ἀκρατὴς θηρίου τοῦ ἀμαθεστάτου; ὅστις γὰρ τὰ μὲν κράτιστα μὴ σκοπεῖ, τὰ ἥδιστα δ’ ἐκ παντὸς τρόπου ζητεῖ ποιεῖν, τί ἂν διαφέροι τῶν ἀφρονεστάτων βοσκημάτων; Mem. 1.6.8-9; siehe darüber S. 149 mit Anm. 140 und S. 190.
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tischen Sokrates ist. Für die Beschreibung der Grundsätze seiner Lebensführung genügen m.E. zwei Begriffe ff 102: Enkrateia und Karterie, da materielle Autarkie eine Folge der Enkrateia (und folglich keine grundlegende Eigenschaft ft) ist und intellektuelle Autarkie ein potenzielles Endziel von Sokrates’ Bestrebungen (und kein Zug seiner Lebensweise) darstellt. Die Schilderung von Sokrates’ Lebensweise erfüllt mehrere Aufgaben im Xenophontischen Text. Indem Xenophon Sokrates’ Gewohnheit betont, kein Honorar für seine Gespräche zu verlangen, stellt er ihn den so genannten ‚Sophisten‘ gegenüber und schützt ihn davor, der üblichen Kritik der ‚Sophisten‘ auch unterzogen zu werden. Indem Xenophon Sokrates’ Anspruchslosigkeit und Askese zeigt, versucht er die Anklage zu widerlegen, dass Sokrates die Jugend verdarb. Außerdem demonstriert Sokrates’ Lebensweise seine Ganzheit, d.h. die Einheit von seinen Worten und seinen Taten. Damit verleiht der Autor den theoretischen Ansichten und Äußerungen seines Sokrates Überzeugungs- und Lebenskraft. ft Und schließlich unterscheidet die logisch-rationale Grundlage von Sokrates’ Verhalten ihn von anderen Asketen: Die Besonderheit (der literarischen Gestalt) des Sokrates besteht nicht in seinen Handlungen als solchen, die für jeden aus irgendwelchen Gründen bescheidenen Menschen kennzeichnend sein können, sondern in der rationalen Motivierung dieser Handlungen.
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Vgl. oben S. 39 f. Anm. 74.
II Enkrateia und Akrasia Enkrateia und Akrasia sind grundlegende Schlüsselwörter, zwei AntonymBegriffe ff in der Ethik des Xenophontischen Sokrates: Enkrateia ist die Selbstbeherrschung, die Enthaltsamkeit, Akrasia ist ein Fehlen von oder Mangel an Enkrateia. Andererseits bedeutet Akrasia als philosophischer Begriff ff die bewusste Wahl des Schlechteren aus den jeweils vorhandenen Alternativen. Obwohl Sokrates bei Xenophon das Wort „Akrasia“ in dieser Bedeutung nicht verwendet, betrachtet er dennoch das Problem selbst und behauptet, die bewusste Wahl des Bösen sei unmöglich.
1. Problemstellung. Enkrateia als Grundlage der Tugend Auf den ersten Blick kann es scheinen, dass der Xenophontische Sokrates sich selber widerspricht: An einer Stelle behauptet er, man könne nicht bewusst das Schlechtere wählen, an einer anderen aber, dass man doch das Schlechtere bewusst wählen könne. Um eine Lösung dieses Widerspruches in der Folge zu finden zu versuchen, muss zuerst die Aussage untersucht werden, dass Enkrateia die Grundlage der Tugend ist.
Nach der Behauptung des Xenophontischen Sokrates kann der, der Wissen vom Guten hat, nicht seinem Wissen entgegen handeln: ἔφη δὲ καὶ τὴν δικαιοσύνην καὶ τὴν ἄλλην πᾶσαν ἀρετὴν σοφίαν εἶναι. τά τε γὰρ δίκαια καὶ πάντα ὅσα ἀρετῇ πράττεται καλά τε κἀγαθὰ εἶναι καὶ οὔτ’ ἂν τοὺς ταῦτα εἰδότας ἄλλο ἀντὶ τούτων οὐδὲν προελέσθαι […]1.
Aus der Gleichheit der Tugend und des Wissens folgt die These, dass jede untugendhafte ft Handlung von Mangel an Wissen herrührt, mit anderen Worten – aus Unwissenheit ausgeführt wird. An einer anderen Stelle tätigt aber Sokrates im Gespräch mit Euthydemus eine Äußerung, die zu dieser These Th im krassen Widerspruch zu stehen scheint: σοφίαν δὲ τὸ μέγιστον ἀγαθὸν οὐ δοκεῖ σοι ἀπείργουσα τῶν ἀνθρώπων ἡ ἀκρασία εἰς τοὐναντίον αὐτοὺς ἐμβάλλειν; ἢ οὐ δοκεῖ σοι προσέχειν τε τοῖς
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Mem. 3.9.5: „Er behauptete, die Gerechtigkeit und alle andere Tugend sei Wissen. Denn das Gerechte und alles, was mit Tugend getan wird, sei untadelig. Und wer dies wisse, ziehe diesem nichts anderes vor […].“ Auf den Begriff ff der Tugend wird im Kapitel III zurückzukommen sein.
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Enkrateia und Akrasia ὠφελοῦσι καὶ καταμανθάνειν αὐτὰ κωλύειν, ἀφέλκουσα ἐπὶ τὰ ἡδέα, καὶ πολλάκις αἰσθανομένους τῶν ἀγαθῶν τε καὶ τῶν κακῶν ἐκπλήξασα ποιεῖν τὸ χεῖρον ἀντὶ τοῦ βελτίονος αἱρεῖσθαι2;
Wenn man den zweiten Teil dieses Passus so versteht, dass der Mensch sich in einem solchen Zustand befi finden kann, dass er das Schlechtere statt des Besseren wählt, indem er doch versteht, was gut und was schlecht ist, dann widerspricht dieser Gedanke heft ftig der zuerst zitierten Passage. Einerseits wird behauptet, dass Tugend Wissen ist: Wenn der Mensch keine richtige Wahl zwischen dem Bösen und dem Guten trifft fft, ist es ein Fall des Mangels an Wissen, d.h. die falsche Wahl wird aufgrund eines Irrtums, des Fehlens des Wissens vom Guten getroff ffen. Andrerseits wird gesagt, dass der Mensch das Schlechte dem Guten wissentlich vorziehen, d.h. bewusst seinem Wissen vom Guten zuwider handeln kann. Um diesen scheinbaren Widerspruch zu bemerken, braucht man aus dem Rahmen der Memorabilien nicht hinauszugehen, es genügt, die Formulierungen οὔτ’ ἂν τοὺς ταῦτα εἰδότας ἄλλο ἀντὶ τούτων οὐδὲν προελέσθαι aus dem ersten Zitat und πολλάκις αἰσθανομένους τῶν ἀγαθῶν τε καὶ τῶν κακῶν τὸ χεῖρον ἀντὶ τοῦ βελτίονος αἱρεῖσθαι aus dem zweiten gegenüberzustellen. Im Folgenden wird in diesem Kapitel außerdem noch eine Passage behandelt, in welcher es um das Problem der Möglichkeit der absichtlichen Wahl des Bösen geht3; wenn wir also diese Frage in den sokratischen Schrift ften Xenophons untersuchen, übertragen wir in unsere Analyse keine ihnen fremde Fragestellung aus den anderen uns bekannten Texten4: Das Wesen dieses Problems lässt sich gerade in den Memorabilien finden, das Einzige was wir – für Vereinfachung und Verkürzung der Formulierungen – in unsere Untersuchung hineinbringen ist der Begriff ff der Akrasia in seiner in der Philosophie üblichen Bedeutung als „Handeln wider besseres Wissen.“
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Mem. 4.5.6: „Bist du nicht der Ansicht, dass die Unbeherrschtheit die Menschen von der Weisheit, dem höchsten Gut, fernhält und in das Gegenteil stürzt? Oder meinst du nicht, dass sie die Menschen daran hindert, den Blick auf nützliche Dinge zu richten und sie zu lernen, weil sie immer nur zum Genuss hinführt, und dass sie häufi fig, nachdem sie die Aufnahmefähigkeit des Menschen für das Gute und das Schlechte verwirrt, ihn das Schlechte statt des Guten zu wählen nötigt?“ Mem. 3.9.4, siehe unten. Dem Leser kann es scheinen, dass meine Fragestellung in diesem Kapitel von der Thematik der Dialoge Platons geprägt ist. In den frühen Platonischen Dialogen verneint Sokrates die Möglichkeit der Nichtübereinstimmung zwischen dem Wissen des Menschen und seinem Verhalten. Deshalb ist es seiner Meinung nach unmöglich, dass derjenige, der weiß, was gut und was schlecht ist, unter dem Einfluss fl seines Ver-
Problemstellung
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Gregory Vlastos hat in der zweiten zitierten Passage die Bestätigung der Möglichkeit der Akrasia gesehen5 und folgende Lösung des in diesem Fall
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langens nach Genüssen dennoch eine schlechte Handlung ausführt (Pl. Prt. 352b-c und 355a-b). Eine Defi finition des Begriff ffs Akrasia gibt Aristoteles in seiner Nikoma( Nic. Eth. 1145b 21-27): Akrasia ist nicht einfach Unmäßigkeit chischen Ethik (Arist. als eine gegensätzliche Eigenschaft ft der Mäßigkeit; Akrasia ist aber auch kein Fehler des Urteils: Wenn der Mensch danach strebt, was ihm eigentlich Schaden bringt, aber er selbst dabei denkt, es sei ihm nützlich und gut, ist das kein Fall der Akrasia, sondern Mangel an Wissen. Akrasia hingegen ist ein absichtliches Streben nach dem, was man selbst für schädlich und schlecht hält. Der Platonische Sokrates behauptet, dass dies unmöglich ist. Zur Illustration dieses Gedankens des Platonischen Sokrates kann ein Beispiel von Brickhouse und Smith angeführt werden, welches die von Aristoteles dargestellte Situation anschaulich beschreibt (Brickhouse & Smith, 1994, 93 ff.; vgl. auch Arist. Nic. Eth. 1147a24 ff.): Der Mensch, der keine Süßigkeiten essen darf, sieht eine Pralinenschachtel. Er weiß, dass diese Pralinen Pralinen (und nicht Beeren, z.B.) sind, er weiß, dass sein Arzt ihm verboten hat, Süßigkeiten zu essen, und er weiß, dass diese Pralinen seiner Gesundheit Schaden zufügen; aber trotz allem isst er sie, weil er denkt, dass der von Pralinen bereitete Genuss in diesem Augenblick ihm viel wichtiger als der zukünft ftige Schaden sei. Die Freude in diesem Augenblick überwiegt also seiner Meinung nach den zukünft ftigen Nachteil. Sokrates im Platonischen Protagoras untersucht eine ähnliche Situation: Ein und dasselbe Ding scheint aus der Nähe größer und aus der Ferne kleiner zu sein; derjenige, der in einer solchen Situation das Vergnügen der Enthaltsamkeit vorzieht, denkt also irrtümlich, dass das, was er vor seinen Augen hat, größer ist als das, was von ihm weit entfernt ist (Pl. Prt. 356c-d). Der Platonische Sokrates behauptet, dass, wenn der Mensch Lust und Genuss gegenüber Wohl und Nutzen bevorzugt, dies immer dann der Fall ist, wenn er keine richtige Vorstellung von der wirklichen Sachlage hat. Irrtümlicherweise – wegen des Mangels an Wissen – wird dem Vergnügen größere Bedeutung zugeschrieben als es in Wirklichkeit hat. Das Vergnügen am Essen wird vom Menschen als etwas Gutes empfunden, während es in Wirklichkeit nichts Gutes ist. Wenn der Mensch das Böse dem wirklichen Guten vorzieht, bedeutet das immer, dass es ihm an Wissen über das Gute und das Böse mangelt. In diesem System gibt es keinen Platz für Akrasia: Erkennt man das Gute, kann man nur diesem entsprechend handeln; macht man aber etwas dem Guten zuwider, zeigt das, dass die Vorstellung vom Guten und Schlechten nicht fehlerfrei ist – in diesem Fall hat man kein Wissen, sondern nur eine Illusion des Wissens. Bemerkt sei auch, dass es in der Lehre, der zufolge alle Handlungen vom Wissen (und vom Mangel an Wissen) bestimmt werden, nicht nur für Akrasia, sondern auch für Enkrateia keinen Platz gibt: Wenn Akrasia nicht existiert, ist der Begriff ff der Enkrateia unnötig. Deswegen kommt das Wort ἐγκράτεια in Platons früheren Dialogen nie vor, wie Vlastos hervorhebt (Vlastos, 1983, 514; siehe auch Dorion & Bandini, 2000, 149 und 2011b, 171 f. und Dorion, 2003a, 646 f. und 2004a, 87 f.). Mehr über Akrasia siehe z.B. Bobonich & Destrée, 2007. Vlastos, 1991, 100: „Xenophon’s Socrates here is made to teach in propria persona the popular view which Plato’s Socrates rebuts at length (Prt. 355a-b et passim), that
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Enkrateia und Akrasia
entstandenen Widerspruches vorgeschlagen: Wenn Xenophons Sokrates an einer Stelle die Möglichkeit der Akrasia verneint, an einer anderen aber zugibt, dann liegt die Ursache der Verwirrung im Sinn des Wortes ἀκρασία im zweiten Abschnitt. Folgende Auff ffassung des Begriff ffs kann, nach Vlastos, den Widerspruch beheben: Bei Xenophon bedeutet ἀκρασία nicht ‚incontinence‘ (d.h. die Fähigkeit, wissentlich das Schlechtere zu wählen), sondern ‚intemperance‘ (= ἀκράτεια, Unmäßigkeit, das Gegenteil der Enthaltsamkeit): „On that view no one is incontinent: the unwise and intemperate are no more incontinent than are the wise and temperate: the former too choose what they judge to be their best option; the trouble with them is not that their choice goes contrary to their judgement, but that their judgement is at fault“6. Derjenige, der in der Befriedigung seiner Wünsche kein Maß halten kann (= intemperate), kann das Schlechte dem Guten bewusst ebenfalls nicht vorziehen (= incontinentt sein), denn ein solcher Mensch strebt, wie alle Menschen, nach seinem Wohl; deshalb ist seine falsche Wahl, wie immer, die Folge seines Unwissens, was das Gute und was das Böse ist. Zu Recht hat Vlastos über die Bedeutung des Wortes ἀκρασία bei Xenophon nachgedacht, in seiner Interpretation ist es jedoch dabei geblieben, dass in den Worten αἰσθανομένους τῶν ἀγαθῶν τε καὶ τῶν κακῶν ἐκπλήξασα ποιεῖν τὸ χεῖρον ἀντὶ τοῦ βελτίονος αἱρεῖσθαι in Mem. 4.5.6 die Möglichkeit der Akrasia als bewusste Wahl des Schlechteren behauptet wird. Mangelnde Überzeugungskraft ft seiner Auff ffassung erklärt Vlastos dadurch, dass man eine klare Darlegung dieses Problems in den Schrift ften Xenophons nicht finden könne, höchstwahrscheinlich weil Xenophon selbst es nicht gut verstanden habe: „This Th [sc. die Auff ffassung von ἀκρασία als ‚intemperance‘] would clear Xenophon of rank confusion, leaving us with a milder complaint: that nowhere in his elucidation of the Socratic view does he warn us, probably because he does not understand it himself, that the Socratic view denies the possibility of incontinence not only to the temperate but to the intemperate as welll […]“7. In letzter Zeit hat dem Problem der Akrasia bei Xenophons Sokrates eine sorgfältige Aufmerksamkeit Louis-André Dorion gewidmet8. Nach seiner
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a man who knows the good may nonetheless act against it because he is ‘stunned’ (ἐκπληττόμενος, 355b1) by pleasure.“ Vlastos, 1991, 101. Vgl. auch Morrison, 2008, 22: „Le Socrate de Xénophon croit que personne n’est incontinent, mais il croit que beaucoup de gens souffrent ff d’akrasia.“ Vlastos, 1991, 101. Vgl. auch Bevilacqua, 2010, 141: „[...] IV, 5, 6, che rivela tutta la diffi fficoltà di Senofonte a comprendere fino in fondo la tesi dell’identità di virtù e conoscenza, un paradosso così lontano da quel robusto senso comune a cui Senofonte è solidamente attaccato.“ Dorion, 2003a; siehe auch Dorion & Bandini, 2011b, 173 ff. ff Vor Dorion in den letzten Jahren hat dieses Problem Gerhard Seel betrachtet: zuerst in seinem Vortrag 2001
Problemstellung
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Vermutung hat Vlastos den Anfang dieser Streitpassage außer Acht gelassen (Vlastos schließt in der Tat die Worte σοφίαν δὲ … αὐτοὺς ἐμβάλλειν in sein Zitat nicht ein) und nur die nachfolgenden Worte bei seiner Interpretation in Betracht gezogen. Dorion behandelt aber den ganzen Abschnitt und schlägt folgende Interpretation vor: Wenn ἀκρασία den Menschen von der Weisheit trennt, dann kann der ἀκρατής nicht wissen, was gut und was schlecht ist; das Einzige, worüber ein solcher Mensch verfügt, sei eine gewisse Empfindung fi (‚perception‘) vom Guten und vom Bösen (das sei im Partizip αἰσθανομένους ausgedrückt). Der Mensch handle also nicht seinem Wissen entgegen, welches er nicht habe, sondern seiner Wahrnehmung zuwider9. Es gebe folglich nach der Meinung Dorions keinen Widerspruch zwischen den beiden zitierten Passagen aus den Memorabilien. Es empfi fiehlt sich, den Hauptgedanken der Auff ffassung Dorions näher zu betrachten. Er betont mit Recht die große Bedeutung des Begriff ffes ἐγκράτεια in der Ethik des Xenophontischen Sokrates und weist auf zwei mögliche Deutungen seines Urteils hin, dass die Selbstbeherrschung Grundlage der Tugend ist: ἆρά γε οὐ χρὴ πάντα ἄνδρα, ἡγησάμενον τὴν ἐγκράτειαν ἀρετῆς εἶναι κρηπῖδα, ταύτην πρῶτον ἐν τῇ ψυχῇ κατασκευάσασθαι10;
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auf der internationalen Tagung über Sokrates in Athen, der dann 2004 als Aufsatz im Tagungsband veröffentlicht ff wurde, der seinerseits 2008 leicht überarbeitet auf Französisch wieder erschienen ist (Seel, 22006 und 2008); aus unerfindlichen fi Gründen erwähnt Dorion diesen Beitrag nicht. Dieses Thema Th wird außerdem in einem Aufsatz von Donald Morrison betrachtet (Morrison, 2008); und ausführlich geht auf diese Frage in der Einleitung zu ihrem Kommentar Fiorenza Bevilacqua ein (Bevilacqua, 2010, 137-153). Nach den Auff ffassungen von Dorion, Seel und Morrison gibt es im Text Xenophons keinen Widerspruch (ich vertrete dieselbe Meinung, wie sich aus dem Folgenden ergeben wird), Bevilacqua dagegen folgt Vlastos’ Interpretation und behauptet, dass Xenophon zu kombinieren versucht was sich nicht kombinieren lässt, und zwar: die These der Gleichheit von Tugend und Wissen einerseits und die Meinung, dass Enkrateia die Grundlage der Tugend ist, andererseits (Bevilacqua, 2010, 141-146). Dorion, 2003a, 660 und Dorion & Bandini, 2011b, 174: „Or si l’akrasia les tient éloignés de la sophia [...], comment pourraient-ils savoir, au sens fort du terme, ce qui est bien ou mal ? Étant exclus de la sophia en raison de leur akrasia, ils n’ont tout au plus qu’une certaine perception du bien et du mal [...], et c’est précisément cette perception, et rien de plus […], qui peut être brouillée par l’akrasia, laquelle leur fera ainsi choisir le pire au lieu du meilleur.“ Mem. 1.5.4: „Muss nicht jeder Mann, nachdem er sich eine Meinung gebildet hat, die Selbstbeherrschung sei die Grundlage der Tugend, diese vor allem in seiner Seele heranziehen?“
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Enkrateia und Akrasia
Die ἐγκράτεια sei eine notwendige Bedingung entweder der Ausübung der Tugend (‚exercice‘) oder ihres Erwerbs (‚acquisition‘). Für richtig hält Dorion die zweite Interpretation von seinen beiden Varianten und als Beweis dafür zitiert er mit Recht einige Stellen aus den Memorabilien, in denen behauptet wird, dass der Mensch kein Wissen und keine Kenntnisse ohne Selbstbeherrschung erwerben kann11. Ein noch schwerwiegenderer Beweis für die Stichhaltigkeit dieser Auff ffassung biete aber, nach Dorion, der Passus Mem. 3.9.4, wo behauptet wird, dass die Weisheit und die Selbstbeherrschung nicht trennbar sind12: Wenn es keinen weisen und gleichzeitig unbeherrschten Menschen gebe, sei das Wissen die notwendige und hinreichende Bedingung der Tugend und die Akrasia sei folglich unmöglich. Diese These Th könne mit der Vorstellung von der Selbstbeherrschung als der Bedingung der Ausübung der Tugend nicht übereinstimmen. Denn in diesem Fall ergebe sich logisch die Möglichkeit der Akrasia: Wenn die Selbstbeherrschung für die Ausübung der Tugend notwendig sei, dann könne man sich leicht einen Menschen vorstellen, der über das Wissen verfüge, aber wegen des Mangels an Selbstkontrolle ihm zuwider handle. Gerade die Existenz eines solchen Menschen verneine aber Sokrates mit seinem Urteil, dass die Weisheit und die Selbstbeherrschung untrennbar seien. Wenn man aber die Selbstbeherrschung für die notwendige Bedingung des Erwerbs der Tugend halte, dann werden, nach Dorion, die Ansichten des Xenophontischen Sokrates über die ἐγκράτεια und die ἀκρασία allerlei Widersprüche los: Wenn die ἐγκράτεια die notwendige Bedingung des Erwerbs der Tugend sei, dann sei der weise und tugendhaft fte Mensch ganz bestimmt beherrscht. Und derjenige, der die Selbstbeherrschung und die Weisheit habe, könne nicht seiner Tugend zuwider handeln. Der unbeherrschte Mensch hingegen habe seinerseits ganz bestimmt keine Weisheit und keine Tugend und könne folglich, da er sie nicht besitze, auch nicht gegen sie handeln. Die Akrasia als Handeln wider besseres Wissen sei folglich unmöglich. Die Tatsache, dass der unbeherrschte Mensch dem Genuss erliegen könne, mache keine theoretischen Schwierigkeiten, nach Dorion, weil ein solcher Mensch kein Wissen habe13.
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Siehe z.B. Mem. 1.5.5; 4.5.10; 2.1.20. Mem. 3.9.4: σοφίαν δὲ καὶ σωφροσύνην οὐ διώριζεν… Darüber siehe unten. Siehe Dorion, 2003a, 648 ff. und 2006a, 275 f. und Dorion & Bandini, 2011b, 170 ff. Diese Auff ffassung scheint mir nicht vollkommen konsequent: Dorion behauptet, dass die ἐγκράτεια des Xenophontischen Sokrates das übrige Wissen nicht leiten und ihm das zu erreichende Ziel nicht zeigen könne, weil sie selbst kein sittliches Wissen sei. Sie gebe aber dem Wissen die Möglichkeit, nach seinem Ziel zu streben: „Pour autant
Problemstellung
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Dass die ἐγκράτεια für den Erwerb der Tugend wie aller anderen Kenntnisse nach dem Xenophontischen Sokrates unbedingt notwendig ist, liegt auf der Hand: In den beiden Kapiteln der Memorabilien, die ganz dem Thema Th der Selbstbeherrschung gewidmet sind, wird behauptet, dass der unbeherrschte Mensch nicht imstande ist, etwas Gutes zu erlernen14. Ein solcher Mensch
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que son rôle est de réfréner les diff fférents appétits dont la satisfaction risquerait de détourner de tâches plus urgentes, l’enkrateia apparaît plutôt comme ce qui permet aux autres savoirs de poursuivre librement et sans entraves leur finalité respective sans qu’ils se voient dictés par l’enkrateia le but à poursuivre. L’enkrateia est ce qui facilite, pour chacun des savoirs, la poursuite de leurs objectifs respectifs, et non pas un savoir à vocation architectonique qui dicterait aux savoirs subordonnés les buts à atteindre“ (Dorion, 2003a, 654). Steht diese Ansicht gewissermaßen nicht im Widerspruch zu der oben zusammengefassten Argumentation, dass die ἐγκράτεια nicht als die Bedingung der Ausübung der Tugend (‚exercice‘) dienen kann? Wenn man Selbstbeherrschung für die Bedingung des Erwerbs der Tugend hält, wäre es folgerichtig, zu behaupten, dass die ἐγκράτεια dem Menschen eine Möglichkeit gibt, nach dem Guten zu streben: Ohne Selbstbeherrschung kann er kein Wissen erlangen, und ohne Wissen ist es unmöglich, das Gute zu erreichen. Wenn man in diesem Fall aber sagt, dass die ἐγκράτεια dem Wissen seine Aufgabe zu erfüllen und nach seinem Ziel zu streben gestattet, behauptet man damit, dass Selbstbeherrschung für die Ausübung der Tugend notwendig ist. Manchmal scheint aber auch Dorion für möglich zu halten, dass die Selbstbeherrschung sowohl für den Erwerb als auch für die Ausübung notwendig ist – siehe z.B. Dorion, 2004a, 103: „[…] Socrate affi ffirme, au sujet de l’enkrateia, qu’elle est le « fondement de la vertu » (I 5, 4), c’est-à-dire qu’elle en est la condition d’acquisition et d’exercice (I 5, 5)“ (vgl. auch Englische Übersetzung: Dorion, 2006b, 97); Dorion & Bandini, 2011b, 177 und 180: „[…] l’enkrateia à l’endroit des plaisirs corporels est la condition […] de l’exercice du bien“ und „[…] l’enkrateia […] favorise l’apprentissage et l’exercice de la vertu“. Siehe aber auch die nächste Anm. Mem. 1.5.5: τίς γὰρ ἄνευ ταύτης [ἐγκρατείας] ἢ μάθοι τι ἂν ἀγαθὸν ἢ μελετήσειεν ἀξιολόγως; Mem. 4.5.10: ἀλλὰ μὴν τοῦ μαθεῖν τι καλὸν καὶ ἀγαθὸν καὶ τοῦ ἐπιμεληθῆναι τῶν τοιούτων τινός […], ἀφ’ ὧν οὐ μόνον ὠφέλειαι, ἀλλὰ καὶ ἡδοναὶ μέγισται γίγνονται, οἱ μὲν ἐγκρατεῖς ἀπολαύουσι πράττοντες αὐτά, οἱ δ’ ἀκρατεῖς οὐδενὸς μετέχουσι; siehe auch Mem. 4.5.6 (καταμανθάνειν) und 2.1.20 (αἱ μὲν ῥᾳδιουργίαι καὶ ἐκ τοῦ παραχρῆμα ἡδοναὶ […] οὔτε ψυχῇ ἐπιστήμην ἀξιόλογον οὐδεμίαν ἐμποιοῦσιν). Obwohl in Mem. 4.5.10 in erster Linie nicht das moralische Wissen, d.h. nicht die Tugend gemeint wird, sondern vor allem praktische Fähigkeiten, die für das Wohlergehen nötig sind, bleibt doch auch das sittliche Wissen im Blickfeld. Das zeigt folgende Parallele: Die in dieser Anm. angeführten Worte aus Mem. 1.5.5 sagt Sokrates sofort nach seiner Behauptung τὴν ἐγκράτειαν ἀρετῆς εἶναι κρηπῖδα, während es in Mem. 4.5.10 umgekehrt ist – nach den Worten des Sokrates, dass der Unbeherrschte die Fähigkeiten nicht erwerben kann, mit Hilfe von welchen man sich selbst, seinen Freunden und dem Staat Nutzen bringen kann, zieht Euthydemus den Schluss, dass die Tugend dem Menschen, der dem Vergnügen nachgibt, völlig fern ist: ἀνδρὶ ἥττονι τῶν διὰ τοῦ σώματος ἡδονῶν πάμπαν οὐδεμιᾶς ἀρετῆς
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Enkrateia und Akrasia
ist ein Sklave der körperlichen Leidenschaften, ft der sich nur um ihre Befriedigung kümmert und auf nichts anderes achten kann15; man kann sagen: Ihm bleibt keine Zeit für etwas anderes außer der Befriedigung der Wünsche
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προσήκει. Sokrates ist damit einverstanden und spricht sofort danach über das moralische Wissen, welches der Unbeherrschte nicht hat. Die erwähnten Passagen Mem. 1.5.5 und 4.5.10 sind auch in anderer Hinsicht interessant: In den beiden wird gesagt, dass man nicht nur nichts Gutes ohne Selbstbeherrschung erlernen (μάθοι und μαθεῖν), sondern auch sich mit solchem nicht beschäft ftigen kann (μελετήσειεν und ἐπιμεληθῆναι). Es entsteht die Frage, wie diese Worte in dem Fall zu interpretieren sind, wenn die Selbstbeherrschung für die notwendige Bedingung des Erwerbs und nicht der Ausübung der Tugend gehalten wird. Vielleicht deswegen kommentiert Dorion diese Stelle Mem. 4.5.10 folgendermaßen: „L’enkrateia apparaît ici comme la condition préalable à tout apprentissage et à tout exercice propre à favoriser la genèse et l’épanouissement de la vertu“ (Dorion & Bandini, 2011b, 178). Wenn ich diese syntaktische Konstruktion richtig verstehe, bezieht Dorion hier ‚apprentissage‘ auf ‚la genèse de la vertu‘ und ‚exercice‘ auf ‚l’épanouissement de la vertu‘: Die Selbstbeherrschung ist nicht nur für den Erwerb des Wissens und folglich der Tugend, sondern auch für die Umsetzung der Tugend in die Praxis und noch mehr – für ihre Entwicklung und Aufb fblühen notwendig. Während in seinem Aufsatz von 2003 (Dorion, 2003a) Dorion auf der Meinung besteht, die Enkrateia sei die notwendige Bedingung nicht der Ausübung der Tugend, sondern ihres Erwerbs, so scheint er im Kommentar von 2011 bald seinen früheren Standpunkt zu vertreten (z.B. Dorion & Bandini, 2011b, 170: „l’enkrateia est la condition d’acquisition de la vertu“; 172: „l’enkrateia est la condition d’acquisition de la sophia et des vertus“; 178: „l’enkrateia apparaît clairement comme la condition préalable à l’acquisition de la vertu“), bald aber zu behaupten, dass die Selbstbeherrschung sowohl für den Erwerb als auch für die Ausübung der Tugend notwendig ist (siehe auch die vorhergehende Anm.). Die Unklarheit verstärkt sich auch damit, dass Dorion das Wort ‚exercice‘ in seiner Auff ffassung solcher Kontexte nicht nur in der Bedeutung „Ausübung der Tugend“ benutzt, wenn er die Ausübung und den Erwerb der Tugend gegenüberstellt, sondern auch in der Bedeutung „Übung“ – und in diesem Fall gehört ‚exercice‘ zu ‚apprentissage‘, d.h. wird der ‚acquisition de la vertu‘ nicht gegenübergestellt, sondern gerade zugeschrieben: „[…] la mathêsis et l’askêsis sont deux étapes d’un seul et même processus d’apprentissage : il faut d’abord acquérir certaines connaissances, puis les mettre en pratique. Ces deux étapes sont aussi nécessaires l’une que l’autre, ainsi que l’attestent les nombreux passages de l’œuvre de Xénophon où l’étude et l’exercice sont étroitement associés“ (Dorion & Bandini, 2011a, 160). Mem. 4.5.5: τὴν κακίστην ἄρα δουλείαν οἱ ἀκρατεῖς δουλεύουσιν. Mem. 4.5.6: ἡ ἀκρασία […] προσέχειν τε τοῖς ὠφελοῦσι καὶ καταμανθάνειν αὐτὰ κωλύειν ἀφέλκουσα ἐπὶ τὰ ἡδέα. Siehe auch Mem. 4.5.11: ὅστις γὰρ τὰ μὲν κράτιστα μὴ σκοπεῖ, τὰ ἥδιστα δ’ ἐκ παντὸς τρόπου ζητεῖ ποιεῖν, τί ἂν διαφέροι τῶν ἀφρονεστάτων βοσκημάτων; ἀλλὰ τοῖς ἐγκρατέσι μόνοις ἔξεστι σκοπεῖν τὰ κράτιστα τῶν πραγμάτων […]. Im Symposion vergleicht Sokrates den von leidenschaft ftlicher Begeisterung erfassten Kritobulos mit dem versteinerten Menschen, der die Gorgonen angeblickt hat, da er nichts außer
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des Körpers . Außerdem strebt der Mensch, der keine Selbstbeherrschung hat, nach der schnellen und leichten Befriedigung der Wünsche und weicht allem aus, was Geduld und Mühe erfordert, während jedes Wissen sich dagegen nur durch anstrengende Arbeit und ständige Übung erreichen lässt17. Der unbeherrschte Mensch kann folglich (so lange er unbeherrscht bleibt) nicht tugendhaft ft werden. Aber die Trennung – die Selbstbeherrschung sei die notwendige Bedingung entwederr des Erwerbs oderr der Ausübung der Tugend – scheint mir unbegründet aus dem Grund, dass die Enkrateia nicht eine ständige Eigenschaft ft ist18: Xenophon und sein Sokrates bestehen auf der Meinung, dass der Mensch seine Selbstbeherrschung sehr leicht verliert und damit gleichzeitig 16
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dem Objekt seiner Liebe bemerken kann: ὥσπερ οἱ τὰς Γοργόνας θεώμενοι, λιθίνως ἔβλεπε πρὸς αὐτὸν καὶ [λιθίνως] οὐδαμοῦ ἀπῄει ἀπ’ αὐτοῦ (Symp. 4.24; siehe Huß, 1999a, 246 f.). Vgl. auch Seel, 22006, 34: „Socrates must mean […] that somebody who spends his time looking for immediate bodily pleasures of all kinds will not ever flection on what is good and evil“ (siehe auch unten S. 81 Anm. 47); Morengage in refl rison, 2008, 24: „L’action des appétits incontrôlés nous empêche de nous soucier de ce qui est important. Le manque de maîtrise de soi fait obstacle aux tâches intellectuelles qui sont nécessaires pour acquérir la sagesse…“. Mem. 1.3.11: πολλὴν δὲ ἀσχολίαν ἔχειν τοῦ ἐπιμεληθῆναί τινος καλοῦ κἀγαθοῦ, σπουδάζειν δ’ ἀναγκασθῆναι ἐφ’ οἷς οὐδ’ ἂν μαινόμενος σπουδάσειεν. Vgl. auch Mem. 1.6.9: ἐὰν δὲ δὴ φίλους ἢ πόλιν ὠφελεῖν δέῃ, ποτέρῳ ἡ πλείων σχολὴ τούτων ἐπιμελεῖσθαι, τῷ ὡς ἐγὼ νῦν ἢ τῷ ὡς σὺ μακαρίζεις διαιτωμένῳ; und Mem. 4.5.7: τοῦ δ’ ἐπιμελεῖσθαι ὧν προσήκει οἴει τι κωλυτικώτερον εἶναι ἀκρασίας; Mem. 4.5.10: τῷ γὰρ ἂν ἧττον φήσαιμεν τῶν τοιούτων προσήκειν ἢ ᾧ ἥκιστα ἔξεστι ταῦτα πράττειν, κατεχομένῳ ἐπὶ τῷ σπουδάζειν περὶ τὰς ἐγγυτάτω ἡδονάς (den Anfang dieser Passage siehe oben S. 57 Anm. 14; siehe auch Mem. 2.1.3: φεύγειν τοὺς πόνους; 2.1.15: ἄνθρωπον […] πονεῖν μὲν μηδὲν ἐθέλοντα, τῇ δὲ πολυτελεστάτῃ διαίτῃ χαίροντα; 2.1.20: S. 23 Anm. 35; 2.1.24: ἀπονώτατα; 2.1.25: [μή] τὸ πονοῦντα καὶ ταλαιπωροῦντα τῷ σώματι καὶ τῇ ψυχῇ; 2.1.29: ῥᾳδίαν καὶ βραχεῖαν ὁδὸν ἐπὶ τὴν εὐδαιμονίαν; 2.1.31: ἀπόνως). Den Gedanken, dass der unbeherrschte Mensch Anstrengungen nicht aushalten und schon allein aus diesem Grund die Tugend, die sich nur mit Mühe und Geduld erwerben lässt, nicht erreichen kann, bestätigt Sokrates auch mit den Zitaten aus Hesiod und Epicharm (2.1.20) und mit der Darlegung von Prodikos’ Parabel von Herakles am Scheideweg, in welcher die Arete unter anderem Folgendes sagt: τῶν γὰρ ὄντων ἀγαθῶν καὶ καλῶν οὐδὲν ἄνευ πόνου καὶ ἐπιμελείας θεοὶ διδόασιν ἀνθρώποις (Mem. 2.1.28, siehe auch 2.1.29-30 und S. 37 f. Anm. 67). Auch Dorion weist auf den inkonstanten Charakter der Selbstbeherrschung hin, lässt aber die entstehende Frage unberücksichtigt, wie diese These Th mit dem Urteil übereinstimmen kann, dass sie die notwendige Bedingung nur des Erwerbs der Tugend ist: „[…] la modération n’est jamais acquise une fois pour toutes“ (Dorion & Bandini,
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auch die Tugend immer verlorengeht. Deswegen ist die ἐγκράτεια m.E. die notwendige Bedingung sowohll des Erwerbs der Tugend als auch ihrer weiteren Erhaltung (und folglich auch der Ausübung, insofern als die Tugend verlorengehen kann, bevor sie ausgeübt wird, falls die Selbstbeherrschung verschwindet); mit anderen Worten, ist die Selbstbeherrschung die notwendige (aber nicht hinreichende) Bedingung der Tugend; die Tugend ist ohne Enkrateia unmöglich. In diesem Zusammenhang ist hier das Gespräch zwischen Sokrates und Xenophon aus dem dritten Kapitel des ersten Buches der Memorabilien beachtenswert: Sokrates fragt, ob Xenophon den Kritobulos eher für einen selbstbeherrschten als für einen frechen und mehr für einen vorsichtigen als für einen bedenkenlosen und waghalsigen Menschen gehalten habe. Nachdem Xenophon dazu seine Zustimmung gibt, meldet Sokrates, dass man ihn jetzt als unbesonnen und zu allem fähig betrachten muss19. Die Ursache der plötzlichen Änderung von Kritobulos’ Charakter sieht Sokrates darin, dass er für den Sohn des Alkibiades wegen seiner Schönheit Zuneigung empfunden hat und ihn geküsst hat. Kritobulos ist also der Leidenschaft ft erlegen, d.h. er hat sich genau so gezeigt, wie der Mensch, dem die Selbstbeherrschung fehlt, obgleich er sie früher hatte (εἶναι τῶν σωφρονικῶν ἀνθρώπων). Seine Neigung hat ihn verändert und in einen hemmungslosen und unbesonnenen Menschen verwandelt, obwohl er vorher beherrscht und vernünft ftig war. Jetzt kann man von ihm solche Handlungen erwarten, welche er vorher nie begehen konnte. Die Ursache für alles dies liegt darin, dass er seiner Passion nicht widerstehen konnte. Daraus lässt sich folgender Schluss ziehen: Die Selbstbeherrschung ist keine ständige Eigenschaft ft des Menschen und ebenso die Besonnenheit, die ebenfalls verlorengeht, wenn der Mensch der Leidenschaft ft unterliegt. Andererseits, da Sokrates dem Kritobulos den Rat gibt, auf einige Zeit zu verreisen, um fern vom Objekt seiner Leidenschaft ft wieder gesund zu werden, bedeutet das, dass man sich bessern und seine Selbstbeherrschung und Vernunft ft wieder erlangen kann. Interessant ist auch die Rolle Xenophons in dieser Episode: Nach Sokrates’ Behauptung, der Kuss habe so große Macht, bemerkt Xenophon, auch er sei ebensowenig sicher vor dieser Gefahr wie Kritobulos20. Dann mahnt Sokrates ihn vor den unumgänglichen
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2000, 88 f., 150 u.a.; Dorion spricht hier von σωφροσύνη, in seiner Interpretation sind aber die ἐγκράτεια und die σωφροσύνη Synonyma: Siehe unten S. 70 f. Anm. 35). Mem. 1.3.9: […] οὐ σὺ Κριτόβουλον ἐνόμιζες εἶναι τῶν σωφρονικῶν ἀνθρώπων μᾶλλον ἢ τῶν θρασέων καὶ τῶν προνοητικῶν μᾶλλον ἢ τῶν ἀνοήτων τε καὶ ῥιψοκινδύνων; […] Νῦν τοίνυν νόμιζε αὐτὸν θερμουργότατον εἶναι καὶ λεωργότατον. Mem. 1.3.10: ἀλλ’ εἰ μέντοι, ἔφη ὁ Ξενοφῶν, τοιοῦτόν ἐστι τὸ ῥιψοκίνδυνον ἔργον, κἂν ἐγὼ δοκῶ μοι τὸν κίνδυνον τοῦτον ὑπομεῖναι. Ich bin geneigt, diese Bemerkung
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Folgen – er werde zum Sklaven der verderblichen Vergnügen, der unfähig sei, sich um etwas Gutes zu kümmern21 –, zu deren Vermeidung Sokrates ihm rät, vor jedem, der in ihm eine leidenschaftliche ft Sehnsucht erwecken und deshalb seine Selbstbeherrschung erschüttern und letzten Endes ihm 22 den Verstand entziehen kann, immer eiligst zu fliehen fl . Sokrates spricht aber alles das als eine Warnung aus, als einen Rat für die Zukunft; ft momentan kann Xenophon folglich sich selbst noch beherrschen. Sokrates’ Mahnung bedeutet, dass er doch für möglich hält, dass Xenophon diese Fähigkeit einmal verliert: Mit seinem Rat will er solcher Situation rechtzeitig vorbeugen. Diese Beobachtungen bestätigt noch eine andere Stelle: Im Symposion erklärt der Xenophontische Sokrates seinen Gesprächspartnern, dass derjenige, der
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Xenophons anders zu interpretieren als Gigon: „Offen ff bleibt freilich, ob Xenophon sagen will, er könne den Anblick eines καλός riskieren, ohne zu einem Kuß verführt zu werden, oder (was näher liegt), er könne einen Kuß riskieren, ohne damit seine Sophrosyne gleich zu verlieren“ (Gigon, 1953, 110). M.E. versteht Xenophon in diesem Moment des Gespräches noch nicht, was Sokrates meint: Welche Gefahr der Kuss nach sich zieht, wird Sokrates ihm erst nach diesen Worten erklären. In diesem Punkt hat Gigon die gleiche Meinung: „Xenophon sieht diese Gefährlichkeit noch nicht ein, und seine Gegenbemerkung soll hervorheben, dass er einen Kuß noch lange nicht für eine so ernste Sache ansehen könne.“ Dass er auch riskieren könne, diese verwegene Handlung zu begehen, sagt Xenophon als Antwort auf Sokrates’ Worte, dass Kritobulos „gewagt hatte“ (ἐτόλμησε), den Sohn des Alkibiades zu küssen. Während Sokrates hier in vollem Ernst spricht, antwortet Xenophon hingegen im Scherz, denn er versteht noch nicht, was für eine Gefahr der Kuss haben kann, und Sokrates’ Auff ffassung von diesem Vorfall scheint ihm deswegen lächerlich. Mit seiner Antwort parodiert Xenophon Sokrates’ Worte. Deshalb ist Gigons Interpretation ein wenig verfrüht: Dass es schwierig sein kann, der Schönheit standzuhalten, und dass man des Kusses wegen seine Vernunft ft verlieren kann, erfährt Xenophon erst nach Sokrates’ Erklärung. Xenophon sagt hier deshalb nicht, dass er fähig ist, solche Gefahr auszuhalten, d.h. sie glücklich zu bewältigen (da er noch nicht weiß, worin die Gefahr besteht), sondern dass er auch, wie Kritobulos, bereit ist, die Handlung zu wagen, welche Sokrates gefährlich nennt. Dafür, dass der Ausdruck τὸν κίνδυνον ὑπομεῖναι „sich der Gefahr aussetzen“ bedeuten kann, und nicht „erfolgreich die Gefahr überstehen“, spricht z.B. Cyr. 1.2.1, wo Kyros geschildert wird, der von jung auf so ehrgeizig war, dass er bereit war, jedes Risiko einzugehen, um gelobt zu werden (πάντα δὲ κίνδυνον ὑπομεῖναι τοῦ ἐπαινεῖσθαι ἕνεκα). Mem. 1.3.11: καὶ τί ἂν οἴει παθεῖν καλὸν φιλήσας; ἆρ’ οὐκ ἂν αὐτίκα μάλα δοῦλος μὲν εἶναι ἀντ’ ἐλευθέρου, πολλὰ δὲ δαπανᾶν εἰς βλαβερὰς ἡδονάς (den Schluss des Zitats siehe oben S. 59 Anm. 16). Der Kuss ist dem Biss einer gift ftigen Spinne ähnlich, der dem Menschen den Verstand raubt: τὰ φαλάγγια […] τοῦ φρονεῖν ἐξίστησι (Mem. 1.3.12). Siehe die dritte Regel der ‚sokratischen Diät‘: S. 29 ff ff.
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seine Selbstbeherrschung nicht verlieren möchte, sich vor den Küssen unbedingt hüten muss, weil die Küsse den Eifer der Leidenschaft ft am stärksten entfachen und berückende Hoff ffnungen wecken23. Außerdem bemerkt Sokrates, dieses Verlangen sei unersättlich, d.h. je weiter desto mehr verführt es den Menschen. Auch hier meint Sokrates also, dass der beherrschte Mensch später einmal unbeherrscht werden kann. In diesem Gespräch spricht er auch darüber, dass die verlorene Selbstbeherrschung unter gewissen Bedingungen wieder erworben werden kann: Nachdem der Vater des Kritobulos seine Gefühle bemerkt hatte, schickte er ihn unter die Aufsicht des Sokrates in der Hoff ffnung, dass der ihm helfen könnte. Und jetzt teilt Sokrates seinen Gesprächspartnern mit, dass es Kritobulos schon viel besser gehe24. In diesem Zusammenhang ist auch eine andere Episode zu erwähnen, und zwar aus dem zweiten Kapitel des ersten Buches der Memorabilien, die Sokrates’ Beziehungen zu Kritias und Alkibiades schildert. Zum Beweis dafür, dass Sokrates keine Schuld an ihrer Verdorbenheit trägt, schreibt Xenophon, dass sie, solange sie mit Sokrates Umgang hatten, enthaltsam waren25. Und obwohl sie von Geburt an ganz andere Bestrebungen hatten und über Sokrates’ Lebensweise keineswegs entzückt waren, sondern nach seiner Gesellschaft ft nur deshalb strebten, weil sie für ihre politische Karriere die Redekunst von ihm zu erlernen beabsichtigen und nicht im geringsten seine Lebensart übernehmen wollen26,, und obwohl sie damals in dem jungen Lebensalter waren, welchem Unbeherrschtheit besonders eigen ist, trotz alldem war die Einwirkung von Sokrates so stark, dass sie bei ihm enthaltsam waren27. Erst als sie Sokrates verlassen hatten und schon unter dem Einfluss fl der üblen Menschen standen, verloren sie ihre Selbstbeherrschung28; daher
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Symp. 4.25-26: […] οὗ ἕνεκα ἀφεκτέον ἐγώ φημι εἶναι φιλημάτων ὡραίων τῷ σωφρονεῖν δυνησομένῳ. Symp. 4.24. Mem. 1.2.18: οἶδα δὲ κἀκείνω σωφρονοῦντε, ἔστε Σωκράτει συνήστην […]. Siehe S. 128 ff. Mem. 1.2.15-16. Mem. 1.2.26: ὅτι δὲ νέω ὄντε αὐτώ, ἡνίκα καὶ ἀγνωμονεστάτω καὶ ἀκρατεστάτω εἰκὸς εἶναι, Σωκράτης παρέσχε σώφρονε […]. Mem. 1.2.25. Nach Bevilacqua widerspricht Xenophons Behauptung, Kritias und Alkibiades seien σώφρονε gewesen, indem sie bei Sokrates waren, der Tatsache, dass sie Sokrates verlassen haben, denn die Entscheidung, ihn zu verlassen, sei „una decisione che non rivela nessuna sophrosyne“, „la decisione, davvero priva di sophrosyne“ (Bevilacqua, 2010, 290). Es ist unklar, worauf dieses Urteil beruht, weil in ihrer Interpretation die ἐγκράτεια und die σωφροσύνη Synonyma sind (darüber siehe unten S. 70 f. Anm. 35), d.h. die Sophrosyne „la capacità di tenere a freno i desideri di cibo, bevande, sonno, sesso“ sei (Bevilacqua, 2010, 291 u.a.). In diesem Fall enthält die Behaup-
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kann man die Schuld an ihren Fehlern Sokrates nicht zuschreiben. Xenophon führt noch ein Beispiel an: Kein Vater wird wohl, wenn sein Sohn in der Zeit seiner Freundschaft ft mit einem Freund beherrscht war, dann aber sich mit einem anderen befreundete und schlecht wurde, den Ersten beschuldigen29. Damit wird der Gedanke, dass der beherrschte Mensch später unbeherrscht sein kann, noch einmal bestätigt. Und noch mehr – derjenige, der früher beherrscht war, kann nicht nur der Trunksucht verfallen oder von der Leidenschaft ft ergriff ffen werden, sondern auch infolgedessen die Fähigkeit verlieren, zu erkennen, wofür man sorgen und was man hingegen meiden muss: Viele, die vorher sparsam waren, können nicht mehr sparen, nachdem sie sich verlieben, und wenn sie ihr Geld verbraucht haben, schämen sie sich nicht vor solchen Erwerbsquellen, die sie selbst früher für entehrend hielten30. Alles dies spricht dafür, dass die Selbstbeherrschung ständig notwendig
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tung, dass der Mensch σώφρων ist und gleichzeitig politische Ambitionen hat, doch keinen Widerspruch. M.E. gibt es in dieser Episode keine Inkonsequenz in Xenophons Beschreibung, wo es um Kritias und Alkibiades geht: Xenophon betont nachdrücklich, dass sogar sie unter dem Einfluss fl von Sokrates und dank seiner Hilfe sich beherrschen konnten (weil potenziell jeder Mensch die Selbstbeherrschung wie auch die Tugend erwerben kann – darüber siehe unten): καὶ Κριτίας δὴ καὶ Ἀλκιβιάδης, ἕως μὲν Σωκράτει συνήστην, ἐδυνάσθην ἐκείνῳ χρωμένω συμμάχῳ τῶν μὴ καλῶν ἐπιθυμιῶν κρατεῖν (Mem. 1.2.24). Derjenige, der seine körperlichen Wünsche, wie dem auch sei, beherrschen kann, ist nicht unbedingt zur gleichen Zeit fähig, das Gute und das Böse zu unterscheiden (und dass das Gute ist, bei Sokrates zu bleiben, und das Schlechte, ihn zu verlassen). Nicht ganz klar ist dagegen die Beschreibung von Sokrates in dieser Geschichte: Warum hat er Kritias und Alkibiades in den Kreis seiner Schüler aufgenommen, wenn er nicht mit jedem bereit war zu sprechen, sondern nur mit demjenigen, der seiner Meinung nach εὐφυής war (darüber siehe oben S. 15 ff.)? ff Vgl. Dorion & Bandini, 2000, 89; siehe auch S. 131. Mem. 1.2.27. Dass dieses Beispiel der Geschichte von Kritias und Alkibiades nicht ganz gleichartig ist, siehe Dorion & Bandini, 2000, 95. Mem. 1.2.22. Dass Xenophon diese Beispiele aus eigener Sicht anführt, sollte nicht täuschen, weil es an anderer Stelle schon sein Sokrates ist, der das ausspricht. Vgl. ὁρῶ δὲ καὶ τοὺς εἰς φιλοποσίαν προαχθέντας καὶ τοὺς εἰς ἔρωτας ἐγκυλισθέντας ἧττον δυναμένους τῶν τε δεόντων ἐπιμελεῖσθαι καὶ τῶν μὴ δεόντων ἀπέχεσθαι (Mem. 1.2.22) und […] ἔφη ὁ Σωκράτης, καὶ τί ἂν οἴει παθεῖν καλὸν φιλήσας; ἆρ’ οὐκ ἂν αὐτίκα […] πολλὴν δὲ ἀσχολίαν ἔχειν τοῦ ἐπιμεληθῆναί τινος καλοῦ κἀγαθοῦ, σπουδάζειν δ’ ἀναγκασθῆναι ἐφ’ οἷς οὐδ’ ἂν μαινόμενος σπουδάσειεν (Mem. 1.3.11). Siehe auch unten S. 65 f. Anm. 32. Im Oikonomikos äußert diesen Gedanken Ischomachos: τοὺς οἴνου ἀκρατεῖς οὐκ ἂν δύναιο ἐπιμελεῖς ποιῆσαι· τὸ γὰρ μεθύειν λήθην ἐμποιεῖ πάντων τῶν πράττειν δεομένων. […] καὶ οἱ τῶν ἀφροδισίων δυσέρωτες ἀδύνατοι εἶναι διδαχθῆναι ἄλλου τινὸς μᾶλλον ἐπιμελεῖσθαι ἢ τούτου (Oec. 12.11 und 13).
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ist: Mit dem Verlust der Selbstbeherrschung geht gleichzeitig auch das moralische Wissen, d.h. die Tugend, verloren31. Die Worte des Xenophontischen Sokrates, die Enkrateia sei die Grundlage der Tugend, bedeuten m.E. das Folgende: Die Tugend ist ohne Enkrateia unmöglich, ohne Selbstbeherrschung kann die Tugend weder erworben noch behalten werden. Die Selbstbeherrschung ist ein Fundament: Wenn es wankt, stürzt die ganze auf ihm gebaute Konstruktion ein.
2. Mem. 3.9.4 Aus der vorgeschlagenen Interpretation der These, die Selbstbeherrschung sei die Grundlage der Tugend, folgt, dass es keinen weisen und gleichzeitig unbeherrschten Menschen gibt und dass dagegen ein beherrschter und gleichzeitig unweiser Mensch existieren kann. Der Xenophontische Sokrates hält andererseits die σοφία und die σωφροσύνη für voneinander nicht trennbar. Der Schlüssel zur Lösung dieses scheinbaren Widerspruches liegt in der Unterscheidung zwischen den Begriff ffen der ἐγκράτεια und der σωφροσύνη, die im Text Xenophons üblich als austauschbare Synonyma betrachtet werden.
Im folgenden muss die am Anfang des Kapitels erwähnte Passage untersucht werden, in welcher Xenophons Sokrates die Möglichkeit der bewussten Wahl des Bösen explizit verneint: Xenophon lässt wissen, dass Sokrates das Wissen (σοφία) und die Selbstbeherrschung (σωφροσύνη) nicht trennte. Als eine er-
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Wenn der Mensch Erwerbsquellen nicht mehr meidet, die er selbst früher für entehrend (αἰσχρά) hielt, bedeutet das, dass er über das Wissen vom Schicklichen und Schmählichen, vom Guten und Schlechten nicht mehr verfügt. Zu gleicher Zeit, als der Mensch unfähig wird, die Wünsche seines Körpers zu beherrschen, wird er unfähig, das Gerechte zu tun, weil er das Wissen, was gerecht ist und was ungerecht ist, nicht mehr hat: πῶς οὖν οὐκ ἐνδέχεται σωφρονήσαντα πρόσθεν αὖθις μὴ σωφρονεῖν καὶ δίκαια δυνηθέντα πράττειν αὖθις ἀδυνατεῖν (Mem. 1.2.23). Obwohl es sich hier um die σωφροσύνη handelt (welche die Forscher übrigens für das Synonym von der ἐγκράτεια bei Xenophon halten – darüber siehe unten S. 70 f. Anm. 35), haben wir keinen Anlass zur Vermutung, dass nur die σωφροσύνη inkonstant ist, während die Natur der ἐγκράτεια anders ist: Im fünften ft Kapitel des ersten Buches, welches dem Begriff ff der ἐγκράτεια im Ganzen gewidmet ist, spricht Sokrates darüber, dass man sich davor hüten muss, ἀκρατής zu werden, d.h. die ἐγκράτεια zu verlieren: ἀλλὰ μὴν εἴ γε μηδὲ δοῦλον ἀκρατῆ δεξαίμεθ’ ἄν, πῶς οὐκ ἄξιον αὐτόν γε φυλάξασθαι τοιοῦτον γενέσθαι (Mem. 1.5.3). Über den unbeständigen Charakter der Tugend siehe S. 76 ff. ff
Mem. 3.9.4
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gänzende Illustration dieses Urteils legt Xenophon außerdem eine anonyme Frage an Sokrates und dessen Antwort darauf dar: σοφίαν δὲ καὶ σωφροσύνην οὐ διώριζεν, ἀλλὰ τὸν τὰ μὲν καλά τε κἀγαθὰ γιγνώσκοντα χρῆσθαι αὐτοῖς καὶ τὸν τὰ αἰσχρὰ εἰδότα εὐλαβεῖσθαι σοφόν τε καὶ σώφρονα ἔκρινε. προσερωτώμενος δὲ εἰ τοὺς ἐπισταμένους μὲν ἃ δεῖ πράττειν, ποιοῦντας δὲ τἀναντία σοφούς τε καὶ ἀκρατεῖς εἶναι νομίζοι, Οὐδέν γε μᾶλλον, ἔφη, ἢ ἀσόφους τε καὶ ἀκρατεῖς· πάντας γὰρ οἶμαι προαιρουμένους ἐκ τῶν ἐνδεχομένων, ἃ οἴονται συμφορώτατα αὑτοῖς εἶναι, ταῦτα πράττειν· νομίζω οὖν τοὺς μὴ ὀρθῶς πράττοντας οὔτε σοφοὺς οὔτε σώφρονας εἶναι32.
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Mem. 3.9.4: „Weisheit und Selbstbeherrschung, Sophrosyne, trennte er nicht, sondern hielt den für weise und selbstbeherrscht zugleich, der das Schöne und Gute erkannte und es auch anwendete und der das Schändliche wusste und sich davor hütete. Als er aber weiter gefragt wurde, ob er den für weise und unbeherrscht halte, der wisse, was zu tun sei, aber das Gegenteil tue, entgegnete er: Nichts weniger als unweise und unbeherrscht. Denn nach meiner Meinung wählen alle unter den möglichen Dingen das, was ihnen nach ihrer Ansicht am nützlichsten ist, und dies tun sie dann auch. Menschen, die nicht richtig handeln, halte ich also weder für weise noch für selbstbeherrscht.“ Die Syntax des ersten Satzes ist nicht ganz klar: Für eine detaillierte Übersicht über die möglichen Interpretationen siehe Delatte, 1933, 114-118 und Neitzel, 1983, 374-379. In den Mss. kommen hier zwei Varianten vor: zweimal der Artikel τόν (τὸν… γιγνώσκοντα χρῆσθαι … τὸν… εἰδότα εὐλαβεῖσθαι) und zweimal der Artikel τό (τὸ… γιγνώσκοντα χρῆσθαι … τὸ… εἰδότα εὐλαβεῖσθαι): Ausführlich über die Mss. und mögliche Varianten siehe z.B. Schneider, 31816, 175; Delatte, 1933, 114; Bevilacqua, 2010, 252; Dorion & Bandini, 2011a, 90 u.a. Der Artikel τό ist nicht gut, weil in diesem Fall auch andere Korrekturen des Textes nötig sind (man sollte z.B. statt σώφρονα eine Form im Neutrum erwarten, damit die mit dem Artikel τό substantivierte Konstruktion mit σοφόν τε καὶ σῶφρον ἔκρινε kongruiert: „er hielt ftige und das Enthaltsame“; oder man sollte den Genitiv σοφοῦ τε καὶ für das Vernünft σώφρονος als Prädikat erwarten: „dem Weisen und dem Beherrschten gehört es…“: ft mit dem Siehe Kühner & Gerth, 31898, 371 f.). Eine andere Handschriftenvariante Artikel τόν ist unbefriedigend, weil in diesem Fall die Funktion der Infi finitive χρῆσθαι und εὐλαβεῖσθαι unverständlich ist. Delatte übersetzt diesen Satz folgendermaßen: „Il n’établissait pas de distinction entre la sagesse et la tempérance, mais il jugeait à la fois sage et tempérant celui qui connaît les belles et bonnes choses pour ce qui est de les mettre en pratique et celui qui connaît les vilaines choses pour ce qui est de les éviter“ (Delatte, 1933, 113, Hervorhebung von mir). Nebenbei sei bemerkt, dass Delatte hier denselben Fehler begeht wie Marchant in seiner Übersetzung in der Loeb-Ausgabe: „Between Wisdom and Prudence he drew no distinction…“ (auch einige zeitgenössische Forscher vertreten diese fehlerhaft fte Auff ffassung: darüber siehe Dorion & Bandini, 2011a, 344). Das Verb διορίζω bedeutet hier nicht „unterscheiden“, sondern „voneinander trennen“, d.h. der Satz im ganzen bedeutet nicht, dass Sokrates meint, die σοφία und die σωφροσύνη seien ein und dasselbe, sondern dass die eine ohne die andere unmöglich sei (eben dieser These ist der ganze Paragraph gewidmet). Delatte
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Enkrateia und Akrasia versteht also die Infi finitive χρῆσθαι und εὐλαβεῖσθαι als „infi finitifs déterminatifs“, d.h. als erklärende und genauer bestimmende Infinitive, fi und weist dabei auf die Kühner & Gerth Grammatik hin, aber die dort angeführten Beispiele (siehe Kühner & Gerth, 3 1904, 14 f.) sind von diesem Xenophontischen Usus so entfernt, dass die Auff ffassung von Delatte nicht überzeugend bleibt. Andererseits kann man diese Infinitive fi nicht als konsekutiv-fi finale betrachten, weil sie hier von den Verben γιγνώσκω und οἶδα abhängig sind (siehe Kühner & Gerth, 31904, 16 f.). Die Autoren der letzten Ausgaben (Dorion & Bandini, 2011a und Bevilacqua, 2010) vertreten die Lesart τῷ an der Stelle von τό und τόν, die von der Konjektur Heindorfs stammt, von welcher Schneider mitteilt (Schneider, 31816, 175: „τῷ τὰ – τῷ τὰ coniecit Heindorf “) und welcher früher Sauppe, Gilbert, Hude u.a. folgten (die sich m.E. aus der textkritischen Sicht nicht so leicht erklären lässt). Die entstehende syntaktische Konstruktion bedeutet dann etwa Folgendes: „Sokrates erkannte den weisen und beherrschten Menschen auf Grund, dass…/ an dem Zeichen, dass…“. Aber auch diese Variante kann nicht als befriedigend gelten, weil in diesem Fall die Adjektive σοφόν τε καὶ σώφρονα nicht mehr Prädikatsnomen bei dem Prädikat ἔκρινε sind, sondern ein Objekt und ihnen deswegen der Artikel τόν vorangestellt sein müßte (dazu richtig Delatte, 1933, 114 und später Bevilacqua, 2010, 253). Es ist nicht zufällig, dass Dorion diese Adjektive nicht als Adjektive, sondern als Substantive ins Französische übersetzt: „… il reconnaissait le savant et le modéréé au fait que celui qui connaît les choses belles et bonnes en use, et que celui qui connaît ce qui est laid s’en prémunit“ (Hervorhebung von mir; dasselbe auch Simeterre, 1938, 24: „Dans le fait de savoir et de pratiquer le beau et le bien, de savoir et d’éviter le mal, il reconnaissait l’homme savant et tempérant“). Mit Rücksicht darauf, dass keine von allen Varianten als befriedigend gelten kann, lasse ich, Marchants Fassung folgend, die mehr oder weniger gewohnte Variante mit dem Artikel τόν, denn σοφόν τε καὶ σώφρονα ἔκρινε bedeutet m.E. nicht „er erkannte den weisen und beherrschten Menschen“, sondern „er hielt gleichzeitig für weise und beherrscht.“ Die Syntax des ersten Satzes bleibt also ein wenig unklar, seinen Gesamtsinn verstehe ich aber anders als Delatte: „Par cette construction, entachée d’une certaine obscurité, Xénophon a voulu indiquer l’état de dépendance dans lequel se trouve l’action par rapport à la connaissance. L’élément primordial et capital est la connaissance; […] mais cette connaissance, qui ne suffi ffirait pas, est inséparable de l’action : celle-ci consiste à pratiquer le bien et à éviter le mal“ (Delatte, 1933, 113; diese Auff ffassung vertritt auch Dorion: Dorion & Bandini, 2011a, 345). M.E. liegt der Akzent in dieser Passage allein auf dem Gedanken, dass die σοφία und die σωφροσύνη voneinander nicht trennbar sind, weil derjenige, der das Gute weiß und deswegen es ausüben kann (σοφός), gleichzeitig bestimmt auch das Schlechte weiß und deswegen ihm ausweichen kann (σώφρων). Außerdem sei hier Neitzels Auff ffassung erwähnt: „Wissen und Selbstbeherrschung grenzte er nicht voneinander ab, sondern wer das Schöne und Gute erkenne, setze es in die Tat um; und wer vor dem Häßlichen (Schändlichen) sich in acht zu nehmen wisse, den hielt er für wissend zugleich und beherrscht“ (Neitzel, 1983, 376). So lässt Neitzel die Worte τὸν τὰ μὲν καλὰ τε κἀγαθὰ γιγνώσκοντα χρῆσθαι αὐτοῖς vom ausgelassenen ἔφη oder ἔλεγε abhängen, und die Worte τὸν τὰ αἰσχρὰ εἰδότα εὐλαβεῖσθαι vom ἔκρινε; im zweiten Fall hängt der Infinitiv fi nach Neitzel vom Partizip ab, welches in solcher Konstruktion eine Fähigkeit bezeichnet (d.h. εὐλαβεῖσθαι hängt von εἰδότα ab: „sich in acht zu nehmen wissen“). Diese Zergliederung der Konstruktion in zwei verschiedene Teile zerstört m.E. ihre Rahmenkonstruktion: σοφίαν δὲ καὶ σωφροσύνην οὐ διώριζεν… σοφόν
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Während am Anfang dieses Abschnittes Xenophon auktorial mitteilt, dass Sokrates das Wissen (σοφία) und die Selbstbeherrschung (σωφροσύνη) voneinander nicht trennte, so lässt er am Ende des Paragraphen Sokrates selbst sprechen, der diese These Th mit anderen Worten noch einmal wiederholt: Der Mensch ist entweder σοφός und σώφρων zugleich oder weder σοφός noch σώφρων zugleich. In der Mitte steht eine Erläuterung dieser Ansicht: zuerst wieder in Xenophons Darlegung, dann direkt aus dem Mund des Sokrates als seine Antwort auf eine anonyme Frage. Das Wort προσερωτώμενος zeigt, dass der unbenannte Gesprächspartner seine Frage stellt, nachdem er Sokrates’ These gehört hat, die σοφία und die σωφροσύνη seien untrennbar: Entweder habe der Mensch sie beide, oder gar keine. Der Gesprächspartner fragt, was in diesem Fall mit demjenigen zu tun ist, der weiß, wie er handeln soll, aber seinem Wissen entgegen handelt. Ob Sokrates einen solchen Menschen, der das Wissen, was richtig ist (d.h. das Wissen vom Guten), hat, aber das Unrichtige (d.h. das Böse) tut, zugleich als σοφός und ἀκρατής bezeichnet. Hier ist es wichtig, sofort darauf hinzuweisen, dass der Mensch, dessen Verhalten der Gesprächspartner beschreibt, de facto unrecht handelt. Und gerade von denen, die unrechte Taten begehen, sagt Sokrates am Ende seiner Antwort, dass sie weder weise noch
τε καὶ σώφρονα ἔκρινε (auch der ganze Paragraph hat solche Rahmenkonstruktion). Über das Wissen und das Handeln siehe unten S. 116 ff. ff Für den zweiten Satz dieser Passage gibt es folgende Variante: σοφούς τε καὶ ἀκρατεῖς / ἐγκρατεῖς εἶναι νομίζοι in der Frage und ἀσόφους τε καὶ ἀκρατεῖς / ἐγκρατεῖς / ἀμαθεῖς / ἀσθενεῖς in Sokrates’ Antwort: Siehe Delatte, 1933, 115-118. Ich lasse in den beiden Fällen ἀκρατεῖς, wie in Marchants Oxford-Ausgabe (in seiner Loeb-Ausgabe steht im griechischen Text σοφούς τε καὶ ἐγκρατεῖς in der Frage, aber seine Übersetzung bleibt doch seiner früheren Fassung treu, und er schreibt „wise and vicious“; siehe auch Cooper, 1999, 24 und Seel, 22006, 37 oder 2008, 279 f.), in Hude und den letzten Ausgaben von Bandini & Dorion und Bevilacqua. Delatte hat in der Frage ἀκρατεῖς („sages et intempérants“), aber in Sokrates’ Antwort korrigiert er ἐγκρατεῖς und übersetzt folgendermaßen: „Il répond: ‚pas plus qu’ils ne sont (ou pourraient être) non sages et tempérants’“ (Delatte, 1933, 115 f.). Nach Delatte sagt Sokrates hier nicht nur, dass derjenige, der nicht beherrscht ist, nicht weise genannt werden kann, sondern auch, dass der Mensch nicht beherrscht sein kann, wenn er nicht weise ist. Die gleiche Auff ffassung vertritt auch Neitzel: „(Dass solche Leute wissend zugleich und unbeherrscht sind, glaube ich) ebensowenig wie dass sie unwissend zugleich und beherrscht sind“ (Neitzel, 1983, 377). Dieser Interpretation zufolge meint Sokrates folglich, dass es ebensowenig möglich ist, weise zugleich und unbeherrscht zu sein, als auch unweise zugleich und beherrscht zu sein; als Antwort auf die absurde Frage führt Sokrates also die andere nach seiner Meinung absurde Kombination von diesen Begriffen ff an. Siehe auch unten S. 74 Anm. 39.
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Enkrateia und Akrasia
beherrscht sind: νομίζω οὖν τοὺς μὴ ὀρθῶς πράττοντας οὔτε σοφοὺς οὔτε σώφρονας εἶναι. Zunächst aber, als ihm eine Variante der Antwort schon vorgeschlagen wurde – solche Menschen σοφοί und ἀκρατεῖς zu nennen –, muss Sokrates anders sprechen. Er stimmt der vorgeschlagenen Antwort nicht bei und behauptet, dass solche Menschen ebensowenig σοφοί und ἀκρατεῖς sind, wie die ἄσοφοι und ἀκρατεῖς Menschen σοφοί und ἀκρατεῖς sind. Diese Antwort ist ein Zeichen dafür, dass Sokrates’ Aufmerksamkeit vor allem auf den Widerspruch konzentriert ist, den sein Gesprächspartner in seiner Frage aufkommen fk lässt: Er bezeichnet den Menschen, welcher unrecht handelt, als weise, d.h. als das Wissen habenden. Von Sokrates’ Standpunkt aus ist dies unmöglich – wenn der Mensch eine unrechte Handlung ausführt, hat er ganz bestimmt kein Wissen vom Richtigen und Unrichtigen. Deshalb gibt Sokrates als Antwort, dass die Weisheit eines solchen Menschen nicht mehr ist als die Weisheit des unweisen Menschen. Oder anders gesagt: Die Menschen, die unrecht handeln, hält er für unweise (ἄσοφοι), da solche Menschen kein Wissen haben. Sokrates’ Antwort muss also folgendermaßen verstanden werden: „Ich denke, dass sie nicht mehr [= ebensowenig] weise und unbeherrscht sind als die unweisen und unbeherrschten Menschen [weise und unbeherrscht sind].“ Das Wort ἀκρατεῖς wiederholt Sokrates in seiner Antwort einfach nach seinem Gesprächspartner (die Worte οὐδέν γε μᾶλλον beziehen sich nur auf die Konfrontation von den σοφοί und ἄσοφοι), dieses Wort hat in diesem Fall keinen Sinnakzent, den Nachdruck legt Sokrates hingegen darauf, dass die Menschen, die unrecht handeln, kein Wissen haben und dass sie deshalb unter keinen Umständen σοφοί genannt werden können. Auf die Frage folglich, ob der Mensch weise und unbeherrscht zugleich sein kann, d.h. ob der Mensch wider sein eigenes Wissen handeln kann, antwortet Sokrates mit einem Nein: Wenn der Mensch unrecht tue, sei das ein klares Zeichen dafür, dass er kein Wissen habe. Da die Selbstbeherrschung oben als die notwendige Bedingung sowohl des Erwerbs als auch der Beibehaltung der Tugend bezeichnet wurde, ergeben sich daraus vier mögliche Zustände des Menschen: (1) der Mensch hat keine Selbstbeherrschung und deswegen kein Wissen (unbeherrscht-unweise), (2) der Mensch ist selbstbeherrscht, hat aber noch kein Wissen erworben (beherrscht-unweise), (3) der Mensch hat sowohl die Selbstbeherrschung als auch das Wissen (beherrscht-weise), (4) der Mensch hat seine Selbstbeherrschung und deshalb auch das Wissen verloren (schon unbeherrscht-unweise).
Es gibt keinen Menschen, der zugleich weise und unbeherrscht ist: Entweder der Mensch hat keine Selbstbeherrschung und ist deswegen nicht weise, oder
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er hat seine Selbstbeherrschung verloren und ist deswegen auch nicht mehr weise. Wenn aber der Mensch das Wissen hat, bedeutet das ganz bestimmt, dass er gleichzeitig beherrscht ist. Ist dann die Akrasia möglich? Kann derjenige, der weiß, wie er handeln soll, doch (bewusst) seinem Wissen zuwider handeln? Ist die bewusste Wahl des Bösen möglich? Nein, weil der Mensch in den beschriebenen Fällen (1), (2) und (4) kein Wissen hat, folglich kann er ihm nicht zuwider handeln. Der einzige Fall, wenn der Mensch das Wissen hat, ist (3), aber in diesem Fall hat er auch die Selbstbeherrschung zugleich, nichts steht also in Widerspruch zu seinem Wissen. Obwohl die Gedankenfolge in meiner Interpretation sich vom Gedankengang Dorions unterscheidet, ist die Schlussfolgerung, die aus der Analyse dieser Passage gezogen werden muss, dieselbe: Der Xenophontische Sokrates behauptet hier, dass die Akrasia unmöglich ist. Es gebe keinen weisen und zugleich unbeherrschten Menschen. Der Wissende kann seinem Wissen nicht zuwider handeln, weil ein solcher Mensch immer selbstbeherrscht ist; und umgekehrt – der Unbeherrschte hat nie das Wissen, auch er kann folglich dem Wissen nicht zuwider handeln. Man muss aber eine besondere Aufmerksamkeit dem oben erwähnten Fall (2) widmen, der den beherrschten, aber zugleich unwissenden Menschen schildert. Es muss geprüft ft werden, ob es keinen Widerspruch in der vorgeschlagenen Interpretation gibt: Einerseits behauptet Sokrates, dass der Mensch nicht zugleich weise und unbeherrscht sein kann, er sagt aber nicht, dass der Mensch nicht zugleich beherrscht und unweise sein kann. Und aus der Auff ffassung von der Selbstbeherrschung als der notwendigen Bedingung sowohl des Erwerbs als auch der Ausübung der Tugend folgt, dass der beherrschte und zugleich unweise Mensch existieren kann. Andererseits teilt Xenophon mit, dass Sokrates keinen Unterschied zwischen der σοφία und der σωφροσύνη feststellt. Das heißt aber, dass er nicht nur die Stellungnahme für richtig hält, dass derjenige, der über die σοφία verfügt, bestimmt auch die σωφροσύνη hat, sondern auch die entgegengesetzte Ansicht, dass derjenige, der die σωφροσύνη hat, bestimmt auch über die σοφία verfügt. Zum Beweis dafür, dass es keinen solchen Widerspruch gibt, muss bemerkt werden, dass ich bisher absichtlich keinen Unterschied zwischen den Begriff ffen der ἐγκράτεια und der σωφροσύνη (und auch zwischen den von ihnen abgeleiteten Wörtern) in der Untersuchung gemacht habe. Die beiden wurden ohne Unterschied als ‚Enthaltsamkeit‘ oder ‚Selbstbeherrschung‘ verstanden. Solche Übersetzung ist im Ganzen völlig berechtigt33, denn der
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Siehe z.B. Mem. 4.5.7-9: Im Rahmen einer Diskussion werden zuerst die σωφροσύνη und die ἀκρασία und dann die ἐγκράτεια und die ἀκρασία gegenübergestellt.
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Enkrateia und Akrasia
Sinn des Begriff ffes der σωφροσύνη ist weiter: Der Begriff ff der σωφροσύνη nimmt den Begriff ff der ἐγκράτεια auf, hat aber außerdem noch eine Bedeutungsnuance, die ich bisher absichtlich unberücksichtigt gelassen habe, um 34 die Darlegung zu simplifizieren fi . Jetzt muss man aber Folgendes beachten: Wenn Sokrates behauptet, die Selbstbeherrschung sei die Grundlage der Tugend und dass der Mensch ohne Selbstbeherrschung nichts erlernen und nichts Gutes ausüben kann, benutzt er das Wort ἐγκράτεια; wenn er aber darüber spricht, dass derjenige, der die Weisheit besitzt, zugleich auch die Enthaltsamkeit hat, verwendet er das Wort σωφροσύνη. Da der Mensch die ἐγκράτεια als notwendige Bedingung des Erwerbs des Wissens haben muss, bevor er das Wissen erlangen kann, scheint es logisch, dass der Mensch zu einem Zeitpunkt ἐγκρατής sein, aber noch kein Wissen haben, d.h. ἄσοφος sein kann (und das ist gerade die oben genannte Situation (2)). Aber die Selbstbeherrschung, die ein solcher Mensch hat, ist die ἐγκράτεια und noch keine σωφροσύνη. Fast alle mir bekannten Interpretationen des Passus Mem. 3.9.4 beruhen auf dem Irrtum, dass zwei verschiedene Begriff ffe der ἐγκράτεια und der σωφροσύνη beim Xenophontischen Sokrates ununterscheidbar und identisch seien35. Keiner der mir bekannten Kommentatoren lenkt seine Aufmerksamkeit auf die Frage, warum Xenophons Sokrates den für seine
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Der σώφρων ist immer unbedingt ἐγκρατής (aber der ἐγκρατής kann noch nicht σώφρων sein), deswegen kann die σωφροσύνη dem ἀκρατής nicht eigen sein (Mem. 4.5.7). Jetzt kann man zum oben betrachteten Passus Mem. 1.6.13 zurückkehren, um die Bedeutung, welche das Wort σώφρων an dieser Stelle hat, klarzustellen zu versuchen. Dorion findet in ihm, wie schon erwähnt, einen Hinweis auf „une relation chaste“. Das Wort ἐραστής, das an dieser Stelle vorkommt, steht aber m.E. zu dieser Auff ffassung in Widerspruch (siehe S. 19 Anm. 24). Derjenige, den Xenophons Sokrates als σώφρων bezeichnet, hat ganz bestimmt die Enkrateia. Sie ist aber keine Askese, wie es im Kapitel I festgestellt wurde, sondern die Fähigkeit, dem körperlichen Verlangen bis zu einem bestimmten Moment Widerstand zu leisten. Die Enthaltsamkeit schließt alle körperlichen Genüsse nicht vollständig aus, sondern sie verbietet Unmäßigkeit und legt fest, wann dem Verlangen ein Zugeständnis erlaubt ist (vgl. Dorion & Bandini, 2011b, 177: „l’enkrateia n’est pas synonyme de renoncement au plaisir“, siehe auch ibidem, 178). Als ἐγκρατής und σώφρων kann folglich nicht nur derjenige bezeichnet werden, der auf alle Genüsse völlig verzichtet, sondern auch derjenige, der sich ihnen hingibt, wenn es erlaubt ist und in erlaubtem Maße. Man kann also eine Liebesbeziehung zu jemandem haben und zugleich σώφρων sein (siehe auch Hindley, 1999 und 2004 und S. 172 Anm. 45). So ist der von Dorion übersehene Widerspruch zwischen ἐραστής und σώφρων behoben und auch Gigons Verlegenheit, wie Xenophon im Zusammenhang der Liebesbeziehungen den Menschen σώφρων nennen konnte, damit beseitigt. Siehe z.B. Joël, 1893, 236: „Trennten sie [die Forscher] endlich die σωφροσύνη und die ἐγκράτεια gänzlich, so widersprachen sie sowohl III, 9 wie I, 5 resp. IV, 5, wo
Mem. 3.9.4
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Ethik so wichtigen Begriff ff der Selbstbeherrschung in verschiedenen Zusammenhängen mit zwei verschiedenen Worten ausdrückt36. M.E. ist aber die Unterscheidung zwischen diesen beiden Worten in einigen Fällen für die richtige Auff ffassung von den Ansichten des Xenophontischen Sokrates unbedingt nötig.
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beide Tugenden stets synonym gesetzt sind. Und es ist auch gar nicht zu verstehen, wie beide sich in ihrem Inhalt trennen lassen“; Dorion & Bandini, 2011a, 346: „… il semble que Xénophon emploie les termes ἐγκράτεια et σωφροσύνη comme s’ils étaient synonymes et interchangeables“ (Dorion weist außerdem auf andere Forscher hin, die diesen Standpunkt vertreten; vgl. auch Dorion, 2006b, 101: „[…] sōphrosunē, which in Xenophon is almost always synonymous with enkrateia““ – Dorion spricht aber nicht darüber, in welchen seltenen Fällen (wenn „almost always “) diese Begriffe doch keine Synonyma sind; siehe auch Dorion & Bandini, 2011b, 176 und 2000, 87 und 149); Bevilacqua, 2010, 148: „… in Senofonte sophrosyne ed enkrateia sono sostanzialmente sinonimi“ (siehe auch 138, 142, 151, 288, 328, 353). Derselbe Irrtum führt Neitzel, der die σωφροσύνη und die ἐγκράτεια für gleichbedeutende Begriff ffe hält, zu einigen falschen Schlüssen (bei der Untersuchung der Verbindung der σωφροσύνη und der ἀρετή, von welcher Sokrates in Mem. 3.9.4 spricht, bezeichnet Neitzel die σωφροσύνη als die Grundlage der Tugend und zum Beweis führt er die Worte Mem. 1.5.4 τὴν ἐγκράτειαν ἀρετῆς εἶναι κρηπῖδα an: Neitzel, 1984, 494). Wenn in Mem. 3.9.4 der ἀκρατής dem σώφρων gegenübergestellt wird (in seiner Erörterung stützt sich Neitzel gerade auf diese Beobachtung: Neitzel, 1983, 377), bedeutet das noch nicht, dass ἐγκρατής und σώφρων strikte Synonyma sind. Da Neitzel die σωφροσύνη und die ἐγκράτεια irreführenderweise nicht unterscheidet, kommt er ffassung von den Worten σοφίαν δὲ καὶ σωφροσύνην οὐ διώριζεν zum in seiner Auff falschen Schluss. Er behauptet, dass die σοφία mit der ἐγκράτεια und die ἀσοφία hingegen mit der ἀκράτεια untrennbar verknüpft ft seien. Deshalb seien zwei andere Paare (σοφία + ἀκράτεια; ἀσοφία + ἐγκράτεια) unmöglich (Neitzel, 1983, 377 und 1984, 495; Neitzel entwickelt den Gedanken von Delatte: „Mais Socrate ne se contente pas d’affi ffirmer qu’on ne peut être considéré comme sage sans être tempérant, il veut aussi indiquer qu’on ne peut être tempérant sans être sage“ (Delatte, 1933, 117)). Diese Behauptung ist nicht ganz stichhaltig, denn dem Xenophontischen Sokrates zufolge ist die Verbindung von ‚ἀσοφία‘ und σωφροσύνη unmöglich, die Verbindung von ‚ἀσοφία‘ und ἐγκράτεια ist hingegen vollkommen möglich. Dass die ἐγκράτεια und die σωφροσύνη nicht ein und dasselbe sind, erwähnt beiläufi fig Simeterre: Mit dem Verweis auf Mem. 4.5.7 behauptet er, dass die ἐγκράτεια eine Bedingung der σωφροσύνη sei: „Pour ne parler que des Mémorables, notons que σωφροσύνη peut désigner […] une vertu nettement distincte de la tempérance qui n’en est que la condition“ (Simeterre, 1938, 24). Dieses Urteil stimmt mit meiner Auffassung überein: Da die ἐγκράτεια primär ist, kann sie zu Recht als eine notwendige Bedingung der σωφροσύνη bezeichnet werden. In der Passage Mem. 3.9.4 versucht, soweit ich weiß, nur Seel allein, die Begriff ffe der ἐγκράτεια und der σωφροσύνη zu trennen: Er schlägt vor, das Adjektiv σώφρων nicht als „self-controlled“, sondern als „of sound mind, discreet, prudent, or moderate“ (oder nicht als „maître de soi“, sondern
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Enkrateia und Akrasia
Die endgültige Defi finition vom Begriff ff der ἐγκράτεια kann erst nach der Untersuchung des Akrasia-Problems gegeben werden, aber vorläufi fig kann man schon hier sagen, dass die ἐγκράτεια keine rationale Eigenschaft ft des Menschen ist; sie ist die Standhaft ftigkeit seiner Seele, die Fähigkeit, dem leidenschaft ftlichen Verlangen zu widerstehen. Diese Eigenschaft ft der menschlichen Seele ist der körperlichen Ausdauer des Menschen ähnlich. Wenn aber eine solche Enthaltsamkeit eine rationale Stütze bekommt (insofern, als der ἐγκρατής beginnt, das Wissen zu erwerben), dann wird diese Enthaltsamkeit zur σωφροσύνη37. Da man kein Wissen ohne ἐγκράτεια erlangen kann, ist sie
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als „sain d’esprit, sobre, prudent, modéré“) zu verstehen. Sein Argument scheint mir aber wenn nicht völlig unbegründet, dann wenigstens unzureichend: „In Mem. 4.5.7 he asks to which person sôphrosunê belongs less than to the akratês [Σωφροσύνης δέ […] τίνι ἂν φαίημεν ἧττον ἢ τῷ ἀκρατεῖ προσήκειν;]. The Th question makes sense only if sôphrosunê and egkrateia have diff fferent meanings“ (Seel, 22006, 37 oder 2008, 279). Obwohl Seels Intuition vollkommen richtig ist, misslingt es ihm, sie argumentativ zu schützen: Die rhetorische Frage in Mem. 4.5.7 kann als Grund für diesen Schluss nicht dienen, da es leicht vorstellbar ist, dass Sokrates das Gespräch über die Enthaltsamkeit sogar mit der folgenden rhetorischen Frage beginnen könnte: Ἐγκρατείας δέ, ὦ Εὐθύδημε, τίνι ἂν φαίημεν ἧττον ἢ τῷ ἀκρατεῖ προσήκειν; (siehe ähnliche Fragen in Mem. 4.6.7). Zweitens spricht Seel nicht darüber, worin sich eigentlich die beiden Begriffe ff unterscheiden (in diesem Fall genügt es m.E. nicht, diese Wörter einfach ins Englische oder ins Französische zu übersetzen) und warum der Xenophontische Sokrates bald ἐγκράτεια, bald σωφροσύνη sagt. Kürzlich hat Morrison auf diesen Unterschied nebenbei und kurz hingewiesen, aber in einer Diskussion rein theoretischen Charakters, ohne den Text Xenophons aus dieser Sicht zu betrachten: „La traduction d’enkrateia est facile: maîtrise de soi. Mais nous devons garder à l’esprit que l’enkrateia n’est pas la même chose que la vertu de sophrosyne ou de tempérance, qu’on traduit quelquefois par ‚maîtrise de soi’“ (Morrison, 2008, 22). Ein Hinweis auf diese rationale Grundlage kann in der Beschreibung von Kritias und Alkibiades gefunden werden (Mem. 1.2.26), in der dem Adjektiv σώφρων gleichzeitig ἀκρατής und ἀγνώμων gegenübergestellt sind. So auch, wenn die Enthaltsamkeit als μάθησις bezeichnet wird (d.h. als etwas Rationales, deswegen werden der μαθών und der ἀνεπιστήμων gegenübergestellt), wird der enthaltsame Mensch σώφρων genannt (Mem. 1.2.19); wenn es sich aber um Genüsse (die keine rationale Grundlage haben) handelt, wird Selbstbeherrschung ἐγκράτεια genannt (Mem. 4.5.9). Im Gespräch mit Euthydemus scheint Sokrates diese Worte als strikte Synonyma zu verwenden (so verstehen es auch die Kommentatoren üblicherweise: Siehe oben S. 70 f. Anm. 35). Zuerst stellt er die σωφροσύνη und die ἀκρασία und dann die ἐγκράτεια und die ἀκρασία gegenüber (4.5.7-9). Näher betrachtet wird aber klar, dass Sokrates nicht von ungefähr einmal σωφροσύνη, einmal ἐγκράτεια sagt. Zuerst spricht er darüber, dass die Handlungen der beherrschten Menschen den Handlungen der unbeherrschten Menschen entgegengesetzt sind; und in diesem Fall stellt er die σωφροσύνη und die ἀκρασία gegenüber: αὐτὰ γὰρ δήπου τὰ ἐναντία σωφροσύνης καὶ ἀκρασίας ἔργα ἐστίν; und gleich
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primär und die σωφροσύνη sekundär. Die σωφροσύνη ist vom Wissen untrennbar, weil sie eine rationale Grundlage hat. In der oben analysierten Benachher noch einmal: τοῖς σωφρονοῦσι τὰ ἐναντία ποιεῖν (4.5.7). Die Handlungen des σώφρων (und nicht des ἐγκρατής) sind das Gegenteil der Handlungen des ἀκρατής. Denn derjenige, der nur die ἐγκράτεια hat und die σωφροσύνη noch nicht erreicht hat, kann eine Tat begehen, die dem unbeherrschten Menschen eigen ist: Er kann einen Fehler unabsichtlich machen, weil er noch kein Wissen besitzt, er kann deswegen zwischen dem Guten und dem Schlechten nicht wissentlich wählen. Deshalb kann seine Wahl unrichtig sein und der Wahl des unbeherrschten Menschen gleichen. Derjenige hingegen, der schon σώφρων ist, kann nie unrecht tun, deshalb sind seine Handlungen den Handlungen des unbeherrschten Menschen immer gegensätzlich. Weiter spricht Sokrates aber darüber, dass die Enthaltsamkeit und ihr Gegenteil entgegengesetzte Zustände bewirken, und in diesem Fall stellt er schon die ἐγκράτεια und die ἀκρασία gegenüber. Denn es handelt sich hier um einen Ursprung, einen Ausgangspunkt der Lebensweise und des Verhaltens des Menschen: οὐκοῦν τὴν ἐγκράτειαν τῶν ἐναντίων ἢ τὴν ἀκρασίαν εἰκὸς τοῖς ἀνθρώποις αἰτίαν εἶναι (4.5.8). Contra Dorion & Bandini, 2011b, 176: „Comme les œuvres (ἔργα) de la modération (σωφροσύνη) sont contraires (ἐναντία) à celles de l’akrasia, la modération ne semble pas se distinguer de l’enkrateia, qui est pourtant, comme son nom l’indique, la disposition opposée à l’akrasia. Au § 8, Socrate affi ffirme d’ailleurs que l’enkrateia est la cause de résultats opposés (τῶν ἐναντίων) ff entre les résultats à ceux provoqués par l’akrasia, comme s’il ne faisait aucune différence de la modération et ceux de l’enkrateia.“ In seiner Erläuterung der Worte αὐτὰ γὰρ δήπου τὰ ἐναντία σωφροσύνης καὶ ἀκρασίας ἔργα ἐστίν behauptet Dorion mit Recht, dass niemand zugleich σώφρων und ἀκρατής sein kann. Es ist aber nicht klar, wie er in diesen Worten noch einen Hinweis darauf findet, dass die ἀκρασία die Enthaltsamkeit nicht überwinden oder neutralisieren kann: „Si les actes que pose l’akratês sont contraires à ceux d’un homme modéré, il s’ensuit que le même homme ne peut pas être à la fois akratês et modéré : s’il est akratês, il n’agira pas de façon modérée, et s’il est modéré, il ne fera pas preuve d’absence de maîtrise de soi. D’où le refus de Xénophon de reconnaître qu’un homme akratês puisse également posséder la modération. Ce qui est également rejeté de façon implicite, dans ce passage, c’est la possibilité que la modération, lorsqu’elle est présente chez un individu, soit renversée ou même éclipsée et neutralisée par l’akrasia“ (Dorion, 2003, 656). Da nach Dorion die ἀκρασία des Xenophontischen Sokrates ein Antonym der ἐγκράτεια ist (Dorion, 2003a, 661: „[…] Xénophon n’emploie fi restreinte de comportement contraire au jamais ἀκρασία dans ce sens [la signification jugement que l’on porte sur son meilleur intérêt] et qu’il l’utilise toujours pour désigner la disposition contraire à l’enkrateia, qui désigne de toute évidence la maîtrise de soi à l’endroit des plaisirs corporels [...]“), so ist es richtig, im Fall des Verlustes der Enthaltsamkeit zu sagen, dass die Enthaltsamkeit von der ἀκρασία überwunden ist. M.E. widerspricht diese Behauptung nicht dem Urteil, dass kein Mensch zugleich σώφρων und ἀκρατής sein kann. Außerdem bestätigt diese Passage noch einmal den oben gezogenen Schluss, dass die Enthaltsamkeit keine ständige Eigenschaft ft des Menschen ist. Wenn die Handlungen des σώφρων und des ἀκρατής entgegengesetzt sind, hat folglich derjenige, der eine dem ἀκρατής eigene Handlung begeht, in diesem Augenblick keine Enthaltsamkeit mehr, wenn auch er sie früher hatte. In diesem Augenblick ist er nicht mehr ἐγκρατής und nicht mehr σώφρων, sondern ἀκρατής.
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Enkrateia und Akrasia
hauptung von Sokrates ist es richtig, dass sowohl die σοφία ohne σωφροσύνη als auch die σωφροσύνη ohne σοφία unmöglich sind. Es ist hingegen falsch, obwohl eben diese Auff ffassung in der Forschungsliteratur häufi fig ist, dass die Weisheit ohne Selbstbeherrschung und die Selbstbeherrschung ohne Weisheit unmöglich sind38: Die Weisheit (das Wissen) kann ohne Selbstbeherrschung weder erworben noch beibehalten werden; die Selbstbeherrschung (ἐγκράτεια) ist doch ohne Wissen möglich. Ohne Wissen ist nur die rationale Selbstbeherrschung (σωφροσύνη) unmöglich. Die vorgeschlagene Interpretation des Passus Mem. 3.9.4 ruft ft keinen Widerspruch hervor, denn hier spricht Sokrates ausschließlich von der σωφροσύνη, von der ἐγκράτεια spricht er an dieser Stelle nicht39. Jetzt können die vier oben genannten Fälle mit folgendem Schema genauer dargestellt werden: (1) ἀκρατής, ἄσοφος; (2) ἐγκρατής, ἄσοφος; (3) (ἐγκρατής) σώφρων, σοφός; (4) ἀκρατής, ἄσοφος.
Hier kann der Unterschied zwischen dem Fall (1) und dem Fall (4) unberücksichtigt gelassen werden40. Da die Frage von Sokrates’ Gesprächspartner in Mem. 3.9.4 den Menschen betrifft fft, der unrecht tut, gehören nur die Fälle (1/4) und (2) zur Untersuchung, weil im Fall (3) der Mensch das Wissen hat und folglich nicht unrecht tun kann. Erstens tut derjenige unrecht, der infolge des Mangels an ἐγκράτεια kein Wissen hat. Zweitens kann auch derjenige unrecht tun, der, obwohl er über ἐγκράτεια verfügt, doch noch kein Wissen hat, weil die ἐγκράτεια immer dem Wissen vorausgeht. Bemerkenswert ist übrigens der Unterschied zwischen den Handlungen dieser beiden Menschen. Obwohl sie ebenso unrichtig sind, haben sie doch verschiedene Beschaff ffenheiten, weil der Erstere ἀκρατής ist, der Letztere dagegen
38 39
40
Siehe z.B. Delatte, 1933 und Neitzel, 1983 oben S. 65 ff. ff Anm. 32. Im Licht der vorgeschlagenen Interpretation wäre folglich jeder Ersatz des Wortes ἀκρατεῖς mit ἐγκρατεῖς in dieser Passage (sowohl in der Frage als auch in Sokrates’ Antwort) fehlerhaft ft und irreführend: Siehe oben S. 65 ff. Anm. 32. Der Fall (1) beschreibt den Menschen, der weder Selbstbeherrschung noch (deswegen) Weisheit besitzt. Im Fall (4) handelt es sich um den Menschen, der seine Selbstbeherrschung und (deswegen auch) Weisheit schon verloren hat. Ihre Handlungen sind aber ebenso unrichtig (denn die beiden haben weder Wissen noch Selbstbeherrschung). Wenn von Handlungen die Rede ist, können diese zwei Fälle deshalb auf einen zurückgeführt werden und kann der Unterschied zwischen ihnen außer Acht gelassen werden.
Mem. 3.9.4
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ἐγκρατής. Der Mensch, der keine ἐγκράτεια hat, strebt hemmungslos nach dem Vergnügen und weiß nicht in Genüssen Maß zu halten. Derjenige aber, dem ἐγκράτεια eigen ist, benimmt sich wie der beherrschte Mensch, sein Verhalten unterscheidet sich scharf vom Verhalten des Unbeherrschten. Obgleich er seinem körperlichen Verlangen Widerstand leistet, kann er doch das Richtige und das Unrichtige nicht erkennen, denn dafür ist das Wissen von diesem nötig, und deswegen macht ein solcher Mensch Fehler bei der Wahl zwischen dem Richtigen und dem Unrichtigen, dem Nützlichen und Schädlichen, dem Guten und Schlechten. Sein unrichtiges Verhalten beruht also auf seiner Unwissenheit. Hätte Sokrates auf die gestellte Frage direkt geantwortet, würde er folgendermaßen sprechen: „Der Mensch, der unrecht tut [der nicht so handelt, wie er muss], hat ganz bestimmt kein Wissen (ἄσοφος), es kann aber sowohl der Mensch ohne ἐγκράτεια (ἀκρατής) als auch der Mensch mit ἐγκράτεια (ἐγκρατής) sein.“ Gerade das spricht Sokrates auch fast ebenso offen ff am Ende seiner Antwort aus: „Die Menschen, die nicht richtig handeln, halte ich weder für σοφοί noch für σώφρονες“: νομίζω οὖν τοὺς μὴ ὀρθῶς πράττοντας οὔτε σοφοὺς οὔτε σώφρονας εἶναι.
Diese zwei Aussagen sind ganz identisch: „halte für σοφοί nicht“ = „halte für ἄσοφοι“; „halte für σώφρονες nicht“ = „halte entweder für ἀκρατεῖς oder für ἐγκρατεῖς“. Denn ἀκρατής ist derjenige, der nicht ἐγκρατής ist, d.h. der keine ἐγκράτεια hat; und ἐγκρατής ist derjenige, dem ἐγκράτεια eigen ist; ἀκρατής und ἐγκρατής sind Antonyme. Also bedeutet ἀκρατής nicht-ἐγκρατής und folglich auch nicht-σώφρων, weil der σώφρων immer ἐγκρατής ist. Aber nicht-σώφρων kann sowohl ἀκρατής (wenn er zugleich nicht-ἐγκρατής ist), als auch ἐγκρατής bedeuten, weil die ἐγκράτεια der σωφροσύνη immer vorausgeht: Der Mensch kann die ἐγκράτεια ohne σωφροσύνη haben, aber die σωφροσύνη immer ausschließlich mit der ἐγκράτεια zusammen. Wenn man also ‚nicht-σώφρονες‘ sagt, bedeutet das dasselbe, was die Aussage „entweder ἐγκρατεῖς oder ἀκρατεῖς“ bedeutet41.
41
In seiner Interpretation der Worte νομίζω οὖν τοὺς μὴ ὀρθῶς πράττοντας οὔτε σοφοὺς οὔτε σώφρονας εἶναι kommt Neitzel zum falschen Schluss, weil er irrtümlicherweise ἐγκράτεια und σωφροσύνη nicht unterscheidet (siehe S. 70 f. Anm. 35): „Wer nicht recht handle (= ἀκρατής), den halte er für ἄσοφος zugleich und ἀκρατής (Ende von §4: οὔτε σοφοὺς οὔτε σώφρονας)“ (Neitzel, 1984, 495). Sokrates sagt hier direkt, dass dem Menschen, welcher nicht recht handelt, weder σοφία noch σωφροσύνη eigen ist. Er sagt aber nicht und meint auch nicht, dass einem solchen Menschen unbedingt die ἀκρασία zugehörig ist.
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Enkrateia und Akrasia
In seiner Antwort korrigiert Sokrates folglich zuerst den Widerspruch, den sein Gesprächspartner bei der Formulierung seiner Frage hat aufkomfk men lassen, und betont das Wort ἄσοφοι im Gegensatz zu dem vom Gesprächspartner gesagten σοφοί. Das Wort ἀκρατεῖς wiederholt Sokrates einfach nach seinem Gesprächspartner, um seine Aufmerksamkeit auf den gemachten Fehler zu lenken. Und er selbst macht gleichzeitig keinen Fehler, wenn er das Wort ἀκρατεῖς auf diese Weise nennt: Er gibt zunächst nur keine endgültige Antwort. Aus den zwei Möglichkeiten nennt er nur eine: Derjenige handle nicht recht, der weder Wissen noch ἐγκράτεια habe. Da es aber unzureichend ist, teilt Sokrates sofort nach diesen Worten auch den zweiten Teil mit, der für die richtige und vollständige Antwort notwendig ist: Auch derjenige handle nicht recht, der ἐγκράτεια ohne Wissen habe. Das ist gerade, was seine Aussage „derjenige, der nicht recht handelt, hat weder Wissen noch σωφροσύνη“ bedeutet. Aus allem gesagten kann der folgende Schluss abgeleitet werden: Obgleich die ἐγκράτεια für den Erwerb des Wissens – und folglich für das richtige Handeln – die notwendige Bedingung ist, ist sie doch keine hinreichende Bedingung: Um keine Fehler zu machen (d.h. um die richtige Wahl zwischen dem Guten und Schlechten zu treffen), ff muss man nicht nur ἐγκράτεια, sondern auch das Wissen haben. Da die ἐγκράτεια dem Wissen vorausgeht, kann der Mensch existieren, der ἐγκράτεια und gleichzeitig kein Wissen hat. Deswegen können untugendhaft fte Handlungen nicht nur vom unbeherrschten Menschen (ἀκρατής) sondern auch vom beherrschten (ἐγκρατής) ausgeführt werden, wenn der Letztere noch kein Wissen erworben hat. Die ἐγκράτεια ist notwendig, aber nicht hinreichend für die Tugend. Derjenige hingegen, der die σωφροσύνη besitzt, verfügt sicher über das Wissen und kann deswegen nicht unrecht handeln.
3. Mem. 4.5.6 Diese Passage ist ausschlaggebend bei der Frage, ob die Akrasia in der Ethik des Xenophontischen Sokrates möglich ist und ob seine Urteile einen Widerspruch enthalten. Das Hauptinstrument für die Interpretation dieser Passage ist die These, dass sowohl die Selbstbeherrschung als auch das Wissen nicht beständig sind und leicht verlorengehen können.
Jetzt muss die andere am Anfang des Kapitels erwähnte Passage Mem. 4.5.6 analysiert werden, die den Anschein erweckt, dass Sokrates von der Möglichkeit der Akrasia spricht. In diesem Dialog erklärt Sokrates seinem Gesprächspartner Euthydemus, wie groß die verderbliche Macht der ἀκρασία
Mem. 4.5.6
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ist . Zunächst wird die oben genannte Situation (1) noch einmal geschildert: Derjenige, der keine Selbstbeherrschung hat, kann das Wissen weder haben noch erwerben, solange er unbeherrscht bleibt, denn die ἀκρασία stiftet ft den Menschen zu Genüssen an und hindert ihn daran, den Blick auf andere Dinge zu richten und zu lernen, was gut und schlecht ist: 42
σοφίαν δὲ τὸ μέγιστον ἀγαθὸν οὐ δοκεῖ σοι ἀπείργουσα τῶν ἀνθρώπων ἡ ἀκρασία εἰς τοὐναντίον αὐτοὺς ἐμβάλλειν; ἢ οὐ δοκεῖ σοι προσέχειν τε τοῖς ὠφελοῦσι καὶ καταμανθάνειν αὐτὰ κωλύειν, ἀφέλκουσα ἐπὶ τὰ ἡδέα…
Die ἀκρασία stürzt Menschen ins Gegenteil der Weisheit – in Unwissenheit: Das Fehlen der Selbstbeherrschung zieht nach sich die unumgängliche Folge – das Fehlen des Wissens. Nach Dorion spricht Sokrates im zweiten Teil dieser Passage, wie schon erwähnt, darüber, dass der unbeherrschte Mensch, obwohl er nie seinem Wissen zuwider handle (da er kein Wissen besitzt), doch seiner Empfi findung oder geistigen Wahrnehmung (‚perception‘) vom Guten und Schlechten zuwider handeln könne: καὶ πολλάκις αἰσθανομένους τῶν ἀγαθῶν τε καὶ τῶν κακῶν ἐκπλήξασα ποιεῖν τὸ χεῖρον ἀντὶ τοῦ βελτίονος αἱρεῖσθαι.
Der unbeherrschte Mensch sei folglich imstande, das eine als gut und das andere als schlecht wahrzunehmen, und unter dem Einfluss fl seiner Unbeherrschtheit könne er (bewusst) wählen, was er selbst als das Schlechte wahrnehme43. Das sei aber kein Fall der Akrasia, nach Dorion, denn Akrasia ist das Handeln wider besseres Wissen; wenn der Mensch aber seiner
42
43
Ein wenig früher bezeichnet er den Zustand des Menschen, der seinem körperlichen Verlangen nicht widerstehen kann, als die schlechteste Sklaverei: τὴν κακίστην ἄρα δουλείαν οἱ ἀκρατεῖς δουλεύουσιν (Mem. 4.5.5). Diese Sklaverei ist die schlimmste, weil der Sklave der körperlichen Wünsche keine Möglichkeit hat, tugendhaft ft und folglich glücklich zu werden. Derselbe Gedanke findet fi sich in Oec. 1.16-23. Dorion, 2003a, 660 und Dorion & Bandini, 2011b, 174: „[…] et c’est précisément cette perception, et rien de plus, qui peut être brouillée par l’akrasia, laquelle leur fera ainsi choisir le pire au lieu du meilleur.“ Siehe auch S. 55 Anm. 9. Außerdem beruft ft sich Dorion auf die Meinung von Simeterre: „Après examen, on remarque qu’on ne parle pas ici, en toute rigueur, de ceux qui possèdent la véritable science, ἐπιστήμη, qui se sont élevés à la sagesse, σοφία, mais de ceux qui ont une connaissance quelconque […]. Αἰσθάνεσθαι n’a jamais le sens fort d’εἰδέναι et peut s’opposer à ce terme comme l’opinion s’oppose à la science“ (Simeterre, 1938, 53 f.). Warum diese Auff ffassung mir im Ganzen irrtümlich scheint, siehe unten. Hier sei noch bemerkt, dass auch die Gegenüberstellung von Meinung oder Wahrnehmung und Wissen, zu welcher Simeterre und Dorion in ihren Interpretationen greifen, mir nicht völlig begründet scheint.
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Wahrnehmung oder Meinung zuwider handle, sei es keine Akrasia44. Diese Auff ffassung scheint mir nicht vollkommen logisch zu sein: Der unbeherrschte Mensch kümmert sich, nach der Meinung des Xenophontischen Sokrates, nur um Vergnügen, sein Verlangen nach den steten Genüssen lässt ihn nicht untersuchen, was das Gute und das Schlechte ist, es lässt ihn nichts anderes außer Genüssen beachten. Derjenige, der keine Selbstbeherrschung hat, kann nicht nur kein Wissen, sondern auch keine Wahrnehmung oder Meinung vom Guten und Schlechten haben. Für einen solchen Menschen ist gut, was zum Vergnügen führt, und schlecht hingegen, was am Vergnügen hindert; er kann nichts anderes sehen. Der Mensch, der nicht beherrscht ist, kann keine Empfi findung von anderem ‚Guten‘ und ‚Schlechten‘ haben. Es wäre deswegen absurd, anzunehmen, dass der unbeherrschte Mensch gerade von derjenigen Unbeherrschtheit verwirrt werden kann, die ihn zum Vergnügen fortwährend anstift ftet, und dass er wegen dieser Verwirrung der Gefühle gerade dasjenige wählt, das er als das Schlechte wahrnimmt (d.h. als das vom Vergnügen Entfernende), und es demjenigen vorzieht, das er als das Gute empfi findet (d.h. als das zum Vergnügen am schnellsten Führende). Da der unbeherrschte Mensch keine andere Wahrnehmung vom Guten und Schlechten haben kann, meint folglich Sokrates hier nicht den ἀκρατής, sondern den ἐγκρατής, der durch Genüsse nicht verblendet ist und imstande ist, das wirkliche Gute und Schlechte zu sehen. An dieser Stelle spricht Sokrates m.E. zunächst darüber, wie viel Übel die ἀκρασία demjenigen bringt, der keine Selbstbeherrschung hat (oder anders gesagt, welches Übel aus der Unbeherrschtheit folgt); dann will er aber seinem Gesprächspartner noch vorführen, wie gefährlich die ἀκρασία auch für den-
44
Der Xenophontische Sokrates stellt die Zustände des Menschen, die mit dem Verb αἰσθάνεσθαι einerseits und εἰδέναι andererseits (oder mit jedem anderen Verb mit der üblichen Bedeutung ‚wissen‘) bezeichnet werden, niemals gegenüber. Xenophons Sokrates spricht nie über den Unterschied zwischen dem Wissen und der Meinung, und das Verb αἰσθάνεσθαι wird in den Xenophontischen Werken in seinen zwei üblichen Sinnen verwendet: Erstens ‚wahrnehmen‘, d.h. als Sinneseindruck aufnehmen; zweitens ‚bemerken‘, ‚erfahren‘, ‚verstehen‘. In dieser Hinsicht ist eine Stelle aus dem Hieron bemerkenswert: ὁ δὲ τύραννος ὅταν ὑποπτεύσῃ καὶ αἰσθανόμενος τῷ ὄντι ἀντιπραττομένους τινὰς ἀποκτείνῃ […] (Hi. 2.17). Dem Verb ὑποπτεύω mit dem Sinn ‚vermuten‘ wird hier das Verb αἰσθάνομαι als ‚erfahren‘ gegenübergestellt. Die Beobachtung von Simeterre und Dorion, dass der Xenophontische Sokrates nie das Verb αἰσθάνεσθαι verwendet, wenn er über das sittliche Wissen spricht, ist freilich richtig; mit Rücksicht auf alles Gesagte scheint mir doch ihre Auff ffassung nicht völlig begründet. Dorion, 2003a, 660 und Dorion & Bandini, 2011b, 174 f.
Mem. 4.5.6
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jenigen ist, der über Selbstbeherrschung verfügt (genauer gesagt, wie gefährlich es ist, die Selbstbeherrschung zu verlieren). So schildert Sokrates zuerst die Situation (1) und streift ft nachher kurz die Fälle (2) und (3)-(4), die jetzt im einzelnen zu betrachten sind. Im oben genannten Fall (2) handelt es sich um den Menschen, der ἐγκράτεια hat, aber das Wissen noch nicht erworben hat. Dieser Mensch strebt nach dem Wissen und hat dafür die Fähigkeit, weil die ἐγκράτεια ihm hilft, ft dem körperlichen Verlangen zu widerstehen, sie lässt ihn alles um ihn herum beachten und untersuchen, was gut und was schlecht ist. Nach Sokrates’ Gedanken kann es aber so geschehen, dass dieser Mensch während dieser Untersuchung von der ἀκρασία betört wird (d.h. dass das körperliche Verlangen über die ihm entgegengesetzte Selbstbeherrschung die Oberhand gewinnt) und er folglich sofort seine Fähigkeit, alles klar zu sehen, verliert. Jetzt sind ihm nur Genüsse sichtbar, alles andere kann er nicht mehr wahrnehmen. Deshalb wählt ein solcher Mensch das Schlechte: Seine Handlungen werden von nun an von denselben Antrieben motiviert wie die Handlungen des unbeherrschten Menschen, d.h. vom Verlangen nach Vergnügen. Die Wahl dieses Menschen ist aber kein Fall der Akrasia: Er ist noch nicht dazu gekommen, das Wissen zu erlangen; seine Selbstbeherrschung hat er während der Untersuchung verloren. Andererseits schildert Sokrates mit denselben Worten die Verwandlung des Falles (3) in den Fall (4): Der Mensch, der sowohl die ἐγκράτεια als auch das Wissen hat, unterscheidet das Gute und das Schlechte, deswegen trifft fft er immer die richtige Wahl, aber nur so lange, bis die ἀκρασία ihn betört. Sokrates versucht Euthydemus hier davor zu warnen, dass jeder Mensch sein ganzes Leben lang sich im ständigen Kampff45 mit den körperlichen Vergnügen befindet, fi die ihn ununterbrochen verführen und für sich zu gewinnen versuchen. Allen beherrschten Menschen droht ständig die Gefahr, dass sie einmal keinen Widerstand aufbringen können und nachgeben, d.h. ihre Selbstbeherrschung und zugleich auch die Fähigkeit, das Gute und das Schlechte zu unterscheiden, verlieren. Und dann werden sie genau so handeln wie unbeherrschte und unwissende Menschen, die von dem körperlichen Verlangen nach Genüssen beherrscht sind. Das Handeln dieser Menschen kann aber nicht als Beweis der Mög-
45
Siehe Oec. 1.23: ἀλλὰ δεῖ, ὦ Κριτόβουλε, πρὸς ταῦτα οὐχ ἧττον διαμάχεσθαι περὶ τῆς ἐλευθερίας ἢ πρὸς τοὺς σὺν ὅπλοις πειρωμένους καταδουλοῦσθαι. […] αἱ δὲ τοιαῦται δέσποιναι [= αἱ ἡδοναί] αἰκιζόμεναι τὰ σώματα τῶν ἀνθρώπων καὶ τὰς ψυχὰς καὶ τοὺς οἴκους οὔποτε λήγουσιν, ἔστ’ ἂν ἄρχωσιν αὐτῶν. Siehe auch Mem. 1.2.24: […] ἐδυνάσθην ἐκείνῳ χρωμένω συμμάχῳ τῶν μὴ καλῶν ἐπιθυμιῶν κρατεῖν. Auf die Metapher des Kampfes hat auch Morrison hingewiesen: Morrison, 2008, 21; siehe auch unten S. 84 ff. ff Anm. 51.
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lichkeit der Akrasia dienen: In dem Augenblick, wenn ein solcher Mensch eine unrechte Tat begeht, hat er schon weder das Wissen (oder irgendeine Wahrnehmung) vom Guten und vom Schlechten, noch die Fähigkeit, sie zu unterscheiden. Wie für jeden unbeherrschten Menschen ist für ihn jetzt gut, was zum Vergnügen führt, und schlecht, was von ihm entfernt. Der zweite Teil der untersuchten Passage – mit den Worten αἰσθανομένους τῶν ἀγαθῶν τε καὶ τῶν κακῶν, die im Licht des Akrasia-Problems erstaunen können und die deswegen einer Interpretation bedürfen –, ist m.E. folgendermaßen aufzufassen: „Und häufi fig, nachdem sie die Aufnahmefähigkeit des Menschen für das Gute und das Schlechte verwirrt, nötigt sie ihn das Schlechte statt des Guten zu wählen“46.
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Vgl. Marchants Übersetzung: „[…] and oft ften so stuns their perception of good and evil that they choose the worse instead of the better“; ihr folgt auch Seel: „[…] and often ft aft fter having stunned them in their perception of good and evil makes them choose the worse instead of the better“ (Seel, 22006, 35; siehe auch 38 oder 2008, 280). Siehe auch die nächste Anm. Es scheint mir wichtig zu beachten, wie das Partizip αἰσθανομένους in Mem. 4.5.6 verwendet ist. In den Xenophontischen Werken werden die Formen des Verbs αἰσθάνεσθαι in den meisten Fällen mit dem von ihnen abhängigen Akkusativ verwendet (viel seltener mit dem ὅτι-Nebensatz). An dieser Stelle ist das Partizip αἰσθανομένους jedoch mit dem abhängigen Genitiv verwendet. Diese Konstruktion kommt in Xenophons Werken nicht so häufi fig vor, hier können die wichtigsten Fälle angeführt werden: Mem. 4.3.11: τὸ δὲ καὶ λογισμὸν […] ᾧ περὶ ὧν αἰσθανόμεθα λογιζόμενοι; Mem. 4.3.14: καὶ ἄνεμοι αὐτοὶ μὲν οὐχ ὁρῶνται […] προσιόντων αὐτῶν αἰσθανόμεθα; Mem. 4.4.13: οὐ γὰρ αἰσθάνομαί σου, ὁποῖον νόμιμον ἢ ποῖον δίκαιον λέγεις; Eq. 4.2: τούτου δ’ ἄν τις αἰσθανόμενος. Den Schlüssel zum Verständnis unseres Passus Mem. 4.5.6 können m.E. folgende Worte aus dem Kynegetikos liefern: εἶτα ἐκ μὲν τῶν ματαίων λόγων ἔχθρας ἀναιροῦνται, ἐκ δὲ τῶν κακῶν ἔργων νόσους καὶ ζημίας καὶ θανάτους καὶ αὐτῶν καὶ παίδων καὶ φίλων, ἀναισθήτως μὲν τῶν κακῶν ἔχοντες, τῶν δὲ ἡδονῶν πλέον τῶν ἄλλων αἰσθανόμενοι […] (Cyn. 12.13). Hier sind ἀναισθήτως ἔχειν mit dem abhängigen Genitiv und αἰσθανόμενος εἶναι mit dem abhängigen Genitiv gegenübergestellt. Die erste Wortgruppe hat den Sinn „in Bezug findungslos, gleichgültig sein“ (d.h. „nicht beachten, nicht auf jemanden / etwas empfi sehen“), die zweite hingegen – „empfänglich, empfi findlich, aufnahmefähig sein“ (d.h. „beachten, sehen, erkennen“). Die Ähnlichkeit des Wortgebrauchs und der syntaktischen Konstruktion zwischen dieser Stelle und der Passage Mem. 4.5.6 scheint den Sinn der umstrittenen Worte αἰσθανομένους τῶν ἀγαθῶν τε καὶ τῶν κακῶν verstehen zu lassen. Auch Dorion weist auf diese Stelle hin: „Xénophon affirme, ffi dans l’Art de la chasse, que la perception ou la sensation du plaisir est si intense qu’elle peut même éclipser notre perception du mal“ (Dorion & Bandini, 2011b, 173). Dorion sieht hier also eine Gegenüberstellung von Empfi findung des Vergnügens und Wahrnehmung des Bösen, d.h. von sinnlichem Gefühl und ethischer Kategorie.
Mem. 4.5.6
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Am Anfang dieses Paragraphen spricht Sokrates also vom Menschen, der keine Selbstbeherrschung hat und folglich nicht imstande ist, das Gute und das Schlechte zu unterscheiden, am Ende der Passage wird derjenige zum Gegenstand der Rede hingegen, der für das Gute und das Schlechte aufnahmefähig ist, d.h. welcher Selbstbeherrschung hat. Aber nachdem er sie verloren hat, verfügt er über seine Aufnahmefähigkeit für das Gute und das Schlechte und über sein Wissen vom Guten und vom Schlechten – wenn er es schon erworben hat – nicht mehr, d.h. er kann sein Wissen nicht benutzen und seine Handlungen nicht auf es gründen: Seine Wahl in der Situation, wenn er handeln muss, trifft fft er folglich, ohne das Gute und das Schlechte unterscheiden zu können. Wenn Sokrates hier sagt, dass der Mensch, den die ἀκρασία betört hat, das Schlechte statt des Guten wählt, sind diese als gut und schlecht nicht aus der Sicht des wählenden Menschen bezeichnet, sondern objektiv, wie es tatsächlich ist. Sokrates meint hier nicht, dass der Mensch bewusst dasjenige wählt, was er selbst für das Schlechte hält (weiß oder wahrnimmt), sondern dass ein solcher Mensch de facto (unbewusst) die unrichtige Wahl trifft: fft das Schlechte wählt47. Sokrates will hier zeigen, dass das Fehlen der Selbstbeherrschung im Augenblick der Ausführung einer Handlung jeden Menschen dazu bringt, dass er unrecht handelt. Folglich ist das Fehlen der Selbstbeherrschung für die Menschen schädlich und verderblich: Wenn der Mensch das Schlechte wählt, fügt er sich Schaden zu48.
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Dazu richtig Morrison: „On doit noter que le Socrate de Xénophon dit que celui qui est gouverné par les plaisirs corporels est empêché par eux de faire ‘ce qui est le mieux’. Il ne dit pas qu’il est empêché de faire ‘ce qu’il souhaite’ ou ‘ce qui lui semble le mieux’“ (Morrison, 2008, 21 f.). Seel und Morrison kommen in ihren Interpretationen zu demselben Schluss, dass die ἀκρασία des Xenophontischen Sokrates die Menschen unfähig macht, das Gute und das Böse wahrzunehmen: „[…] lack of self-control is described as having two negative effects: ff (a) preventing the acquisition of practical knowledge, (b) preventing the correct choice by disturbing the perception of good and evil“ (Seel, 22006, 35) und „[…] ce que font les appétits quand ils ne sont soumis à aucun contrôle, ce n’est pas de forcer la personne à agir autrement que ce qu’elle juge être la mieux, mais plutôtt de dévier, de distraire et de corrompre son jugement“ (Morrison, 2008, 23). Trotz dieses Schlusses vertritt sowohl Seel als auch Morrison dasselbe Urteil wie Dorion, dass die ἐγκράτεια die notwendige Bedingung des Erwerbs von Wissen sei, während aus ihren Auff ffassungen folgt, dass die ἐγκράτεια auch für die Beibehaltung der Fähigkeit notwendig ist, es im Augenblick der Ausführung einer Handlung zu benutzen: „[…] self-control is called the foundation of virtue, not something that helps one put virtue into action“ (Seel, 22006, 34) und „La maîtrise de soi est le fondement de la sagesse en ce sens qu’elle est la condition de l’acquisition de la sagesse“ (Morrison, 2008, 23). Siehe S. 123 ff.
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Enkrateia und Akrasia
Als Ergebnis der durchgeführten Analyse dieser Passage stellt sich noch ein Merkmal des Menschen heraus, welchen der Fall (3) beschreibt: Der Mensch kann nur so lange beherrscht und weise bleiben, bis seine ἐγκράτεια so stark ist, dass sie imstande ist, dem immer bedrohlichen Verlangen nach Vergnügen zu widerstehen. Wird die ἐγκράτεια schwach, bekommt sofort der körperliche Wunsch die Oberhand; nur derjenige kann deshalb beherrscht und weise sein und bleiben, dessen ἐγκράτεια gut entwickelt und stark ist. Folglich ist die ἐγκράτεια sowohl für die intellektuelle Untersuchung des Guten und des Schlechten und den Erwerb vom Wissen als auch für die weitere Beibehaltung des erworbenen Wissens und der Fähigkeit, es in jeder einzelnen Situation zu benutzen, nötig: Ohne Selbstbeherrschung kann man das Wissen nicht erlangen und mit dem Verlust der Selbstbeherrschung verliert man zugleich auch die Fähigkeit, es zu benutzen. In der Passage Mem. 4.5.6 spricht Sokrates also nicht von der Möglichkeit der Akrasia: Akrasia ist die bewusste Wahl des Schlechteren, wenn der Mensch gerade im Augenblick der Ausführung der Handlung weiß, was gut und richtig ist, und bewusst schlecht und unrichtig handelt. Wenn der Mensch unrichtig handelt, aber im Augenblick der Ausführung dieser Handlung denkt, dass er das Richtige tut, – sogar in dem Fall, wenn er früher, vor diesem Augenblick der Ausführung wusste, dass das unrichtig ist –, ist das nicht Akrasia, sondern das Verderben, der Verlust des Wissens49.
49
Eine ähnliche Gegenüberstellung zieht Morrison (Morrison, 2008, 24 f.): Er unterscheidet „une grave faiblesse de la volonté“ (= Akrasia) und „une légère faiblesse de la volonté“ (= Verderben des Wissens); der Unterschied besteht darin, dass er im Fall der grave faiblesse de la volonté vom Wissen spricht („l’incapacité d’agir en accord avec son savoir ou son jugement tel qu’on en a conscience au moment de l’action“) und im Fall der légère faiblesse de la volonté – von der Meinung („l’incapacité d’agir en accord avec ses opinions habituelles, à cause d’un obscurcissement temporaire de son jugement“). M.E. haben wir, wie schon erwähnt, keinen Grund, bei der Auffasff sung der Ansichten des Xenophontischen Sokrates das Wissen und die Meinung zu unterscheiden; im Übrigen scheint mein Schluss mit dem Urteil Morrisons übereinzustimmen: „Le Socrate de Xénophon nie la possibilité d’une grave faiblesse de la volonté. […] La faiblesse de la volonté qu’il admet, c’est la légère faiblesse de la volonté : nos opinions habituelles sur ce qui est le mieux sont mises en déroute par nos passions, de sorte que nous agissons mal dans l’illusion momentanée que c’est le mieux“ (Morrison, 2008, 25). Der Unterschied liegt auch darin, dass die Verwirrung, von der Xenophons Sokrates spricht, m.E. nicht so leicht als vorübergehend und zeitweilig bezeichnet werden kann, da man für die Wiederherstellung des früheren Zustandes zuerst die verlorengegangene Selbstbeherrschung wiederherstellen muss, was der Xenophontische Sokrates nicht für eine einfache Aufgabe hält (siehe z.B. oben die Episode von Kritobulos aus dem vierten Kapitel des Symposion), ansonsten aber wird
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Wenn der Mensch einmal das Wissen erworben hat, bedeutet das noch nicht, dass er es von nun an für immer haben wird. Nach der Überzeugung des Xenophontischen Sokrates verschwindet jedes Wissen, wenn man sich um seine Beibehaltung nicht kümmert. Aus allem Gesagten folgt, dass drei Ursachen möglich sind, die zum Verlust des Wissens führen. Zum einen muss jeder Mensch alles, was er früher gelernt hat, immer ohne Unterbrechung wiederholen: Kaum hört man mit Übungen auf, geht das Wissen sofort verloren, wie Gedichte aus dem Gedächtnis verschwinden, wenn man sie zu wiederholen aufh fhört50. In diesem Fall verliert der Mensch seine Fähig-
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die „Verwirrung“, d.h. Unbeherrschtheit und Unwissenheit, zur ständigen Eigenschaft ft des Menschen. Siehe auch unten S. 91 Anm. 63. Mem. 1.2.21: ὁρῶ γὰρ ὥσπερ τῶν ἐν μέτρῳ πεποιημένων ἐπῶν τοὺς μὴ μελετῶντας ἐπιλανθανομένους, οὕτω καὶ τῶν διδασκαλικῶν λόγων τοῖς ἀμελοῦσι λήθην ἐγγιγνομένην. ὅταν δὲ τῶν νουθετικῶν λόγων ἐπιλάθηταί τις, ἐπιλέλησται καὶ ὧν ἡ ψυχὴ πάσχουσα τῆς σωφροσύνης ἐπεθύμει. τούτων δ’ ἐπιλαθόμενον οὐδὲν θαυμαστὸν καὶ τῆς σωφροσύνης ἐπιλαθέσθαι. Gigon hat Recht in seiner Beobachtung, dass der hier geschilderte Prozess des Vergessens drei Stufen hat: „Wenn man diese [Mahnreden] vergißt, verliert man auch den Ansporn zur Sophrosyne und die Sophrosyne selbst. Sehr zu beachten ist die Dreistufi figkeit des Vorgangs im letzten Fall. Erst werden die Logoi vergessen, dann, was der Seele den Anstoß zum Streben nach der Sophrosyne gab, endlich die Sophrosyne selbst. Es wäre nicht schwer, daraus eine ganze Psychologie zu entnehmen“ (Gigon, 1953, 47). M.E. vergisst aber der Mensch auf der zweiten Stufe (nachdem die Mahnreden vergessen wurden) nicht „was der Seele den Anstoß zum Streben nach der Sophrosyne gab“, sondern was seine Seele empfand, was sie erlebte, d.h. in welchem Zustand sie sich befand, als das Streben nach der σωφροσύνη ihr eigen war. Nach meiner Überzeugung handelt es sich in dieser Passage um den beherrschten Menschen, da derjenige, der keine ἐγκράτεια hat, gegen Mahnreden und Belehrungen taub ist (und um sie zu vergessen, muss man sie zuerst gehört und behalten haben). Die Seele dieses Menschen strebt nach der σωφροσύνη, d.h. befindet fi sich im Zustand der Untersuchung, was das Gute und das Schlechte ist. Mahnreden können selbstverständlich als eine gewisse Anregung zur Untersuchung dienen, aber sie werden vor allem vergessen, wie auch Gigon zugibt. Als Anstoß zur σωφροσύνη, der auf der zweiten Stufe vergessen wird, muss folglich etwas anderes dienen, aber Gigon erklärt nicht, was er damit meint. Wenn man außerdem in der Konstruktion ἐπιλέλησται καὶ ὧν ἡ ψυχὴ πάσχουσα τῆς σωφροσύνης ἐπεθύμει die Kausalbeziehung sieht (vgl. z.B. Marchants Übersetzung: „To forget good counsel is to forget the experiences that prompted the soul to desire prudence“ oder von Dorion: „Quand on a oublié les discours propres à exhorter, on oublie aussi les impressions grâce auxquelles l’âme aspirait à la modération“), dann muss die hier geschilderte dreistufi fige Folge folgendermaßen aussehen: Mahnreden – Erlebnisse der Seele, die sie zur σωφροσύνη angeregt haben –, die σωφροσύνη. In diesem Fall muss man zugeben, dass Mahnreden als Ursache der Erlebnisse, welche die Seele zur σωφροσύνη angeregt haben, dienen können. Das bedeutet, dass jeder
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keit, beherrscht zu sein, nicht (genauer gesagt, wird seine ἐγκράτεια nicht schwächer als vorher). Dieser Verlust des Wissens wird von anderen Vorgängen im Menschen verursacht: Wegen der Vernachlässigung der Übungen und Wiederholung vergisst der Mensch, was er früher gelernt hat. Die zweite Ursache ist hingegen nicht mit dem Rationalen und der Gedächtnisfunktion verknüpft ft, sondern mit dem Wesen der Selbstbeherrschung zu erklären. Da das Verlangen nach Vergnügen im Körper jedes Menschen von seiner Geburt an eingepflanzt fl ist und da die ἐγκράτεια eine Fähigkeit der Seele ist, die diesem Streben widersteht und es beherrschen kann, ergibt der Mensch sich sofort dem Wunsch der Genüsse, sobald die Kraft ft seiner ἐγκράτεια abnimmt51.
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Mensch durch Belehrungen zur Tugend geleitet werden kann. Dem Xenophontischen Sokrates zufolge kann das aber nicht so sein: Den unbeherrschten Menschen können keine Mahnreden zwingen, nach der Tugend zu streben; er ist gegen alle Belehrungen immer taub. Vor allem muss man selbstbeherrscht werden. Der Gedanke des Xenophontischen Sokrates besteht m.E. darin, dass die Seele des beherrschten Menschen selbst nach dem Wissen und der Tugend strebt (Mahnreden und das Vorbild des Lehrers – wie Sokrates z.B. für seine Gesprächspartner war – können nur als eine ergänzende Ermutigung dienen), es also die ἐγκράτεια selbst ist, die den Anstoß zum Streben nach der σωφροσύνη gibt. Die ἐγκράτεια kann aber nicht vergessen werden, weil sie eine andere Eigenschaft ft der Seele ist, sie kann nur verloren werden. Aber das ist nicht der Fall, weil in dieser Passage von der σωφροσύνη die Rede ist. Auf der zweiten Stufe wird folglich alles das vergessen, was mit der Suche nach dem Wissen verbunden war, d.h. alle Ergebnisse der Arbeit, die die Seele leistete, um das Wissen zu erwerben und das Gute und das Schlechte unterscheiden zu können. Danach wird auch das Wissen selbst vergessen, weil es für sein Beibehalten stetige Untersuchung und Übung erfordert. Es ist nicht zufällig, dass hier gesagt wird, dass die σωφροσύνη vergessen wird – es ist gerade das Wissen, d.h. die rationale Komponente der σωφροσύνη, die vergessen wird. Es ist nicht die ἐγκράτεια, da sie keine rationale Grundlage hat. Dorions Auff ffassung dieser Passage scheint mir im Ganzen richtiger als Gigons Interpretation: „Xénophon attribue ici aux discours la faculté de faire naître dans l’âme les impressions grâce auxquelles celle-ci aspire à la modération. Cette aspiration à la modération résulte non seulement des discours, mais également de l’exemple que fournit, dans les faits, un maître qui affi ffiche un comportement modéré“ (Dorion & Bandini, 2000, 92). Aber auch Dorion scheint außer Acht zu lassen, dass der wichtigste Impuls, der die Seele zum Streben nach der Tugend anregt, ihre ἐγκράτεια ist. Mem. 1.2.23: πάντα μὲν οὖν ἔμοιγε δοκεῖ τὰ καλὰ καὶ τἀγαθὰ ἀσκητὰ εἶναι, οὐχ ἥκιστα δὲ σωφροσύνη. ἐν γὰρ τῷ αὐτῷ σώματι συμπεφυτευμέναι τῇ ψυχῇ αἱ ἡδοναὶ πείθουσιν αὐτὴν μὴ σωφρονεῖν, ἀλλὰ τὴν ταχίστην ἑαυταῖς τε καὶ τῷ σώματι χαρίζεσθαι. Gigon sieht in diesen Worten „etwa naive Verkürzung“ und Verbindung von zwei Gegenüberstellungen: Die eine sei die von Seele und Leib und die andere die von Lust und Logos. „Dies wird so zusammengezogen, dass auf die absonderlichste Weise Seele
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und Lust zu einem Paar werden […]“ (Gigon, 1953, 48). M.E. ist diese kurz gefasste Lehre nicht so naiv. Es handelt sich darum, dass das Verlangen nach dem Vergnügen allen Menschen von Natur aus eigen ist und die Seele des Menschen diesem Verlangen nur dank ihrer ἐγκράτεια widerstehen kann. Den Lüsten wird nicht Logos gegenübergestellt, sondern die ἐγκράτεια. Ob der Mensch sein natürliches Verlangen nach dem Vergnügen zurückhalten kann, hängt davon ab, ob seine Seele die ἐγκράτεια hat oder nicht. Während das Verlangen nach Genüssen in jedem Menschen immer sehr stark ist, hat die ἐγκράτεια hingegen sehr selten eine große natürliche Kraft ft und muss deswegen entwickelt und gestärkt werden. Da aber alle körperlichen Genüsse außerdem ohne Mühe erreicht werden, und die ἐγκράτεια hingegen stetige Arbeit erfordert, ist es besonders schwierig, den Lüsten entgegenzusteuern. Mit den Worten πάντα τὰ καλὰ καὶ τἀγαθὰ ἀσκητὰ εἶναι ist gemeint, dass das Schlechte, d.h. das Verlangen nach Vergnügen, von selbst stark ist, alle guten Eigenschaften ft des Menschen hingegen der stetigen Übung und der Sorge bedürfen. Bei der Analyse dieses Passus kommt Narcy zum Schluss, dass der Mensch, nach Xenophons Sokrates, aus drei Teilen besteht: aus der Seele, dem Körper und den Vergnügen. „L’insistance mise par Xénophon à souligner que l’âme et les plaisirs investissent le même corps (ἐν τῷ αὐτῷ σώματι) oblige à comprendre que c’est séparément de l’âme que les plaisirs sont comme elle ‚implantés’ dans le corps; qu’ils constituent, autrement dit, à côté de l’âme, une entité ou une instance distincte à la fois d’elle et du corps“ (Narcy, 2008, 38). Aus der Sicht der Syntax ist diese Auff ffassung wortgetreu korrekt: Im Text steht wirklich „sich den Vergnügen und d dem Körper hingeben“ (ἑαυταῖς τε καὶ τῷ σώματι χαρίζεσθαι). Ich verstehe das aber als ein Hendiadyoin: „sich den körperlichen Vergnügen hingeben“, „sich dem Vergnügen und folglich letzten Endes dem Körper hingeben.“ Das Vergnügen ist m.E. eine Eigenschaft ft des menschlichen Körpers. Der Körper jedes Menschen hat diese Eigenschaft ft von Natur aus. Dieser natürlichen Eigenschaft ft soll die Seele des Menschen widerstehen. Nach Narcy kämpfen die Vergnügen zusammen mit dem Körper gegen die Seele; m.E. kämpfen aber die Vergnügen und die Seele gegeneinander im Körper, d.h. in jedem Menschen. Nach Morrison besteht die Seele des Menschen in der Ethik des Xenophontischen Sokrates aus mehreren Teilen, die ständig gegeneinander kämpfen: „[…] le langage employé par Socrate pour décrire la maîtrise de soi et son opposé fournit des preuves concluantes que le Socrate de Xénophon croit en une âme composée de plusieurs parties. Les métaphores qu’emploie Socrate sont celles de la lutte et de la domination. Une personne lutte avec ses émotions, jusqu’à ce que soit elle domine ses émotions, soit ses émotions la dominent; après quoi, c’est le vainqueur qui gouverne“ (Morrison, 2008, 21). Es gibt zwei Ungenauigkeiten: Erstens ist das Wort „émotions“ nicht ganz treffend: ff Nach Xenophons Sokrates muss der Mensch nicht gegen seine Emotionen, sondern gegen das körperliche Verlangen nach Vergnügen kämpfen (es ist gerade bemerkenswert, dass der Xenophontische Sokrates nur über Enthaltsamkeit im Essen, Trinken, Schlafen und Sex spricht und niemals die Notwendigkeit erwähnt z.B. dem Zorn oder der Angst zu widerstehen). Zum anderen befi findet sich das Verlangen nach Vergnügen nicht in der Seele des Menschen, sondern in seinem Körper, wo sich auch die Seele befindet. fi Xenophons Sokrates bringt das ‚Leidenschaft ftliche‘ also außerhalb der Seele unter. So kämpfen nicht verschiedene Teile der Seele gegeneinander, sondern die Seele und der Körper. Wir haben keinen Grund, zu behaupten, dass Sokrates bei Xenophon die Meinung vertritt, dass die Seele aus mehreren Teilen besteht. Es ist kein Zufall, dass Morrison zum Beweis seines Urteils keine Zitate anführt. Vgl. auch Dorion & Bandi-
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Und wenn der Mensch von den Wünschen des Körpers beherrscht wird, verliert er unumgänglich sein Wissen52: Einerseits weil die Erscheinungsformen der Unbeherrschtheit – wie z.B. Trunksucht – ihn des Gedächtnisses und der Fähigkeit berauben, vernünft ftig zu urteilen und nachzudenken; andererseits weil die Unbeherrschtheit dem Menschen keine Möglichkeit gibt, sich um etwas anderes außer Vergnügen zu kümmern, und er deshalb keine Zeit hat für die Übung und Wiederholung des erworbenen Wissens. Die dritte mögliche Ursache des Verlustes des Wissens ist mit der ersten oben beschriebenen Einwirkung der Unbeherrschtheit verwandt: Auf das Denkvermögen des Menschen kann nicht nur Unbeherrschtheit, sondern auch eine schlechte körperliche Gesundheit einwirken und es ruinieren. Wenn Sokrates den schwächlichen Epigenes von der Wichtigkeit der sportlichen Übungen zu überzeugen versucht, sagt er unter anderem, dass auch, was das Denken betrifft fft (ἐν τῷ διανοεῖσθαι), viele Menschen wegen des Mangels an körperlicher Kraft ft ins Unglück geraten: Das körperliche Unwohlsein kann den Menschen dazu führen, dass er seine Kenntnisse verliert53.
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ni, 2011b, 175: „[…] on chercherait en vain dans les Mémorables, ou dans ses autres écrits socratiques, un passage où Socrate reconnaîtrait expressément l’existence d’au moins deux parties au sein de l’âme.“ Mem. 1.2.22. Diese ganze Passage (Mem. 1.2.19-23) ist in Xenophons Namen geschrieben. Dorion bemerkt aber mit Recht, dass der hier ausgedrückte Gedanke mit der Vorstellung von der Tugend, die Xenophon an anderen Stellen seinem Sokrates zuschreibt, vollkommen übereinstimmt (Dorion & Bandini, 2000, 93 f.). Deshalb können wir m.E. nur von dem ‚Xenophontischen Sokrates‘ sprechen, und alle Versuche, das im Text Xenophons Dargelegte in Ansichten von Xenophon selbst und von Sokrates zu teilen, sind verurteilt, in vielem unbegründete Vermutungen zu bleiben. Bei der Interpretation von Mem. 1.2.19-23 vertritt Bevilacqua einen anderen Standpunkt: „[…] è quindi legittimo inferire che Senofonte abbia prestato al maestro quelle che erano le sue personali convinzioni“ (Bevilacqua, 2010, 291; siehe auch 294). Zum Begriff ff der Tugend siehe S. 94 ff. Mem. 3.12.6: καὶ λήθη δὲ καὶ ἀθυμία καὶ δυσκολία καὶ μανία πολλάκις πολλοῖς διὰ τὴν τοῦ σώματος καχεξίαν εἰς τὴν διάνοιαν ἐμπίπτουσιν οὕτως ὥστε καὶ τὰς ἐπιστήμας ἐκβάλλειν. Da in diesem Abschnitt davon die Rede ist, dass die Gesundheit des Körftigung (πρᾶξις) nötig ist, bedeutet τὰς ἐπιστήμας eher praktische pers in jeder Beschäft und berufl fliche Kenntnisse hier als das sittliche Wissen. Es scheint dennoch wichtig, dass der Xenophontische Sokrates es für berechtigt hält, über die Abhängigkeit des Denkvermögens vom körperlichen Zustand zu sprechen. Bei Xenophon gibt es aber keine Erläuterung, auf welche Weise das körperliche Unwohlsein zum geistigen führt, darüber siehe auch S. 34 f.
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Sokrates’ Urteile und Äußerungen enthalten keinen Widerspruch: An keiner Stelle spricht er von der Möglichkeit der Akrasia als bewusster Wahl des Schlechteren. In der umstrittenen Passage Mem. 4.5.6 wird nicht behauptet, dass der Wissende von der Akrasia verwirrt werden kann, so dass er bewusst aus den möglichen Alternativen das Schlechtere wählt, sondern dass der Verlust der Selbstbeherrschung den Verlust des Wissens nach sich zieht, so dass der Unbeherrschte im Augenblick der Ausführung der Handlung niemals das Wissen besitzt.
4. Die Begriffe ff der Enkrateia und Akrasia Aus der vorgenommenen Analyse lässt sich die Frage beantworten, was bei Xenophons Sokrates die Begriff ffe der ἐγκράτεια und der ἀκρασία bedeuten.
Wenn die Tugend Wissen ist und die Selbstbeherrschung für die Aneignung von Wissen unerlässlich ist, stellt die ἐγκράτεια keine Tugend und kein Wissen dar. Sonst wäre es absurd, denn in diesem Fall wäre es für den Erwerb der Selbstbeherrschung notwendig, sie selbst schon vorher zu haben. Dorion bemerkt mit Recht, dass die ἐγκράτεια niemals im Xenophontischen Text als Tugend bezeichnet wird. Ich kann aber der Meinung nicht beistimmen, dass Sokrates bei Xenophon die Worte ἐγκράτεια und σωφροσύνη (oder ἐγκρατής und σώφρων) als strikte Synonyma verwendet, und folglich auch die ἐγκράτεια implizit als Tugend bezeichnet wird. Wie eben angedeutet, kommt in diesem Fall ein unlösbarer Widerspruch auf: Wenn es für den Erwerb jeder Tugend erforderlich ist, Selbstbeherrschung zu haben, wie kann dann diese Tugend selbst erworben werden, wenn es dafür notwendig ist, sie selbst schon vorher zu haben? Die Gedankenfolge dreht sich dann im Kreis. Das gibt auch Dorion zu54, kann aber keine Lösung aus zwei Gründen finfi den. Erstens bemerkt er mit vollem Recht, dass der Xenophontische Sokrates über die Natur der Enthaltsamkeit nie ausführlich diskutiert. Zweitens kann Dorion die Enthaltsamkeit als etwas von der Tugend abweichendes nicht bezeichnen, denn dann wird laut seiner Auff ffassung die Akrasia möglich:
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Dorion & Bandini, 2011a, 346: „[…] que cette synonymie soulève un grave problème ff difthéorique. Si l’enkrateia est de même nature que la σωφροσύνη, il semble en effet ficile d’échapper à un cercle vicieux : comme l’enkrateia est le fondement de la vertu (I 5, 4) et qu’elle est indispensable à l’acquisition du savoir qui soustend les vertus (IV 5, 6), tout en étant elle-même une vertu, d’où vient alors le savoir qui est indissociable de l’enkrateia ?“ Siehe auch Dorion, 2003a, 652 f. und oben S. 70 f. Anm. 35.
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Der Mensch könne das Wissen und die Tugend haben, aber keine andere Eigenschaft ft besitzen, die als ἐγκράτεια bezeichnet werde, und könne deshalb seinem Wissen und seiner Tugend zuwider handeln55. Die in diesem Kapitel vorgeschlagene Interpretation scheint von der letzteren Schwierigkeit frei zu sein: Obwohl die ἐγκράτεια keine Tugend ist und keine rationale Natur hat, sind das Wissen und die Tugend von ihr doch so abhängig, dass der Mensch mit dem Verlust der Enthaltsamkeit auch sein Wissen und seine Tugend zugleich verliert; der Unbeherrschte kann deswegen nicht dem Wissen und der Tugend zuwider handeln, weil er sie niemals hat. M.E. kann die ἐγκράτεια kein Wissen und keine Tugend sein, folglich ist sie eine andere Eigenschaft ft der menschlichen Seele. Wie der Körper seinem Wesen nach bei allen Menschen fähig ist, verschiedene Übungen und Bewegungen zu machen, aber bei einigen besser, bei den anderen schlechter, und wie einige Menschen wegen der Vernachlässigung des Trainings oder wegen der angeborenen Schwäche nicht machen können, was die durchtrainierten oder von Geburt starken Menschen machen, so bedarf auch die Seele bei allen Menschen – bei einigen aber mehr, bei den anderen weniger – des ständigen Trainings56. Dieses Training der Seele besteht aus zwei Übungen verschiedener Natur: Einerseits ist es eine intellektuelle Übung, d.h. das Erlernen und das Wiederholen des erworbenen Wissens57, andererseits ist es die Entwicklung und die Stärkung der Kraft ft der Selbstbeherrschung58. Diese letztere Übung besteht in den im ersten Kapitel beschriebenen zwei Regeln der ‚sokratischen Diät‘: Die Kraft ft der Enkrateia wird durch die Ausdauer trainiert, bis das Gefühl des Hungers oder der Wunsch jedes anderen körperlichen Vergnügens seinen Höhepunkt erreicht hat, und auch durch die Unterbrechung der Mahlzeit, wenn das Gefühl des Angenehmen noch nicht vergangen ist. Sokrates selbst war in diesem Sinne
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Dorion, 2003a, 653: „Or, si l’enkrateia n’est pas une vertu, mais une espèce d’aptitude ou de capacité, on peut comprendre qu’un homme en possession des différentes ff vertus ne les exerce pas en raison d’un manque d’enkrateia. Comme l’enkrateia ne serait pas de même nature que les vertus, l’on conçoit aisément que l’on puisse posséder celles-ci sans avoir celle-là, de sorte que l’akrasia serait possible.“ Mem. 1.2.19: ὁρῶ γὰρ ὥσπερ τὰ τοῦ σώματος ἔργα τοὺς μὴ τὰ σώματα ἀσκοῦντας οὐ δυναμένους ποιεῖν, οὕτω καὶ τὰ τῆς ψυχῆς ἔργα τοὺς μὴ τὴν ψυχὴν ἀσκοῦντας οὐ δυναμένους, οὔτε γὰρ ἃ δεῖ πράττειν οὔτε ὧν δεῖ ἀπέχεσθαι δύνανται. Darüber, dass das Wissen sich in der Seele des Menschen befi findet, siehe unten S. 233 f. Anm. 12. Mem. 2.1.1: ἀσκεῖν ἐγκράτειαν.
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so gut trainiert , dass keine Speise und keine Schönheit eine Gefahr für ihn bieten konnten, d.h. nichts konnte die Kraft ft seiner Selbstbeherrschung erschüttern. Man darf aber mit diesem Training der Seele nie aufhören, fh denn ohne ständige Übung lässt die ἐγκράτεια sofort nach und der Mensch wird folglich einmal nicht mehr imstande sein, das körperliche Verlangen nach Vergnügen zurückzuhalten. Man kann sagen also, dass die ἐγκράτεια ein gewisses ‚Trainiertsein‘ der Seele in ihrer Fähigkeit ist, den körperlichen Begierden zu widerstehen; sie ist die Kraft ft der Seele, die das natürliche Verlangen des Menschen nach Vergnügen zurückhält; das ist die Ausdauer der Seele, die der körperlichen Ausdauer (καρτερία) ähnlich ist. Diese Fähigkeit der Seele kann wie die Kraft ft des Körpers bei verschiedenen Menschen von Geburt verschieden sein: bei einigen Menschen stärker, bei den anderen schwächer; außerdem kann auch das angeborene Verlangen nach Vergnügen bei verschiedenen Menschen eine verschiedene Stärke haben, so dass die Kraft ft der widerstehenden Enkrateia kein absoluter Wert für alle Menschen ist und sich nur für jeden einzelnen Menschen schätzen lässt, ob sie stärker oder schwächer als der Drang nach Vergnügen ist. Je schwächer der Wunsch der Genüsse, desto leichter ist es, ihm zu widerstehen, desto kleiner darf die Kraft ft der Enkrateia sein. Zwei beherrschte Menschen können deshalb äußerlich in gleichem Maße beherrscht scheinen, während dem einen das leicht fällt (entweder dank dem schwachen angeborenen Verlangen nach Vergnügen oder dank der von Natur starken Enkrateia oder dank beidem gleichzeitig) und den anderen dagegen viel Mühe kostet, wenn er von Geburt eine schwache Enkrateia und ein hingegen starkes Verlangen nach Vergnügen hat60. Die stetige Übung ist aber bei beiden Menschen erforderlich, ansonsten verfällt sogar die von Natur starke Selbstbeherrschung, wie die körperliche Kraft ft in Verfall gerät, wenn sie durch das Training nicht unterstützt wird. Wenn man über die Bedeutung der Selbstbeherrschung in der Ethik des Xenophontischen Sokrates spricht, sind zwei Begriffe ff zu unterscheiden: die ἐγκράτεια und die σωφροσύνη. Obgleich Xenophons Sokrates den Unterschied zwischen den beiden Begriff ffen niemals direkt erklärt und obgleich es in einigen Fällen vollkommen richtig ist, die beiden Worte als ‚Enthaltsamkeit‘ oder ‚Selbstbeherrschung‘ zu verstehen, ist es doch an den bestimmten
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Mem. 4.5.1: ἠσκηκὼς αὑτὸν μάλιστα πάντων ἀνθρώπων; vgl. Mem. 1.2.1: πάντων ἀνθρώπων ἐγκρατέστατος ἦν. Siehe auch Mem. 1.3.5 und 1.3.14: παρεσκευασμένος und 1.3.15: κατεσκευασμένος. Nach Xenophons Sokrates kann also auch der tugendhaft fte Mensch das Verlangen nach den körperlichen Vergnügen haben, er ist aber imstande, es mit der Kraft ft seiner Selbstbeherrschung zu unterdrücken. Vgl. auch Morrison, 2008, 24.
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Stellen von ausschlaggebender Bedeutung, um welchen der beiden Begriffe ff es geht. Die Selbstbeherrschung, die Sokrates bei Xenophon als ἐγκράτεια bezeichnet, ist eine irrationale Fähigkeit der Seele, dem körperlichen Verlangen zu widerstehen; die σωφροσύνη hat dagegen eine rationale Grundlage, sie kann deshalb als eine ‚rationale Selbstbeherrschung‘ oder ‚rationale Enthaltsamkeit‘ des Menschen defi finiert werden61. Da aber die σωφροσύνη mit dem Wissen untrennbar verbunden ist, kann dieses Wort nicht nur ‚Enthaltsamkeit‘ oder ‚Selbstbeherrschung‘ bedeuten, sondern auch manchmal im Ganzen den Zustand des Menschen charakterisieren, der sowohl die Selbstbeherrschung als auch das Wissen besitzt; in einigen Fällen wird es also kein Fehler sein, das Wort σώφρων sogar als ‚tugendhaft ft‘ zu verstehen62. Die ἀκρασία des Xenophontischen Sokrates ist das Gegenteil der ἐγκράτεια, d.h. Fehlen von oder Mangel an ἐγκράτεια in der Seele des Men-
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Ich kann nicht Neitzels Auff ffassung beistimmen, dass derjenige als σώφρων bezeichnet werden muss, der „das Gute tut“ (Neitzel, 1984, 498). M.E. hält der Xenophontische Sokrates denjenigen für σώφρων, der nicht tut, was er selbst für schlecht hält. Daraus folgt aber noch nicht, dass er unbedingt tut, was er für gut hält, denn er kann einfach nichts tun, keine Handlung ausführen. Sokrates setzt den Akzent darauf, dass der σώφρων nicht seinem Wissen vom Guten und Schlechten zuwider handelt; Neitzel behauptet aber, dass der beherrschte Mensch (in seiner Auff ffassung sowohl der σώφρων als auch der ἐγκρατής) sich vom unbeherrschten Menschen dadurch unterscheidet, dass er unbedingt das Gute tut: „Wer also sagt, Sokrates habe eine intellektualistische Ethik vertreten, muss hinzufügen, dass er gleichzeitig ein ethizistisches Intellekt-Verständnis hatte, weil er das Wissen des Guten nicht vom Tun des Guten trennte. Menschen, die das Gute wissen, ohne es zu tun, gab es für ihn ebensowenig wie Menschen, die das Gute tun, ohne es zu wissen“ (Neitzel, 1983, 379; siehe auch 1984, 497). Neitzels Auff ffassung, es gebe keinen Menschen, der das Gute kenne, aber es nicht tue (meine Interpretation ist anders: Es gibt keinen Menschen, der das Gute weiß, das Schlechte aber tut; es gibt aber Menschen, die das Gute wissen, aber es nicht tun, weil sie nicht handeln), ist irrtümlich, weil sie auf dem falschen Verständnis des Textes beruht. Neitzel scheint den Worten δύνασθαι πράττειν in Mem. 3.9.5 (καὶ οὔτ’ ἂν τοὺς ταῦτα [τὰ δίκαια καὶ πάντα ὅσα ἀρετῇ πράττεται] εἰδότας ἄλλο ἀντὶ τούτων οὐδὲν προελέσθαι οὔτε τοὺς μὴ ἐπισταμένους δύνασθαι πράττειν) das ausgelassene abhängige Objekt (τὰ δίκαια καὶ … πράττειν) zu entziehen, und deswegen kommt er zum Schluss, dass nur der beherrschte Mensch handeln könne (Neitzel, 1983, 378; siehe auch 1984, 496 f.); der unbeherrschte Mensch hingegen könne nicht handeln, er gebe passiv den Lüsten nach („Ein Unbeherrschter (Unwissender) ist nicht frei, sondern abhängig von seinen Trieben. Da er sich treiben läßt, handelt (wählt) er nicht, sondern leidet etwas, was er nicht will“: 1983, 378). Deshalb sei die σωφροσύνη nach Neitzel „das Tun des Erkannten“ (1984, 494). Für eine detaillierte Untersuchung dieser Auffassung ff siehe S. 116 ff. Über den Ausdruck περὶ θεοὺς σώφρων (Mem. 4.3.2), περὶ θεοὺς σωφρονεῖν (Mem. 1.1.20) siehe S. 236 Anm. 17.
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schen . Die Akrasia als das Handeln wider besseres Wissen ist nach der Meinung des Xenophontischen Sokrates unmöglich: Kein Mensch kann wissentlich das Schlechte wählen64. Unrichtig handeln kann nur derjenige, der kein Wissen hat. Da aber nur derjenige das Wissen erwerben und dann beibehalten kann, dessen Enthaltsamkeit stark genug ist, um dem ständigen Verlangen nach Vergnügen zu widerstehen, so hängt das Handeln des Menschen – ob er recht oder unrecht tut – gewissermaßen und teilweise von seiner Enthaltsamkeit ab. In diesem Zusammenhang ist die Frage wichtig, ob die Selbstbeherrschung durch das Wissen gestärkt werden kann. Wenn der Mensch nicht nur ἐγκρατής, sondern auch schon σώφρων ist, hilft ft ihm das Wissen, seine 63
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Was das Problem der Möglichkeit der Akrasia betrifft, fft bin ich also zu demselben Schluss gekommen wie Dorion. Vlastos’ Idee, die ἀκρασία des Xenophontischen Sokrates als ‚intemperance‘ zu verstehen, scheint mir auch mit diesem Schluss übereinzustimmen. Dorion nennt diese ἀκρασία ‚akrasia faible‘. In Seels Interpretation bestreitet Xenophons Sokrates die Möglichkeit der ‚post-deliberation akrasia‘, aber besteht auf der Möglichkeit der ‚pre-deliberation akrasia‘ (Seel, 22006, 34). Diese Auffassung scheint mir als ein komplementärer Beweis für die hier vorgeschlagene Interpretation dienen zu können: Wenn jeder Fall der ἀκρασία immer ein Fall der ‚predeliberation akrasia‘ ist, sind die ἀκρασία und das Wissen unvereinbar („The Th eff ffect of pre-deliberation akrasia is to hinder and preclude deliberation. Therefore, Th whenever someone suff ffers from this type of akrasia, no judgment is formed about what it is best to do“). Die Akrasia als bewusste Wahl des Bösen ist folglich unmöglich („In this case, post-deliberation akrasia has simply no object to interfere with“); Seels ‚pre-deliberation akrasia‘ bezeichnet also eine schlechte Handlung, die wegen des Mangels an Wissen ausgeführt wird. Morrison (Morrison, 2008, 25) unterscheidet in der ἀκρασία des Xenophontischen Sokrates ‚la légère faiblesse de la volonté‘ (siehe oben S. 82 f. Anm. 49) und ‚akrasia vicieuse‘ (als ein ständiges Kennzeichen des unbeherrschten und unwissenden Menschen). Bei der Untersuchung der scheinbaren Widersprüche in den Ansichten des Xenophontischen Sokrates weist Simeterre noch auf die Stelle Mem. 2.1.5 hin (Simeterre, 1938, 54), die Dorion erschöpfend erläutert: Es handelt sich dort um die Tat, welche gegen Gesetze und nicht dem sittlichen Wissen vom Guten und Schlechten zuwider getan wird; diese Passage spricht also nicht für die Möglichkeit der Akrasia (Dorion, 2003a, 662: „[…] la connaissance des châtiments prévus par une loi particulière est une connaissance purement factuelle qui n’est pas de même nature que la connaissance morale“). Außerdem bemerkt Dorion mit vollem Recht, dass Sokrates hier von dem unbeherrschten Menschen spricht, d.h. von dem Unwissenden. Keine von seinen Handlungen kann deshalb als ein Fall der Akrasia bezeichnet werden. Die an dieser Stelle geschilderte Handlung vergleicht Sokrates mit dem Benehmen der Tiere, die entgegen der Angst, gefangen zu werden, doch auf einen Köder anbeißen. Wenn der Mensch dem unvernünft ftigen Tier ähnlich ist, handelt er auf das Risiko hin, ergriff ffen zu werden, aber nicht dem Wissen entgegen.
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Enthaltsamkeit zu stärken? Ist die Lage des σώφρων besser als die Lage des ἐγκρατής, der noch kein Wissen besitzt? Das Wissen hilft ft dem Menschen, zu begreifen, welche Situationen er meiden muss. Ein solcher Mensch kann die Kraft ft seiner Seele und die Stärke des Verlangens seines Körpers nach Vergnügen und deshalb die Gefahr, die irgendeine Situation für die Beständigkeit seiner Selbstbeherrschung bringt, richtig beurteilen. Dank seinem Wissen kann er folglich die Versuchung, welche die Kräfte ft seiner Seele übersteigt, wissentlich und rechtzeitig meiden. Außerdem versteht der Wissende, warum Selbstbeherrschung notwendig ist, und diese rationale Einsicht motiviert ihn, sie zu trainieren. Man kann deshalb vermuten, dass der Wissende sich eifrig um die Übung der Enthaltsamkeit bemüht. Da aber die ἐγκράτεια selbst keine rationale Grundlage hat, ist ihr Training als solches mit dem Wissen nicht verbunden. Letzten Endes ist sie daher vom Wissen unabhängig: Wie auch die körperliche Gesundheit, die der Mensch dank seinem Wissen allerdings unterstützen und stärken kann, gehorcht sie doch nicht immer dem Wissen. Außerdem ist die Kraft ft der Selbstbeherrschung wie die körperliche Gesundheit bei verschiedenen Menschen von Geburt verschieden, und sogar der Wissende ist vor dem Verlust seiner Selbstbeherrschung (wie der körperlichen Gesundheit) oder vor ihrer Schwächung nicht sicher. Im Epilog der Memorabilien, wenn Xenophon alle ‚Tugenden‘ des Sokrates zusammenfasst, spricht er von seiner Selbstbeherrschung und seinem Wissen getrennt: ἐγκρατὴς δὲ ὥστε μηδέποτε προαιρεῖσθαι τὸ ἥδιον ἀντὶ τοῦ βελτίονος, φρόνιμος δὲ ὥστε μὴ διαμαρτάνειν κρίνων τὰ βελτίω καὶ τὰ χείρω65.
Um das Richtige vom Falschen unterscheiden zu können, bedarf der Mensch des Wissens; um dem Verlangen nach Vergnügen Widerstand leisten zu können und die Fähigkeit, das Gute und das Schlechte zu erkennen, nicht zu verlieren, bedarf er aber der ἐγκράτεια66. Xenophon strebt zu beweisen, dass Sokrates alle beiden Eigenschaften ft hatte.
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Mem. 4.8.11: „Er war so enthaltsam, dass er niemals das Angenehmere dem Besseren vorzog, so vernünft ftig, dass er bei der Beurteilung des Besseren und Schlechteren niemals Fehler machte.“ Vgl. auch Dorion, 2003, 663: „[…] comme si la responsabilité de la mise en échec de l’akrasia incombait à l’enkrateia seule“; siehe auch Dorion, 2006b, 103.
Die Begriffe ff der Enkrateia und Akrasia
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Jedem Menschen ist von Geburt das Verlangen nach Vergnügen eigen, dem nur derjenige widerstehen und das nur der beherrschen kann, der die ἐγκράτεια besitzt, d.h. die Fähigkeit der Seele, diesem natürlichen und angeborenen Drang nach körperlichen Vergnügen Widerstand zu leisten. Die ἀκρασία des Xenophontischen Sokrates ist der Zustand, wenn die Enkrateia fehlt oder zu schwach ist, um diesen Widerstand leisten zu können. Die Akrasia als wissentliche Wahl des Schlechteren ist unmöglich, weil der Mensch, obgleich er gleichzeitig beherrscht und unwissend sein kann, kein Wissen besitzen kann, ohne die Selbstbeherrschung zugleich zu besitzen. Die Selbstbeherrschung ist die notwendige Eigenschaft ft der Seele als Wohnsitz des Wissens: die ἐγκράτεια ist sowohl für den Erwerb als auch für die Beibehaltung des Wissens notwendig. In diesem Sinne ist die ἐγκράτεια die Grundlage der Tugend. Sie selbst hat aber – im Unterschied zur Tugend – keine rationale Basis, während die σωφροσύνη die rationale Selbstbeherrschung ist, d.h. die auf dem Wissen begründete Enthaltsamkeit. Wenn vor der Ausführung einer Handlung die Selbstbeherrschung im Kampf mit dem Verlangen nach Vergnügen eine Niederlage erleidet, verliert der Mensch gleichzeitig auch sein Wissen, so dass er im Augenblick der Ausführung der Handlung nicht mehr weiß, was gut und was schlecht ist, und deswegen nicht wissentlich das Schlechtere wählen kann.
III Der Begriff ff der Tugend In diesem Kapitel soll der ethische Rationalismus des Xenophontischen Sokrates betrachtet werden. Die Hauptgrundsätze seiner Ethik sind die Gleichheit von Tugend und Wissen und eine logische Folge dieses Urteils: Die Tugend kann erlernt und gelehrt werden.
1. Tugend als Wissen Bei der Analyse des Begriff ffs der Tugend und der Gleichheit von Tugend und Wissen entsteht vor allem die Frage nach dem Charakter des die Tugend bildenden Wissens und danach, ob dieses Wissen unteilbar ist oder jede Art der Tugend ein einzelnes Wissen ist.
Xenophons Sokrates behauptet, Tugend sei Wissen: ἔφη δὲ καὶ τὴν δικαιοσύνην καὶ τὴν ἄλλην πᾶσαν ἀρετὴν σοφίαν εἶναι. τά τε γὰρ δίκαια καὶ πάντα ὅσα ἀρετῇ πράττεται καλά τε κἀγαθὰ εἶναι· καὶ οὔτ’ ἂν τοὺς ταῦτα εἰδότας ἄλλο ἀντὶ τούτων οὐδὲν προελέσθαι οὔτε τοὺς μὴ ἐπισταμένους δύνασθαι πράττειν, ἀλλὰ καὶ ἐὰν ἐγχειρῶσιν, ἁμαρτάνειν· οὕτω [καὶ] τὰ καλά τε καὶ ἀγαθὰ τοὺς μὲν σοφοὺς πράττειν, τοὺς δὲ μὴ σοφοὺς οὐ δύνασθαι, ἀλλὰ καὶ ἐὰν ἐγχειρῶσιν, ἁμαρτάνειν. ἐπεὶ οὖν τά τε δίκαια καὶ τἆλλα καλά τε καὶ ἀγαθὰ πάντα ἀρετῇ (σοφίᾳ Reiske) πράττεται, δῆλον εἶναι, ὅτι καὶ δικαιοσύνη καὶ ἡ ἄλλη πᾶσα ἀρετὴ σοφία ἐστί1.
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Mem. 3.9.5: „Er behauptete, die Gerechtigkeit und alle andere Tugend sei Wissen. Denn das Gerechte und alles, was mit Tugend getan wird, sei untadelig. Und wer dies wisse, ziehe diesem nichts anderes vor; wer es aber nicht wisse, könne es nicht tun, sondern mache Fehler, selbst wenn er es versuche. So tun die Weisen das Untadelige, die Nichtweisen aber können es nicht, sondern auch wenn sie es versuchen, machen sie Fehler. Da nun das Gerechte und alles andere Untadelige mit Tugend [Weisheit: Reiske] ausgeführt wird, ist off ffenbar die Gerechtigkeit und die gesamte andere Tugend Wissen.“ Der Zweck dieser Passage ist klar: Xenophon berichtet darüber, dass Sokrates Tugend mit Wissen gleichsetzte, und betrachtet dieses Urteil in diesem Paragraphen als bewiesen. Die Logik und der Gedankengang des Beweises selbst sind aber nicht ganz klar und scheinen problematisch. Am Anfang des Paragraphen wird die These aufgestellt, dass Tugend Wissen ist (die Gerechtigkeit dient dabei als ein Einzelbeispiel, als eine konkrete Art der Tugend): ἔφη δὲ καὶ τὴν δικαιοσύνην καὶ τὴν ἄλλην πᾶσαν ἀρετὴν σοφίαν εἶναι. Dann folgt die erste Prämisse des logischen Schlusses: Alles, was auf der Tugend beruht, ist moralisch gut: τά τε γὰρ δίκαια καὶ πάντα ὅσα ἀρετῇ πράττεται καλά τε κἀγαθὰ εἶναι. Dieser Satz kann auf zweierlei
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Weise verstanden werden: Die Begriff ffe der Tugend und des moralisch Guten sind entweder umfangsgleich, oder der Begriff ff von „Tugend“ gehört zum Begriff ffsumfang des „moralisch Guten“, d.h. der Begriff ffsumfang des „moralisch Guten“ ist weiter als der von „Tugend“ und es gibt noch etwas, was καλὰ κἀγαθά ist, mit der Tugend aber nicht verbunden ist. Dann kommt die zweite Prämisse: καὶ οὔτ’ ἂν τοὺς ταῦτα εἰδότας ἄλλο ἀντὶ τούτων οὐδὲν προελέσθαι οὔτε τοὺς μὴ ἐπισταμένους δύνασθαι πράττειν, ἀλλὰ καὶ ἐὰν ἐγχειρῶσιν, ἁμαρτάνειν. Hier stellt sich die Frage, was ταῦτα und τούτων bedeuten. Früher haben oft ft die Herausgeber der Memorabilien darunter τὰ καλά τε κἀγαθά verstanden: „Diejenigen, die das moralisch Gute kennen, ziehen diesem nichts anderes vor…“. So schließen sich Bornemann und Sauppe der Auff ffassung von Finckh an und zitieren beide seine Worte: „Iustitia et quidquid cum virtute fit, fi bonum est et honestum; atqui bonum et honestum (denn diess ist ταῦτα nach der natürlichsten Erklärung) qui novit, facit; facit igitur nonnisi sapiens; ergo etiam iustitia et quidquid cum virtute fit, sapientia est“ (Finckh, 1828, 295; Bornemann, 1829, 217; Sauppe, 1834, 158). Siehe auch die Paraphrase von Schneider: „Iustitia et quicquid virtutis nomine venit, pulcrum et honestum est. Hoc qui novit, nihil ei praeferet; nec, qui ignorat, studere ei poterit unquam, aut, si fuerit ausus, excidet. Atqui iustitia et quicquid bonum honestumque dicitur, ad virtutem pertinet: igitur iustitia et reliquae virtutes omnes scientia constant“ (Bornemann, 1829, 216). Dieser Auff ffassung widerspricht aber die Tatsache, dass die Worte καλά τε κἀγαθά in dem vorhergehenden Satz nicht substantivierte Adjektive, sondern ein Prädikatsnomen des Prädikats καλά τε κἀγαθὰ εἶναι sind. Außerdem scheint dann der folgende Satz eine Wiederholung des eben Gesagten zu sein, der einzige Unterschied besteht in diesem Fall nur darin, dass statt τοὺς εἰδότας und τοὺς μὴ ἐπισταμένους jetzt τοὺς σοφούς und τοὺς μὴ σοφούς gesagt wird; es ist daher kein Zufall, f dass Schneider den zweiten Satz als eine Redundanz betrachtet: „Mihi itaque verba οὕτω καὶ – ἁμαρτάνειν ex interpretatione praecedentium οὔτ’ ἂν τοὺς ταῦτα εἰδότας – ἁμαρτάνειν orta et superflua fl esse videntur“ (Bornemann, 1829, 216; vgl. auch Finckh, 1828, 295). Die zweite Prämisse ist also folgende: Der die Tugend (πάντα ὅσα ἀρετῇ πράττεται und als Einzelfall davon τά δίκαια) Wissende wählt diese unter allen Umständen, während der Unwissende diese Wahl nicht treff ffen kann. Abhängig davon, wie man die erste Prämisse versteht, kann der folgende Satz (οὕτω [καὶ] τὰ καλά τε καὶ ἀγαθὰ τοὺς μὲν σοφοὺς πράττειν, τοὺς δὲ μὴ σοφοὺς οὐ δύνασθαι, ἀλλὰ καὶ ἐὰν ἐγχειρῶσιν, ἁμαρτάνειν) entweder eine Konklusion oder die dritte Prämisse sein. Wenn in der ersten Prämisse gemeint wird, ffe von „Tugend“ und „moralisch Gutem“ völlig zusamdass die Umfänge der Begriff menfallen, dann folgt aus der ersten und der zweiten Prämisse folgende Konklusion: Der das moralisch Gute Wissende handelt auf diese Weise und der Unwissende kann nicht moralisch gut handeln. Wenn aber in der ersten Prämisse gemeint wird, dass ffsumfang der „Tugend“ kleiner ist als der Begriff ffsumfang des „moralisch der Begriff Guten“ und in diesem enthalten ist, dann enthält die dritte Aussage in dieser Passage eine dritte Prämisse: Genauso ist es auch mit dem moralisch Guten, welches außerhalb des Begriff ffsumfangs der „Tugend“ liegt: Der das moralisch Wissende handelt auf diese Weise, der Unwissende kann aber so nicht handeln (das wird mit eine Ellipse gesagt: οἱ σοφοί bedeuten hier „die τὰ καλά τε καὶ ἀγαθά Wissenden“ als eine Parallele zu οἱ ταῦτα [= πάντα ὅσα ἀρετῇ πράττεται] εἰδότες im vorhergehenden Satz). Es ist übrigens schwer vorzustellen, dass Xenophon und sein Sokrates bei der Schlussfolgerung den Terminus „Begriffsumfang“, ff wenn auch ohne ihn als solchen zu bezeichnen, handhaben können; viel wahrscheinlicher scheint, dass, wo von Koinzidenz die
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Der Begriff ff der Tugend Rede ist, allemal die Gleichheit gemeint ist. Die Stellung der letzten Aussage in der Logik der ganzen Schlussfolgerung ist in jeder der zwei genannten Auff ffassungen verschieden. Im ersten Fall – wenn die Begriff ffsumfänge der „Tugend“ und des „moralisch Guten“ zusammenfallen – dient die Konklusion jetzt als die erste Prämisse von einem weiteren Syllogismus: Moralisch gute Handlungen führt der Wissende aus. Die zweite Prämisse und die Konklusion befi finden sich im letzten Satz des Paragraphen: ἐπεὶ οὖν τά τε δίκαια καὶ τἆλλα καλά τε καὶ ἀγαθὰ πάντα ἀρετῇ πράττεται, δῆλον εἶναι, ὅτι καὶ δικαιοσύνη καὶ ἡ ἄλλη πᾶσα ἀρετὴ σοφία ἐστί. Die zweite Prämisse folgt aus der vorher gemachten Aussage, dass alle Handlungen, die auf der Tugend beruhen, moralisch gut sind (πάντα ὅσα ἀρετῇ πράττεται καλά τε κἀγαθὰ εἶναι): Alle moralisch guten Handlungen beruhen auf der Tugend (wenn die Begriff ffsumfänge der „Tugend“ und des „moralisch Guten“ zusammenfallen, dann kann das Gerechte als ein konkretes Beispiel sowohl der Tugend als auch des moralisch Guten dienen: τά τε δίκαια καὶ τἆλλα καλά τε καὶ ἀγαθὰ πάντα ἀρετῇ πράττεται). D.h. das moralisch Gute tut der Wissende (erste Prämisse), das moralisch Gute tut der Tugendhafte ft (zweite Prämisse), Tugend ist folglich Wissen (Konklusion). In diesem Fall bedarf die handschrift ftliche Lesart ἀρετῇ πράττεται keiner Korrektur. Wenn aber der Begriff ffsumfang der „Tugend“ kleiner ist als der Begriff ffsumfang des „moralisch Guten“ und in diesem enthalten ist, enthält der letzte Satz des Paragraphen eine Konklusion aus den drei Prämissen: Wenn sowohl das Gerechte (als ein Repräsentant der Tugend) als auch überhaupt jedes moralisch Gute (welches mit der Tugend nicht unbedingt verbunden sein muss) der Wissende tut, ist Tugend folglich Wissen (da die Tugend völlig dem moralisch Guten angehört). In diesem Fall bedarf die handschriftliche ft Lesart ἀρετῇ πράττεται einer Korrektur (da nicht alles moralisch Gute auf der Tugend beruht, sondern nur ein Teil von diesem), und zwar der Konjektur von Johann Jacob Reiske σοφίᾳ πράττεται, die uns aus Ernestis Ausgabe bekannt ist (Ernesti, 51772, 144) und die Ernesti zum erstenmal in seiner vierten Ausgabe 1763 erwähnt hat. Früher hielten sich die meisten Herausgeber an die handschriftliche ft Lesart (außer Walther Gilbert, der Reiskes Konjektur zustimmte, allerdings ohne sie in den Text aufzunehmen: Gilbert, 1888, XLIX f. und 93), die beiden letzten Ausgaben der Memorabilien (Dorion & Bandini, 2011a und Bevilacqua, 2010) nehmen die Konjektur an: Siehe darüber Dorion & Bandini, 2011a, 350 f. Aus den beiden betrachteten Auff ffassungen ergeben sich zwei Fragen. Zum einen, worauf beruht die zweite Prämisse, dass derjenige, der weiß, worin eine tugendhaft fte Handlung besteht, ihr keine andere Handlung vorziehen kann? Dieser Einwand kann damit behoben werden, dass die tugendhafte ft Handlung – wie es im Folgenden zu besprechen ist – nützlich ist und dass niemand dem Nützlichen das Schädliche vorziehen kann (vgl. Delatte, 1933, 121: „Cette proposition n’est pas démontrée ici, mais elle l’a été au paragraphe précédent et au chapitre 8: les actions vertueuses apparaissent à l’homme qui « sait » comme les plus avantageuses“). Der zweite Einwand lässt sich nicht so leicht beheben: In der ganzen Schlussfolgerung scheint der Teil, in welchem es um τὰ καλὰ κἀγαθά geht, überflüssig. fl Um einen ähnlichen Syllogismus mit dem logischen Schluss, dass Tugend Wissen ist, zu ziehen, genügen zwei Prämissen: Dass tugendhaft fte Handlungen der Wissende ausführt (erste Prämisse) und dass tugendhaft fte Handlungen auf der Tugend beruhen (zweite Prämisse). Die Einbeziehung von τὰ καλὰ κἀγαθά scheint nur dann berechtigt, wenn das Ziel der Schlussfolgerung ist, nicht nur die These Th zu beweisen, dass Tugend Wissen ist, sondern auch die, dass die Tugend und das Gute identisch sind. Darauf hat zu Recht L. Dissen hingewiesen, der in den Worten ταῦτα und τούτων in
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Alle tugendhaft ften Handlungen – d.h. Handlungen, die durch die Tugend bedingt sind – sind moralisch gut; wenn der Mensch weiß, worin eine tu-
der Aussage οὔτ’ ἂν τοὺς ταῦτα εἰδότας ἄλλο ἀντὶ τούτων οὐδὲν προελέσθαι nicht das moralisch Gute, sondern die Tugend sah; seine Auff ffassung zitiert ablehnend Bornemann: „[…] iustitiam et quidquid cum virtute fiat bonum esse atque honestum; deinde monetur, qui noverit virtutem (πάντα τὰ ἀρετῇ πραττόμενα), non praelaturum ei aliud quidquam, quemadmodum qui ignoret, peccare necesse esse. Atqui, pergit, idem valet de honesto; nam etiam honestum nemo sequitur nisi honesti intelligens; hic autem est sapiens. Quare cum omnia paria sint, patet sapientiam et virtutem esse eandem (imo virtutem et honestum esse eadem)“ (Dissen, 1812, 19; Bornemann, 1829, 217). Von diesen beiden Einwänden ist die Auffassung ff von denjenigen frei, die in den Worten ταῦτα und τούτων den Hinweis auf τὰ καλὰ κἀγαθά finden: fi In diesem Fall wird die intellektualistische Natur der Tugend eben durch die Erörterung über das moralisch Gute bewiesen; und die These, dass derjenige, der das moralisch Gute kennt, nichts ihm vorziehen kann, scheint des Beweises nicht zu bedürfen. Dieser Auff ffassung widerspricht aber, wie schon erwähnt, die grammatische Konstruktion des ganzen Satzes (möglich, aber nicht plausibel, ist übrigens die Vermutung, dass τοὺς ταῦτα εἰδότας an τὰ καλά τε κἀγαθὰ γιγνώσκοντα aus dem vorhergehenden Paragraphen 3.9.4 anklingt). Außerdem stehen hinter den lateinischen Lehnüberset( et honestum) nicht zungen von Finckh (bonum et honestum) und Schneider (pulcrum einige falsche, von Platon geprägte Voraussetzungen und der Trieb, die Tugend und das Wissen von τὸ καλὸν κἀγαθόν gleichzusetzen? Was die Wiederholung ein und fft (οὔτ’ ἂν τοὺς ταῦτα εἰδότας … ἁμαρτάνειν desselben Gedankens in zwei Sätzen betrifft und οὕτω … ἁμαρτάνειν), so kann die Absicht und der Sinn dieser Wiederholung in dem Wunsch bestehen, den Beweis auch lexikalisch einwandfrei zu machen: Zu beweisen ist die These, dass Tugend σοφία ist; der Satz mit den Worten τοὺς μὲν σοφοὺς πράττειν, τοὺς δὲ μὴ σοφοὺς οὐ δύνασθαι ist also ein Übergang von der ἐπιστήμη zur ff der „Weisheit“ eine zusätzliche Bedeutung zu verleihen, die σοφία, ohne dem Begriff ihn vom Begriff ff des „Wissens“ unterscheiden könnte. Vgl. auch Delattes Interpretation, der das Wort ταῦτα auch als „das Tugendhaft fte“ versteht: „Le raisonnement, comme on le voit, repose sur le parallélisme exact qu’on peut établir entre les καλά κἀγαθά, objet de la σοφία, d’un côté, et, de l’autre, les δίκαια et autres actions vertueuses, objet de la δικαιοσύνη ou d’une autre vertu“ (Delatte, 1933, 121 f.). Es bleibt aber m.E. unklar, wie dieser Parallelismus hier als ein Mittel der logischen Schlussfolgerung dienen kann und in welchen Beziehungen τὰ καλὰ κἀγαθά / σοφία und τὰ δίκαια / δικαιοσύνη zueinander stehen. Dorion folgt hier der Auffassung ff von Delatte: „La troisième prémisse du raisonnement est en fait parallèle à la deuxième : de même que la connaissance du juste et de la vertu est nécessaire pour poser des actions justes ou vertueuses (= P2), de même le savant fait ce qui est beau et bon (= P3)“ (Dorion & Bandini, 2011a, 349). Dorion untersucht die Argumentation dieser Passage sehr ausführlich (Dorion & Bandini, 2011a, 350 ff.), aber auch in seinen Erörterungen ist m.E. nicht geklärt, welche Rolle in der Logik der ganzen Schlussfolgerung τὰ καλὰ κἀγαθά spielt und wozu aus der Hinsicht der Logik die Aussage, die Dorion als die dritte Prämisse betrachtet, nötig ist: „Le savant – celui qui possède la sophia – fait nécessairement ce qui est beau et bon“ (Dorion & Bandini, 2011a, 350).
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gendhafte ft Handlung besteht, kann er nicht auf eine andere Weise handeln. Moralisch gut handelt folglich der Weise, d.h. derjenige, der das Wissen hat, worin eine solche Handlung besteht. Es ist also das Wissen des Menschen, was seine moralisch gute Handlung verursacht. Da aber alle moralisch guten Handlungen durch die Tugend bedingt sind, bedeutet es, dass als Ursache und Beweggrund dieser Handlungen zugleich das Wissen und die Tugend dienen. Daraus folgt, dass sie identisch sind: Tugend ist Wissen. Dieses Urteil ruft ft unvermeidlich eine Frage hervor: Was für ein Wissen ist Tugend? Es ist klar, dass nicht jedes Wissen als Tugend gelten kann, sonst wäre dieser Begriff ff selbst, der Begriff ff der Tugend, überfl flüssig. Genügte das Wissen z.B. des Strategen oder des Schiff ffskapitäns, um tugendhaft fte Handlungen auszuführen, dann wäre die Tugend jedes beliebige Wissen. Das sollte bedeuten: Wenn der Mensch auch nur etwas weiß, hat er schon die Tugend, und nur derjenige hat keine Tugend, der überhaupt nichts weiß. Wäre das so, könnten wir behaupten, dass alle Menschen tugendhaft ft sind, weil es keinen Menschen gibt, welcher überhaupt nichts weiß. Der Xenophontische Sokrates stellt aber den tugendhaft ften Menschen diejenigen gegenüber, die über die Tugend nicht verfügen. Tugend ist ein solches Wissen, durch welches der Mensch tugendhaft fte, moralisch gute Handlungen auszuführen vermag. Derjenige muss folglich als nicht tugendhaft ft bezeichnet werden, der das Wissen, welches für die Ausführung solcher Handlungen nötig ist, nicht besitzt, unabhängig davon, ob er gleichzeitig über ein anderes Wissen verfügt – z.B. Kenntnisse in der Zimmermannskunst oder Schmiedekunst hat2. Zwischen dem die Tugend bildenden Wissen und allem übrigen Wissen gibt es keine direkte Verbindung: Man kann ein praktisches technisches Wissen haben, ohne dazu Tugend zu besitzen3. Einerseits vergleicht Sokrates moralisches Wissen mit praktischen und technischen Fertigkeiten, τέχναι: Wie Geiger derjenige ist, der Geige spielen kann, Arzt, wer Medizin erlernt hat, und Stratege, wer Kenntnisse in der Kunst der Strategie erworben hat4, so ist derjenige gerecht, der weiß, was gerecht ist, fromm, wer weiß, was fromm ist, und tapfer, wer weiß, was furchtbar und was hingegen nicht furchtbar ist5. Tugend ist also ἐπιστήμη oder im Xenophontischen Usus σοφία6. Doch andererseits trennt Sokrates praktische Fachkenntnisse und das Wissen, wel-
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Mem. 4.2.22: οἶσθα δέ τινας ἀνδραποδώδεις καλουμένους; … ἆρ’ οὖν τῶν τὰ καλὰ καὶ ἀγαθὰ καὶ δίκαια μὴ εἰδότων τὸ ὄνομα τοῦτ’ ἐστίν; Siehe auch unten S. 99 Anm. 7. Mem. 3.1.4. Mem. 4.6.2-6; 4.6.10-11. Mem. 4.6.7.
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ches den Menschen tugendhaft ft macht. Ohne dieses letztere kann der Mensch seine technischen Kenntnisse nicht richtig verwenden. In dem Fall, wenn der Mensch moralisches Wissen nicht besitzt, ist es sogar besser, auch keine angewandten Fertigkeiten zu besitzen, denn je mehr praktische Fähigkeiten der Mensch hat, desto weiter ist der Kreis der Möglichkeiten, wo sein Mangel an Tugend in Erscheinung treten kann7. Man soll deshalb vor allem nach dem moralischen Wissen, d.h. nach der Tugend, streben. Im Xenophontischen Text kann eine Liste der Fragen gefunden werden, die das moralische Wissen bilden: αὐτὸς δὲ περὶ τῶν ἀνθρωπίνων ἀεὶ διελέγετο σκοπῶν, τί εὐσεβές, τί ἀσεβές, τί καλόν, τί αἰσχρόν, τί δίκαιον, τί ἄδικον, τί σωφροσύνη, τί μανία, τί ἀνδρεία, τί δειλία, τί πόλις, τί πολιτικός, τί αρχὴ ἀνθρώπων, τί ἀρχικὸς ἀνθρώπων, καὶ περὶ τῶν ἄλλων, ἃ τοὺς μὲν εἰδότας ἡγεῖτο καλοὺς κἀγαθοὺς εἶναι, τοὺς δ’ ἀγνοοῦντας ἀνδραποδώδεις ἂν δικαίως κεκλῆσθαι8.
Es bleibt aber unklar, ob der Mensch Antworten auf alle diese Fragen (übrigens, ist sogar diese Liste unvollständig, Xenophon bricht sie ab und schreibt „und andere“) kennen soll, um tugendhaft ft zu sein, oder es genügt, eine Antwort auf eine oder einige zu kennen. Andererseits: ob es möglich ist, eine Antwort zu kennen, ohne zugleich alle anderen Antworten zu kennen? Um dieses Problem zu lösen, müssen wir einige Fragen aus der zitierten Liste behandeln. Im Gespräch mit Euthydemos versucht Sokrates den Begriff ff der Frömmigkeit (εὐσέβεια) zu definieren. fi Die Analyse des abstrakten Begriff ffes ersetzt er durch die Untersuchung des konkreten Trägers der Frömmigkeit und spricht darüber, welcher Mensch als fromm bezeichnet werden kann. Euthydemos erwidert, dass derjenige fromm ist, welcher die Götter ehrt. Da Euthydemos behauptet, dass es bestimmte Gesetze gibt, die verordnen, auf welche Weise die Götter geehrt werden sollen, kommt Sokrates mit seinem Gesprächspartner letzten Endes zum Schluss, dass derjenige als fromm
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Mem. 4.1.4. In Mem. 4.2.11 kommen Sokrates und Euthydemus zum Einverständnis, dass der ungerechte Mensch kein guter Staatsmann oder Bürger sein kann. Siehe auch Mem. 4.3.1 und 1.2.17. Mem. 1.1.16: „Er selbst unterhielt sich immer nur über die menschlichen Dinge und forschte, was fromm, was göttlich, was schön, was hässlich, was gerecht, was ungerecht, was Sophrosyne, was Raserei, was Tapferkeit, was Feigheit, was Staat, was Staatsmann, was Herrschaft ft über Menschen, was ein Herrscher über Menschen sei. Dazu kamen die anderen Fragen, von denen auch er annahm, dass derjenige, der sie kenne, ein vollkommener Mensch sei. Wer sie aber nicht kenne, der müsse mit Recht als Sklavenseele bezeichnet werden.“
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bezeichnet werden soll, der diese Gesetze kennt9. Dieser Erörterung liegen zwei Thesen Th zugrunde. Die erste: Um fromm zu sein, soll der Mensch nicht einfach die Götter ehren, sondern sie richtig ehren. Die zweite These Th lautet, dass jeder Mensch so handelt, wie er es für richtig hält. Damit der Mensch fromm sein kann, soll folglich seine Auff ffassung vom Richtigen richtig sein. D.h.: Seine Auff ffassung soll mit dem wirklichen Richtigen übereinstimmen. Daraus lässt sich folgender Schluss ziehen: Derjenige ist fromm, welcher das Wissen vom Richtigen hat. In diesem Gespräch behaupten Sokrates und Euthydemos, dass mit solchem Wissen – d.h. mit dem Wissen, was in Bezug auf die Götter richtig ist – bestimmte Gesetze den Menschen ausstatten können. Weiter diskutieren die Gesprächspartner über die Gerechtigkeit (δικαιοσύνη) und kommen zum ähnlichen Schluss: Gerecht ist derjenige, der weiß, was in Bezug auf Menschen richtig ist10. In demselben Dialog suchen Sokrates und Euthydemos eine Antwort auch auf die Frage, was die Tapferkeit (ἀνδρεία) ist, und noch einmal ersetzt Sokrates diese Frage durch eine andere und konkretere – welcher Mensch kann tapfer genannt werden11. Der Gedankengang der Gesprächspartner ist folgende: Derjenige ist tapfer, der in Bezug auf das Furchtbare und das Gefährliche gut ist; und gut ist in diesem Fall derjenige, der das Furchtbare und das Gefährliche gut ertragen kann. Da jeder Mensch sich so benimmt, wie er es für richtig hält, kann deshalb derjenige das Furchtbare und das Gefährliche gut ertragen, der weiß, was in Bezug auf dieses richtig ist. So soll derjenige als tapfer bezeichnet werden, der in Bezug auf das Gefährliche richtig handelt. Das bedeutet, dass derjenige tapfer ist, der weiß, was in Bezug auf das Gefährliche richtig ist. Zusammengefasst lässt sich sagen: Frömmigkeit ist das Wissen vom Richtigen in Bezug auf die Götter; Gerechtigkeit ist das Wissen vom Richtigen in Bezug auf Menschen; und Tapferkeit ist das Wissen davon, was in Bezug auf das Gefährliche richtig ist. Alle drei Definitionen fi sind in ihrem Hauptteil identisch: Jedes Mal handelt es sich um das Wissen, welches als Grund des richtigen Verhaltens des Menschen dient. Die Definitionen fi unterscheiden sich nur durch konkrete Situationen, für welche die eine Handlung relevant ist und die andere nicht. Aus diesen Überlegungen folgt, dass die Tugend das Wissen davon ist, welches Verhalten in gewissen Fällen richtig ist. Diese Definition fi kann aber nicht für befriedigend gehalten werden, weil sie eine
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Mem. 4.6.2-4. Mem. 4.6.5-6. Auf die These, dass es Gesetze sind, was den Menschen das Wissen vom Richtigen gibt, wird später zurückzukommen sein: Siehe S. 227 ff. ff Mem. 4.6.10-11.
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weitere Erläuterung braucht – eine Erklärung, was das richtige Verhalten bedeutet, d.h. von welchem Standpunkt aus es beurteilt wird, ob das Verhalten richtig oder unrichtig ist, was als Kriterium bei der Ermittlung dient, auf welche Weise der Mensch sich verhalten soll. Die von der Tugend verursachten Handlungen sind nicht nur richtige Handlungen, sondern, wie schon angemerkt, solche Handlungen, denen der Mensch in einer Situation der Wahl keine andere Handlungen vorziehen kann. Denn dem tugendhaft ften Menschen geht es besser als dem, der keine Tugend hat: Nur der gerechte Mensch kann gute und hilfsbereite Freunde haben, während kein Mensch sich um den kümmert, der undankbar ist12. Auch auf die Hilfe von den Göttern kann nur derjenige rechnen, der fromm ist, und eben die Götter sind die größten Wohltäter der Menschen13. Außerdem ist es hässlich und schändlich (αἰσχρόν), schlechte Handlungen zu begehen14, tugendhaft fte hingegen zu begehen ist anständig und ehrenvoll (καλόν). Es ist folglich vorteilhaft ft, Tugend zu besitzen. Die These, dass die Tugend das ἀγαθόν und καλόν (und nicht das κακόν und αἰσχρόν) ist, bräuchte keinen Beweis15, daher ist die Tugend in der ethischen Theorie Th des Xenophontischen Sokrates das Nützliche (εὔχρηστον)16. Das Nützliche seinerseits (ὠφέλιμον und χρήσιμον) ist das ἀγαθόν und καλόν17. Das richtige, d.h. das tugendhaft fte, Handeln ist das Handeln, welches dem Menschen Nutzen bringt; eben deswegen kann kein Mensch solchem Handeln das andere vorziehen, denn niemand kann bewusst das Schädliche statt des Nützlichen wählen18. Die Analyse der ethischen Ansichten des Xenophontischen Sokrates deckt also ihren protoutilitaristischen Charakter auf: Tugend ist ein Mit-
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Mem. 2.2.14. Mem. 4.3.17. Mem. 4.8.9. Dem Anschein nach ist es die Schlussfolgerung aus dem Gegenteil: Es ist offenbar, ff dass die Tugend nicht zum Schlechten gezählt werden kann, folglich ist sie das Gute. Siehe z.B. Mem. 4.6.10: Ohne viel nachzudenken, antwortet Euthydemus, dass Tapferkeit nicht nur zu den schönen, sondern auch zu den schönsten Dingen gehört (κάλλιστον). Mem. 3.8.5. Mem. 4.6.8-9. Mem. 3.9.4: πάντας γὰρ οἶμαι προαιρουμένους ἐκ τῶν ἐνδεχομένων ἃ οἴονται συμφορώτατα αὑτοῖς εἶναι, ταῦτα πράττειν; Mem. 4.1.5: […] μῶρος μὲν εἴη εἴ τις οἴεται μὴ μαθὼν τά τε ὠφέλιμα καὶ τὰ βλαβερὰ τῶν πραγμάτων διαγνώσεσθαι, μῶρος δ’ εἴ τις μὴ διαγιγνώσκων μὲν ταῦτα, διὰ δὲ τὸν πλοῦτον ὅ τι ἂν βούληται ποριζόμενος οἴεται δυνήσεσθαι τὰ συμφέροντα πράττειν, ἠλίθιος δ’ εἴ τις μὴ δυνάμενος τὰ συμφέροντα πράττειν εὖ τε πράττειν οἴεται καὶ τὰ πρὸς τὸν βίον αὐτῷ ἢ καλῶς ἢ ἱκανῶς παρεσκευάσθαι.
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tel, das für die Erreichung des Zieles notwendig ist. An dieser Stelle gilt es aufzuklären, welches Ziel alle menschlichen Handlungen verfolgen, das der Tugend den Status des dafür Nützlichen verleiht. Obwohl Sokrates dieses Problem im Xenophontischen Text nie ausführlich untersucht, kann dem aufmerksamen Leser nicht entgehen, dass es für etwas Selbstverständliches gehalten wird, dass alle Menschen nach ihrem Glück streben und dass dieses Streben das Handeln jedes Menschen bestimmt 19. Und obwohl diese Ansicht keine theoretische Motivierung in der Ethik des Xenophontischen Sokrates hat – und sie deswegen nur als Intuition betrachtet werden kann –, können wir dennoch mit gutem Grund über den Eudämonismus in der Ethik des Sokrates bei Xenophon sprechen, der noch im Entstehen ist und die endgültige Form noch nicht angenommen hat20. Bei der Suche nach den richtigen Definitionen fi von allen drei oben behandelten Begriff ffen ist die These von größter Bedeutung, dass, wer weiß, was richtig ist und wie er handeln soll (ὡς δεῖ), nicht gegen sein Wissen handeln kann21. Da aber das Richtige das Nützliche ist, tut folglich der Mensch in jeder Situation, was er für das Nützlichste hält, d.h. was – nach seiner Meinung – zum Glück oder zum größeren Glück führt, oder was schneller zu ihm führt. Das richtige Verhalten ist also das Verhalten, das zum Nutzen und nicht zum Nachteil gereicht. Jetzt lassen sich die Defi finitionen der drei zu analysierenden Begriffe, ff folgendermaßen formulieren: Gerechtigkeit ist Wissen davon, wie das Glück in den zwischenmenschlichen Beziehungen zu erreichen ist22;
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Siehe z.B. Mem. 3.2.1: Krieger kämpfen gegen die Feinde und streben danach, sie zu besiegen, um glücklicher zu leben (στρατεύονται δέ, ἵνα κρατοῦντες τῶν πολεμίων εὐδαιμονέστεροι ὦσιν); Mem. 3.2.2: Die Aufgabe des Königs ist, für das Glück derer zu sorgen, über die er herrscht (ὧν βασιλεύοι, τούτοις εὐδαιμονίας αἴτιος εἴη; siehe auch Mem. 3.2.4: τὸ εὐδαίμονας ποιεῖν ὧν ἂν ἡγῆται); Mem. 2.1.11: Sokrates und Aristipp sprechen vom „Weg zum Glück“ (ὁδός […] ἥπερ μάλιστα πρὸς εὐδαιμονίαν ἄγει; siehe auch Mem. 2.1.29: ῥᾳδίαν καὶ βραχεῖαν ὁδὸν ἐπὶ τὴν εὐδαιμονίαν). Siehe auch unten Anm. 22. Statt des Begriff ffs ‚Eudämonismus‘ benutzt Morrison ‚Egoismus‘ (Morrison, 2008, 11). Mem. 4.6.3: Ἆρ’ οὖν ὁ εἰδὼς ὡς δεῖ τοὺς θεοὺς τιμᾶν οὐκ ἄλλως οἴεται δεῖν τοῦτο ποιεῖν ἢ ὡς οἶδεν; Ἄλλως δέ τις θεοὺς τιμᾷ ἢ ὡς οἴεται δεῖν; Mem. 4.6.6: Εἰδότας δὲ ἃ δεῖ ποιεῖν οἴει τινὰς οἴεσθαι δεῖν μὴ ταῦτα ποιεῖν; Οἶσθα δέ τινας ἄλλα ποιοῦντας ἢ ἃ οἴονται δεῖν; Mem. 4.6.11: Ἆρ’ οὖν ἕκαστοι χρῶνται ὡς οἴονται δεῖν; Damit der Mensch richtig handeln kann, soll seine Auff ffassung vom Richtigen mit dem wirklichen Richtigen übereinstimmen. D.h. der Mensch soll das Wissen vom Richtigen besitzen. Wer richtig – d.h. wie es sein muss – mit den Menschen umgeht, wird glücklich. Vgl. Mem. 4.6.5: οἵ γε ὡς δεῖ χρώμενοι καλῶς χρῶνται […] οἵ γε τοῖς ἀνθρώποις καλῶς
Tugend als Wissen
103
Frömmigkeit ist Wissen davon, auf welche Weise in Bezug auf die Götter zu handeln ist, um das Glück zu erreichen; und Tapferkeit ist Wissen davon, welches Verhalten in gefährlichen und furchterregenden Situationen zum Glück führt. Es liegt auf der Hand, dass der Mensch kein solches Wissen besitzen kann, wenn er zugleich nicht weiß, worin sein Glück besteht. Das Wissen, welches Verhalten richtig ist, ist ohne Wissen vom Glück unmöglich, weil eben dieses letztere als Kriterium für Richtigkeit oder Unrichtigkeit des Handelns dient. Für den Xenophontischen Sokrates ist also das die Tugend bildende Wissen das Wissen von einem gewissen Korpus von Regeln, nach welchen der Mensch sich richten muss, um das Nützliche zu tun, d.h. das, was ihn zum Glück führen wird23.
23
χρώμενοι καλῶς πράττουσι τἀνθρώπεια πράγματα und Mem. 4.1.2: [μαθημάτων] δι’ ὧν ἔστιν […] ἀνθρώποις τε καὶ τοῖς ἀνθρωπίνοις πράγμασιν εὖ χρῆσθαι. τοὺς γὰρ τοιούτους ἡγεῖτο παιδευθέντας οὐκ ἂν μόνον αὐτούς τε εὐδαίμονας εἶναι […], ἀλλὰ καὶ ἄλλους ἀνθρώπους καὶ πόλεις δύνασθαι εὐδαίμονας ποιεῖν. Interessant ist auch Folgendes: Hier wird gemeint, dass der Wissende nicht nur selbst glücklich ist, sondern auch fähig ist, alle anderen glücklich zu machen; und an anderer Stelle wird behauptet, dass der Unwissende hingegen nicht nur selbst unrichtig handelt (und deswegen sich ins Unglück stürzt), sondern auch andere täuscht (und folglich sie zum Unglück treibt): Σωκράτης γὰρ τοὺς μὲν εἰδότας, τί ἕκαστον εἴη τῶν ὄντων, ἐνόμιζε καὶ τοῖς ἄλλοις ἂν ἐξηγεῖσθαι δύνασθαι, τοὺς δὲ μὴ εἰδότας οὐδὲν ἔφη θαυμαστὸν εἶναι αὐτούς τε σφάλλεσθαι καὶ ἄλλους σφάλλειν (Mem. 4.6.1). Der kategorische Nachdruck der Behauptung, dass der Unwissende unter keinen Umständen eine tugendhaft fte, d.h. nützliche, Handlung zu begehen vermag, ist unbegründet (Mem. 3.9.5, siehe oben). Die Bedingung des unrichtigen Verhaltens des Menschen ist nicht nur ein Mangel an Wissen, sondern auch ein Fehler und sein fester Glaube daran, dass er recht hat: Unrichtig handelt derjenige, der das Böse für das Gute hält und folglich de facto nach dem Bösen strebt (so hält der unbeherrschte Mensch die Genüsse für das Gute). Die Behauptung, dass der Unwissende nicht imstande ist, eine tugendhaft fte Handlung zu begehen, lässt den Unterschied zwischen dem nicht tugendhaft ften Menschen als Antagonisten des tugendhaft ften Menschen und dem nicht tugendhaft ften Menschen als demjenigen, der das die Tugend bildende Wissen nicht besitzt, unberücksichtigt. Dieser letztere vermag de facto eine tugendhafte ft Handlung zu begehen – sozusagen zufällig. Z.B. ist es theoretisch möglich, dass der Wahnsinnige, der nicht versteht, was gefährlich und fürchterlich ist, einem Menschen das Leben rettet (siehe Mem. 4.6.10). Außerdem ist, wenn derjenige gerecht ist, der Gesetze kennt (Mem. 4.6.6), es auch denkbar, dass wer Gesetze nicht kennt, de facto eine Handlung ihnen entsprechend begehen kann, obwohl er sich im Handeln nach seinen eigenen Überlegungen richtet. Wenn aber in der Dichotomie ‚Wissender – Unwissender‘ dem Wissenden sein Antipode, d.h. wer das Böse für das Gute hält, gegenübergestellt wird, dann soll man nicht diese Behauptung als falsch bezeichnen, sondern die Formulierung als ungenügend. Tugendhaft fte Handlungen begeht der
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Der Begriff ff der Tugend
Jetzt lässt sich die Frage untersuchen, die am Anfang ohne Antwort geblieben ist, nämlich ob die Tugend einheitlich ist. Von prinzipieller Bedeutung ist hier, dass Xenophons Sokrates die Verbindung zwischen jeder Art der Tugend und der konkreten relevanten Situation nicht negiert: Man kann in einer Situation das Nützliche kennen und in einer anderen nicht24. Mann kann folglich gleichzeitig z.B. fromm und nicht tapfer sein. Es muss zugegeben werden, dass die ethische Theorie des Xenophontischen Sokrates in dem Teil, wo es um den Begriff ff der Tugend geht, wenigstens unklar dargelegt ist; das bisher Gesagte führt dennoch zu folgendem Schluss: In den Urteilen des Xenophontischen Sokrates wird die Tugend nicht zur einheitlichen ungeteilten Kategorie erhoben25, aber als tugendhaft ft zu bezeichnen ist der Xenophontische Sokrates allein denjenigen geneigt, der alle Tugenden zugleich besitzt. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die Einheitlichkeit des Denkens des Xenophontischen Sokrates in seiner Untersuchung der beiden
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tugendhaft fte Mensch, d.h. wer das ganze die Tugend bildende Wissen besitzt; nicht tugendhaft fte Handlungen begeht derjenige, der das Böse für das Gute hält; wer aber in dem Sinne nicht tugendhaft ft ist, dass er das die Tugend bildende Wissen nicht oder nur teilweise hat, kann infolge des Mangels an Wissen sowohl richtig als auch unrichtig handeln. Von Wichtigkeit ist aber folgendes: Ein solcher Mensch kann zufällig eine tugendhaft fte Handlung begehen, aber infolgedessen wird er nicht tugendhaft ft. Manchmal kann man ohne Wissen eine tugendhaft fte Handlung begehen, aber man kann nicht ohne Wissen tugendhaft ft werden. Mem. 4.6.7: Ἐπιστήμη ἄρα σοφία ἐστίν; Ἔμοιγε δοκεῖ. […] Πάντα μὲν ἄρα σοφὸν οὐχ οἷόν τε ἄνθρωπον εἶναι; Μὰ Δί’’ οὐ δῆτα, ἔφη. Ὃ ἄρα ἐπίσταται ἕκαστος, τοῦτο καὶ σοφός ἐστιν; Ἔμοιγε δοκεῖ. Die Meinung, dass die Tugend nach der Ansicht des Xenophontischen Sokrates eine Einheit sei, hat viele Vertreter, die sich bei ihrem Urteil auf die Passage Mem. 3.9.5 field, 2004, 108; in der stützen: Siehe z.B. Zeller, 31875, 121; Luccioni, 1953, 55; Waterfi Auff ffassung von Vander Waerdt sind die beiden Meinungen vereinigt: „For while the Xenophontic Socrates clearly holds some version of the thesis of the unity of virtue, as evidenced by his statement that ‚justice an every other virtue are [forms of] wisdom (sophia)’ (Mem. 3.9.5), it is clear from Mem. 4.6 that he also recognized a plurality of virtues – e.g. justice, wisdom, courage – apparently distinguished from one another by their respective spheres“ (Vander Waerdt, 1993, 42). Ganz richtig dazu Dorion: „… la sophia est un savoir déterminé dans un champ de compétence restreint, lequel peut ressortir aussi bien à l’éthique qu’aux diff fférentes techniques. […] en eff ffet, la sophia en quoi consiste la justice […] est nécessairement distincte de la sophia en quoi consiste le courage ou n’importe quelle autre vertu. […] la thèse de l’unité des vertus est en ffi réalité absente de III 9, 5. Toutes les vertus consistent en une sophia, ainsi que l’affirme III 9,5, mais il s’agit chaque fois d’une forme distincte de sophia“ (Dorion & Bandini, 2011a, 352 f.).
Das Gute und das Böse
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oben betrachteten Begriffe: ff der Enthaltsamkeit und der Tugend. Man kann in einem körperlichen Genuss enthaltsam und zugleich in einem anderen nicht enthaltsam sein, doch kann für einen enthaltsamen Menschen allein derjenige gehalten werden, der in allen Genüssen enthaltsam ist. Genau so ist es auch im Fall der Tugend: Obwohl es möglich ist, eine Tugend ohne eine andere zu besitzen, kann als tugendhaft ft nur derjenige bezeichnet werden, der zugleich alle Arten der Tugend hat. Protoutilitaristische und eudämonistische Merkmale der Ethik des Xenophontischen Sokrates zeigen sich in seinen Urteilen, dass jeder Mensch nach seinem Glück strebt und dass die Tugend als Wissen vom Nützlichen ein Mittel zur Erreichung des Glückes ist. Die Tugend ist keine Einheit, jede Art von ihr ist das Wissen des Nützlichen in der jeweils relevanten Situation.
2. Das Gute und das Böse Alle nützlichen Dinge sind für jemanden und für etwas nützlich, so dass sie gleichzeitig für einen anderen und für etwas anderes schädlich sein können. Da die Tugend auch den Status des Nützlichen hat, entsteht unvermeidlich die Frage, ob die Tugend – wie alle anderen Dinge – auch in einigen Fällen schädlich sein kann.
2.1. Begriffe ff des Guten und des Schönen In der ethischen Theorie des Xenophontischen Sokrates beruht die Defi finition der Tugend, wie nachgewiesen wurde, auf der These, Th dass sie für den Menschen vorteilhaft ft ist26. In diesem Zusammenhang verdient Sokrates’ Auffassung ff vom ‚Nützlichen‘ eine gesonderte Betrachtung. Aristipps Frage, ob Sokrates etwas Gutes (τι ἀγαθόν) kennt, beantwortet er mit einer Gegenfrage, ob damit etwas Gutes gegen Fieber oder gegen
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Vgl. Dorion, 2006a, 279: „[…] le bien est lui-même conçu et défini fi en fonction de l’utilité, de sorte que le véritable fondement de la vertu, de la vie bonne […] serait en dernière analyse l’utilité elle-même.“ Dem kann ich nicht zustimmen, weil ‚das Nützliche‘ m.E. immer ‚das Nützliche fürr etwas‘ ist: Es gibt kein abstraktes Nützliches oder Nützliches als solches in der Ethik des Xenophontischen Sokrates. Wenn Sokrates behauptet, dass Enthaltsamkeit nützlich, der Mangel an ihr aber schädlich ist, meint er damit die Nützlichkeit oder Schädlichkeit für das Glück. Wenn wir dem Gedankengang Dorions folgen, müssen wir zugeben, dass dem Begriff ff der Enthaltsamkeit der Begriff ff des Glücks (demgemäß ist der enthaltsame Mensch glücklich, der nicht enthaltsame aber unglücklich), nicht der Begriff ff der Nützlichkeit vorangehen soll.
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Der Begriff ff der Tugend
Augenkrankheit oder gegen Hunger gemeint sei. Da Aristipp alles verneint, sagt Sokrates, dass er kein Gutes kennt, welches zu nichts gut ist (μηδενὸς ἀγαθόν), und dass er es auch nicht zu kennen braucht27. Unter ‚dem Guten‘ versteht Sokrates also ‚das Gute [Mittel] gegen etwas Schlechtes‘: Jedes Mal verwendet er das Adjektiv ἀγαθόν mit dem davon abhängigen Genitiv. Weiter fragt Aristipp, ob Sokrates etwas Schönes (τι καλόν) kennt, und nach seiner Antwort, dass er sogar vieles kennt und dass schöne Dinge einander sehr unähnlich sein können, stellt Aristipp sofort noch eine Frage: Wie kann dasjenige schön sein, das dem Schönen unähnlich ist? Zur Erläuterung führt Sokrates zwei Beispiele an, und zwar: Der zum Ringkampf schöne Mensch kann dem zum Laufen schönen Menschen unähnlich sein, und der zum Schützen schöne Schild ist nicht im geringsten dem zum Werfen schönen Speer ähnlich28. Unter dem Begriff ff ‚des Schönen‘ versteht Sokrates folglich ‚das für etwas Schöne‘: In seinen Antworten verwendet er jedes Mal die Konstruktion καλὸν πρός mit dem davon abhängigen Akkusativ. Nach dieser Erklärung bemerkt Aristipp, dass diese Antwort des Sokrates sich von seiner Antwort auf die erste Frage nicht unterscheidet. Es lohnt sich, darüber nachzudenken, was Aristipp mit seiner Bemerkung meint, d.h. von welcher Ähnlichkeit der beiden Antworten des Sokrates er spricht. Am Anfang des Dialoges schreibt Xenophon, dass Aristipp, als er seine Frage über das Gute stellte, wünschte, dass Sokrates etwas Konkretes nennen würde: Speise, Getränk oder Reichtum, kurzum was manchmal dem Menschen schädlich sein kann, damit Aristipp eine solche Antwort widerlegen könnte. So bereitet Aristipp absichtlich eine solche Redesituation vor, die eine günstige Gelegenheit geben kann, den Sokrates mit logischen Tricks zu widerlegen. Sokrates akzeptiert die ihm vorgeschlagenen Spielregeln und schlägt den Feind mit seinen eigenen Waffen ff 29. Statt der von Aristipp erwarteten Antwort erwidert Sokrates, dass ‚das Gute‘ immer ‚das gegen etwas Gute‘ ist, deswegen ist Aristipps Frage unkorrekt und muss anders formuliert werden: Es ist notwendig, dass die Frage auf ein Objekt verweist, hinsichtlich dessen das Ding den Status ‚des Guten‘ oder ‚des Schlechten‘ bekommen kann. Nachdem Aristipp mit dieser Frage gescheitert ist, hofft fft er immerhin, So-
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Mem. 3.8.2-3. Mem. 3.8.4. Delatte scheint darauf in seinem Kommentar hingewiesen zu haben: „Xénophon nous le dit expressément: Aristippe attend de Socrate la mention d’un bien particulier et d’un bien plutôt matériel que moral: cinq examples de biens matériels sont cités, un seul d’un bien spirituel [Mem. 3.8.2: σιτίον ἢ ποτὸν ἢ χρήματα ἢ ὑγίειαν ἢ ῥώμην ἢ τόλμαν]. C’est donc une erreur des modernes de croire que Socrate évite de proclamer l’existence du bien absolu par crainte d’un piège“ (Delatte, 1933, 99).
Das Gute und das Böse
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krates zu widerlegen, und stellt seine zweite Frage. Abermals sagt Sokrates jedoch, dass man einfach vom ‚Schönen‘ nicht sprechen kann, denn jedes Ding kann nur in bestimmter Hinsicht als schön bezeichnet werden. Die Ähnlichkeit der beiden Antworten besteht also darin, dass Sokrates zweimal über den relativen Charakter der beiden Kategorien spricht: Die ‚Gutheit‘ und die ‚Schönheit‘ eines Dinges können nur im Vergleich mit einem konkreten Objekt nachgewiesen werden. Allem Anschein nach weist Aristipp auf eben diese Überlegung hin, wenn er bemerkt, dass Sokrates identische Antworten auf zwei verschiedene Fragen gegeben hat. Aber Sokrates spricht weiter gar nicht darüber. Als Antwort auf Aristipps Bemerkung behauptet er, dass ein Ding, wenn es den Status ‚des Schönen‘ bekomme, zugleich auch den Status ‚des Guten‘ bekomme, und vice versa30. Streng genommen folgt aber ein solcher Schluss aus den oben beschriebenen Überlegungen nicht: Wenn ‚das Gute‘ ‚das gegen etwas [meistens Schlechtes] Gute‘ und ‚das Schöne‘ ‚das fürr etwas [meistens Gutes] Schöne‘ bedeutet, sind zwei Anhaltspunkte (d.h. zwei Objekte, hinsichtlich deren ein Ding die eine oder die andere Beurteilung bekommen kann) notwendig, damit ein Ding die beiden Status bekommt. Sokrates behauptet aber an dieser Stelle, dass ‚das Gute‘ und ‚das Schöne‘ auf dieselbe Art bestimmt werden: οὐκ οἶσθ’, ὅτι πρὸς ταὐτὰ πάντα καλά τε κἀγαθά ἐστι; […] πρὸς ταὐτὰ δὲ καὶ τἆλλα πάντα οἷς ἄνθρωποι χρῶνται καλά τε κἀγαθὰ νομίζεται, πρὸς ἅπερ ἂν εὔχρηστα ᾖ. […] πάντα γὰρ ἀγαθὰ μὲν καὶ καλά ἐστι πρὸς ἃ ἂν εὖ ἔχῃ, κακὰ δὲ καὶ αἰσχρὰ πρὸς ἃ ἂν κακῶς31.
Hier bezeichnet Sokrates ‚das Gute‘ nicht mehr als ‚das gegen etwas Gute‘, sondern als ‚das für etwas Gute‘ und daher spricht er darüber, dass Dinge die beiden Status zugleich bekommen. Obwohl Sokrates’ Überlegungen logisch nicht einwandfrei sind, ist in ihnen m.E. eine Andeutung über die Identität des Guten und des Schönen aufzuspüren: ‚Das Nützliche‘ in einer Hinsicht ist zugleich ‚das Gute‘ und ‚das Schöne‘ in dieser Hinsicht. Zur Illustration seines Urteils, dass alle Dinge hinsichtlich desselben gut und schön sind, führt Sokrates einige Beispiele an, von denen eines in diesem Zusammenhang äußerst wichtig ist: πρῶτον μὲν γὰρ ἡ ἀρετὴ οὐ πρὸς ἄλλα μὲν ἀγαθόν, πρὸς ἄλλα δὲ καλόν ἐστιν.
30 31
Mem. 3.8.5: σὺ δ’ οἴει, ἔφη, ἄλλο μὲν ἀγαθόν, ἄλλο δὲ καλὸν εἶναι; Mem. 3.8.5-7: „Weißt du nicht, dass alles für dasselbe gleichzeitig schön und gut ist? […] Auch alles übrige, was die Menschen gebrauchen, hält man für schön und gut für dasselbe, und zwar wofür es nützlich ist. […] Alles ist gut und schön für das, wozu es gut passt, schlecht und hässlich aber, wozu es schlecht passt.“
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Der Begriff ff der Tugend
Unwillkürlich stellt sich beim Leser die Frage: Hinsichtlich wessen ist die Tugend gut und schön? Und wenn die erste Definition fi des Guten auch in Betracht zu ziehen ist, entsteht in diesem Fall noch eine Frage, und zwar: Wogegen ist die Tugend ein gutes Mittel? Anders gesagt, taucht eben an dieser Stelle die Frage auf, die zum Ausgangspunkt unserer Analyse in diesem Abschnitt geworden ist: Wofür ist die Tugend nützlich? Jedes Ding soll seine Aufgaben (τὰ ἑαυτοῦ ἔργα) erfüllen: Wenn es diesem Ziel gut angepasst ist, ist dieses Ding nützlich und folglich schön (καλόν) und gut (ἀγαθόν), wenn es aber schlecht angepasst ist, ist es nutzlos und deswegen hässlich (αἰσχρόν) und schlecht (κακόν)32. Da aber das, was seiner Aufgabe gut angepasst ist, gleichzeitig anderen Aufgaben (d.h. den spezifischen fi Aufgaben anderer Dinge) schlecht oder gar nicht angepasst sein kann, ist dasselbe Ding zugleich nützlich und nutzlos, und folglich ist es zugleich das Schöne und das Hässliche, sowie das Gute und das Schlechte. Um die Frage zu beantworten, wofür die Tugend nützlich ist, muss man also zunächst feststellen, was τὰ ἔργα der Tugend sind. Außer diesem Hinweis wirft ft aber der letzte Passus von Sokrates’ Dialog mit Aristipp eine neue Frage auf: Wenn dasselbe Ding gleichzeitig gut und schön und schlecht und hässlich ist, kann dann die Tugend auch das κακόν und das αἰσχρόν sein? In diesem Zusammenhang ist noch eine Stelle zu erwähnen. Die Relation zwischen ‚dem Guten‘ und ‚Schönen‘ und ‚dem Nützlichen‘ untersucht Sokrates nicht nur mit Aristipp, sondern auch mit Euthydemus33. Aber die
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33
Siehe auch Delatte, 1933, 105: „[…] dans les Mémorables, Socrate s’attache surtout à rechercher la cause de cette relativité dans les variations de la destination et de l’utilité.“ Vgl. weiter Walton, 1978, 693: „Neither the Good nor any combination of static properties, but the function of a thing makes it good or bad and beautiful or ugly.“ Darüber spricht im Symposion Kritobulos als Antwort auf Sokrates’ Frage, wie einander unähnliche Dinge alle schön sein können: Ἢν νὴ Δί’, ἔφη, πρὸς τὰ ἔργα ὧν ἕνεκα ἕκαστα κτώμεθα εὖ εἰργασμένα ᾖ ἢ εὖ πεφυκότα πρὸς ἃ ἂν δεώμεθα, καὶ ταῦτ’, ἔφη ὁ Κριτόβουλος, καλά (Symp. 5.4). Siehe auch Huß’ Kommentar dazu: „Sokrates veranlaßt Kritobulos, τὸ καλόν als ‘das Nützliche’, ‘zweckmäßig Eingerichtete’, ‘Funktionelle’ zu defi finieren und legt so den Grund für die nachfolgende ironische Widerlegung von Kritobulos’ Anspruch, schöner zu sein als Sokrates: Kritobulos’ Körperteile sind nur vermeintlich, konventionell, schön; Sokrates’ Körperteile dagegen sind schön, weil sie funktionell sind“ (Huß, 1999, 322). Mem. 4.6.8-9. Vgl. auch im Oikonomikos: Kritobulos stimmt Sokrates zu, dass als Vermögen des Menschen nur das Nützliche bezeichnet werden kann, welches er besitzt (Oec. 1.7: τὰ ἑκάστῳ ὠφέλιμα κτήματα καλεῖν; Oec. 1.9: τὰ μὲν ὠφελοῦντα χρήματα, τὰ δὲ βλάπτοντα οὐ χρήματα). Dasselbe Ding kann folglich für den wertvoll sein, der es zum Nutzen zu gebrauchen versteht, und für den hingegen wertlos sein, der das nicht kann (Oec. 1.10: αὐτὰ ἄρα ὄντα τῷ μὲν ἐπισταμένῳ χρῆσθαι αὐτῶν ἑκάστοις
Das Gute und das Böse
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Gedankenfolge der Gesprächspartner ist in den beiden Episoden verschieden: Während im oben betrachteten Dialog die Beweisführung von den Beff ‚das Gute‘ und ‚das Schöne‘ zum Begriff ff ‚das Nützliche‘ läuft ft, ist es griffen im Gespräch mit Euthydemus genau umgekehrt. Sokrates fragt zunächst, ob allen dasselbe nützlich (ὠφέλιμον) ist, und nach der negativen Antwort des Gesprächspartners spricht er weiter: Was einem Menschen nützlich ist, kann manchmal einem anderen schädlich (βλαβερόν) sein. Dann fragt Sokrates, ob Euthydemus etwas anderes außer dem Nützlichen als gut (ἀγαθόν) bezeichnen würde. Auch diese Frage verneint Euthydemus, und Sokrates fasst zusammen: Das Nützliche ist für den gut, für den es nützlich ist34. Dasselbe Ding kann folglich dem einen gut, dem anderen aber schlecht sein. Und obgleich hier die Tugend nicht erwähnt wird, erinnert man sich unwillkürlich an Sokrates’ Gespräch mit Aristipp, in dem in den ähnlichen Überlegungen das Wort ἀρετή deutlich ausgesprochen wird, und stößt so auf die Frage, ob auch die Tugend für jemanden schädlich und schlecht sein kann. Später geht Sokrates, wie Aristipp seinerzeit, zum Begriff ff des Schönen über und fragt Euthydemus, ob er etwas für alles Schönes kennt (πρὸς πάντα καλόν). Da Euthydemus das verneint, müssen die Gesprächspartner aufkläfk ren, hinsichtlich wessen ein Ding schön genannt werden kann. Die Gedankenfolge in diesem Teil des Dialogs ist folgende: Insofern ein Ding für etwas nützlich ist (χρήσιμον), wird es dazu auf schöne Weise (καλῶς ἔχει χρῆσθαι) gebraucht; ‚das Schöne‘ (καλόν) ist seinerseits dafür schön, wofür es auf schöne Weise gebraucht wird; folglich ist das Nützliche dafür schön, wofür es nützlich ist35. Obwohl Sokrates’ Beweisführung auch hier einige schwache Punkte hat, ist die Defi finition des Schönen in den beiden Gesprächen die gleiche, während die Definitionen fi des Guten verschieden sind: Im Gespräch mit Aristipp spricht Sokrates vom Guten als ‚dem gegen etwas Nützlichen‘ oder ‚dem für etwas Nützlichen‘, im Dialog mit Euthydemus aber als ‚dem für jemanden Nützlichen‘. Um die Fragen zu beantworten, die die betrachteten Dialoge hervorrufen, muss man vor allem, wie bereits angemerkt, begreifen, worin τὰ ἔργα der Tugend bestehen. Es ist oben schon angedeutet worden, dass die Tugend dem Menschen hilft ft, richtige Handlungen zu begehen und unrichtige nicht
34 35
χρήματά ἐστι, τῷ δὲ μὴ ἐπισταμένῳ οὐ χρήματα). Morrison bemerkt richtig, dass nur tugendhaft fte Menschen in diesem Fall ein Vermögen haben können, denn nur sie besitzen das Wissen vom Nützlichen (Morrison, 1987, 10). Mem. 4.6.8: τὸ ἄρα ὠφέλιμον ἀγαθόν ἐστιν ὅτῳ ἂν ὠφέλιμον ᾖ; Mem. 4.6.9: τὸ χρήσιμον ἄρα καλόν ἐστι πρὸς ὃ ἂν ᾖ χρήσιμον;
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Der Begriff ff der Tugend
zu begehen, d.h. die Aufgabe der Tugend ist, den Menschen glücklich zu machen. Das bedeutet, dass die Tugend ein nützliches Mittel gegen Unglück und zum Glücklichsein ist, und folglich ist die Tugend ‚das Gute‘ und ‚das Schöne‘ hinsichtlich des Glücks. Diese Überlegungen scheinen auf der TheTh se zu beruhen, dass der Mensch nur dann nach der Tugend streben kann, wenn er versteht, dass ohne sie es unmöglich ist, das Glück zu erreichen. Das bedeutet: Während viele Dinge dem einen Menschen nützlich und gut, zugleich dem anderen aber schädlich und schlecht sein können, ist die Tugend für alle Menschen nützlich und gut, da es für selbstverständlich gehalten wird, dass kein Mensch unglücklich sein will. Während außerdem viele Dinge in einigen Fällen für den Menschen gut sind, in anderen aber schlecht sein können, kann die Tugend nie schlecht sein, denn sie ist gerade das, was dem Menschen in jeder Situation hilft ft, möglichst gut zu handeln. Seinen Ruf zur Tugend gründet der Xenophontische Sokrates auf die These, Th dass es dem tugendhaft ften Menschen bei allen möglichen Verhältnissen immer besser geht als dem nicht tugendhaften. ft Unter anderem ist dies m.E. damit zu erklären, dass von allen Arten der Tugend der Xenophontische Sokrates am meisten über die Gerechtigkeit spricht, und sogar in den Überlegungen über die Gleichheit von Tugend und Wissen unterlässt er es nicht, die Gerechtigkeit jedes Mal zu unterstreichen36. Das lässt sich damit erklären, dass, während die Nützlichkeit z.B. der Frömmigkeit klar zu sein scheint (die Götter kümmern sich nur um diejenigen, die sie ehren), es schwieriger ist, den Menschen von der Nützlichkeit der Gerechtigkeit zu überzeugen, denn eine gerechte Handlung wird – wenigstens auf den ersten Blick – um des anderen Menschen willen begangen, und nicht um desjenigen willen, der sie begeht. Aus diesem Grund spricht Xenophons Sokrates so viel von der Freundschaft ft und sucht ihre Nützlichkeit seinen Gesprächspartnern zu beweisen: Die Freundschaft ft scheint ihm eine direkte Folge der Gerechtigkeit zu sein, sie ist gerade der Vorteil, den der Mensch aus seiner Gerechtigkeit zieht37. 2.2. Mem. 4.2 Sokrates’ Urteile in seinem Gespräch mit Euthydemus können dem bisher Gesagten zu widersprechen scheinen. Im folgenden soll daher dieser Dialog betrachtet werden. Auf Sokrates’ Frage, was gut ist, gibt Euthydemus drei verschiedene Antworten, und in allen drei Fällen beweist Sokrates, dass die36 37
Siehe Mem. 3.9.5 oben S. 94. Vgl. Johnsons Urteil in seiner Interpretation von Sokrates’ Gespräch mit Euthydemus in Mem. 4.2: „One cannot defi fine justice simply by looking at the outward guise of an act; one must determine whether an act is benefi ficial or not“ (Johnson, 2005, 71). Über die Nützlichkeit der Freundschaft ft siehe unten S. 155 ff.
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se Antworten falsch sind. In diesem Zusammenhang ist eine von ihnen von Wichtigkeit: ἀλλ’ ἥ γέ τοι σοφία, ὦ Σώκρατες, ἀναμφισβητήτως ἀγαθόν ἐστι· ποῖον γὰρ ἄν τις πρᾶγμα οὐ βέλτιον πράττοι σοφὸς ὢν ἢ ἀμαθής38;
Sokrates bestreitet diese Behauptung, indem er auf das Schicksal des Dädalus und des Palamedes verweist, die infolge eben ihrer Weisheit ins Unglück gerieten und sogar ums Leben kamen. Da aber ‚das Gute‘ das Unglück nicht verursachen kann, kann folglich auch die Weisheit nicht als ein unbestreitbares Gut (ἀναμφιλογώτατον ἀγαθόν) bezeichnet werden. Von Bedeutung ist jedoch, dass es eben die Weisheit (σοφία) ist, worüber die Gesprächspartner sprechen, nicht die Tugend (ἀρετή); es wird deshalb kein Fehler sein, zu behaupten, dass der Xenophontische Sokrates strenggenommen die Tugend als das Gute nie bezweifelt. Da nicht jegliches Wissen Tugend ist, zeugt Sokrates’ Widerlegung von keinem Zweifel an der wohltuenden Natur der Tugend. Es ist kein Zufall, dass Sokrates als Beispiel derjenigen, die ihre Weisheit unglücklich gemacht hat, von Dädalus und Palamedes spricht – sie sind nicht wegen ihrer Tugendhaft ftigkeit, sondern wegen ihrer Findigkeit und Erfi findungsgabe bekannt, d.h. wegen ihrer technischen Fertigkeiten39. Das Wort σοφία hat hier seine koventionelle Bedeutung: konkrete Kenntnisse, wie z.B. Fachkenntnisse eines Handwerks. Es bedeutet in diesem Zusammenhang nicht das ethische Wissen im sokratischen Sinn, das mit der Tugend identisch ist. Dieser Gedanke wird vom dritten Beispiel des Sokrates bestätigt: In die Sklaverei des persischen Königs geraten nicht diejenigen, die die Tugend besitzen, sondern vor allem diejenigen, die über praktische Fachkenntnisse verfügen. Was auch immer Euthydemus mit der σοφία meinen mag, so nützt Sokrates geschickt die konventionelle Bedeutung des Wortes aus, um seinen Gesprächspartner zu widerlegen40. 38
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Mem. 4.2.33: „Aber die Weisheit, mein lieber Sokrates, ist doch unbestritten ein Gut. ft wird der Weise nicht besser betreiben als der Ungebildete?“ Denn welches Geschäft Diesen Standpunkt vertritt auch Johnson: „Th The problem with the argument Xenophon has Socrates advance here is that the sort of wisdom involved in the examples is not the moral knowledge which Socrates aims for, but rather some technical skill. […] While Palamedes and Daedalus are credited with a great variety of inventions and skills in our sources, this by itself gives them no claim to understanding of this sort [sc. of what is fine, good, and just]“ (Johnson, 2005, 68; siehe auch Zeller, 41889, 143 und Dorion & Bandini, 2011b, 99 f.). Nach Johnson bezeichnet Euthydemus den als weise, der τὰ καλὰ καὶ ἀγαθὰ καὶ δίκαια kennt, denn ein wenig früher (§22) hat Euthydemus Sokrates darin zugestimmt, dass ft bezeichnet werden muss (Johnson, 2005, 68). Über wer das nicht weiß, als sklavenhaft die Bedeutung des Wortes σοφία siehe z.B. Guthrie, 1969, 27 f. und vor allem Dorion, 2008b.
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Der Begriff ff der Tugend
Als Anhaltspunkt für diesen Dialog dient Euthydemus’ feste Behauptung, dass er ohne Mühe Beispiele der gerechten und der ungerechten Handlungen (τὰ τῆς δικαιοσύνης ἔργα καὶ τὰ τῆς ἀδικίας) anführen kann41. Nachher aber stellt sich heraus, dass seine Gliederung nach den gerechten und ungerechten Handlungen nicht zutreff ffend ist. Das bedeutet, dass Euthydemus nicht weiß, was die Gerechtigkeit ist. In diesem Zusammenhang sind zwei Details von Sokrates’ Widerlegung von Wichtigkeit. Auf Sokrates’ Frage, wozu man Lüge, Betrug, das Misshandeln und das Versklaven rechnen soll, antwortet Euthydemus, dass all dies zur Ungerechtigkeit gehört. Es ergibt sich nachher, dass Euthydemus diese Handlungen für ungerecht hält, wenn sie unter Freunden begangen werden, gegen Feinde hingegen findet fi er diese Handlungen gerecht. Daraus aber, dass es Sokrates ist, der Euthydemus absichtlich zu diesem Schluss führt, folgt, dass der Xenophontische Sokrates es auch für gerecht hält, den Feinden Schaden zuzufügen. Aus anderen Schrift ften der sokratischen Literatur kennen wir die logische Folgerung aus der These von der Gleichheit von Tugend und Wissen, die den wichtigsten Grundsatz der traditionellen griechischen Moral ablehnt: Die Behauptung, dass niemand freiwillig Böses tut. Aber in den sokratischen Schriften ft Xenophons findet dieser Teil von Sokrates’ Paradox keinen Platz, und der Xenophontische Sokrates erweist sich als Anhänger der konventionellen Moral, gemäß welcher Gerechtigkeit darin besteht, den Freunden zu helfen und Gutes zu tun, den Feinden aber Schaden zuzufügen und Böses zu tun42. In der Ethik des Xenophontischen Sokrates bildet dies dennoch keinen Widerspruch: Da Xenophons Sokrates die Tugend nicht mit dem Wissen vom absoluten Guten identifi fiziert, folgt aus seiner Defi finition nicht der logische Schluss, dass man unter keinen Umständen Böses tun und folglich Böses mit Bösem nicht erwidern soll. Interessant ist dennoch folgendes: Obwohl es sich nicht bestreiten lässt, dass jedes Mal, wenn Xenophon seinen Sokrates direkt sprechen lässt, er an den konventionellen Grundsätzen festhält, erweckt seine beständige Betonung nur der positiven Seite dieser Sittlichkeit zum Nachteil der negativen Seite einen Zweifel43. Außerdem hat 41 42
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Mem. 4.2.12. Siehe z.B. Mem. 2.1.19: τοὺς δὲ πονοῦντας ἵνα φίλους ἀγαθοὺς κτήσωνται, ἢ ὅπως ἐχθροὺς χειρώσωνται […] χρὴ τούτους καὶ πονεῖν ἡδέως εἰς τὰ τοιαῦτα καὶ ζῆν εὐφραινομένους; 2.3.14: πλείστου γε δοκεῖ ἀνὴρ ἐπαίνου ἄξιος εἶναι, ὃς ἂν φθάνῃ τοὺς μὲν πολεμίους κακῶς ποιῶν, τοὺς δὲ φίλους εὐεργετῶν; 2.6.35: ἀνδρὸς ἀρετὴν εἶναι νικᾶν τοὺς μὲν φίλους εὖ ποιοῦντα, τοὺς δ’ ἐχθροὺς κακῶς; Siehe auch Dorion & Bandini, 2011a, 227 f. Siehe die in der vorhergehenden Anm. erwähnten Passagen, in denen der Gedanke, dass man den Feinden Schaden bringen soll, in den ersten Ansätzen steckenbleibt, während die Notwendigkeit, den Freunden zu helfen, jedes Mal detailliert begründet
Das Gute und das Böse
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Sokrates selbst, nach Xenophons Worten, im Laufe seines Lebens niemandem Schaden zugefügt (βλάπτειν μὲν μηδὲ μικρὸν μηδένα). Bedeutet das nicht, dass der Xenophontische Sokrates nicht danach strebt, seine Feinde im Schaden zu besiegen, und dass er nie Böses mit Bösem erwidert44? Im Gespräch mit Euthydemus sind in diesem Zusammenhang folgende Details zu bemerken. Einmal fängt Sokrates die Erörterung der Frage, welches Handeln den Feinden gegenüber gerecht sei, folgendermaßen an: ἐάν τις στρατηγὸς αἱρεθεὶς ἄδικόν τε καὶ ἐχθρὰν πόλιν ἐξανδραποδίσηται, φήσομεν τοῦτον ἀδικεῖν; Οὐ δῆτα, ἔφη.
Sokrates spricht nicht einfach von Feinden, sondern von den ungerechten Feinden. Wenn man eine ungerechte Stadt betrügt und versklavt, um nachher seine Bürger zu lehren, gerecht zu sein, müssen solcher Betrug und solche Versklavung für die ‚sokratische‘ Gerechtigkeit gehalten werden, denn solches Handeln bringt den Feinden letzten Endes Nutzen. Und es wäre ein Fehler, zu behaupten, dass der Xenophontische Sokrates an den Betrug oder die Beraubung der Feinde zu ihrem Nutzen nicht denken konnte, weil er selbst darüber mit Kritobulos im Oikonomikos spricht45. Zum anderen, wie schon erwähnt,
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wird. Bemerkenswert ist außerdem der Passus Mem. 2.2.2-3: Obwohl behauptet wird, es sei gerecht, Feinde in die Sklaverei zu verkaufen, wird es doch als ungerecht bezeichnet, nicht nur dem Freund, sondern auch dem Feind gegenüber undankbar zu sein: καὶ δοκεῖ μοι, ὑφ’ οὗ ἄν τις εὖ παθὼν εἴτε φίλου εἴτε πολεμίου μὴ πειρᾶται χάριν ἀποδιδόναι, ἄδικος εἶναι. Οὐκοῦν, εἴ γ’ οὕτως ἔχει τοῦτο, εἰλικρινής τις ἂν εἴη ἀδικία ἡ ἀχαριστία; συνωμολόγει. Siehe auch Johnson, 2005, 56: „And while Xenophon’s Socrates says much about acquiring and helping friends, he says little about dealing with enemies. Xenophon never depicts Socrates harming, or advising anyone to harm, an enemy.“ Das letztere Urteil kann scheinen nicht ganz zutreffend ff zu sein, denn mindestens in Mem. 2.3.14 und 2.6.35 empfiehlt fi Sokrates – wenn auch nicht nachdrücklich – den Feinden Schaden zu bringen. Siehe aber dazu Johnson, 2005, 58: „Th Thus by avoiding use of the general term ‘harm’ and restricting himself to the specifi fic actions of enslaving, deceit, and theft ft, Xenophon does not commit his Socrates to the traditional understanding that harming enemies is just.“ Vgl. auch Morrison, 1987, 18: „Thus Th Xenophon‘s Socrates seems to understand ‘treating badly’ in the ordinary sense, which therefore includes ‘harming’ in the ordinary sense. Thus understood, a good man can treat a useless man badly, insofar as he is rude to him, obstructs his projects, and opposes his material interests. But this does not mean that the good man will ‘harm’ the useless man…“. Mem. 4.8.11. Siehe auch Johnson, 2005, 56: „Th This would imply that Xenophon’s Socrates did not view the harming of enemies as just.“ Siehe Mem. 4.8.9: ἀλλὰ μὴν εἴ γε ἀδίκως ἀποθανοῦμαι, τοῖς μὲν ἀδίκως ἐμὲ ἀποκτείνασιν αἰσχρὸν ἂν εἴη τοῦτο· εἰ γὰρ τὸ ἀδικεῖν αἰσχρόν ἐστι, πῶς οὐκ αἰσχρὸν καὶ τὸ ἀδίκως ὁτιοῦν ποιεῖν; Steckt hinter den Worten αἰσχρὸν καὶ τὸ ἀδίκως ὁτιοῦν ποιεῖν nicht etwas Ähnliches dem Platonischen οὐδαμῶς δεῖ ἀδικεῖν? Oec. 1.23: πολέμιοι γοῦν ἤδη ὅταν καλοὶ κἀγαθοὶ ὄντες καταδουλώσωνταί τινας, πολλοὺς δὴ βελτίους ἠνάγκασαν εἶναι σωφρονίσαντες, καὶ ῥᾷον βιοτεύειν τὸν λοιπὸν
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Der Begriff ff der Tugend
führt Sokrates zunächst, wenn Euthydemus denkt, dass es nur um das Handeln unter Freunden geht, folgende Beispiele an: die Lüge (τὸ ψεύδεσθαι), den Betrug (τὸ ἐξαπατᾶν), das Misshandeln (τὸ κακουργεῖν) und das Versklaven (τὸ ἀνδραποδίζεσθαι). Wenn er aber Euthydemus nachher zum Schluss führt, dass alles das auch zur Ungerechtigkeit gehört46, erwähnt er abermals das Versklaven und den Betrug, das Misshandeln ersetzt er aber durch die Beraubung (κλέπτῃ τε καὶ ἁρπάζῃ τὰ τούτων). Es sieht so aus, als ob Sokrates bewusst die explizite Behauptung vermeidet, es sei gerecht, Schaden zu bringen47. Noch eine Einzelheit ist im folgenden zu betrachten, denn es kann scheinen, dass sie der These des Sokrates ‚Tugend sei Wissen‘ widerspricht. Nach den oben beschriebenen Überlegungen behauptet Euthydemus, dass der Betrug u.a. sowohl ungerecht (den Freunden gegenüber), als auch gerecht (den Feinden gegenüber) sein kann. Aber Sokrates führt weitere Beispiele der Handlungen an, die seinen Gesprächspartner überzeugen, dass es gerecht sein kann, auch Freunde zu betrügen, wenn dieser Betrug ihnen zugute kommt. Sokrates hört jedoch mit seinen Fragen nicht auf und fragt weiter: Welcher der beiden Menschen ist ungerechter – wer seinen Freund absichtlich zum Schaden betrügt oder wer es unbewusst tut48? Euthydemus erwidert, dass der bewusste Betrüger ungerechter ist als der unbewusste, und Sokrates beweist noch einmal, dass das Urteil seines Gesprächspartners nicht zutrifft fft. Euthydemus ist einverstanden damit, dass derjenige des Lesens und Schreibens kundig ist, welcher absichtlich unrichtig liest und schreibt, denn dieser Mensch versteht, auch richtig zu lesen und zu schreiben, und dass derjenige hingegen des Lesens und Schreibens unkundig ist, welcher unbewusst unrichtig liest und schreibt, denn er versteht nicht, richtig zu lesen und zu schreiben. Folglich ist derjenige des Lesens und Schreibens kundiger, der bewusst unrichtig liest und schreibt. Da aber derjenige, der das Gerechte kennt, gerechter ist als derjenige, der es nicht kennt (δικαιότερον δὲ τὸν ἐπιστάμενον τὰ δίκαια τοῦ μὴ ἐπισταμένου), ist der bewusste Betrüger gerechter als der unbewusste. Diese
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χρόνον ἐποίησαν. Vgl. auch Morrison, 1987, 21: „Plato’s Socrates notoriously believes that one should never commit injustice. Xenophon’s Socrates disagrees with this, but only because Xenophon’s Socrates has a deeper grasp of the paradoxes of relativism than Plato’s: according to Xenophon’s Socrates, even injustice can be just.“ Johnson weist außerdem mit Recht darauf hin, dass Xenophons Sokrates nicht vom Schaden als dem Schaden an der Tugend spricht: Siehe Johnson, 2005, 57 und Morrison, 1987, 18. Mem. 4.2.15: Οὐκοῦν, ἔφη, ὅσα πρὸς τῇ ἀδικίᾳ ἐθήκαμεν, ταῦτα καὶ πρὸς τῇ δικαιοσύνῃ θετέον ἂν εἴη; Siehe auch Johnson, 2005, 58. Johnson bemerkt außerdem mit Recht, dass der Xenophontische Sokrates nie behauptet, dass es ungerecht ist, den Feinden Nutzen zu bringen. Mem. 4.2.19: τῶν δὲ δὴ τοὺς φίλους ἐξαπατώντων ἐπὶ βλάβῃ, ἵνα μηδὲ τοῦτο παραλίπωμεν ἄσκεπτον, πότερος ἀδικώτερός ἐστιν, ὁ ἑκὼν ἢ ὁ ἄκων;
Das Gute und das Böse
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Schlussfolgerung widerspricht der ethischen Theorie Th des Xenophontischen Sokrates, denn eine ihrer wichtigsten Thesen lautet, dass es keinen freiwilligen (bewussten) Betrüger der Freunde gibt: Das gerechte Handeln ist, Freunden zu helfen, und wer weiß, worin eine gerechte Handlung besteht, kann keine andere Handlung begehen49. Hier sind zwei Details bemerkenswert. Einmal sprechen weder Sokrates noch Euthydemus die Formulierung des Schlusses aus, dass der bewusste Betrüger gerechter als der unbewusste ist. Sie hören mit ihren logischen Überlegungen auf, nachdem sie das Urteil geäußert haben, dass, wie derjenige des Lesens und Schreibens kundiger ist, der zu lesen und zu schreiben versteht, so auch derjenige gerechter ist, der das Gerechte kennt. Noch einmal vermeidet Sokrates die explizite Behauptung, die seine wichtigsten ethischen Grundsätze kompromittieren kann50. Zum anderen macht Sokrates am Anfang dieses Teils des Gesprächs, wo es um den freiwilligen Betrüger der Freunde geht, folgenden Vorbehalt: „Von denen, die ihre Freunde zum Schaden betrügen – damit wir auch das nicht außer Acht lassen…“ (ἵνα μηδὲ τοῦτο παραλίπωμεν ἄσκεπτον). Dieser Vorbehalt kann von der theoretischen Annahme zeugen, die um eines hypothetischen Experimentes willen gemacht wird, um den Euthydemus endgültig in Verlegenheit zu bringen51. Die in diesem Dialog ausgedrückten Urteile des Sokrates, die bei flüchtigem Ansehen seiner Hauptthese zu widersprechen scheinen können, werden in der Tat sehr raffi ffiniert formuliert, damit eben dieser Widerspruch nicht entstehen kann. In diesem Zusammenhang ist auch die Aufgabe dieses ganzen Kapitels bemerkenswert, die direkt in seinem ersten Paragraphen formuliert wird: τοῖς δὲ νομίζουσι παιδείας τε τῆς ἀρίστης τετυχηκέναι καὶ μέγα φρονοῦσιν ἐπὶ σοφίᾳ ὡς προσεφέρετο νῦν διηγήσομαι.
Im Dialog mit Euthydemus befolgt Sokrates nur ein Ziel – seinem Gesprächspartner die Widersprüchlichkeit seiner Urteile und seine Unwissenheit zu 49
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Mem. 3.9.5. Da Freunde zu haben nützlich ist, bedeutet den Freunden zu schaden sich selbst zu schaden (absichtlich einem Freund Schaden zu bringen, bedeutet, ihn als Freund zu verlieren und sich ihn zum Feind zu machen), deswegen kann kein Mensch bewusst auf diese Weise handeln. Außerdem scheint mir Johnsons Beobachtung richtig zu sein: „Th There is nothing which corresponds to harming friends in the example of the literate man. Justice is more complicated than literacy. […] A fortiori, there is no reason to harm one’s friends intentionally. There is, on the other hand, nothing preventing one from reading or writing incorrectly on purpose“ (Johnson, 2005, 60 f.). Vgl. auch Johnson, 2005, 62: „For Euthydemus and Socrates, the argument serves to show a contradiction in Euthydemus’ thinking. Hence they do not bring the argument to a conclusion, but rather discuss Euthydemus’ inability to say the same thing about the same things, which Euthydemus concludes must be due to his belief that he knew something he did not know (4.2.21).“ Siehe auch Zeller, 41889, 148.
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Der Begriff ff der Tugend
zeigen. Aber Xenophon erzählt nicht nur das Gespräch selbst nach, sondern beschreibt auch am Ende des Kapitels, wie Euthydemus sich nach diesem Gespräch mit Sokrates verhielt: Als er von seiner Unwissenheit überzeugt war, verließ er Sokrates nicht mehr und ahmte sogar einige seine Gewohnheiten nach. Außerdem veränderte sich auch die Handlungsweise von Sokrates selbst: ὁ δ’, ὡς ἔγνω αὐτὸν οὕτως ἔχοντα, ἥκιστα μὲν διετάραττεν, ἁπλούστατα δὲ καὶ σαφέστατα ἐξηγεῖτο ἅ τε ἐνόμιζεν εἰδέναι δεῖν καὶ ἐπιτηδεύειν κράτιστα εἶναι.
Solange Euthydemus von seinem vermeintlichen Wissen überzeugt ist, bleibt er taub gegen alles andere und ist folglich, nach Sokrates’ Ansicht, in einer bedauernswerten Lage: Nur derjenige kann das Wissen erwerben, der danach strebt, derjenige aber, der im festen Glauben ist, dass er alles schon erlernt hat, bleibt immer unwissend52. Im Unterschied zu allen anderen Dingen ist die Nützlichkeit der Tugend unbedingt: Die Tugend ist immer und für alle nützlich, da sie das Wissen ist, dank welchem der Mensch das Nützliche tut. Da aber ein und dasselbe Ding einem Menschen nützlich und einem anderen schädlich sein kann, ist die Tugend eines Menschen mit der Tugend eines anderen nicht identisch: Bei beiden ist die Tugend das Wissen vom Nützlichen, der konkrete Inhalt des Wissens kann aber bei verschiedenen Menschen verschieden sein.
3. Wissen und Handeln Im Rahmen der Untersuchung des Tugendbegriffs ff ist Heinz Neitzels Interpretation der Frage von Interesse, auf welche Weise in der Ethik des Xenophontischen Sokrates das Wissen und das Handeln verbunden sind. Ist das Wissen eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung der Tugend, für welche auch das Handeln notwendig ist? 52
Es bleibt mir nichts anderes übrig, als dem Urteil Johnsons zuzustimmen, der den betrachteten Dialog sehr ausführlich analysiert: „My claim is that this most Socratic of Xenophon’s Socratic recollections shows considerable philosophical and literary sophistication. Xenophon does not merely have Socrates humiliate Euthydemus by any means necessary in order to pave the way for the more positive instruction promised at the end of this chapter. He also presents crucial elements of an introduction to Socratic philosophy“ (Johnson, 2005, 45). Siehe auch Walton, 1978, 693: „Practice under the eyes of an expert had led not to perfection, but to realization of failure“ und Morrison, 1987, 12: „But once Socrates has come to recognize the young person as a reliable philosophical comrade, he drops the teasing and ambiguity and speaks plainly and clearly, as a philosopher should.“
Wissen und Handeln
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Wie oben dargelegt wurde, ist das Handeln des Menschen durch sein Wissen bedingt, denn alle menschlichen Taten werden zu einem bestimmten Zweck getan: damit der Mensch sein Glück erreichen kann. Das Wissen des Menschen wird seinerseits in seinen Handlungen verwirklicht53. Die Tugend zeigt sich in den Handlungen des Menschen, während diese Letzteren kein integraler Bestandteil der Tugend sind. Oder anders gesagt, ist der das Wissen besitzende Mensch schon tugendhaft ft: Um tugendhaft ft zu sein, braucht man keine Handlungen auszuführen. Indem der Mensch handelt, führt er seine Tugend vor, wie der Arzt seine Kenntnisse der Medizin realisiert, wenn er einen Menschen behandelt, aber er bleibt Arzt auch dann, wenn er es nicht tut. Um Arzt zu sein, soll der Mensch nicht irgendjemanden behandeln, sondern ein bestimmtes Wissen haben54. Deswegen kann ich Heinz Neitzels Auff ffassung nicht zustimmen, dass der Xenophontische Sokrates es für unmöglich hält, das Wissen vom Guten zu besitzen, ohne zugleich das Gute zu tun55. Es sei zunächst angemerkt, dass der Interpretation Neitzels sein irrtümliches Verständnis des Textes zugrunde liegt: Die Worte τὸν τὰ μὲν καλὰ τε καὶ ἀγαθὰ γιγνώσκοντα χρῆσθαι αὐτοῖς (Mem. 3.9.4) übersetzt er folgendermaßen: „Wer das Schöne und Gute erkenne, setze es in die Tat um“56. Diese Formulierung sei, nach Neitzel, identisch mit der folgenden, die er zur Erläuterung des Gedankens des Xenophontischen Sokrates anbietet: ἐάν τις τὰ καλά τε καὶ ἀγαθὰ γιγνώσκῃ, χρῆται αὐτοῖς – und folgendermaßen übersetzt: „Immer, wenn jemand das Schöne und Gute erkennt, tut er es“57. Darauf, dass das Verb χρῆσθαι in diesem Fall mit dem Verb πράττειν identisch ist, weisen, nach Neitzel, Sokrates’ Worte aus demselben Paragraphen hin: πάντας γὰρ οἶμαι προαιρουμένους ἐκ τῶν ἐνδεχομένων ἃ οἴονται συμφορώτατα αὑτοῖς εἶναι, ταῦτα πράττειν. Dieser Satz sei gleichbedeutend mit dem ersten: Dort weist auf das Subjekt τόν hin, hier πάντας; dort ist das Objekt mit den Worten τὰ καλὰ τε καὶ ἀγαθὰ ausgedrückt, hier – mit dem Nebensatz ἃ οἴονται συμφορώτατα αὑτοῖς εἶναι; dort ist das Prädikat χρῆσθαι, hier πράττειν. Aus dieser Beobachtung zieht
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Nach Sokrates’ Meinung kann das Wissen nicht nur in Handlungen, sondern auch in Worten realisiert werden: Σωκράτης γὰρ τοὺς μὲν εἰδότας, τί ἕκαστον εἴη τῶν ὄντων, ἐνόμιζε καὶ τοῖς ἄλλοις ἂν ἐξηγεῖσθαι δύνασθαι (Mem. 4.6.1). Mem. 3.1.4: ὥσπερ ὁ κιθαρίζειν μαθών, καὶ ἐὰν μὴ κιθαρίζῃ, κιθαριστής ἐστι, καὶ ὁ μαθὼν ἰᾶσθαι, κἂν μὴ ἰατρεύῃ, ὅμως ἰατρός ἐστιν, οὕτω καὶ ὅδε ἀπὸ τοῦδε τοῦ χρόνου διατελεῖ στρατηγὸς ὤν, κἂν μηδεὶς αὐτὸν ἕληται. Siehe oben S. 90 Anm. 61. Neitzel, 1983, 376 und 1984, 496. Über Mem. 3.9.4 siehe oben S. 64 ff. ff Neitzel, 1984, 497.
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Der Begriff ff der Tugend
Neitzel folgenden Schluss: Die σωφροσύνη sei das ‚Handeln‘58, d.h. das Ausführen des erworbenen Wissens in den menschlichen Handlungen. Da aber Xenophons Sokrates die σοφία von der σωφροσύνη nicht trennt (σοφίαν καὶ σωφροσύνην οὐ διώριζεν), kommt Neitzel zum Schluss, dass Sokrates sowohl das Wissen ohne Handeln als auch das Handeln ohne Wissen für gleich unmöglich hält. Abgesehen davon, dass dieser Schlussfolgerung ein irrtümliches Verständnis des Textes zugrunde liegt, entbehrt die vorgeschlagene Auffassung ff im Ganzen der logischen Einheit. Einmal gibt Neitzel zu, dass die Tugend in der Ethik des Xenophontischen Sokrates Wissen ist und dass die σωφροσύνη eine Tugend ist. Daraus folgt doch, dass die σωφροσύνη Wissen ist, aber Neitzel bezeichnet sie als ‚Handeln‘59. Zum anderen führt Neitzel zur Erläuterung der Worte πάντα ὅσα ἀρετῇ πράττεται (Mem. 3.9.5) seine eigenen Beispiele an: τὰ δίκαια δικαιοσύνῃ πράττεται und τὰ εὐσεβῆ εὐσεβείᾳ πράττεται60. Dann schreibt er aber „usw.“ und wahrscheinlich nicht zufällig, denn als folgendes Beispiel drängt sich die Äußerung τὰ σώφρονα σωφροσύνῃ πράττεται auf (Neitzel selber hat doch eben erst die σωφροσύνη eine Art der Tugend genannt), aber diese Äußerung ist absurd, wenn die σωφροσύνη ‚das Handeln‘ ist. Die Gleichung der Verben χρῆσθαι und πράττειν wurde von Neitzel dem Anschein nach zur Begründung seiner Auff ffassung ausgedacht. M.E. schildern die Verben in dem Satz τὸν τὰ μὲν καλὰ τε κἀγαθὰ γιγνώσκοντα χρῆσθαι αὐτοῖς καὶ τὸν τὰ αἰσχρὰ εἰδότα εὐλαβεῖσθαι nicht den Charakter der Handlungen, sondern einen Zustand des Menschen im Ganzen: Es wird behauptet, dass, wer das Schöne und das Gute kennt, es ‚zur Verfügung‘ hat, und wer das Hässliche kennt, es meidet, d.h. er hat mit ihm ‚nichts zu tun‘ (da das eine Wissen von dem anderen untrennbar ist, handelt es sich um ein und denselben Menschen). Wer solches Wissen besitzt, kann das Gute zur Verfügung haben und das Böse meiden. Damit ist gemeint, dass, wer weiß, was das Gute und das Böse ist, sich von diesem Wissen immer – auch in seinem Handeln – leiten lässt.
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„Handeln, Tun“ (Neitzel, 1983, 377 f.), „das Tun des Erkannten“ (Neitzel, 1984, 494), „das Tun des Guten“ (Neitzel, 1984, 496 und 498), „das Tun des erkannten Guten“ (Neitzel, 1984, 496). Sokrates’ These ‚Tugend ist Wissen‘ bedeutet nach Neitzel die Gleichheit nicht von zwei, sondern von drei Begriff ffen. Es bleibt aber unklar, was eigentlich die σωφροσύνη ist: „Wenn aber ein Zusammenhang besteht (1) zwischen σωφροσύνη und σοφία (§4) [Mem. 3.9.4] und (2) zwischen ἀρετή und σοφία (§5) [Mem. 3.9.5], dann auch (3) zwischen σωφροσύνη und ἀρετή. Diese dritte Verbindung ergibt sich nämlich, ohne dass es ausdrücklich gesagt wäre, aus den ersten beiden wie die Konklusion aus den Prämissen. Tugend hängt folglich nach Sokrates mit Selbstbeherrschung ebenso eng zusammen wie mit Wissen“ (Neitzel, 1984, 494). Neitzel, 1984, 498.
Wissen und Handeln
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Es handelt sich darum, dass dank des moralischen Wissens (d.h. mittels dieses Wissens, oder anders gesagt ‚beim Gebrauch dieses Wissens‘) der Mensch imstande ist, eine vernünft ftige und letzten Endes richtige Wahl zwischen verschiedenen Handlungen zu treff ffen und nicht darum, dass der Mensch irgendwelche Handlungen ausführt. Dass Sokrates nachher behauptet, dass alle das tun, was sie für das Vorteilhaft fteste für sich halten, beweist die Gleichheit der Verben χρῆσθαι und πράττειν nicht, denn hier beantwortet Sokrates schon die Frage seines anonymen Gesprächspartners und wiederholt nicht einfach sein eben geäußertes Urteil mit anderen Worten, wie es Neitzel auffasst. ff Zunächst spricht also Sokrates darüber, dass der Mensch, der das Wissen vom Guten und Bösen hat, dieses Wissen zu seiner Verfügung hat und daher bewusst nach dem Guten streben und das Böse meiden kann. Und dann fragt sein Gesprächspartner weiter: Wie muss der Mensch charakterisiert werden, dessen Handlungen davon zeugen, dass er sein Wissen unberücksichtigt lässt? Handlungen des Menschen betrachtet Sokrates nicht aus eigenem Antrieb, sondern als Antwort auf die Frage des anonymen Gesprächspartners; und wenn er das Verb πράττειν verwendet, antwortet er auf die ihm gestellte Frage. Es ist nicht eine andere Formulierung des bisher Gesagten. Die Verben χρῆσθαι und πράττειν sind jedes Mal am rechten Platz und nicht gleichbedeutend61.
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Zur Bestätigung seines Schlusses, dass das Wissen und das Handeln untrennbar sind und dass nur der tugendhafte ft Mensch handelt, weist Neitzel auf noch zwei Stellen hin, aber sie können diese Interpretation nur dann bestätigen, wenn sie falsch aufgefasst werden. Ein Fehler wurde schon oben erwähnt (siehe S. 90 Anm. 61): In Mem. 3.9.5 bedeuten die Worte δύνασθαι πράττειν nicht „handeln können“, denn beim Verb πράττειν wird ein Objekt τὰ δίκαια gemeint. Es geht nicht um eine Fähigkeit, zu handeln, sondern um eine Fähigkeit, gerechte Handlungen auszuführen. Die zweite von ihm angeführte Stelle versteht Neitzel auch falsch: Er betrachtet das Wort πρακτικός aus dem Kontext Mem. 4.5.1 und behauptet noch einmal, dass nur derjenige „handlungsfähig“ sei, der die Tugend besitze, denn Sokrates setze den πρακτικός mit dem σώφρων gleich (Neitzel, 1983, 378 und 1984, 496; da in Mem. 4.5.1 das Wort σώφρων nicht vorkommt, darf ich daran erinnern, dass ἐγκρατής und σώφρων für Neitzel gleichbedeutend sind). Um die Unsinnigkeit dieses Schlusses zu beweisen, genügt es, diesen Abschnitt zu zitieren: Ὡς δὲ καὶ πρακτικωτέρους ἐποίει τοὺς συνόντας ἑαυτῷ, νῦν αὖ τοῦτο λέξω. νομίζων γὰρ ἐγκράτειαν ὑπάρχειν ἀγαθὸν εἶναι τῷ μέλλοντι καλόν τι πράξειν, πρῶτον μὲν αὐτὸς φανερὸς ἦν τοῖς συνοῦσιν ἠσκηκὼς αὑτὸν μάλιστα πάντων ἀνθρώπων, ἔπειτα διαλεγόμενος προετρέπετο πάντων μάλιστα τοὺς συνόντας πρὸς ἐγκράτειαν. ἀεὶ μὲν οὖν περὶ τῶν πρὸς ἀρετὴν χρησίμων αὐτός τε διετέλει μεμνημένος καὶ τοὺς συνόντας πάντας ὑπομιμνῄσκων. Wie auch an einer anderen Stelle (Mem. 4.3.1: τὸ μὲν οὖν λεκτικοὺς καὶ πρακτικοὺς καὶ μηχανικοὺς γίγνεσθαι τοὺς συνόντας οὐκ ἔσπευδεν, ἀλλὰ πρότερον τούτων ᾤετο χρῆναι σωφροσύνην αὐτοῖς ἐγγενέσθαι. τοὺς γὰρ ἄνευ τοῦ σωφρονεῖν ταῦτα δυναμένους ἀδικωτέρους τε καὶ δυνατωτέρους κακουργεῖν ἐνόμιζεν εἶναι), wird da-
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Der Begriff ff der Tugend
Der Xenophontische Sokrates sagt niemals, dass der Wissende nicht untätig sein kann62. Im Gegenteil, in Xenophons Text gibt es mindestens ein Beispiel, das für eine solche Möglichkeit spricht: Im Gespräch mit Hippias behauptet Sokrates, dass als Zeichen dafür, dass der Mensch gerecht ist, schon die Tatsache dienen kann, dass er keine ungerechten Handlungen begeht63. Wenn Sokrates den gerechten Menschen beschreibt, spricht er nicht darüber, was ein solcher Mensch tut, sondern darüber, was er nicht tut. Damit wird doch nicht gemeint, dass er statt dessen unbedingt etwas anderes tut; es wird nur nachdrücklich betont, was der gerechte Mensch nicht tut. Folglich ist es möglich, dass der gerechte Mensch nichts tut: Das Wissen ist ohne Tun möglich. Es ist aber zu beachten, dass, obwohl der Mensch in diesem Fall nichts tut, man allerdings sagen kann, dass er eine Handlung ausführt, wenn das bewusste absichtliche Unterlassen einer Tat auch als Handlung bezeichnet wird64. Aber wenn der Mensch nichts Böses tut oder sogar überhaupt nichts
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mit gemeint, dass der Mensch Tugend (und folglich Enthaltsamkeit) haben muss, um erfolgreich seine Beschäft ftigung ausführen zu können. Es handelt sich nicht darum, dass nur der tugendhaft fte (oder der enthaltsame) Mensch zum Handeln fähig ist, und es wird keine Gleichbedeutung der Worte πρακτικός und ἐγκρατής gemeint. Das Adjektiv πρακτικός bedeutet hier nicht „handlungsfähig“, sondern „tüchtig“. Die Hypothese ist naheliegend, dass der Mensch, der das Gute kennt, sein Wissen im Handeln wenigstens deshalb nicht immer verwirklicht, weil er nicht immer eine Gelegenheit dazu haben kann: Denjenigen, der eine tugendhaft fte Handlung ausführen will, kann jemand daran – sowohl absichtlich als auch unabsichtlich – hindern. In diesem Fall kann der Mensch sein Wissen im Handeln nicht realisieren, sein Wissen bleibt dennoch Wissen. Da es aber keine solchen Überlegungen im Xenophontischen Text gibt, kann dieses Argument in unserer Beweisführung nicht verwendet werden. Das bei Xenophon vorhandene Material genügt jedoch m.E., um die These Th zu beweisen, dass der Xenophontische Sokrates das Wissen vom Handeln trennt. Mem. 4.4.11: τὸ δὲ τῶν ἀδίκων ἀπέχεσθαι οὐ δίκαιον ἡγῇ; Außerdem, scheint mir bemerkenswert, dass Sokrates sogar allein die Weigerung, ungerechte Taten zu begehen, für den genügenden Beweis von Gerechtigkeit hält: ἀλλ’ ᾤμην ἔγωγ’ […] τὸ μὴ θέλειν ἀδικεῖν ἱκανὸν δικαιοσύνης ἐπίδειγμα εἶναι. Delattes Schlussfolgerung, die der von fft m.E. nicht zu: „Science et activité forment la vertu de justice“ Neitzel ähnlich ist, trifft (Delatte, 1933, 122). Vgl. auch Delatte, 1933, 113: „L’élément primordial et capital est la connaissance ; […] mais cette connaissance, qui ne suffi ffirait pas, est inséparable de l’action.“ Woodruff ffs Bemerkung scheint stichhaltig zu sein, obwohl sie in einem anderen Kontext gemacht wurde: „Negative courage would depend on knowing that certain actions would be wrong to do. Positive courage would depend on knowing that a certain action would be right and, moreover that it is your duty to undertake it, come what may“ (Woodruff, ff 2007, 297). Sokrates’ Weigerung, Leon von Salamis zu verhaften ft (Mem. 4.4.3 und 1.2.32) und die Strategen summarisch zum Tode zu verurteilen (Mem. 4.4.2 und 1.1.18), muss auch als Handlung bezeichnet werden (siehe unten S. 222 ff.). ff
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tut, bedeutet es noch nicht, dass er das Gute tut, wie Neitzel glaubt: Dass er nie ein falsches Zeugnis abgelegt hat, kann sowohl derjenige behaupten, der immer ein wahres Zeugnis abgelegt, als auch derjenige, der in seinem Leben nie ein Zeugnis abgelegt hat65. Andererseits sagt der Xenophontische Sokrates auch niemals, dass der nicht tugendhaft fte Mensch unfähig ist zu handeln, wie es von Neitzel behauptet wird, der sein Urteil damit begründet, dass der Unwissende seine Wahl nicht selbstständig, sondern unter dem Zwang seiner Wünsche trifft fft66. Wie oben diskutiert wurde, ist doch der Mensch, der kein Wissen des Guten besitzt, nicht unbedingt vom körperlichen Vergnügen abhängig. Er kann ἐγκρατής sein und in diesem Fall ist er in seinen Handlungen frei vom Zwang. Zum anderen trifft fft sogar der unbeherrschte Mensch, obwohl er immer nach dem Vergnügen strebt, jedes Mal eine Wahl zwischen seinem ‚Guten‘ und ‚Bösen‘, d.h. zwischen dem, was ihn zum Vergnügen führt, und dem, was ihn von ihm entfernt. Und seine Wahl trifft fft ein solcher Mensch selbständig, d.h. nicht von außen gesteuert. M.E. verwendet der Xenophontische Sokrates, wenn er den unbeherrschten Menschen als Sklave des körperlichen Vergnügens bezeichnet, eine Metapher; er sucht nicht, den unbeherrschten Menschen von der Verantwortlichkeit für seine Handlungen zu entbinden, und behauptet nicht, dass es nicht seine Handlungen sind (auch wenn sie von
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Mem. 4.4.11: ᾔσθησαι οὖν πώποτέ μου ἢ ψευδομαρτυροῦντος ἢ συκοφαντοῦντος ἢ φίλους ἢ πόλιν εἰς στάσιν ἐμβάλλοντος ἢ ἄλλο τι ἄδικον πράττοντος; Sokrates’ ‚politische‘ Tätigkeit besteht gerade darin, dass er keine ungerechten Handlungen begeht, d.h. nichts Böses tut, aber er tut zugleich auch kein Gutes (vgl. Woodruff, ff 2007, 295: „Socrates had the courage to stay out of popular wrongdoing, but not the courage to take action against it“; siehe auch S. 227 f. Anm. 92). In diesem Zusammenhang ist noch eine Stelle beachtenswert: Sokrates mahnt den Charmides zur politischen Tätigkeit, weil dieser das dazu notwendige Wissen besitzt (Mem. 3.7.1-2). Die Figur des Charmides dient als Beispiel des Menschen, der trotz seines Wissens untätig bleibt und kein Gutes tut. Neitzel, 1983, 378: „Nur jener kann handeln (§ 5 [Mem. 3.9.5] δύναται πράττειν), nur jener ist handlungsfähig (πρακτικός in Mem. 4.5.1), welcher die Freiheit hat, das Beste (die ἀρετή) zu wählen. Ein Unbeherrschter (Unwissender) ist nicht frei, sondern abhängig von seinen Trieben. Da er sich treiben läßt, handelt (wählt) er nicht, sondern leidet etwas, was er nicht will. Frei ist nur der Einsichtige und Beherrschte, denn er vermag das Gute zu wählen, d.h. zu handeln. Oder anders gesagt: Nur der Wissende kann wählen, nur der Selbstbeherrschte handeln.“ Im Rahmen der von Neitzel vorgeschlagenen Interpretation können die Worte πρακτικός und πράττειν sich nicht auf denjenigen beziehen, der kein Wissen des Guten und des Bösen hat. In diesem Punkt ist aber Neitzels Auff ffassung auch widersprüchlich: In dem schon mehrmals zitierten Passus Mem. 3.9.4 bezeichnet das Partizip vom Verb πράττειν den unwissenden Menschen: νομίζω οὖν τοὺς μὴ ὀρθῶς πράττοντας οὔτε σοφοὺς οὔτε σώφρονας εἶναι.
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ihm unter einem Zwang ausgeführt werden)67. Außerdem, wenn Sokrates die Notwendigkeit der Ausbildung sogar für die von Geburt begabten Menschen behauptet, beschreibt er die Handlungen der Wissenden und der Unwissenden mit denselben Worten: Die Ersteren vollbringen viele Wohltaten (πλεῖστα καὶ μέγιστα ἀγαθὰ ἐργάζεσθαι) und die Letzteren begehen viele Missetaten (πλεῖστα καὶ μέγιστα κακὰ ἐργάζεσθαι)68. Es ist off ffensichtlich, dass Sokrates die Ergebnisse, zu denen die Taten der tugendhaft ften und nicht tugendhaft ften Menschen führen, gegenüberstellt, und nicht die Fähigkeit der Ersteren und Unfähigkeit der Letzteren, zu handeln. Zum Handeln sind alle fähig. Xenophons Sokrates behauptet m.E. nicht, dass der tugendhafte ft Mensch unbedingt handelt und dass der nicht tugendhaft fte Mensch nicht handlungsfähig ist. Er behauptet nur, dass der tugendhafte ft Mensch nichts Böses tut.
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Mem. 4.5.3-5. Wenn Xenophons Sokrates vom unbeherrschten Menschen sagt, dass er von seinen körperlichen Begierden beherrschtt wird, meint er damit nicht, dass seine Handlungen nicht vom Menschen, sondern von seinem Körper ausgeführt werden. Mem. 4.1.4. In der Theorie Neitzels bleibt unklar, wer (oder was) doch schlechte Handlungen ausführt, wenn der unbeherrschte Mensch sie nicht ausführt. Da Neitzel die Existenz der Missetaten nicht bestreitet, bleibt nur zu vermuten, dass sie von der abstrakten Unbeherrschtheit getan werden, welche den unbeherrschten Menschen als ihr Werkzeug benutzt. Merkwürdig ist, dass Neitzel den Passus Mem. 1.2.57 außer Betracht lässt, in dem er eine Bestätigung seiner These Th finden müsste, dass der unbeherrschte Mensch nicht handlungsfähig ist (Neitzel, 1983, 378: „[Sokrates] bekämpfte ft die Meinung, ein von der Leidenschaft ft Getriebener sei ein Handelnder“). An dieser Stelle erzählt Xenophon, dass Sokrates nur gute Taten als ‚Tätigkeit‘ bezeichnete und schlechte Taten hingegen für ‚Müßiggang‘ hielt: […] τοὺς μὲν ἀγαθόν τι ποιοῦντας ἐργάζεσθαί τε ἔφη καὶ ἐργάτας ἀγαθοὺς εἶναι, τοὺς δὲ κυβεύοντας ἤ τι ἄλλο πονηρὸν καὶ ἐπιζήμιον ποιοῦντας ἀργοὺς ἀπεκάλει. Aber auch hier wird von denjenigen, die schlechte Taten begehen, gesagt, dass sie diese Taten ‚ausführen‘ (ποιοῦντας). Und wenn hier das Verb ἐργάζεσθαι sich nur auf diejenigen bezieht, die das Gute tun, bezeichnet dasselbe Verb im eben erwähnten Passus Mem. 4.1.4 auch Missetaten. Außerdem ist von Bedeutung, dass, obwohl die Defi finition des ‚Müßiggangs‘ der Gewohnheit des Xenophontischen Sokrates entspricht, übliche Worte im besonderen Sinn zu verwenden (siehe S. 212 Anm. 45), sie in diesem Zusammenhang eine apologetische Aufgabe erfüllt. Xenophon ist bestrebt, Sokrates von der Anklage freizusprechen, dass er mit den Zitaten aus Hesiod und Homer seine Gesprächspartner lehrte, Übeltäter zu sein (τῶν ἐνδοξοτάτων ποιητῶν ἐκλεγόμενον τὰ πονηρότατα καὶ τούτοις μαρτυρίοις χρώμενον διδάσκειν τοὺς συνόντας κακούργους τε εἶναι καὶ τυραννικούς). Xenophon bestreitet nicht, dass Sokrates die Verse zitierte, aber er versucht, zu erklären, dass Sokrates sie anders auff ffasste, als es dem Ankläger schien. Im Oikonomikos sagt Sokrates über ‚Sklaven‘ des körperlichen Vergnügens direkt, dass sie in jungen Jahren noch arbeiten können und in hohem Alter nicht (Oec. 1.22: ἡβῶντας αὐτοὺς καὶ δυναμένους ἐργάζεσθαι […], αὐτοὺς ἀδυνάτους ὄντας ἐργάζεσθαι διὰ τὸ γῆρας); folglich wirkt die Unbeherrschtheit auf die Handlungsfähigkeit des Menschen nicht ein.
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4. Tugend ist lernbar Aus der Gleichheit von Tugend und Wissen folgt, dass die Tugend erlernt und gelehrt werden kann. Welche Rolle spielt dann die angeborene natürliche Begabung des Menschen? Und ist die Tugend für alle erreichbar?
4.1. Natur und Ausbildung Da Tugend Wissen vom Nützlichen ist und da einem Menschen das nützlich sein kann, was einem anderen hingegen schädlich sein kann, ist es folglich unmöglich, Tugend zu erwerben, ohne sich selbst erkannt zu haben. Die Gesprächspartner des Sokrates sind davon überzeugt, dass sie sich selbst gut kennen: Jeder Mensch verfüge zweifellos über solche Kenntnisse69. Sokrates aber denkt anders: Um sich selbst zu erkennen, muss man sich selbst ununterbrochen beobachten (ἑαυτὸν ἐπισκοπεῖν70) und untersuchen, um seine Fähigkeiten klar zu verstehen. Die Tatsache, dass viele Menschen oft ft keine richtige Einsicht in ihre eigene Fähigkeiten haben (ἀγνοεῖν ἑαυτόν71) und deswegen in Fehler verfallen und in Unglück geraten, beweist, dass solche Menschen sich selbst nicht beobachten und sich selbst vernachlässigen (ἀμελεῖν αὑτοῦ72). Kennt der Mensch seine Fähigkeiten nicht, nimmt er Aufgaben in Angriff, ff die seine Kräft fte übersteigen. Folglich muss man seine Fähigkeiten und Kräft fte kennen, um nur an solche Arbeit zu gehen, für welche man über notwendige Kenntnisse und Fähigkeiten verfügt, und um mit solcher Arbeit, welche man nicht aufnehmen soll, nicht zu scheitern. Auf diese Weise kann man ein Unternehmen zum Erfolg bringen und infolgedessen Ruhm und Ehre erwerben und der Schande entgehen73. Außerdem muss man eine richtige Auff ffassung von seinen Bedürfnissen haben, denn ein und dasselbe Ding ist für einige Menschen notwendig und nützlich, für
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So behauptet Euthydemos bedenkenlos: καὶ γὰρ δὴ πάνυ τοῦτό γε ᾤμην εἰδέναι (Mem. 4.2.24). Mem. 4.2.24 und 30; siehe auch 4.2.25: ἑαυτὸν ἐπισκεψάμενος. Mem. 3.7.9; 3.9.6; 4.2.25-26. Mem. 3.5.13. Courcelle bezeichnet die Worte von Xenophons Sokrates als „une leçon de morale civique“ (Courcelle, 1974-1975, 19). Vgl. auch: „Selon le Socrate de Xénophon, le γνῶθι σαυτόν est essentiellement un conseil de sagesse humaine pour la formation du future homme politique“ (ibidem, 19 f.). Siehe ferner Dorion, 2004c, 242: „Chez Xénophon, la connaissance de soi […] est la simple reconnaissance de ses compétences et de ses aptitudes. […] Selon Xénophon, celui qui ne se connaît pas lui-même est celui qui se leurre sur sa dunamis, en ce qu’il se croit en mesure d’assumer une fonction pour laquelle il n’a pas, en réalité, la compétence requise.“
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die anderen aber nutzlos und schädlich. Wenn einer eine falsche Vorstellung von sich selbst hat, kann er nach dem streben, was ihm eigentlich zum Schaden gereicht, während der Mensch selber denkt, dass er gewiss nach seinem Wohl trachtet74. Nur derjenige, der eine richtige Vorstellung von sich selbst hat, kann auch eine richtige Anschauung von der Umgebung haben; und es ist klar, dass der Mensch nur in diesem Fall imstande ist, in jeder Situation für sich das Beste zu wählen, d.h. was ihm wirklich nützlich und gut ist. Denn man lebt nur dann gut, wenn man Vorteile aus seinen Handlungen zieht (τὰ συμφέροντα πράττειν75). Und da alle Menschen nach ihrem Wohlergehen und Glück trachten (dies scheint keines Beweises zu bedürfen), verfahren sie ihr Leben lang so, wie es ihrer Meinung nach am nützlichsten ist (d.h. alle wählen das, von dem sie glauben, dass es sie am schnellsten zum Glück führen wird). Um aber eine richtige Wahl zwischen den zufälligen Gelegenheiten und den möglichen Handlungsweisen zu treffen ff – d.h. damit das Gewählte in Wirklichkeit vorteilhaft ft und nicht schädlich wird –, muss der Mensch richtig verstehen, wovon er Schaden und wovon Nutzen haben kann. Das bedeutet, dass es unbedingt nötig ist, zu wissen, was τὰ ἀγαθά und τὰ κακά, was τὰ ὠφέλιμα und τὰ βλαβερά ist: Nur in diesem Fall kann man das Beste für sich wählen76. Um in seiner Arbeit Erfolg zu haben, nach seinem wirklichen Wohl zu streben und Ehre zu gewinnen, muss der Mensch folglich vor allem sich selbst erkennen77. Das ist gerade, was Euthydemos,
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In seiner Interpretation der Ideen des Platonischen Sokrates unterscheidet Santas „the intended object of desire“ (es ist tatsächlich gut) und „the actual object of desire“ (es kann Übel sein, aber wird fehlerhaft ft für das Gute gehalten) (Santas, 1979, 186 ff.). Im Text Xenophons kann m.E. auch eine Andeutung darauf gefunden werden, dass sein Sokrates unter ‚Selbsterkenntnis‘ nicht nur das Erkennen eigener Fähigkeiten versteht, sondern auch das Erkennen eigener – wirklicher und vermeintlicher – Bedürfnisse: οἱ μὲν γὰρ εἰδότες ἑαυτοὺς τά τε ἐπιτήδεια ἑαυτοῖς ἴσασι […]. οἱ δὲ μὴ εἰδότες […] οὔτε ὧν δέονται ἴσασιν […] (Mem. 4.2.26-27). Daher ist das richtige Urteil Gigons doch nicht erschöpfend: „Das ‚Erkenne dich selbst‘ ist also die Mahnung, sich über den Umfang und die Grenzen seines Wissens und Könnens klar zu sein“ (Gigon, 31994, 102). Mem. 4.1.5. Mem. 4.1.5; 4.5.11. Mem. 4.2.25-29. Hier ist auch eine andere Passage beachtenswert – Mem. 3.9.6-7: Xenophon teilt mit, dass Sokrates den Wahnsinn als einen der Weisheit gegensätzlichen Zustand bezeichnete. Aber den Mangel an Wissen (dieser Zustand scheint der Weisheit auch gegensätzlich zu sein) hielt er nicht für den Wahnsinn; die Unkenntnis von sich selbst und Einbildung, dass man weiß, was man in der Tat nicht weiß, hielt er aber für einen Zustand, der dem Wahnsinn sehr nahe ist (μανίαν γε μὴν ἐναντίον μὲν ἔφη εἶναι σοφίᾳ, οὐ μέντοι γε τὴν ἀνεπιστημοσύνην μανίαν ἐνόμιζε. τὸ δὲ ἀγνοεῖν
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wie sich ergab, nicht weiß: Er hat gedacht, dass er sich selbst selbstverständlich kennt, und deshalb hat er sich selbst nie untersucht und sich um diese Fragen nicht gekümmert. So kennt der, der sich nicht kennt, einerseits seine Fähigkeiten und Bedürfnisse nicht, und andererseits ist er sich seiner Unwissenheit nicht bewusst78.
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ἑαυτὸν καὶ ἃ μὴ οἶδε δοξάζειν τε καὶ οἴεσθαι γιγνώσκειν ἐγγυτάτω μανίας ἐλογίζετο εἶναι). Xenophon teilt mit, was Sokrates über die übliche Meinung sagte – wen nennt man wahnsinnig? Alle sind damit einverstanden, dass ein Mensch wahnsinnig ist, wenn er glaubt, er sei so stark, dass er anfängt, Häuser aufzuheben, oder er sei so groß, dass er sich duckt, wenn er durch das Tor in der Stadtmauer geht. Diesen Menschen nennt man wahnsinnig, denn für alle anderen ist es offensichtlich, ff dass er eine falsche Auff ffassung der Sachlage hat, deshalb ist sein Verhalten absurd. D.h. man nennt denjenigen wahnsinnig, der nicht weiß, was allen anderen gut bekannt ist. Wenn ein Mensch aber nicht weiß, was auch viele andere nicht wissen, wird er nicht wahnsinnig genannt. Sokrates urteilt anders: Der Weisheit stellt er einerseits den Mangel an Wissen und andererseits den Wahnsinn gegenüber. Und er sagt deutlich, dass diese beiden der Weisheit gegensätzlichen Zustände nicht identisch sind, obwohl das Fehlen von Weisheit in beiden Fällen vorhanden ist. Der Wahnsinn ist folglich nicht nur ein Mangel an Wissen, sondern auch noch etwas. Und da die Unkenntnis von sich selbst dem Wahnsinn nah ist, ist auch sie nicht nur ein Mangel an Wissen, sondern auch noch etwas anderes zugleich. Den wahnsinnigen Menschen unterscheidet vom Unwissenden sein fester Glaube, dass er alles fehlerfrei versteht, seine Unfähigkeit, eine richtige Sachlage zu begreifen und das Wissen zu erwerben (darüber ist die Rede im Mem. 1.2.50 – hier stellt Sokrates zwei Begriff ffe gegenüber: μανία und ἀμαθία. Der Unwissende soll lernen, was er nicht weiß; der Wahnsinnige muss aber eingekerkert werden, weil er nicht imstande ist, zu lernen). Derjenige, der sich nicht kennt, ist dem Wahnsinnigen ähnlich, weil auch er an sein vermeintliches Wissen fest glaubt. Der Mensch, der falsch zählt, lässt sich leicht überzeugen, dass er beim Zählen einen Fehler gemacht hat; der sich selbst Unwissende lässt sich hingegen schwer überzeugen, dass er sich selbst unrichtig einschätzt, deshalb ist er dem Wahnsinnigen ähnlich. Solche Menschen nennt man aber nicht wahnsinnig, denn – wie schon angedeutet – man nennt wahnsinnig diejenigen, die falsch beurteilen, was alle anderen gut wissen. Die Unkenntnis von sich selbst ist aber, nach der Meinung des Sokrates, ein Los der meisten Menschen. Außerdem ist die sokratische Unkenntnis von sich selbst vor allem eine Unkenntnis der eigenen inneren Eigenschaften, ft d.h. sie ist eine moralische Unwissenheit; vom üblichen Standpunkt aus ist der Wahnsinn aber ein Irrtum in der Auff ffassung von den äußeren Dingen, die mit dem sittlichen Bereich nicht verbunden sein können. Darauf weist mit Recht auch Delatte in seinem Kommentar zu diesem Passus hin: „Dans la suite du texte, on oppose (μέντοι) la conception courante à la théorie philosophique. Comme on le voit par les exemples cités, cette conception s’applique à un tout autre domaine que le domaine moral, qui est propre à la conception socratique“ (Delatte, 1933, 124). Mem. 4.2.36; 3.9.6.
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Im Folgenden soll die Frage untersucht werden, ob die Tugend für alle erreichbar ist. Der gewohnte sokratische Vergleich der Tugend (ἀρετή) mit der Kunst, dem Handwerk (τέχνη), lässt die Methode der Gewinnung des Wissens aus dem Bereich des technischen Wissens in den Bereich des moralischen Wissens leicht übertragen: Außer den natürlichen Anlagen (φύσις) sind immer die pädagogische Ausbildung (μάθησις) und die Übung (μελέτη, ἐπιμέλεια) nötig. Die Gleichheit von Tugend und Wissen hat als eine logische Folge die Behauptung, dass Tugend lernbar ist: ὅσαι δ’ ἐν ἀνθρώποις ἀρεταὶ λέγονται, σκοπούμενος εὑρήσεις πάσας μαθήσει τε καὶ μελέτῃ αὐξανομένας79.
Von Geburt an unterscheiden sich Menschen voneinander sowohl in den physischen als auch in den geistigen Fähigkeiten, aber alle diese können durch Lernen und Übung entwickelt werden oder sich infolge der Vernachlässigung abschwächen und verloren gehen80. Die von Natur begabten Menschen bedürfen der Ausbildung und der Übung nicht weniger, sondern sogar mehr als die von Geburt schwachen Menschen81. Menschen mit dem angeborenen schwachen Charakter lassen sich beherrschen, die begabten aber und starken Menschen, wenn sie keine Tugend besitzen, sind unnachgiebig und ungehorsam. Zusammen mit der Tugend hilft ft die natürliche Begabung dem Menschen, große Wohltaten auszuteilen; wenn aber der Mensch mit guten angeborenen Anlagen das erforderliche Wissen nicht erwirbt, zeigt sich die Kraft ft seiner Natur in den großen Missetaten82. Als Beispiele können
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Mem. 2.6.39: „Wenn du alles überblickst, was unter den Menschen als Tugend gilt, dann wirst du finden, dass alle durch Lernen und Übung wachsen.“ Mem. 3.9.1-3: πάλιν δὲ ἐρωτώμενος ἡ ἀνδρεία πότερον εἴη διδακτὸν ἢ φυσικόν, Οἶμαι μέν, ἔφη, ὥσπερ σῶμα σώματος ἰσχυρότερον πρὸς τοὺς πόνους φύεται, οὕτω καὶ ψυχὴν ψυχῆς ἐρρωμενεστέραν πρὸς τὰ δεινὰ φύσει γίγνεσθαι· ὁρῶ γὰρ ἐν τοῖς αὐτοῖς νόμοις τε καὶ ἔθεσι τρεφομένους πολὺ διαφέροντας ἀλλήλων τόλμῃ. νομίζω μέντοι πᾶσαν φύσιν μαθήσει καὶ μελέτῃ πρὸς ἀνδρείαν αὔξεσθαι. […] ὁρῶ δ’ ἔγωγε καὶ ἐπὶ τῶν ἄλλων πάντων ὁμοίως καὶ φύσει διαφέροντας ἀλλήλων τοὺς ἀνθρώπους καὶ ἐπιμελείᾳ πολὺ ἐπιδιδόντας. ἐκ δὲ τούτων δῆλόν ἐστιν ὅτι πάντας χρὴ καὶ τοὺς εὐφυεστέρους καὶ τοὺς ἀμβλυτέρους τὴν φύσιν, ἐν οἷς ἂν ἀξιόλογοι βούλωνται γενέσθαι, ταῦτα καὶ μανθάνειν καὶ μελετᾶν. Mem. 4.1.3: […] τοὺς μὲν οἰομένους φύσει ἀγαθοὺς εἶναι, μαθήσεως δὲ καταφρονοῦντας ἐδίδασκεν, ὅτι αἱ ἄρισται δοκοῦσαι εἶναι φύσεις μάλιστα παιδείας δέονται. Mem. 4.1.4. Der Gegenstand des notwendigen Wissens wird hier indirekt, aber zweimal gleich ausgedrückt: μαθόντας ἃ δεῖ πράττειν und κρίνειν οὐκ ἐπισταμένους ἃ δεῖ πράττειν. Diese Formulierung ist nicht zufällig – es lohnt sich, sich daran zu erinnern, dass Sokrates und Euthydemus auf der Suche nach den richtigen Definitionen fi von
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hier die Figuren des Kritias und Alkibiades dienen , auf welche später zurückzukommen sein wird. Der Mensch wird also, nach der Meinung des Xenophontischen Sokrates, ohne Wissen geboren. Die begabten Menschen unterscheiden sich von den unbegabten in ihrer Fähigkeit, Kenntnisse zu erwerben und zu behalten und das erworbene Wissen aufs beste im Handeln zu verwirklichen84. Aber niemand ist von Geburt tugendhaft, ft d.h. keinem Menschen kann die Tugend angeboren sein. Die natürlichen Anlagen sind darum nicht von ausschlaggebender Bedeutung, weil Tugend Wissen ist85. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob der Mensch mit schwachen angeborenen Fähigkeiten die Tugend erreichen kann. Da die notwendigen Bedingungen der Tugend die Enthaltsamkeit und das Wissen sind, können theoretisch alle Menschen nach der Tugend streben, denn die ethische Th Theorie des Xenophontischen Sokrates setzt nicht voraus, dass es Menschen gibt, die zur Enthaltsamkeit und zum Lernen unfähigg sind. Aber diese Theorie Th nimmt an, dass es de facto Menschen gibt, die nach der Tugend nicht streben wollen. Da aber weder die Übung der Enthaltsamkeit noch das 83
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verschiedenen Arten der Tugend jedes Mal von der Erwägung ausgehen, dass jeder Mensch handelt, wie er es für richtig hält (ἃ δεῖ und ὡς δεῖ πράττειν – siehe oben). Mem. 1.2.12: Κριτίας τε καὶ Ἀλκιβιάδης πλεῖστα κακὰ τὴν πόλιν ἐποιησάτην und Mem. 4.1.4: πλεῖστα καὶ μέγιστα κακὰ ἐργάζεσθαι. Außerdem unterscheiden sich ‚gute‘ Naturen von den ‚schlechten‘ durch die Tendenz ihrer Interessen: ἐτεκμαίρετο δὲ τὰς ἀγαθὰς φύσεις ἐκ τοῦ ταχύ τε μανθάνειν οἷς προσέχοιεν καὶ μνημονεύειν ἃ μάθοιεν καὶ ἐπιθυμεῖν τῶν μαθημάτων πάντων, δι’ ὧν ἔστιν οἶκον τε καλῶς οἰκεῖν καὶ πόλιν καὶ τὸ ὅλον ἀνθρώποις τε καὶ τοῖς ἀνθρωπίνοις πράγμασιν εὖ χρῆσθαι (Mem. 4.1.2). Es wäre ein Fehler, zu glauben, dass es ausschließlich um die praktischen Interessen geht, die den begabten Naturen eigen sind und den von Geburt schwachen Menschen nicht. Vor dem eben zitierten Satz schreibt Xenophon, dass Sokrates diejenigen suchte, deren Seelen von Geburt zur Tugend neigten (τῶν τὰς ψυχὰς πρὸς ἀρετὴν εὖ πεφυκότων ἐφιέμενος), und dass er solche Naturen auf die beschriebene Weise erkannte (bemerkenswert sind die ähnlichen Äußerungen εὖ πεφυκότων und ἀγαθὰς φύσεις in den zitierten Phrasen). Bemerkenswert sind in diesem Zusammenhang auch die Worte der Arete in Prodikos’ Erzählung von Herakles am Scheideweg (Mem. 2.1.27): Sie lernte seinen Charakter kennen, indem sie ihn während seiner Erziehung beobachtete (τὴν φύσιν τὴν σὴν ἐν τῇ παιδείᾳ καταμαθοῦσα). Es ist offensichtlich, ff dass die Arete die angeborenen Fähigkeiten des Herakles für gut hält, denn von ihren Beobachtungen ausgehend fft sie darauf (ἐξ ὧν ἐλπίζω), dass er schöne Großtaten vollbringen und sie auf diese hofft Weise noch geehrter machen werde, wenn er den Weg zu ihr wendet (εἰ τὴν πρὸς ἐμὲ ὁδὸν τράποιο). Folglich gibt die von Geburt begabte Natur des Herakles noch keine Gewähr dafür, dass er tugendhaft ft wird.
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Lernen ohne freien Willen des Menschen möglich sind, können solche Menschen nie die Tugend erreichen. Andererseits sind die angeborenen Anlagen der nach der Tugend strebenden Menschen verschieden. So hat schon der Unterschied in der angeborenen Kraft ft der Enthaltsamkeit (ἐγκράτεια) zur Folge, dass es dem einen Menschen leicht fällt, nach der Tugend zu streben, dem anderen aber schwer. Aber auch wenn ein Mensch mit der ihm von Geburt eigenen Neigung zu den körperlichen Vergnügen mühsam kämpfen muss oder wenn es ihn viel Mühe kostet, das Wissen zu erwerben, und dann, es zu behalten, während einem anderen Menschen die Übung der Enthaltsamkeit wegen seiner angeborenen Kraft ft nichts ausmacht und auch das Erwerben und Behalten des erworbenen Wissens ihm leicht fällt, hat doch immerhin jeder Mensch eine (theoretische) Möglichkeit, die Tugend zu erreichen. Da aber der Mensch nur so lange tugendhaft ft bleibt, als er das Wissen behält, sind die Menschen mit schwächeren Anlagen mehr der Gefahr ausgesetzt, die Tugend zu verlieren, als die von Geburt begabteren Menschen86. Übrigens soll man nicht vergessen, dass der tugendhafte ft Mensch sich dank seines Wissens von der Nützlichkeit der Tugend immer fürchtet, seine Tugend zu verlieren, und er deswegen eifrig ist bei der Übung der Enthaltsamkeit und der Wiederholung der erworbenen Kenntnisse. Zusammengefasst lässt sich sagen: Obwohl es unmöglich ist, die angeborene Natur des Menschen völlig zu verändern, lässt sie sich vom Wissen beherrschen. In diesem Zusammenhang verdienen die Gestalten des Kritias und Alkibiades eine einzelne Betrachtung. Xenophon schreibt, dass sie von Natur sehr ehrgeizig waren und heft ftig nach großer Anerkennung strebten87. Dem
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Wie oben mehrmals angemerkt wurde, ist die Tugend in der ethischen Th Theorie des Xenophontischen Sokrates keine ständige Eigenschaft ft des Menschen: Wer das die Tugend bildende Wissen erworben hat, kann es mit dem Verlust der Enthaltsamkeit oder aus Nachlässigkeit bei Wiederholung und Übung verlieren: ὅσαι δ' ἐν ἀνθρώποις ἀρεταὶ λέγονται, σκοπούμενος εὑρήσεις πάσας μαθήσει τε καὶ μελέτῃ αὐξανομένας (Mem. 2.6.39; siehe auch 3.9.1-3). Vgl. auch Walton, 1978, 692: „If knowing what is just or well-tempered is an active condition of a man, requiring regular ‘training’, then either lack of practice or practice of a destructive activity would dissipate that condition. There is nothing self-evident about the assumption that being just or temperate is analogous to being, e.g., either odd or even“; Dorion & Bandini, 2000, 94 f.: „La conception xénophontienne de la vertu est plutôt pessimiste dans la mesure où la vertu n'est jamais acquise une fois pour toutes et qu’elle risque de disparaître aussitôt que l’on cesse de s’y exercer.“ Mem. 1.2.14: φύσει φιλοτιμοτάτω πάντων Ἀθηναίων; siehe auch 1.2.39.
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Sokrates schlossen sie sich nur aus dem Grund an, dass sie wussten, dass er alle seine Gesprächspartner so lenkte, wie er wollte, und deswegen hofften fft sie, das von ihm zu erlernen, was ihnen ihr Ziel γενέσθαι ἂν ἱκανωτάτω λέγειν τε καὶ πράττειν zu erreichen hilft ft. Aus dieser Beschreibung folgt, dass Kritias und Alkibiades sich an Sokrates wandten, während die anderen zu Schülern der Sophisten wurden: Weder Kritias noch Alkibiades wollten dem Sokrates ähnlich werden. Nach Xenophons Worten bewiesen sie ihre Bestrebungen mit ihrem Verhalten: Sobald sie glaubten, besser als ihre Mithörer und sogar Politiker zu sein88, verließen sie sofort Sokrates, denn sie glaubten, schon alles erreicht zu haben, weswegen sie zu ihm damals kamen. Hier ergibt sich die erste von diesem Abschnitt aufzuwerfende Frage: Einerseits, da Kritias und Alkibiades schneller als die anderen erlernten, was sie von Sokrates erlernen wollten, bedeutet es, dass sie gute angeborene Fähigkeiten hatten; andererseits zeugen ihre Bestrebungen doch von keinen begabten Naturen, denn gute Naturen sind, nach Sokrates, diejenigen, die nach dem Wissen streben, dank dessen Menschen miteinander gut umgehen können, Kritias und Alkibiades träumten aber gar nicht davon89. Sokrates’ ethische Beurteilungen stimmen also mit den üblichen Einschätzungen nicht überein: Vom konventionellen Standpunkt aus sind Kritias und Alkibiades von Geburt begabte Menschen, in Sokrates’ Terminologie können sie aber nicht als gute Naturen bezeichnet werden. Bemerkenswert ist, dass dieser Unterschied der Standpunkte im Xenophontischen Text fein betont wird: Wenn Xenophon den Abschluss ihrer ‚Lehre‘ bei Sokrates schildert, schreibt er zweimal, dass Kritias und Alkibiades den Sokrates verließen, sobald „sie glaubten, besser als die anderen zu sein“, in keinem von den beiden Fällen sagt Xenophon „sobald sie besser als die anderen wurden“90. Auf diese Weise wird hervorgehoben, dass sie nur ihrer Meinung nach besser als die anderen wurden, während in Wirklichkeit – d.h. Sokrates’ Meinung nach – dies nicht der Fall war, denn sie hatten die Tugend nicht erworben.
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Mem. 1.2.16 und 1.2.47. Mem. 1.2.15-16; siehe auch 1.2.48: Xenophon stellt Kritias und Alkibiades die anderen Gesprächspartner des Sokrates gegenüber, die im Gegensatz zu den ersten nichts Schlechtes in ihrem Leben getan haben: ἐκείνῳ συνῆσαν […] ἵνα καλοί τε κἀγαθοὶ γενόμενοι καὶ οἴκῳ καὶ οἰκέταις καὶ οἰκείοις καὶ φίλοις καὶ πόλει καὶ πολίταις δύναιντο καλῶς χρῆσθαι. Beim Vergleich der Bestrebungen der guten und der schlechten Schüler des Sokrates beschreibt Xenophon die ersten mit denselben Worten, mit welchen sein Sokrates gute Naturen schildert (siehe oben S. 127 Anm. 84). Mem. 1.2.16: ὡς γὰρ τάχιστα κρείττονε τῶν συγγιγνομένων ἡγησάσθην εἶναι; Mem. 1.2.47: ἐπεὶ τοίνυν τάχιστα τῶν πολιτευομένων ὑπέλαβον κρείττονες εἶναι.
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Doch trotz des Unterschieds von Sokrates’ Bestrebungen einerseits und denen des Kritias und Alkibiades andererseits waren diese, nach Xenophons Behauptung, immerhin σώφρονε, solange sie bei Sokrates blieben91. Diese Behauptung kann den Leser aus mehreren Gründen in Verlegenheit bringen. Einmal scheint es merkwürdig, dass Kritias und Alkibiades, solange sie mit Sokrates zusammen waren, σώφρονε waren, nicht weil sie fürchteten, er werde sie sonst tadeln, sondern weil sie eine solche Handlungsweise damals für das beste hielten92. Dieses Urteil scheint darum sonderbar zu sein, weil unklar ist, warum Sokrates in diesem Fall dem Kritias und Alkibiades nicht gefiel fi – Xenophon erwähnt das nicht einmal93 –, wenn gerade die σωφροσύνη einer der Hauptzüge des Sokrates war. Außerdem empfanden Kritias und Alkibiades es als lästig, dass Sokrates sie für ihre Missetaten zurechtwies94. Aber warum begingen sie diese Missetaten, wenn sie σώφρονε waren? Zum anderen scheint es widersprüchlich zu sein, dass Xenophon einerseits behauptet, dass Sokrates den Kritias und Alkibiades σώφρονε machte, andererseits aber, dass kein Mensch von demjenigen Lehrer ausgebildet werden kann, der dem Schüler nicht gefällt95, woraus folgt, dass auch Kritias und Alkibiades von Sokrates nichts erlernen konnten. Aber wie haben sie dann die σωφροσύνη erworben? Wenn man sich dieser Frage zuwendet, sollte man nicht vergessen, dass dieser ganze Abschnitt auktorial dargestellt ist: Xenophon setzt sich zum Ziel, zu beweisen, dass Sokrates an Kritias’ und Alkibiades’ Verhalten nicht schuld ist. Es ist sehr wohl denkbar, dass Xenophon sich allzu eifrig darum bemüht und auf die Widersprüchlichkeit seiner Beweisführung nicht geachtet hat. Darüber hinaus gibt es im Xenophontischen Text auch eine der ethischen Theorie des Sokrates entsprechende Erklärung: Solange Kritias und Alkibiades mit Sokrates zusammen waren, konnte er sie daran erinnern, dass man ununterbrochen die Enthaltsamkeit trainieren müsse; als sie ihn aber verließen, vernachlässigten sie alle notwendigen Übungen und verwandelten sich deswegen bald in unbeherrschte Menschen96.
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Mem. 1.2.18; 1.2.26. Mem. 1.2.18: ἀλλ’ οἰομένω τότε κράτιστον εἶναι τοῦτο πράττειν. Mem. 1.2.39; 1.2.47. Mem. 1.2.47. Vgl. Mem. 1.2.26 und 1.2.39. Mem. 1.2.24: καὶ Κριτίας δὴ καὶ Ἀλκιβιάδης ἕως μὲν Σωκράτει συνήστην, ἐδυνάσθην ἐκείνῳ χρωμένω συμμάχῳ τῶν μὴ καλῶν ἐπιθυμιῶν κρατεῖν; ἐκείνου δ’ ἀπαλλαγέντε Κριτίας μὲν φυγὼν εἰς θετταλίαν ἐκεῖ συνῆν ἀνθρώποις ἀνομίᾳ μᾶλλον ἢ δικαιοσύνῃ χρωμένοις, Ἀλκιβιάδης δ’ αὖ […] ῥᾳδίως πρωτεύων, ὥσπερ οἱ τῶν γυμνικῶν ἀγώνων ἀθληταὶ ῥᾳδίως πρωτεύοντες ἀμελοῦσι τῆς ἀσκήσεως, οὕτω κἀκεῖνος ἠμέλησεν
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Es bleibt aber noch eine Unklarheit: Zu Beginn unserer Untersuchung kamen wir zu dem Schluss, dass Sokrates sich nur mit denjenigen unterhält, die begabte Naturen – seiner Meinung nach – besitzen97. Warum verkehrte er in diesem Fall mit Kritias und Alkibiades? Konnte Sokrates sich in ihnen täuschen? Dieser Gedanke kommt auf, weil es dem Leser schwer fällt, sich von dem aus anderen Schriften ft der sokratischen Literatur bekannten Hinweis auf Sokrates’ zweideutiges Verhältnis zu Alkibiades zu befreien. Im Xenophontischen Text gibt es jedoch keinen Hinweis – und das ist ein absichtlicher Trick des Autors – darauf, was in dieser Geschichte den Sokrates kompromittieren konnte. Der in dieser Arbeit ausgewählten Untersuchungsmethode entsprechend müssen wir Xenophons Schrift ften getrennt von allen anderen sokratischen Quellen interpretieren. In seiner Rechtfertigung des Sokrates, dass er mit Kritias und Alkibiades verkehrte, gibt Xenophon m.E. eine sehr raffi ffinierte Erläuterung. Es genügt, diesen Abschnitt mit der Geschichte von Euthydemus zu vergleichen (Mem. 4.2): Um mit Euthydemus zu reden, kommt Sokrates selbst mehrere Male in die Sattlerwerkstatt, in der Euthydemus seine Zeit zu verbringen pfl flegte; und es geschah erst, nachdem Euthydemus von seiner Unwissenheit überzeugt wurde, dass er von selbst dem Sokrates überall folgte (Xenophon schreibt, dass er sich nur von ihm trennte, wenn äußere Umstände ihn zwangen)98. Im Fall des Kritias und Alkibiades wurden hingegen sie selbst zu Initiatoren der Bekanntschaft ft mit Sokrates. Xenophon gibt klar zu verstehen, dass Kritias und Alkibiades selbst für ihre Zwecke zu Sokrates kamen; es war also nicht Sokrates, der danach strebte, sich mit ihnen bekannt zu machen99. Mittels dieses Unterschieds in
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αὑτοῦ. Dieselbe Meinung vertritt Dorion in seiner Interpretation des Gesprächs zwischen Alkibiades und Perikles: „Le but de Xénophon est d’illustrer à quels abus peut conduire la compétence dialectique lorsqu’elle n’est pas encadrée par la modération et qu’elle sert uniquement à satisfaire des ambitions politiques“ (Dorion & Bandini, 2000, 108). Aber dieses Gespräch fand statt, als Alkibiades noch Schüler bei Sokrates war. Deswegen können wir nicht anders als die Widersprüchlichkeit der Aufk fklärung Xenophons zuzugeben oder zu vermuten, dass Kritias und Alkibiades, sogar während sie mit Sokrates noch umgingen, jedes Mal die Enthaltsamkeit verloren, als sie nicht in direkter Nähe mit Sokrates waren. Siehe S. 18 Anm. 21 und S. 63 Anm. 28. Vgl. Mem. 4.2.1: εἰς τοῦτο [ἡνιοποιεῖόν τι] καὶ αὐτὸς [ὁ Σωκράτης] ᾔει; 4.2.8: [ὁ Σωκράτης] μόνος ἦλθεν εἰς τὸ ἡνιοποιεῖόν und 4.2.40: [ὁ Εὐθύδημος] οὐκ ἀπελείπετο ἔτι αὐτοῦ, εἰ μή τι ἀναγκαῖον εἴη. Johnsons Urteil, dass Sokrates’ Interesse für Euthydemus „has erotic overtones“, scheint mir im Zusammenhang der Xenophontischen Schrift ften nicht stichhaltig zu sein (Johnson, 2005, 48). Vgl. die in der vorhergehenden Anm. angeführten Zitate und Mem. 1.2.15: ταῦτα δὲ ὁρῶντε καὶ ὄντε οἵω προείρησθον, πότερόν τις αὐτὼ φῇ τοῦ βίου τοῦ Σωκράτους
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den beiden betrachteten Episoden bestätigt Xenophon noch einmal die von ihm an anderen Stellen geäußerten Urteile und weicht dem Widerspruch in seiner Darlegung aus: Einerseits sprach Sokrates nur mit denen, mit denen er selbst wollte, andererseits war er aber δημοτικὸς καὶ φιλάνθρωπος100 und jagte deswegen diejenigen nicht weg, die nach dem Umgang mit ihm strebten. In Bezug auf die Frage der Relation zwischen angeborenen Fähigkeiten und der Ausbildung lässt sich aus der Geschichte von Kritias und Alkibiades folgender Schluss ziehen: Um die Tugend zu erreichen, soll man lernen, während die φύσις des Menschen entweder das fördern oder dem widerstehen kann. Obwohl der Mensch die Tugend erlernen kann, kann er gegen seinen Willen nicht gezwungen werden, nach ihr zu streben. Sokrates ist nicht am Mangel der Tugend bei Kritias und Alkibiades schuld, denn man kann die Tugend demjenigen nicht beibringen, der sie nicht lernen will. Es ist also kein Fehler, zu behaupten, dass die Tugend das Ergebnis des Sieges des erworbenen Wissens über die angeborene Natur des Menschen ist, d.h. über sein angeborenes Streben nach Vergnügen. Wie schon angemerkt, ist kein Mensch von Geburt tugendhaft ft. Da aber der Erwerb des die Tugend bildenden Wissens mit der Selbsterkenntnis beginnt, bedeutet das, dass der Mensch, der keine Tugend besitzt, fähig ist, sich selbst zu erkennen. In diesem Zusammenhang ist folgende Frage zu beachten: Welche Bedingungen sollen erfüllt werden, damit Selbsterkenntnis und Ausbildung, die zum Erwerb des die Tugend bildenden Wissens führen, sich durchführen lassen? Off ffensichtlich ist, dass vor allem die ἐγκράτεια erforderlich ist. Ferner soll der Mensch, um zum Lernen imstande zu sein, sich wünschen, das zu erreichen, was ihm Ausbildung und Übung bringen. Daraus folgt der offensichtliff che Schluss, dass die Tugend als das Gute aufgefasst werden soll. Aber welche Relation besteht zwischen dem eigenen Willen des Menschen und der Rolle des Lehrers? Um alle möglichen Vorwürfe gegen Sokrates abzuwehren, schreibt Xenophon, dass diejenigen unrecht haben, die behaupten, dass Sokrates, obwohl
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ἐπιθυμήσαντε καὶ τῆς σωφροσύνης, ἣν ἐκεῖνος εἶχεν, ὀρέξασθαι τῆς ὁμιλίας αὐτοῦ ἢ νομίσαντε, εἰ ὁμιλησαίτην ἐκείνῳ, γενέσθαι ἂν ἱκανωτάτω λέγειν τε καὶ πράττειν; Mem. 1.2.60. In einer Polemik gegen Vlastos’ Kritik (Vlastos, 1971, 1-3) bemerkt Morrison mit Recht, dass Xenophons Sokrates in seinen Gesprächen deshalb überzeugend ist, weil Xenophon absichtlich seine Gespräche mit den Freunden und nicht mit seinen Opponenten schildert (Morrison, 1987, 16). Der Vergleich des Dialogs mit Euthydemus in Mem. 4.2 mit der Erzählung über Kritias und Alkibiades bestätigt Morrisons Urteil: Sogar der Xenophontische Sokrates konnte Kritias und Alkibiades nicht überzeugen, denn Sokrates’ Überlegungen klingen nur für diejenigen plausibel, die mit ihm dasselbe Ziel verfolgen.
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er seine Gesprächspartner zur Tugend ermahnen konnte, nicht imstande war, sie zu ihr zu geleiten101. Aber kann der Mensch zur Tugend gebracht werden? Wie schon einmal angedeutet, um sich selbst zu erkennen, soll der Mensch zunächst seine Unwissenheit zugeben. Gerade dafür ist Sokrates nützlich, der dem im Irrtum befangenen Gesprächspartner seine Unwissenheit zeigt. Obwohl auch dieser Schritt auf dem Weg zur Tugend nicht gegen den Willen des ‚Schülers‘ getan werden kann (denn dieser muss einverstanden sein, Sokrates’ Fragen zu beantworten), kann man dennoch sagen, dass der Schüler eine eher passive Rolle auf dieser Etappe spielt, indem er dem Gedankengang des Sokrates folgt. Danach hängt aber alles schon vom Schüler allein ab – ob er zum Schluss kommt, dass tugendhaft ft zu sein besser ist als nicht tugendhaft ft, und ob er anfängt, sich selbst zu erkennen, zu lernen und zu üben, um das Wissen zu erwerben und zu behalten102. Sokrates kann hier irgendwie helfen, aber weder Sokrates noch irgendein anderer kann einen Menschen zur Tugend bringen, während der ‚Schüler‘ selbst dabei passiv bliebe, und noch unmöglicher ist es, das gegen seinen Willen zu tun103.
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Mem. 1.4.1: προτρέψασθαι μὲν ἀνθρώπους ἐπ’ ἀρετὴν κράτιστον γεγονέναι, προαγαγεῖν δ’ ἐπ’ αὐτὴν οὐχ ἱκανόν. Für eine detaillierte Analyse dieses Passus siehe Dorion & Bandini, 2000, cxxvi-cxliv. Mem. 4.2.40: πάνυ ἀθύμως ἔχων ἀπῆλθε [sc. ὁ Εὐθύδημος] καὶ καταφρονήσας ἑαυτοῦ καὶ νομίσας τῷ ὄντι ἀνδράποδον εἶναι. πολλοὶ μὲν οὖν τῶν οὕτω διατεθέντων ὑπὸ Σωκράτους οὐκέτι αὐτῷ προσῇσαν, οὓς καὶ βλακοτέρους ἐνόμιζεν· ὁ δὲ Εὐθύδημος ὑπέλαβεν οὐκ ἂν ἄλλως ἀνὴρ ἀξιόλογος γενέσθαι, εἰ μὴ ὅτι μάλιστα Σωκράτει συνείη. Morrison und Dorion halten den Elenchus für die Methode, mit der die Gesprächspartner ausgewählt werden. Dorion & Bandini, 2000, clxxvii: „L‘elenchos n’est pas en lui-même une forme d’éducation, mais un instrument de sélection des interlocuteurs qui présentent les qualités requises pour recevoir un enseignement“; Morrison, 1994, 189: „Xenophon describes a process, not only of selection, but of rigorous selection. The rigor of the process is important to Xenophon as a means of defending Socrates against the charge of handing out intellectual tools indiscriminately to those who will misuse them.“ Vgl. auch Gray, 1998, 81. Johnson vertritt aber die Meinung, dass der Elenchus, der den Euthydemus in die Aporie bringt, schon eine Stufe in seiner Erziehung ist (Johnson, 2005, 50 ff.); vgl. auch Natali, 2005, 680 und 688. In diesem Zusammenhang scheint mir folgendes bemerkenswert: In Prodikos’ Erzählung von Herakles am Scheideweg (Mem. 2.1.21-34) sagt die Kakia dem Herakles zweimal, dass sie ihn den leichtesten und schnellsten Weg zum Glück führen wird (2.1.23: τὴν ἡδίστην τε καὶ ῥᾴστην ὁδὸν ἄξω σε und 2.1.29: ἐγὼ δὲ ῥᾳδίαν καὶ βραχεῖαν ὁδὸν ἐπὶ τὴν εὐδαιμονίαν ἄξω σε), während die Arete niemals darüber spricht, dass sie den Herakles führen wird (siehe 2.1.29: Die Kakia stellt sich selbst der Arete gegenüber, aber von sich selbst sagt sie „ich werde dich führen“, von der Arete aber anders: ἐννοεῖς, ὦ Ἡράκλεις, ὡς χαλεπὴν καὶ μακρὰν ὁδὸν ἐπὶ τὰς εὐφροσύνας ἡ γυνή σοι αὕτη διηγεῖται;), sondern hingegen, dass er selbstt den Weg zur Tugend ge-
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4.2. Tugend und die weibliche Natur Xenophons Sokrates berührt nicht nur das Problem des Verhältnisses von Tugend und Natur des Menschen im allgemeinen, sondern auch ob Tugend für Frauen im besonderen erreichbar ist104. In Xenophons Symposion beschreibt Sokrates die weibliche Natur folgendermaßen: ἡ γυναικεία φύσις οὐδὲν χείρων τῆς τοῦ ἀνδρὸς οὖσα τυγχάνει, γνώμης δὲ καὶ ἰσχύος δεῖται105.
Die Behauptung, die körperliche Kraft ft der Frau sei geringer als die des Mannes, kann den modernen Leser wohl kaum in Erstaunen versetzen. Aber was meint Sokrates mit seiner Aussage, die Frau sei weniger als der Mann imstande, kritisch zu denken und zu beurteilen (γνώμης δεῖται)? Bevor wir diese Worte des Sokrates interpretieren können, ist eine andere Frage zu behandeln, welche im breiteren Zusammenhang der sokratischen Schriften ft Xenophons auft ftaucht: Wenn die weibliche Natur sowohl der körperlichen Kraft ft als auch der geistigen Fähigkeiten ermangelt, welche Fähigkeiten hat, nach der Meinung des Xenophontischen Sokrates, eine Frau? Hat sie von Natur aus weniger Begabung als ein Mann? Zur Beantwortung dieser Fragen ist eine Passage aus dem siebten Kapitel des Oikonomikos zu zitieren, wo Sokrates folgende Worte des Ischomachos nacherzählt: ῥίγη μὲν γὰρ καὶ θάλπη καὶ ὁδοιπορίας καὶ στρατείας τοῦ ἀνδρὸς τὸ σῶμα καὶ τὴν ψυχὴν μᾶλλον δύνασθαι καρτερεῖν κατεσκεύασεν· ὥστε τὰ ἔξω ἐπέταξεν αὐτῷ ἔργα· τῇ δὲ γυναικὶ ἧττον τὸ σῶμα δυνατὸν πρὸς ταῦτα φύσας τὰ ἔνδον ἔργα αὐτῇ, φάναι ἔφη, προστάξαι μοι δοκεῖ ὁ θεός. […] ἐπεὶ δὲ καὶ τὸ φυλάττειν τὰ εἰσενεχθέντα τῇ γυναικὶ προσέταξε, γιγνώσκων ὁ θεὸς ὅτι πρὸς τὸ φυλάττειν οὐ κάκιόν ἐστι φοβερὰν εἶναι τὴν ψυχὴν πλεῖον μέρος καὶ τοῦ φόβου ἐδάσατο τῇ γυναικὶ ἢ τῷ ἀνδρί. εἰδὼς δὲ ὅτι καὶ ἀρήγειν αὖ δεήσει, ἐάν τις ἀδικῇ, τὸν τὰ ἔξω ἔργα ἔχοντα, τούτῳ αὖ πλεῖον μέρος τοῦ θράσους ἐδάσατο. ὅτι δ᾿ ἀμφοτέρους δεῖ καὶ διδόναι καὶ λαμβάνειν, τὴν μνήμην καὶ τὴν ἐπιμέλειαν εἰς τὸ μέσον ἀμφοτέροις κατέθηκεν. ὥστε οὐκ ἂν
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hen wird (2.1.27: εἰ τὴν πρὸς ἐμὲ ὁδὸν τράποιο). Diese Formulierungen scheinen mir nicht zufällig zu sein, und es geht hier nicht um eine lexikalische variatio, wie Gigon glaubte (Gigon, 1956, 68), sondern um die Einheit und die Ganzheit der ethischen Ansichten des Xenophontischen Sokrates. Dieser Abschnitt stellt eine leicht geänderte Version von Chernyakhovskaya, 2011 dar. Symp. 2.9: „Die weibliche Natur ist off ffenbar nicht geringer als die männliche; es fehlt ihr nur die Überlegung und die Kraft.“ ft
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ἔχοις διελεῖν πότερα τὸ ἔθνος τὸ θῆλυ ἢ τὸ ἄρρεν τούτων πλεονεκτεῖ. καὶ τὸ ἐγκρατεῖς δὲ εἶναι ὧν δεῖ εἰς τὸ μέσον ἀμφοτέροις κατέθηκε, καὶ ἐξουσίαν ἐποίησεν ὁ θεὸς ὁπότερος ἂν ᾖ βελτίων, εἴθ᾿ ὁ ἀνὴρ εἴθ᾿ ἡ γυνή, τοῦτον καὶ πλεῖον φέρεσθαι τούτου τοῦ ἀγαθοῦ106.
Zuerst ist hier die Rede von verschiedenem Vermögen der Frau und des Mannes, Strapazen auszuhalten, d.h. vom Unterschied in ihren angeborenen körperlichen Kräft ften – gerade darüber sprechen auch die oben zitierten Worte des Sokrates im Symposion. Bemerkenswert ist hier folgendes: Vom Mann wird gesagt, dass sowohl sein Körper als auch die Seele imstande sind, Strapazen auszuhalten; bei der Frau hingegen ist allein von ihrer körperlichen Schwäche die Rede. Allem Anschein nach ist ein Parallelismus der Satzglieder ganz absichtlich vermieden worden, daher kann hier die geistige oder intellektuelle Schwäche der weiblichen Natur im Vergleich zur männlichen nicht gemeint sein. Dann wird im angeführten Zitat eine andere Verschiedenheit festgestellt: Für den Mann ist Mut charakteristisch, für die Frau hingegen Angst und Vorsicht. Von großer Bedeutung ist, dass diese weiblichen Eigenschaft ften nicht negativ bewertet werden: Ebenso wie der männliche Mut hat auch die weibliche Vorsicht ihre spezifi fische Aufgabe, welche sie alleine erfüllen kann. Daraus kann man schließen, dass der Mut des Mannes für den umsichtigen Umgang mit dem erarbeiteten Vermögen unnütz oder sogar schädlich sein kann, während die weibliche Vorsicht gerade für dieses Ziel prädestiniert ist107. Zum Schluss ist in der zitierten Passage davon die Rede,
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Oec. 7.23-27: „Der Gott hat den Körper und die Seele des Mannes dazu eingerichtet, Kälte und Hitze sowie Märsche und Feldzüge besser aushalten zu können. Darum übertrug er ihm die Arbeiten außerhalb des Hauses. Da er aber die Frau mit einem Körper ausstattete, der zu diesen Dingen weniger fähig ist, hat er ihr, wie mir scheint, die Arbeiten innen im Haus zugewiesen. […] Da der Gott der Frau aber auch die Aufgabe zugeteilt hatte, das ins Haus Eingebrachte zu bewachen, teilte er ihr, weil er wusste, dass es für das Wachen gar nicht schlecht ist, wenn die Seele ängstlich ist, auch einen größeren Anteil an Vorsicht zu als dem Mann. In dem Wissen wiederum, dass derjenige, der die Aufgaben draußen innehat, auch die Verteidigung übernehmen muss, wenn jemand Unrecht tut, teilte er dem Mann einen größeren Anteil an Mut zu. Weil aber beide geben und nehmen müssen, hat er beiden denselben Anteil an Erinnerungsvermögen und Verantwortungsgefühl gegeben. So vermag man wohl nicht zu entscheiden, ob das weibliche Geschlecht oder das männliche mehr davon hat. Und auch die Fähigkeit zur Enthaltsamkeit in den nötigen Dingen gab der Gott ihnen auf gleiche Weise und schuf die Möglichkeit, dass, wer von beiden auch immer besser sein mag, der Mann oder die Frau, auch mehr von diesem Gut erlangen kann.“ Vgl. dazu Föllinger, 2002, 57: „Xenophons Modell der Geschlechterdifferenz ff versucht, die beiden Geschlechter in ihren unterschiedlichen Eigenschaft ften als symmetrisch zu betrachten.“
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welche Eigenschaft ften Mann und Frau in gleichem Maße haben können: Das sind Gedächtnis, Verantwortlichkeit und Enthaltsamkeit. Hierzu sind zwei kurze Anmerkungen zu machen. Einmal gehören das Erinnerungsvermögen und das Verantwortungsgefühl, die der weiblichen Natur nicht weniger als der männlichen zugeteilt sind, nicht zur Sphäre der körperlichen Fähigkeiten, sondern zum Gebiet des Intellekts, d.h. nicht zur ἰσχύς, sondern zur γνώμη aus unserer Symposion-Passage108. Zum anderen ist die Enthaltsamkeit nicht nur dem Mann, sondern auch der Frau eigen. Die erste Bedingung der Tugend – die Notwendigkeit der Enthaltsamkeit – kann die Frau folglich nicht schlechter als der Mann erfüllen. Es bleibt zu klären, ob das Wissen für die Frau erreichbar ist. Dazu müssen wir auf unseren Ausgangspunkt zurückkommen und die Situation betrachten, in der der Xenophontische Sokrates seine Einschätzung der weiblichen Natur ausspricht. Im zweiten Kapitel des Symposion schauen die Gäste einer Vorführung einer Tänzerin zu, und das Gespräch beginnt damit, dass Sokrates dem Gastgeber Kallias für das Essen dankt sowie für das Vergnügen, welches er den Augen und den Ohren der Gäste bereitet hat, d.h. für den Tanz und die Musik. Darauf sagt Kallias – da alle in scherzhafter ft Laune sind –, dass in diesem Fall nur ein Parfümöl fehle, damit die Gäste noch den Duft ft genießen können. Dann kommt die Rede auf Gerüche, und einer der Gesprächspartner fragt, wonach sie selbst riechen müssen. Sokrates sagt darauf: nach der καλοκἀγαθία, d.h. nach der Tugendhaftigkeit. ft Da alle zustimmen, dass diese ‚Salbe‘ bei Parfümhändlern nicht gekauft ft werden könne, kommt das Gespräch auf die Frage, ob die καλοκἀγαθία lehrbar sei. Sokrates unterbricht aber diese Diskussion mit den Worten, dass diese Frage eine lange Erörterung brauche, und schlägt vor, den Blick auf die Tänzerin zu richten. Beim Anblick der Gewandtheit der Tänzerin, die in Übereinstimmung mit dem Rhythmus der Musik und des Tanzes zwölf Reifen jongliert, sagt Sokrates, dass die Meisterschaft ft der Tänzerin nur als einer von den Beweisen dafür dient, dass die weibliche Natur der männlichen in nichts nachstehe, γνώμης δὲ καὶ ἰσχύος δεῖται. Das ist aber nicht alles, was er hier sagt. Er fährt folgendermaßen fort:
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Bemerkenswert ist außerdem, dass die γνώμη nach Ischomachos’ Worten primär und die ἐπιμέλεια sekundär ist: καὶ οἱ στρατηγοὶ ἔστιν ἐν οἷς τῶν στρατηγικῶν ἔργων οὐ γνώμῃ διαφέροντες ἀλλήλων οἱ μὲν βελτίονες οἱ δὲ χείρονές εἰσιν, ἀλλὰ σαφῶς ἐπιμελείᾳ. ἃ γὰρ καὶ οἱ στρατηγοὶ γιγνώσκουσι πάντες καὶ τῶν ἰδιωτῶν οἱ πλεῖστοι, ταῦτα οἱ μὲν ποιοῦσι τῶν ἀρχόντων οἱ δ’ οὔ (Oec. 20.6). Daraus folgt, dass die Frau (da die ἐπιμέλεια, wie gesagt, auch ihr eigen ist) unbedingt über die γνώμη verfügen muss (und folglich kann).
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ὥστε εἴ τις ὑμῶν γυναῖκα ἔχει, θαρρῶν διδασκέτω ὅ τι βούλοιτ’ ἂν αὐτῇ ἐπισταμένῃ χρῆσθαι.
So hat Sokrates das Gespräch darüber unterbrochen, ob die Tugend lernbar ist, und, wenn dies der Fall ist, wo der Lehrer dieses Faches zu finden ist (für uns ist es aber von großer Bedeutung, dass die Fragen selber doch ausgesprochen wurden), und ist auf ein ähnliches Thema übergesprungen, nämlich auf das Problem der Gelehrigkeit der Frau und der Notwendigkeit, für sie einen Lehrer zu haben. In demselben Kapitel des Symposion spricht Sokrates – und dies nicht von ungefähr – über die Erlernbarkeit der Tugend. Der erwähnten Nummer mit vielen Reifen folgt eine andere, in der die Tänzerin eine gefährliche Art von Salti über den Reifen mit ringsherum emporstehenden Schwertern vorführt. Das Kunststück sieht so gefährlich aus, dass den Zuschauern angst und bange für die Tänzerin wird, sie macht alles aber ganz furchtlos. Dann sagt Sokrates das Folgende: οὔτοι τούς γε θεωμένους τάδε ἀντιλέξειν ἔτι οἴομαι, ὡς οὐχὶ καὶ ἡ ἀνδρεία διδακτόν, ὁπότε αὕτη καίπερ γυνὴ οὖσα οὕτω τολμηρῶς εἰς τὰ ξίφη ἵεται109.
Die Frau unterscheidet sich von dem Mann, wie schon gesagt, dadurch, dass ihr von Natur aus Ängstlichkeit eigen ist, dem Mann hingegen der Mut. Die Worte καίπερ γυνὴ οὖσα drücken genau diese Differenz ff aus und haben folgende Bedeutung: „Obwohl sie eine Frau ist, der Zaghaft ftigkeit angeboren ist, hat sie gelernt, ein so gefährliches Kunststück kühn und furchtlos vorzuführen.“ Von Natur (φύσει) ist die Anlage zur Kühnheit bei dem Mann und der Frau verschieden (übrigens kann die angeborene Stärke dieser Eigenschaft ft auch unter den Männern sehr variieren110), doch können alle Menschen Tapferkeit erlernen – einschließlich der Frauen. Da die Tapferkeit – als eine Art der Tugend – Wissen ist, ergibt sich daraus, dass die Frau, nach der Meinung des Xenophontischen Sokrates, dem Mann hinsichtlich der Fähigkeit, Wissen zu erwerben, in nichts nachsteht. In der Gesamtheit von Sokrates’ ethischen Ansichten, wie sie im Korpus der sokratischen Schrift ften Xenophons dargestellt sind, ist die weibliche Natur nicht schlechter als die männliche: Der einzige Gattungsunterschied liegt darin, dass das weibliche Geschlecht im Ganzen weniger Körperkraft ft und angeborenen Mut hat als das männliche Geschlecht. Dieser Unterschied hat jedoch, wie schon erwähnt, keine nega-
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Symp. 2.12: „Wirklich, wer dies gesehen hat, wird, glaube ich, nicht mehr widersprechen, dass sogar der Mut lehrbar ist, da sich dieses Mädchen so tollkühn in die Schwerter stürzt, obwohl sie doch eine Frau ist.“ Mem. 3.9.1-3.
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tive oder positive Konnotation, sondern eine gewisse funktionale Bedeutung im Denken des Sokrates bei Xenophon111. Gegen dieses einheitliche Ganze hebt sich nur ein Satz im Symposion ab, der am Anfang dieses Abschnittes zitiert wurde: Die Manuskriptlesung ἡ γυναικεία φύσις […] γνώμης δὲ […] δεῖται steht im Widerspruch zu allen anderen Aussagen des Xenophontischen Sokrates über die weibliche Natur. Dieser Satz könnte nur dann gerechtfertigt werden, wenn das Wort γνώμη „Kenntnisse“ im Gegensatz zu den „Fähigkeiten“ bedeuten könnte; aber die Bedeutung des griechischen Wortes γνώμη liegt, im Gegenteil, dem Letzteren nahe und sehr fern dem Ersteren. 1799 beachtete Ch.J.W. Mosche diesen Satz und konjizierte für γνώμης – ῥώμης112; später schlossen sich viele Gelehrte seiner Meinung an. Ihr Hauptargument bestand in folgender Überlegung: Wenn die Frau dem Mann sowohl an körperlichen als auch an geistigen Fähigkeiten (γνώμης δὲ καὶ ἰσχύος δεῖται) nachsteht, wie kann man sagen, dass sie οὐδὲν χείρων ist, da es außer körperlichen und geistigen Fähigkeiten nichts anderes gibt113. Die Verbindung der Synonyme ῥώμη und ἰσχύς verwirrte sie nicht, weil mit Recht auf solche Wortverbindung z.B. bei Platon verwiesen wurde: τὴν ἰσχὺν δεινὰ καὶ τὴν ῥώμην; ἰσχύος καὶ ῥώμης δεομένη114.
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Vgl. Zuccante, 1903a, 40: „Eguaglianza morale dell’uomo e della donna, congiunta alla diff fferenza delle loro funzioni, ecco in poche parole la base su cui dovrebbe fondarsi la famiglia, secondo Socrate nell’Economico […]. Non già che questa eguaglianza voglia dire identità di funzioni e di doveri particolari, che sono invece diversissimi nell’uomo e nella donna; vuol dire identità di valore morale e di destino finale.“ Mosche übersetzt den Satz folgendermaßen: „[…] sprechen dafür, dass das Weib von der Natur gar nicht schlechter bedacht worden ist, als der Mann, und dass es ihm nur ft“ und macht eine Erläuterung: „Statt γνώμης, welches ich an Stärke fehlt und Kraft hier für unpassend halte, wage ich zu lesen ῥώμης; ῥώμη kommt, nach Stephanus, auch bei Plato neben ἰσχύς vor; und es ist ja auch wohl verschieden!“ (Mosche, 1799, 164). Vgl. aber Patzer, 1970, 62 dazu: „Diese Änderung […] ist jedoch keineswegs stichhaltig: Es handelt sich hier um den (sophistischen) Gegensatz von natürlicher Anlage (φύσις) und pädagogischer Bildsamkeit (μελέτη) die sowohl den Körper betreff ffen kann (ἄσκησις) als auch den Intellekt (διδαχή). Die Tänzerin hat gerade ein Beispiel körperlicher Erziehung gegeben: die intellektuelle Erziehung empfiehlt fi Sokrates im folgenden.“ Richards, 1896, 293: „If women are inferior in intellect as well as in bodily strength, how can they be called οὐδὲν χείρους? There Th is not much else to be inferior in, for Socrates is not thinking of character.“ Pl. Symp. 190 b5, Pl. Lg. 833 a2. Huß weist außerdem auf folgendes hin: „Solche Begriffsdopplungen ff sind aber für Xenophon typisch und in Symposion bereits mehrfach begegnet“ (Huß, 1999, 137 f.).
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M.E. erregt nicht nur der Schluss des Satzes Bedenken, sondern auch sein erster Teil: ἡ γυναικεία φύσις οὐδὲν χείρων τῆς τοῦ ἀνδρὸς οὖσα τυγχάνει. In solchem Fall müssen die Worte ἡ χείρων φύσις „die Natur von schlechterer Qualität“ bedeuten, während der absolute Gebrauch von χείρων (ohne Beziehungsakkusativ, der bedeutet, „in welcher Hinsicht“ etwas χείρων ist) bei φύσις mir zweifelhaft ft scheint115. So kann z.B. in den Nomoi Platons – wenn auch in ganz anderem Kontext –, folgender Satz gefunden werden: ἡ θήλεια ἡμῖν φύσις ἐστὶ πρὸς ἀρετὴν χείρων τῆς τῶν ἀρρένων116. Hier wird nicht einfach χείρων, sondern πρὸς ἀρετὴν χείρων gesagt. Ähnliche lexikalische Konstruktionen – allemal mit einem Beziehungsakkusativ – sind auch in den Schrift ften Xenophons zu treff ffen: z.B. διὰ δὲ τὸ τὴν φύσιν μὴ πρὸς πάντα ταὐτὰ ἀμφοτέρων εὖ πεφυκέναι117; οἱ φύσει ἀσθενέστατοι τῷ σώματι μελετήσαντες τῶν ἰσχυροτάτων ἀμελησάντων κρείττους τε γίγνονται πρὸς ἃ ἂν μελετῶσι118; τὸ ἄρρεν φῦλον καὶ εἰς τὸ σωφρονεῖν ἰσχυρότερόν ἐστι [τῶν] τῆς θηλείας φύσεως119. Diese Beispiele sprechen m.E. für die Vermutung,
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Die Wortverbindung οὐδὲν χείρων bedeutet hier m.E. nicht „in nichts schlechter“, sondern „gar nicht schlechter.“ Pl. Lg. 781b 1. Oec. 7.28. Mem. 1.6.7. Lacedaem. 3.4. Ohne Kontext kann man den Eindruck gewinnen, dass diese Aussage aus Xenophons Schrift ft über die spartanische Verfassung dem oben beschriebenen Urteil des Xenophontischen Sokrates über die weibliche Natur widerspricht. In dieser Hinsicht gibt es jedoch keinen Widerspruch zwischen den sokratischen Schriften ft Xenophons und seinem Staat der Lakedaimonier: Im dritten Kapitel dieser Schrift ft beschreibt Xenophon das Erziehungswesen, welches Lykurg für spartanische Jungen begründete. Es geht darum, dass Jungen im Jugendalter (ὅταν γε μὴν ἐκ παίδων εἰς τὸ μειρακιοῦσθαι ἐκβαίνωσι) nicht sich selbst zu überlassen sind (αὐτονόμους), denn gerade in diesem Alter sind sie für Hochmut, Eigensinn, Streben nach Vergnügen und folglich zur Unmäßigkeit besonders veranlagt (τοῖς τηλικούτοις μέγιστον μὲν φρόνημα ἐμφυόμενον, μάλιστα δὲ ὕβριν ἐπιπολάζουσαν, ἰσχυροτάτας δὲ ἐπιθυμίας τῶν ἡδονῶν παρισταμένας). Es handelt sich also um die angeborenen Eigenschaften ft der Menschennatur, und es geht hier unzweideutig genau um die männliche Natur. Weiter schreibt Xenophon: Mit Rücksicht darauf hat Lykurg die Jungen dieses Alters in ihrer Freizeit äußerst beschränkt (τηνικαῦτα πλείστους μὲν πόνους αὐτοῖς ἐπέβαλε, πλείστην δὲ ἀσχολίαν ἐμηχανήσατο) und, um ihnen die guten Formen beizubringen (τὸ αἰδεῖσθαι ἰσχυρῶς ἐμφῦσαι βουλόμενος), besonders strenge Grundsätze verordnet: αὐτοῖς καὶ ἐν ταῖς ὁδοῖς ἐπέταξεν ἐντὸς μὲν τοῦ ἱματίου τὼ χεῖρε ἔχειν, σιγῇ δὲ πορεύεσθαι, περιβλέπειν δὲ μηδαμοῖ, ἀλλ’ αὐτὰ τὰ πρὸ τῶν ποδῶν ὁρᾶν. In diesem Kapitel handelt es sich also um die Erziehung, welche den angeborenen Eigenschaften ft der menschlichen Natur (genauer gesagt, der männlichen adoleszenten
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dass der Text der Passage Symp. 2.9 etwas verderbt ist. Die Manuskriptlesung trivialisiert den Text, denn sie lässt das Wort χείρων als einfach „schlechterer“, „schwächerer“ verstehen und nicht als „an etwas nachstehender“, was einen Beziehungsakkusativ erfordert. In Erwägung von allem Gesagten scheint mir die Variante von F. Hornstein die höchst überzeugende Lösung zu sein: οὐδὲν χείρων ... οὖσα τυγχάνει ῥώμης δὲ καὶ ἰσχύος δεῖται; „woraus sich der Fehler als haplographisches Verschreiben erklärt und der sprachliche Ausdruck an Schärfe gewinnt“120. Aus der Sicht des lexikalischgrammatischen Gebrauchs ist diese Form der Aussage des Xenophontischen Sokrates m.E. sehr stichhaltig: Der Beziehungsakkusativ γνώμην erläutert, in welcher Hinsicht die weibliche Natur der männlichen nicht nachsteht. In dieser Form hebt Sokrates’ Beurteilung nicht nur den Widerspruch auf, welcher sich ansonsten zwischen dieser Aussage des Xenophontischen Sokrates und allen anderen seiner Feststellungen darüber erhebt, sondern stellt auch die Einheit seiner Ansichten und geäußerten Meinungen wieder her und fasst kurz und deutlich seinen Hauptgedanken zusammen: Das weibliche Geschlecht steht dem männlichen nur an körperlichen Fähigkeiten nach.
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Natur) entgegenzusetzen ist. In diesem Zusammenhang bedeuten deshalb die Worte ἔνθα δὴ καὶ δῆλον γεγένηται ὅτι τὸ ἄρρεν φῦλον καὶ εἰς τὸ σωφρονεῖν ἰσχυρότερόν ἐστι [τῶν] τῆς θηλείας φύσεως folgendes: (Spartanische) Männer sind infolge ihrer in jugendlichem Alter erhaltenen Erziehung stärker in Bescheidenheit als Frauen, weil das weibliche Geschlecht solche Erziehung nicht erhalten hat. Die Schlussfolgerung, welche Xenophon aus dem spartanischen System der Erziehung von Männern zieht, sagt nichts über die männliche oder weibliche Natur als solche: Hätte Xenophon hier nicht nur die Erziehung von Männern und Frauen, sondern auch ihre angeborene Veranlagung vergleichen wollen, so würde er das sicher deutlich machen. Aber in diesem Kontext spricht er nur vom Unterschied in der Erziehung, infolge dessen allein der Unterschied im Verhalten möglich ist. Es gibt hier keinen Hinweis darauf, dass die weibliche Natur im σωφρονεῖν schlechter ist als die männliche. Der nachfolgende ffassung: ἐκείνων γοῦν ἧττον μὲν ἂν φωνὴν ἀκούσαις ἢ Satz bestätigt m.E. diese Auff τῶν λιθίνων, ἧττον δ’ ἂν ὄμματα [μετα]στρέψαις ἢ τῶν χαλκῶν, αἰδημονεστέρους δ’ ἂν αὐτοὺς ἡγήσαιο καὶ αὐτῶν τῶν ἐν τοῖς ὀφθαλμοῖς παρθένων. Die Kombination von Partikel γοῦν und Pronomen ἐκείνων verweist darauf, dass Xenophon in diesem Satz nur das Auft ftreten von denjenigen schildert, die die Lykurgische Erziehung erhalten haben, während er sich hier nicht vornimmt, das Verhalten der anderen – nicht nur der Frauen, sondern auch der nach anderen Regeln erzogenen Männer – zu beurteilen. Siehe auch Hornstein, 1918, 103: „Die Antithese γνώμῃ - ῥώμῃ findet fi sich bei Xenophon auch Oec. 21.8, ἰσχὺν ἄνευ γνώμης steht Mem. 1.2.10; an unserer Stelle wird die Antithese durch den Chiasmus hervorgehoben (οὐδὲν χείρων : γνώμην = ῥώμης : δεῖται).“ Merkwürdigerweise überging Radt in seinen kritischen Bemerkungen den Paragraphen Symp. 2.9 mit Stillschweigen (Radt, 1990).
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Das Wissen ist also für die Frau nicht weniger als für den Mann erreichbar. Da man aber jedes Wissen durch Lernen erwirbt, ergibt sich noch die Frage, die oben schon einmal formuliert worden ist: Wer ist der Lehrer der Frau? Die Antwort auf diese Frage ist auch schon erwähnt worden: Sokrates lenkt die Aufmerksamkeit seiner Gesprächspartner auf die Meisterschaft ft der Tänzerin und rät ihnen, ihren Ehefrauen all das beizubringen, wovon sie selbst wollen, dass ihre Frauen es wissen. Xenophons andere Schrift ft – Oikonomikos – beweist, dass nur derjenige ein gedeihendes Haus haben kann, der wie Ischomachos seiner Frau alles Notwendige beigebracht hat: ἔχω δ’ ἐπιδεῖξαι καὶ γυναιξὶ ταῖς γαμεταῖς τοὺς μὲν οὕτω χρωμένους ὥστε συνεργοὺς ἔχειν αὐτὰς εἰς τὸ συναύξειν τοὺς οἴκους, τοὺς δὲ ᾗ ὡς πλεῖστα λυμαίνονται. Καὶ τούτου πότερα χρή, ὦ Σώκρατες, τὸν ἄνδρα αἰτιᾶσθαι ἢ τὴν γυναῖκα; Πρόβατον μέν, ἔφη ὁ Σωκράτης, ὡς ἐπὶ τὸ πολὺ ἂν κακῶς ἔχῃ, τὸν νομέα αἰτιώμεθα, καὶ ἵππος ὡς ἐπὶ τὸ πολὺ ἂν κακουργῇ, τὸν ἱππέα κακίζομεν· τῆς δὲ γυναικός, εἰ μὲν διδασκομένη ὑπὸ τοῦ ἀνδρὸς τἀγαθὰ κακοποιεῖ, ἴσως δικαίως ἂν ἡ γυνὴ τὴν αἰτίαν ἔχοι· εἰ δὲ μὴ διδάσκων τὰ καλὰ κἀγαθὰ ἀνεπιστήμονι τούτων χρῷτο, ἆρ’ οὐ δικαίως ἂν ὁ ἀνὴρ τὴν αἰτίαν ἔχοι121;
Steht dieser Gedanke nicht im Widerspruch mit der vorgeschlagenen Interpretation? Mir scheint nicht. Es wäre ein Irrtum, zu glauben, dass, wenn die Frau im ‚Lehrer-Schüler‘ Paar die Rolle des ‚schwächeren‘ Schülers spielt, das bedeutet, dass die weibliche Natur ‚schlechter‘ ist als die männliche. Wie schon erwähnt wurde, bedürfen nicht nur Frauen, sondern alle Menschen – und sogar die von Geburt begabtesten Männer – der Ausbildung122. Es ist noch einmal besonders zu betonen, dass darüber, dass Frauen der Ausbildung bedürfen und dass ihre Ehemänner als ihre Lehrer fungieren müssen, Sokrates, sofort nachdem er die Diskussion über die Streitfrage (ἀμφίλογον), ob die καλοκἀγαθία lehrbar sei, abgelehnt hat (und es ist klar,
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Oec. 3.10-11: „‚Um das Hauswesen und das Vermögen zu fördern, stellen manche Ehemänner ihre Frauen mit an; von einigen haben sie Unterstützung, aber andre schädigen beides außerordentlich.‘ ‚Und muss man dafür den Mann oder die Frau verantwortlich machen, mein lieber Sokrates?‘ ‚Wenn ein Schaf ganz und gar nicht gedeiht‘, antwortete Sokrates, ‚dann machen wir den Hirten dafür verantwortlich, und wenn ein Pferd sehr viele Mucken hat, dann beschimpfen wir den Reiter. Wenn aber die Frau von ihrem Mann Tüchtiges gelernt hat und trotzdem Dummheiten macht, dann trägt wohl die Frau mit Recht die Schuld. Wenn der Mann ihr aber nichts Ordentliches beibringt, sondern sie dumm und ungeschickt läßt, sollte dann nicht mit Recht ihn die Schuld treff ffen?‘“ Mem. 4.1.3-4.
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dass hier von Männern die Rede ist), spricht, und, wenn jenes der Fall ist, wer muss und kann der Lehrer dieses ‚Faches‘ sein? Diese Frage ist nicht so einfach: Viele Seiten der Memorabilien sind der Erörterung der Frage gewidmet, auf welche Weise das die Tugend bildende Wissen erworben werden kann. Im betrachteten Kapitel des Symposion will Sokrates sich nicht auf lange und schwierige Auseinandersetzungen einlassen, bespricht aber eine andere – ähnliche und doch einfachere – Frage, denn es ist nicht einfach, nach seiner Meinung, für den Mann einen Lehrer zu finden, fi für die Frau ist er dagegen immer vorhanden, weil ihr Lehrer ihr Ehemann ist. Wenn wir aber Frauen deswegen als Menschen ‚zweiter Wahl‘ bezeichnen würden, würden wir unsere moderne Denkweise auf eine andere historische Epoche übertragen, während Xenophon und sein Sokrates von den Realien der damaligen Gesellschaft ftsordnung ausgehen. Im Oikonomikos fragt Sokrates seinen Gesprächspartner Ischomachos, ob er selbst seine Frau erzogen und gelehrt oder sie als schon wissendes Mädchen geheiratet hat. Ischomachos’ Antwort ist äußerst bemerkenswert: καὶ τί ἄν, ἔφη, ὦ Σώκρατες, ἐπισταμένην αὐτὴν παρέλαβον, ἣ ἔτη μὲν οὔπω πεντεκαίδεκα γεγονυῖα ἦλθε πρὸς ἐμέ, τὸν δ’ ἔμπροσθεν χρόνον ἔζη ὑπὸ πολλῆς ἐπιμελείας, ὅπως ὡς ἐλάχιστα μὲν ὄψοιτο, ἐλάχιστα δ’ ἀκούσοιτο, ἐλάχιστα δ’ ἐροίη123;
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Oec. 7.5: „Wie hätte sie schon alles verstehen können? Sie war doch noch nicht fünfzehn Jahre alt, als ich sie heiratete. Die Zeit vorher hatte man fürsorglich auf sie aufgepasst, dass sie möglichst wenig sah, hörte und fragte.“ Vgl. auch Sokrates’ Gespräch mit Kritobulos über die Frau des Letzteren: Ἔγημας δὲ αὐτὴν παῖδα νέαν μάλιστα καὶ ὡς ἐδύνατο ἐλάχιστα ἑωρακυῖαν καὶ ἀκηκουῖαν; Μάλιστα. Οὐκοῦν πολὺ θαυμαστότερον εἴ τι ὧν δεῖ λέγειν ἢ πράττειν ἐπίσταιτο ἢ εἰ ἐξαμαρτάνοι (Oec. 3.13). Als Antwort auf Ischomachos’ Erzählung über den Eifer seiner Frau für die Sorge um den gemeinsamen Haushalt sagt Sokrates: ἀνδρικήν γε ἐπιδεικνύεις τὴν διάνοιαν τῆς γυναικός (Oec. 10.1); damit wird m.E. aber nicht gemeint, dass die Denkfähigkeit der Frau von Natur aus schlechter als die des Mannes sei: Vor dem Hintergrund der tatsächlich ungleichen Stellung der Frau und der Herrschaft ft der traditionellen Vorurteile darüber klingen die Worte „sie zeigt eine männliche Denkweise“ wie „ihre Denkweise ist keineswegs schlechter als die männliche“ (auf solche Auff ffassung weist m.E. unter anderem auch die Partikel γέ). Ich kann deswegen die Meinung von Föllinger nicht völlig teilen, dass Sokrates seinen Standpunkt der Ansicht des Ischomachos hier entgegensetze: „Dass die Erziehung der Ehefrau zur aktiven Verantwortung durch den Oikonomos nichts unbedingt Selbstverständliches war, ist aus Sokrates’ Reaktion zu ersehen. Denn als ihm Ischomachos von der einsichtsvollen Reaktion seiner Frau […] berichtet, nennt Sokrates (10,1) ihre Denkweise (διάνοια) männlich (ἀνδρική) und setzt sich damit in Gegensatz zu Ischomachos’ eigener Ausführung, der ja […] die ἐπιμέλεια für eine beiden Geschlechtern angeborene Eigenschaft ft hielt“ (Föllinger, 2002, 59).
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Die Frau als solche (φύσει) ist folglich keineswegs schlechter als der Mann; sie hat aber eine ungleiche gesellschaft ftliche Stellung und bedarf deswegen des Lehrers (des Ehemannes)124. Dieses Ergebnis, welches die Untersuchung des Oikonomikos gebracht hat, wird m.E. von Sokrates’ folgender kurzer Bemerkung in den Memorabilien indirekt bekräft ftigt: εἰ δ’ ἐπὶ τελευτῇ τοῦ βίου γενόμενοι βουλοίμεθά τῳ ἐπιτρέψαι ἢ παῖδας ἄρρενας παιδεῦσαι ἢ θυγατέρας παρθένους διαφυλάξαι […]125.
Nach Sokrates’ Worten sind Söhne zu erziehen, während Töchter nicht erzogen, sondern geschützt werden. Dies ist wohl kaum ein zufälliger Versprecher. Interessant ist noch eine im Oikonomikos geäußerte Idee: Allein die Verbindung der angeborenen Eigenschaften ft sowohl der männlichen als auch der weiblichen Natur kann einen guten und einträglichen Haushalt bilden126. Da der private Haushalt bei Xenophon die paradigmatische Form des Verwaltungssystems ist (dessen eine Ausprägung z.B. das System der Staatsverwaltung ist)127, so wird klar, dass alles, was im Oikonomikos und Symposion über die weibliche Natur gesagt ist, dem Gedanken, dass die Gleichheit der beiden Geschlechter für Xenophon und seinen Sokrates eine wichtige Voraussetzung der richtigen Staatsordnung sein konnte, nicht widerspricht, auch wenn Xenophon das nie in seinen Erörterungen behandelt hat. Bemerkenswert ist jedoch die Tendenz selbst. Sokrates’ Einschätzung der weiblichen Natur bei Xenophon verletzt folglich nicht die Einheit der ethischen Ansichten des Xenophontischen Sokra-
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Es bleibt die Frage, warum die Frau von ihrem Ehemann und nicht von ihrer Mutter ausgebildet wird, zu deren Erörterung hier aber nicht der geeignete Platz ist. Die historische Erklärung, dass es mit der damaligen Sachlage übereinstimmt, schlägt Oost vor (Oost, 1977/1978, 226); für eine literarisch-fi fiktive Interpretation siehe z.B. Murnaghan, 1988, 12. Mem. 1.5.2: „Wenn wir aber am Ende unseres Lebens jemandem auft ftragen wollten, unsere Jungen zu erziehen, unsere Töchter zu bewachen […].“ Oec. 3.15: νομίζω δὲ γυναῖκα κοινωνὸν ἀγαθὴν οἴκου οὖσαν πάνυ ἀντίρροπον εἶναι τῷ ἀνδρὶ ἐπὶ τὸ ἀγαθόν. ἔρχεται μὲν γὰρ εἰς τὴν οἰκίαν διὰ τῶν τοῦ ἀνδρὸς πράξεων τὰ κτήματα ὡς ἐπὶ τὸ πολύ, δαπανᾶται δὲ διὰ τῶν τῆς γυναικὸς ταμιευμάτων τὰ πλεῖστα· καὶ εὖ μὲν τούτων γιγνομένων αὔξονται οἱ οἶκοι, κακῶς δὲ τούτων πραττομένων οἱ οἶκοι μειοῦνται. Siehe auch Oec. 7.18-31. Vgl. auch Föllinger, 2002, 53 f.: „[…] dass gerade durch seine [Xenophons] Anwendung eines Modells der geschlechtsspezififi schen Arbeitsteilung die Frau als im Hinblick auf den Profi fit gleichwertige Partnerin der Techne Oikonomik erscheint.“ Siehe z.B. Mem. 3.4.12: […] ἡ γὰρ τῶν ἰδίων ἐπιμέλεια πλήθει μόνον διαφέρει τῆς τῶν κοινῶν, τὰ δὲ ἄλλα παραπλήσια ἔχει […].
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tes. Es wurde demonstriert, dass es sich nicht um ein individuelles Verhältnis zu Frauen und Ehefrauen128, sondern um die ernste Treue zur eigenen philosophischen Gesinnung handelt129. Obwohl gute angeborene Begabung den Erwerb und die Aufrechterhaltung des Wissens und der Tugend mehr oder weniger begünstigen kann, spielt sie dennoch keine ausschlaggebende Rolle: Die Tugend ist für alle Menschen erreichbar und hängt vor allem von der Ausbildung ab.
5. Das Glück Wenn die Tugend ein notwendiges Mittel für das Erreichen des Glücks ist, worin besteht dann das Glück selbst?
Nach allem bisher Gesagten liegt das Urteil nahe, dass die Ethik des Xenophontischen Sokrates einen instrumentalistischen Charakter zeigt: Die Tugend ist für die Erfüllung der Bedingungen des glücklichen Lebens erforderlich. Wie klargestellt wurde, bringt Xenophons Sokrates auf geschickte Weise diese beiden Begriff ffe in Verbindung und begründet damit die Notwendigkeit der Tugend im Leben jedes Menschen: Ohne das die Tugend bildende Wissen kann man das Glück nicht erreichen. Die Tugend ist gerade das Wissen darüber, wie es zu erreichen ist130. Folgender Passus aus dem Gespräch des Sokrates mit Aristipp ist in diesem Zusammenhang zu betrachten: ἔπειτα ὁ μὲν ἑκουσίως ταλαιπωρῶν ἐπ’ ἀγαθῇ ἐλπίδι πονῶν εὐφραίνεται, οἷον οἱ τὰ θηρία θηρῶντες ἐλπίδι τοῦ λήψεσθαι ἡδέως μοχθοῦσι. καὶ τὰ μὲν τοιαῦτα ἆθλα τῶν πόνων μικροῦ τινος ἄξιά ἐστι, τοὺς δὲ πονοῦντας ἵνα φίλους ἀγαθοὺς κτήσωνται, ἢ ὅπως ἐχθροὺς χειρώσωνται, ἢ ἵνα δυνατοὶ γενόμενοι καὶ τοῖς σώμασι καὶ ταῖς ψυχαῖς καὶ τὸν ἑαυτῶν οἶκον καλῶς οἰκῶσι καὶ τοὺς φίλους εὖ ποιῶσι καὶ τὴν πατρίδα εὐεργετῶσι, πῶς οὐκ οἴεσθαι χρὴ τούτους καὶ πονεῖν ἡδέως εἰς τὰ τοιαῦτα καὶ ζῆν εὐφραινομένους, ἀγαμένους μὲν ἑαυτούς, ἐπαινουμένους δὲ καὶ ζηλουμένους ὑπὸ τῶν ἄλλων131; 128 129
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Siehe z.B. Oost, 1977/1978, 235 f. Siehe auch Mem. 3.9.11: ὁπότε γάρ τις ὁμολογήσειε τοῦ μὲν ἄρχοντος εἶναι τὸ προστάττειν ὅ τι χρὴ ποιεῖν, τοῦ δὲ ἀρχομένου τὸ πείθεσθαι […], ἐν δὲ ταλασίᾳ καὶ τὰς γυναῖκας ἐπεδείκνυεν ἀρχούσας τῶν ἀνδρῶν διὰ τὸ τὰς μὲν εἰδέναι ὅπως χρὴ ταλασιουργεῖν, τοὺς δὲ μὴ εἰδέναι. Es ist kein Zufall, dass der im höchsten Grad tugendhafte ft Mensch auch im höchsten Grad glücklich ist: So ist es im Fall des Sokrates nach der Meinung Xenophons (Mem. 4.8.11: ἄριστός τε ἀνὴρ καὶ εὐδαιμονέστατος). Vgl. auch Mem. 4.5.12; Oec. 4.25. Mem. 2.1.18-20: „Wer aber freiwillig etwas auf sich nimmt, freut sich, weil er sich in froher Hoff ffnung anstrengt. So mühen sich zum Beispiel die Jäger in der Freude auf
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Mögliche Zweifel daran, ob es hier um das Glück geht, werden zerstreut, wenn man den ganzen Zusammenhang in Betracht zieht, in dem Sokrates diese Worte ausspricht. Aristipp stellt sich in die Reihe derer, die möglichst leicht und angenehm leben wollen (§9: ᾗ ῥᾷστά τε καὶ ἥδιστα βιοτεύειν); deswegen untersucht Sokrates die Frage, welche Menschen angenehmer leben (§10: πότεροι ἥδιον ζῶσιν); Aristipp behauptet, dass es einen gewissen Mittelweg gibt, den er gerade zu gehen sucht und der am meisten zum Glück führt (§11: μάλιστα πρὸς εὐδαιμονίαν ἄγει); und unmittelbar vor der zitierten Passage lacht Aristipp den Sokrates aus, der ihm ‚die königliche Kunst‘ für die Glückseligkeit zu halten scheint (§17: τὴν βασιλικὴν τέχνην […], ἣν δοκεῖς μοι σὺ νομίζειν εὐδαιμονίαν εἶναι). Also behauptet Sokrates, dass Menschen sich gern (ἡδέως) bemühen, um Freunde zu finden, fi Feinde zu unterwerfen, erfolgreich den Haushalt zu führen und Wohltaten den Freunden und dem Staat zu leisten. Und wenn ihre Bemühungen nicht vergeblich sind, ist das Leben solcher Menschen fröhlich (εὐφραινομένους ζῆν)132. Die erfolgreiche Tätigkeit ist das Unterpfand des Glücks, denn in diesem Fall ist der Mensch sowohl mit sich selbst zufrieden (ἀγαμένους μὲν ἑαυτούς) als auch von den anderen gelobt und geachtet (ἐπαινουμένους καὶ ζηλουμένους ὑπὸ τῶν ἄλλων). Der zitierte Passus führt zu folgendem Schluss: Um sich glücklich zu fühlen, muss der Mensch in seiner Beschäft ftigung erfolgreich, sich seines Erfolgs bewusst und deswegen mit sich selbst zufrieden sein; außerdem braucht er das Lob und die Anerkennung der anderen. Betrachten wir alles der Reihe nach. Im Gespräch mit Antiphon sagt Sokrates Folgendes: […] καὶ μὴν τοῦτό γε οἶσθα, ὅτι οἱ μὲν οἰόμενοι μηδὲν εὖ πράττειν οὐκ εὐφραίνονται, οἱ δὲ ἡγούμενοι καλῶς προχωρεῖν ἑαυτοῖς ἢ γεωργίαν ἢ ναυκληρίαν ἢ ἄλλ’ ὅτι ἂν τυγχάνωσιν ἐργαζόμενοι ὡς εὖ πράττοντες εὐφραίνονται133.
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den Fang gern ab. Und derartige Lohn für die Mühe hat nur wenig Wert. Wenn sich aber jemand bemüht, gute Freunde zu bekommen und Feinde zu bezwingen, oder an Körper und Seele tüchtig zu werden, sein Hauswesen wohl zu bestellen, den Freunden wohlzutun und dem Vaterland zu nützen, dann muss man doch glauben, dass er sich gern für solche Zwecke anstrengt und voll Freude lebt, zufrieden mit sich selbst, gelobt und nachgeahmt von den anderen.“ Diese Komponenten des Glücks wiederholen sich ständig in den relevanten Kontexten. Vgl. z.B. Mem. 4.5.10: […] δι’ ὧν ἄν τις καὶ τὸ ἑαυτοῦ σῶμα καλῶς διοικήσειε καὶ τὸν ἑαυτοῦ οἶκον καλῶς οἰκονομήσειε καὶ φίλοις καὶ πόλει ὠφέλιμος γένοιτο καὶ ἐχθρῶν κρατήσειεν, ἀφ’ ὧν οὐ μόνον ὠφέλειαι, ἀλλὰ καὶ ἡδοναὶ μέγισται γίγνονται. Mem. 1.6.8: „Und das weißt du ja, dass Leute, die der Ansicht sind, es gehe ihnen nicht gut, keine Freude haben; wer aber meint, er habe Erfolg im Landbau, in der Schiffsff
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Als Sokrates ein anderes Mal gefragt wurde, welche Beschäft ftigung er für die beste für den Menschen halte (κράτιστον ἀνδρὶ ἐπιτήδευμα), antwortete er: εὐπραξία. Weiter beruht dieser Passus auf einem Wortspiel. Das Wort εὐπραξία (auch εὐπραγία) kann ‚Wohlergehen‘ sowie ‚Erfolg‘ und ‚Glück‘ bedeuten und kann deswegen als ein Synonym des Wortes εὐτυχία dienen. Der anonyme Gesprächspartner des Sokrates setzt diese lexikalische Koinzidenz ein und fragt ihn, ob auch die εὐτυχία als eine Beschäftigung ft gelten könne (εἰ καὶ τὴν εὐτυχίαν ἐπιτήδευμα νομίζοι εἶναι). Sokrates erwidert: πᾶν μὲν οὖν τοὐναντίον ἔγωγ’, ἔφη, τύχην καὶ πρᾶξιν ἡγοῦμαι. τὸ μὲν γὰρ μὴ ζητοῦντα ἐπιτυχεῖν τινι τῶν δεόντων εὐτυχίαν οἶμαι εἶναι, τὸ δὲ μαθόντα τε καὶ μελετήσαντά τι εὖ ποιεῖν εὐπραξίαν νομίζω, καὶ οἱ τοῦτο ἐπιτηδεύοντες δοκοῦσί μοι εὖ πράττειν134.
Die von Sokrates gemeinte εὐπραξία ist nicht einfach das Wohlergehen schlechthin, sondern dasjenige, welches aus dem erfolgreichen Ausführen einer Beschäft ftigung folgt, die ihrerseits auf dem Wissen und der durch Übung erworbenen Fertigkeit beruht. Es war schon die Rede davon, dass die Tugend, nach der Überzeugung des Xenophontischen Sokrates, nur mit Anstrengung und Geduld erlangt werden kann, die körperlichen Vergnügen hingegen schnell und ohne Mühe erreichbar sind. Es ist offenbar, ff dass eine solche ethische Theorie, wenn nicht eine Rechtfertigung, so doch wenigstens eine Erklärung der Bedeutung der Arbeit erfordert: Wozu soll man sich dauernden Anstrengungen und Strapazen aussetzen, ständig Enthaltsamkeit trainieren und lernen? Die Antwort des Xenophontischen Sokrates ist eindeutig: Ohne Wissen und Arbeit kann der Mensch nicht glücklich sein. Und da das Glück im Ausführen der Beschäft ftigung besteht, ist klar, dass, wer nichts tut, nicht glücklich sein kann. Nach den Worten der Arete kann die Kakia kein Vergnügen kennen, weil sie unfähig ist, sich darum zu bemü-
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reederei oder etwas anderem, was er gerade betreibt, der freut sich in der Meinung, es gehe ihm gut.“ Siehe auch Mem. 3.9.15: καὶ ἀρίστους δὲ καὶ θεοφιλεστάτους ἔφη εἶναι ἐν μὲν γεωργίᾳ τοὺς τὰ γεωργικὰ εὖ πράττοντας, ἐν δ’ ἰατρείᾳ τοὺς τὰ ἰατρικά, ἐν δὲ πολιτείᾳ τοὺς τὰ πολιτικά. Mem. 3.9.14: „Ich halte Zufall und Tat für direkte Gegensätze, denn wenn jemandem etwas zufällt, was er gerade nötig hat, ohne es zu suchen, so nenne ich das Glückhaben. Wenn jemand aber lernt und übt und dann Erfolg hat, dann nenne ich das das Glück meistern, und wer so handelt, dem wird es nach meiner Meinung gut gehen.“ Siehe auch Mem. 2.7.7: Πότερον καὶ τῶν ἄλλων ἐλευθέρων τοὺς οὕτω ζῶντας [sc. τοὺς μηδὲν ἄλλο ποιοῦντας ἢ ἐσθίοντας καὶ καθεύδοντας] ἄμεινον διάγοντας ὁρᾷς καὶ μᾶλλον εὐδαιμονίζεις ἢ τοὺς ἃ ἐπίστανται χρήσιμα πρὸς τὸν βίον τούτων ἐπιμελομένους;
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hen . Die ohne Anstrengungen erreichbaren körperlichen Vergnügen sind vermeintliche Vergnügen, weil sie nicht nur kein Glück bringen können, sondern dem Menschen das Glück unmöglich machen136. 135
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Mem. 2.1.30: τί ἡδὺ οἶσθα μηδὲν τούτων ἕνεκα πράττειν ἐθέλουσα; Ich halte es für vollkommen berechtigt, sich auf Prodikos’ Erzählung von Herakles (Mem. 2.1.21-34) zu berufen, denn nicht nur Ideen, sondern auch alle Motive dieser Erzählung wiederholen sich mehrmals in den anderen Kapiteln der Memorabilien, in denen Sokrates schon in seinem eigenen Namen spricht, sowie in den anderen Schriften ft Xenophons. Sansones Urteil, dass Xenophon den Inhalt der Erzählung des Prodikos und sogar die Besonderheiten seiner Sprache genau wiedergibt (Sansone, 2004), wird von Gray linguistisch (Gray, 2006) und von Dorion inhaltlich (Dorion, 2008) überzeugend widerlegt. Die von Dorion zusammengestellte Tabelle der kennzeichnenden Motive zeigt, inwiefern Prodikos’ Erzählung dem Geist des Xenophontischen Sokrates entspricht (Dorion, 2008, 109-112). Ich kann dem Urteil von Tordesillas nicht zustimmen, dass die Wege der Arete und der Kakia zu demselben Ziel führen: „Les deux voies en effet ff ont le même but: la vie elle-même et son orientation“ (Tordesillas, 2008, 100), während seine Bemerkung, dass diese Wege weder zur Tugend noch zum Laster führen, völlig zutreffend ff ist. Im griechischen Text geht es um zwei mögliche Lebenswege: [οἱ νέοι] εἴτε τὴν δι’ ἀρετῆς ὁδὸν τρέψονται ἐπὶ τὸν βίον εἴτε τὴν διὰ κακίας (Mem. 2.1.21; siehe ibidem: ἀποροῦντα ποτέραν τῶν ὁδῶν τράπηται und Mem. 2.1.23: ἀποροῦντα ποίαν ὁδὸν ἐπὶ τὸν βίον τράπῃ). Aber die Äußerung ἡ ἐπὶ τὸν βίον ὁδός bedeutet einfach ‚Lebensweg‘; die Auff ffassung ‚der zum Leben führende Weg‘ oder ‚der das Leben bezweckende Weg‘ scheint mir unsinnig zu sein, denn in diesem Fall ergäbe sich, dass ‚das Leben‘ dort beginnt, wo der ‚Weg‘ endet. Das Leben ist nicht das Ziel des Wegs, sondern der Weg selbst, während das Ziel des Wegs das Glück ist. Man kann mit Tordesillas einverstanden sein, dass vor Herakles’ Augen der rhetorische Wettstreit zwischen der Arete und der Kakia verläuft ft (Tordesillas, 2008, 94 und 101), aber ich finde keinen Grund, zu behaupten, dass sie beide „également apateloi“ sind (Tordesillas, 2008, 95). M.E. kann der Grundgedanke der Erzählung folgendermaßen zusammengefasst werden: Der Weg der Tugend führt in der Tat zum Glück, der Weg des Lasters hingegen entfernt von ihm, obwohl die Kakia behauptet, dass das Ziel ihres Wegs das gleiche sei wie das Ziel des Wegs der Arete. Es wird mehrmals darauf hingewiesen, dass der Kakia der Betrug eigen ist: in der Beschreibung ihres Aussehens (2.1.22: τὸ μὲν χρῶμα ὥστε λευκοτέραν τε καὶ ἐρυθροτέραν τοῦ ὄντος δοκεῖν φαίνεσθαι, τὸ δὲ σχῆμα ὥστε δοκεῖν ὀρθοτέραν τῆς φύσεως εἶναι); in der Gegenüberstellung der Rede der Arete und des lügnerischen Versprechens der Kakia (2.1.27: οὐκ ἐξαπατήσω δέ σε προοιμίοις ἡδονῆς, ἀλλ’ ᾗπερ οἱ θεοὶ διέθεσαν τὰ ὄντα διηγήσομαι μετ’ ἀληθείας – das sind die Worte der Arete, die sie zur Antwort auf den Monolog der Kakia sagt) und in den Worten der Arete, die direkt auf den lügenhaften ft Charakter ihrer Rivalin hinweist (2.1.31: τίς δ’ ἄν σοι λεγούσῃ τι πιστεύσειε; […] ἢ τίς ἂν εὖ φρονῶν τοῦ σοῦ θιάσου τολμήσειεν εἶναι;). Wenn die Kakia behauptet, dass ihr Weg zu demselben Ziel führt, betrügt sie Herakles, denn am Ende ihres Weges wartet das Unglück
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In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob der Mensch nicht glücklich sein kann, wenn er seine Arbeit aus irgendwelchen Gründen nicht ausführen kann oder sie erfolglos ausführt. Versuchen wir, die Antwort darauf in den Äußerungen des Xenophontischen Sokrates über sich selbst zu finden. Bemerkenswert sind seine Worte zu seinen Freunden: ἐγὼ μὲν οἶμαι fi ὡς εὐπραγοῦντος ἐμοῦ πᾶσιν ὑμῖν εὐθυμητέον εἶναι137. Interessant daran ist, dass Sokrates in der Beschreibung seines Zustands und seiner Lage vor der Hinrichtung gerade das Verb εὐπραγέω verwendet, während Wörter mit diesem Stamm in Xenophons Schriften ft selten vorkommen. Die εὐπραξία mit der Bedeutung ‚Wohlergehen‘ kommt einmal in Mem. 3.9.8. vor; die εὐπραγία mit derselben Bedeutung einmal in Oec. 9.12. Außer diesen beiden Fällen gibt es nur noch zwei, nämlich in dem oben erwähnten Abschnitt Mem. 3.9.14, wo das Wort εὐπραξία eine besondere, eigentlich sokratische Bedeutung hat, und die eben zitierten Worte aus der Apologie, wo Sokrates zu der Verbform mit diesem Stamm greift ft. Angesichts der niedrigen Anzahl der Stellen, an denen dieses Wort mit seiner üblichen Bedeutung vorkommt, einerseits und andererseits im Hinblick darauf, dass ein ganzer Passus der Erläuterung des besonderen ‚sokratischen‘ Sinnes dieses Wortes gewidmet ist, liegt die Hypothese nahe, wenn sie auch nicht beweisbar ist, dass Sokrates auch in der Apologie von seinem eigenen Wohlergehen spricht, das auf dem erfolgreichen Ausführen seiner Beschäft ftigung beruht. Wenn man aber immerhin Zweifel an der Bedeutung dieses Wortes in diesem Zusammenhang hegen kann, sagt Sokrates an einer anderen Stelle der Apologie schon ganz direkt, dass seine Mühen nicht vergebens, d.h. nicht erfolglos, gewesen sind (§17: οὐ μάτην ἐπόνουν), und im folgenden nennt er Zeugnisse seines Erfolgs. Seine Beschäft ftigung war freilich nicht Ackerbau oder ärztliche Tätigkeit, sondern ständige Untersuchung (§16: οὐπώποτε διέλιπον καὶ ζητῶν καὶ μανθάνων ὅ τι ἐδυνάμην ἀγαθόν). Darüber spricht er in dem bereits erwähnten Dialog mit Antiphon: οἴει οὖν ἀπὸ πάντων τούτων [sc. γεωργίας ἢ ναυκληρίας] τοσαύτην ἡδονὴν εἶναι ὅσην ἀπὸ τοῦ ἑαυτόν τε ἡγεῖσθαι βελτίω γίγνεσθαι καὶ φίλους ἀμείνους κτᾶσθαι; ἐγὼ τοίνυν διατελῶ ταῦτα νομίζων138.
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auf Herakles. Es geht hier folglich nicht um die verschiedenen Mittel zur Erreichung desselben Ziels, sondern um die verschiedenen Ziele, von denen eines für das andere ausgegeben wird (contra Tordesillas, 2008, 104). Apol. 27. Mem. 1.6.9: „Glaubst du nun, all das verschaff ffe so viel Vergnügen wie die Meinung, man werde selbst besser oder man mache seine Freunde besser? Ich selbst jedenfalls bin ständig dieser Ansicht.“
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Vor diesen Worten spricht Sokrates von der Freude derjenigen, die erfolgreich ihre Arbeit im Ackerbau oder in der Seefahrt ausführen, und in diesem Passus stellt er ihrer Freude seine eigene gegenüber. Deshalb kann man mit vollem Recht behaupten, dass Sokrates meint, dass es ihm gelingt, seine Beschäft ftigung mit Erfolg auszuführen. Außerdem gibt er zu verstehen, dass die erfolgreiche Erfüllung seiner Aufgaben und das Gefühl seines Erfolgs ihm volle Befriedigung gewährt: οὐκ οἶσθ’, ὅτι μέχρι μὲν τοῦδε τοῦ χρόνου ἐγὼ οὐδενὶ ἀνθρώπων ὑφείμην ἂν οὔτε βέλτιον οὔθ’ ἥδιον ἐμοῦ βεβιωκέναι; ἄριστα μὲν γὰρ οἶμαι ζῆν τοὺς ἄριστα ἐπιμελομένους τοῦ ὡς βελτίστους γίγνεσθαι, ἥδιστα δὲ τοὺς μάλιστα αἰσθανομένους, ὅτι βελτίους γίγνονται. ἃ ἐγὼ μέχρι τοῦδε τοῦ χρόνου ᾐσθανόμην ἐμαυτῷ συμβαίνοντα […]139.
Der Xenophontische Sokrates spricht zweimal darüber, dass derjenige am angenehmsten lebt, der fühlt, dass er besser wird140. Das bedeutet, dass der Weg zur Vollkommenheit in Schritte aufgeteilt wird: Der Mensch wird ein wenig besser, dann noch ein wenig, und dann noch ein wenig. In den sokratischen Schrift ften Xenophons gibt es kein Material, welches die Frage beantworten ließe, worin eigentlich der Prozess der Selbstverbesserung besteht. Aber wir haben allen Grund, zu vermuten, dass die Schritte auf diesem Weg ein allmählicher Erwerb des Wissens sind. Xenophons Sokrates sagt nichts darüber, ob es ein begrenzter oder unbegrenzter Prozess ist und ob das Wissen erschöpfb fbar ist oder nicht, aber er gibt klar zu verstehen, dass dieser Prozess selbst ihn glücklich macht. In der Apologie wiederholt Sokrates wörtlich auch die zweite Bedingung des Glücks – die Notwendigkeit, mit sich selbst zufrieden zu sein (ἀγάμενος ἐμαυτόν) –, wie sie von ihm in Mem. 2.1.20 formuliert wurde (ἀγαμένους ἑαυτούς): ὅπερ γὰρ ἥδιστόν ἐστιν, ᾔδειν ὁσίως μοι καὶ δικαίως ἅπαντα τὸν βίον βεβιωμένον. ὥστε ἰσχυρῶς ἀγάμενος ἐμαυτὸν ταὐτὰ εὕρισκον καὶ τοὺς ἐμοὶ συγγιγνομένους γιγνώσκοντας περὶ ἐμοῦ141.
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Mem. 4.8.6-7: „Weißt du nicht, dass ich bis heute keinem Menschen zugestehen würde, er habe besser und angenehmer gelebt als ich? Denn nach meiner Meinung lebt der am besten, der am meisten danach strebt, gut zu werden, am angenehmsten aber, wer am meisten fühlt, dass er sich immer mehr bessert. Und ich spürte bis auf den heutigen Tag, dass mir dieses gelang.“ Mem. 1.6.9: ἑαυτόν τε ἡγεῖσθαι βελτίω γίγνεσθαι; Mem. 4.8.6: τοὺς μάλιστα αἰσθανομένους ὅτι βελτίους γίγνονται. Siehe auch Dorion & Bandini, 2000, 155. Apol. 5: „Ich weiß doch, und darüber bin ich glücklich, dass ich mein ganzes Leben fromm und gerecht verbracht habe. Wenn ich dieses Bewusstsein habe, so weiß ich, dass auch meine Anhänger das erkannt haben, und mich deswegen bewundern.“
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Der Begriff ff der Tugend
Kommen wir zur oben gestellten Frage zurück, ob der Mensch glücklich sein kann, wenn er aus irgendwelchen Gründen keine Möglichkeit hat, seine Arbeit erfolgreich auszuführen oder seiner Beschäftigung ft nachzugehen. Von seinem Tod sagt Sokrates, dass er zur rechten Zeit kommt: νῦν δὲ εἰ ἔτι προβήσεται ἡ ἡλικία, οἶδ’ ὅτι ἀνάγκη ἔσται τὰ τοῦ γήρως ἀποτελεῖσθαι καὶ ὁρᾶν τε χεῖρον καὶ ἀκούειν ἧττον καὶ δυσμαθέστερον εἶναι καὶ ὧν ἔμαθον ἐπιλησμονέστερον. ἢν δὲ αἰσθάνωμαι χείρων γιγνόμενος καὶ καταμέμφωμαι ἐμαυτόν, πῶς ἄν, εἰπεῖν, ἐγὼ ἔτι ἂν ἡδέως βιοτεύοιμι142;
Im letzten Kapitel der Memorabilien wird all das wiederholt, mit einer Ergänzung: Die Denkfähigkeit des Menschen wird in seinem fortgeschrittenen Lebensalter schlechter (διανοεῖσθαι χεῖρον143). In der Apologie behauptet Sokrates, dass der Mensch nicht mehr mit Vergnügen leben kann, wenn er fühlt, dass er immer schlechter wird, und deswegen nicht mehr zufrieden mit sich selbst ist. Und im Epilog der Memorabilien spricht er noch präziser: Das Leben ist unangenehm nicht nur, wenn der Mensch fühlt, dass er immer schlechter wird, sondern auch, wenn er das nicht fühlt, ist sein Leben nicht lebenswert: ἀλλὰ μὴν ταῦτά γε μὴ αἰσθανομένῳ μὲν ἀβίωτος ἂν εἴη ὁ βίος, αἰσθανόμενον δὲ πῶς οὐκ ἀνάγκη χεῖρόν τε καὶ ἀηδέστερον ζῆν;
Um seine weinenden Freunde zu beruhigen, behauptet Sokrates, dass man sich hingegen freuen müsse, dass er so rechtzeitig sterbe, ohne im Unglück gelebt zu haben: ἀλλὰ μέντοι εἰ μὲν ἀγαθῶν ἐπιρρεόντων προαπόλλυμαι, δῆλον ὅτι ἐμοὶ καὶ τοῖς ἐμοῖς εὔνοις λυπητέον. εἰ δὲ χαλεπῶν προσδοκωμένων καταλύω τὸν βίον, ἐγὼ μὲν οἶμαι ὡς εὐπραγοῦντος ἐμοῦ πᾶσιν ὑμῖν εὐθυμητέον εἶναι144.
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Apol. 6: „Wenn jetzt aber das Leben weitergeht, dann werden sich, das weiß ich, notwendigerweise die Folgen des Alters einstellen, ich werde schlechter sehen, weniger gut hören, schwerer lernen, und was ich lernte, schneller vergessen. Wie aber sollte ich mit Vergnügen leben, wenn ich merke, dass meine Kräfte ft abnehmen und ich nicht mehr zufrieden mit mir bin?“ Mem. 4.8.8. Siehe auch 4.8.1: εἶτα ὅτι τὸ μὲν ἀχθεινότατον τοῦ βίου καὶ ἐν ᾧ πάντες τὴν διάνοιαν μειοῦνται ἀπέλιπεν. Siehe auch Brandt, 2010, 45: „Natürlich war auch der Griff ff des alten Sokrates zum Schierlingsbecher – um hier von der Frage abzusehen, ob diese von den Athenern erzwungene Handlung überhaupt als suizidale Tat gelten kann – kein auf sein hohes Alter zurückzuführender Akt.“ Mir scheint beachtenswert, dass Xenophon den Tod des Sokrates wenn nicht als den Selbstmord darzustellen sucht, dann wenigstens als den Tod, der gerade wegen des bald kommenden Alters sehr erwünscht ist. Apol. 27: „Wenn ich allerdings zu früh sterben müsste, solange noch das Gute in Menge zuströmt, dann müsste ich mit den mir Wohlgesinnten trauern. Wenn ich aber das
Das Glück
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Sokrates behauptet also, dass er nicht glücklich sein kann, wenn er keine Möglichkeit oder keine Fähigkeit hat, seine Beschäft ftigung – besser zu werden – mit Erfolg auszuführen und mit sich selbst zufrieden zu sein. Und in diesem Fall sei es besser, zu sterben, als im Unglück leben. Aus allem Gesagten folgt der Schluss, dass, um glücklich zu sein, der Mensch nicht nur über die Tugend verfügen muss, sondern er auch günstige Bedingungen braucht, um seine Beschäft ftigung erfolgreich ausführen zu können. Obwohl die Tugend eine notwendige Bedingung des Glücks ist, ist sie allein doch unzureichend, da sogar der tugendhaft fte Mensch unglücklich sein kann, wenn er seine Beschäft ftigung nicht mit Erfolg und mit Befriedigung ausführen kann, und sogar der tugendhafte ft Mensch kann sich in einer solchen Situation finden, in der es für ihn besser sein kann, zu sterben als zu leben. Sicher muss man das Glück des Xenophontischen Sokrates selbst und das Glück der anderen Menschen auseinanderhalten. Dieser Unterschied wurzelt im Unterschied der Beschäft ftigungen, welche Sokrates ausführt und welche andere Menschen ausführen. In diesem Zusammenhang ist das schon mehrmals erwähnte Gespräch des Sokrates mit Antiphon beachtenswert. Antiphon behauptet, dass er geglaubt hatte, dass das Philosophieren den Menschen glücklicher mache, aber die Figur des Sokrates beweise seiner Meinung nach das Gegenteil145. Um diesen Vorwurf abzuwehren, erwidert Sokrates, dass er nicht im geringsten unglücklicher als jeder andere Mensch sei, dem seine Beschäft ftigung gelinge. Außerdem sei er überzeugt, dass seine Freude am Leben größer als die Freude der anderen Menschen sei, die sich z.B. mit dem Ackerbau beschäft ftigen. Da er aber versteht, dass sein Glück demjenigen nicht attraktiv scheinen kann, der seine Ansichten nicht teilt, spricht Sokrates nachher darüber, dass gerade er in der Tat mehr als die anderen imstande ist, den Freunden zu helfen und dem Staat Nutzen zu bringen146. Um Antiphon zu überzeugen, dass sein Leben ein glückliches Leben ist, nennt Sokrates das, was sein Gesprächspartner für Glück hält, d.h. was alle Menschen für Glück halten147. Während einerseits dieser Dialog demonstriert, dass nur Sokrates, um glücklich zu sein, ständig besser werden muss, beweist er andererseits, dass das Glück aller Menschen durch das erfolgreiche Ausführen ihrer Beschäft ftigung bedingt ist.
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Leben beende, wo das Schwere zu erwarten ist, dann meine ich, müsst ihr alle frohen Mutes sein, da ich glücklich bin.“ Mem. 1.6.2: ἐγὼ μὲν ᾤμην τοὺς φιλοσοφοῦντας εὐδαιμονεστέρους χρῆναι γίγνεσθαι. σὺ δέ μοι δοκεῖς τἀνατία τῆς φιλοσοφίας ἀπολελαυκέναι. Mem. 1.6.9. Siehe oben Mem. 2.1.18-20.
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Der Begriff ff der Tugend
Jetzt ist noch die letzte von den drei Bedingungen des Glücks zu betrachten: das Bedürfnis des Menschen nach Lob und Anerkennung. Wenn Sokrates dem Euthydemus zu erklären sucht, warum man sich selbst erkennen muss, sagt er unter anderem das folgende: καὶ οἱ μὲν εἰδότες ὅ τι ποιοῦσιν ἐπιτυγχάνοντες ὧν πράττουσιν εὔδοξοί τε καὶ τίμιοι γίγνονται. […] οἱ δὲ μὴ εἰδότες ὅ τι ποιοῦσι, κακῶς δὲ αἱρούμενοι καὶ οἷς ἂν ἐπιχειρήσωσιν ἀποτυγχάνοντες οὐ μόνον ἐν αὐτοῖς τούτοις ζημιοῦνταί τε καὶ κολάζονται, ἀλλὰ καὶ ἀδοξοῦσι διὰ ταῦτα καὶ καταγέλαστοι γίγνονται καὶ καταφρονούμενοι καὶ ἀτιμαζόμενοι ζῶσιν148.
Nach der Überzeugung des Xenophontischen Sokrates kann derjenige, der sich an die Beschäft ftigung macht, für welche er die erforderlichen Kenntnisse hat, und sie mit Erfolg ausführt, der Achtung und der Anerkennung nicht entbehren. Deswegen lässt sich sagen, dass das wichtigste Unterpfand des Glücks das erfolgreiche Ausführen der eigenen Beschäft ftigung ist, weil es bestimmt vom Gefühl der inneren Befriedigung und von der Anerkennung der anderen Menschen immer begleitet ist. Es ist nicht von ungefähr, dass der Weg zur Anerkennung derselbe ist wie der Weg zum erfolgreichen Ausführen einer Beschäft ftigung, nämlich der Erwerb des Wissens und der Fachkenntnisse: ἀεὶ γὰρ ἔλεγεν, ὡς οὐκ εἴη καλλίων ὁδὸς ἐπ’ εὐδοξίαν ἢ δι’ ἧς ἄν τις ἀγαθὸς τοῦτο γένοιτο, ὃ καὶ δοκεῖν βούλοιτο149.
Sokrates’ fester Glaube daran, dass der erfolgreiche Arbeiter von der Anerkennung immer begleitet wird, kann übrigens unbegründet scheinen: Man kann sich leicht einen tugendhaften ft Menschen vorstellen, der seine Beschäf-
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Mem. 4.2.28-29: „Wer weiß, was er tut, der hat auch Glück in seinem Tun, er wird berühmt und wird von allen geehrt. […] Wer aber nicht weiß, was er tut, das Falsche wählt und in allem Pech hat, was er unternimmt, der hat nicht nur selbst die Folgen zu tragen, sondern er kommt deswegen in schlechten Ruf, wird zum Gespött und lebt verachtet und entehrt.“ Mem. 1.7.1: „Er wiederholte nämlich immer, es gebe keinen schöneren Weg zum Ruhm, als wenn jemand in der Sache wirklich tüchtig werde, in der er es auch scheinen wolle“; siehe auch Mem. 3.6.17-18. Derselbe Weg führt auch zum Glück, wie oben betrachtet wurde. Siehe z.B. Mem. 4.1.2 und S. 103 Anm. 22. Bemerkenswert ist ebenfalls, dass der jüngere Perikles im Gespräch mit Sokrates über den sittlichen Verfall der Athener von der Notwendigkeit spricht, ihr früheres Streben nach der Tugend, der Anerkennung und dem Glück wiederzubeleben: […] πῶς ἂν αὐτοὺς προτρεψαίμεθα πάλιν ἀνερασθῆναι τῆς ἀρχαίας ἀρετῆς τε καὶ εὐκλείας καὶ εὐδαιμονίας (Mem. 3.5.7). Die Verbindung gerade dieser drei Begriff ffe bei der Beschreibung eines moralischen ‚Ideals‘ scheint mir nicht zufällig zu sein.
Das Glück
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tigung vortrefflich ffl ausführt, aber nicht anerkannt ist. Der Xenophontische Sokrates behauptet aber mehrmals, dass kein Meister seiner Beschäft ftigung ohne Verehrer bleibt: Das Wissen ist der sicherste Weg zum Lob und zur Anerkennung. Im Text Xenophons geht es so oft ft um die Anerkennung, den Ruhm und die Ehre, dass kein Bedarf besteht, alle Stellen anzuführen150. Die Häufi figkeit dieses Motivs ist m.E. damit zu erklären, dass der Xenophontische Sokrates in allen seinen Gesprächspartnern den – offenen ff oder heimlichen – Wunsch nach Ruhm sieht. Und wenn er einerseits diesen Wunsch billigt und die ehrgeizigen Absichten gutheißt und andererseits doch beständig behauptet, dass nur der Wissende den Erfolg erreichen kann151, ermahnt Sokrates auf diese Weise alle seine Gesprächspartner, nicht nach dem Ruhm, sondern nach dem Wissen zu streben; und den Ruhm verspricht er ihnen, wie auch die Arete dem Herakles152, als Belohnung. Das ist bemerkenswert, weil Sokrates selbst, damit er sich für glücklich hält, die Empfi findung seiner Verbesserung allein genügt, wie aus den oben zitierten Passagen folgt. Sokratisches Glück braucht keine Anerkennung der anderen153. In allen anderen Fällen aber berücksichtigt Sokrates die üblichen Wünsche der Menschen, und, ohne die menschliche Natur zu verändern zu versuchen, überzeugt er seine Gesprächspartner mit den logischen, rationalen Argumenten von der Notwendigkeit des Wissens. Es kommt nicht von ungefähr, dass die üblichen Bestrebungen der Menschen für die Auff ffassung des Glücks in den Dialogen in Betracht gezogen werden, die beweisen sollen, dass Sokrates zur moralischen Entwicklung seiner Gesprächspartner beitrug.
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Eine solche Liste siehe z.B. in Dorion, 2008, 102 f. Mem. 4.1.5: ἠλίθιος δὲ καὶ εἴ τις οἴεται διὰ τὸν πλοῦτον, μηδὲν ἐπιστάμενος, δόξειν τι ἀγαθὸς εἶναι ἤ, μηδὲν ἀγαθὸς εἶναι δοκῶν, εὐδοκιμήσειν. Mem. 2.1.33. Indem Sokrates sein Urteil über sich selbst beschreibt, erwähnt er, dass auch seine Freunde immer derselben Meinung über ihn waren wie er selbst (Mem. 4.8.7; Apol. 5), aber er sagt nie, dass seine Freunde ihn lobpreisten. Und obwohl er weissagt, dass er nach seinem Tod Ruhm gewinnen und man ihn nie vergessen werde (Apol. 26; 29; Mem. 4.8.10), ist es offensichtlich, ff dass das auf sein Gefühl des Glückes beim Leben nicht im geringsten einwirkt.
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Der Begriff ff der Tugend
Im Begriff ff der Tugend in der Ethik des Xenophontischen Sokrates treff ffen Züge des Rationalismus, Eudämonismus und Utilitarismus zusammen: Tugend ist Wissen vom Nützlichen, womit das Nützliche für das Glück des Menschen gemeint ist; das Ziel aller Handlungen des Menschen ist sein Glück; Tugend dient als notwendiges Instrument, um dieses Ziel zu erreichen. Als Wissen kann die Tugend erlernt werden und ist deshalb theoretisch für alle Menschen erreichbar; sie hängt vor allem von der Ausbildung ab und kann keinem Menschen angeboren sein. Wie alle anderen Kenntnisse kann auch die Tugend verloren gehen, und da die Enthaltsamkeit ihre Grundlage ist, geht eben die Tugend mit dem Verlust der Enkrateia am schnellsten verloren. Der Mensch kann deswegen irgendein praktisches und technisches Wissen ohne Tugend besitzen, er kann aber nicht ohne Tugend glücklich sein.
IV Der Begriff ff der Freundschaft Im Rahmen seiner Ethik entwirft ft Xenophons Sokrates ein Freundschaft ftsmodell, dessen utilitaristischer Charakter in dem allen Menschen angeborenen Egoismus begründet liegt: Da alle Menschen immer nach dem eigenen Wohl streben, wie und wozu kann die Freundschaft ft zwischen ihnen entstehen?
1. Freundschaft ft und Nutzen Der utilitaristischen Ethik des Xenophontischen Sokrates entspricht auch seine Vorstellung von der auf Nutzen beruhenden Freundschaft ft. Gleichzeitig werden damit auch Xenophons apologetische Ziele geschickt verfolgt: Sokrates hatte viele Freunde – das bedeutet, dass Sokrates tugendhaft ft war, da nur tugendhafte ft Menschen Freunde haben können, und dass Sokrates nützlich war, da niemand einen nutzlosen Menschen sich zum Freund macht. Laut der Behauptung des Xenophontischen Sokrates ist den Menschen sowohl eine freundliche als auch eine feindliche Neigung eigen: φύσει γὰρ ἔχουσιν οἱ ἄνθρωποι τὰ μὲν φιλικά· δέονταί τε γὰρ ἀλλήλων καὶ ἐλεοῦσι καὶ συνεργοῦντες ὠφελοῦσι καὶ τοῦτο συνιέντες χάριν ἔχουσιν ἀλλήλοις· τὰ δὲ πολεμικά· τά τε γὰρ αὐτὰ καλὰ καὶ ἡδέα νομίζοντες ὑπὲρ τούτων μάχονται καὶ διχογνωμονοῦντες ἐναντιοῦνται· πολεμικὸν δὲ καὶ ἔρις καὶ ὀργή· καὶ δυσμενὲς μὲν ὁ τοῦ πλεονεκτεῖν ἔρως, μισητὸν δὲ ὁ φθόνος1.
Der Hang zur Freundschaft ft fußt darauf, dass jeder Mensch seinerseits Hilfe braucht, doch andererseits Mitgefühl mit der Not des Anderen hat. Hier tritt aber seine feindliche Natur in Aktion: Der Mensch hat nur Mitgefühl, solange seine eigenen Interessen nicht verletzt werden. Nach Xenophons Sokrates sind also alle Menschen Egoisten von Natur. Daraus folgt der klare Schluss, dass nur diejenigen Freundschaft ft schließen können, die ihre angeborene feindliche oder in anderen Worten egoistische Neigung gewissermaßen überwältigen können:
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Mem. 2.6.21: „Von Natur besitzen die Menschen den Hang zur Freundschaft. ft Sie brauchen einander, sie bemitleiden sich gegenseitig, helfen einander durch Unterstützung, und da sie das einsehen, sind sie einander dankbar. Andererseits aber haben sie den Trieb zur Feindschaft ft. Wenn sie das Gleiche für schön und angenehm halten, kämpfen sie darum, und wenn sie verschiedener Meinung sind, widersprechen sie einander. Aber auch Streit und Zorn sind kriegerische Eigenschaften, ft und feindlich ist die Liebe zum Ehrgeiz, hassenswert der Neid.“
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Der Begriff ff der Freundschaft
ἀλλ’ ὅμως διὰ τούτων πάντων ἡ φιλία διαδυομένη συνάπτει τοὺς καλούς τε κἀγαθούς. διὰ γὰρ τὴν ἀρετὴν αἱροῦνται μὲν ἄνευ πόνου τὰ μέτρια κεκτῆσθαι μᾶλλον ἢ διὰ πολέμου πάντων κυριεύειν […]· δύνανται δὲ καὶ τὴν ἔριν οὐ μόνον ἀλύπως, ἀλλὰ καὶ συμφερόντως ἀλλήλοις διατίθεσθαι […]2.
Es wäre aber falsch zu behaupten, dass die καλοὶ κἀγαθοί bereit sind, ihre eigenen Interessen für Interessen der Freunde zu opfern. Die Ethik des Xenophontischen Sokrates enthält keinen Begriff ff des Altruismus: Jeder Mensch handelt immer so, wie er es für vorteilhaft ft für sich selbstt hält3. Aus diesem Grund sind nur diejenigen zur Freundschaft ft fähig, die die Tugend besitzen (und folglich nur enthaltsame und beherrschte Menschen), weil nur diese das Wissen vom Nützlichen haben, dank welchem der Mensch erkennen kann, dass freundschaftliche ft Beziehungen zu unterhalten und in einigen Fällen des Interessenkonfl fliktes sogar ein Zugeständnis an die andere Seite zu machen letzten Endes für ihn vorteilhaft fter und nützlicher ist als die sofortige Befriedigung seiner eigenen Wünsche. So besteht der wichtigste Grund für eine Freundschaft ft nicht in der Sympathie für einen Anderen, sondern im Streben nach dem eigenen Wohl. Die Freundschaft ft beruht deshalb auf der Tugend, d.h. auf dem Wissen vom Nützlichen4. Der Mensch, der keine Tugend besitzt, kann keine Freundschaft ft mit jemandem schließen, weil er, indem er die Zukunft ftsaussichten nicht einschätzen kann, die augenblickliche Befriedigung eines bestimmten Wunsches für das Wohl hält, welche in
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Mem. 2.6.22-23: „Aber trotzdem schlüpft ft durch alles dies die Freundschaft ft hindurch und verbindet die Edlen. Denn wegen der Tugend wählen diese lieber einen mäßigen Besitz ohne Mühe, als dass sie durch Kampf alles in ihre Gewalt bringen. […] Sie können auch den Streit nicht nur ohne Kränkung, sondern sogar mit gegenseitigem Nutzen beenden […].“ Mem. 3.9.4: πάντας γὰρ οἶμαι προαιρουμένους ἐκ τῶν ἐνδεχομένων ἃ οἴονται συμφορώτατα αὐτοῖς εἶναι, ταῦτα πράττειν. Siehe darüber oben S. 116 ff. ff Morrison findet in dieser Passage „la plus nette déclaration d’égoïsme socratique“, in seiner Terminologie ist es „l’égoïsme psychologique“: „tout être humain a, de fait, pour but ultime de toutes ses actions, son propre bonheur“ (Morrison, 2008, 11 und 13). Deswegen kann ich dem folgenden Urteil von Dorion nicht völlig beistimmen: „[…] Xénophon donne ainsi à son lecteur l’impression que la vertu n’est pas indispensable à l’amitié et que la principale, voire l’unique motivation des liens d’amitié est la recherche de la satisfaction des intérêts personnels“ (Dorion, 2006a, 277). Das Ziel desjenigen, der Freunde zu gewinnen strebt, ist die Befriedigung seiner eigenen Interessen. Doch kann nur der tugendhafte ft Mensch sein Wohl erreichen, d.h. seine Interessen befriedigen, deshalb ist die Tugend, sosehr es paradox scheinen kann, eine notwendige Voraussetzung der Freundschaft ft, obwohl jeder Mensch in der Ethik des Xenophontischen Sokrates vor allem ein Egoist ist.
Freundschaft ft und Nutzen
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der Tat aber zur Erreichung des Guten letzten Endes weniger nützlich ist als die Aufrechterhaltung der Freundschaft. ft In der Situation des Interessenkonfliktes können solche Menschen keinen Kompromiss miteinander schließen, jeder strebt hingegen nach der Befriedigung eigener augenblicklicher Wünsche, so dass die Menschen, die keine Tugend haben, immer füreinander Feinde sind5. 5
Siehe Kritobulos’ Worte aus dem wichtigsten Dialog derjenigen Gespräche, welche ft gewidmet sind: οὔτε γὰρ τοὺς in den Memorabilien dem Thema der Freundschaft πονηροὺς ἀλλήλοις δυναμένους εἶναι· πῶς γὰρ ἂν ἢ ἀχάριστοι ἢ ἀμελεῖς ἢ πλεονέκται ἢ ἄπιστοι ἢ ἀκρατεῖς ἄνθρωποι δύναιντο φίλοι γενέσθαι; οἱ μὲν οὖν πονηροὶ πάντως ἔμοιγε δοκοῦσιν ἀλλήλοις ἐχθροὶ μᾶλλον ἢ φίλοι πεφυκέναι (Mem. 2.6.19). In diesem Punkt ist meine Meinung der Ansicht Dorions entgegengesetzt, der behauptet, die Tugend sei keine notwendige Voraussetzung der Freundschaft ft (Dorion, 2006a, 277 f.). Zur Bekräft ftigung seiner Einstellung beruft ft sich Dorion auf Prodikos’ Erzählung von Herakles am Scheideweg: Wäre die Tugend für die Freundschaft ft notwendig, könnte die Kakia – so Dorion – keine Freunde haben, doch gebe die Arete selbst zu, dass die Kakia Freunde habe (Dorion, 2006a, 278; an anderer Stelle bemerkt er aber, die Kakia entbehre der Freunde: Dorion, 2004b, 61: „[…] le Vice […] a été exclu de la communauté des dieux et est désormais privé d’amis“). Die Arete sagt wirklich zu der Kakia Folgendes: οὕτω παιδεύεις τοὺς σεαυτῆς φίλους (Mem. 2.1.30), aber m.E. werden hier nicht ‚Freunde‘, sondern eher ‚Anhänger‘ gemeint – ferner bezeichnet die Arete sie mit dem Wort θίασος (2.1.31: τοῦ σοῦ θιάσου τολμήσειεν εἶναι). Während Freunde grundsätzlich gleiche Stellungen einnehmen und gegenseitige Hilfe und Dienst leisten, sind die Beziehungen der Kakia mit ihren Anhängern von einer anderen Art: Sie führt sie auf ihrem Weg und sie werden von ihr geleitet; sie leistet ihnen Dienste, während sie sich um sie nicht kümmern. Wenn die Arete von der Kakia spricht, verwendet sie das Wort φίλοι in einem anderen und weiteren Sinne. Von Bedeutung ist, dass die Kakia unter ihresgleichen keine Freunde hat – darauf weist wieder die Arete selbst hin: ἀθάνατος δὲ οὖσα ἐκ θεῶν μὲν ἀπέρριψαι (Mem. 2.1.31). Dass die den Weg der Kakia gehenden Menschen den θίασος bilden, zeigt aber nicht, dass sie füreinander Freunde sein müssen: Sie haben nur das gemein, dass sie alle den Weg der Kakia gewählt haben. Im übrigen macht Xenophons Sokrates, wenn er die zur Freundschaft ft fähigen und die dazu unfähigen Menschen gegenüberstellt, wieder einmal seinen beliebten Unterschied zwischen den beherrschten und den unbeherrschten Menschen und nicht zwischen denjenigen, welche die Tugend besitzen, und denjenigen, die sie nicht besitzen. In den sokratischen Schriften ft Xenophons ist der Begriff ff der Freundschaft ft nicht so hinreichend entwickelt, als dass wir zuverlässig beurteilen könnten, welches Wissen für eine Anknüpfung der Freundschaft ft unerlässlich ist. Da aber der Begriff ff der Freundschaft ft einerseits den Status des Nützlichen hat und das Wissen vom Nützlichen andererseits ein Bestandteil der Tugend ist, muss der Mensch, um zur Freundschaft ft fähig zu sein, das die Tugend bildende Wissen wenigstens teilweise besitzen. Es ist kein Zufall, dass der Xenophontische Sokrates glaubt, seine Schüler würden immer Freunde füreinander bleiben, wenn sie sich die Notwendigkeit der Sorge um die Tugend von ihm aneigneten: Σωκράτης […] ἐπίστευε δὲ τῶν συνόντων ἑαυτῷ τοὺς ἀποδεξαμένους ἅπερ αὐτὸς ἐδοκίμαζεν εἰς τὸν πάντα βίον ἑαυτῷ τε καὶ ἀλλήλοις φίλους ἀγαθοὺς ἔσεσθαι (Mem. 1.2.8).
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Der Begriff ff der Freundschaft
Die Menschen schließen Freundschaft ft miteinander nicht wegen der Freundschaft ft selbst und nicht wegen der Sorge um die Anderen, sondern um des Nutzens willen, welchen sie bringt. Der im Vordergrund stehende Nutzen besteht in der allseitigen von dem Freund geleisteten Hilfe, in seiner Unterstützung beim Erfüllen der Aufgaben, auf welche der Mensch stößt und welche er sich stellt6. Da jeder Mensch aber, wie schon bemerkt, nach seinem eigenen Nutzen strebt, ist es offensichtlich, ff dass bevor man bei einem Freund eine Unterstützung finden fi kann, man ihm zuerst selbst Hilfe oder einen Dienst leisten muss7. Der Mechanismus der Freundschaft ft besteht in den wechselseitigen Wohltaten, die in Erwartung einer Gegenwohltat und Gegenhilfe oder aus Dankbarkeit für eine schon geleistete (was letzten Endes ein und dasselbe ist) erwiesen werden8. Sogar dann, wenn es in einer
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Mem. 2.4.6: ὁ γὰρ ἀγαθὸς φίλος ἑαυτὸν τάττει πρὸς πᾶν τὸ ἐλλεῖπον τῷ φίλῳ καὶ τῆς τῶν ἰδίων κατασκευῆς καὶ τῶν κοινῶν πράξεων, καὶ ἄν τέ τινα εὖ ποιῆσαι δέῃ, συνεπισχύει, ἄν τέ τις φόβος ταράττῃ, συμβοηθεῖ τὰ μὲν συναναλίσκων, τὰ δὲ συμπράττων καὶ τὰ μὲν συμπείθων, τὰ δὲ βιαζόμενος καὶ εὖ μὲν πράττοντας πλεῖστα εὐφραίνων, σφαλλομένους δὲ πλεῖστα ἐπανορθῶν. Mem. 2.3.11-13; 2.6.16. Neitzel zieht folgende Parallele: „Wen man dazu bewegen möchte, einem gut zu sein in Wort und Tat, dem soll man selbst zuerst (πρότερος) gut sein in Wort und Tat. Dieser sokratische Grundsatz mutet christlich an“ (Neitzel, 1981, 60). Dieser Vergleich trifft fft aber nicht zu. Die Ethik des Xenophontischen Sokrates schreibt vor, als Erster Wohltaten in der Erwartungg an die Gegenhilfe auszuteilen, d.h. mit der Absicht, die Anderen zum Helfen zu zwingen. Ebendeshalb braucht man mit den verwerfl flichen Menschen nicht befreundet zu sein, weil sie für den Freund nutzlos sind (Mem. 2.6.4: ἀνωφελής). Siehe auch Morrisons Urteil: „This Th was of course not at all a common or traditional opinion. It was Socratic, new, and revolutionary. Socrates uses this principle as a means for urging Critoboulos on toward virtue: Friends are acknowledged to be among the most valuable of possessions; but only good men can have good friends; so we must do all we can to become good“ (Morrison, 1987, 17). In diesem Zusammenhang sind folgende Worte des Sokrates zu erwähnen: καίτοι τὸ ὑπηρέτην ἑκόντα τε καὶ εὔνουν καὶ παραμόνιμον καὶ τὸ κελευόμενον ἱκανὸν ὄντα ποιεῖν ἔχειν καὶ μὴ μόνον τὸ κελευόμενον ἱκανὸν ὄντα ποιεῖν, ἀλλὰ δυνάμενον καὶ ἀφ’ ἑαυτοῦ χρήσιμον εἶναι καὶ προνοεῖν καὶ προβουλεύεσθαι πολλῶν οἰκετῶν οἶμαι ἀντάξιον εἶναι (Mem. 2.10.3; derselbe Gedanke auch in Mem. 2.4.5). Der Sklave strebt nicht, so zu helfen, wie der Freund strebt, weil der Sklave nicht auf Dankbarkeit und seinen Vorteil hofft fft; freiwillig, wohlwollend und sogar mehr als erwartet kann nur der Freund Hilfe und Dienst leisten. Wenn Sokrates seinen Sohn Lamprokles zu überzeugen versucht, seiner Mutter dankbar zu sein, beruft ft er sich darauf, dass niemand demjenigen helfen würde, der dafür bekannt ist, gegen seine Eltern undankbar zu sein: εἰ γάρ σε ὑπολάβοιεν πρὸς τοὺς γονεῖς ἀχάριστον εἶναι, οὐδεὶς ἂν νομίσειεν εὖ σε ποιήσας χάριν ἀπολήψεσθαι (Mem. 2.2.14). Aus dem entgegengesetzten Blickwinkel unterhält sich Sokrates darüber auch mit Kritobulos: Es geht in diesem Gespräch
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Situation scheinen kann, dass der Mensch um des Anderen willen etwas tut, handelt er in der Tat wegen des eigenen Wohls9. Hieraus ergibt sich, dass es keine Situationen gibt, in denen der Mensch sich als Altruist erweist, der seine eigenen Interessen für die Interessen des Anderen opfert, denn jeder Mensch handelt in jeder Situation immer so, wie er es für vorteilhaft ft für sich selbst hält. Es bleibt allerdings die Frage off ffen, auf welche Weise mögliche Interessenkonfl flikte zwischen Freunden nach Xenophons Sokrates gelöst werden können: Es bleibt uns nichts anderes übrig, als zu wiederholen, dass die tugendhaften ft Menschen, nach der Ansicht des Xenophontischen Sokrates, fähig sind, nicht nur einen Kompromiss ohne Kränkung jeder Seite, sondern auch trotz allem zu gegenseitigem Nutzen zu schließen (δύνανται δὲ καὶ τὴν ἔριν οὐ μόνον ἀλύπως, ἀλλὰ καὶ συμφερόντως ἀλλήλοις διατίθεσθαι)10. Aus allem Gesagten folgt, dass jeder Mensch nur mit denjenigen Freundschaft ft schließt, von denen er sich Nutzen erhofft fft. Mit anderen Worten: Man braucht nicht mit denjenigen befreundet zu sein, die keinen Nutzen bringen können. Eben auf diesen Grundsatz von Sokrates verwies laut Xenophon unter anderem Polykrates in seiner Anklageschrift: ft ἔφη δὲ [ὁ κατήγορος] καὶ περὶ τῶν φίλων αὐτὸν [sc. τὸν Σωκράτην] λέγειν, ὡς οὐδὲν ὄφελος εὔνους εἶναι, εἰ μὴ καὶ ὠφελεῖν δυνήσονται11.
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darum, dass man nur solche Menschen als Freunde wählen darf, die dafür bekannt sind, dass sie ihren Freunden helfen (Mem. 2.6.6-7). Selbst die Dankbarkeit gegen die Eltern ist folglich keine reine Dankbarkeit, sondern die mit der Erwartung an den zukünft ftigen Nutzen für sich selbst verbundene. Vgl. Morrison, 2008, 14: „Bien sûr, il [sc. le Socrate de Xénophon] reconnaît, et loue, le fait que les gens agissent pour le bien de leur famille, de leurs amis et de leur pays. Mais Socrate semble penser que, chaque fois que quelqu’un agit de cette façon, il croit qu’en agissant pour le bien de sa famille, de ses amis et de son pays, il agit aussi pour son propre bien“; Bevilacqua, 2010, 159: „[…] Socrate non oppone all’utilitarismo, elevato a principio normativo del comportamento umano, principi diversi, fondati su altri valori, ma si limita a biasimare un utilitarismo stupido e rozzo in nome di un utilitarismo lucido e accorto.“ Ein Mittel zur Vorbeugung gegen solche Situationen kann in dem gemeinsamen gleichberechtigten Vermögensbesitz bestehen: τὸν δὲ φθόνον παντάπασιν ἀφαιροῦσι [οἱ καλοὶ κἀγαθοὶ], τὰ μὲν ἑαυτῶν ἀγαθὰ τοῖς φίλοις οἰκεῖα παρέχοντες, τὰ δὲ τῶν φίλων ἑαυτῶν νομίζοντες (Mem. 2.6.23). Mem. 1.2.52. Der schwerwiegende Vorwurf des Polykrates bestand offensichtlich ff darin, dass Sokrates auff fforderte, auch die Beziehungen zu den Eltern nach demselben Nutzenprinzip anzusehen: ἀλλὰ Σωκράτης γε, ἔφη ὁ κατήγορος, οὐ μόνον τοὺς πατέρας, ἀλλὰ καὶ τοὺς ἄλλους συγγενεῖς ἐποίει ἐν ἀτιμίᾳ εἶναι παρὰ τοῖς ἑαυτῷ συνοῦσι, λέγων, ὡς οὔτε τοὺς κάμνοντας οὔτε τοὺς δικαζομένους οἱ συγγενεῖς ὠφελοῦσιν, ἀλλὰ τοὺς μὲν οἱ ἰατροί, τοὺς δὲ οἱ συνδικεῖν ἐπιστάμενοι (Mem. 1.2.51). Siehe auch Dorion, 2006a, 271: „Or si Socrate faisait de l’utilité la condition sine qua
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Es bleibt uns nichts anderes übrig, als das zuzugeben: Nach der Meinung des Xenophontischen Sokrates ist der Mensch keiner Freundschaft ft wert, wenn er keinen Nutzen bringen kann12. Auf Polykrates’ Vorwurf antwortet Xenophon folgenderweise: Er erinnert daran, dass die Leiche sogar des liebsten Menschen begraben wird, wenn die Seele den Körper verlassen hat, und dass jeder Mensch, solange er lebt, sich die Nägel und Haare schneidet und sich seiner Schwielen und seines Speichels entledigt, weil alles das unnütz ist (ἀχρεῖον καὶ ἀνωφελές)13. Xenophon erklärt, was Sokrates seinen Schülern damit zeigen wollte: ταῦτ’ οὖν ἔλεγεν οὐ τὸν μὲν πατέρα ζῶντα κατορύττειν διδάσκων, ἑαυτὸν δὲ κατατέμνειν, ἀλλ’ ἐπιδεικνύων, ὅτι τὸ ἄφρον ἄτιμόν ἐστι, παρεκάλει ἐπιμελεῖσθαι τοῦ ὡς φρονιμώτατον εἶναι καὶ ὠφελιμώτατον, ὅπως, ἐάν τε ὑπὸ πατρὸς ἐάν τε ὑπὸ ἀδελφοῦ ἐάν τε ὑπ’ ἄλλου τινὸς βούληται τιμᾶσθαι, μὴ τῷ οἰκεῖος εἶναι πιστεύων ἀμελῇ, ἀλλὰ πειρᾶται ὑφ’ ὧν ἂν βούληται τιμᾶσθαι, τούτοις ὠφέλιμος εἶναι 14.
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non de la philia, il n’y a aucune raison pour que l’application de ce critère soit à sens unique, c’est-à-dire limitée à un seul des deux membres d’une relation de philia, de sorte que rien n’exclut, du moins a priori, que les parents soient également soumis au réquisit de l’utilité.“ M.E. zeigt aber Sokrates’ Gespräch mit Lamprokles (Mem. 2.2), dass im Unterschied zu den Freunden die Eltern jedes Menschen ihm gewiss bereits nützlich waren (als er Kind war), deswegen ist die Freundschaft ft mit ihnen nicht auf ihren Nutzen gerichtet (was allerdings nicht ausgeschlossen ist), sondern auf den Nutzen anderer potenzieller Freunde, die die guten Beziehungen zu den Eltern für ein Merkmal der Zuverlässigkeit des Menschen halten können (siehe oben S. 158 f. Anm. 8). In diesem Zusammenhang ist noch ein Aspekt der Beziehungen zu den Eltern, nämlich zur Mutter, beachtenswert, auf welchen Dorion mit Recht hinweist: „Alors que les autres relations d’amitié doivent satisfaire à la règle de la réciprocité des bienfaits, la philia d’une mère pour son enfant est inconditionnelle et ne s’attend pas à être payée de retour“ (Dorion, 2006a, 272). Es wäre aber nicht ganz richtig zu sagen, dass die Mutter auf die Dankbarkeit für ihre Sorge „nicht rechnet“; Sokrates sagt: οὐκ εἰδυῖα, τίνα τούτων χάριν ἀπολήψεται (Mem. 2.2.5). Sie weiß nicht, ob sie einen Dank ernten wird, und wenn ja, welchen, aber sie darf darauf hoffen, ff dass ihre Kinder sich später um sie kümmern werden. Darüber spricht Ischomachos ganz offen ff im Oikonomikos und nennt Kinder Helfer und Ernährer der Eltern in ihrem hohen Alter (Oec. 7.12): Ischomachos rechnet auf die Gegensorge, d.h. auf den Nutzen von seinen Kindern. Dafür sprechen auch Sokrates’ Dialog mit Kritobulos (Mem. 2.6) und das diesem vorangehende Gespräch mit Antisthenes über den „Preis“ der Freunde (Mem. 2.5; siehe auch 2.10.4): Wenn der Freund nichts wert ist, verdient er dieselbe Behandlung wie alle nutzlosen Dinge. Mem. 1.2.53-54. Mem. 1.2.55: „Das sagte er nun, nicht weil er lehren wollte, man solle den Vater lebendig begraben und sich selbst verstümmeln, sondern er wollte zeigen, dass das Unver-
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So meinte Sokrates, Xenophon zufolge, dass man sich nicht auf das Verwandtschaft ftsverhältnis verlassen solle, sondern immer nützlich demjenigen sein solle, den man für sich als Freund gewinnen wolle. Damit widerlegt Xenophon Polykrates’ Beschuldigung aber nicht, eher bestätigt er sie: In der Anklage wurde behauptet, dass Sokrates aufforderte, ff keine Freundschaft ft mit unnützen Menschen zu schließen; Xenophon spricht aber darüber, dass der Mensch, nach Sokrates’ Behauptung, nützlich sein muss, damit die Anderen mit ihm befreundet werden wollen. Xenophon wendet die Situation um und bestätigt damit nur, dass niemand sich einen unnützen Menschen zum Freund macht. Unter der Nützlichkeit des Freundes wird, wie oben schon angedeutet, vor allem die materielle Nützlichkeit gemeint, die aus irgendeiner praktischen oder finanziellen Fähigkeit des Freundes entstehen kann, sowie aus seinen Kenntnissen und seinem Vermögen, einen nützlichen Ratschlag in einer komplizierten Situation zu geben. Gerade in solchen Ratschlägen bestand die außerordentliche Nützlichkeit des Sokrates15, die Xenophon in den Memorabilien und auch in seinen anderen sokratischen Schriften ft immer wieder betont. Seine Nützlichkeit bestand aber auch – und in diesem Punkt ist sie wahrscheinlich einzigartig – in seiner intellektuellen Hilfe für diejenigen, die nach der geistigen Selbstverbesserung strebten. In diesem Zusammenhang sind folgende Worte von Sokrates aus seinem Gespräch mit Antiphon zu beachten: ἐγὼ δ’ οὖν καὶ αὐτός, ὦ Ἀντιφῶν, ὥσπερ ἄλλος τις ἢ ἵππῳ ἀγαθῷ ἢ κυνὶ ἢ ὄρνιθι ἥδεται, οὕτω καὶ ἔτι μᾶλλον ἥδομαι φίλοις ἀγαθοῖς καὶ ἐάν τι ἔχω ἀγαθόν, διδάσκω καὶ ἄλλοις συνίστημι, παρ’ ὧν ἂν ἡγῶμαι ὠφελήσεσθαί τι αὐτοὺς εἰς ἀρετήν. καὶ τοὺς θησαυροὺς τῶν πάλαι σοφῶν ἀνδρῶν, οὓς ἐκεῖνοι κατέλιπον ἐν βιβλίοις γράψαντες, ἀνελίττων κοινῇ σὺν τοῖς φίλοις διέρχομαι, καὶ ἄν τι ὁρῶμεν ἀγαθόν, ἐκλεγόμεθα καὶ μέγα νομίζομεν κέρδος, ἐὰν ἀλλήλοις ὠφέλιμοι γιγνώμεθα16.
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nünft ftige zu nichts tauge, und er rief dazu auf, man solle dafür sorgen, so verständig und nützlich wie möglich zu sein, damit man, falls man die Hochachtung vom Vater, Bruder oder sonst jemand erringen wolle, nicht im Vertrauen auf die Verwandtschaft ft mit ihnen nachlässig sei, sondern versuche, denen zu nützen, von denen man geehrt werden wolle.“ Siehe z.B. Mem. 1.2.60; 2.7-10; Symp. 4.24. Vgl. auch Dorion, 2004c, 238. Mem. 1.6.14: „Auch ich selbst, mein lieber Antiphon, freue mich so und noch viel mehr über gute Freunde, wie sich irgendein anderer Mensch an einem guten Pferd, einem Hund oder einem Vogel freut. Und wenn ich etwas Gutes habe, dann teile ich es ihnen mit. Ich mache sie auch mit anderen bekannt, von denen sie nach meiner Meinung für ihre Tugend Nutzen haben werden. Ich schlage auch die Schätze der
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Dieser Abschnitt ist hier in doppelter Hinsicht interessant. Zum einen sprechen die Worte ἐάν τι ἔχω ἀγαθόν, διδάσκω und ὠφελήσεσθαί τι εἰς ἀρετήν dafür, dass Xenophons Sokrates seinen Freunden nicht nur in den praktischen alltäglichen Problemen nützlich ist, sondern auch beim Streben nach der Tugend: τοὺς ἀκούοντας ἐπὶ καλοκἀγαθίαν ἄγειν 17. Zum anderen sind die letzten Worte dieser Passage bemerkenswert, in denen zwei verschiedene Varianten vorkommen: ὠφέλιμοι oder φίλοι γιγνώμεθα18. Die Variante
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alten Weisen auf, die sie in Büchern aufgeschrieben hinterlassen haben, gehe sie gemeinsam mit den Freunden durch, und wenn wir etwas Schönes finden, dann wählen wir es aus. Und wir halten es für einen großen Gewinn, wenn wir einander nützlich werden.“ Ibidem. Siehe auch Sokrates’ Worte von sich selbst: εὐηργέτουν δὲ τοὺς ἐμοὶ διαλεγομένους προῖκα διδάσκων ὅ τι ἐδυνάμην ἀγαθόν (Apol. 26); und Xenophons Worte über Sokrates: εἰ δέ τις τῶν ἀρετῆς ἐφιεμένων ὠφελιμωτέρῳ τινὶ Σωκράτους συνεγένετο, ἐκεῖνον ἐγὼ τὸν ἄνδρα ἀξιομακαριστότατον νομίζω (Apol. 34). In mehreren alten Ausgaben kommt mit Hinweis auf die Handschrift ft Vossianus I die Variante ὠφέλιμοι statt der Lesart der Vulgata φίλοι vor. Die ganze Struktur der Phrase lässt vermuten, dass das σὺν τοῖς φίλοις aus dem ersten Teil dieses Satzes bei dem Schreiber eine Wiederholung des Wortes an dieser Stelle bewirken konnte. Die Tatsache, dass es in diesem Satz schon um die Freunde geht, macht die Variante φίλοι γιγνώμεθα im Originaltext kaum wahrscheinlich. Da außerdem die ganze Konstruktion eine iterative Bedeutung hat, scheint φίλοι besonders unangebracht. Erklärungen wie z.B. die von R.D.C. Robbins (Robbins, 1867, 259: „ἐὰν ἀλλήλοις φίλοι – if we (before friends) may become φίλοι, endeared (by those common pursuits); ὠφέλιμοι instead of φίλοι seems evidently to be a gloss“) oder die von W. Gilbert (Gilbert, 1888, XXV: „Nam Socrates hac sectione uberius de se exponit, quod priore sectione generatim posuit, probos homines, ut flore iuventutis, ita sapientia non pecuniam quaerere, sed bonos amicos; exponit igitur (modeste ad primam pluralis personam declinans), se tamquam fructum sapientiae id spectare, ut doctrina bonos amicos conciliet […]. Quod autem illi iam supra φίλοι dicuntur (σὺν τοῖς φίλοις), hac in re neminem puto ff sind unbegründet und nicht überzeugend. Alles zeugt von einer Veroffendere“) derbnis des Textes. Noch wichtiger ist m.E., dass die Lesart ὠφέλιμοι mit der oben beschriebenen Theorie der Freundschaft ft des Xenophontischen Sokrates perfekt im Einklang steht. Vielleicht vermutet M. Bandini zu Recht, dass es keine Hss. Vossianus I und II gab und die Varianten, die Jo.Aug. Ernesti von D. Ruhnken bekommen hatte, in Wirklichkeit die von Isaac Vossius vorgeschlagenen Korrekturen waren (Bandini, 1991, 465 und 1994, 73 ff.). Diesen Gedanken – und sogar in entschiedenerer Form – hat Fr.Aug. Bornemann in der Einleitung zu seiner Fassung von Schneiders Ausgabe geäußert (Bornemann, 1829, VI ff ff.), wir können aber am bestens mit Ernestis Worten aus seinem Kommentar ad loc. in der Ausgabe von 1772 erwidern (die übrigens auch Bornemann selbst paraphrasiert (Bornemann, 1829, XI), indem er der Vorzüglichkeit der Variante ὠφέλιμοι in Hinsicht des Sinnes zustimmt und nur ihren handschriftft lichen Ursprung bestreitet): „Pro vulgato φίλοι, quod sententiae parum aptum est,
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φίλοι wird m.E. erstens dadurch widerlegt, dass früher in diesem Satz σὺν τοῖς φίλοις gesagt wird: Sokrates liest Bücher zusammen mit seinen Freunden; es geht nicht darum, dass er durch eine gemeinsame Lektüre Leute zu Freunden gewinnt, mit denen er vorher keine freundschaftlichen ft Beziehungen hatte. Zweitens widerspricht der iterative Charakter der ganzen syntaktischen Konstruktion der Variante φίλοι, weil der Satz in diesem Fall absurd klingt: „und wir halten es für einen großen Gewinn, jedes Mal wenn wir einander Freunde werden“ – das würde bedeuten, dass Sokrates jedes Mal mit anderen zusammen liest und immer mit denen, die noch nicht zu seinem Freundeskreis gehören. Mir scheint hier deshalb die Variante ὠφέλιμοι angebracht und plausibel, die nicht nur syntaktisch im Satz sinnvoll ist („und wir halten es für einen großen Gewinn, jedes Mal wenn wir einander nützlich werden“), sondern auch mit den anderen von Sokrates in den Memorabilien
rescripsi e Ms. i. ὠφέλιμοι, quod vel sine libris in mentem debebat venire. Etenim sermo est de φίλοις, qui non φίλοι fiunt, sed utiles invicem“ (Ernesti , 51772, 48 f.). Die von diesen beiden Handschrift ften sogar fragwürdigere Hs. Voss. II (deren Verlust bedauert Ernesti in seiner Einleitung 1772) wurde von C.E. Finckh als Cod. Monac. 495 identifi fiziert (Finckh, 1830), weil sein Inhalt bis ins Einzelne mit der Beschreibung und den Hinweisen bei Ruhnken und Ernesti übereinstimmt (in Ruhnkens Animadversiones im Appendix zu Ernestis Ausgabe (Ruhnken, 1772) wird übrigens die Passage Mem. 1.6.14 nicht erwähnt). Von der Voss. I spricht Ernesti sowohl in der Einleitung als auch im Kommentar so, als ob er diese Handschrift ft mit eigenen Augen gesehen hat, so dass die Frage ihrer Historizität trotz des skeptischen Standpunktes von Bandini off ffen bleiben muss. Wenn auch Bandini in seinen Aufsätzen die beiden Vossiani „eliminiert“ hat, ist es doch seltsam, dass er in seiner Ausgabe des Textes der Memorabilien (Dorion & Bandini, 2000) sie nicht erwähnt, so dass von diesem Problem gar keine Spur bleibt. Wahrscheinlich ist es nach Bandini wichtiger, dass im Zitat von Stobaios die Variante φίλοι vorkommt, als der entstehende Mangel an Klarheit sowohl grammatisch als auch inhaltlich, sollten wir die Lesart ὠφέλιμοι ablehnen, gehöre sie zu einer Handschrift ft oder sei sie eine ausgezeichnete Konjektur eines der alten Philologen (Bandini, 1992, 26). So kommt in den beiden letzten Ausgaben der Memorabilien nur φίλοι γιγνώμεθα vor und die gleiche Übersetzung: „nous tenons pour un profit fi immense d’être amis les uns des autres“ (Dorion & Bandini, 2000, 46; siehe auch 165: „de se faire des amis grâce au savoir que l’on est prêt à partager“) und „consideriamo un grande guadagno essere amici gli uni degli altri“ (Bevilacqua, 2010, 359; Hervorhebung von mir). Diese Übersetzung der Worte ἐὰν […] γιγνώμεθα entspricht m.E. dem von Xenophon Geschriebenen nicht, denn das ist eine iterative Form für die Gegenwart des Konditionalsatzes (ἐάν + Konjunktiv in der Protasis und Präsens in der Apodosis), die „jedes Mal wenn“ oder „sooft“ ft bedeutet (siehe z.B. Kühner & Gerth, 31904, 475 f.: „Zweitens wird ἐάν verallgemeinernd gebraucht im Sinne von jedes Mal wenn, und zwar mit dem Konjunktiv des Präsens, wenn die Handlung des Hauptsatzes mit der des Bedingungssatzes gleichzeitig ist“; Smyth, 1920, 527 f.: „present general condition“).
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geäußerten Vorstellungen von Freundschaft ft, wie sie oben dargestellt wurden, übereinstimmt und sie bekräft ftigt: Auch in diesem Passus wird auf die Nützlichkeit der Freundschaft ft (und auf Sokrates’ Nützlichkeit für alle seine Freunde zugleich) hingewiesen, aber in diesem Fall geht es nicht um den materiellen und praktischen, sondern um den intellektuellen und geistigen Nutzen. In diesen Worten finden wir einen Hinweis auf die gegenseitige Hilfe des Sokrates und seiner Freunde bei der Interpretation der zusammen zu lesenden Texte, d.h. beim Erwerb von Wissen und Tugend19. Die Betonung des utilitaristischen Charakters der Freundschaft ft ist sehr auffällig: ff Fast niemals ist von der gegenseitigen Sympathie der Freunde die Rede und nie wird die gegenseitige Zuneigung als eine genügende Voraussetzung der Freundschaft ft angesehen20. Diese utilitaristische Ethik steht gut mit den apologetischen Zielen Xenophons im Einklang: Auf diese Weise wird geschickt eine solide „theoretische Grundlage“ für die Behauptung gebildet, dass Sokrates allen seinen Zuhörern Nutzen brachte – eben diese These strebte Xenophon in den Memorabilien zu beweisen. Da Sokrates viele Th Freunde und Anhänger hatte, dient die Theorie Th der utilitaristischen Freundschaft ft, laut welcher niemand sich mit einem nutzlosen Menschen anfreundet, als ein gutes Argument für Sokrates’ Nützlichkeit. Da Nützlichkeit ihrerseits aber eine direkte Folge der Tugendhaft ftigkeit ist, ist das auch zugleich ein Beweis seiner Tugend. Außerdem entsteht auf diese Weise eine Regel der gesellschaft ftlichen Moral: Da alle Menschen von Natur aus Egoisten sind, ist
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Vgl. auch eine in ganz anderem Zusammenhang gemachte Bemerkung von Narcy: „[…] il est diffi fficile de ne pas voir la description d’une activité spéculative, autrement dit d’une pratique de la philosophie, dans laquelle Socrate impliquait ses amis“ (Narcy, 2004, 227). Außerdem ist es von Bedeutung, dass Xenophon mit diesen Worten gleichzeitig auch den Vorwurf widerlegt, dass Sokrates bekannte Werke von den berühmten Dichtern für schlechte Zwecke benutzte: ἔφη δ’ αὐτὸν ὁ κατήγορος καὶ τῶν ἐνδοξοτάτων ποιητῶν ἐκλεγόμενον τὰ πονηρότατα καὶ τούτοις μαρτυρίοις χρώμενον διδάσκειν τοὺς συνόντας κακούργους τε εἶναι καὶ τυραννικούς (Mem. 1.2.56). Siehe auch Dorion & Bandini, 2000, 165 ff. ff Als aufschlussreiches Beispiel dafür können die Kapitel Mem. 2.4; 2.5 und 2.6 dienen. Sicher können Freunde in irgendeinem Maße Sympathie füreinander empfinden fi (siehe z.B. Mem. 2.4.6 und 2.6.35): Nicht in jeder Situation kann der Mensch demjenigen helfen und auf die Gegenhilfe von demjenigen rechnen, der ihm unangenehm ist. Von Bedeutung ist aber, dass das keinen entscheidenden Faktor darstellt. Nach allem Gesagten scheint einer der Vorwürfe gegen Sokrates, die Xenophon im zweiten Kapitel des ersten Buches erwähnt, nicht so unbegründet zu sein: ἔφη δὲ καὶ περὶ τῶν φίλων αὐτὸν λέγειν ὡς οὐδὲν ὄφελος εὔνους εἶναι, εἰ μὴ καὶ ὠφελεῖν δυνήσονται (Mem. 1.2.52).
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es für ihr friedliches Zusammenleben notwendig, dass sie ihre Nützlichkeit füreinander begreifen. Andererseits ist bei der Frage, warum im Begriff ff der Freundschaft ft vor allem sein utilitaristischer Bestandteil betont wird, m.E. auch von Bedeutung, dass die Sympathie als eine innere Neigung der Menschen zueinander einen anderen Typ der Beziehungen in der Ethik des Xenophontischen Sokrates kennzeichnet. Mit aller Kraft ft sucht Xenophon zu zeigen, dass Sokrates seinen Freunden wie kein anderer Mensch nützlich war, andererseits spricht er aber nie darüber, dass auch Sokrates sich wegen seines eigenen Nutzens einen Anderen zum Freund machte21. Der Leser kann sogar den Eindruck gewinnen, dass alle anderen Menschen Egoisten sind und nur Sokrates allein ein selbstloser Altruist ist. M.E. trifft fft das nicht ganz zu. Xenophons Sokrates spricht von seinem aus der Freundschaft ft gezogenen Nutzen deswegen nicht, weil ihn mit seinen Freunden eine Freundschaft ft von anderer Art verbindet, als Beweggrund für welche nicht das Streben nach eigenem Nutzen, sondern eine innere Sympathie für den Anderen dient. In Bezug auf Sokrates werden deshalb im Xenophontischen Text die Worte ἐρωτικός und ἐρᾶν häufi figer als φίλος und φιλεῖν verwendet22. Auch das Wort φιλία, welches meistens im Xenophontischen Text der neutrale Begriff ff der „Freundschaft ft“ als Gegensatz zu „Feindschaft ft“ und „Haß“ ist, bezeichnet in den Zusammenhängen, in welchen es um den Eros geht, die Art der Freundschaft, ft die auf der
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Obwohl von Sokrates’ Freunden gesagt wird, dass sie immer gern bereit waren, ihm materielle Hilfe zu leisten (Apol. 17; Oec. 2.8), und obwohl er diese Hilfe von ihnen bisweilen auch annehmen konnte, gibt Xenophons Text m.E. aber keinen Anlass zu vermuten, dass eben im Erwerb solcher Hilfe Sokrates’ Ziel besteht: Man kann das als eine (angenehme) Nebenwirkung seiner Freundschaft, ft aber nicht als sein Hauptziel betrachten. Siehe auch oben S. 9 Anm. 3. Der größte Teil des Gesprächs mit Kritobulos ist der These gewidmet, dass der Freund nützlich sein müsse; wenn aber Sokrates in demselben Gespräch zu sich selbst übergeht und von seinem Streben nach der Freundschaft ft spricht, vergisst er völlig seinen Grundsatz der Nützlichkeit: δεινῶς γάρ, ὧν ἂν ἐπιθυμήσω ἀνθρώπων, ὅλος ὥρμημαι ἐπὶ τὸ φιλῶν τε αὐτοὺς ἀντιφιλεῖσθαι ὑπ’ αὐτῶν καὶ ποθῶν ἀντιποθεῖσθαι, καὶ ἐπιθυμῶν συνεῖναι καὶ ἀντεπιθυμεῖσθαι τῆς συνουσίας. […] διὰ γὰρ τὸ ἐπιμελεῖσθαι τοῦ ἀρέσαι τῷ ἀρέσκοντί μοι οὐκ ἀπείρως οἶμαι ἔχειν πρὸς θήραν ἀνθρώπων (Mem. 2.6.28-29). Vgl. auch Antisthenes’ Worte über Sokrates: καὶ οὗτος [sc. ὁ Σωκράτης] […] οἳ ἂν αὐτῷ ἀρέσκωσι τούτοις συνὼν διατελεῖ (Symp. 4.44). Sokrates will sich nicht diejenigen zu Freunden machen, die ihm nützlich sein könnten, sondern diejenigen, die ihm gefallen. Sokrates selbst sagt von sich, dass er immer in jemanden „verliebt“ ist: ἐγώ τε γὰρ οὐκ ἔχω χρόνον εἰπεῖν ἐν ᾧ οὐκ ἐρῶν τινος διατελῶ (Symp. 8.2); siehe auch Symp. 8.24 und 8.41 und Mem. 2.6.28 und 4.1.2.
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gegenseitigen Sympathie der Freunde beruht, d.h. eine Art der Liebe23. Die sokratische Freundschaft ft ist also ἔρως. Man könnte sagen, dass dieser Typ der Freundschaft ft „erhabener“ ist: Während der Grund des oben betrachteten Typs der Freundschaft ft das Streben jedes Menschen (der Xenophontische Sokrates ist hier wahrscheinlich die einzige Ausnahme) nach seinem – vor allem materiellen – Wohl ist, ist der sokratische Eros mit dem Materiellen nicht verbunden: Als Anregung dazu dient die Liebe zur Seele des Freundes (ἡ τῆς ψυχῆς φιλία 24) und letzten Endes das Streben nach der Tugend25. Die utilitaristische Vorstellung von Freundschaft ft dient als noch ein Beweis der Notwendigkeit der Tugend: Einerseits ist jeder Mensch ein Egoist und strebt immer nach eigenem Wohl und Glück, andererseits kann der Freund dabei behilfl flich sein, so dass es für jeden Menschen nützlicher ist, Freunde zu haben als allein zu sein. Da aber nur tugendhafte ft Menschen Freunde haben können, ist es folglich nützlicher, tugendhaft ft zu sein.
2. Paidikos Eros Mit dem Begriff ff der Freundschaft ft und dem Eros-Konzept ist auch die Frage verbunden, wie der so genannte παιδικὸς ἔρως in der Ethik des Xenophontischen Sokrates betrachtet wird. Diese Frage wird umso komplizierter als Xenophons Sokrates sie niemals ausführlich und einzeln erörtert, sondern immer nur im Zusammenhang mit dem Problem der mangelnden Selbstbeherrschung diskutiert.
Die meisten mir bekannten Forscher behaupten einmütig, dass der Xenophontische Sokrates alle homosexuellen Beziehungen ausnahmslos und unterschiedslos tadelt26. Es wäre schwierig, diese Meinung zu bestreiten. Die ausführliche Analyse dieses Problems in den Schriften ft Xenophons möchte ich hier außerhalb des Rahmens der Untersuchung lassen und in diesem Zu-
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Vgl. Mem. 1.2.10; 2.3.4; 2.3.14; 2.6.8; Symp. 4.58 (neutraler Sinn) und Mem. 2.6.29; Symp. 8.10 und 8.13 (zusätzliche Bedeutung von der inneren Sympathie; alle diese Passagen sind auf die eine oder andere Art mit dem Begriff ff des ἔρως verbunden). Symp. 8.15 ff. Mem. 4.1.2: πολλάκις γὰρ ἔφη μὲν ἄν τινος ἐρᾶν, φανερὸς δ’ ἦν […] τῶν τὰς ψυχὰς πρὸς ἀρετὴν εὖ πεφυκότων ἐφιέμενος. Siehe z.B. Erbse, 1966, 211: „Der Sprecher der xenophontischen Erosrede aber verwirft ft sie [die homosexuelle Liebe im vulgären Sinn], weil er sie als unnatürliche Abart körperlicher Beziehungen betrachtet“; Dover, 1978, 160: „Xenophon’s Socrates lacks the sensibility and urbanity of the Platonic Socrates, but there is no doubt that both
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sammenhang kurz nur darauf hinweisen, warum dieser kategorische Standpunkt der Forschung mir nicht vollkommen stichhaltig scheint. In den Kapiteln I und II wurde festgestellt, dass das sexuelle Verlangen ein körperliches Verlangen ist, welches wie auch die drei übrigen dem Menschen von Natur aus eigen ist und dessen richtige und zugelassene Befriedigung in der Kompetenz der Enkrateia liegt. Dem Text Xenophons lässt sich deutlich entnehmen, dass Sokrates dieses Verlangen als eine natürliche angeborene Neigung des menschlichen Körpers ansieht und es als solches deswegen nicht verwirft27, wie er das Verlangen nach Essen, Trinken und Schlafen nicht missbilligt, was dem Menschen auch von Natur aus eigen ist. Da Sokrates aber außerdem behauptet, dass nur der selbstbeherrschte Mensch – im Unterschied zu dem unbeherrschten – das wahre Vergnügen an Essen, Trinken, Schlafen und τὰ ἀφροδίσια empfinden fi kann, hält er alle diese Genüsse folglich nicht für schmachvoll, solange sie den Regeln seiner ‚Diät‘ entsprechen28.
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of them condemn homosexual copulation“; Buffi ffière, 1980, 404: „Xénophon moraliste ne parle jamais de la pédérastie sans la condamner sous sa forme impure“; Cantarella, 21992, 64: „Even when they [the Athenians] condemned it, like Xenophon, they did not draw a contrast between the pederastic relationship and the relationship with women, as such; the real contrast, for them, was between homosexuality and marriage“; Th Thornton, 1997, 103: „Like Plato, Xenophon considers sexual relations between men a depravity that all right-thinking men should abhor as much as they would incest“; Bevilacqua, 2010, 296 f.: „[…] il Socrate di Senofonte biasima l’amore tra uomini quando implica rapporti sessuali.“ Siehe auch Dorion & Bandini, 2000, 97; Hindley, 1999, passim. Siehe Mem. 1.5.1; 2.1.3-5; 2.2.4. Unter den dem Menschen im Vergleich mit den Tieren gegebenen Vorteilen nennt Sokrates auch den folgenden: τὸ δὲ καὶ τὰς τῶν ἀφροδισίων ἡδονὰς τοῖς μὲν ἄλλοις ζῴοις δοῦναι περιγράψαντας τοῦ ἔτους χρόνον, ἡμῖν δὲ συνεχῶς μέχρι γήρως ταῦτα παρέχειν (Mem. 1.4.12). Siehe Gigon, 1953, 137: „Daß Xenophon, der gerade im ersten Buch der Mem. von 2,1 an nicht müde wird, Sokrates als den ἐγκρατέστατος ἀφροδισίων zu preisen, es hier als einen gottgegebenen Vorzug des Menschen ansieht, daß er sich das ganze Jahr hindurch der Aphrodisia erfreuen kann, ist ein Widerspruch, den man nur mit Mühe hinnehmen kann. Athetese wird kaum erlaubt sein.“ Vgl. Dorion & Bandini, 2000, 144 f.; Bevilacqua, 2010, 345: „La contraddizione è palese e non pare sanabile.“ Mem. 4.5.9: ἡ μὲν ἀκρασία οὐκ ἐῶσα καρτερεῖν οὔτε λιμὸν οὔτε δίψος οὔτε ἀφροδισίων ἐπιθυμίαν οὔτε ἀγρυπνίαν, δι’ ὧν μόνων ἔστιν ἡδέως μὲν φαγεῖν τε καὶ πιεῖν καὶ ἀφροδισιάσαι, […] κωλύει τοῖς ἀναγκαιοτάτοις τε καὶ συνεχεστάτοις ἀξιολόγως ἥδεσθαι· ἡ δ’ ἐγκράτεια μόνη ποιοῦσα καρτερεῖν τὰ εἰρημένα μόνη καὶ ἥδεσθαι ποιεῖ ἀξίως μνήμης ἐπὶ τοῖς εἰρημένοις. Siehe darüber oben S. 24 ff ff. Siehe auch Mem. 2.6.22, wo es um die καλοὶ κἀγαθοί geht; auch hier gibt es also keine negative Wertung.
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Es lohnt sich, kurz diejenigen Kontexte zu erwähnen, die gewöhnlich als eine Begründung für das Urteil dienen, der Xenophontische Sokrates verwerfe entschieden die homosexuellen Beziehungen. Vor allem ist das seine berühmte Rede im achten Kapitel des Symposion29. Der Hauptgegenstand dieser Rede ist aber nicht ein Vergleich der homo- und heterosexuellen Beziehungen, nicht die Verwerfung der Ersteren und das Lob der Letzteren30,
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Trotz der Eigentümlichkeiten der sympotischen Gattung dürfen wir diese Rede ernstnehmen: εἰ δ’ ὑμῖν δοκῶ σπουδαιολογῆσαι μᾶλλον ἢ παρὰ πότον πρέπει, μηδὲ τοῦτο θαυμάζετε (Symp. 8.41). Vgl. auch Huß, 1999a, 37: „Die große, ganz im Zeichen der spoudéé stehende Erosrede des Sokrates in Kap. 8“ (siehe auch ibidem, 355); von Symposion im ganzen als „Verbindung von Ernst und Scherz“ siehe Huß, 1999a, 34 f. Vgl. auch unten S. 191 Anm. 96 und 97. Eine solche Auff ffassung dieser Rede und von Xenophons Symposion im ganzen schlägt Cantarella vor: „[…] Xenophon’s Symposium was written with the precise aim of opposing Plato’s theories and off ffering the Athenians – in contrast with the exaltation of the love of boys – the advantages of union with women (just so long as that union was a marital one)“ (Cantarella, 21992, 63). Tatsächlich sprechen die Kommentatoren oft ft darüber, dass das achte Kapitel, in dem Sokrates die homosexuellen Beziehungen angeblich missbillige, dem letzten Kapitel, welches hingegen die heterosexuellen Beziehungen billige, gegenübergestellt werde. Siehe z.B. Erbse, 1966, 211 f.: „Nach Ansicht des xenophontischen Sokrates gibt es also zwischen Wesen männlichen Geschlechtes keine echten körperlichen Beziehungen. Wir dürfen nun zuversichtlich folgern, dass diese Art der Liebe auf das gegenseitige Verhältnis von Mann und Weib beschränkt werden soll, wenn der Redner das nicht selbst ausgesprochen hätte. […] Die Schlußpantomime aber bildet gewissermaßen den sichtbaren Ausdruck dieser ffassung von körperlicher Liebe“ (Hervorhebung von xenophontisch-sokratischen Auff mir) und Huß’ Kommentar zu diesem Kapitel (Huß, 1999a, besonders 438 und 395). Diese naheliegende Auff ffassung des letzten Kapitels des Symposion kann aber nicht alle Zweifel lösen. Zum einen gibt es m.E. eine zu berücksichtigende Einzelheit, die oft ft außer Acht gelassen wird: Xenophon schreibt, dass das die Hochzeit von Dionysos und Ariadne darstellende Tanzstück solchen Eindruck auf alle Zuschauer machte, dass die Verheirateten sofort zu ihren Frauen gingen und die Unverheirateten zu heiraten schworen; doch Sokrates – dessen Ehefrau, Xanthippe, in demselben Symposion früher erwähnt wird (Symp. 2.10) – geht nicht nach Hause, sondern mit Kallias, um sich an den Spaziergang von Lykon und Autolykos anzuschließen (Symp. 9.7: Λύκωνα καὶ τὸν υἱὸν σὺν Καλλίᾳ Σωκράτης δὲ καὶ τῶν ἄλλων οἱ ὑπομείναντες πρὸς Λ περιπατήσοντες ἀπῆλθον). Wie es in Sokrates’ Rede keine Argumente gibt, die die Überlegenheit der heterosexuellen Beziehungen über die homosexuellen bewiesen hätten (oder mindestens danach gestrebt hätten), so gibt auch sein eigenes Verhalten keinen Grund dafür, von seinen heterosexuellen Vorlieben oder seinem begeisterten Interesse für die Beziehungen solcher Art zu sprechen. Zum anderen „setzt Xenophon mit dieser παιδιά [sc. mit der Inszenierung] seinem Symposion einen ebenso unterhaltsamen wie ‘realistischen’ Schlußpunkt, der den Leser befriedigt aus der Lektüre des Werkes entläßt und ihn dabei an den historisch-situativen Kontext erinnert,
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sondern eine Gegenüberstellung der Liebe zur Seele (ὁ τῆς ψυχῆς ἔρως) und der Liebe zum Körper (ὁ τοῦ σώματος ἔρως) im rein homosexuellen Zusammenhang31: Einerseits erwähnt Sokrates niemals im Laufe seiner Rede eine Liebe zur Frau, andererseits betrachtet er nicht die Situation (er nimmt sie sogar nicht einmal an) der Verbindung von der geistigen und der körperlichen Liebe32, sondern beweist nur die Überlegenheit der ersten über
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der Symposien eigen war“ (Huß, 1999a, 438). Es liegt aber auf der Hand, dass es doch ganz unmöglich war, dass eine Auff fführung die homosexuellen Beziehungen demonstriert oder andeutet, da die damaligen Verhaltensregeln forderten, dass der ἐραστής und der ἐρώμενος ihre Beziehungen so geheimhielten, dass sie für die Anderen in allen Fällen nach Freundschaft ft im modernen Sinne dieses Wortes aussahen. „[…] So long as behaviour in public was decorous and circumspect […], the substance of any given homosexual relationship could only be, for everyone but the erastes and eromenos themselves, a matter of conjecture. […] We do not and cannot know whether there were erastai and eromenoi who abstained from bodily contact; perhaps they would always have said they did, if asked, but in educated society convention protected them from direct questioning“ (Dover, 1978, 53 f., siehe auch Patzer, 1982, 49; Guthries Urteil trifft fft dagegen nicht zu: „[…] had he [sc. Socrates] been given to pederasty, the conventions of the time imposed no need of concealment“ (Guthrie, 1969, 395)). Es ist kein Zufall, dass Autolykos, y in den Kallias verliebt ist, auf dem von Xenophon dargestellten Symposion mit seinem Vater anwesend ist. Eine Andeutung darauf, dass alles Körperliche geheimgehalten werden soll, ist auch in Sokrates’ scherzhaft ften Worten vorhanden, wenn er dem Antisthenes antwortet, der behauptet, er sei in ihn verliebt: ἀλλὰ γάρ, ἔφη, τὸν μὲν σὸν ἔρωτα κρύπτωμεν, ἐπειδὴ καὶ ἔστιν οὐ ψυχῆς ἀλλ’ εὐμορφίας τῆς ἐμῆς (Symp. 8.6). Und drittens, wie Cantarella mit Recht bemerkt (Cantarella, 21992, 63 f.), geht es in der Schlussszene des Symposion nur um den Ehebund; wenn man aber an die Rolle der Frau im Haushalt erinnert (darüber siehe oben S. 134 ff.), dann wird das Urteil berechtigt scheinen, dass die heterosexuellen Beziehungen den homosexuellen nicht gegenübergestellt werden, sondern einen anderen Sozialstatus und eine andere Bedeutung haben (ich kann der Meinung von Cantarella nicht zustimmen, dass Xenophon den Ehebund von Mann und Frau den homosexuellen Beziehungen entgegenstelle. M.E. geht es um die verschiedenen sozialen Bereiche, die nicht gegenübergestellt werden, sondern unabhängig voneinander koexistieren). Es ist nötig zu beachten, dass es jedes Mal nicht um die ‚Homosexualität‘ im modernen Sinne des Wortes geht, sondern um die ‚Knabenliebe‘ als eigenartiges Phänomen der griechischen Kultur. Für eine ausführliche Besprechung dieser Begriffe ff siehe z.B. Buffi ffière, 1980, 643 f. und Patzer, 1982, 44 ff. und auch unten S. 175 f. Anm. 50. Ich schreibe ‚Homosexualität‘ und ‚homosexuell‘ ausschließlich um der Knappheit willen. In diesem Zusammenhang sind Sokrates’ Worte in Symp. 8.13-14 zu betrachten. Hindley kommentiert sie wie folgt: „It is true that Xenophon’s Socrates, briefl fly and in passing, recognizes the possibility of combining love for mind with love for body, but he immediately dismisses it in order to concentrate on the love which excludes the physical“ (Hindley, 1999, 91; siehe auch 2004, 141). Hindley akzeptiert anscheinend
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die zweite. Dabei ist m.E. der Charakter dieses Beweises nicht unbedeutend, und es lohnt sich, einige von Sokrates’ Argumenten zu nennen. So habe die körperliche Liebe nach seinen Worten eine Grenze (ἔνεστί τις καὶ κόρος), während die Liebe zur Seele sie eher nicht habe (ἀκορεστοτέρα ἐστίν)33. Tatsächlich haben alle vier Typen des körperlichen Vergnügens, wie im Kapitel I betrachtet wurde, eine natürliche Grenze der Sättigung, der sogar der Ekel nachfolgt (es ist klar, dass Sokrates darüber meistens am Beispiel des Vergnügens an Essen und des damit verbundenen Appetitgefühls spricht34), daher sind die körperlichen Vergnügen ausschließlich bei Befolgung der oben beschriebenen Regeln der sokratischen Selbstbeherrschung erlaubt, die aber keine Abstinenz vorschreiben35. Weiter: Der geistig Liebende kümmert
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den Text (und die Übersetzung) von Marchant: […] ἂν δὲ καὶ ἀμφότερα στέρξωσι, τὸ μὲν τῆς ὥρας ἄνθος ταχὺ δήπου παρακμάζει, ἀπολείποντος δὲ τούτου ἀνάγκη καὶ τὴν φιλίαν συναπομαραίνεσθαι, ἡ δὲ ψυχὴ ὅσονπερ ἂν χρόνον ἴῃ ἐπὶ τὸ φρονιμώτερον καὶ ἀξιεραστοτέρα γίγνεται. Aber in diesem Fall entbehrt diese Aussage des Sokrates der logischen Folgerung: Wenn der Mensch an einem Anderen sowohl die Seele als auch den Körper liebt, warum muss die Liebe mit Verwelken der Schönheit weggehen? Wodurch unterscheidet sich dann diese Liebe von der rein körperlichen Liebe? Es scheint mir kaum möglich, dass Xenophon nicht nur eine Unklarheit, sondern auch solche Inkonsequenz und mangelnde Logik in den Urteilen seines Sokrates zulässt. Deswegen scheint mir die Handschrift ftenvariante ἀμφότεροι besser zu sein (d.h. es geht hier um die zwei Typen von ἐρασταί, die Sokrates in seiner Rede immer wieder vergleicht) als die Konjektur ἀμφότερα („sowohl die Seele als auch der Körper“). Huß’ Interpretation trifft fft völlig zu: „…übernähme man die Konjektur, so wäre der Sinn des Textes: Sokrates lehnt nicht nur (a) die auf den Körper, sondern auch (b) die auf Seele und Körper (ἀμφότερα) zugleich gerichtete Liebe ab; er läßt nur (c) die allein der Seele zugewandte Liebe gelten. Doch in der Argumentation des Sokrates ist […] gar kein Platz für (b), er unterscheidet strikt zwischen (a) und (c). Richtig muß es heißen: Aber sogar wenn man zugesteht, daß sowohl die Liebhaber der Seele als auch die des Körpers (ἀμφότεροι) eine Neigung empfi finden (στέργουσι), daß also bei beiden eine Art φιλεῖν stattfi findet, so vergeht doch die φιλία bei der leiblichen Liebe viel rascher. So ist also die Liebe zur Seele selbst bei dieser (nach Sokrates im Grunde ohnehin unnötigen) Annahme besser als die Liebe zum Körper“ (Huß, 1999a, 381). In seiner Rede im Symposion betrachtet der Xenophontische Sokrates also nur die strikte Dichotomie der körperlichen und der geistigen Liebe. Symp. 8.15. Hier sei ein Beispiel genügend: ὁρᾷς γὰρ ὅτι καὶ τῶν βρωμάτων τὰ ἥδιστα, ἐὰν μέν τις προσφέρῃ πρὶν ἐπιθυμεῖν, ἀηδῆ φαίνεται, κεκορεσμένοις δὲ καὶ βδελυγμίαν παρέχει, ἐὰν δέ τις προσφέρῃ λιμὸν ἐμποιήσας, κἂν φαυλότερα ᾖ, πάνυ ἡδέα φαίνεται (Mem. 3.11.13). Siehe auch die Passage Symp. 8.15: καὶ μὴν ἐν μὲν τῇ τῆς μορφῆς χρήσει ἔνεστί τις καὶ κόρος, ὥστε ἅπερ καὶ πρὸς τὰ σιτία διὰ πλησμονήν […]. Darüber siehe oben S. 24 ff. ff
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sich um die Tugend (τὰ καλά ) seines Geliebten, während derjenige, der den Körper liebt, nur nach seinem eigenen Vergnügen (τὰ ἑαυτοῦ ἡδέα37) strebt. Hier muss man daran erinnern, dass nach der Ansicht des Xenophontischen Sokrates nach dem körperlichen Vergnügen hemmungslos derjenige strebt, welcher über keine Enthaltsamkeit verfügt und deshalb für das καλὸν καὶ ἀγαθόν38 nicht sorgen kann. Außerdem ist aus demselben Grund der nicht enthaltsame Mensch nicht fähig, für einen anderen außer sich selbst zu sorgen, d.h. er ist a priori zur Freundschaft ft unfähig. Noch ein Argument zugunsten der Überlegenheit der geistigen Liebe besteht darin, dass der den Körper Liebende in den Beziehungen in Abhängigkeit gerät (ἀνελεύθερος ἡ συνουσία) und wie ein Bettler seinen Geliebten um Aufmerksamkeit bittet39. Dem Xenophontischen Sokrates zufolge seien aber alle Menschen unfrei, die vom körperlichen Vergnügen beherrscht werden, d.h. alle unbeherrschten Menschen40. So hat derjenige, welcher die Liebe zum Körper seines Geliebten empfindet, fi wenigstens im Bereich der Liebesvergnügen ganz bestimmt keine Enthaltsamkeit, d.h. es handelt sich um den ἀκρατής. Es ist deshalb nicht zufällig, dass Sokrates in einem seiner Beweise von den von ἀκρασία Beherrschten spricht, als ob es ein und dasselbe wäre, die Liebe zum Körper zu empfinden fi und unbeherrscht zu sein41. Es scheint also beachtenswert, dass Sokrates’ Kritik im Symposion gegen diejenigen, die den Körper des Anderen lieben, fast wörtlich mit seiner Kritik der unbeherrschten Menschen in den Memorabilien übereinstimmt: In der Rede im Symposion gibt es keine neuen Argumente, die die Überlegenheit der geistigen Liebe über die körperliche beweisen und die gleichzeitig für den Beweis der Überlegenheit der Selbstbeherrschung über die Unbeherrschtheit nicht anwendbar wären. Dies gilt nicht nur für den körperlich Liebenden, sondern auch für den Geliebten in diesem von Sokrates getadelten Paar: Nach Sokrates’ Meinung gebe jeder Mensch zu, dass derjenige eher das Vertrauen verdiene – soll es um Geld oder um Kinder gehen –, welcher der geistigen Liebe würdig ist, und nicht der-
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Symp. 8.17. Siehe Huß, 1999a, 389: „Der geistig Liebende […] ist also fördernd besorgt um die Qualitäten und den Erfolgg des Geliebten.“ Symp. 8.17, siehe auch 8.19: ἑαυτῷ μὲν νέμει ὧν ἐπιθυμεῖ. Siehe z.B. Mem. 4.5 (besonders 4.5.6 und 4.5.10). Symp. 8.23. Mem. 4.5.3-4: ὅστις οὖν ἄρχεται ὑπὸ τῶν διὰ τοῦ σώματος ἡδονῶν […], νομίζεις τοῦτον ἐλεύθερον εἶναι; […] Παντάπασιν ἄρα σοι δοκοῦσιν οἱ ἀκρατεῖς ἀνελεύθεροι εἶναι; Siehe auch oben S. 45. Symp. 8.32: τῶν ἀκρασίᾳ συγκυλινδουμένων / ἐγκαλινδουμένων / συγγιγνομένων. Zu den möglichen Varianten siehe Huß, 1999a, 418.
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jenige, der nur wegen der Schönheit seines Körpers geliebt wird42. Dasselbe Argument wird in einer Diskussion über die Enthaltsamkeit verwendet: Niemand wolle seine Söhne und Töchter, sein Geld oder Vermögen dem nicht enthaltsamen Menschen anvertrauen43. Sokrates’ Rede im Symposion im ganzen zeigt, dass er die Unbeherrschtheit als den wichtigsten Zug des körperlich liebenden Menschen (und folglich auch seines Geliebten)44 betrachtet; er erwähnt und kritisiert nur diejenigen Merkmale der Beziehungen solcher Art, welche aus dem unbeherrschten Charakter der Paarmitglieder entstehen, und keine anderen. Wenn Sokrates von der Überlegenheit der geistigen Liebe über die körperliche spricht, stellt er vor allem die Unbeherrschtheit im körperlichen Vergnügen und die Enthaltsamkeit gegenüber, dank welcher der Mensch überhaupt sich um etwas Geistiges kümmern kann. In seiner Rede im Symposion betrachtet Sokrates die – nach seiner eigenen in den Memorabilien ausgedrückten Meinung – mögliche Situation nicht, wenn der enthaltsame Mensch, indem er alle Regeln der sokratischen ‚Diät‘ befolgt, gleichzeitig sowohl die Liebe zur Seele als auch zum Körper empfindet. fi Der Xenophontische Sokrates vergleicht nur die Extreme, und in dieser Dichotomie lässt sich die Überlegenheit der geistigen Liebe kaum bestreiten; doch bringt Sokrates Argumente gegen die hemmungslosen körperlichen Lüste vor und keine gegen die homosexuellen Beziehungen als solche45. Dies umso mehr, da Sokrates, wie schon angedeutet, die homo- und heterosexuellen Beziehungen nicht vergleicht; im Gegenteil – er spricht so, als ob es keinen
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Symp. 8.36: τις πιστεύσειεν ἢ χρήματα ἢ τέκνα… Mem. 1.5.2: εἰ δ’ ἐπὶ τελευτῇ τοῦ βίου γενόμενοι βουλοίμεθά τῳ ἐπιτρέψαι ἢ παῖδας ἄρρενας παιδεῦσαι ἢ θυγατέρας παρθένους διαφυλάξαι ἢ χρήματα διασῶσαι, ἆρ’ ἀξιόπιστον εἰς ταῦθ’ ἡγησόμεθα τὸν ἀκρατῆ; Siehe Symp. 8.27: [τὸν] ἀκρασίαν παρεχόμενον, siehe auch oben S. 171 Anm. 40. Vgl. Hindley, 1999, 97: „The Th discussion in Symposium 8 […] overlooks the distinction between lack of control and self-control, which admits (and indeed enhances) sexual pleasure, put into the mouth of Sokrates at Memorabilia 4.5.9“ (siehe oben S. 167 Anm. 28). Nach Hindleys Auff ffassung sind in der Rede im achten Kapitel des Symposion Sokrates’ Ansichten formuliert, der die homosexuellen Beziehungen bedingungslos verwerfe, deswegen widerspreche diese Rede den anderen relevanten Kontexten, in denen die Stimme von Xenophon selbst zu hören sei (Hindley, 1999, 97 und 2004, 141 f.; siehe auch unten S. 174 Anm. 48). M.E. gibt es keinen Widerspruch zwischen der Rede im Symposion und den Aussagen in den Memorabilien: Der Unterschied d besteht darin, dass im Symposion Sokrates nur von den Extremen spricht, um ein anschauliches Beispiel der Überlegenheit der Liebe zur Seele über die Liebe zum Körper zu geben, und daher darüber schweigt, dass die Regeln seiner ‚Diät‘ das körperliche Vergnügen in gewissem Grade zulassen (Hindley bezeichnet das als ‚way of moderation‘ und ‚sophron erôs‘: Hindley, 2004, 128).
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Unterschied dazwischen gebe (jedenfalls in der Logik der Argumentation): Wenn er von Menschen spricht, vergleicht er die körperliche und die geistige Liebe ausschließlich im homosexuellen Zusammenhang, wenn er aber weiter von Göttern spricht und sie als Vorbild derjenigen hinstellt, die die geistige Liebe über die körperliche stellen, sagt er Folgendes: […] ὡς οὐ μόνον ἄνθρωποι ἀλλὰ καὶ θεοὶ καὶ ἥρωες τὴν τῆς ψυχῆς φιλίαν περὶ πλείονος ἢ τὴν τοῦ σώματος χρῆσιν ποιοῦνται. Ζεύς τε γὰρ ὅσων μὲν θνητῶν οὐσῶν μορφῆς ἠράσθη, συγγενόμενος εἴα αὐτὰς θνητὰς εἶναι· ὅσων δὲ ψυχαῖς ἀγαθαῖς ἀγασθείη, ἀθανάτους τούτους ἐποίει46.
Hier wird am Beispiel der Gegenüberstellung von der körperlichen Liebe zu Frauen (οὐσῶν… αὐτὰς θνητάς) und der geistigen Liebe zu Männern (ἀθανάτους τούτους) dieselbe Schlussfolgerung gezogen, dass die geistige Liebe der körperlichen überlegen ist. Die Objekte selbst dieser beiden Typen der Liebe – sei es Mann oder Frau – werden aber nicht berücksichtigt. Wir haben also keinen Grund und keine Argumente dafür, dass Sokrates in dieser Rede die homosexuellen Beziehungen verwirft. ft Einen anderen Beweis der negativen Bewertung der Homosexualität möchte man oft ft in den folgenden Worten im dritten Kapitel des ersten Buches der Memorabilien erkennen: ἀφροδισίων δὲ παρῄνει [sc. ὁ Σωκράτης] τῶν καλῶν ἰσχυρῶς ἀπέχεσθαι47, sowie in der Erzählung von Kritobulos’ Kuss im ganzen. Dieses Urteil trifft fft m.E. nicht ganz zu, denn an dieser Stelle wie auch in der erwähnten Rede im Symposion kritisiert Sokrates nicht die homosexuellen Beziehungen als solche, sondern die Hemmungslosigkeit in den körperlichen Lüsten. Sofort nach den eben zitierten Worten erläutert Xenophon, warum Sokrates auff fforderte, sich des Liebesvergnügens mit den Schönen zu enthalten: Es sei nicht leicht, die Vernunft ft und die Enthaltsamkeit nach der Berührung des Schönen aufrecht zu erhalten (οὐ γὰρ ἔφη ῥᾴδιον εἶναι τῶν τοιούτων ἁπτόμενον σωφρονεῖν). Es geht hier darum, dass die Schönheit für diejenigen gefährlich ist, deren Kraft ft der Enthaltsamkeit schwach und nicht gut trainiert ist. Sokrates warnt, dass schöne Körper für die Menschen mit schwacher Kraft ft der Enthaltsamkeit viel gefährlicher seien
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Symp. 8.28-29: „Nicht nur die Menschen, sondern auch die Götter und Heroen schätzen die Freundschaft ft der Seele höher als den Gebrauch des Körpers. Zeus zum Beispiel ließ die sterblichen Frauen, die er wegen ihrer äußeren Gestalt liebte, nach der Vereinigung mit ihm sterblich bleiben. Soweit er aber Jünglinge wegen ihrer schönen Seele bewunderte, machte er sie unsterblich.“ Siehe Huß, 1999a, 408 f. Mem. 1.3.8. Siehe z.B. Gigon, 1953, 107: „Der xenophontische Sokrates lehnt den παιδικὸς ἔρως radikal ab und warnt eindringlich vor ihm“; Bevilacqua, 2010, 297; Dorion & Bandini, 2011a, 162.
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als unschöne, deswegen müssten solche Menschen diesen ersten besonders ausweichen. Diese These wird durch die das Kapitel logisch abschließenden Worte Xenophons bekräft ftigt: αὐτὸς [sc. ὁ Σωκράτης] δὲ πρὸς ταῦτα [sc. ἀφροδίσια] φανερὸς ἦν οὕτω παρεσκευασμένος ὥστε ῥᾷον ἀπέχεσθαι τῶν καλλίστων καὶ ὡραιοτάτων ἢ οἱ ἄλλοι τῶν αἰσχίστων καὶ ἀωροτάτων 48.
Dem Sokrates biete die Schönheit keine Gefahr, aber nur wenige haben eine so starke Kraft ft der Enthaltsamkeit wie der Xenophontische Sokrates. Auch das Urteil, dass Sokrates, indem er Kritobulos tadelt, der den schönen Sohn des Alkibiades geküsst hat, den homosexuellen Charakter dieses Benehmens kritisiert, scheint mir nicht fehlerfrei zu sein. Es empfiehlt fi sich, sich daran zu erinnern, dass diese ganze Episode von den soeben betrachteten Worten eingerahmt ist, sie muss also eher als ein Anschauungsbeispiel desselben Gedankens dienen. Übrigens, wenn auch aus dem Kontext herausgerissen, gibt diese Erzählung keinen Grund für die erwähnte Interpretation. Sokrates spricht darüber, dass der Mensch, der einen Schönen geküsst habe, sich aus dem freien Menschen in einen Sklaven verwandle: Er hänge dem Vergnügen nach und werde nicht mehr fähig, sich um das Gute zu kümmern49 –, gerade mit diesen Worten beschreibt Sokrates den unbeherrschten Menschen, der von der ἀκρασία beherrscht wird. In Sokrates’ Argumenten, mit denen er hier Kritobulos’ Tat verurteilt und gleichzeitig den Xenophon, der hier als Sokrates’ Gesprächspartner auft ftritt, vor einer solchen Tat warnt, gibt es keines, welches unmittelbar gegen die homosexuellen Beziehungen gerichtet wäre; aber
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Mem. 1.3.14: „Er selbst aber war off ffenbar in dieser Beziehung so gewappnet, dass er sich leicht der schönsten und blühendsten Knaben enthielt, so wie die andern der hässlichen und unreifsten.“ Hindley vergleicht Mem. 1.3.8. und 1.3.14 und kommt zu folgendem Schluss: Während der Xenophontische Sokrates die homosexuellen Beziehungen ohne Vorbehalt verurteile, halte Xenophon selbst sie für erlaubt (Hindley, 1999, 84 f.). Die Gegenüberstellung der Passagen Mem. 1.3.8 und 1.3.14 scheint mir unbegründet zu sein: Hindley verdreht den Sinn von Mem. 1.3.8, indem er allein den ersten Teil dieses Satzes analysiert (ἀφροδισίων δὲ παρῄνει τῶν καλῶν ἰσχυρῶς ἀπέχεσθαι) und den zweiten völlig außer Betracht lässt (οὐ γὰρ ἔφη ῥᾴδιον εἶναι τῶν τοιούτων ἁπτόμενον σωφρονεῖν), welcher aber als eine Erläuterung des ersten Teils dient (darauf weist die Partikel γάρ hin) und deswegen von ihm nicht abgetrennt werden kann. Im ganzen widerspricht dieser Satz dem Paragraphen 1.3.14 nicht, sondern stimmt hingegen mit ihm vollkommen überein. Mem. 1.3.11: […] καὶ τί ἂν οἴει παθεῖν καλὸν φιλήσας; ἆρ’ οὐκ ἂν αὐτίκα μάλα δοῦλος μὲν εἶναι ἀντ’ ἐλευθέρου, πολλὰ δὲ δαπανᾶν εἰς βλαβερὰς ἡδονάς, πολλὴν δὲ ἀσχολίαν ἔχειν τοῦ ἐπιμεληθῆναί τινος καλοῦ κἀγαθοῦ, σπουδάζειν δ’ ἀναγκασθῆναι ἐφ’ οἷς οὐδ’ ἂν μαινόμενος σπουδάσειεν; Siehe oben S. 57 ff. ff
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alle Argumente stimmen dagegen mit den an den anderen Stellen der Memorabilien angegebenen Beweisen der Verderblichkeit der ἀκρασία überein. Zusammengefasst lässt sich sagen: Die Passagen, in denen viele Forscher oft ft Kritik an der Homosexualität finden wollen, verurteilen in Wirklichkeit die ἀκρασία50. In den betrachteten Episoden spricht Sokrates am Beispiel des
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Es gibt außerdem noch einige kürzere Bemerkungen im Text Xenophons, in denen die Forscher oft ft eine Kritik der Homosexualität erkennen. Zum einen ist das die Episode, die Sokrates’ Beziehung zu Kritias schildert: Κριτίαν μὲν τοίνυν αἰσθανόμενος ἐρῶντα Εὐθυδήμου καὶ πειρῶντα χρῆσθαι, καθάπερ οἱ πρὸς τἀφροδίσια τῶν σωμάτων ἀπολαύοντες, ἀπέτρεπε φάσκων ἀνελεύθερόν τε εἶναι καὶ οὐ πρέπον ἀνδρὶ καλῷ κἀγαθῷ τὸν ἐρώμενον, ᾧ βούλεται πολλοῦ ἄξιος φαίνεσθαι, προσαιτεῖν ὥσπερ τοὺς πτωχοὺς ἱκετεύοντα καὶ δεόμενον προσδοῦναι, καὶ ταῦτα μηδενὸς ἀγαθοῦ (Mem. 1.2.29). Hier sind mehrere Details beachtenswert. Kritias’ Liebe zu Euthydemus ist die körperliche Liebe (darauf weisen die Worte πειρῶντα χρῆσθαι, καθάπερ οἱ πρὸς τἀφροδίσια τῶν σωμάτων ἀπολαύοντες hin), so dass Sokrates auch hier vor allem Kritias’ Unbeherrschtheit und den körperlichen Typ der Liebe verurteilt und nicht die Homosexualität. Wie auch in den anderen ähnlichen Fällen (siehe oben S. 171 Anm. 40) erhärtet Sokrates seine Kritik an der ἀκρασία und an dem unbeherrschten Charakter seines Gesprächspartners mit den Begriffen ff (oder Metaphern) der Freiheit und Unfreiheit, der Sklaverei und Bettelei. Sokrates hatte außerdem einen Anlass für diese Kritik an Kritias, denn ihm ist Kritias’ Liebe zu Euthydemus und sogar der Charakter dieser Neigung bekannt geworden (αἰσθανόμενος), die Beziehungen solcher Art sollten aber geheimgehalten werden, ansonsten sind sie tadelnswert (siehe oben S. 168 Anm. 30). Zum anderen sagt Sokrates im Gespräch mit Kritobulos über die Freundschaft ft unter anderem Folgendes: διὰ γὰρ τὴν ἀρετὴν [οἱ καλοὶ κἀγαθοὶ] αἱροῦνται μὲν ἄνευ πόνου τὰ μέτρια κεκτῆσθαι μᾶλλον ἢ διὰ πολέμου πάντων κυριεύειν, καὶ δύνανται πεινῶντες καὶ διψῶντες ἀλύπως σίτου καὶ ποτοῦ κοινωνεῖν καὶ τοῖς τῶν ὡραίων ἀφροδισίοις ἡδόμενοι καρτερεῖν, ὥστε μὴ λυπεῖν οὓς μὴ προσήκει (Mem. 2.6.22). Dem ganzen Zusammenhang lässt sich ganz deutlich entnehmen, dass es um die Mäßigkeit und die Enthaltsamkeit geht, welche der Xenophontische Sokrates für die notwendigen Bedingungen der Freundschaft ft hält: Sokrates tadelt die einen und lobt die anderen Menschen nicht darum, weil die ersten den homosexuellen Beziehungen nachhängen und die anderen sie ablehnen, sondern weil die ersten, im Unterschied zu den anderen, in den gleichen Beziehungen (wie auch beim Essen und Trinken) nicht fähig sind, die Regeln der Enthaltsamkeit zu befolgen. Wegen seines Fehlers bei der Interpretation von Mem. 1.3.8 (siehe S. 174 Anm. 48) stößt Hindley auf falsche Widersprüche, die von ihm eine Erklärung fordern. So muss er schließen, dass die Annahme der homosexuellen Beziehungen in Mem. 2.6.22 dem Xenophontischen Sokrates nicht zuzusprechen ist (Hindley, 1999, 86 und 2004, 137; aus demselben Grund kommt Hindley zum ähnlichen Schluss auch bei der Interpretation von Mem. 1.6.13: Siehe S. 11 Anm. 7). Drittens nennt die Arete in Prodikos’ Erzählung von Herakles am Scheideweg unter den schlechten Zügen der Kakia folgenden: τὰ δ’ ἀφροδίσια πρὸ τοῦ δεῖσθαι ἀναγκάζεις, πάντα μηχανωμένη καὶ γυναιξὶ τοῖς ἀνδράσι χρωμένη (Mem. 2.1.30). Da wir diese Erzählung betrachten können, ohne einen Unterschied zwischen den in ihr dargestellten Ideen und den Ansichten des Xenophon-
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Liebesvergnügens über die Überlegenheit des Geistigen über das Körperliche. Obgleich er in den beiden erwähnten Episoden die homosexuellen Beziehungen meint, gibt es doch keinen Grund dafür, die Homosexualität als solche als eine Erscheinungsform der ἀκρασία zu bezeichnen. Erstens wird die Unbeherrschtheit auch im heterosexuellen Zusammenhang von Sokrates missbilligt51, weil er nicht den Charakter der Beziehungen, sondern die Unbeherrschtheit selbst verurteilt und verwirft ft. Zweitens findet der Xenophontische Sokrates in der männlichen Schönheit eine größere Gefahr für den Menschen mit der schwachen Enthaltsamkeit als in der weiblichen Schönheit52; es ist nur zu natürlich, dass er öft fter davon spricht, was ihm gefährli-
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tischen Sokrates zu machen (siehe Dorion, 2008a und Dorion & Bandini, 2011a, 407 ff.), könnte es so aussehen, als ob diese Worte eben die Kritik der Homosexualität ff enthalten, welche die Interpretatoren dem Xenophontischen Sokrates oft ft zuschreiben. Das trifft fft aber nicht ganz zu: Es lohnt sich, zu beachten, dass hier von „Männern“ (ἄνδρες) die Rede ist; solche Beziehungen wurden aber in der Tat damals verurteilt, also erfi findet hier weder die Arete noch der Xenophontische Sokrates etwas Neues. Es ist deswegen wichtig, wie H. Patzer mit Recht betont (siehe oben S. 169 Anm. 31), bei Betrachtung der griechischen Kultur die Begriff ffe ‚Homosexualität‘ und ‚Knabenliebe‘ zu unterscheiden: Man kann gleichzeitig das erste Phänomen missbilligen und das zweite anerkennen. Siehe auch Dover, 1978, 86; Hindley, 1999, 81. Und viertens sind in diesem Zusammenhang folgende Worte von Sokrates aus dem achten Kapitel des Symposion zu erwähnen: οὐδὲ γὰρ ὁ παῖς τῷ ἀνδρὶ ὥσπερ γυνὴ κοινωνεῖ τῶν ἐν τοῖς ἀφροδισίοις εὐφροσυνῶν, ἀλλὰ νήφων μεθύοντα ὑπὸ τῆς ἀφροδίτης θεᾶται. ἐξ ὧν οὐδὲν θαυμαστὸν εἰ καὶ τὸ ὑπερορᾶν ἐγγίγνεται αὐτῷ τοῦ ἐραστοῦ (Symp. 8.21). Aber auch hier spricht Sokrates über die übliche Moral, der zufolge „der Jüngere, so sehr er Partner einer wechselseitigen philia sein soll, das ihm vom Älteren mit dem erōs auch entgegengebrachte sexuelle Begehren (die epithȳmia also) nicht erwidern und der Ältere eine solche Erwiderung auch nicht wünschen darf, wenn das Verhältnis nicht sofort ein unrechtmäßiges werden soll“ (Patzer, 1982, 47; siehe auch Dover, 1978, 52). Bei dem Geliebten kann die Verachtung gegen den Liebenden aufkommen, fk weil diese Beziehungen hier nur auf der Liebe zum Körper des Geliebten beruhen: Wenn die Beziehungen keine andere Grundlage haben, ist es nach dem allen Gesagten kein Wunder, dass der ἐρώμενος gegenüber dem in seinen Körper verliebten Menschen Verachtung haben kann, weil diese Beziehungen von Anfang an nicht gegenseitig sind: ἐρῶντι οὐκ ft auf der beiderseitigen Liebe zur ἐρῶν ὁμιλεῖ (Symp. 8.21). Wenn aber die Freundschaft Seele und zum Körper beruht – was Sokrates hier außer Betracht lässt – entsteht die Verachtung nicht, so wie sie bei denjenigen nicht möglich ist, welche die geistige Liebe finden (siehe Dover, 1978, 53). Über die Gegenüberstellung des παῖς zueinander empfi und der γυνή in diesem Zusammenhang siehe Huß, 1999a, 394 f. Mem. 2.1.5. Vgl. den Schluss, zu welchem Cantarella kommt, indem sie offenbar ff über den ‚historischen‘ Sokrates zu sprechen versucht: „Th The gender which attracted and tempted Socrates was the male sex: it was boys that he had to resist, in the name of his chosen morality. Resisting women was a problem that simply did not arise […] for Socrates“ (Cantarella, 21992, 58).
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cher zu sein scheint. Folglich ist die Homosexualität als solche kein Zeichen der ἀκρασία, die Liebe zum Körper hingegen – und letzten Endes folglich die Liebe zum körperlichen Vergnügen – ist ein unzweifelhaft ftes Zeugnis der mangelnden Enthaltsamkeit bei demjenigen, der solche Liebe empfindet. fi Und während die Kritik der ἀκρασία mit logischen Argumenten begründet wird, hat eine negative Wertung der Homosexualität – wenn man sie dem Xenophontischen Sokrates zuschreiben wollte – keine rationale Begründung in seiner ethischen Theorie. Deswegen haben wir allen Grund, an der Stichhaltigkeit des Urteils zu zweifeln, dass Sokrates bei Xenophon die homosexuellen Beziehungen als solche bedingungslos verwerfe53. Hätte der Xenophontische Sokrates die Absicht, die homosexuellen Beziehungen den heterosexuellen gegenüberzustellen oder die ersteren auch unabhängig von den letzteren zu verurteilen, könnte man mit vollem Recht eine theoretische Motivierung eines solchen Urteils erwarten, wie man rationale Beweise auch anderer Ansichten des Sokrates im Xenophontischen Text findet.
3. Mem. 3.11 Im Zusammenhang mit dem Thema Th der Freundschaft ft ist Sokrates’ Gespräch mit der Hetäre Theodote über Freunde von Interesse, in welchem Sokrates von seinen gewissen „Freundinnen“ spricht. M.E. verstecken sich hinter diesen „Freundinnen“ die sokratischen Vergnügen, so dass in diesem Kapitel im dritten Buch der Memorabilien im Geiste der sympotischen Literatur die Grundsätze der Ethik des Xenophontischen Sokrates noch einmal geschickt und konzentriert ausgesprochen werden.
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Es wäre kein Fehler zu behaupten, dass in den sokratischen Schrift ften Xenophons nicht genug darüber gesprochen wird, um eine erschöpfende Untersuchung dieses Problems zu ermöglichen. Ich stimme dem ersten Teil des Urteils von Bevilacqua zu: „[…] per quanto concerne la sfera sessuale, benché Senofonte si esprima in modo alquanto vago e reticente“, aber nicht dem zweiten: „tuttavia è evidente che intende ribadire che le uniche relazioni omosessuali lecite sono quelle che escludono qualsiasi rapporto fisico“ (Bevilacqua, 2010, 452, Hervorhebung von mir). Ich will nicht behaupten, dass der Xenophontische Sokrates die homosexuellen Beziehungen enthusiastisch gutheißt. Hier habe ich nur zu zeigen versucht, dass die Kritik der Homosexualität als solche, welche die communis opinio dem Xenophontischen Sokrates zuschreibt, seiner ethischen Theorie nicht ganz entspricht, da sie keine hinreichende Begründung hat, und deswegen einen Zweifel an der Stichhaltigkeit dieser communis opinio erregt. Siehe auch die Schlussfolgerung im Abschnitt über den Honorarverzicht des Xenophontischen Sokrates: S. 8 ff. ff
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Der Begriff ff der Freundschaft
Im elft ften Kapitel des dritten Buches der Memorabilien schildert Xenophon ein Gespräch zwischen Sokrates und einer Hetäre namens Theodote Th über das Verfahren der „Jagd auf Freunde“54. Im abschließenden Teil des Gesprächs bittet Theodote den Sokrates, ihr bei dieser Jagd zu helfen55, Sokrates antwortet aber abschlägig. Eine seiner Ausreden ist wie folgt: εἰσὶ δὲ καὶ φίλαι μοι, αἳ οὔτε ἡμέρας οὔτε νυκτὸς ἀφ’ αὑτῶν ἐάσουσί με ἀπιέναι φίλτρα τε μανθάνουσαι παρ’ ἐμοῦ καὶ ἐπῳδάς56.
Nicht weniger rätselhaft ft endet dieses Gespräch und das ganze Kapitel: Sokrates will zu Theodote nicht mehr kommen, lädt sie aber selbst zu sich ein; Theodote nimmt die Einladung gern an und bittet, sie hineinzulassen, wenn Th sie kommt. Darauf sagt Sokrates Folgendes: ἀλλ’ ὑποδέξομαί σε, ἔφη, ἐὰν μή τις φιλωτέρα σου ἔνδον ᾖ57.
Wer sind diese „Freundinnen“ des Sokrates? Diese Worte sind so unverständlich, dass nur wenige sie zu erläutern versuchten: Fast alle Kommentatoren vertreten – mehr oder weniger davon überzeugt – die allgemeine Meinung, dass die φίλαι Sokrates’ Schüler und Gesprächspartner seien58. Diese Auffassung ff ruft ft aber mehrere Fragen hervor, die von den Vertretern dieser Ansicht in der Regel außer Betracht gelassen werden. Zum einen: Wenn Sokrates seine Schüler und Freunde zum Scherz als „Freundinnen“ bezeichnet,
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Eine etwa geänderte Version dieses Abschnittes wird auf Englisch mit dem Titel Th and the Socratic Pleasure“ im Tagungsband der „Socratica III“ (23.-25. „Theodote Februar 2012, Trient, Italien) bald erscheinen: Chernyakhovskaya, 2013. Mem. 3.11.15: συνθηρατὴς τῶν φίλων. Mem. 3.11.16: „Ich habe aber auch Freundinnen, die mich Tag und Nacht beanspruchen, damit sie Liebesmittel und Liebeslieder von mir lernen.“ Mem. 3.11.18: „Ich werde dich schon aufnehmen, wenn ich nicht gerade eine Freundin bei mir habe, die mir noch lieber ist als du.“ Siehe Vlastos, 1991, 30: „these “girlfriends” are philosophers, depressingly male and middle-aged“; Goldhill, 1998, 121: „Socrates’ mastery (over desire) makes all his pupils his female friends“; Azoulay, 2004, 406: „cette bande de “copines” n’est autre que le cercle de ses disciples zélés“; Tilg, 2004, 196: „meint damit aber zweifellos seine im folgenden namentlich genannten Schüler“ (Hervorhebung von mir); Danzig, 2010, 174: „numerous young ladies, by whom he may be referring to male students whom he has reduced to feminine proportions“; Dorion & Bandini, 2011a, 388: „les “amies” de Socrate sont en fait les compagnons mentionnés au §17“; O’Connor, 2011, 62: „he already has too many admirers of his own – he names his philosophical companions Apollodorus, Antisthenes, Cebes, and Simmias“; Bevilacqua, 2010, 572: „quanto alle amiche a cui allude Socrate, altro non sono, come lo stesso Socrate chiarirà subito dopo, che i suoi discepoli più assidui.“ Ein Forscher hat außerdem vorgeschlagen, dass andere Hetären gemeint seien, denn Sokrates „did in fact have an eye for women“ (Lind, 1997, 289).
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warum nennt er dann gleich danach die Namen von einigen von ihnen und enthüllt also sofort sein Rätsel? Denn Sokrates sagt, dass die φίλαι ihn nie von sich gehen lassen und bei ihm Zaubermittel lernen; sofort danach aber behauptet er als Antwort auf den Ausruf von Theodote, Th er wisse auch dies, dass Apollodoros und Antisthenes ihn nie verlassen und Kebes und Simmias sogar aus Theben zu ihm kommen, weil sie alle unter Einwirkung eben dieser Zaubermittel stehen. Diese zwei Aussagen spricht Sokrates eine nach der anderen aus und lässt den Leser deshalb denken, dass es sich entweder um zwei verschiedene Bekanntenkreise handelt (die einen lassen Sokrates nicht von sich gehen und lernen Zaubermittel, während die anderen selbst ihn nicht verlassen und unter der Einwirkung dieser Zaubermittel stehen) oder immer um dieselben Freunde, die aber gleichzeitig die Zaubermittel sowohl lernen als auch von ihnen schon bezaubert sind. Zum Anderen: Wenn wir in den letzten Worten einen Hinweis auf einen von Sokrates’ Schülern finden, dann bekommen wir den Eindruck, Sokrates pfl flegte sich mit einem Schüler einzuschließen und mit ihm zu zweit zu sprechen59. Während Xenophon im Gegenteil betont, dass Sokrates immer vor aller Augen verkehrte und jeder Mensch ihn anhören konnte. Aber der wichtigste Grund, aus welchem die „Freundinnen“ m.E. nicht Sokrates’ Schüler bedeuten können, besteht darin, dass – wenn wir von unseren Kenntnissen der damaligen griechischen Kultur ausgehen – ein solcher Vergleich und letzten Endes eine Identifi fizierung der Schüler mit Frauen als eine unanständige und einer Beleidigung gefährlich nahe Anspielung aufgenommen werden konnte. Deswegen konnte weder Sokrates seine Schüler auf diese Weise bezeichnen (in ihrer Anwesenheit60!) noch Xenophon seinen Sokrates das in seiner apologetischen Schrift ft sagen lassen, während er hingegen alles aus seinem Text sorgfältig ausschließt, was auch nur indirekt zugunsten der Anklage hätte ausgelegt werden können, Sokrates habe die Jugend verdorben61. Es sind zwei verschiedene Auff ffassungen bei der Interpretation dieser Worte möglich: Man kann entweder einen inneren Sinn in ihnen suchen oder sie wörtlich nehmen. Findet man keinen „Hintersinn“, dann greift ft Sokrates (da keine Freundinnen von ihm im Text Xenophons vorkommen) zur 59
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Siehe Dorion & Bandini, 2011a, 391: „… il n’est pas exclu que τις φιλωτέρα désigne, parmi les φίλαι du §16 […], le compagnon qui entretient avec Socrate les rapports d’amitié les plus étroits.“ Vgl. auch Goldhill 1998, 121: „Th The next paragraph names Apollodoros, Antisthenes, Cebes and Simmias as Socrates’ companions at home, constantly with him because of his spells and lures“ (Hervorhebung von mir). Mem. 3.11.1-2: μνησθέντος αὐτῆς [Θεοδότης] τῶν παρόντων τινὸς […]. ἸἸτέον ἂν εἴη θεασομένους, ἔφη ὁ Σωκράτης […]. καὶ ὁ διηγησάμενος, Οὐκ ἂν φθάνοιτ’, ἔφη, ἀκολουθοῦντες. οὕτω μὲν δὴ πορευθέντες πρὸς τὴν Θεοδότην. Mem. 1.1.1: ἀδικεῖ δὲ καὶ τοὺς νέους διαφθείρων.
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Sprache von Hetären und verwendet ihren üblichen Ausdruck der Absage: „Ich kann nicht hineinlassen, weil bei mir [= ἔνδον] schon ein anderer ist.“ Als Beispiel dieser Formulierung sei hier nach David Ruhnken auf die Hetärengespräche des Lukian hingewiesen62. Sokrates lehnt Theodote Th mit der ihr gut bekannten und für sie herkömmlichen Formel ab. Dass er das Femininum verwendet, lässt sich in dieser Auff ffassung damit erklären, dass Sokrates der Theodote Th andere Rivalinnen gegenüberstellen muss, so wie die Hetäre einen Verehrer zurückweist, indem sie ihm jemanden anderen, erfolgreicheren, gegenüberstellt. Jedoch verwendet Sokrates diese Formel hier nur ad hoc und ohne tiefergehenden Gehalt: Er lehnt seine Gesprächspartnerin einfach auf die ihr vertraute Weise ab. Möchte man aber diese Worte des Sokrates ironisch verstehen und in ihnen einen anderen, von dem buchstäblichen abweichenden Sinn finden, dann müsste diese Ironie ihren Adressaten haben, der imstande ist, sie zu erkennen und zu verstehen: Nimmt jemand das ironisch Gesagte wörtlich, versteht er es falsch und verkehrt. Dann verliert die Ironie ihren Sinn, und dem Sprecher gelingt es nicht, das auszudrücken, was er wollte. M.E. ist dieser Adressat nicht Theodote, weil es im Text keine Hinweise darauf gibt, dass sie verstanden hat, dass Sokrates’ Worte etwas anderes zeigen können, als sie buchstäblich bedeuten63: Theodote hört Sokrates’ Absage in der ihr gewohnten Formulierung und versteht sie wörtlich. So ist der Adressat seiner Ironie jemand anderer, nämlich seine Schüler, die bei diesem Gespräch anwesend sind64. Ihnen ist wohlbekannt, dass Sokrates in Wirklichkeit keine Freundinnen hat (während es möglich und sogar sehr wahrscheinlich ist, dass TheoTh dote hingegen das nicht weiß; auch deshalb ist sie nicht unbedingt imstande, Sokrates’ Ironie zu erfassen), deswegen müssten sie gewiss darüber nachdenken, was er meint, wenn er von den φίλαι spricht. Vertritt man also die Meinung, Sokrates meine in dieser Passage nicht ganz genau, was er explizit sage, so muss man zugeben, dass dieses Rätsel von Sokrates auf seine Schüler abzielt, so dass die „Freundinnen“ – im Hinblick auf das oben Gesagte – vor allem aus diesem Grund m.E. nicht „Freunde“ bedeuten können. 62
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Lucian, Dialogi meretricii, 12.1: ἔνδον ἕτερος; siehe auch 8.3. Ruhnken, 1772, 235: „Est enim propria meretricum, amatores excludentium formula, ἔνδον ἕτερος.“ Siehe auch Santoni, 1989, 292: „l’espressione abituale con cui un’etera mandava via un cliente, dicendo appunto che c’era in casa qualcun altro.“ Contra Vlastos: „Since she [Th Theodote] is meant to see, and does see, that these “girlfriends” are philosophers, depressingly male and middle-aged, there is no question of her being misled into thinking that her visitor has a stable of pretty girls to whom he teaches love-potions“ (Vlastos, 1991, 30; Hervorhebung von mir). Vlastos bringt aber keine Argumente vor, die diesen Standpunkt bekräft ftigen könnten. Siehe oben S. 179 Anm. 60.
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Dies ist umso logischer, als m.E. Sokrates gerade wegen der Schüler zusammen mit ihnen zu Theodote geht, weil ansonsten der Sinn und die Aufgabe dieses Kapitels in den Memorabilien unverständlich bleiben: Wozu schildert Xenophon, der ein apologetisches Ziel in seiner Schrift ft verfolgt, Sokrates in einer solch zweideutigen Situation65? Denn Sokrates macht auf eigenen Wunsch einen Besuch bei der Hetäre, um ihre Schönheit mit eigenen Augen zu sehen, und gibt ihr dann Ratschläge darin, wie man am besten Freunde „fangen“ könne. Die Vermutung, dass Sokrates im Gespräch mit Theodote einen besonderen Zweck verfolgt, welchen er nicht explizit ausspricht, lässt außerdem die Tatsache erklären, dass er die Ratschläge gibt, welcher Theodote Th off ffensichtlich nicht bedarf: Ihr auff ffallender Wohlstand zeugt davon, dass es ihr auch ohne Sokrates’ Belehrungen sehr gut gelingt, Freunde zu „fangen“. Wenn dieses Kapitel keinen Trick und keinen tieferen Sinn hat, sieht der ganze Dialog absurd aus. M.E. ist Sokrates’ Besuch bei Theodote und seine Ratschläge an sie deshalb nur ein Vorwand für das Ausführen seines anderen Vorhabens66. Eine der wichtigsten Aufgaben Xeno-
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Dass der Sinn dieses Kapitels nicht ganz klar ist, können zwei gegensätzliche Auffassungen anschaulich machen. Delatte, 1933, 159: „[…] Xénophon c’est montré fort maladroit. La suprême maladresse a été d’intercaler cet entretien dans une série d’autres dialogues dont le thème général est Σωκράτης ὠφέλιμος ἦν (ch. 1 et 10), si bien que le lecteur a l’impression que Socrate cherchait à rendre service même aux courtisanes. A plus forte raison, le chapitre fait-il une déplorable impression quand on le rapproche, en comparant le ton et l’intention, de la Réplique à Polycrate des deux premiers chapitres du premier livre: nous avons ici un indice de plus que le dessein et l’esprit des Mémorables ou Souvenirs socratiques étaient très différents, ff à l’origine, de ceux de cette Réplique. Si encore l’auteur avait signalé l’avantage moral que pouvaient retirer les compagnons ordinaires de Socrate, disciples et amis, de cet entretien! On peut deviner en quoi il consiste: les voilà mis en garde contre les séductions féminines, jamais ils ne voudront faire figure de dupes et devenir ce gibier humain appâté, puis domestiqué par les courtisanes. Mais Xénophon ne souffle ffl mot de cette leçon et son silence montre bien que là n’est pas l’intérêt du dialogue: il est dans l’étude de la psychologie de l’amour vénal.“ Erbse, 1961, 280: „Als Menschenfreund begibt sich Sokrates auch zur Courtisane Th Theodote. Selbst diese belehrt er, indem er ihr klarmacht, daß sie ihre Seele, mit der allein sie treue Freunde gewinnen könnte, so gänzlich vernachlässige (vgl. 3,11,10). An einen Erfolg seines Unterrichts wird er freilich nicht geglaubt haben. Aber wenigstens die Jünger konnten von diesem Gespräch profitieren. fi Dem Autor dürft fte es lediglich darauf angekommen sein, die Leutseligkeit des Philosophen an einem eindrucksvollen Beispiel aufzuweisen. Man sollte keinen Tiefsinn in diesem schlichten und doch wirklich charmanten Kapitel suchen, besonders dann nicht, wenn man mit dem hier skizzierten Milieu so wenig vertraut ist wie die meisten modernen Kommentatoren.“ Es bleibt aber eine andere Frage: Warum Theodote Th ihrerseits sich als eine am Gesprächsthema interessierte Zuhörerin präsentiert? Nach Delatte sei Theodote Th naiv
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Der Begriff ff der Freundschaft
und dumm (Delatte, 1933, 151: „naïve et sotte d’invraisemblable façon“). Narcy hält aber ihre Naivität für vorgetäuscht: Es sei die Abwehrtaktik („la tactique défensive“), die sokratische Ironie des Platonischen Sokrates, die hier der Theodote zufalle, während der Xenophontische Sokrates selbst über die Ironie solcher Art nicht verfüge (Narcy, 2004, 229; vgl. das gegensätzliche Urteil von Zuccante, 1903, 27: „in nessun altro dialogo, forse, meglio che in questo coll’etéra Teodota, si rivela l’ironia di Socrate, quella sua arte mirabile di umorismo e di canzonatura“). Den Hinweis darauf, die Unwissenheit der Theodote sei eine bloße Vortäuschung, sieht Narcy in ihrer Frage: τί οὖν οὐ σύ μοι, ἔφη, ὦ Σώκρατες, ἐγένου συνθηρατὴς τῶν φίλων; (3.11.15). Narcy hat aber diesen Worten einen Sinn zugeschrieben, welchen sie im Griechischen nicht besitzen: Er hat die Form der Vergangenheit ἐγένου beachtet (irrtümlicherweise charakterisiert er sie als Imperfekt (Narcy, 2004, 229 f.), es ist aber ein Aorist 2. Person Singular des Verbs γίγνομαι) und auf Grund des Vergleichs mit den Präsens- oder Futurformen ist er zum falschen Schluss gekommen: Die Tatsache, dass Theodote Th eine Zeitform der Vergangenheit verwendet, verrate nach Narcy ihre Ironie – in Wirklichkeit habe sie die Jagd auf Freunde nicht nur schon vollendet, sondern auch von allein sehr gut verstanden, Freunde zu fangen, und habe es deshalb auch ohne Sokrates’ Hilfe erfolgreich getan. Narcy, 2004, 229 f.: „De façon tout à fait étonnante, les traducteurs ne tiennent aucun compte du fait que Théodote pose sa question à l’imparfait. […] c’est la nuance impliquée par l’imparfait, par diff fférence avec le présent ou le futur utilisé par les traducteurs – la chasse est finie […]“. Es ist aber Narcy selbst, der hier in einen Irrtum verfallen ist, und nicht die Übersetzer der Memorabilien, welche Narcy der Unachtsamkeit für die grammatischen Formen zu überführen versucht: Der Aorist, wenn er in einer Frage solcher Art mit τί (οὖν) οὐ verwendet wird, äußert das Erstaunen, dass etwas in der Vergangenheit nicht getan wurde; und solche Frage im ganzen ist mit dem Imperativ fast gleichbedeutend und kann Befehl, Vorschlag oder Bitte äußern (siehe z.B. Smyth, 1920, 432, §1936: „The Th aorist is used in questions with τί οὖν οὐ and τί οὐ to express surprise that something has not been done. Th The question is here equivalent to a command or proposal“ und Kühner & Gerth, 31898, 165 f., §386, 10: „In dringenden Auff fforderungen, welche in der Form einer durch τί οὖν οὐ oder τί οὐ eingeleiteten Frage ausgedrückt werden, wird der Aorist scheinbar statt des Präsens oft ft von den Attikern, namentlich in den Dialogen Xenophons und Platons, gebraucht, bewahrt aber auch hier seine eigentümliche Bedeutung. Der Redende wünscht in seiner Ungeduld gewissermassen die begehrte Handlung als eine schon geschehene zu sehen. […] Auch kann das Präsens stehen; der Ton der Frage ist alsdann ruhiger, jedoch ist der Ausdruckk stärker, als wenn der Imperativ oder der auff ffordernde Konjunktiv gebraucht wird.“ Unter den Beispielen finden wir hier auch unsere Passage Mem. 3.11.15. Noch ein Beispiel siehe z.B. in Mem. 4.6.14: τί οὖν οὐκ ἐκεῖνο πρῶτον ἐπεσκεψάμεθα, τί ἐστιν ἔργον ἀγαθοῦ πολίτου; „Lass uns zunächst betrachten…“). Diese Worte der Theodote enthalten keine Ironie, im Gegenteil – das ist eine inständige Bitte: „Werde dann mein Gefährte!“ Wir können diesen Satz entweder so übersetzen: „Warum denn bist du nicht mein Gefährte bei der Jagd auf Freunde geworden?“ oder so: „Warum würdest du nicht mein Gefährte?“ Darauf antwortet Sokrates: „[Ich werde dein Genosse,] wenn du mich überredest.“ Auf die Einladung der Theodote, ihr zu helfen, gibt Sokrates eine ganz adäquate Antwort und verfällt ebensowenig in einen Irrtum wie die Übersetzer, wie es Narcy vorgekommen ist. Seiner Interpretation widerspricht außerdem der Fortgang des Gesprächs: Wenn Theodote nur so tut, als ob sie nicht verstünde, Freunde zu „fangen“ (Narcy, 2007, Th
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phons in seiner Schrift ft ist zu beweisen, dass Sokrates für alle seine Schüler und Gesprächspartner äußerst nützlich war67. Deswegen liegt die Vermutung nahe, dass auch dieses Kapitel dieselbe Aufgabe hat: Wenn Sokrates sich zu Theodote begibt und das ganze Gespräch mit ihr führt, will er damit seinen Th Schülern und Freunden eine Lehre erteilen. Das Kapitel beginnt mit der Erläuterung, wie es passiert ist, dass Sokrates ins Haus der Theodote gelangte. Einer seiner Gesprächspartner hat erwähnt, dass ihre Schönheit jeder Beschreibung spottet, und Sokrates hat deshalb vorgeschlagen, zu ihr zu gehen und sie zu sehen, weil derjenige, der nur gehört habe, nicht begreifen könne, was der Beschreibung spotte68. Das Idiom κρείττων λόγου bedeutet „unbeschreiblich“, wörtlich übersetzt bedeuten aber die Worte von Sokrates’ Schüler (κρεῖττον λόγου τὸ κάλλος) „die Schönheit der Frau sei mächtiger als λόγος“, d.h. – wenn man ein wenig übertreiben darf – „das Körperliche sei mächtiger als das Rationale“69. Dass Sokrates selbst diese Worte noch einmal wiederholt, zeugt davon, dass sie seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen haben: Er geht zu Theodote, Th nicht um sie zu sehen und um das kennenzulernen, was sich durch das Sprechen nicht kennenlernen lässt, sondern um zu demonstrieren, dass die Schönheit nicht mächtiger als die Rede ist70. Bewusst fordert Sokrates als Verkörperung
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59: „ovviamente, l’innocenza manifestata da Teodote non può essere a sua volta che finta“), aber in diesem Satz ihre Ironie sich zeigen lässt und damit andeutet, dass sie fi der Hilfe nicht bedarf, warum fragt sie dann nachher, wie sie Sokrates überreden könne, ihr zu helfen? Und warum bittet sie Sokrates, sie bei sich aufzunehmen, wenn sie zu ihm kommt? Die Bitte der Theodote um Hilfe und alle ihre Fragen sind m.E. spaßhaft fte Äußerungen, die für das sympotische Gespräch kennzeichnend sind und die Sokrates auch halb im Scherz und halb im Ernst beantwortet: Siehe unten S. 191 Anm. 96 und 97. Siehe z.B. Mem. 1.3.1; 3.1.1; 3.10.1; 4.1.1. Mem. 3.11.1: […] μνησθέντος αὐτῆς τῶν παρόντων τινὸς καὶ εἰπόντος ὅτι κρεῖττον εἴη λόγου τὸ κάλλος τῆς γυναικός […] ἰτέον ἂν εἴη θεασομένους, ἔφη ὁ Σωκράτης, οὐ γὰρ δὴ ἀκούσασί γε τὸ λόγου κρεῖττον ἔστι καταμαθεῖν. Vgl. auch Goldhill, 1998, 115: „In this remark Socrates also utilises the standard Greek criterion of the primacy of vision and presence – the eye-witness – as the only adequate basis of knowledge.“ Vgl. Danzig, 2010, 173: „Translating overly literally, this expression implies that the power of her beauty is greater than the power of reason“; O’Connor, 2011, 61: „… «the beauty of this woman is beyond description», or more literally «stronger than logos».“ In diesem Punkt stimmt meine Auff ffassung mit der von Narcy vorgeschlagenen Interpretation vollkommen überein: „On comprend maintenant pourquoi Socrate s’est rendu chez Théodote: l’affi ffirmation qu’il existait quelque chose (en l’occurrence une beauté) de plus fort que la parole l’a, en réalité, piqué au vif. S’il se rend sans délai chez Théodote, ce n’est pas à cause de l’attrait qu’exercerait sur lui la beauté féminine, mais
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des ‚Logos‘ Th Theodote als verkörperte Schönheit zum Duell, um seinen Schülern die Überlegenheit des Rationalen, der Rede (wie auch immer wir das Wort λόγος übersetzen können) über das Körperliche zu beweisen. Sokrates’ Sieg wäre aber scheinbar, wenn hinter den „Freundinnen“, wegen welcher er Theodote zurückgewiesen hat, sich seine Freunde verstecken: In diesem Fall wäre dies eine Demonstration nicht der Überlegenheit des ‚Logos‘ über das Körperliche, sondern Sokrates’ eigener Vorliebe. Daraus, dass Sokrates die Gesellschaft ft seiner Schüler lieber ist als die von Theodote, könnten diese Schüler keine nützliche Lehre ziehen. Aus allem Gesagten ergibt sich, dass – möchte man in Sokrates’ Worten eine tiefere Bedeutung finden – die φίλαι nicht „Freunde“ bedeuten und das Wort ἔνδον in der letzten Replik nicht „innen im Hause“ bedeutet. Es bedeutet „im Innern des Sokrates selbst“71, und die in ihm liegenden φίλαι, die ihn Tag und Nacht von sich nicht gehen lassen, sind seine sokratischen ‚Vergnügen‘, ἡδοναί72.
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au contraire pour en démentir au plus tôt la supériorité prétendue sur le discours; et il ne ressort pas de chez la courtisane sans avoir, face à une beauté réputée l’emporter sur les mots, assuré la victoire d’un discours en réalité plus fort que la beauté“ (Narcy, 2004, 215). Siehe auch Narcy, 2007, 55: „La sua immediata decisione di andare – non da solo, ma, come al solito, circondato dai suoi compagni – a vedere la donna gli è stata ispirata non dalla curiosità, ma dalla necessità di confutare […] l’idea stessa che qualche cosa potesse rivelarsi «più forte del logos»“; Gray, 1998, 145: „The Th point of Socrates’ analysis of her attractions is of course that they are after ft all not beyond speech“; Danzig, 2010, 173; Dorion & Bandini, 2011a, 379 f. Die gleiche Auff ffassung wurde kürzlich von Michel Narcy vorgeschlagen: Siehe Narcy, 2004, 218. Siehe auch Narcy, 2008, 31 und Dorion & Bandini, 2011a, 391. In der ffe: τὸ δὲ τοὺς Apologie sagt Sokrates, dass er seine Genüsse aus seiner Seele beschaff ἄλλους μὲν τὰς εὐπαθείας ἐκ τῆς ἀγορᾶς πολυτελεῖς πορίζεσθαι, ἐμὲ δὲ ἐκ τῆς ψυχῆς ἄνευ δαπάνης ἡδίους ἐκείνων μηχανᾶσθαι (Apol. 18). Es ist interessant, dass Sokrates von seinen φίλαι sagt, dass sie ihn Tag und Nacht nicht gehen lassen: οὔτε ἡμέρας οὔτε νυκτὸς ἀφ’ αὑτῶν ἐάσουσί με ἀπιέναι. D.h. Sokrates ist gewissermaßen unfrei, er unterwirft ft sich ihnen. Oben wurde bereits erwähnt (siehe S. 45), dass Sokrates als „Sklaven“ und „unfreie Menschen“ die unbeherrschten Menschen bezeichnet, d.h. diejenigen, die sich den körperlichen Genüssen unterwerfen und von ihnen beherrscht werden. Außerdem nennt er in Oec. 1.20 und 1.23 die verderblichen körperlichen ἡδοναί explizit „Herrinnen“, δέσποιναι, und in Mem. 1.5.5 „Herren“, δεσπόται, und stellt ihnen die „guten Herren“ gegenüber: ἐμοὶ μὲν δοκεῖ […] δουλεύοντα δὲ ταῖς τοιαύταις ἡδοναῖς ἱκετευτέον τοὺς θεοὺς δεσποτῶν ἀγαθῶν τυχεῖν. οὕτω γὰρ ἂν μόνως ὁ τοιοῦτος σωθείη. Nach Gigon bedeuten diese Worte, dass der unbeherrschte Mensch nichts mehr übrig habe, als zu hoffen, ff dass die Götter sein Flehen hören und seine δεσπόται werden, indem sie ihn aus der Sklaverei der körperlichen Begierden befreien: „[…] wer aber selbst Sklave der Lust ist, kann nur noch darum beten, dass die Götter sich ihm als gute Herren erweisen mögen“
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Im Gespräch mit Theodote spricht Sokrates darüber, dass man den Freund mit Gewalt weder gewinnen noch halten kann: Dieses „Tier“ sei durch Wohltat und Freude zu erjagen73. Im folgenden erläutert er, worin jedes dieser beiden Verfahren der „Jagd“ auf Freunde besteht. Was die Wohltaten betrifft fft, besteht der Hauptgrundsatz der Freundschaft ft – wie wir das schon oben im ersten Abschnitt dieses Kapitels gesehen haben – in gegenseitigen Dienstleistungen74. Um dem Freund das möglichst größte Vergnügen aber zu bereiten, muss man die wichtigste Regel der sokratischen ‚Diät‘ befolgen: das Vergnügen nicht eher zu gewähren als bis das Bedürfnis nach diesem seinen Höhepunkt erreicht75. Seine These veranschaulicht Sokrates in diesem Gespräch wie immer am Beispiel des Vergnügens am Essen, aber er gibt daneben auch zu verstehen, dass Theodote ihren Freunden Vergnügen etwa anderer Art gewährt: χαρίζοιο δ’ ἂν μάλιστα, εἰ δεομένοις δωροῖο τὰ παρὰ σεαυτῆς76. Indem Sokrates mit Theodote über Genüsse spricht, meint er den Bereich des körperlichen Vergnügens und hält Theodote Th selbst für
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(Gigon, 1953, 150). M.E. aber meint Sokrates damit, dass der unbeherrschte Mensch sich nur in dem Fall vor dem unvermeidlichen Unglück retten kann, wenn es ihm gelingt, die „Herren“ zu wechseln, d.h. sich aus der Abhängigkeit von den körperlichen Vergnügen zu befreien und in den Dienst anderer ἡδοναί zu treten. Die erwähnten Passagen sprechen m.E. zugunsten der hier vorgeschlagenen Interpretation, dass Sokrates’ φίλαι seine Vergnügen sind, welche in anderen Kapiteln der Memorabilien den körperlichen Vergnügen gegenübergestellt sind; siehe auch unten S. 188 f. Anm. 87. Wem noch kann Sokrates sich unterwerfen, der nur seinen eigenen Grundsätzen und folglich seinen eigenen Bestrebungen und Genüssen gehorcht? (Von Apollodoros und Antisthenes sagt Sokrates, dass sie ihn nie verlassen (3.11.17: οὐδέποτέ μου ἀπολείπεσθαι), von seinen „Freundinnen“ aber, dass sie ihn nicht lassen gehen.) Mem. 3.11.11: καὶ γὰρ δὴ βίᾳ μὲν οὔτ’ ἂν ἕλοις οὔτε κατάσχοις φίλον, εὐεργεσίᾳ δὲ καὶ ἡδονῇ τὸ θηρίον τοῦτο ἁλώσιμόν τε καὶ παραμόνιμόν ἐστιν. Mem. 3.11.12: αὐτὴν ἀμείβεσθαι χαριζομένην τὸν αὐτὸν τρόπον. Mem. 3.11.13-14: ὁρᾷς γὰρ ὅτι καὶ τῶν βρωμάτων τὰ ἥδιστα, ἐὰν μέν τις προσφέρῃ πρὶν ἐπιθυμεῖν, ἀηδῆ φαίνεται […], ἐὰν δέ τις προσφέρῃ λιμὸν ἐμποιήσας, κἂν φαυλότερα ᾖ, πάνυ ἡδέα φαίνεται. […] τηνικαῦτα γὰρ πολὺ διαφέρει τὰ αὐτὰ δῶρα ἢ πρὶν ἐπιθυμῆσαι διδόναι. Über die sokratische ‚Diät‘ siehe S. 21 ff. ff Mem. 3.11.13. Während Sokrates die Präposition παρά mit Genitiv verwendet (siehe LSJ: „issuing from a person“): τὰ παρὰ σεαυτῆς – „all that issues from any one“, benutzt Theodote eine Konstruktion mit Dativ („beside, at one’s house or place, with one“): πῶς οὖν ἄν, ἔφη, ἐγὼ λιμὸν ἐμποιεῖν τῳ τῶν παρ’ ἐμοὶ δυναίμην. Auf Sokrates’ Frage, woher sie Mittel zum wohlhabenden Leben hat, antwortet Theodote, Th sie habe das ihren „Freunden“ zu verdanken, die ihre Wohltäter sein „wollen“: ἐάν τις, ἔφη, φίλος μοι γενόμενος εὖ ποιεῖν ἐθέλῃ, οὗτός μοι βίος ἐστί (3.11.4). Alles das, was auf „la vénalité de l’amour de la courtisane“ (Delatte, 1933, 151) anspielen könnte, wird hingegen sorgfältig verborgen.
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Der Begriff ff der Freundschaft
eine Quelle von solchen. Oben im Kapitel III war darüber die Rede, dass Sokrates selbst kein Bedürfnis nach solchen Genüssen hat, da sein Vergnügen anderer Art ist77: Sokrates’ Vergnügen an der Selbstverbesserung entlässt ihn weder Tag noch Nacht und macht alle anderen möglichen Genüsse für ihn unnötig. Die letzten Worte im Dialog mit Theodote Th bedeuten also, dass Sokrates keineswegs die Absicht hat, Freundschaft ft mit ihr zu schließen: Für das sokratische Vergnügen ist ihre Freundschaft ft nicht nötig. So kommt Sokrates ins Haus zu Theodote mit dem Ziel, ein Duell mit ihr auszutragen und seinen Schülern zu beweisen, dass das Körperliche nicht mächtiger als das Rationale ist. Dass Sokrates aus diesem Kampf als Sieger hervorgeht, ergibt sich aus Folgendem. Am Anfang des Kapitels, im ersten Satz, wird gesagt, dass Theodote mit demjenigen verkehrte, der sie überzeugte (οἵας συνεῖναι τῷ πείθοντι). Das bedeutet, dass die Initiative in der Herstellung der Beziehungen nicht von Theodote ausging: Man musste sie überreden, wenn man ihre Zuneigung suchte. Sokrates verkehrt aber die Situation ganz ins Gegenteil: Als Antwort auf ihre Einladung, ihr bei der „Jagd“ auf Freunde zu helfen, erwidert Sokrates, er könnte ihr helfen, wenn sie ihn überredete. Es ist nicht zufällig, dass er das Pronomen „du“ betont: ἐάν γε νὴ Δί’, ἔφη, πείθῃς με σύ, „wenn du mich überredest“78. Wenn wir uns das ganze Gespräch als ein Duell der Schönheit, die Theodote Th repräsentiert, und des rationalen ‚Logos‘, der sich in Sokrates’ Figur verkörpert, vorstellen, dann müssen wir den Sieg des Sokrates behaupten: Die Schönheit der Theodote hat ihn nicht überzeugt, während Sokrates’ Rede Theodote völlig Th besiegt hat. Sie muss – vielleicht zum ersten Mal – nicht überredet werden, sondern selbst überreden: Die Schönheit allein kann nicht überzeugen, der λόγος hingegen ist auch ohne Schönheit imstande, zu überzeugen und zu überreden. Es ist nicht die Schönheit, die stärker ist, sondern der ‚Logos‘ ist stärker als die Schönheit79. Mit gutem Erfolg hat Sokrates die Aussage
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Siehe S. 149 ff. ff Mem. 3.11.15. Man kann vermuten, dass es Sokrates’ Selbstbeherrschung ist, die der von der Schönheit stammenden Versuchung widerstanden hat: Xenophon betont nicht einmal, dass Sokrates eine so starke Enthaltsamkeit hat, dass keine Verführung für ihn gefährlich ist. Bestände aber die Aufgabe dieses Kapitels der Memorabilien darin, einfach Sokrates’ erstaunliche Selbstbeherrschung noch einmal zu zeigen, würde es genügen, nur Sokrates’ Verhalten darzustellen; die Schilderung der Reaktionen der TheodoTh te wären aber dann unnötig. Da Sokrates die Form der 2. Person Plural verwendet: ἡμεῖς δὲ ἤδη τε ὧν ἐθεασάμεθα ἐπιθυμοῦμεν ἅψασθαι καὶ ἄπιμεν ὑποκνιζόμενοι καὶ ἀπελθόντες ποθήσομεν (Mem. 3.11.3), behauptet Vlastos irrtümlicherweise Folgendes: „Xenophon adds the precious information (which we never get from Plato) that Socrates is also susceptible to female beauty“ (Vlastos, 1991, 35). Zu Recht verweist
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seines Gesprächspartners widerlegt und das Ziel seines Besuches bei Th Theodote erreicht. Es ist nicht von ungefähr, dass weiter auf die Frage, wie sie ihn überreden könnte, Sokrates antwortet, sie müsse selbst einen Weg finden. fi Sokrates hat den Zweck seines Besuchs schon erfüllt, deswegen hat er keine Lust mehr, das Gespräch weiter zu führen; und er macht das deutlich mit seiner Antwort. Theodote führt das Gespräch aber weiter und Sokrates benutzt dann diese Gelegenheit, um den anwesenden Schülern noch eine Lehre zu geben. Der Schlussteil des Dialogs80, in welchem Sokrates von seinen „Freundinnen“ spricht, ist für sie bestimmt – es ist hier nicht mehr von der „Jagd“ auf Freunde der Theodote die Rede. Indem Sokrates Theodote loszuwerden versucht, deutet er gleichzeitig seinen Schülern mit seiner ironischen Metapher an, dank wem er die Schönheit erobern konnte. Im Kapitel I wurde oben bemerkt, wie viel Xenophons Sokrates von der Notwendigkeit der Selbstbeherrschung spricht und welche Bedeutung er der enthaltsamen und beherrschten Lebensweise beimisst. Ständig stellt er den körperlichen Genüssen andere gegenüber, die viel stärker, aber nur für selbstbeherrschte Menschen erreichbar sind. Sokrates’ tüchtige und treue Schüler, die sich die wichtigsten Grundsätze seiner Lehre angeeignet haben, sind also völlig imstande, diese Ironie zu erfassen und ihren Sinn zu verstehen: Dank seinem unermüdlichen Streben nach den ‚sokratischen‘ Vergnügen konnte er die körperlichen besiegen81. Wieder einmal hat Sokrates hier seine Worte mit seinen Taten wie gewöhnlich bestätigt82. Wenn er in seinen Reden erklärt, dass die enthaltsame Lebensweise sogar in Hinsicht auf die körperlichen Genüsse – so paradox dies im ersten Augenblick scheinen mag – besser sei, weil nur diese sie im möglichst höchsten Maße empfinden fi lässt83, zeigt er
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Danzig auf Mem. 4.2.23 (οὐκοῦν δεῖ παντὶ τρόπῳ διατειναμένους φεύγειν ὅπως μὴ ἀνδράποδα ὦμεν) als ein Beispiel dafür, dass Sokrates das Pronomen „wir“ aus Höflichkeit gegen seine Gesprächspartner verwenden kann, ohne sich in Wirklichkeit in dieses „wir“ einzureihen: „In fact, Socrates easily overcomes whatever passions Theodote may arouse, displaying no outward sign of weakness. […] His display of disinterest suggests that his eagerness to meet Theodote Th stemmed from his desire to achieve a personal and political victory over a rival rather than to enjoy a pleasurable interlude“ (Danzig, 2010, 172; siehe auch 173). Mem. 3.11.16-18. Siehe Mem. 1.6.8: τοῦ δὲ μὴ δουλεύειν γαστρὶ μηδ’ ὕπνῳ καὶ λαγνείᾳ οἴει τι ἄλλο αἰτιώτερον εἶναι ἢ τὸ ἕτερα ἔχειν τούτων ἡδίω […]; Vgl. auch Zuccante, 1903a, 28: „La chiusa del dialogo singolare […] indica chiaramente lo scopo ultimo dell’ opera, della vita di Socrate: ammaestrare all’ amore della virtù, al culto della sapienza.“ Siehe Mem. 1.3.1; 1.2.18; 1.5.6; 4.4.1; 4.4.10; 4.5.1. Mem. 4.5.9. Siehe oben S. 27.
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Der Begriff ff der Freundschaft
im Gespräch mit Theodote Th schon in der Tat die Vorteile der enthaltsamen Lebensweise: Wenn man nach den körperlichen Genüssen strebt, muss man Theodote überreden, wenn man aber nach der Tugend strebt, dann kommt Th und überredet Theodote selbst. Es bleibt eine Unklarheit in der von mir vorgeschlagenen Interpretation: Wenn Sokrates’ φίλαι seine ἡδοναί sind, dann lernen sie von ihm Zaubermittel: φίλτρα μανθάνουσαι παρ’ ἐμοῦ καὶ ἐπῳδάς84. Auf den ersten Blick scheint diese Äußerung absurd. Aber was sind eigentlich diese Zaubermittel? Sokrates’ Freunde Apollodoros, Antisthenes, Kebes und Simmias stehen alle – Sokrates’ Scherz zufolge – unter Einwirkung von seinen Zaubermitteln. Dem Leser der Memorabilien ist es aber bekannt, dass Sokrates’ treue Freunde nach dem Umgang mit ihm streben, um mit seiner Hilfe tugendhaft ft zu werden: Es ist nicht zufällig, dass gerade Simmias und Kebes unter denen genannt sind, die infolge ihres Wunsches, καλοὶ κἀγαθοί zu werden, an Sokrates hängen85. Die Zaubermittel, die seine Schüler zu Sokrates ziehen, sind – wenn man ein wenig verallgemeinern darf – eine Metapher für die bezaubernde Kraft ft der Tugend, die sie alle zwingt, nach ihr zu streben. Zwei andere Stellen scheinen eine potenzielle Möglichkeit dieses „Entschlüsselns“ indirekt bestätigen zu können. Bemerkenswert ist hier außerdem, dass Sokrates in den Memorabilien von Zaubermitteln jedes Mal dann spricht, wenn er und sein Gesprächspartner (oder seine Gesprächspartnerin) über das Thema Th der Freundschaft ft diskutieren. Im Gespräch mit Kritobulos behauptet Sokrates noch einmal, es sei nicht einfach, einen Freund gegen seinen Willen zu fangen. Und wenn Kritobulos fragt, wie man einen Freund gewinnen kann, antwortet Sokrates, es gebe gewisse ἐπῳδαί und φίλτρα, und diejenigen, welche sie kennen, machen mit ihrer Hilfe jeden zum Freund, den sie wollen86. Kritobulos will auch diese Zaubermittel erlernen, und Sokrates führt ein Beispiel aus dem homerischen Epos an: Die Sirenen sangen dem Odysseus Lob und versuchten ihn dadurch zu berücken87. Da Sokrates keine
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Mem. 3.11.16. Merkwürdig ist Gigons Auff ffassung. Denn in seiner Interpretation sind es nicht die φίλαι, die bei Sokrates lernen, sondern Sokrates hat bei ihnen gelernt: „In III, 11 bemerkt Sokrates, nachdem er Theodote ausführliche Ratschläge gegeben hat, wie sie Freunde gewinnen soll, er sei selber durch φίλαι in den Besitz von φίλτρα, ἐπῳδαί und ἴυγγες gelangt, die ihm ermöglichten, seine Freunde, Apollodoros und die andern, an sich zu fesseln“ (Gigon, 1956, 133 f.). Wer diese φίλαι sind, erklärt Gigon aber nicht. Mem. 1.2.48. Mem. 2.6.10. Diese Erwähnung der Sirenen ist interessant: In seiner Antwort auf Kritobulos’ Frage spricht Sokrates nur die erste Zeile des Lieds der Sirenen aus (Od. XII, 184); ein paar Zeilen weiter singen sie in der Odyssee, dass derjenige, welcher sie hört, Freude
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anderen Zaubermittel kennt , liegt der Schluss nahe, dass die Zaubermittel das Lob, die Lobrede sind. Diese Auff ffassung ist in der Forschung üblich89, es lohnt sich aber m.E. folgendes Detail zu beachten: Ein solches Zaubermittel (ταύτην τὴν ἐπῳδήν) wirkt nach Sokrates’ Worten nur auf diejenigen Menschen, welche nach der Tugend streben (τοῖς ἐπ’ ἀρετῇ φιλοτιμουμένοις). Da Sokrates die Regel befolgt, die Menschen allein dafür zu preisen, was sie in Wirklichkeit besitzen90, lobt er meistens nicht den Gesprächspartner, sondern die Tugend selbst als „bezaubernde“ Kraft ft, welche ihn anregen müsste, nach ihr zu streben (wie z.B. im Gespräch mit Kritobulos im sechsten Kapitel des zweiten Buches)91. Auch in diesem Zusammenhang besteht Sokrates’
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und Wissen empfängt (Od. XII, 188: ἀλλ’ ὅ γε τερψάμενος νεῖται καὶ πλείονα εἰδώς). So dienen die Sirenen gleichzeitig als Allegorie sowohl der Versuchung als auch des Wissens. In der neuplatonischen Tradition dienen sie als Allegorie der sinnlichen Genüsse und Freuden (siehe z.B. Rahner, 31966, 303; Courcelle, 1974-1975, 416 ff.). Andererseits bleiben die Sirenen durch die Jahrhunderte wie bei Homer (Od. XII, 189-191) allwissend (siehe Rahner, 31966, 303 ff.). Mir scheint die entstehende Parallele geschickt: Wie die Sirenen den Odysseus zu bezaubern suchen, so berücken den Sokrates seine φίλαι – eine Allegorie seiner besonderen ἡδοναί, die seinem Streben nach dem Wissen entspringen. Mem. 2.6.13. Siehe Dorion & Bandini, 2011a, 200 f.: „… les incantations (ἐπῳδάς) auxquelles Socrate fait allusion ne sont rien d’autre que les éloges mérités que l’on adresse à la personne dont on cherche à se gagner l’amitié. Les incantations produisent une forme de persuasion qui s’obtient par le moyen du discours… […] C’est en raison de ce pouvoir d’ensorceler l’interlocuteur et d’en disposer ainsi à sa guise, par le moyen de la louange […], que le discours socratique est qualifi fié, de façon métaphorique, d’incantation magique“ (vgl. auch Dorion, 2009, 110). Siehe auch Narcy, 2008, 31: „Que les philtres et incantations dont use Socrate ne soient autres que ses paroles, autrement dit l’expression de sa sagesse, on l’admettrait sans trop de peine.“ Mem. 2.6.12; 2.6.37-38. Mem. 2.6.37: πότερα δ’ ἄν, ἔφη ὁ Σωκράτης, ὦ Κριτόβουλε, δοκῶ σοι μᾶλλον ὠφελεῖν σε τὰ ψευδῆ ἐπαινῶν ἢ πείθων πειρᾶσθαί σε ἀγαθὸν ἄνδρα γενέσθαι. Vgl. Ehlers, 1966, 102: „Das sich vorher sichernde Loben ist ein Überreden zum Gutwerden. Dabei enthüllt sich als letztes Ziel der sokratischen Kunst der Freundesvermittlung das Hinleiten zum Gutsein. Um zur ἀρετή anzuregen, ist das Verlangen nach dem guten ft erkannt.“ Vgl. auch Morrison 1987, 17: „… SoFreund als eine mächtige Triebkraft crates leads Critoboulos to agree that useless men cannot be friends with anyone – certainly not with good men, and not even among themselves. This Th was of course not at all a common or traditional opinion. It was Socratic, new, and revolutionary. Socrates uses this principle as a means for urging Critoboulos on toward virtue: Friends are acknowledged to be among the most valuable of possessions; but only good men can have good friends; so we must do all we can to become good.“
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Der Begriff ff der Freundschaft
„Zaubermittel“ im Lob der Tugend, die eine „bezaubernde“ Kraft ft hat. Zum dritten Mal in den Memorabilien werden die φίλτρα im Gespräch mit Chairekrates über die Freundschaft ft zwischen den Brüdern erwähnt. In diesem Fall führt Sokrates diese Zaubermittel auf folgende Regel zurück: Wenn man mit jemandem Freundschaft ft schließen möchte, muss man diesem als erster Gutes antun92. Da aber nur gute, d.h. tugendhafte, ft Menschen das Gute tun können, ist es offensichtlich, ff dass man zuerst die Tugend erwerben muss, bevor man auf die „Jagd“ auf Freunde gehen kann93. In allen drei Fällen sind die ἐπῳδαί und φίλτρα in Sokrates’ Rede – wenn auch auf indirekte Weise – mit dem Begriff ff der Tugend verbunden94. Wenn wir aber zusammenfassen, dass die Tugend Wissen ist und daher lernbar ist und dass der Prozess des Erwerbs von Wissen, d.h. der Prozess der Selbstverbesserung, Sokrates ein wahres und sein einziges Vergnügen gewährt, so bekommen wir die Formel des sokratischen Vergnügens – des Vergnügens, welches vom Lernen, d.h. vom Erwerb von Wissen und Tugend, herkommt. Sokrates’ Gespräch mit Theodote widerspricht folglich dem Grundgedanken der Memorabilien nicht95, ganz im Gegenteil bestätigt es bildlich die wesentlichen Ideen der sokratischen Schrift ften Xenophons und demonstriert gleichzeitig Xenophons Geschicklichkeit: Indem sein Sokrates die Sprache der Hetären nicht ungeschickt verwendet, um Theodote Th auf ihr verständliche Weise abzuweisen, verleiht er denselben Worten gleichzeitig auch einen
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Mem. 2.3.11-14. Siehe auch oben darüber, dass nur tugendhafte ft Menschen nach Xenophons Sokrates Freunde werden können. Vgl. Gigon, 1956, 134: „Jedenfalls kann kein Zweifel darüber sein, daß die Pointe an allen drei Stellen im Prinzip dieselbe ist: Das scheinbar so geheimnisvoll abgelegene Zaubermittel ist in Wirklichkeit eine völlig durchsichtige, ja banale ethisch-gesellschaft ftliche Regel. Dabei ist dieses bei Platon wie bei Xenophon auft ftretende Spiel nur eine besondere Variante eines vor allem bei Platon weit ausgreifenden und wichtigen Vorgangs: der Umsetzung rationaler Prozesse und Erkenntnisse in die psychagogische Sprache des äußeren Lebens oder der Religion, der Mysterien, der Zauberei“ und Neitzel, 1981, 61: „Ein solches Urteil scheint mir nicht gerade philosophisch zu sein, denn der Satz, ein guter Freund sei nur dadurch zu gewinnen, dass man sich selbst zurechtschafft fft und dann einem guten Menschen mit Worten und Taten Gutes erweist, mag eine “banale ethisch-gesellschaft ftliche Regel” sein, aber um derart einfache Wahrheiten geht es tatsächlich in der Philosophie und Religion.“ Siehe z.B. Delatte, 1933, 159: „[…] Xénophon c’est montré fort maladroit. La suprême maladresse a été d’intercaler cet entretien dans une série d’autres dialogues dont le thème général est Σωκράτης ὠφέλιμος ἦν (ch. 1 et 10), si bien que le lecteur a l’impression que Socrate cherchait à rendre service même aux courtisanes.“
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tieferen Sinn und gibt damit seinen Schülern noch eine Lehre, so dass diese ganze Episode die Behauptung Xenophons nachdrücklich bekräft ftigt, dass für Sokrates’ Gesprächspartner und Freunde nicht nur seine ernsthaften ft Gespräche nützlich waren, sondern auch seine spaßhaften ft Unterhaltungen97. Zum Abschluss dieses Abschnittes empfiehlt fi es sich, die schon mehrmals erwähnte Interpretation von Michel Narcy kurz zu betrachten, der diesem Kapitel der Memorabilien drei seiner Aufsätze in den letzten Jahren gewid-
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Die Verbindung von Ernst und Scherz in diesem Gespräch mit Theodote Th macht dieses Kapitel der Memorabilien der sympotischen Literatur ähnlich. Vgl. den ersten Satz des Symposion Xenophons: ἀλλ’ ἐμοὶ δοκεῖ τῶν καλῶν κἀγαθῶν ἀνδρῶν ἔργα οὐ μόνον τὰ μετὰ σπουδῆς πραττόμενα ἀξιομνημόνευτα εἶναι, ἀλλὰ καὶ τὰ ἐν ταῖς ff zweiπαιδιαῖς (Symp. 1.1). Siehe auch Huß, 1999a, 65: „Sokrates liebt es auch, Begriffe deutig zu gebrauchen, das eine im Scherz zu sagen und doch das andere im Ernst zu meinen.“ Siehe Mem. 4.1.1: οὕτω δὲ Σωκράτης ἦν ἐν παντὶ πράγματι καὶ πάντα τρόπον ὠφέλιμος, ὥστε τῷ σκοπουμένῳ τοῦτο καὶ μετρίως αἰσθανομένῳ φανερὸν εἶναι ὅτι οὐδὲν ὠφελιμώτερον ἦν τοῦ Σωκράτει συνεῖναι καὶ μετ’ ἐκείνου διατρίβειν ὁπουοῦν καὶ ἐν ὁτῳοῦν πράγματι· […] καὶ γὰρ παίζων οὐδὲν ἧττον ἢ σπουδάζων ἐλυσιτέλει τοῖς συνδιατρίβουσι. Vgl. auch Mem. 1.3.8: τοιαῦτα μὲν περὶ τούτων ἔπαιζεν ἅμα σπουδάζων. Siehe Huß, 1999a, 65: „Es ist ein typischer Charakterzug eines Xenophontischen καλὸς κἀγαθός, nicht nur ernsthaft ft (μετὰ σπουδῆς) zu sprechen und zu handeln, sondern auch ‘Spaß zu verstehen’ […]. Natürlich kommt diese Qualität dem Xenophontischen Sokrates zu, der nicht nur ernsthaft ft belehrt, sondern seine Ausführungen auch mit humorvollen Vergleichen zu würzen versteht […]. Sokrates gebraucht hier ebensowenig wie irgendein anderer von X.s καλοὶ κἀγαθοί den Humor im Sinne einer albernen Kinderei, sondern dazu, augenzwinkernd die Wahrheit zu sagen.“ Den Xenophontischen Sokrates kennzeichnet „seine eigene, auf παιδεία ausgerichtete Art der παιδιά“ (Huß, 1999a, 66). Den scherzhaften ft Charakter dieses Kapitels unterstreicht auch Breitenbach, zieht aber einen anderen Schluss: „Mit diesem Gespräch hat X. deutlich in die Sphäre des σπουδαιογέλοιον gegriffen ff […]. Daß er das Gespräch in seine sonst so ernsthaft fte Sammlung aufgenommen hat, wird wohl einer gewissen Variatio zuliebe geschehen sein“ (Breitenbach, 1967, 1820 f.). M.E. handelt es sich hier weniger um eine Variatio als um eine strikte Durchführung von Xenophons Vorhaben und um eine Bekräft ftigung mit bildlichen Beispielen der ausgesprochenen Th These, dass Sokrates in allem nützlich war. Sokrates’ Gespräch mit Theodote ist ein Stück Symposion in den Memorabilien. Die in der gegenwärtigen Forschung eher vernachlässigte Parallele zwischen diesem Kapitel der Memorabilien und Xenophons Symposion bzw. der sympotischen Literatur im ganzen hat schon früher zu Recht Joël gezogen: „Doch möglich und verständlich wird sie [die Szene] sogleich, wenn man sie aus der Abgerissenheit bei Xenophon (vielleicht als Erzählung) in das burleske Phantasietreiben eines Symposions stellt. Aber eines Symposions, das zugleich ein Protreptikos ist. Denn der Zweck des Ganzen ist sichtlich, die Protreptik auch in einer Situation zu zeigen, die sich ihr am meisten zu versagen scheint“ (Joël, 1901, II,2, 716).
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met und eine neue Auff ffassung von Sokrates’ rätselhaft ften Worten vorgeschlagen hat98. Meine Interpretation ist seiner Auff ffassung in manchem ähnlich (obwohl alle meine Überlegungen von mir ganz unabhängig angestellt wurden), der Gedankengang und der wesentliche Schluss sind bei Narcy aber andere: Beim Vergleich von Sokrates’ Gespräch mit Theodote Th in den Memorabilien mit der Rede des Alkibiades im Symposion Platons99 kommt Narcy zum Schluss, dass die φίλαι und τις φιλωτέρα σου, von denen Sokrates bei Xenophon spricht, nichts anderes als Sokrates’ Seele bedeuten. Nach Narcy lerne Theodote Th bei ihrer eigenen Seele, Sokrates sei aber der einzige, der im Gegenteil seine eigene Seele lehre. Das sei der Sinn der Worte φίλαι […] φίλτρα τε μανθάνουσαι παρ’ ἐμοῦ καὶ ἐπῳδάς (leider erläutert Narcy nicht, was φίλτρα und ἐπῳδαί in diesem Fall bedeuten, d.h. was eigentlich Sokrates’ Seele bei ihm lernt100). Von Theodote sagt Sokrates hingegen, dass in ihrem
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Siehe Narcy, 2004; 2007 und 2008. Zur gleichen Zeit wie der erste von den erwähnten Aufsätzen ist auch ein Aufsatz von Stefan Tilg erschienen (Tilg, 2004), der ebenfalls diesen Dialog mit Theodote untersucht und auch eine originelle Interpretation vorschlägt. Es scheint, dass keiner von den beiden den Beitrag des anderen kennt. Übrigens betrachtet Tilg Sokrates’ Gespräch unter einem ganz anderen Blickwinkel. Die Auffassung ff von Giuseppe Zuccante ist völlig in Vergessenheit geraten: „Appunto quelle amiche alle quali lo scherzoso uomo dice d’insegnare l’arte dei filtri fi e delle incantagioni, e che non lo lascieranno partire nè dì nè notte, sono come i simboli delle virtù, e quell’amica più cara che, stando con lui, gl’impedirà di accogliere in casa altra donna, è la sapienza“ (Zuccante, 1903a, 28; wahrscheinlich befolgt Zuccante Fouillée, 1874, II, 200 f.). Diese Interpretation erwähnt weder Narcy, der ein Jahrhundert n ebenfalls etwas anderes gefunden hat als nach Zuccante in Sokrates’ „Freundinnen“ es üblich ist, noch Dorion, der einige ähnliche Interpretationen anführt: Dorion & Bandini, 2011a, 392. Dorion selbst vertritt die Meinung, τις φιλωτέρα sei die Sophrosyne (ibidem); Breitenbach stellt nur eine rhetorische Frage: „Handelt es sich bei der ‘φιλωτέρα’ um die φιλοσοφία oder die ἀρετή?“ (Breitenbach, 1967, 1820). Pl. Symp. 215a-222a. Die Ähnlichkeit zwischen diesem Kapitel der Memorabilien und der Rede des Alkibiades bei Platon hat schon Delatte beachtet: „Mais ici la proclamation de la maîtrise ès arts d’amour de Socrate prend une forme imagée: il connaît des philtres, des charmes et d’autres pratiques de magie amoureuse grâce auxquelles il ensorcelle ses compagnons. Sans aucun doute, il s’agit ici de la fascination exercée tant par la personne du maître que par sa philosophie et sa méthode d’enseignement. On pense tout naturellement à rapprocher de ce passage le discours fameux du Banquett de Platon où Alcibiade décrit l’enchantement de sa parole et l’enthousiasme que suscite son contact. On peut croire que Xénophon, en saisissant l’occasion qui s’off ffrait ici à lui de comparer sous cette forme l’amour spirituel et divin avec sa misérable et grossière parodie, l’amour profane et charnel, s’est inspiré du magnifi fique passage du Banquett de Platon“ (Delatte, 1933, 153). Darüber schreibt er in seinem anderen Aufsatz: „Que les philtres et incantations dont use Socrate ne soient autres que ses paroles, autrement dit l’expression de sa sagesse,
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Körper sich ihre Seele befinde, fi welche sie lehre, auf welche Weise sie sich zu benehmen habe: ἐν δὲ τούτῳ [sc. σώματι] ψυχήν, ᾗ καταμανθάνεις…101. Zum Beweis seines Urteils, dass Sokrates – im Unterschied zu Theodote (und allen anderen Menschen) – seine Seele lehre und nicht selbst bei ihr lerne, verweist Narcy noch auf eine Stelle aus dem ersten Buch der Memorabilien: διαίτῃ δὲ τήν τε ψυχὴν ἐπαίδευσε καὶ τὸ σῶμα […]102. Nach Narcy sage Xenophon von keinem Menschen außer Sokrates, dass er „seine Seele erzogen hat“. Aus diesen Überlegungen zieht er den folgenden Schluss: „Socrate, lui, par contraste, “a éduqué (ἐπαίδευσε)” son âme, ce qui est bien une manière de dire qu’il exerce sur elle l’autorité d’un maître: bien loin de le placer sous l’empire de son âme […], l’enkrateia de Socrate consiste en ce qu’il tient jusqu’à son âme en son pouvoir“103. Diese Interpretation gibt eine originelle Lösung der bisher unbeantworteten Fragen, aber auch sie scheint nicht ganz stichhaltig zu sein. Zum einen ist die ἐγκράτεια – wie es oben im Kapitel II erörtert wurde – die Eigenschaft ft eben der Seele des Menschen. Zum anderen bleibt Folgendes doch unklar: Wenn Sokrates selbst seine eigene Seele lehrt, was ist dann Sokrates selbst? Wir haben keinen Grund, den Verstand der Seele gegenüberzustellen und zu behaupten, dass es Sokrates’ Verstand ist, der seine
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on l’admettrait sans trop de peine“ (Narcy, 2008, 31). Dann bedeutet es in seiner Interpretation, dass Sokrates’ Seele bei ihm das Reden lernt. Mem. 3.11.10. Siehe Narcy, 2008, 32 f. Mem. 1.3.5. Den Dativ διαίτῃ hält Narcy für instrumental: „par son régime de vie, Socrate a éduqué son âme, et pas seulement son corps“ (Narcy, 2004, 219; siehe auch 2008, 36). Vgl. auch Marchants Übersetzung: „He schooled his body and soul by following a system…“. Ich betrachte diesen Dativ aber als fi final und schließe mich Dorions Auff ffassung an: „il avait plié son âme et son corps à un régime…“ (vgl. auch die Übersetzung von Bevilacqua: „educava l’anima e il corpo a un regime di vita…“). M.E. bedeutet die Äußerung „hat durch Diät erzogen“, dass die Erziehung schon zu Ende ist, die folgenden Worte zeigen aber, dass es um die stetige Lebensweise geht und nicht um einen vorübergehenden erzieherischen Zeitraum: διαίτῃ δὲ τήν τε ψυχὴν ἐπαίδευσε καὶ τὸ σῶμα, ᾗ χρώμενος ἄν τις, εἰ μή τι δαιμόνιον εἴη, θαρραλέως καὶ ἀσφαλῶς διάγοι καὶ οὐκ ἂν ἀπορήσειε τοσαύτης δαπάνης (es gibt in diesem Satz schon einen instrumentalen Dativ: ᾗ χρώμενος, deswegen wäre es auch stilistisch besser, wenn διαίτῃ ein Dativ anderer Art wäre). Für die Auffassung ff „hat seine Seele und seinen Körper an die Lebensweise gewöhnt“ spricht auch die Tatsache, dass es sich in diesem Passus um die Enthaltsamkeit (ἐγκράτεια) handelt, die keine ständige Eigenschaft ft des Menschen ist. Obwohl die Enthaltsamkeit keines anderen Menschen sich mit der Enthaltsamkeit des Sokrates messen kann, ist sie ihrem Wesen nach auch bei Sokrates dieselbe, d.h. auch Sokrates’ ἐγκράτεια erfordert eine ununterbrochene Übung. Daher kann die „Erziehung“ zur Enthaltsamkeit sogar bei Sokrates nicht zu Ende sein. Narcy, 2004, 233.
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Der Begriff ff der Freundschaft
Seele lehrt, denn die φρόνησις und das Wissen befinden fi sich nach dem Xenophontischen Sokrates gerade in der Seele des Menschen104. Und schließlich ist dieser Vergleich als solcher, dass Sokrates seine Seele lehrt, während alle anderen Menschen hingegen bei ihren Seelen lernen, nicht gut begründet. Im Gespräch mit Aristodemos stellt Sokrates die Menschen allen anderen Lebewesen gegenüber und sagt unter anderem Folgendes: ποία δὲ ψυχὴ τῆς ἀνθρωπίνης ἱκανωτέρα […] πρὸς μάθησιν ἐκπονῆσαι, ἢ ὅσα ἂν ἀκούσῃ ἢ ἴδῃ ἢ μάθῃ ἱκανωτέρα ἐστὶ διαμεμνῆσθαι105. Bei allen Menschen ist es die Seele, die lernt. Außerdem müssen alle Menschen ihre Seelen üben (τὴν ψυχὴν ἀσκεῖν)106; und die von Natur höchst begabten Seelen bedürfen am meisten der Erziehung107. Es ergibt sich, dass Xenophon das Wort παιδεύειν nicht nur in Bezug auf Sokrates’ Seele, sondern auf die Seelen aller Menschen verwendet, so dass die von Narcy vorgeschlagene Auff ffassung vom lexikalischen Standpunkt aus nicht unwiderlegbar ist. M.E. sind die Worte ἐν δὲ τούτῳ [sc. σώματι] ψυχήν, ᾗ καταμανθάνεις καὶ ὡς ἂν ἐμβλέπουσα χαρίζοιο καὶ ὅ τι ἂν λέγουσα εὐφραίνοις […], die Sokrates zu Theodote Th sagt, folgendermaßen zu verstehen: „In deinem Körper befindet fi sich die Seele, dank welcher du begreifst“, [auf welche Weise du dich zu benehmen hast]. Bei Theodote, Th wie bei allen Menschen einschließlich Sokrates, befindet fi sich das Wissen in der Seele, deshalb kann sie nur „mittels“ ihrer Seele richtig handeln. Dass Sokrates seine Seele „erzogen“ hat, ist im Lichte der eben zitierten Behauptung zu verstehen: Die Erziehung ist für alle Menschen erforderlich, und unter dieser „Erziehung“ wird vor allem das Üben und das Trainieren der Enkrateia gemeint, wie oben im Kapitel II ausgeführt wurde.
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Mem. 1.2.53; siehe auch 1.4.14 und 1.4.17. Davon zeugen auch Sokrates’ Worte aus seinem Gespräch mit Aristippos, wenn er von der Notwendigkeit der Arbeit und Mühe spricht: αἱ μὲν ῥᾳδιουργίαι καὶ ἐκ τοῦ παραχρῆμα ἡδοναὶ […] οὔτε ψυχῇ ἐπιστήμην ἀξιόλογον οὐδεμίαν ἐμποιοῦσιν […] (Mem. 2.1.20). Mem. 1.4.13. Mem. 1.2.19. Mem. 4.1.4: ὁμοίως δὲ καὶ τῶν ἀνθρώπων τοὺς εὐφυεστάτους, ἐρρωμενεστάτους τε ταῖς ψυχαῖς ὄντας καὶ ἐξεργαστικωτάτους ὧν ἂν ἐγχειρῶσι, παιδευθέντας μὲν καὶ μαθόντας ἃ δεῖ πράττειν ἀρίστους τε καὶ ὠφελιμωτάτους γίγνεσθαι […], ἀπαιδεύτους δὲ καὶ ἀμαθεῖς γενομένους κακίστους τε καὶ βλαβερωτάτους γίγνεσθαι.
Mem. 3.11
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Im Rahmen einer Ethik, derzufolge jeder Mensch immer so handelt, wie er es für vorteilhaft ft für sich selbst hält, ist das Modell von Freundschaft ft, die auf dem Nutzen beruht, logisch und gut begründet: Es ist nützlich, Freunde zu haben, deswegen ist es nützlich, sich um sie zu kümmern, damit sie weiter Freunde bleiben wollen. Dieses Freundschaft ftsmodell des Xenophontischen Sokrates entspricht sehr gut dem utilitaristischen Charakter seiner Vorstellung von Tugend: Da es einerseits nützlich ist, Freunde zu haben, und da andererseits nur tugendhaft fte Menschen Freunde haben können, ist es folglich nützlich, tugendhaft ft zu sein. Obwohl die Sympathie (fast) keine Rolle in diesem Freundschaft ftsmodell spielt, ist der Nutzen, welchen Freunde einander bringen können, nicht nur materiell, sondern auch intellektuell und geistig. Die Liebe unterscheidet sich von der Freundschaft ft dadurch, dass sie nicht auf Nutzen, sondern auf Sympathie beruht. Und obwohl die geistige Liebe der körperlichen sicher weit überlegen ist, ist es noch sehr fraglich, ob Xenophons Sokrates die Homosexualität kategorisch ablehnt.
V Gesetze und Gesetzestreue Bei der Untersuchung der politischen Ansichten des Xenophontischen Sokrates ist eine Lösung des scheinbaren Widerspruchs in seinen Aussagen von zentraler Bedeutung: Einerseits kritisiert er die Demokratie als ein Regierungssystem, in dem diejenigen im politischen Bereich tätig sind, die das dazu notwendige Wissen nicht haben; andererseits behauptet er aber, dass das Gesetzliche gerecht sei und es deswegen immer gerecht sei, Gesetzen zu gehorchen.
1. Das Gesetzliche und das Gerechte Xenophons Sokrates behauptet, dass das Gesetzliche gerecht sei und derjenige, der Gesetzen gehorche, gerecht handle. Daraus entsteht die Frage, ob die Begriff ffsumfänge des Gesetzlichen und des Gerechten gleich sind oder das Gerechte einen größeren Begriff ffsumfang hat als der ihm gehörende Begriff ff des Gesetzlichen oder diese Begriff ffsumfänge sich überschneiden, so dass es einerseits das gibt, was gesetzlich und nicht gerecht ist, und andererseits das, was gerecht und nicht gesetzlich ist?
1.1. Mem. 4.6.5-6 Im sechsten Kapitel des vierten Buches der Memorabilien berührt Sokrates im Gespräch mit Euthydemus kurz die Frage, welcher Mensch als gerecht gelten kann. Die Gesprächspartner sind sich darüber einig, dass es bestimmte Gesetze gibt, die vorschreiben, wie Menschen miteinander verkehren sollen, und dass diejenigen, die nach diesen Gesetzen leben, handeln, wie es sein muss1. Schematisch lässt sich dieser Gedanke folgenderweise aufzeichnen:
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Mem. 4.6.5: ἀνθρώποις δὲ ἆρα ἔξεστιν ὃν ἄν τις τρόπον βούληται χρῆσθαι; Οὐκ ἀλλὰ καὶ περὶ τούτους [ὁ εἰδὼς ἅ] ἐστὶ νόμιμα καθ’ ἃ δεῖ [πρὸς] ἀλλήλοις χρῆσθαι [νόμιμος ἂν εἴη]. Οὐκοῦν οἱ κατὰ ταῦτα χρώμενοι ἀλλήλοις ὡς δεῖ χρῶνται; Πῶς γὰρ οὔ; Die Bedeutung der Wörter ὁ νόμος und τὸ νόμιμον ist an dieser Stelle nicht zu erörtern, es genügt nur darauf hinzuweisen, dass die beiden sowohl ‚Gesetz‘, als auch ‚Brauch‘ bedeuten können (siehe z.B. Guthrie, 1969, 56 und Morrison, 1995, 330; vgl. auch Dodds, 1959, 266: „Hence the distinction between what is legally enforceable and what is morally right was much less clear-cut among the Greeks than it is with us“), daher werde ich keinen Unterschied zwischen den beiden Wörtern machen, umso mehr weil im Abschnitt Mem. 4.6.5-6 τὰ νόμιμα und οἱ νόμοι als Synonyma gebraucht werden.
Das Gesetzliche und das Gerechte
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ὡς δεῖ = νόμιμον. Weiter stimmt Euthydemus folgendem Urteil zu: Diejenigen, die mit den anderen umgehen, wie es sein muss, gehen mit ihnen gut um2, d.h.: ὡς δεῖ = καλόν. Nachher könnten wir die Schlussfolgerung erwarten: νόμιμον = καλόν (hier handelt es sich selbstverständlich immer um die menschlichen Beziehungen, d.h.: das νόμιμον [gegen Menschen] ist καλόν [gegenüber Menschen]). Doch lässt Sokrates diesen Schluss sowie noch eine Prämisse – die Gleichung «καλόν [gegenüber Menschen] = δίκαιον» (darüber spricht er an einer anderen Stelle3) – aus und leitet sofort die Schlussfolgerung ab: νόμιμον = δίκαιον4. Es ist zu beachten, dass Sokrates und Euthydemus von den νόμοι und τὰ νόμιμα in diesem Dialog sprechen und den abstrakten Begriff ff τὸ νόμιμον nicht erwähnen, doch ist es kein Fehler, ‚οἱ νόμοι‘ und ‚τὰ νόμιμα‘ in unserer Analyse, die Sokrates’ Urteile und seine Gedankenfolge zusammenfassen soll, durch ‚τὸ νόμιμον‘ zu ersetzen, weil der Xenophontische Sokrates auch selbst diesen Ersatz an einer anderen Stelle anwendet. Außerdem ist es für sein Gesprächsverfahren charakteristisch, die Analyse eines abstrakten moralischen Begriff ffes gegen die Analyse des konkreten Trägers dieser Eigenschaft ft auszuwechseln5. So ist τὸ νόμιμον das von Gesetzen Vorgeschriebene, und es ergibt sich folgende Gleichung: νόμιμον = ὡς δεῖ = δίκαιον6. Kaum kann der zweite Teil dieser Gleichsetzung (δίκαιον = ὡς δεῖ) bestritten werden, denn die objektive Gerechtigkeit ist nach ihrer Definition fi das rechte Verhältnis zu anderen Menschen. Während aber im Paar «δίκαιον = ὡς δεῖ» das Richtige das objektivv Richtige ist, das von den Menschen unabhängig ist und als Ursprung des Wissens vom Richtigen und als Kriterium der Gerechtigkeit dienen kann, so ist das Richtige im ersten Teil dieser Gleichung – «νόμιμον = ὡς δεῖ» – das
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Mem. 4.6.5: Οὐκοῦν οἵ γε ὡς δεῖ χρώμενοι καλῶς χρῶνται; Πάνυ μὲν οὖν, ἔφη. Οὐκοῦν οἵ γε τοῖς ἀνθρώποις καλῶς χρώμενοι καλῶς πράττουσι τὰ ἀνθρώπεια πράγματα; Εἰκός γ’, ἔφη. Mem. 3.9.5: τά τε γὰρ δίκαια καὶ πάντα ὅσα ἀρετῇ πράττεται καλά τε κἀγαθὰ εἶναι. Als Entschuldigung solches Auslassens in der logischen Gedankenführung kann man Xenophons Hinweis vorbringen, dass er in diesem Kapitel nur Sokrates’ Art der Untersuchung zeigen will, ohne alle seine Äußerungen (lückenlos) darzulegen: πάντα μὲν οὖν ᾗ διωρίζετο πολὺ ἔργον ἂν εἴη διεξελθεῖν· ἐν ὅσοις δὲ τὸν τρόπον τῆς ἐπισκέψεως δηλώσειν οἶμαι, τοσαῦτα λέξω (Mem. 4.6.1). Mem. 4.6.5-6: Οὐκοῦν οἱ τοῖς νόμοις πειθόμενοι δίκαια οὗτοι ποιοῦσι; Πάνυ μὲν οὖν, ἔφη. Δίκαια δὲ ἔφη, οἶσθα ὁποῖα καλεῖται; Ἃ οἱ νόμοι κελεύουσιν, ἔφη. Siehe z.B. Mem. 4.6.2-4 und 4.6.7. Mem. 4.6.6: οἱ ἄρα ποιοῦντες ἃ οἱ νόμοι κελεύουσι δίκαιά τε ποιοῦσι καὶ ἃ δεῖ; Πῶς γὰρ οὔ;
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normativv Richtige, das hingegen subjektiv und von den Menschen abhängig ist. Wenn der Begriff ff τὸ δίκαιον nach der Befreiung vom Menschlichen strebt, entspringt τὸ νόμιμον gerade der menschlichen Natur. Folglich ist das ὡς δεῖ in den beiden Hälft ften der Gleichung nicht ein und dasselbe, deswegen kann selbst die Gleichsetzung «νόμιμον = δίκαιον» falsch sein. Wenn die Prämisse «ὡς δεῖ = νόμιμον» falsch ist, dann ist Sokrates’ Schluss «νόμιμον = δίκαιον» auch falsch. Das kurze Gespräch des Sokrates mit Euthydemus über Gerechtigkeit ruft ft folgende Fragen hervor: Ob die Gesetze das objektiv Richtige vorschreiben können, damit die Gleichung νόμιμον = δίκαιον zutrifft? fft Was für Gesetze sind diese? Wer bestimmt bzw. kann bestimmen, worin das objektiv Richtige besteht, und folglich wer erlässt wirklich gerechte Gesetze? Wenn Gesetze das Gerechte bestimmen, gibt es dann kein Gerechtes außerhalb des Gebietes der Gesetze? D.h.: Wenn das νόμιμον das δίκαιον ist, ist auch das δίκαιον immer das νόμιμον? Dass man diesem Dialog keine Antworten auf diese Fragen abgewinnt und dass die Fragen selbst von Sokrates und seinem Gesprächspartner nicht erörtert werden, ist möglicherweise mit der Aufgabe dieses Kapitels der Memorabilien zu erklären. Es wird behauptet, dass derjenige, der über das Wissen verfügt, es nach Sokrates’ Ansicht auch den anderen erklären kann, während der Unwissende sich nicht nur selbst irrt, sondern auch die anderen täuscht7. Es liegt aber auf der Hand, dass Xenophon sich bemüht hat, den Nutzen des Sokrates für seine Gesprächspartner zu beweisen, daher kann der Xenophontische Sokrates niemanden in die Irre führen, er muss folglich wissen z.B. was gerecht ist, und muss fähig sein, das zu erklären. Zum anderen macht sich der Leser mit diesem Dialog im sechsten Kapitel des vierten Buches der Memorabilien bekannt, nachdem er ein längeres Gespräch des Sokrates mit Hippias über dasselbe Thema Th im vierten Kapitel desselben Buches gelesen hat. Vielleicht gibt die kurze Besprechung in Mem. 4.6 nur eine Zusammenfassung der Schlüsse, zu denen Sokrates und Hippias schon früher gekommen sind? Es lohnt sich daher, diesen Dialog zu betrachten und zu versuchen, in ihm Antworten auf die gestellten Fragen zu fi finden.
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Mem. 4.6.1: Ὡς δὲ καὶ διαλεκτικωτέρους ἐποίει τοὺς συνόντας, πειράσομαι καὶ τοῦτο λέγειν. Σωκράτης γὰρ τοὺς μὲν εἰδότας τί ἕκαστον εἴη τῶν ὄντων ἐνόμιζε καὶ τοῖς ἄλλοις ἂν ἐξηγεῖσθαι δύνασθαι· τοὺς δὲ μὴ εἰδότας οὐδὲν ἔφη θαυμαστὸν εἶναι αὐτούς τε σφάλλεσθαι καὶ ἄλλους σφάλλειν· ὧν ἕνεκα σκοπῶν σὺν τοῖς συνοῦσι, τί ἕκαστον εἴη τῶν ὄντων, οὐδέποτ’ ἔληγε.
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1.2. Mem. 4.4 Hippias kritisiert die Gewohnheit des Sokrates, seinen Gesprächspartnern Fragen zu stellen, ohne sich selbst dazu zu äußern, und verlangt, dass er eine direkte Antwort darauf gibt, was er für das Gerechte hält8. Auch in diesem Fall ersetzt Sokrates zunächst die Analyse des abstrakten Begriff ffes τὸ δίκαιον durch eine Untersuchung der Frage, was einen Menschen gerecht macht, und behauptet, dass derjenige gerecht ist, der das Ungerechte vermeidet9. Nachdem Hippias aber diesen Trick des Sokrates aufdeckt, der der Antwort auf die gestellte Frage (ὅ τι νομίζεις τὸ δίκαιον εἶναι) auf solche Weise erst entgehen wollte10, sagt Sokrates folgendes: […] σκέψαι ἐὰν τόδε σοι μᾶλλον ἀρέσκῃ· φημὶ γὰρ ἐγὼ τὸ νόμιμον δίκαιον εἶναι.
Obwohl diese Äußerung des Sokrates eine neue und anscheinend eine relevantere und konkretere Idee gibt, kann sie, streng genommen, als Antwort auf Hippias’ Frage auch nicht gelten, weil Hippias gebeten hat, ‚das Gerechte‘ zu defi finieren, die Behauptung aber, dass das Gesetzliche gerecht ist, ist keine Definition fi des Gerechten11. Sokrates erklärt also nicht, was das Gerechte ist, sondern führt einen neuen Begriff ff ein – ‚das Gesetzliche‘ – und behauptet, dass der Umfang des Begriff ffes ‚das Gesetzliche‘ zum Umfang des Begriff ffes ‚das Gerechte‘ gehört. Da Hippias immer noch danach strebt, eine klare Definition des Gerechten von Sokrates zu hören, fragt er sofort, ob Sokrates fi meint, dass das Gesetzliche und das Gerechte ein und dasselbe sind, und Sokrates bejaht seine Frage: ἆρα τὸ αὐτὸ λέγεις, ὦ Σώκρατες, νόμιμόν τε καὶ δίκαιον εἶναι; Ἔγωγε, ἔφη.
Von sich aus behauptet Sokrates in diesem Dialog, dass das Gesetzliche gerecht ist, aber er stimmt auch der Äußerung seines Gesprächspartners zu,
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Mem. 4.4.9: […] ὅ τι νομίζεις τὸ δίκαιον εἶναι. ἀρκεῖ γὰρ ὅτι τῶν ἄλλων καταγελᾷς ἐρωτῶν μὲν καὶ ἐλέγχων πάντας, αὐτὸς δ’ οὐδενὶ θέλων ὑπέχειν λόγον οὐδὲ γνώμην ἀποφαίνεσθαι περὶ οὐδενός. Mem. 4.4.10-12. Um fähig zu sein, das Ungerechte zu meiden, muss man wissen, was ungerecht ist; das kann man aber nicht wissen, wenn man zugleich nicht weiß, was gerecht ist. Derjenige, der das Ungerechte vermeidet, ist folglich gerecht: τὸ μὴ θέλειν ἀδικεῖν ἱκανὸν δικαιοσύνης ἐπίδειγμα εἶναι. Mem. 4.4.12: δῆλος εἶ, ἔφη, ὦ Σώκρατες, καὶ νῦν διαφεύγειν ἐγχειρῶν τὸ ἀποδείκνυσθαι γνώμην, ὅ τι νομίζεις τὸ δίκαιον. Die Behauptung, die Johannisbeere sei eine Beere, ist keine Definition fi der Beere: Die Johannisbeere gehört zu den Beeren, aber eine solche Äußerung klärt nicht auf, was eigentlich eine Beere ist.
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dass das Gerechte das Gesetzliche ist. Es ergibt sich, dass der Xenophontische Sokrates hier die Gleichung des Gesetzlichen und des Gerechten, d.h. die völlige Übereinstimmung der beiden Begriffsumfänge, ff vertritt: τὸ νόμιμον = τὸ δίκαιον [ὅπερ νόμιμον, τοῦτο καὶ δίκαιόν ἐστι]. Anschließend sagt Hippias: οὐ γὰρ αἰσθάνομαί σου ὁποῖον νόμιμον ἢ ποῖον δίκαιον λέγεις.
Hier spricht Hippias m.E. nicht von den Begriffen ff des Gesetzlichen und des Gerechten, sondern schon von den gesetzestreuen und gerechten Menschen (eine doppelte Auff ffassung ist wegen des Akkusativs möglich)12. Denn nachher führt Sokrates die Diskussion so – gerade nach den eben zitierten Worten des Hippias übernimmt Sokrates endgültig die Rolle des führenden Gesprächspartners –, um Hippias zu einem Urteil darüber zu bringen, was ein gesetzestreuer Mensch (ὁ νόμιμος) und was ein gerechter Mensch (ὁ δίκαιος) ist; und dieser Teil des Gesprächs lässt keinen Zweifel aufk fkommen: Hier geht es um die Menschen und nicht um die Begriff ffe. Hätte Hippias gefragt, was Sokrates unter dem Gesetzlichen und dem Gerechten versteht, dann entginge die grobe Auswechselung des Gesprächsgegenstandes dem Hippias nicht. Einerseits scheint mir der Xenophontische Sokrates in der Diskussion zu geschickteren Manövern befähigt zu sein, andererseits ist Hippias kein einfältiger Gesprächspartner, der sich so leicht mit einer offensichtlichen ff Auswechselung täuschen lässt. Außerdem bestätigt die Partikel γάρ in den angeführten Worten des Hippias diese Auff ffassung: Wenn man in der Replik des Hippias einen Hinweis auf die Begriff ffe sieht, dann bleibt die Partikel γάρ unerklärlich. Wenn wir die beiden betrachteten Äußerungen des Hippias jetzt vereinen, dann bekommen wir folgendes: „Hältst du das Gesetzliche und das Gerechte für dasselbe? Ich frage es darum, weil ich nicht verstehe, welchen Menschen du in diesem Fall gesetzestreu und welchen gerecht nennst.“ Sobald es dem Hippias scheint, dass er endlich eine Definition fi des Gerechten gehört hat (das Gerechte sei das Gesetzliche), fragt er, ob das bedeuten soll, dass derjenige gerecht ist, der gesetzestreu ist, und dass derjenige gesetzestreu ist, der gerecht ist („welchen Menschen nennst du gesetzestreu und welchen gerecht [– oder behauptest du, diese seien zwei Wörter für ein und denselben Menschen?]“). Darauf spricht Sokrates zunächst von dem Menschen, welchen man als gesetzestreu bezeichnen soll: Gesetzestreu ist derjenige, der nach den Gesetzen handelt, und ungesetzlich ist derjenige,
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Mem. 4.4.13. Siehe z.B. Marchants Übersetzung: „Because I don’t see what you mean by lawful or what you mean by just“; Dorions: „Je ne saisis pas bien ce que tu appelles «légal» et ce que tu appelles «juste»“ und die von Bevilacqua: „Non capisco, però, che cosa intendi per ‘conforme alla legge’ e che cosa intendi per ‘giusto’“.
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der sie verletzt . Weiter könnte der Leser erwarten, dass es um die Frage gehen wird, welcher Mensch als gerecht bezeichnet werden kann, doch führt Sokrates das Gespräch anders: Er kehrt zu seiner Ausgangsthese zurück, dass das Gesetzliche gerecht ist, und behauptet, dass derjenige, der die Gesetze befolgt, tut, was gerecht ist. Zusammengefasst lässt sich sagen: Da der nach Gesetzen Handelnde τὸ νόμιμον tut und da τὸ νόμιμον gerecht ist, tut folglich der nach Gesetzen Handelnde τὸ δίκαιον, derjenige aber, der die Gesetze verletzt, tut hingegen τὸ ἄδικον14. Da aber – Sokrates führt noch eine Prämisse ein – der das Gerechte Tuende gerecht ist, ist folglich der gesetzestreue Mensch (ὁ νόμιμος) ein gerechter Mensch (ὁ δίκαιος)15. Um zum Schluss zu kommen, dass der gesetzestreue Mensch gerecht ist, geht Sokrates von seiner ersten These aus, die ihrerseits unbewiesen bleibt: Warum eigentlich das Gesetzliche gerecht ist, erklärt Sokrates im betrachteten Teil des Dialogs mit Hippias nicht. Außerdem hat Hippias gebeten, eine Defi finition des Begriff ffes ‚das Gerechte‘ zu geben, Sokrates aber hat ‚das Gesetzliche‘ (τὸ νόμιμον ist das von Gesetzen Vorgeschriebene) und den ‚gesetzestreuen‘ Menschen (ὁ νόμιμος ist derjenige, der nach den Gesetzen handelt) definiert. fi ‚Das Gerechte‘ defi finiert Sokrates bei Xenophon nicht, weil die Behauptung ‚das Gesetzliche ist gerecht‘ als Definition fi des Gerechten, wie schon erwähnt, nicht gelten kann. Wenn andererseits das Gesetzliche dem Gerechten gleich ist, kann der Begriff ff des Gerechten mit der Defi finition des Gesetzlichen bestimmt werden; in diesem Fall wird aber das Gerechte dem Gesetzlichen einfach gleichgestellt. Wenn der Begriff ff des Gerechten kein charakteristisches Merkmal hat, welches ihn vom Begriff ff des Gesetzlichen unterscheidet, dann ist τὸ δίκαιον als Begriff ff überfl flüssig, weil es keine spezifi fische Bedeutung hat. Wenn τὸ νόμιμον und τὸ δίκαιον gleich sind, bleibt außerdem folgende Frage unbeantwortet: Können die Gesetze alle Bereiche des menschlichen Lebens umfassen und vorschreiben, auf welche Weise Menschen in allen möglichen Situationen handeln sollen? Mit anderen Worten, ist kein Gerechtes außerhalb des Rahmens des Gesetzlichen möglich, d.h. ein Gerechtes, welches von den Gesetzen nicht vorgeschrieben ist16? 13
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Mem. 4.4.13: Οὐκοῦν, ἔφη, νόμιμος μὲν ἂν εἴη ὁ κατὰ ταῦτα πολιτευόμενος, ἄνομος δὲ ὁ ταῦτα παραβαίνων; Πάνυ μὲν οὖν, ἔφη. Ibidem: Οὐκοῦν καὶ δίκαια μὲν ἂν πράττοι ὁ τούτοις πειθόμενος, ἄδικα δ’ ὁ τούτοις ἀπειθῶν; Πάνυ μὲν οὖν. Ibidem: Οὐκοῦν ὁ μὲν τὰ δίκαια πράττων δίκαιος, ὁ δὲ τὰ ἄδικα ἄδικος; Πῶς γὰρ οὔ; Ὁ μὲν ἄρα νόμιμος δίκαιός ἐστιν, ὁ δὲ ἄνομος ἄδικος. Vgl. auch Danzig, 2009, 281: „It is not clear that Socrates himself necessarily identifies fi the lawful and the just. Although he does make such a claim explicitly, the arguments he offers ff actually support their non-identity.“ Obwohl nicht bestritten werden kann,
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Gesetze und Gesetzestreue
Es lohnt sich, einige Details dieses Gesprächs des Sokrates mit Hippias kurz zu erwähnen, die den Leser in Verlegenheit bringen können. Der Dialog fängt damit an, dass Hippias folgendes Urteil des Sokrates vernimmt: Es sei erstaunlich, dass alle wissen, wo der Lehrer jedes Handwerkes zu finden fi sei, niemand aber wisse, wo man die Gerechtigkeit erlernen könne17. Wenn aber die Gerechtigkeit das von den Gesetzen Vorgeschriebene ist, dann ist es nicht so schwierig, sie zu erlernen, weil das Wissen von Gesetzen genügt. Oder wundert sich Sokrates darüber (θαυμαστόν), dass niemand weiß, auf welche Weise die Gerechtigkeit zu erlernen ist, obwohl es, wie ihm scheint, nicht schwierig ist, und dass Menschen und Staaten immer wieder über die Gerechtigkeit streiten und keine Einigung in dieser Frage erreichen können18? Soll das bedeuten, dass nur Sokrates allein weiß, wie alle Streite beigelegt werden können und wie alle Menschen gerecht werden können? Weiß nur Sokrates allein, dass man dafür die Vorschriften ft der Gesetze erlernen muss? Solche Auff ffassung scheint mir kaum wahrscheinlich zu sein – wenigstens darum, weil ihr ein anderes Detail widerspricht: Wenn Sokrates die Gleichung des Gesetzlichen und des Gerechten anerkennt und folglich weiß, was das Gerechte ist, warum sagt er, dass Hippias ein großes Gut gefunden hat, wenn dieser Letztere behauptet, dass er von Gerechtigkeit etwas weiß, dem niemand widersprechen kann, und warum strebt er von Hippias das zu erfahren19? Wäre der Xenophontische Sokrates von der Richtigkeit der Glei-
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dass Sokrates die Frage des Hippias, ob das Gesetzliche und das Gerechte dasselbe sind, bejaht (§12) und dass er auch selbst diese These Th zum Schluss dieses Abschnittes der Diskussion noch einmal wiederholt (§18: ἐγὼ μὲν οὖν, ὦ Ἱππία, τὸ αὐτὸ ἀποδείκνυμαι νόμιμόν τε καὶ δίκαιον εἶναι), scheint es mir immerhin möglich, daran zu zweifeln, ob der Xenophontische Sokrates in der Tat eine völlige Übereinstimmung der Begriffsff umfänge des Gesetzlichen und des Gerechten behauptet. Denn aus eigenem Antrieb spricht Sokrates nur darüber, dass das Gesetzliche gerecht ist (§12: τὸ νόμιμον δίκαιον εἶναι) und dass der gesetzestreue Mensch gerecht ist (§13: ὁ νόμιμος δίκαιός ἐστιν). Man kann deswegen vermuten, dass Sokrates Hippias’ Frage um der Simplifi fizierung willen ad hocc bejaht und dass er bewusst die Worte seines Gesprächspartners zum Schluss wiederholt (es ist bemerkenswert, dass Sokrates’ Schlussfolgerung (§18) die Frage des Hippias (§12) Wort für Wort wiedergibt) und absichtlich eine logische Inkorrektheit auch um seines Gesprächspartners willen begeht. Mem. 4.4.5: […] θαυμαστὸν εἴη τὸ εἰ μέν […], ἐὰν δέ τις βούληται ἢ αὐτὸς μαθεῖν τὸ δίκαιον ἢ υἱὸν ἢ οἰκέτην διδάξασθαι, μὴ εἰδέναι ὅποι ἂν ἐλθὼν τύχοι τούτου. Mem. 4.4.8. Mem. 4.4.7-8: […] περὶ μέντοι τοῦ δικαίου πάνυ οἶμαι νῦν ἔχειν εἰπεῖν, πρὸς ἃ οὔτε σὺ οὔτ’ ἂν ἄλλος οὐδεὶς δύναιτ’ ἀντειπεῖν. Νὴ τὴν Ἥραν, ἔφη, μέγα λέγεις ἀγαθὸν ηὑρηκέναι […]. καὶ ἐγὼ μὲν οὐκ οἶδ’ ὅπως ἂν ἀπολειφθείην σου πρὸ τοῦ ἀκοῦσαι τηλικοῦτον ἀγαθὸν ηὑρηκότος.
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chung des Gesetzlichen und des Gerechten überzeugt, nähme er Hippias’ Entdeckung gelassener auf. Es scheint mir also gerechtfertigt zu bezweifeln, ob der Xenophontische Sokrates in der Tat die völlige Übereinstimmung der Begriffe ff des Gesetzlichen und des Gerechten akzeptiert, und es scheint mir hingegen denkbar, dass er ein Gerechtes außerhalb des Gesetzlichen für möglich hält. Warum stimmt Sokrates dem Hippias dann zu und warum sagt er nachher auch selbst, dass τὸ αὐτὸ ἀποδείκνυμαι νόμιμόν τε καὶ δίκαιον εἶναι? Eine Erklärung kann in folgendem bestehen: Hippias bittet den Sokrates um eine Defi finition des Gerechten nicht deshalb, weil er nach dem Wissen vom Gerechten strebt und deswegen Sokrates’ Urteil mit seinem eigenen vergleichen will, um auf diese Weise die Wahrheit zu finden, fi sondern, weil er Sokrates der Prüfung unterziehen will, welcher Sokrates selbst seine Gesprächspartner gewöhnlich unterzieht, und weil er danach strebt, Sokrates in Verlegenheit zu bringen, wie es oft ft denjenigen geschieht, die Sokrates mit seinen Fragen belästigt20. Während Hippias über sich selbst sagt, dass niemand sein Urteil über die Gerechtigkeit bestreiten kann, beabsichtigt er im Gespräch mit Sokrates, gerade Sokrates’ Meinung über das Gerechte zu widerlegen. Sokrates aber fasst Hippias’ Absichten auf und eignet sich seine Spielregeln an: Er übernimmt die Initiative, und statt Hippias’ Fragen zu beantworten, fragt er ihn selbst und führt das Gespräch letzten Endes dazu, dass Hippias nicht widersprechen kann (es ist bemerkenswert, dass Hippias seine Vorstellung vom Gerechten, welcher niemand, nach seiner Behauptung, widersprechen kann, nicht mehr erwähnt)21.
1.3. ‚Das Gesetzliche ist gerecht‘ Kehren wir zu Sokrates’ These zurück, welche er in der Tat zu vertreten scheint, nämlich: Das Gesetzliche sei gerecht, und das Handeln des gesetzestreuen Menschen sei folglich immer gerecht. Das Gesetzliche ist, wie schon angedeutet, das von den Gesetzen Vorgeschriebene, und nach der Definitifi on des Hippias, die Sokrates nicht bestreitet, sind staatliche Gesetze das ἃ
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Mem. 4.4.9: ἀρκεῖ γὰρ ὅτι τῶν ἄλλων καταγελᾷς ἐρωτῶν μὲν καὶ ἐλέγχων πάντας, αὐτὸς δ’ οὐδενὶ θέλων ὑπέχειν λόγον οὐδὲ γνώμην ἀποφαίνεσθαι περὶ οὐδενός. Mem. 4.4.18: […] σὺ δ’ εἰ τἀναντία γιγνώσκεις, δίδασκε. καὶ ὁ Ἱππίας, Ἀλλὰ μὰ τὸν Δί’, ἔφη, ὦ Σώκρατες, οὔ μοι δοκῶ τἀναντία γιγνώσκειν οἷς εἴρηκας περὶ τοῦ δικαίου. Letzten Endes ist das mit den apologetischen Aufgaben Xenophons in all ihren möglichen Erscheinungsformen zu erklären. So ist Xenophon, wie Johnson richtig bemerkt, bestrebt, Sokrates unter anderem den Sophisten gegenüberzustellen, und dafür gibt es keinen besseren Weg, als keinen von ihnen im Gespräch mit Sokrates die Oberhand über ihn gewinnen zu lassen (vgl. auch Johnson, 2003, 272).
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οἱ πολῖται συνθέμενοι ἅ τε δεῖ ποιεῖν καὶ ὧν ἀπέχεσθαι ἐγράψαντο22. Doch können Gesetze nicht nur in verschiedenen Staaten verschieden sein, sondern auch in einem Staat während verschiedener Zeitabschnitte seiner politischen Geschichte. Die These, dass Gesetze nach Defi finition immer gerecht sind, führt sehr leicht zu der Folgerung, dass die Gerechtigkeit nicht konstant und nicht unwandelbar ist: Während des einen Zeitabschnittes kann das eine gerecht sein und während des anderen das andere. Eben dieser Gedanke steckt in der Frage des Hippias: Wie können Gesetze in Betracht gezogen werden, wenn sie immer wieder von den Gesetzgebern verändert werden23? Als Antwort spricht Sokrates aber nicht darüber, ob die Gerechtigkeit unwandelbar ist oder sich je nach den Umständen ändern kann (z.B. in Kriegs- und in Friedenszeiten), sondern darüber, dass die Treue zu den geltenden Gesetzen sowohl im staatlichen als auch im privaten Leben unter jeder Bedingung nützlich und vorteilhaft ft ist, weil sie Prosperität und Glück zur Folge hat24. So stützt sich Sokrates auf noch eine These: Das Gesetzliche sei nützlich. Da die Gerechtigkeit ihrerseits sowie jede Art der Tugend der Defi finition zufolge nützlich ist, so ist – dies ist Sokrates’ Schlussfolgerung – das Gesetzliche gerecht: τὸ αὐτὸ νόμιμόν τε καὶ δίκαιον εἶναι. Wenn wir versuchen, in diesem Urteil die Erklärung der These ‚das Gesetzliche ist gerecht‘ zu finden, fi müssen wir zugeben, dass diese Schlussfolgerung auch logisch inkorrekt ist25 und folglich den gerechten Charakter des Gesetzlichen nicht beweisen kann. Dass das Gesetzliche gerecht ist, bleibt in der Ethik des Xenophontischen Sokrates ohne Begründung.
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Mem. 4.4.13. Mem. 4.4.14: καὶ ὁ Ἱππίας, Νόμους δ’, ἔφη, ὦ Σώκρατες, πῶς ἄν τις ἡγήσαιτο σπουδαῖον πρᾶγμα εἶναι ἢ τὸ πείθεσθαι αὐτοῖς, οὕς γε πολλάκις αὐτοὶ οἱ θέμενοι ἀποδοκιμάσαντες μετατίθενται; Mem. 4.4.15-17; §16: […] ἀλλὰ μὴν καὶ ὁμόνοιά γε μέγιστόν τε ἀγαθὸν δοκεῖ ταῖς πόλεσιν εἶναι […], καὶ πανταχοῦ ἐν τῇ Ἑλλάδι νόμος κεῖται τοὺς πολίτας ὀμνύναι ὁμονοήσειν […]. οἶμαι δ’ ἐγὼ ταῦτα γίγνεσθαι οὐχ ὅπως τοὺς αὐτοὺς χοροὺς κρίνωσιν οἱ πολῖται […], ἀλλ’ ἵνα τοῖς νόμοις πείθωνται. τούτοις γὰρ τῶν πολιτῶν ἐμμενόντων, αἱ πόλεις ἰσχυρόταταί τε καὶ εὐδαιμονέσταται γίγνονται· ἄνευ δὲ ὁμονοίας οὔτ’ ἂν πόλις εὖ πολιτευθείη οὔτ’ οἶκος καλῶς οἰκηθείη. Wenn dem Menschen einerseits Seeluft ft und andererseits Beeren nützlich sind, bedeutet das nicht, dass Seeluft ft eine Beere ist. Morrison scheint mir die Prämissen und den Schluss irrtümlicherweise umgestellt zu haben: „[Socrates] tries to show that the just is beneficial fi via an identifi fication of the just with the lawful“ (Morrison, 1995, 339). Wenn Sokrates schon versucht, etwas zu beweisen, dann dass das Gesetzliche gerecht ist, und er macht das mit dem Argument, dass das Gesetzliche nützlich ist: vgl. auch Mazzara, 2007a, 148. Auf die zweite These ‚das Gesetzliche ist nützlich‘ stützt sich auch Danzigs Auff ffassung, doch wird die These selbst (d.h. warum eigentlich das Gesetzliche nützlich ist) von ihm nicht interpretiert (siehe Danzig, 2009, 281-286).
Mögliche Widersprüche
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Aus der These, dass Gesetze gerecht sind, folgt der Schluss, dass Gesetzgeber über das Wissen vom Gerechten verfügen. Ist dies aber immer der Fall? Auf dieser Stufe der Untersuchung bleiben noch andere Fragen unbeantwortet: Können Gesetze ungerecht sein und kann die Gesetzesübertretung daher gerecht sein? Oder soll das bedeuten, dass die Gesetzestreue ungerecht sein kann (d.h. manchmal zu ungerechten Handlungen führen kann), aber dass sie trotzdem immer nützlich ist? Kann das Ungerechtsein in einigen Fällen nützlicher sein als das Gerechtsein?
2. Mögliche Widersprüche Im Folgenden sind die Stellen der Memorabilien zu untersuchen, die der TheTh se ‚das Gesetzliche ist gerecht‘ widersprechen: Xenophons Sokrates scheint für möglich zu halten, dass Gesetze in der Realität ungerecht sein können. Auch sein eigenes Verhalten in einigen von Xenophon erwähnten Fällen zeugt nicht davon, dass er der festen Meinung ist, es sei immer gerecht, den positiven Gesetzen zu gehorchen.
2.1. Alkibiades’ Gespräch mit Perikles über Gesetze Neben den oben erwähnten Dialogen gibt es noch ein Gespräch in den Memorabilien, dessen Thema zu dem zu analysierenden Fragenkomplex gehört: Es geht auch darum, was das Gesetz ist. Obwohl Sokrates in diesem Dialog nicht als Gesprächspartner fungiert – hier diskutieren Alkibiades und Perikles – ist dieses Gespräch im Rahmen unserer Interpretation in mancher Hinsicht interessant, und es empfiehlt fi sich daher, es ausführlicher zu erörtern26. Alkibiades stellt die Frage, was das Gesetz ist, und Perikles’ Antwort stimmt fast wörtlich mit der Defi finition des Gesetzes überein, die Hippias im oben betrachteten Gespräch mit Sokrates gibt: πάντες γὰρ οὗτοι νόμοι εἰσίν, οὓς τὸ πλῆθος συνελθὸν καὶ δοκιμάσαν ἔγραψε, φράζον ἅ τε δεῖ ποιεῖν καὶ ἃ μή27.
Während Sokrates Hippias’ Definition fi nicht bestreitet, setzt sich Alkibiades zum Ziel, sie zu widerlegen. Da die Definition fi des Perikles sich nur auf
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Mem. 1.2.40-46. Mem. 1.2.42: „Alles das sind Gesetze, was das versammelte Volk nach vorheriger Beratung schriftlich ft fixiert. Es bestimmt dadurch, was man tun soll und was nicht.“ Vgl. Mem. 4.4.13: ἃ οἱ πολῖται συνθέμενοι ἅ τε δεῖ ποιεῖν καὶ ὧν ἀπέχεσθαι ἐγράψαντο. Diese Wiederholung ist den Gelehrten nicht entgangen, wenn sie auch gegensätzliche Meinungen vertreten: Vgl. Morrison, 1995, 334; Dorion & Bandini, 2000, 105; Johnson, 2003, 278; Dorion, 2010, 304.
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Gesetze und Gesetzestreue
die demokratische Ordnung (τὸ πλῆθος) bezieht, fragt Alkibiades nachher, was unter dem Gesetz bei der oligarchischen (ὀλίγοι) und monarchischen (τύραννος) Regierungsform zu verstehen ist. In allen drei Fällen läuft ft die Antwort des Perikles auf dasselbe hinaus: Gesetze seien das von dem Machthaber (bzw. von den Machthabern) Vorgeschriebene, was man tun soll und was nicht28. Danach fragt Alkibiades, ob Perikles damit einverstanden ist, dass die Situation, wenn der Machthaber andere Menschen zwingt, das zu tun, was ihm beliebt, als Gesetzlosigkeit bezeichnet werden muss29. Da Perikles dieses Urteil zugibt, ist er genötigt, alle von ihm früher gegebenen Defi finitionen des Gesetzes zurückzunehmen und seine These zu modifi fizieren: Gesetze seien das von dem Machthaber (bzw. den Machthabern) Vorgeschriebene, was man tun soll und was nicht, vorausgesetzt, dass er (bzw. sie) die anderen überzeugt (bzw. überzeugen), das zu tun, was man soll, und das nicht zu tun, was man nicht soll30. Da das Überzeugen jedes Mal der Gewalt und dem Zwang gegenübergestellt wird, folgt daraus, dass der Zweck der Überzeugung darin besteht, dass alle anderen, die die Regierung nicht ausüben, mit den geltenden Gesetzen einverstanden werden, d.h. dass sie freiwillig die Gesetze einhalten. Jeder Mensch ist aber mit dem einverstanden, was gerecht ist, und jeder Mensch kann nicht umhin, nach dem zu streben, was er für gerecht hält (denn die Gerechtigkeit ist nützlich und jeder strebt nach eigenem Nutzen und Wohl)31. Wenn das Gesetz folglich dasjenige vorschreibt, mit dem alle einverstanden sind, bedeutet das, dass das Gesetz nicht ungerecht sein kann. Das Gesetz ist nach Defi finition gerecht.
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Mem. 1.2.43: Ἐὰν δὲ μὴ τὸ πλῆθος, ἀλλ', ὥσπερ ὅπου ὀλιγαρχία ἐστίν, ὀλίγοι συνελθόντες γράψωσιν ὅ τι χρὴ ποιεῖν, ταῦτα τί ἐστι; Πάντα, φάναι, ὅσα ἂν τὸ κρατοῦν τῆς πόλεως βουλευσάμενον, ἃ χρὴ ποιεῖν, γράψῃ, νόμος καλεῖται. Κἂν τύραννος οὖν κρατῶν τῆς πόλεως γράψῃ τοῖς πολίταις ἃ χρὴ ποιεῖν, καὶ ταῦτα νόμος ἐστί; Καὶ ὅσα τύραννος ἄρχων, φάναι, γράφει, καὶ ταῦτα νόμος καλεῖται. Mem. 1.2.44: Βία δέ, φάναι, καὶ ἀνομία τί ἐστιν, ὦ Περίκλεις; ἆρ’ οὐχ ὅταν ὁ κρείττων τὸν ἥττω μὴ πείσας, ἀλλὰ βιασάμενος, ἀναγκάσῃ ποιεῖν ὅ τι ἂν αὐτῷ δοκῇ; Ἔμοιγε δοκεῖ, φάναι τὸν Περικλέα. Mem. 1.2.44-45: Καὶ ὅσα ἄρα τύραννος μὴ πείσας τοὺς πολίτας ἀναγκάζει ποιεῖν γράφων, ἀνομία ἐστί; Δοκεῖ μοι, φάναι τὸν Περικλέα· ἀνατίθεμαι γὰρ τὸ ὅσα τύραννος μὴ πείσας γράφει νόμον εἶναι. Ὅσα δὲ οἱ ὀλίγοι τοὺς πολλοὺς μὴ πείσαντες, ἀλλὰ κρατοῦντες γράφουσι, πότερον βίαν φῶμεν ἢ μὴ φῶμεν εἶναι; Πάντα μοι δοκεῖ, φάναι τὸν Περικλέα, ὅσα τις μὴ πείσας ἀναγκάζει τινὰ ποιεῖν, εἴτε γράφων εἴτε μή, βία μᾶλλον ἢ νόμος εἶναι. Καὶ ὅσα ἄρα τὸ πᾶν πλῆθος κρατοῦν τῶν τὰ χρήματα ἐχόντων γράφει μὴ πεῖσαν, βία μᾶλλον ἢ νόμος ἂν εἴη; Morrisons Vergleich scheint mir deswegen irrig zu sein: „[…] the dimension for idealisation is not what is benefi ficial, but what is acceptable to the ruled“ (Morrison, 1995, 332).
Mögliche Widersprüche
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Und umgekehrt: Da niemand das Unvorteilhaft fte für sich selbst freiwillig tut, erklärt sich niemand bereit, das Ungerechte zu tun; das Ungerechte kann der Mensch wider Willen nur unter Zwang tun, daher wird die Gewalt dem Gesetz gegenübergestellt. Wenn man zwingen muss, den Gesetzen zu gehorchen, bedeutet das, dass diese Gesetze in der Tat keine Gesetze sind, d.h. sie können als Gesetze nicht gelten, weil sie ungerecht sind32. Und wenn bei der demokratischen Regierungsform nicht alle mit den angenommenen Gesetzen einverstanden sind, bedeutet das entweder, dass diese Gesetze ungerecht sind und deshalb keine Gesetze sein können, oder dass diejenigen, die mit ihnen nicht einverstanden sind, über das Wissen vom Gerechten nicht verfügen und es erwerben müssen33. Aus diesen Überlegungen lässt sich folgender Schluss ziehen: Während der Xenophontische Sokrates in den oben betrachteten Dialogen mit Hippias und Euthydemus behauptet, dass Gesetze sowie die Gesetzestreue (wenigstens in der Demokratie) immer gerecht sind, lässt das Gespräch des Alkibiades mit Perikles den Gedanken zu, dass Gesetze ungerecht sein können und die Gesetzesübertretung hingegen gerecht sein kann. Wenn auch das Gespräch des Alkibiades mit Perikles dem Dialog des Sokrates mit Hippias nicht widerspricht, zeigt es wenigstens eine andere Seite der Frage, was das Gesetz ist. Folgende Beobachtung kann jedoch gegen diese Interpretation einen Einwand vorbringen: Da Sokrates selbst an der Diskussion des Alkibiades mit Perikles nicht teilnimmt und da Alkibiades hier als unaufrichtiger Gesprächspartner dargestellt ist, entsteht kein Widerspruch in den Urteilen des Xenophontischen Sokrates. Ist es vielleicht ganz absichtlich, dass eine falsche These hinter diesem Dialog steckt? Soll das vielleicht gerade dem
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Um freiwillig einem Gesetz zu gehorchen, muss der Mensch wissen, dass dieses Gesetz gerecht ist, d.h. er muss das Wissen vom Gerechten haben. Es ist daher denkbar, dass ein Mensch einem wirklich gerechten Gesetz nicht gehorchen will, weil es diesem Menschen ungerecht (d.h. unvorteilhaft) ft zu sein scheint. Damit ein solcher Mensch freiwillig den gerechten Gesetzen gehorcht, muss man ihn überzeugen, d.h. ihm helfen, das Wissen vom Gerechten zu erwerben (deswegen ist diese Überzeugung nicht Gewalt). Mit einem echten, d.h. gerechten, Gesetz kann der Mensch nur aus Unwissenheit, aus Versehen nicht einverstanden sein. Deswegen ist es die Aufgabe jedes Herrschers, seinen Untergebenen zu erklären, was das Nützliche ist: Mem. 3.3.10-11. Das ‚Gesetz‘ ist folglich nur dasjenige Gesetz, mit dem potenziell alle einverstanden sind, denn alle Menschen können das Wissen vom Gerechten erwerben und infolgedessen gerne bereit sein, dem gerechten Gesetz zu gehorchen. Dem ungerechten Gesetz zu gehorchen, kann man den Menschen nicht überzeugen, man kann ihn nur mit Gewalt dazu zwingen. Es bleibt aber unklar, wie das eine von dem anderen zu unterscheiden ist und wer das beurteilen kann.
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Ziel dienen, Sokrates’ These zu bestätigen? Um diese Fragen zu beantworten, müssen wir die Gestalt des Alkibiades in diesem Dialog genauer betrachten. Perikles bricht das Gespräch ab, sobald ihm klar wird, dass seine Defifi nition des Gesetzes nicht zutrifft fft. Er meint, es sei nicht verwunderlich, dass Alkibiades jetzt an derartigen Tricks Vergnügen finde. fi Perikles selbst habe über solche Sachen nachgedacht, als er jung gewesen sei. Jetzt aber habe er für diese Spielereien weder Zeit noch Interesse. Die Antwort des Alkibiades (das ist seine letzte Replik in diesem Dialog) ist nicht so harmlos. Wörtlich übersetzt erwidert er: „Wenn ich doch damals mit dir zusammengewesen wäre, als du auf der Höhe deines eigenen Vermögens warst!“34. D.h.: „Nun bist du schon alt und stumpf.“ Der freche Charakter der Antwort des Alkibiades ist mit der apologetischen Funktion dieses Gesprächs in den Memorabilien zu erklären: Xenophon möchte beweisen, dass Sokrates keineswegs an der Verdorbenheit des Alkibiades schuld ist35. Nach Xenophons Meinung kann niemand eine Erziehung von demjenigen Lehrer erhalten, welcher dem Schüler nicht gefällt. Sokrates gefi fiel dem Alkibiades aber nicht, die einzige
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Mem. 1.2.46: Καὶ ὅσα ἄρα τὸ πᾶν πλῆθος κρατοῦν τῶν τὰ χρήματα ἐχόντων γράφει μὴ πεῖσαν, βία μᾶλλον ἢ νόμος ἂν εἴη; Μάλα τοι, φάναι τὸν Περικλέα, ὦ Ἀλκιβιάδη, καὶ ἡμεῖς τηλικοῦτοι ὄντως δεινοὶ τὰ τοιαῦτα ἦμεν· τοιαῦτα γὰρ καὶ ἐμελετῶμεν καὶ ἐσοφιζόμεθα οἷάπερ καὶ σὺ νῦν ἐμοὶ δοκεῖς μελετᾶν. τὸν δὲ Ἀλκιβιάδην φάναι· Εἴθε σοι, ὦ Περίκλεις, τότε συνεγενόμην ὅτε δεινότατος ἑαυτοῦ ἦσθα / δεινότατος σαυτοῦ ταῦτα ἦσθα. Zwei gegensätzliche Auffassungen ff von den letzten Worten des Alkibiades sind hier zu erwähnen. Gigons Interpretation kann vor einer Kritik nicht bestehen: „Der Schluß überrascht. […] Ob Xenophon die Unverschämtheit der Replik des Alkibiades bemerkt hat, kann man fragen. […] In sich ist es aber eine staatstheoretische Diskussion, in welcher Perikles ziemlich empfindlich fi blamiert wird, und zwar durch einen Partner, der keineswegs bösartig oder übermütig vorgeht, sondern in aller Sachlichkeit um Aufk fklärung bittet. […] Die Unverschämtheit der letzten Replik des Alkibiades wäre ich geneigt als eine unbeabsichtigte zu verstehen“ (Gigon, 1953, 68-70). Dorions Auff ffassung trifft fft völlig zu: „Alcibiade n’est pas un interlocuteur sincére puisque son véritable objectif n’est pas, contrairement à ce qu’il prétend, d’apprendre de Périclès en quoi consiste la loi. Le but qu’il poursuit, d’entrée de jeu, est de réfuter Périclès pour le simple plaisir de le tourner en ridicule, et c’est pour cette raison que cet entretien illustre un usage pervers de l’elenchos. […] L’insolence de la dernière réplique d’Alcibiade est tout à fait motivée en ce qu’elle est l’aboutissement logique et prévisible de l’intention qui préside dès le départ à cet entretien“ (Dorion & Bandini, 2000, 108 f.). Vgl. auch Johnsons Urteil: „Th This exchange shows that Xenophon was capable of employing Socratic irony every bit as biting as that of Plato. But he apparently doubted the benefi fit of such irony, or at least believed it did not help to defend Socrates, and thus he rarely gives it to Socrates and here lets Alcibiades have all the fun“ (Johnson, 2003, 278). Mem. 1.2.12-13. Über Kritias und Alkibiades siehe oben S. 62 ff ff. und 128 ff.
Mögliche Widersprüche
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Absicht des Letzteren war, ein führender Staatsmann zu werden. Obwohl er so wie Kritias noch mit Sokrates verkehrte, unterredete er sich mit niemand anderem lieber als mit denen, die sich am meisten mit Politik beschäft ftigten36. Als anschauliches Beispiel erzählt Xenophon diesen Dialog des Alkibiades mit Perikles über Gesetze. Aus allem Gesagten folgt, dass es nicht eine Definition des Gesetzes ist, was Alkibiades’ Interesse erweckt. Er strebt nicht fi nach Wissen, sondern nach Ruhm und Vorrang im politischen Bereich. Seine letzte Äußerung zeigt seine Freude, dass er die Oberhand über einen so hervorragenden und erfahrenen Politiker wie Perikles gewonnen hat. Das ist sein Triumph. Die Unverschämtheit des Alkibiades zeigt sich m.E. schon am Anfang des Gespräches. Er sagt nämlich: […] ἐγὼ ἀκούων τινῶν ἐπαινουμένων, ὅτι νόμιμοι ἄνδρες εἰσίν, οἶμαι μὴ ἂν δικαίως τούτου τυχεῖν τοῦ ἐπαίνου τὸν μὴ εἰδότα τί ἐστι νόμος37.
Mit diesen Worten meint Alkibiades nicht sich selbst, als ob er einen Ruf des gesetzlichen Mannes bekommen wollte und deshalb eine Defi finition des Gesetzes wissen sollte, sondern schon hier deutet er an, dass er gleich demonstrieren wird, dass Perikles kein gesetzlicher Mensch ist, weil er nicht weiß, was das Gesetz ist. Xenophons Ziel ist klar: Er versucht, den Charakter und die Bestrebungen des Alkibiades und die Art seiner Beziehungen mit Sokrates vorzuführen, um Sokrates zu rechtfertigen38. Doch ist noch fraglich, ob Alkibiades’ Gespräch mit Perikles diesen Zweck erfüllen kann. Zum einen berichtet Xenophon sofort nach diesem Gespräch noch eine Behauptung der Anklage: Sokrates lehrte, die Väter und Verwandten schlecht zu behandeln, denn er habe seinen Anhängern vorgeredet, er mache sie weiser als ihre Väter39. Xenophon versucht das zu widerlegen, beim Leser bleibt aber noch lebhaft ft der Eindruck, dass Alkibiades gerade eben seinen Vormund Perikles ganz absichtlich lächerlich gemacht hat. Zum anderen ist Alkibiades’ Dialog mit
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Mem. 1.2.39. Mem. 1.2.42: „Ich höre zwar, dass einige Leute gelobt werden, weil sie gesetzliche Menschen sind, aber nach meiner Meinung erhält nur der mit Recht dieses Lob, der weiß, was ein Gesetz ist.“ Xenophon versucht zu demonstrieren, dass Alkibiades von Jugend an in sittlich-moralischer Hinsicht schlecht war. Als Beweis dafür schildert er diesen Dialog, in dem der zwanzigjährige Alkibiades den vierundsechzigjährigen Perikles mit Vorbedacht in die Enge treibt. Wichtig ist, dass Alkibiades nicht nur sein Vergnügen daran findet, fi sondern das auch keineswegs zu verheimlichen versucht. Solche Respektlosigkeit in Bezug auf den angesehenen Mann im vorgerückten Alter ist, nach der Meinung Xenophons, ein deutliches Symptom der Verdorbenheit des jungen Alkibiades. Mem. 1.2.49.
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Gesetze und Gesetzestreue
Perikles durchaus ‚sokratisch‘: Die Frage, welche den Gegenstand des Gesprächs bildet, ist von der Art, die für Sokrates typisch ist. Von Wichtigkeit ist, dass es gerade Alkibiades ist, welcher sie auf diese Weise formuliert – in der Replik, die oben schon einmal zitiert wurde: Nur derjenige ist ein gesetzlicher Mensch, der weiß, was das Gesetz ist. In dieser Behauptung ist das wichtigste sokratische Paradox ganz klar zu hören, und zwar: Tugend sei Wissen. Ohne Wissen, was Gesetz ist, kann man nicht gesetzlich sein. Das wird hier von Alkibiades gesagt, doch das Paradox stammt vom Xenophontischen Sokrates. Außerdem ist auch das Thema Th des Gesprächs im ganzen ‚sokratisch‘: Der Xenophontische Sokrates spricht sehr oft ft über die Natur der Macht und über die Wissenschaft ft der Staatsverwaltung (τέχνη τοῦ ἄρχειν oder βασιλικὴ τέχνη). Dasselbe betrifft fft auch die Struktur des Dialogs: Alkibiades fragt Perikles nach der Definition fi des Nomos, worauf der Letztere selbstsicher antwortet, dass es sich um kein schwieriges Problem handelt40. Ein solcher Anfang ist charakteristisch für sokratische Dialoge, nämlich wenn ein Gesprächspartner denkt, dass Sokrates’ Frage sehr einfach sei. Durch eine schrittweise Elenktik führt Alkibiades das Gespräch logisch zur vollständigen Widerlegung der Defi finition, die Perikles gegeben hat. Die Methode – der berühmte elenchos – und die Aporie am Schluss des Gesprächs sind also im höchsten Maße ‚sokratisch‘. Auch die Weigerung des Perikles, das Gespräch weiterzuführen, ist der Reaktion von vielen Gesprächspartnern des Sokrates ähnlich, die durch seine Fragen in Verlegenheit gebracht werden. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch die erste Frage des Alkibiades, welche er sofort nach der von Perikles gegebenen Definition fi des Nomos stellt: πάντες γὰρ οὗτοι νόμοι εἰσίν, οὓς τὸ πλῆθος συνελθὸν καὶ δοκιμάσαν ἔγραψε, φράζον ἅ τε δεῖ ποιεῖν καὶ ἃ μή. Πότερον δὲ τἀγαθὰ νομίσαν δεῖν ποιεῖν ἢ τὰ κακά;
Weiter diskutieren Alkibiades und Perikles diese Frage nicht, aber das Problem ist das wichtigste Problem für Sokrates, der in diesem Fall besprechen würde, was das Gute und das Schlechte sind41. Dieses kurze Gespräch zwischen Alkibiades und Perikles hat so viele charakteristische Merkmale des sokratischen Dialogs, dass es kaum möglich ist,
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Mem. 1.2.42: ἀλλ’ οὐδέν τι χαλεποῦ πράγματος ἐπιθυμεῖς, ὦ Ἀλκιβιάδη, φάναι τὸν Περικλέα, βουλόμενος γνῶναι τί ἐστι νόμος. Außerdem bemerkt Johnson mit Recht (Johnson, 2003, 278), dass diese Frage als Anfang des Gesprächs über die Nützlichkeit der Gesetze dienen könnte – unwillkürlich erinnert man sich noch einmal an die Ansichten des Xenophontischen Sokrates über Gesetze.
Mögliche Widersprüche
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dass sie nicht dem Leser in die Augen springen würden. Ganz zwangsläufi fig stellt sich die Frage, ob diese Fähigkeit des Alkibiades, ein solches Gespräch zu führen, nicht vielleicht von Sokrates stammt. Umso mehr, als Xenophon selbst sagt, dass das Gespräch zu der Zeit stattfand, als Alkibiades noch mit Sokrates verkehrte42. Allerdings konnte Xenophons Sokrates mit keinem von seinen Gesprächspartnern so frech umgehen, wie Alkibiades mit Perikles. Er konnte seine Schüler nicht lehren, solche dialektische Methode nicht auf der Suche nach der Wahrheit zu verwenden, sondern damit sie einen Triumph erleben können43 – dass Alkibiades das sokratische Verfahren mit der verkehrten Absicht ausnutzt, zeugt gerade von der Verdorbenheit seiner Natur –, aber seinen Gesprächspartner in Verlegenheit versetzen, ihn in die Aporie bringen konnte der Xenophontische Sokrates schon (siehe z.B. das Gespräch mit Euthydemus in Mem. 4.2)44. So ist es mutatis mutandis denkbar, dass der
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Mem. 1.2.39. Deswegen ist noch fraglich, ob diese Episode der Memorabilien Sokrates rechtfertigen kann. Wie bereits angedeutet, ist Sokrates bei Xenophon manchmal mit seinem Gesprächspartner auch nicht ganz aufrichtig – in dem Sinn, dass auch er sich in einem Gespräch nicht die Suche nach der Wahrheit zum Ziel setzen kann, sondern eine ‚praktische‘ Aufgabe, aber sein Endzweck heiligt die Mittel (wie es im Gespräch mit Euthydemus in Mem. 4.2 ist: Sokrates’ Absicht ist, Euthydemus zu helfen, sich seiner Unwissenheit bewusst zu werden, denn nur in diesem Fall ist er imstande, nach dem Wissen zu streben). Und nie treibt Sokrates seinen Gesprächspartner zu seinem eigenen Vergnügen in die Enge, während das Streben und die Freude des Alkibiades nur darin bestehen, um jeden Preis die Oberhand über Perikles zu gewinnen. Mit Recht hält Dorion Alkibiades’ Dialog mit Perikles für ein Beispiel des „mauvais usage de l’elenchos“ und Sokrates’ Gespräch mit Euthydemus für ein Vorbild des „bon usage de l’elenchos“ (Dorion & Bandini, 2000, clx-clxix und clxix-clxxii). Ebenso stichhaltig scheint mir Dorions Urteil, dass Alkibiades keine Ansichten des Xenophontischen Sokrates über Gesetze ausdrückt (Dorion, 2010, 305), doch scheint es mir möglich, dass Alkibiades mit Absicht die Argumente ausnutzt, die der Xenophontische Sokrates in der Diskussion über die Natur der Gesetze vorbringen konnte. Siehe Dorions Schluss: „Le but de Xénophon n’est pas de fournir un enseignement sur la nature de la loi, mais, tout simplement, d’illustrer l’insolence don’t était capable un jeune homme qui ne fréquentait Socrate que pour acquérir la compétence propre à servir ses ambitions politiques“ (Dorion & Bandini, 2000, 109). Alkibiades’ Frechheit und Verdorbenheit bestehen gerade darin, dass er die Lehre des Sokrates falsch aufgefasst hat und seine Argumente und seine Methode zum verkehrten Zweck anwendet. Es scheint mir daher möglich, kontra Dorions Urteil, dass das Gespräch des Alkibiades mit Perikles den apologetischen Zweck erfüllen soll, gleichzeitig aber einige sokratische Züge demonstriert. Vgl. auch Johnsons Urteil: „If the conversation is entirely destructive, it is also singularly inept, as it functions to give Socrates’ adversaries more evidence for the ill eff ffects of Socratic education. […] not only the elenctic form but also the philosophical substance of Alcibiades’ conversation with
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Xenophontische Sokrates ähnliche Argumente in der Diskussion um die Natur des Gesetzes vorbringt. Wenn der Xenophontische Sokrates annehmen konnte, dass ungerechte Gesetze theoretisch möglich sind (nur wurde dies in keinem Gespräch von Xenophon dargestellt), dann fordert seine vorbehaltlose Th These ‚das Gesetzliche ist gerecht‘ umso mehr eine Erläuterung. Es empfiehlt fi sich, noch auf zwei Details hinzuweisen, die m.E. die vorgeschlagene Auff ffassung der betrachteten Episode bestätigen können. Wie schon angedeutet, lässt das Gespräch des Alkibiades mit Perikles, obwohl es nicht zu Ende gebracht wird, folgenden Schluss ziehen: Als ‚Gesetz‘ kann nur ein gerechtes Gesetz dienen, und wenn ein Gesetz ungerecht ist, ist es in der Tat kein ‚Gesetz‘. Für Sokrates ist es sehr charakteristisch, übliche Wörter in der ungewöhnlichen spezifi fischen Bedeutung zu gebrauchen45. Wenn Xenophon versucht, die Beschuldigung zu widerlegen, dass Sokrates seine Schüler lehrte, die geltenden Gesetze zu verachten, möchte Xenophon damit folgendes vermitteln: Vernünft ftige Menschen, die sich für fähig halten, den Mitbürgern nützlich zu sein (und es wird gemeint, dass treue Schüler des Sokrates gerade zu solchen Menschen gehören), ziehen der Gewalt immer das Überzeugen vor46. Da in diesem Zusammenhang unter ‚Gewalt‘ Übertretung der geltenden Gesetze verstanden wird47, ist die Hypothese naheliegend, dass mit ‚Überzeugen‘ hier das Überreden zum Überprüfen eines Gesetzes gemeint ist, d.h. das Überreden zum Ersetzen des ungerechten Gesetzes durch ein gerechtes (τὰ συμφέροντα διδάσκειν) – umso mehr als es um τοὺς φρόνησιν ἀσκοῦντας geht, d.h. um diejenigen, die nach dem Wis-
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Pericles complements what Xenophon’s Socrates says about law in Memorabilia 4.2. If this is correct, then Alcibiades’ encounter with Pericles, while certainly an example of the malicious use of an elenchus, intended to benefit fi neither the refuter nor the refutee, is not simply eristic, but may prove benefi ficial for Xenophon’s readers“ (Johnson, 2005, 44 f.). fische sokratische Bedeutung des Wortes ‚reich‘ (siehe oben S. 10 Siehe z.B. die spezifi Anm. 4), ‚Herrscher‘ (siehe unten S. 214 f.), ‚schön‘ (siehe oben S. 106 ff.). Vgl. auch Morrison, 1995, 332 f.: „Th This discussion between Pericles and Alcibiades does prove that the philosophical technique of Socratic linguistic reform was familiar to Xenophon, and that he was at least aware of the possibility of applying this technique to the definition fi of law.“ Mem. 1.2.10: ἐγὼ δ’ οἶμαι τοὺς φρόνησιν ἀσκοῦντας καὶ νομίζοντας ἱκανοὺς ἔσεσθαι τὰ συμφέροντα διδάσκειν τοὺς πολίτας ἥκιστα γίγνεσθαι βιαίους, εἰδότας ὅτι τῇ μὲν βίᾳ πρόσεισιν ἔχθραι καὶ κίνδυνοι, διὰ δὲ τοῦ πείθειν ἀκινδύνως τε καὶ μετὰ φιλίας ταὐτὰ γίγνεται. Mem. 1.2.9: ἀλλὰ νὴ Δία, ὁ κατήγορος ἔφη, ὑπερορᾶν ἐποίει τῶν καθεστώτων νόμων τοὺς συνόντας, λέγων ὡς […], τοὺς δὲ τοιούτους λόγους ἐπαίρειν ἔφη τοὺς νέους καταφρονεῖν τῆς καθεστώσης πολιτείας καὶ ποιεῖν βιαίους.
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sen vom Gerechten streben. Diese Meinung Xenophons (bemerkenswert ist, dass dieser Passus ebenfalls aus dem zweiten Kapitel des ersten Buches der Memorabilien stammt) kann folgenden Eindruck erwecken: Sokrates erlaubte seinen Schülern (wenn er auch nicht dazu aufrief), die geltenden Gesetze kritisch zu betrachten, und folglich nahm er (wenigstens rein theoretisch) die Möglichkeit an, dass Gesetze ungerecht sein können – die Möglichkeit, die er im Gespräch mit Hippias gänzlich ausschließt. 2.2. Die ‚königliche Kunst‘ Das Urteil des Xenophontischen Sokrates darüber, wer den Staat regieren kann und soll, stimmt m.E. nicht mit der These ‚das Gesetzliche ist gerecht‘ überein. Im folgenden ist daher seine Theorie der Regierungskunst zu betrachten. Die Regierungskunst (τέχνη τοῦ ἄρχειν oder βασιλικὴ τέχνη48) hält der Xenophontische Sokrates für die größte Kunst (μεγίστη τέχνη) und die Aufgabe des Herrschers (ἀρετὴ ἀγαθοῦ ἡγεμόνος) für die schönste (καλλίστη ἀρετή)49. Denn die Aufgabe jedes Verantwortlichen – mag es ein Herrscher des Staats, Feldherr, Haushalter oder Hirt sein – ist, seine Untergebenen glücklich zu machen50. Aus diesem Grund ist die Regierungskunst universell51. In der Regierungskunst ist wie in jeder anderen Beschäft ftigung der enthaltsame Charakter des Leiters von größter Bedeutung: Die ἀκρασία lässt den Menschen sich um nichts anderes kümmern außer um sein eigenes Vergnügen. Daher kann derjenige, der über die ἐγκράτεια nicht verfügt, selbstverständlich nichts verwalten – weder einen Chor noch einen Haushalt noch ein Feldheer noch einen
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Dorion bemerkt mit Recht, dass der Begriff ff ‚königliche Kunst‘ metaphorisch zu verstehen ist: „L’art royal est ainsi l’art de gouverner les hommes, quel que soit le type de régime politique“ (Dorion, 2004b, 54). Mem. 4.2.11. Mem. 3.2.2-4: […] καὶ βασιλεὺς ἀγαθός, οὐκ εἰ μόνον τοῦ ἑαυτοῦ βίου καλῶς προεστήκοι, ἀλλ’ εἰ καί, ὧν βασιλεύοι, τούτοις εὐδαιμονίας αἴτιος εἴη; καὶ γὰρ βασιλεὺς αἱρεῖται οὐχ ἵνα ἑαυτοῦ καλῶς ἐπιμελῆται, ἀλλ’ ἵνα καὶ οἱ ἑλόμενοι δι’ αὐτὸν εὖ πράττωσι· καὶ στρατεύονται δὲ πάντες, ἵνα ὁ βίος αὐτοῖς ὡς βέλτιστος ᾖ, καὶ στρατηγοὺς αἱροῦνται τούτου ἕνεκα, ἵνα πρὸς τοῦτο αὐτοῖς ἡγεμόνες ὦσι. […] καὶ οὕτως ἐπισκοπῶν τίς εἴη ἀγαθοῦ ἡγεμόνος ἀρετὴ τὰ μὲν ἄλλα περιῄρει, κατέλιπε δὲ τὸ εὐδαίμονας ποιεῖν ὧν ἂν ἡγῆται. Das gemeinsame Glück besteht nach dem Xenophontischen Sokrates im friedlichen und vermögenden Leben des Staats; siehe auch Dorion, 2004b, 57. Über das persönliche Glück siehe oben S. 144 ff. ff Sokrates spricht bei Xenophon mehrmals darüber, dass die Leitung des Staates sich von der Leitung des Haushalts nur in quantitativer Hinsicht unterscheidet: Mem. 2.8.4; 3.4.6-12; 3.6.14; 4.2.11.
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Staat52. Außer der Enthaltsamkeit soll der Herrschende aber auch das Wissen haben: Wie in allen anderen Berufen man keinen Erfolg haben kann, wenn man keine Kenntnisse des Gegenstandes des Berufs hat, so ist auch in der Staatsverwaltung nur derjenige fähig, die anderen zum Glück zu führen, der weiß, wie das zu tun ist. Und da die Aufgabe jedes Herrschers im Regieren und Führen besteht, wird derjenige erfolgreicher, dem die anderen sich eher unterordnen. Da aber jeder Mensch nach seinem Glück strebt, hören alle freiwillig auf diejenigen, die sie für die fähigsten halten, alle anderen am schnellsten zu ihrem Wohl zu führen: Während der Krankheit gehorcht man lieber dem erfahrenen Arzt, an Bord des Schiff ffes dem, den man für den besten Steuermann hält, in der Landwirtschaft ft dem sachkundigsten Landwirt53. Da Erfolg von gutem Ruf begleitet wird, kann nur derjenige Ruhm und Achtung gewinnen, der das Wissen hat, während der Unwissende, auch wenn der Betrug ihm fürs erste gelingt, bald als Betrüger entlarvt wird und Schaden und vielleicht sogar den Tod nicht nur sich selbst, sondern auch seinen Untergebenen zufügt54. Der Herrscher ist also derjenige, der zu herrschen versteht: βασιλέας δὲ καὶ ἄρχοντας οὐ τοὺς τὰ σκῆπτρα ἔχοντας ἔφη εἶναι οὐδὲ τοὺς ὑπὸ τῶν τυχόντων αἱρεθέντας οὐδὲ τοὺς κλήρῳ λαχόντας οὐδὲ τοὺς βιασαμένους οὐδὲ τοὺς ἐξαπατήσαντας, ἀλλὰ τοὺς ἐπισταμένους ἄρχειν55. 52
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In der Polemik gegen Vlastos, der die ‚königliche Kunst‘ des Xenophontischen Sokrates für „a political doctrine in the strict sense of the term“ hält (Vlastos, 1983, 509), weist Dorion mit Recht darauf hin, dass jeder Verantwortliche unbedingt über Enthaltsamkeit verfügen soll (Dorion, 2004b, 53 f.). In ein dem Urteil von Vlastos entgegengesetztes Extrem verfällt auch Erbse, wenn er behauptet, dass die ‚königliche Kunst‘ ft der Selbstbeherrschung“ (Erbse, „keine bloß politische Tugend ist, sondern die Kraft 1961, 274). Doch ist auch Dorions Urteil nicht ganz zutreffend: ff „[…] la basilikê tekhnê est une compétence politique qui se fonde sur le contrôle que l’individu exerce sur luimême. En eff ffet, ce ne peut être que parce qu’elle s’apparente à l’enkrateia […] que la basilikê tekhnê est considérée comme « la plus belle vertu »“ (Dorion, 2004b, 54). Zum einen beruht auf der Enthaltsamkeit nicht nur die ‚königliche Kunst‘, sondern auch alle anderen Künste, da sie eine notwendige Bedingung für alle menschlichen Beschäftigungen ist, welche sich voneinander durch ihr spezifisches fi Wissen unterscheiden. Zum anderen hält Sokrates die Aufgabe einer Führungspersönlichkeit für die schönste nicht deshalb, weil sie von ihm einen enthaltsamen Charakter fordert, sondern, weil es sein Ziel ist, alle Menschen zu ihrem Glück zu führen. Bemerkenswert ist, dass Sokrates die ‚königliche Kunst‘ als καλλίστη ἀρετή in dem Gespräch bezeichnet, in welchem es um die Enthaltsamkeit gar nicht geht: Siehe Mem. 4.2.11 unten S. 215 Anm. 56. Mem. 3.3.9; 3.9.11. Der Scheinfl flötenspieler wird sich lächerlich machen und einen üblen Ruf bekommen; wer sich für den erfahrenen Steuermann ausgibt, wird das Schiff ff, alle Passagiere und sich selbst ins Verderben stürzen: Mem. 1.7.2-3; 2.6.36; 2.6.38; 3.6.18; Symp. 8.43. Mem. 3.9.10: „Könige und Herrscher waren nach seiner Meinung nicht die, welche das Szepter trugen, und auch nicht die, welche von den ersten besten gewählt oder
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Aus diesen Überlegungen folgt, dass es ein bestimmtes Wissen gibt, welches einen Menschen zu einer Führungspersönlichkeit macht, ebenso wie spezifische fi Fachkenntnisse die Menschen zu Steuerleuten, Ackerbauern oder Ärzten machen56. Um das für die Regierungskunst notwendige Wissen zu erwerben – wie auch in allen anderen Berufen –, soll der Mensch lernen57. Da die Kunst der Staatsverwaltung die μεγίστη τέχνη ist, erfordert sie ein längeres und strengeres Studium als Zither- und Flötenspiel oder Reiten58. Daraus folgt, dass nicht alle Menschen als Herrscher tätig sein können, denn
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durchs Los bestimmt waren, ebensowenig Leute, die Gewalt gebraucht oder betrogen hatten, sondern nur, wer zu regieren verstand.“ Mem. 3.1.4: καὶ γάρ, ὥσπερ ὁ κιθαρίζειν μαθών, καὶ ἐὰν μὴ κιθαρίζῃ, κιθαριστής ἐστι, καὶ ὁ μαθὼν ἰᾶσθαι, κἂν μὴ ἰατρεύῃ, ὅμως ἰατρός ἐστιν, οὕτω καὶ ὅδε ἀπὸ τοῦδε τοῦ χρόνου διατελεῖ στρατηγὸς ὤν, κἂν μηδεὶς αὐτὸν ἕληται. ὁ δὲ μὴ ἐπιστάμενος οὔτε στρατηγὸς οὔτε ἰατρός ἐστιν, οὐδ’ ἐὰν ὑπὸ πάντων ἀνθρώπων αἱρεθῇ. Es lässt sich nicht bestreiten, dass der Xenophontische Sokrates unter dem spezifischen fi Wissen des Herrschers vor allem Kenntnisse der Finanz- und Militärangelegenheiten und der diplomatischen und rhetorischen Kunst versteht: Siehe auch Vlastos, 1983, 503. Da aber das Ziel des Herrschers darin besteht, seine Untergebenen glücklich zu machen, soll er wissen, nicht nur wie sie zum Glück zu führen sind, sondern auch was das Glück ist; und das Letztere soll er offensichtlich ff zu allererst wissen. Da Sokrates einem Gesprächspartner durch Demonstration seiner Unwissenheit von den Finanz-, Militär- und anderen praktischen Fragen beweist, dass er noch nicht fähig ist, Politik fi qu’il zu treiben (Mem. 3.6), bemerkt Dorion: „Il me paraît remarquable et significatif ne cherche pas à le convaincre d’ignorance sur des questions éthiques, comme le bien et le mal, le juste et l’injuste, etc.“ (Dorion, 2004b, 56). Dorion lässt aber einen anderen Dialog hier unberücksichtigt, in dem Sokrates seinen Gesprächspartner gerade davon zu überzeugen versucht, dass man die ‚königliche Kunst‘ ohne das Wissen vom Gerechten nicht beherrschen kann: Νὴ Δί’, ἔφη ὁ Σωκράτης, τῆς καλλίστης ἀρετῆς καὶ μεγίστης ἐφίεσαι τέχνης· ἔστι γὰρ τῶν βασιλέων αὕτη καὶ καλεῖται βασιλική. ἀτάρ, ἔφη, κατανενόηκας, εἰ οἷόν τέ ἐστι μὴ ὄντα δίκαιον ἀγαθὸν ταῦτα γενέσθαι; Καὶ μάλα, ἔφη· καὶ οὐχ οἷόν τέ γε ἄνευ δικαιοσύνης ἀγαθὸν πολίτην γενέσθαι (Mem. 4.2.11). Die Gespräche mit Glaukon (Mem. 3.6) und Euthydemus (Mem. 4.2) zeigen also verschiedene Seiten der ‚königlichen Kunst‘: eine praktische und eine ethische. Mem. 4.2.2: ὁ Σωκράτης […] εὔηθες ἔφη εἶναι τὸ οἴεσθαι τὰς μὲν ὀλίγου ἀξίας τέχνας μὴ γίγνεσθαι σπουδαίους ἄνευ διδασκάλων ἱκανῶν, τὸ δὲ προεστάναι πόλεως, πάντων ἔργων μέγιστον ὄν, ἀπὸ ταὐτομάτου παραγίγνεσθαι τοῖς ἀνθρώποις. Siehe auch Mem. 3.5.21 und 4.2.5. Mem. 4.2.7: […] τῶν δὲ βουλομένων δυνατῶν γενέσθαι λέγειν τε καὶ πράττειν τὰ πολιτικὰ νομίζουσί τινες ἄνευ παρασκευῆς καὶ ἐπιμελείας αὐτόματοι ἐξαίφνης δυνατοὶ ταῦτα ποιεῖν ἔσεσθαι. καίτοι γε τοσούτῳ ταῦτα ἐκείνων δυσκατεργαστότερα φαίνεται, ὅσῳπερ πλειόνων περὶ ταῦτα πραγματευομένων ἐλάττους οἱ κατεργαζόμενοι γίγνονται. δῆλον οὖν ὅτι καὶ ἐπιμελείας δέονται πλείονος καὶ ἰσχυροτέρας οἱ τούτων ἐφιέμενοι ἢ οἱ ἐκείνων. Siehe auch Mem. 4.1.2 und 4.2.2.
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nicht alle Menschen haben das Wissen von der Regierungskunst, so wie nur einige über die Kenntnisse der Medizin verfügen und deswegen als Ärzte tätig sein können. Niemandem fällt es ein, Ärzte durch das Los aus allen Bürgern zu wählen, weil die meisten von ihnen von den Krankheiten und der Medizin nichts verstehen. Und auch Herrscher soll man nicht durchs Los wählen, weil nicht alle die Kenntnisse der Regierungskunst haben59. Da als Herrscher nur derjenige tätig sein kann, der auf diesem Gebiet sachverständig ist, soll man folglich – wenn durchs Los – nicht aus allen, sondern nur aus den kompetenten Bürgern wählen60. Hier stellt sich folgende Frage: Wer ist fähig – oder unfähig –, das Wissen von der Regierungskunst zu erwerben? Im Gespräch mit Kritobulos im Oikonomikos gibt Sokrates zu verstehen, dass diejenigen, die sich mit den sogenannten βαναυσικαὶ τέχναι beschäft ftigen, über das Wissen von der βασιλικὴ τέχνη nicht verfügen können und folglich am Steuer des Staates nicht stehen können (und nicht
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Mem. 1.2.9: ἀλλὰ νὴ Δία, ὁ κατήγορος ἔφη, ὑπερορᾶν ἐποίει [sc. ὁ Σωκράτης] τῶν καθεστώτων νόμων τοὺς συνόντας, λέγων ὡς μῶρον εἴη τοὺς μὲν τῆς πόλεως ἄρχοντας ἀπὸ κυάμου καθιστάναι, κυβερνήτῃ δὲ μηδένα θέλειν χρῆσθαι κυαμευτῷ μηδὲ τέκτονι μηδ’ αὐλητῇ μηδ’ ἐπ’ ἄλλα τοιαῦτα, ἃ πολλῷ ἐλάττονας βλάβας ἁμαρτανόμενα ποιεῖ τῶν περὶ τὴν πόλιν ἁμαρτανομένων. Siehe auch den oben zitierten Passus Mem. 3.9.10. Nach Morkels Auff ffassung wollte Sokrates die Demokratie nicht durch die „Regierung von Fachleuten“ ersetzen, sondern forderte dazu auf, dass jeder vor der Teilnahme an der Volksversammlung erst das notwendige Wissen erwerben müsse (Morkel, 2006, 71). Wohl kaum aber forderte Sokrates dazu auf, dass alle Medizin studieren sollen, die er so oft ft mit der Regierungskunst in eine Parallele setzt. Die Meinung ist, dass es sinnvoll ist, dass als Ärzte nur diejenigen tätig sind, die etwas von der Medizin verstehen, sowie als Herrscher nur diejenigen, welche die politische Kunst beherrschen. Unter den Defi finitionen, die der Xenophontische Sokrates von verschiedenen Regierungsformen gibt, gibt es eine Defi finition der ‚Aristokratie‘: καὶ ὅπου μὲν ἐκ τῶν τὰ νόμιμα ἐπιτελούντων αἱ ἀρχαὶ καθίστανται, ταύτην μὲν τὴν πολιτείαν ἀριστοκρατίαν ἐνόμιζεν εἶναι (Mem. 4.6.12). Die Methode der Stellenverteilung besteht in diesem Fall eben in der Wahl aus dem auf bestimmte Weise begrenzten Kreis von Menschen. Es ist aber nicht ganz klar, was Sokrates meint, wenn er diese Menschen als die οἱ τὰ νόμιμα ἐπιτελοῦντες – „die die Gesetze Einhaltenden“ – bezeichnet. Ich würde folgende Auff ffassung vorschlagen: Ein wenig früher in diesem Kapitel spricht Sokrates im Gespräch mit Euthydemus darüber, dass man den Gesetzen nicht gehorchen kann, ohne zu wissen, was sie vorschreiben (Mem. 4.6.6: οἴει οὖν τινας πείθεσθαι τοῖς νόμοις μὴ εἰδότας ἃ οἱ νόμοι κελεύουσιν; οὐκ ἔγωγ’, ἔφη). Das bedeutet, dass diejenigen, die die Gesetze einhalten, wissen, was die Gesetze vorschreiben. Aristokratie ist folglich eine Regierung der Menschen, die Gesetze kennen. Aber wer beschließt diese Gesetze? Besteht das Wissen der ‚königlichen Kunst‘ in der Kenntnis der Gesetze? Leider ist diese Äußerung des Sokrates so knapp, dass wir darüber keine Vermutungen anstellen können.
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dürfen). Ihre politische Untauglichkeit hat zwei Gründe. Einmal verdirbt die Lebensweise des Handwerkers seinen Körper, und der Kräfteverfall ft führt zur Schwäche der Seele61. Die Schwäche der Seele kann ihrerseits nicht nur das Nachlassen des für Lernen und Behalten des Wissens notwendigen Denkvermögens bedeuten, sondern auch – wie bereits gesagt – das Nachlassen der Kraft ft der Enthaltsamkeit, die allen anderen Eigenschaft ften des Herrschers zugrunde liegt62. Zum anderen lassen Handwerkertätigkeiten keine Zeit für das Erlernen der βασιλικὴ τέχνη übrig: καὶ ἀσχολίας δὲ μάλιστα ἔχουσι καὶ φίλων καὶ πόλεως συνεπιμελεῖσθαι αἱ βαναυσικαὶ καλούμεναι. ὥστε οἱ τοιοῦτοι δοκοῦσι κακοὶ καὶ φίλοις χρῆσθαι καὶ ταῖς πατρίσιν ἀλεξητῆρες εἶναι. καὶ ἐν ἐνίαις μὲν τῶν πόλεων, μάλιστα δὲ ἐν ταῖς εὐπολέμοις δοκούσαις εἶναι, οὐδ’ ἔξεστι τῶν πολιτῶν οὐδενὶ βαναυσικὰς τέχνας ἐργάζεσθαι63.
So ist der Schluss naheliegend, dass das Handwerk mit der Regierungskunst unvereinbar ist. Doch scheint mir wichtig, darauf hinzuweisen, dass Sokrates hier von den Beschäft ftigungen und nicht von den Menschen spricht: Die Natur des Handwerks gibt dem Handwerker keine Möglichkeit, zugleich auch die Regierungskunst zum Gegenstand seiner Tätigkeit zu machen. Aber es sind τέχναι, was Sokrates bewertet und gegenüberstellt, nicht die Menschen, die sich mit diesen τέχναι beschäftigen. ft Er spricht nicht darüber, dass die Handwerker von Natur aus nicht imstande sind, politisch tätig zu sein: Seine oben angeführten Worte geben keinen Anlass zu der Annahme, dass der Xenophontische Sokrates die Ansicht vertritt, dass einige Menschen von Natur aus zur Politik fähig sind und dass andere auch von Natur aus dazu unfähig
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Oec. 4.2: καὶ γὰρ αἵ γε βαναυσικαὶ καλούμεναι καὶ ἐπίρρητοί εἰσι καὶ εἰκότως μέντοι πάνυ ἀδοξοῦνται πρὸς τῶν πόλεων. καταλυμαίνονται γὰρ τὰ σώματα τῶν τε ἐργαζομένων καὶ τῶν ἐπιμελομένων, ἀναγκάζουσαι καθῆσθαι καὶ σκιατραφεῖσθαι, ἔνιαι δὲ καὶ πρὸς πῦρ ἡμερεύειν. τῶν δὲ σωμάτων θηλυνομένων καὶ αἱ ψυχαὶ πολὺ ἀρρωστότεραι γίγνονται. Freilich ist Enthaltsamkeit auch für den Handwerker notwendig, denn ohne sie kann der Mensch keiner Arbeit nachgehen. Da aber die Regierungskunst eine höhere Stelle in der Kunsthierarchie einnimmt als die gewerbliche Kunst, kann man vermuten, dass die erstere eine größere Kraft ft der Enthaltsamkeit erfordert als die letztere. Oec. 4.3: „Auch halten diese sogenannten spießbürgerlichen Beschäft ftigungen am meisten davon ab, sich um die Freunde und um den Staat zu kümmern. Daher sind solche Leute ungeeignet für den Verkehr mit Freunden und die Verteidigung des Vaterlandes. Deshalb ist es in einiges Städten, am meisten aber in denen, die den Krieg lieben, keinem Bürger erlaubt, sich einer handwerklichen Beschäft ftigung zu widmen.“
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sind64. Von Geburt haben die Menschen verschiedene Neigungen, Begabungen und Veranlagungen, aber von ausschlaggebender Bedeutung ist das erworbene Wissen65. Und wenn es irgendetwas gibt, mittels dessen man Menschen in verschiedene ‚Klassen‘ auft fteilen kann, dann sind es die spezifi fischen Kenntnisse, die jeder von ihnen hat, und nicht ihr angeborenes Wesen. In diesem Zusammenhang ist noch eine Bemerkung des Xenophontischen Sokrates zu beachten, die er in einem anderen Kontext macht. Als er Charmides davon überzeugen will, dass er keine Angst haben soll, vor der Volksversammlung eine Rede zu halten, sagt Sokrates folgendes: […] οὔτε τοὺς φρονιμωτάτους αἰδούμενος οὔτε τοὺς ἰσχυροτάτους φοβούμενος ἐν τοῖς ἀφρονεστάτοις τε καὶ ἀσθενεστάτοις αἰσχύνει λέγειν. πότερον γὰρ τοὺς γναφέας αὐτῶν ἢ τοὺς σκυτέας ἢ τοὺς τέκτονας ἢ τοὺς χαλκέας ἢ τοὺς γεωργοὺς ἢ τοὺς ἐμπόρους ἢ τοὺς ἐν τῇ ἀγορῷ μεταβαλλομένους καὶ φροντίζοντας ὅ τι ἐλάττονος πριάμενοι πλείονος ἀποδῶνται αἰσχύνει; ἐκ γὰρ τούτων ἁπάντων ἡ ἐκκλησία συνίσταται66.
Hier spricht Sokrates schon tatsächlich über die Menschen und bezeichnet die Arbeiterschicht der athenischen Gesellschaft ft als „die unverständigsten und schwächsten Menschen“ – οἱ ἀφρονέστατοι καὶ ἀσθενέστατοι67. Von
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Vgl. Vlastos’ Urteil: „We see how, according to Xenophon, Socrates feels about that largest single segment of the working population which he calls ‘banausoi’’ – a highly emotive term which no one would apply to them to their face, unless one wanted to insult them“ (Vlastos, 1983, 504). Das trifft fft nicht ganz zu, denn der Xenophontische Sokrates sagt αἱ βαναυσικαὶ καλούμεναι, d.h. τέχναι, und er sagt nicht οἱ βαναυσικοί, d.h. ἄνδρες. Guthries Formulierung scheint mir nicht korrekt zu sein: „Everyone, in Socrates’ view, d and way of life of a was by nature and training fitted for a particular job, and the mind good artisan were inevitably such as to preclude him from acquiring the knowledge, character and powers of judgment which would make him an adequate guide in political affairs“ ff (Guthrie, 1969, 410; Hervorhebungen von mir). Von Bedeutung ist, die Folge der gewerblichen Tätigkeit und das angeborene Denkvermögen auseinanderzuhalten. Mem. 3.7.6: „Du genierst dich nicht vor den Sachkundigen und fürchtest nicht die Stärksten, scheust dich dagegen vor den Unverständigsten n und Schwächsten zu reden. Genierst du dich denn vor den Walkern unter ihnen oder den Schustern, den Zimmerleuten, Schmieden, Bauern, Kaufl fleuten oder den Händlern auf dem Markt, die nur bedenken, was sie billig einkaufen und teuer verkaufen können? Aus solchen Leuten besteht nämlich die Volksversammlung.“ Bemerkenswert ist, dass hier – im Unterschied zum erwähnten Passus aus dem vierten Kapitel des Oikonomikos – Sokrates nicht nur von den Handwerkern spricht, die die ganze Zeit drinnen verbringen müssen, sondern auch von den Landwirten, Kaufleuten und Händlern. Vgl. Pomeroys Kommentar zu Oec. 4.2-3: „In this passage Socrates displays the conventional aristocratic scorn for handiwork that was performed indoors“ (Pomeroy, 1994, 235; Hervorhebung von mir).
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Wichtigkeit ist aber der Zusammenhang, in dem diese Worte stehen. Charmides zögert, vor der breiten Masse des Volkes zu sprechen, und Sokrates versucht zu beweisen, dass er nichts zu befürchten hat, weil er nach Sokrates’ Überzeugung viel fähiger ist als die aktiven Politiker seiner Zeit68. Das bedeutet, dass Charmides nach Ansicht des Sokrates die meisten der Bürger, die ohne Skrupel und Zweifel in die Politik gehen, an politischen Kenntnissen übertrifft fft. Sokrates ist zu einem solchen Schluss gekommen, da ihm die Gespräche des Charmides mit den Politikern bekannt sind: Charmides’ Ratschläge sind immer nützlich, und seine Kritik ist stichhaltig69. Sokrates stellt hier Charmides als einen Experten anderen Menschen gegenüber, die die Volksversammlung bilden, aber über keine Fachkenntnisse auf dem Gebiet der politischen Kunst verfügen: τί δὲ οἴει διαφέρειν ὃ σὺ ποιεῖς ἢ τῶν ἀσκητῶν ὄντα κρείττω τοὺς ἰδιώτας φοβεῖσθαι; σὺ γὰρ τοῖς πρωτεύουσιν ἐν τῇ πόλει, ὧν ἔνιοι καταφρονοῦσί σου, ῥᾳδίως διαλεγόμενος καὶ τῶν ἐπιμελομένων τοῦ τῇ πόλει διαλέγεσθαι πολὺ περιών, ἐν τοῖς μηδεπώποτε φροντίσασι τῶν πολιτικῶν μηδὲ σοῦ καταπεφρονηκόσιν ὀκνεῖς λέγειν, δεδιὼς μὴ καταγελασθῇς70.
Der Laiensportler kann aber auf einem anderen Gebiet ein guter Fachmann sein. Im Fachgebiet der Politik sind Handwerker und Bauern Laien (deswegen muss der Sachverständige vor ihnen keine Angst haben), während sie auf dem Gebiet ihrer eigenen Beschäft ftigung tüchtige Meister sein können71.
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Mem. 3.7.1: Χαρμίδην δὲ τὸν Γλαύκωνος ὁρῶν ἀξιόλογον μὲν ἄνδρα ὄντα καὶ πολλῷ δυνατώτερον τῶν τὰ πολιτικὰ τότε πραττόντων, ὀκνοῦντα δὲ προσιέναι τῷ δήμῳ καὶ τῶν τῆς πόλεως πραγμάτων ἐπιμελεῖσθαι […]. Mem. 3.7.3: ἐν ταῖς συνουσίαις, ἔφη, αἷς σύνει τοῖς τὰ τῆς πόλεως πράττουσι· καὶ γὰρ ὅταν τι ἀνακοινῶνταί σοι, ὁρῶ σε καλῶς συμβουλεύοντα, καὶ ὅταν τι ἁμαρτάνωσιν, ὀρθῶς ἐπιτιμῶντα. Mem. 3.7.7: „Worin unterscheidet sich denn eigentlich dein Tun von dem eines Mannes, der den Fachleuten überlegen ist, die Laien aber fürchtet? Denn du unterhältst dich leicht mit den ersten Männern der Stadt, von denen vielleicht einige auf dich herabblicken, und bist weit überlegen denen, die öff ffentliche Vorträge halten; vor Leuten aber, die sich niemals mit Politik beschäft ftigt haben und dich nicht im geringsten verachten, zögerst du zu sprechen aus Furcht, verlacht zu werden.“ Der Xenophontische Sokrates kann sich auch günstig über die Handwerke äußern: καὶ ἀρίστους δὲ καὶ θεοφιλεστάτους ἔφη εἶναι ἐν μὲν γεωργίᾳ τοὺς τὰ γεωργικὰ εὖ πράττοντας, ἐν δ’ ἰατρείᾳ τοὺς τὰ ἰατρικά, ἐν δὲ πολιτείᾳ τοὺς τὰ πολιτικά· τὸν δὲ μηδὲν εὖ πράττοντα οὔτε χρήσιμον οὐδὲν ἔφη εἶναι οὔτε θεοφιλῆ (Mem. 3.9.15); πότερον καὶ τῶν ἄλλων ἐλευθέρων τοὺς οὕτω ζῶντας ἄμεινον διάγοντας ὁρᾷς καὶ μᾶλλον εὐδαιμονίζεις ἢ τούς, ἃ ἐπίστανται χρήσιμα πρὸς τὸν βίον, τούτων ἐπιμελομένους; […] ποτέρως γὰρ ἂν μᾶλλον ἄνθρωποι σωφρονοῖεν, ἀργοῦντες ἢ τῶν
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Wenn Sokrates Charmides zuzureden versucht, vor der Volksversammlung furchtlos hervorzutreten, zeigt er ihm die Grundlosigkeit seiner Angst, denn derjenige, der sich gern in Gespräche mit den Fachleuten für Politik einlässt und die Oberhand über sie gewinnt, hat keinen Grund, sich vor denjenigen zu fürchten, die keine Fachkenntnisse auf diesem Gebiet haben (τοῖς μηδεπώποτε φροντίσασι τῶν πολιτικῶν). Sokrates stellt hier Experten und Laien ausschließlich auf dem Gebiet der Politik gegenüber, und deswegen bezeichnet er Handwerker als „die schwächsten und unverständigsten.“ M.E. meint Xenophons Sokrates nicht, dass Vertreter der wirtschaftenden ft Gesellschaftsschicht ft Menschen ‚zweiter Wahl‘ sind: Er hält sie für untauglich für die Staatsverwaltung, wie er einen Fachmann für Politik als unbedeutend in der Medizin bezeichnen könnte72. Die Ansichten des Xenophontischen Sokrates über Politik müssen als ‚oligarchisch‘ im strengsten Sinne des Wortes bezeichnet werden. Sein fester Glaube an die Notwendigkeit der Fachkenntnisse, der spezifischen fi Kompetenz in Fragen der Politik, führt zu der Schlussfolgerung, dass nicht jeder Bürger sich mit den Staatsangelegenheiten beschäft ftigen kann. Wie diejenigen, die von der Medizin nichts verstehen, nicht als Ärzte tätig sein sollen, so sollen auch diejenigen, die die Regierungskunst nicht beherrschen, nicht in die Politik gehen73. Andererseits spricht Xenophons Sokrates jedoch nie
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χρησίμων ἐπιμελόμενοι; ποτέρως δ’ ἂν δικαιότεροι εἶεν, εἰ ἐργάζοιντο ἢ εἰ ἀργοῦντες βουλεύοιντο περὶ τῶν ἐπιτηδείων; (Mem. 2.7.7-8). Im Oikonomikos beurteilt Sokrates positiv die Landwirtschaft; ft siehe z.B. Oec. 5.11: ἐμοὶ μὲν θαυμαστὸν δοκεῖ εἶναι εἴ τις ἐλεύθερος ἄνθρωπος ἢ κτῆμά τι τούτου ἥδιον κέκτηται ἢ ἐπιμέλειαν ἡδίω τινὰ ταύτης ηὕρηκεν ἢ ὠφελιμωτέραν εἰς τὸν βίον. Wie es scheint, kann die vorgeschlagene Auff ffassung von folgender Beobachtung bestätigt werden: In Mem. 3.7.6 sind Landwirte unter den „unverständigsten und schwächsten“ genannt, während Sokrates sich im fünften ft Kapitel des Oikonomikos über die Landwirtschaft ft und diejenigen, die sie treiben, sehr günstig äußert. Ist das nicht ein Zeichen dafür, dass im Gespräch mit Charmides Sokrates die Vertreter der Arbeiterschicht aus rhetorischen Zwecken missbilligt, um seinen Gesprächspartner zu überzeugen, keine Angst vor der Volksversammlung zu haben? Bei der Untersuchung der antidemokratischen Ansichten des Xenophontischen Sokrates schreibt Vlastos: „To the people who make up the great bulk of the Assembly he [sc. Sokrates] refers as ‘the feeblest and most stupid’ members of the civic body. […] We can see in Aristotle where this line of thought takes us when pushed further by a powerful thinker“ (Vlastos, 1983, 504 f.). Nach Vlastos vertritt Xenophons Sokrates die (implizite) Meinung, dass der Großteil der athenischen Bürger entrechtet werden muss, damit sie keine Staatsämter übernehmen können. Aber in seiner Rekonstruktion des unausgesprochenen Gedankens des Xenophontischen Sokrates folgt Vlastos dem Aristoteles: Er betont die Subjekte der Auslosung und nicht die Defekte des
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darüber, dass nicht alle Menschen von Natur aus imstande sind, sich mit der ‚königlichen Kunst‘ zu beschäft ftigen. Da theoretisch alle Menschen Enthaltsamkeit und das Wissen von der βασιλικὴ τέχνη erwerben können, können potenziell alle Menschen Herrscher sein: Zu den Fähigen oder Unfähigen, Politik zu treiben, macht Menschen nicht ihre angeborene Natur, sondern ihr Beruf, d.h. das Wissen. In diesem Sinn können die Ansichten des Xenophontischen Sokrates nicht als antidemokratisch bezeichnet werden74. Jetzt können wir auf die Frage zurückkommen, von welcher Bedeutung das bisher Gesagte für die Interpretation der These ‚das Gesetzliche ist gerecht‘ ist. Da diejenigen, die auf dem politischen Gebiet Laien sind, trotzdem an der Politik teilnehmen, bedeutet das, dass ihre Verordnungen falsch sein können. Andererseits können nur diejenigen die gerechten Gesetze erlassen, die das Wissen vom Gerechten haben. Wer das Gerechte nicht kennt, kann nicht ein professioneller Herrscher sowie Bürger sein75. Aber es liegt auf der Hand, dass nicht alle Menschen das Wissen vom Gerechten haben, und wenn das Los auf einige von diesen fällt, dann können die von ihnen be-
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Wahlsystems, bei welchem Staatsämter durch das Los verteilt werden. Während aber Vlastos’ Schluss auf einer Rekonstruktion beruht, denn explizit spricht Xenophons Sokrates darüber nicht, äußert er sich andererseits nicht einmal und ganz direkt gegen das Wahlsystem (Zitate siehe oben). Aus diesen Überlegungen folgt, wie mir scheint, dass der Xenophontische Sokrates die geltende politische Ordnung missbilligt, bei der Menschen tun, was sie nicht verstehen, und nicht einen Teil der Menschen (vgl. Mem. 3.14.6: hier tadelt Sokrates denjenigen, der, ohne die Kochkunst zu beherrschen, ein von einem erfahrenen Koch zubereitetes Gericht zu ändern versucht). Der kategorische Charakter meines ersten Urteils darüber scheint mir jetzt unberechtigt zu sein: In der Polemik gegen Guthrie und Vlastos behauptete ich, dass Xenophons Sokrates keine Verachtung für die Handwerker empfi findet (siehe Chernyakhovskaya, 2008, 39). Nun scheint mir folgende Formulierung richtiger zu sein: Der Xenophontische Sokrates bildet eine Hierarchie der Künste, in der die βασιλικὴ τέχνη auf der höchsten Stufe steht, und vor allem stellt Sokrates die τέχναι einander gegenüber. Da aber αἱ βαναυσικαὶ καλούμεναι sich auf den körperlichen und geistigen Zustand des Menschen ungünstig auswirken, stellt Sokrates de facto auch die die verschiedenen Künste praktizierenden Menschen einander gegenüber, aber er teilt sie nicht in von Natur aus bessere und schlechtere ein. Vgl. Dorions Beobachtung: „Dans les entretiens où Socrate insiste le plus sur la nécessité de posséder les compétences essentielles à l’exercice même du pouvoir, Xénophon a bien pris soin de choisir, comme interlocuteeurs de Socrate, des jeunes gens qui briguent un poste ou qui viennent d’être élus à une magistrature, démontrant ainsi habilement que les exigences de Socrate, en ce qui touche la compétence, sont parfaitement conciliables avec la démocratie et ses institutions électives“ (Dorion, 2004b, 60). Mem. 4.2.11.
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schlossenen Gesetze ungerecht sein. Dieser Schluss ergibt sich unvermeidbar aus der Theorie von der βασιλικὴ τέχνη des Xenophontischen Sokrates und widerspricht seiner Behauptung, das Gesetzliche sei gerecht. Damit die Gesetze ganz bestimmt gerecht sein können, müssen die Gesetzgeber eine strenge Prüfung durchlaufen, die ihre Kenntnisse des Gerechten bewertet, aber in der Wirklichkeit findet das nicht statt. 2.3. Ist Xenophons Sokrates gesetzestreu? In diesem Abschnitt ist die Frage zu untersuchen, ob das Handeln des Xenophontischen Sokrates mit seiner These Th übereinstimmt, dass das Gesetzliche gerecht ist und dass derjenige gerecht handelt, der den Gesetzen gehorcht: ἀλλὰ μὴν καὶ περὶ τοῦ δικαίου γε οὐκ ἀπεκρύπτετο ἣν εἶχε γνώμην, ἀλλὰ καὶ ἔργῳ ἀπεδείκνυτο, ἰδίᾳ τε πᾶσι νομίμως τε καὶ ὠφελίμως χρώμενος καὶ κοινῇ ἄρχουσί τε ἃ οἱ νόμοι προστάττοιεν πειθόμενος καὶ κατὰ πόλιν καὶ ἐν ταῖς στρατείαις οὕτως ὥστε διάδηλος εἶναι παρὰ τοὺς ἄλλους εὐτακτῶν […]76.
Xenophon spricht nicht nur darüber, dass Sokrates’ Handlungen – sowohl private als auch öff ffentliche – den Gesetzen entsprachen, sondern er gibt auch sofort zu verstehen, dass sich auf diese Weise seine Ansicht darüber zeigte, was er für gerecht hielt. Einige Beispiele von Sokrates’ konkreten Handlungen, die dem angeführten Zitat folgen, gehen dem oben erwähnten Dialog mit Hippias über das Gesetzliche und das Gerechte voran, der seinerseits beweisen soll, dass Sokrates auch in seinen Gesprächen immer dasselbe Urteil vertrat77. Zum Beweis von Sokrates’ Gesetzestreue beschreibt Xenophon vier Episoden aus seinem Leben, die im folgenden zu betrachten sind. Als Sokrates Vorsitzender in der Volksversammlung war, weigerte er sich, ungeachtet der gegensätzlichen Gesinnung des Volkes, sechs Strategen, die an der Schlacht bei den Arginusen im Jahre 406 v. Chr. teilgenommen hatten, summarisch zum Tode zu verurteilen78. Ein Urteil über alle sechs
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Mem. 4.4.1: „Auch mit seiner Ansicht über die Gerechtigkeit hielt er nicht zurück, aber bewies diese mit der Tat: Privat verkehrte er mit allen in gesetzlicher und nutzbringender Weise und in der Öff ffentlichkeit gehorchte er in der Stadt und auf den Feldzügen den Vorgesetzten, wenn es den Gesetzen entsprach, so gewissenhaft, ft dass er sich gegenüber den anderen durch seinen Gehorsam auszeichnete […]“. Diesem Dialog gehen folgende Worte voraus: καὶ ἔλεγε δὲ οὕτως καὶ πρὸς ἄλλους μὲν πολλάκις, οἶδα δέ ποτε αὐτὸν καὶ πρὸς Ἱππίαν τὸν Ἠλεῖον περὶ τοῦ δικαίου τοιάδε διαλεχθέντα (Mem. 4.4.5). Mem. 4.4.2: […] καὶ ὅτε ἐν ταῖς ἐκκλησίαις ἐπιστάτης γενόμενος οὐκ ἐπέτρεψε τῷ δήμῳ παρὰ τοὺς νόμους ψηφίσασθαι, ἀλλὰ σὺν τοῖς νόμοις ἠναντιώθη τοιαύτῃ ὁρμῇ τοῦ δήμου ἣν οὐκ ἂν οἶμαι ἄλλον οὐδένα ἄνθρωπον ὑπομεῖναι. Siehe auch
Mögliche Widersprüche
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Strategen summarisch zu fällen, konnte dem Gesetz zuwider sein , das Sokrates nach Xenophons Worten nicht verletzten wollte. Die Beschreibung dieses Ereignisses, die in einer anderen Schrift ft Xenophons zu finden ist80, lässt folgendes vermuten: Der Arginusenprozess war nicht nur gesetzwidrig, sondern auch unmoralisch. Alle Entscheidungen wurden in der Eile und in der aufgeregten Verfassung des Volks getroffen, ff der wirkliche Sachverhalt war ungeklärt, Betrug und Fälschung der Fakten lagen auf der Hand, außer Betracht blieb, dass die Strategen aufgrund des Sturmes die Schiffb ffbrüchigen nicht bergen konnten, und gerade dies wurde den Strategen zum Vorwurf gemacht. Die Vermutung ist naheliegend, dass Sokrates in seinem Handeln sich nicht (nur) nach dem konkreten Gesetz richten konnte, sondern (auch) nach den moralischen Überlegungen, indem er einen Betrug spürte und keine Entscheidung treff ffen wollte ohne Klärung des Sachverhaltes. Außerdem konnte Sokrates auch andere Motive haben: Er konnte glauben, dass die Strategen überhaupt nicht beschuldigt werden sollten, er konnte keinen Wunsch haben, an diesem Prozess teilzunehmen, oder sonst irgendetwas, doch ist in jedem Fall klar, dass dieses Verhalten des Sokrates ein Ergebnis nicht nur seiner Gesetzestreue sein konnte, sondern auch irgendwelcher anderer Überlegungen. Zwei weitere Beispiele Xenophons für den gesetzestreuen Charakter des Sokrates sind folgende: 79
καὶ ὅτε οἱ τριάκοντα προσέταττον αὐτῷ παρὰ τοὺς νόμους τι, οὐκ ἐπείθετο· τοῖς τε γὰρ νέοις ἀπαγορευόντων αὐτῶν μὴ διαλέγεσθαι καὶ προσταξάντων ἐκείνῳ τε καὶ ἄλλοις τισὶ τῶν πολιτῶν ἀγαγεῖν τινα ἐπὶ θανάτῳ, μόνος οὐκ ἐπείσθη, διὰ τὸ παρὰ τοὺς νόμους αὐτῷ προστάττεσθαι81.
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Mem. 1.1.18: βουλεύσας γάρ ποτε καὶ τὸν βουλευτικὸν ὅρκον ὀμόσας, ἐν ᾧ ἦν κατὰ τοὺς νόμους βουλεύσειν, ἐπιστάτης ἐν τῷ δήμῳ γενόμενος, ἐπιθυμήσαντος τοῦ δήμου παρὰ τοὺς νόμους [ἐννέα στρατηγοὺς] μιᾷ ψήφῳ τοὺς ἀμφὶ θράσυλλον καὶ Ἐρασινίδην ἀποκτεῖναι πάντας, οὐκ ἠθέλησεν ἐπιψηφίσαι, ὀργιζομένου μὲν αὐτῷ τοῦ δήμου, πολλῶν δὲ καὶ δυνατῶν ἀπειλούντων· ἀλλὰ περὶ πλείονος ἐποιήσατο εὐορκεῖν ἢ χαρίσασθαι τῷ δήμῳ παρὰ τὸ δίκαιον καὶ φυλάξασθαι τοὺς ἀπειλοῦντας. Colson, wie einige andere Gelehrte, auf die er sich beruft, ft bemerkt, dass es keine Beweise des gesetzwidrigen Charakter des Arginusenprozesses gibt (Colson, 1985, 145 f.). Da wir aber auch keine zuverlässigen Zeugnisse dafür haben, dass dieses Gericht nach allen von den Gesetzen vorgeschriebenen Regeln verlief, wollen wir in unserer Analyse den schwierigeren Weg gehen und eine theoretische Annahme machen, dass das Gesetz vorschrieb, das Handeln jedes Strategen einzeln zu betrachten. Es wird sich ergeben, dass sowohl der schwierige Weg als auch der leichte zu demselben Ergebnis führen: Siehe unten S. 226 Anm. 87. Hell. 1.7. Mem. 4.4.3: „Und als die Dreißig ihm gegen die Gesetze etwas auft ftrugen, gehorchte er nicht. Sie wollten ihm nämlich verbieten, sich mit den Schülern zu unterreden, au-
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Gesetze und Gesetzestreue
Im ersten Teil dieses Zitats wird gesagt: Als die Dreißig Tyrannen dem Sokrates verboten, Gespräche mit den jungen Männern zu führen, hörte er nicht auf sie, weil es gesetzeswidrig war. D.h. hätte Sokrates den Befehl der Dreißig ausgeführt und die jungen Leute nicht mehr angesprochen, hätte er das Gesetz verletzt, das vorschrieb, mit den jungen Männern zu sprechen. Da aber es kein solches Gesetz gab, bedeutet das, dass Sokrates aus anderen Gründen seine Gespräche mit den Jungen weiter führte. Dieses Beispiel kann folglich nicht als Beweis für Sokrates’ Gesetzestreue dienen. An einer anderen Stelle formuliert Xenophon diesen Befehl der Dreißig etwas anders: Als Kritias und Charikles nichts finden konnten, was Sokrates zum Vorwurf zu machen war, brachten sie in die Gesetze das Verbot ein, die Kunst der Gesprächsführung zu lehren. Da aber Xenophon selbst behauptet, dass Sokrates nichts dergleichen gelehrt hat, betraf dieser Befehl Sokrates nicht82. Im zweiten Teil des zitierten Abschnittes wird ein anderes Ereignis erwähnt: Sokrates weigerte sich, einen weiteren Befehl der Dreißig auszuführen und Leon von Salamis nach Athen zu bringen, dessen Vermögen ihm die Oligarchen entwenden und den sie hinrichten wollten83. Dieses Verhalten konnte sich ebenfalls, wie im beschriebenen Fall des Gerichtes über die Strategen, nicht nur aus der Gesetzestreue des Sokrates ergeben84, sondern auch aus anderen Überlegungen. Ein Motiv seines Handelns konnte in der Weigerung
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ßerdem befahlen sie ihm und einigen anderen Bürgern, einen Verurteilten zur Hinrichtung abzuholen, aber er allein hatte den Mut, sich zu widersetzen, weil der Befehl gesetzwidrig war.“ Mem. 1.2.31: […] ὅτε τῶν τριάκοντα ὢν νομοθέτης μετὰ Χαρικλέους ἐγένετο [sc. ὁ Κριτίας], ἀπεμνημόνευσεν αὐτῷ καὶ ἐν τοῖς νόμοις ἔγραψε λόγων τέχνην μὴ διδάσκειν, ἐπηρεάζων ἐκείνῳ καὶ οὐκ ἔχων ὅπῃ ἐπιλάβοιτο, ἀλλὰ τὸ κοινῇ τοῖς φιλοσόφοις ὑπὸ τῶν πολλῶν ἐπιτιμώμενον ἐπιφέρων αὐτῷ καὶ διαβάλλων πρὸς τοὺς πολλούς· οὐδὲ γὰρ ἔγωγε οὔτ’ αὐτὸς τοῦτο πώποτε Σωκράτους ἤκουσα οὔτ’ ἄλλου του φάσκοντος ἀκηκοέναι ᾐσθόμην. Über die Bedeutung der Äußerung ‚λόγων τέχνη‘ in diesem Zusammenhang siehe Gigon, 1953, 57 f. und Dorion & Bandini, 2000, 98. Colsons Beobachtung kann als ergänzendes Argument für die vorgeschlagene Auff ffassung dienen: „No commentator, either ancient or modern, has followed Xenophon’s lead in declaring the law about teaching to be illegal“ (Colson, 1985, 139). Auf dieses Ereignis weist Xenophon noch einmal an einer anderen Stelle hin: ἐπεὶ γὰρ οἱ τριάκοντα πολλοὺς μὲν τῶν πολιτῶν καὶ οὐ τοὺς χειρίστους ἀπέκτεινον, πολλοὺς δὲ προετρέποντο ἀδικεῖν […] (Mem. 1.2.32). Colson versucht zu beweisen, dass die Regierung der Dreißig nicht als illegal aufgefasst wurde und dass wir daher keinen Grund haben, ihre Befehle für gesetzeswidrig zu halten (Colson, 1985, 137 ff.): „Xenophon seems to have been carried away by his admitted purpose, so carried away in fact that he makes unfounded assertions“ (140). Nach Colson hätte Sokrates keine gesetzeswidrige Tat begangen, hätte er an der Verhaftung ft des Leon teilgenommen. Rechtlich betrachtet konnte aber Sokrates’ Handeln
Mögliche Widersprüche
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bestehen, die Tötung von Leon zu vermitteln, oder er wollte prinzipiell nichts mit den Dreißig zu tun haben, oder noch etwas anderes. Anders gesagt, ist die Vermutung möglich, dass Sokrates sich nicht nach den Vorschriften ft der Gesetze richtete, sondern nach seiner eigenen moralischen Gesinnung, seiner Auffassung ff vom Richtigen und Unrichtigen, und dass er in den beiden betrachteten Fällen genau dasselbe getan hätte wie das, was er getan hat, auch wenn es überhaupt keine Gesetze gegeben hätte, mit deren Handlungsvorschrift ften Sokrates’ Handeln hätte übereinstimmen können. Schließlich betrifft fft Xenophons letztes Beispiel für das gesetzestreue Benehmen des Sokrates sein Auft ftreten vor Gericht85. Nach Xenophons Worten weigerte sich Sokrates, den Richtern die in solchen Fällen üblichen Schmeicheleien zu sagen, und er bezahlte dafür mit seinem Leben, blieb aber den Gesetzen treu. In der Tat gab es kein Gesetz, das verbot, rhetorische Mittel anzuwenden, um einen emotionalen Einfluss fl auf die Richter der Heliaia auszuüben. Hätte Sokrates zu solchen Mitteln greifen wollen, hätte er kein Gesetz verletzt. Folglich hatte sein Benehmen irgendwelche anderen Gründe, die wir nur vermuten können86. Wenn diese vier Beispiele beweisen sollen, dass Sokrates immer den Staatsgesetzen gehorchte, erreichen sie dieses Ziel kaum. In (mindestens) zwei Fällen (das Gericht über Sokrates und das Verbot, mit den jungen Leuten zu sprechen) gab es kein relevantes Gesetz, welches vorschrieb, wie man handeln solle, so dass Sokrates sich in diesen Fällen ausschließlich nach seinen eigenen moralischen Überlegungen richten konnte. In den beiden anderen Fällen (dem Gericht über die Strategen und dem Befehl, Leon von Salamis nach Athen zu bringen) führten Vorschriften ft der Gesetze (wenn solche vorhanden waren) und moralische Überlegungen zu demselben Ergebnis, und wir haben keine festen Gründe, zu behaupten, dass Sokrates sich
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richtig sein, denn Leon mit Gewalt nach Athen zu bringen, konnte als Verletzung der Souveränität von Salamis betrachtet werden. Deswegen sollten wir auch hier bei der Analyse den schwierigeren Weg gehen (siehe S. 223 Anm. 79 und S. 226 Anm. 87). Mem. 4.4.4: καὶ ὅτε τὴν ὑπὸ Μελήτου γραφὴν ἔφευγε, τῶν ἄλλων εἰωθότων ἐν τοῖς δικαστηρίοις πρὸς χάριν τε τοῖς δικασταῖς διαλέγεσθαι καὶ κολακεύειν καὶ δεῖσθαι παρὰ τοὺς νόμους, καὶ διὰ τὰ τοιαῦτα πολλῶν πολλάκις ὑπὸ τῶν δικαστῶν ἀφιεμένων, ἐκεῖνος οὐδὲν ἠθέλησε τῶν εἰωθότων ἐν τῷ δικαστηρίῳ παρὰ τοὺς νόμους ποιῆσαι, ἀλλὰ ῥᾳδίως ἂν ἀφεθεὶς ὑπὸ τῶν δικαστῶν, εἰ καὶ μετρίως τι τούτων ἐποίησε, προείλετο μᾶλλον τοῖς νόμοις ἐμμένων ἀποθανεῖν ἢ παρανομῶν ζῆν. Vgl. Apol. 4 und Breitenbachs Kommentar: „In Hermogenes’ Replik wird knapp darauf hingedeutet, daß vor Gericht logos des Angeklagten wichtiger sei als sein ergon“ (Breitenbach, 1967, 1889). Xenophon selbst behauptet, dass Sokrates sich vor Gericht darum so prahlerisch benahm, weil er glaubte, es wäre für ihn besser zu sterben als zu leben: Siehe Apol. 1 und oben S. 150 f.
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Gesetze und Gesetzestreue
nach den ersten und nicht nach den letzteren richtete. Wenn Sokrates nicht die Gesetze, sondern seine moralischen Grundsätze befolgt, dann gehorcht er den Gesetzen de facto; solche Gesetzestreue ist keine Absicht, sondern eine Folge. Xenophon führt kein Beispiel einer Situation an, wo Vorschriften ft der Gesetze den moralischen Überlegungen widersprochen hätten, so dass Sokrates vor der Wahl gestanden hätte, entweder dem Gesetz zu gehorchen oder seiner eigenen Auff ffassung vom Richtigen treu zu bleiben87. Es bleibt uns nichts anderes übrig als zu vermuten, wie Sokrates hätte handeln können, wäre er auf ein ungerechtes Gesetz gestoßen88. Zusammengefasst lässt sich sagen: Xenophons Beispiele von Sokrates’ Handeln in den konkreten Situationen können seine angebliche Gesetzestreue kaum beweisen. Xenophons Sokrates vertritt „oligarchische“ politische Ansichten in dem Sinne, dass nur Ausgebildete, d.h. Leute, die das Wissen vom Gerechten haben, im politischen Bereich tätig werden und Gesetze erlassen dürfen. Da das aber in der Realität nicht der Fall ist, können die geltenden positiven Gesetze ungerecht sein und der These ‚das Gesetzliche ist gerecht‘ deshalb nicht entsprechen. Auch das von Xenophon dargestellte Handeln des Sokrates selbst kann nicht als Beweis dafür dienen, dass der Xenophontische Sokrates positive Gesetze immer für gerecht hält.
3. Positivistische und idealistische Auff ffassung Zum Schluss ist auf die Frage zurückzukommen, wie Sokrates’ Aussage ‚das Gesetzliche ist gerecht‘ interpretiert werden soll und ob die Begriff ffsumfänge des Gesetzlichen und des Gerechten übereinstimmen oder sich überschneiden oder der Begriff ffsumfang des Gesetzlichen kleiner als der Begriff ffsumfang des Gerechten ist und ihm angehört. 87
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Johnson hält sich an Colsons Ansicht (siehe oben S. 223 Anm. 79 und S. 224 Anm. 84) und kommt deswegen zu folgendem Schluss: „But none of these examples is a clear-cut case of Socrates standing up against a technically illegal act, i.e. one that confic, written law. […] acting ‘contrary to the laws’ (παρὰ τοὺς νόμους) travened a specifi is here a matter of violating a general code of behavior“ (Johnson, 2003, 267). Wenn dies der Fall ist, können Xenophons Beispiele umso weniger die Gesetzestreue des Sokrates beweisen. Das einzige, wonach Sokrates sich dann richten konnte, sind seine eigenen Überlegungen. Die erwähnte Geschichte des Leon von Salamis scheint mir die Vermutung bestätigen zu können, dass Sokrates nie einem ungerechten Gesetz gehorchen würde (außer in dem theoretischen Fall, wenn er das aus Unwissenheit tun könnte). Wenn die Regierung der Dreißig nicht für illegal gehalten wurde (siehe oben S. 224 Anm. 84), dann hatte ihr Befehl, Leon zu verhaft ften, die legale Kraft ft, die Sokrates doch zugunsten seiner eigenen Auff ffassung vom Gerechten unberücksichtigt gelassen hat.
Positivistische und idealistische Auff ffassung
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Das bisher Gesagte spricht, wie es scheint, für die idealistische Auff ffassung der zu analysierenden These ‚das Gesetzliche ist gerecht‘. Einerseits gibt es in den Urteilen des Xenophontischen Sokrates nichts, was beweisen könnte, dass jedes positive Gesetz bestimmt gerecht ist. Andererseits lässt sich aber aus der oben durchgeführten Untersuchung der logische Schluss ziehen, dass Gesetze gerecht sein sollen89. Da aber gemäß dem Xenophontischen Sokrates nur das gerechte Gesetz als ‚Gesetz‘ bezeichnet werden darf, ist seine These Th ‚das Gesetzliche ist gerecht‘ als Deklarierung des legalen Positivismus zu verstehen. Es lohnt sich, Sokrates’ Argumente, die zu solcher Schlussfolgerung führen, zusammenzufassen. Positive Gesetze können nicht immer gerecht sein, weil die Menschen, die sie erlassen, nicht unbedingt das Wissen vom Gerechten haben. Zweifellos gerecht sind nur diejenigen Gesetze, die von dem ganz bestimmt gerechten Gesetzgeber erlassen sind. So sind die ἄγραφοι νόμοι – ungeschriebene, von den Göttern festgelegte Gesetze. In Beziehung zu anderen Menschen kann nur derjenige zu seinem Wohl handeln, der weiß, was gerecht und was ungerecht ist. Da aber nicht alle Menschen über ein solches Wissen verfügen, doch alle nach ihrem Wohl streben, brauchen Menschen die Hilfe, welche Gesetze leisten sollen, indem sie das Gerechte und das Ungerechte den Unwissenden erklären, damit sie sich in ihrem Handeln danach richten können90. Folglich sind Gesetze gerecht und deswegen nützlich: Wenn ein Gesetz ungerecht und deswegen schädlich ist, dann ist dies kein ‚Gesetz‘, da es seine spezifi fische Aufgabe nicht erfüllt91. Wenn ein Gesetz ungerecht ist, ist es kein ‚Gesetz‘, und der Mensch kann (und soll) ihm deswegen nicht gehorchen, wenn er weiß, was im Gegenteil gerecht ist92. Wenn der Mensch aber über solches Wissen nicht verfügt, hat er 89
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Die idealistische Auff ffassung vertritt Johnson: Johnson, 2003; in ihrer Kritik bezeichnet Gray Johnsons Interpretation als „ironic reading“ (Gray, 2004a). Die positivistische Auffassung ff von Gesetzen vertritt Morrison: Morrison, 1995; ihm stimmt auch Dorion zu: Dorion, 2010. Unter anderem aus diesem Grund gibt Morrison der positivistischen Auff ffassung den Vorzug: In diesem Fall gibt es ein einfaches Kriterium für das Gerechte: „something is just if and only if it is in accord with positive law“ (Morrison, 1995, 334). Dass Gesetze als Kriterium für das Handeln des Menschen dienen können, ist nicht zu bestreiten, aber als Kriterium für das Gerechte können sie nur dann dienen, wenn sie selbst gerecht sind. Da aber die Vermutung naheliegt, dass der Xenophontische Sokrates ungerechte (positive) Gesetze für möglich hält (aber darüber nicht spricht), vertritt er eher die idealistische Auff ffassung: Die Gesetze müssen als Kriterium für das Gerechte dienen, sie können das aber in Wirklichkeit nicht immer. Über ‚legal idealism‘ siehe auch Morrison, 1995, 331. Beiläufig fi sei angemerkt, dass das Handeln des Sokrates nicht zu verstehen gibt, dass derjenige, der das Gerechte kennt, die anderen umstimmen und für die Änderung
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Gesetze und Gesetzestreue
kein anderes Kriterium für die Wahl zwischen den möglichen Handlungen außer dem Gesetz93. Ungerechte Gesetze sind gerade darum schädlich, weil sie die unwissenden Menschen zu ungerechten Handlungen zwingen und sie deswegen unglücklich machen. Da nicht alle das Wissen vom Gerechten haben, sollen Staatsgesetze Lücken im Wissen jedes einzelnen Menschen ausfüllen, indem sie das Gerechte vorschreiben und vor dem Ungerechten warnen, damit alle Menschen und die Gesellschaft ft im ganzen das Wohl erreichen könne. Aus diesem Grund sollen nur diejenigen, die das Wissen haben, als Gesetzgeber fungieren. Ungeschriebene göttliche Gesetze umfassen nicht alle möglichen Situationen des menschlichen Lebens, positive Gesetze sollen sie daher ergänzen, indem sie die Verhaltensregeln für die Fälle vorschreiben, für welche keine Anweisungen der ungeschriebenen Gesetze vorhanden sind94. Da aber auch positive Gesetze nicht alle Situationen umfassen können95, bedeutet das, dass
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des ungerechten Gesetzes kämpfen muss: Sokrates hat nicht versucht, mit den Dreißig Tyrannen zu sprechen, als sie ihm befahlen, Leon von Salamis zu verhaften; ft und im Gericht über die Strategen stellte er nicht – im Unterschied zu Euryptolemos – die Klage wegen Gesetzwidrigkeit (γραφὴ παρανόμων). Pangle behauptet deswegen, dass Sokrates nur über geringe Fähigkeiten zum Reformieren des Staats verfügte (Pangle, 1994, 147). M.E. stellt sich Sokrates nicht die Aufgabe, den Staat oder die Gesetze zu reformieren. Ich schließe mich Colsons Meinung an: „[…] we are confronted with Socrates’ ‘lack of love’. His concern is that he himselff act justly, and not that the persons in peril receive just treatment“ (Colson, 1985, 147). Es scheint mir möglich, dass der Xenophontische Sokrates der Meinung ist, dass derjenige, der das Gerechte nicht kennt, sich beim Handeln immer nach den Gesetzen (wenn es diese gibt) richten soll. D.h.: Es sei besser, eine Anleitung – wenn auch nicht immer eine gerechte – zum Handeln zu haben als überhaupt keine. Im Krieg z.B. sei die Ordnung unmöglich, wenn alle – d.h. auch die Unwissenden – sich nach ihren eigenen Überlegungen richten würden (Mem. 4.4.14, siehe auch 4.4.15-17). Morrisons Urteil scheint mir dennoch nicht zutreff ffend zu sein: „[…] the benefi ficial consequences of the fact of obedience to the law outweigh any negative consequences of the particular actions called for by the law. In other words, breaking the law always makes things worse than following it“ (Morrison, 1995, 336). Wenn der gerechte Mensch ein ungerechtes Gesetz verletzt, bringt er sich (und vielleicht auch der Gesellschaft) ft einen größeren Nutzen, als wenn er ihm gehorcht. Darin sind sogar die die gegensätzlichen Auff ffassungen vertretenden Gelehrten einig: Vgl. Morrisons Urteil „the divine laws are simply silent on many topics“ (Morrison, 1995, 341) und Johnsons „the unwritten laws are couched in general terms and thus do not cover most specifi fic actions“ (Johnson, 2003, 273). Wenn der Mensch, der das Gerechte nicht kennt, vor der Wahl zwischen möglichen Handlungen in einer Situation steht, für die es kein relevantes Gesetz gibt, kann er ebenso zufälligg sowohl eine gerechte als auch eine ungerechte Tat begehen.
Positivistische und idealistische Auff ffassung
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das Gerechte (und das Nützliche) außerhalb des Rahmens der positiven Gesetze möglich ist: Völlig stimmen das Gerechte und das Gesetzliche nur in der idealen Gesetzessammlung überein, in der alle möglichen Lebenssituationen vorgesehen sind96. Das Ideal wird jedoch zum positiven Recht nur in dem Fall, wenn alle idealen Gesetze angenommen sind97; da es in Wirklichkeit kaum möglich zu sein scheint, ist der Umfang des Begriffs ff ‚das Gerechte‘ in allen Fällen, außer dem idealen, weiter als der Umfang des Begriffs ff ‚das Gesetzliche‘. In Wirklichkeit überschneiden sich die Begriff ffsumfänge des ‚Gerechten‘ und des ‚Gesetzlichen‘; völlige Übereinstimmung dieser Begriffe ff ist ein idealer Zustand, der unmöglich oder wenig wahrscheinlich in Wirklichkeit ist; das beste mögliche positive Recht ist folglich ein solches, bei dem der Umfang des Begriff ffs ‚das Gesetzliche‘ zum Umfang des Begriff ffs ‚das Gerechte‘ gehört: In diesem letzten Fall ist ‚das Gesetzliche‘ in Sokrates’ These ‚das Gesetzliche ist gerecht‘ im Rahmen des legalen Positivismus zu betrachten. So vereinigt der Xenophontische Sokrates geschickt die positivistische und die idealistische Auff ffassung von Gesetzen.
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Als Beispiel können folgende Worte Xenophons über Sokrates dienen: ἀντὶ δὲ τοῦ διαφθείρειν τοὺς νέους, ὃ δὴ ὁ γραψάμενος αὐτὸν ᾐτιᾶτο, φανερὸς ἦν τῶν συνόντων τοὺς πονηρὰς ἐπιθυμίας ἔχοντας τούτων μὲν παύων, τῆς δὲ καλλίστης καὶ μεγαλοπρεπεστάτης ἀρετῆς […] προτρέπων ἐπιθυμεῖν (Mem.1.2.64). Kein Gesetz schrieb vor, die Gesprächspartner zur Tugend anzuregen oder mit den Jungen zu sprechen (siehe oben). Aber beides war gerecht (weil nützlich). Sokrates’ Handeln selbst demonstriert also, dass es ein Gerechtes gibt, welches nicht gesetzlich ist. Johnson weist mit Recht darauf hin, dass Xenophon die Gerechtigkeit des Sokrates vor allem als seine Nützlichkeit versteht (Mem. 4.8.11: δίκαιος δὲ ὥστε βλάπτειν μὲν μηδὲ μικρὸν μηδένα, ὠφελεῖν δὲ τὰ μέγιστα τοὺς χρωμένους αὐτῷ) und in den Memorabilien danach strebt, eben den Nutzen des Sokrates zu beweisen; daraus zieht Johnson folgenden Schluss: „Were justice limited to lawfulness in the sense of the law of the city, there would be little need for the bulk of the Memorabilia“ (Johnson, 2003, 266). Die Tatsache, dass das Gerechte ungesetzlich sein kann, widerlegt folgendes Urteil ficial that is concerned with obedience to Morrisons: „Justice is that partt of the benefi law“ (Morrison, 1995, 339). Die Gerechtigkeit ist nützlich, weil sie eine Tugend ist, und die Tugend ist per Definition fi nützlich, während die Gesetze nur deshalb (und nur dann) nützlich sind, weil (wenn) sie gerecht sind. Mem. 4.4.13: ἐγράψαντο.
VI Xenophons Sokrates und die Götter Die Darlegung von Sokrates’ Verhältnis zu den Göttern steht in Xenophons Text im Dienst seines apologetischen Zwecks, die Anklage zu widerlegen, dass Sokrates die von dem Staat anerkannten Götter nicht anerkenne und neue Götter einführe. Die religiösen Ansichten des Xenophontischen Sokrates widersprechen seinen anderen Ansichten aber nicht und stimmen nicht nur völlig mit ihnen überein, sondern werden auch – wie seine anderen Einstellungen – rational (wenn auch nicht ganz erschöpfend) begründet.
Xenophons Sokrates verehrt nicht nur selbst die Götter1, sondern regt auch seine Freunde dazu an. In den Gesprächen über die Götter führt Sokrates seinen Beweis der Notwendigkeit der Frömmigkeit jedes Mal vor allem mit dem Verweis auf die göttliche Ordnung des Universums. So spricht er mit Aristodemos2, von welchem er erfahren hat, dass er den Göttern keine Opfer bringt, die Wahrsagekunst ablehnt und diejenigen, die das tun, verspottet, darüber, dass der Schöpfer, als er die Menschen schuf, alles zu ihrem Wohl, d.h. zu ihrem Nutzen eingerichtet habe. Das betrifft fft erstens den Körperbau des Menschen: Z.B. seien die Augen dazu bestimmt, dass Menschen das Sichtbare sehen können, wie die Ohren, dass sie das Hörbare hören können; Gerüche und Düft fte wären von keinem Nutzen, wenn den Menschen keine empfindende fi Nase gegeben worden wäre, wie auch ohne Zunge man das Süße nicht vom Bitteren unterscheiden könnte. Und während der Mensch sich in diesen Dingen vom Tier nicht besonders unterscheide, mache z.B. die Tatsache, dass er nicht nur Füße, sondern auch Hände habe, ihn viel glücklicher als Tiere. Am meisten aber lasse sich die viel größere Sorge der Götter um den Menschen als um alle anderen Lebewesen darin nachweisen, dass sie die Menschen mit einer vortreffl fflichen Seele begnadet haben, die wie keine andere lernen und, was sie hört, sieht und lernt, im Gedächtnis behalten könne, dank welchem die Menschen wiederum viel glücklicher als die Tiere seien. Die Tatsache, dass alles bei dem Menschen einem bestimmten Zweck diene, nämlich dass es ihm möglichst gut gehe, zeugt nach dem Xenophontischen Sokrates davon, dass der Mensch nicht durch einen Zufall, sondern durch göttliche Providenz geschaffen ff worden sei:
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Mem. 1.1.2; 1.3.1-3; Apol. 11; 24. Mem. 1.4.
Xenophons Sokrates und die Götter
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τῶν δὲ ἀτεκμάρτως ἐχόντων ὅτου ἕνεκα ἔστι καὶ τῶν φανερῶς ἐπ’ ὠφελείᾳ ὄντων πότερα τύχης καὶ πότερα γνώμης ἔργα κρίνεις; Πρέπει μὲν τὰ ἐπ’ ὠφελείᾳ γιγνόμενα γνώμης εἶναι ἔργα3.
Im Gespräch mit Aristodemos spricht Sokrates über den vorsorglichen, providentiellen4 Aufb fbau des Menschen selbst, während er im Gespräch mit Euthydemus über dasselbe Thema Th auch den anthropozentrischen und providentiellen Charakter des ganzen Universums zu zeigen versucht. Alles diene zum Wohl und Glück des Menschen: So gebe es z.B. das Licht, ohne welches die Menschen nichts sehen könnten, und die Nacht, damit sie sich erholen können; den Menschen werden das lebensnotwendige Wasser und das wertvolle Feuer von den Göttern gegeben und alles andere auf diese Weise5. Als Antwort gibt Euthydemus jedes Mal zu, dass alles das von der göttlichen Providenz6 zeuge. Der anthropozentrische und rational-teleologische Cha-
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Mem. 1.4.4: „Welche hältst du für Werke des Zufalls oder der Absicht, die, bei denen unentschieden ist, wozu sie geschaffen ff sind, oder die, welche off ffenbar zum Nutzen da sind? Selbstverständlich sind das Werke der Überlegung, die zum Nutzen geschaffen ff sind.“ Für die Analyse der Argumentationslogik in dieser Passage siehe z.B. Sedley, 2007, 84 f. Vgl. προνοητικῶς und προνοίας ἔργοις (Mem. 1.4.6). Mem. 4.3.3-14. Im Oikonomikos spricht Ischomachos darüber, dass die göttliche Providenz sich auch in der Geschlechterdiff fferenz beobachten lässt (Oec. 7.18-31): ἐμοὶ γάρ τοι, ἔφη φάναι, καὶ οἱ θεοί, ὦ γύναι, δοκοῦσι πολὺ διεσκεμμένως μάλιστα τὸ ζεῦγος τοῦτο συντεθεικέναι ὃ καλεῖται θῆλυ καὶ ἄρρεν, ὅπως ὅτι ὠφελιμώτατον ᾖ αὑτῷ εἰς τὴν κοινωνίαν (Oec. 7.18; vgl. auch Mem. 1.4.7). Sedley weist zu Recht darauf hin, dass es in den Memorabilien in den beiden Dialogen über die Götter ganz gleicherweise zunächst um diejenigen Dinge geht, welche den Menschen ebenfalls wie allen anderen Lebewesen von den Göttern gegeben sind, und danach um die Güter, die ausschließlich Menschen genießen und die sie also von allen Tieren unterscheiden: In Mem. 1.4.11-14 geht es um den aufrechten Gang, Hände, Sprechfähigkeit, Seele und Verstand sowie die religiöse Besinnung; in Mem. 4.3.10-11 werden Sprechfähigkeit, Verstand und Religiosität wieder erwähnt, und es wird auch hinzugefügt, dass alle Tiere, die alle gemeinsamen Güter mit den Menschen teilen, ihrerseits eben zum Nutzen und Wohl der Menschen erschaff ffen werden. Sedley, 2007, 80: „By these moves, of a fundamentally religious motivation, Socrates develops a teleology that is far more overtly and explicitly anthropocentric than anything we have met in his predecessors.“ Vgl. φιλάνθρωπα (Mem. 4.3.5), προνοητικόν (Mem. 4.3.6), φιλανθρωπίᾳ (Mem. 4.3.7), ἀνθρώπων ἕνεκα (Mem. 4.3.8) und Mem. 4.3.9: ἐγὼ μέν […] ἤδη τοῦτο σκοπῶ, εἰ ἄρα τί ἐστι τοῖς θεοῖς ἔργον ἢ ἀνθρώπους θεραπεύειν. Vgl. auch Viano, 2001, 117: „La caractéristique la plus frappante de cette vision cosmologique des Mémorables est l’anthropocentrisme: le monde entier est fabriqué et réglé par la divinité en vue de la plus grande utilité pour l’homme“ und Natali, 2005, 688: „Nei due dialoghi dedicati
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Xenophons Sokrates und die Götter
rakter des Aufb fbaues des Universums, welchem nach dem Xenophontischen Sokrates das Prinzip des Nutzens für den Menschen zugrunde liegt, beweist nach seiner Meinung einerseits dessen göttlichen Ursprung und andererseits die Philanthropie der Götter. Die Götter haben nicht nur die Menschen und die Umwelt fürsorglich geschaffen, ff sondern auch so genannte ‚ungeschriebene Gesetze‘, ἄγραφοι νόμοι, aufgestellt, die die Gerechtigkeit der Beziehungen der Menschen sichern sollen, damit sie zusammen leben können7. Die Besonderheit und der Unterschied dieser Gesetze zu den positiven ‚geschriebenen‘ Gesetzen besteht erstens darin, dass sie überall gleichmäßig gelten (aus ebendiesem Grund schließt Hippias, dass sie von den Göttern festgelegt seien, weil die Menschen von überall nicht zusammenkommen können und außerdem verschiedene Sprachen sprechen), und zweitens darin, dass derjenige, der diese Gesetze übertrete, der Strafe nicht entfl fliehen könne, wie es hingegen manchmal möglich sei, dass derjenige, der die geschriebenen Gesetze übertrete, sich der Strafe entziehe. Auch das zeuge davon, dass die ungeschriebenen Gesetze von einem besseren Gesetzgeber als dem Menschen erlassen wurden8.
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a questo tema Senofonte attribuisce a Socrate una visione cosmologica complessa, basata sull’idea di un cosmo organizzato fi finalisticamente da parte di una divinità intelligente, che tende a procurare il benessere e la felicità degli esseri umani.“ Mem. 4.4.19-25; siehe dazu auch Stavru, 2008, 71. Morrison (Morrison, 1995) und Johnson (Johnson, 2003) finden im Gespräch über die ungeschriebenen Gesetze einen Teil der Theorie des ‚Gesetzlichen‘ des Xenophontischen Sokrates, während Narcy und Dorion dieses Gespräch für einen Nachtrag zu den an den anderen Stellen geäußerten Urteilen des Xenophontischen Sokrates über die Götter halten. Siehe Dorion & Bandini, 2000, ccxxxvi: „De plus, on peut considérer que le chapitre 4 [sc. 4.4] apporte un complément au chapitre 3 [sc. 4.3] en ce qui a trait au rôle bénéfi fique et irremplaçable que jouent les dieux, par l’intermédiaire des lois non écrites, pour garantir la justice des rapports entre les hommes. Les §19-25 du chapitre 4 s’inscriraient ainsi dans le prolongement des considérations du chapitre 3 sur la providence et la bienveillance divines.“ Siehe auch Narcy, 1997, 23. M.E. werden die politischen und die religiösen Ansichten des Xenophontischen Sokrates hier geschickt vereint (siehe die folgende Anm.), womit die Ganzheit seiner Gestalt noch einmal demonstriert wird. Mem. 4.4.21-25. Die Tatsache, dass die ungeschriebenen Gesetze in sich die Strafe schließen, beweise ihre Gerechtigkeit, woraus Sokrates folgenden Schluss zieht: καὶ τοῖς θεοῖς ἄρα τὸ αὐτὸ δίκαιόν τε καὶ νόμιμον εἶναι ἀρέσκει. Die ungeschriebenen Gesetze verwirklichen gerade den idealen Fall, wenn das Gesetzliche und das Gerechte völlig übereinstimmen (siehe oben S. 229), da diese Gesetze von dem idealen, d.h. wissenden, Gesetzgeber erstellt worden sind. Die Gesprächspartner erwähnen vier von diesen Gesetzen: die Götter zu verehren (θεοὺς σέβειν), die Eltern zu ehren (γονέας τιμᾶν), keinen Inzest zu begehen (μήτε γονέας παισὶ μίγνυσθαι μήτε παῖδας γονεῦσιν) und Wohltaten zu erwidern (τοὺς εὖ ποιοῦντας ἀντευεργετεῖν). Eine Andeutung auf noch ein ungeschriebenes Gesetz – dass die Jüngeren den Älteren Respekt entgegenbringen sollen – kann in Mem. 2.3.16 ersehen werden.
Xenophons Sokrates und die Götter
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Und sogar die Tatsache, dass die Götter für die Menschen unsichtbar seien, gebe keinen Grund für Zweifel an ihrer Existenz: Die Seele des Menschen selbst sei für ihn auch unsichtbar, aber niemand würde bezweifeln, dass es eben die Seele sei, die seinen Körper beherrsche. Darüber spricht Sokrates sowohl mit Aristodemos9 als auch mit Euthydemus10, und keiner von den beiden widerspricht diesem Urteil. Im Gegenteil geben die beiden Gesprächspartner gerade nach der Erwähnung der menschlichen Seele sofort und mit Nachdruck zu, dass die Götter verehrt werden sollen11. Es ist der Vergleich zwischen dem Aufbau fb des Universums und dem des Menschen, der sie überzeugt hat: Wie der Mensch nur dank seiner Seele vernünft ftig handeln könne12, so könne auch der Kosmos nur in dem Fall seine Ordnung er-
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Mem. 1.4.9. Mem. 4.3.14. Aristodemos: οὔτοι, ἔφη, ἐγώ […] ὑπερορῶ τὸ δαιμόνιον; Euthydemus: ἐγὼ μέν […] ὅτι μὲν οὐδὲ μικρὸν ἀμελήσω τοῦ δαιμονίου, σαφῶς οἶδα. Nachher äußern sie schon verschiedene Zweifel. Aristodemos findet die Gottheit so erhaben, dass sie des Dienstes von Menschen nicht bedarf (Mem. 1.4.10); Euthydemus aber scheint es unmöglich, die Wohltaten der Götter mit würdigem Dank zu erwidern (Mem. 4.3.15). Dieser Unterschied ist damit zu erklären, dass Aristodemos im Gespräch mit Sokrates sein Gegner ist, während Euthydemus in diesem Kapitel hingegen schon sein treuer Schüler ist. Siehe auch Natali, 2005, 679. Viele Kontexte sprechen dafür, dass der Xenophontische Sokrates den Körper und die Seele trennt (Mem. 1.2.19; 1.2.23; 1.3.5; 1.5.3; 1.5.5; 2.1.19; 2.1.25; 2.1.31; 2.6.30; 2.6.32; 3.9.1; 3.13.1; 3.14.7; 4.1.2; siehe auch 1.2.2; 1.2.24 und 1.2.4) und die Persönlichkeit des Menschen mit seiner Seele identifi fiziert (Mem. 1.4.9: ἡ ψυχὴ τοῦ σώματος κυρία ἐστίν; Mem. 4.3.14: [ἡ ψυχὴ] βασιλεύει ἐν ἡμῖν; siehe auch Mem. 1.4.13-14; 3.10.3; 3.10.8; 3.11.10). Gerade die Seele schließt die Enthaltsamkeit (Mem. 1.5.4: ταύτην [τὴν ἐγκράτειαν] πρῶτον ἐν τῇ ψυχῇ κατασκευάσασθαι) und den Verstand (Mem. 1.2.53: ἐν ᾗ [ψυχῇ] μόνῃ γίγνεται φρόνησις) in sich ein. Dem Körper des Menschen wird also die Seele gegenübergestellt, die zugleich seine Vernunft ft ist. Zum Beweis, dass der Xenophontische Sokrates die Seele und den Verstand nicht trennt, können noch einige Passagen angeführt werden. So sagt er an einer anderen Stelle noch einmal, dass das Wissen (ἐπιστήμη) sich in der Seele befindet fi (Mem. 2.1.20); und ein andermal wird nicht nur die φρόνησις mit der ψυχή verglichen, als ob sie ein und dasselbe sind, sondern auch zum Subjekt ψυχή gehört das Verb φροντίζειν (Mem. 1.4.17; vgl. auch ὁ σὸς νοῦς ἐνὼν τὸ σὸν σῶμα ὅπως βούλεται μεταχειρίζεται mit den oben angeführten Zitaten Mem. 1.4.9 und 4.3.14, wo dasselbe über die ψυχή behauptet wird). Es muss aber zugegeben werden, dass Xenophons Sokrates keine klare und erschöpfende Erläuterung dieser Frage gibt; nie diskutiert er darüber, was eigentlich der Verstand und die Seele des Menschen sind. Es kann scheinen, dass er an einer Stelle den Verstand des Menschen von seiner Seele doch trennt: Wenn er den nicht genug standhaften ft Menschen empfi fiehlt, Situationen auszuweichen, in denen sie sich, ohne Hunger oder Durst zu haben, von wohlschmeckenden Gerichten und Getränken verführen lassen können, sagt er, dass es für γαστέρας καὶ κεφαλὰς καὶ
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halten, wenn er von der Vernunft ft verwaltet werde13. Aus allem Gesagten lässt sich schließen – wenn auch mit notwendigen Vorbehalten –, dass die Seele des Menschen (und die Vernunft, ft die sich in ihr befi findet), die seinen Körper beherrscht, wenigstens in ihrer Funktion der göttlichen Vernunft, ft die das Universum beherrscht, ähnlich ist14. Um von der Notwendigkeit, Götter anzubeten, überzeugt zu werden, genügt es folglich, ihre Taten anzusehen: vor allem den Menschen selbst und das Universum um ihn herum15. Sokrates’
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ψυχάς schlecht ist (Mem. 1.3.6). Es geht hier aber nicht um den Verstand, sondern um den Kopf, den Xenophons Sokrates von der Seele des Menschen trennt. Indem Sokrates hier den Magen und den Kopf erwähnt, schildert er auf diese Weise kurz den Rauschzustand, während der Schaden, den die Seele erleidet, schon eine Folge dieses Zustands ist. Vgl. Gigon, 1953, 102: „[…] von Magenbeschwerden geht es zum Rausche, der den Kopf benebelt und damit die Seele angreift ft.“ Im Gespräch mit Aristodemos gibt Sokrates zu verstehen, dass es lächerlich ist, zu glauben, dass die Ordnung des Weltalls ohne vernünft ftige Grundlage bestehen kann: καὶ τάδε τὰ ὑπερμεγέθη καὶ πλῆθος ἄπειρα δι’ ἀφροσύνην τινά, ὡς οἴει, εὐτάκτως ἔχειν; (Mem. 1.4.8). Im Gespräch mit Euthydemus sagt Sokrates direkt, dass die Seele mehr als alles andere, was es noch im Menschen gibt, am Göttlichen teilhat: […] ἀνθρώπου γε ψυχή, ἥ, εἴπερ τι καὶ ἄλλο τῶν ἀνθρωπίνων, τοῦ θείου μετέχει (Mem. 4.3.14). Dasselbe Urteil, obgleich in einer anderen Form, äußert Sokrates auch im Dialog mit Aristodemos: Da der Mensch in seinem Körper einen kleinen Teil der ganzen Erde, einen kleinen Teil des ganzen Wassers und gleicherweise aller anderen Elemente habe (das erwähnt Sokrates als dem Aristodemos schon bekannt – ταῦτ’ εἰδώς), sei es unsinnig, zu denken, dass die Vernunft ft hingegen ganz nur dem Menschen gehöre (Mem. 1.4.8). Daraus folgt, dass die menschliche Vernunft ft auch ein kleiner Teil der göttlichen Vernunft ft ist. Umso mehr als es die Götter selbst sind, die den Verstand dem Menschen eingepflanzt fl haben (Mem. 4.3.11: τὸ δὲ καὶ λογισμὸν ἡμῖν ἐμφῦσαι; vgl. Mem. 1.4.13: τὴν ψυχὴν κρατίστην τῷ ἀνθρώπῳ ἐνέφυσε). Siehe auch Dorion & Bandini, 2011b, 129: „L’âme humaine est donc d’origine divine.“ Aus dem Urteil, dass die Seele dem Menschen von den Göttern eingepfl flanzt worden ist, folgt aber streng genommen der Schluss nur von ihrem göttlichen Ursprungg und nicht unbedingt von ihrer göttlichen Natur. Wie die Vernunft ft des Menschen seinen Körper, wie sie wolle, beherrsche, so ordne auch die Vernunft ft des Universums alles nach ihrem Wunsch; während das Auge des Menschen sehr weit sehen könne, sehe das Auge des Gottes alles auf einmal; und während die Seele des Menschen zugleich um mehrere Angelegenheiten besorgt sein könne, kümmere sich die göttliche Vernunft ft zugleich um alles (Mem. 1.4.17) und kenne nicht nur Worte und Taten der Menschen, sondern auch ihre geheimen Gedanken: Σωκράτης δὲ πάντα μὲν ἡγεῖτο θεοὺς εἰδέναι, τά τε λεγόμενα καὶ πραττόμενα καὶ τὰ σιγῇ βουλευόμενα, πανταχοῦ δὲ παρεῖναι […] (Mem. 1.1.19; siehe auch 1.4.18: […] γνώσῃ τὸ θεῖον ὅτι τοσοῦτον καὶ τοιοῦτόν ἐστιν ὥσθ’ ἅμα πάντα ὁρᾶν καὶ πάντα ἀκούειν καὶ πανταχοῦ παρεῖναι καὶ ἅμα πάντων ἐπιμελεῖσθαι [αὐτούς]). Neben den schon erwähnten Taten besteht die größte göttliche Tat darin, dass die Gottheit den Kosmos ordnet und zusammenhält: Mem. 4.3.13-14. Es ist zu beachten, dass Sokrates von dem, der den Kosmos in Ordnung hält, im Singular spricht und
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Auffassung ff vom providentiell aufgebauten Universum gibt also eine Grundlage für seine Frömmigkeit ab16: Wer begreift, ft dass sowohl der Mensch selbst als auch alles um ihn her zu seinem Nutzen eingerichtet wird, der kommt
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ihn sogar den anderen Göttern gegenüberstellt: ἐννόει δὲ ὅτι καὶ αὐτοὶ οἱ θεοὶ οὕτως ὑποδεικνύουσιν· οἵ τε γὰρ ἄλλοι ἡμῖν τἀγαθὰ διδόντες οὐδὲν τούτων εἰς τὸ ἐμφανὲς ἰόντες διδόασι, καὶ ὁ τὸν ὅλον κόσμον συντάττων τε καὶ συνέχων […]. Im Gespräch mit Aristodemos spricht Sokrates darüber nur kurz, aber bemerkenswert ist, dass er hier dasselbe Verb συντάττω schon in Bezug auf die Götter (im Plural) verwendet: θεῶν τῶν τὰ μέγιστα καὶ κάλλιστα συνταξάντων (Mem. 1.4.13). Siehe auch Viano, 2001, 117 f.; Natali, 2005, 688. In diesen Erörterungen des Xenophontischen Sokrates über das Universum finden fi die Forscher oft ft einen Widerspruch mit der Behauptung, dass Sokrates sich für naturwissenschaft ftliche Fragen und Probleme der Naturphilosophie nicht interessierte (Mem. 1.1.11 und 4.7.5; siehe z.B. Bevilacqua, 2010, 105 f.) und dass er diese Fragen bei der Lösung der ethischen Probleme für nutzlos hielt (Mem. 4.7.3; 4.7.5-6 und 1.1.11-16; siehe z.B. Dorion & Bandini, 2011b, 134), da er die Notwendigkeit der Frömmigkeit gerade mit der Naturphilosophie begründe. Vgl. DeFilippo & Mitsis, 1994, 259 ff.: „Far from ruling out natural philosophy, therefore, he uses it to establish the existence of the divine and a link between piety and happiness. […] Xenophon’s Socrates does not reject the study of nature outright; he opposes enquiries into nature that bypass or exclude its providential teleology.“ M.E. gibt es aber keinen Widerspruch im Text Xenophons: Wir haben keinen Grund, zu behaupten, dass der Xenophontische Sokrates sich für die Natur interessiert und dass sein Begriff ff der Frömmigkeit eine naturwissenschaft ftliche Basis hat. Die von dem Xenophontischen Sokrates abgelehnte Naturphilosophie besteht in erfahrungsmäßigen Beobachtungen und Theorien Th über Ursachen und Mechanismen von Natur- und Himmelserscheinungen (Mem. 1.1.11: τίσιν ἀνάγκαις ἕκαστα γίγνεται τῶν οὐρανίων; 4.7.5: τὰς περιόδους καὶ τὰς αἰτίας αὐτῶν). Und das dürften ft wir wohl für die Naturphilosophie halten; die von Xenophons Sokrates vertretene Auff ffassung vom providentiell aufgebauten Universum stützt sich aber auf die sehr oberflächlichen fl physikalisch-kosmologischen Beobachtungen, so dass es unmöglich scheint, in diesem Fall vom „Interesse“ für naturwissenschaft ftliche Probleme zu sprechen (vgl. aber DeFilippo & Mitsis, 1994, 259: „What distinguishes Socrates from his pre-Socratic predecessors, therefore, is not a lack of interest in nature as such…“). Eine ähnliche Gedankenfolge findet fi sich z.B. in der Schrift ft Über die Reitkunst: καὶ τοὺς θεοὺς δὲ οἴεσθαι χρὴ δεδωκέναι ταύτας τὰς τρίχας [τὸ προκόμιον] ἵππῳ ἀντὶ τῶν μεγάλων ὤτων ἃ ὄνοις τε καὶ ἡμιόνοις ἔδοσαν ἀλεξητήρια πρὸ τῶν ὀμμάτων (Eq. 5.6). Auch hier stützt sich das Urteil von der göttlichen Providenz nicht auf eine Untersuchung der Natur, sondern nur auf die sehr oberflächlichen fl Beobachtungen. Es ist deswegen richtiger, hier nicht von der Widersprüchlichkeit der Ansichten des Xenophontischen Sokrates zu sprechen, sondern von dem noch unentwickelten primitiven Providentialismus. Vgl. auch Natali, 2005, 688: „Anche quando parla del cosmo, ffronta un discorso puramente “fi fisico”, ma si trattiene il Socrate di Senofonte non aff all’interno del discorso morale.“ Vgl. auch Mem. 4.7.2 und 4.7.4 und Sedley, 2007, 78, 81 und 83: „Xenophon’s Socrates is a fundamentally anti-scientific fi creationist. […] Even more striking is the almost complete absence of scientific fi explanation. Recall
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zum Schluss, dass das von den Göttern geschaff ffen wird, und kann deswegen nicht unfromm sein17, – in diesem Fall verehrt der Mensch die Götter schon allein aus Dankbarkeit für die erwiesenen Wohltaten. Aus diesem Grund beginnt Sokrates seine Erörterungen in den oben erwähnten Dialogen über die Götter jedes Mal von der Philanthropie der Götter ausgehend, die sich in allem, was den Menschen umgibt, sowie in ihm selbst präsentiert. Die Beziehungen des Menschen zu den Göttern gehören folglich zu demselben Verhältnistypus wie die Freundschaft ftsbeziehungen des Menschen zu anderen Menschen: Einer der Mechanismen dieser Beziehungen besteht darin, dass jede Wohltat eine zurück erwiesene Wohltat als Dank der anderen Seite zu Folge haben soll, sonst können diese Beziehungen nicht zustande kommen. Die Götter des Xenophontischen Sokrates sind vor allem deshalb anthropomorph, weil ihre Wohltaten genau wie Gefälligkeiten der Menschen untereinander als derselbe Bestandteil der Beziehungen, der dem Dank vorausgeht, dienen. Und obwohl Sokrates’ Gesprächspartner in einem der Dialoge einmal die Frage aufgreift, ft dass sich die Götter von den Menschen vielleicht doch unterscheiden können und der menschlichen Dankbarkeit nicht bedürfen, weist Sokrates diese Möglichkeit kategorisch zurück und besteht darauf, dass sich das Modell der Beziehungen zwischen Menschen und Göttern aus dieser Sicht vom Modell der Freundschaft ft zwischen den Menschen nicht unterscheiden lässt18. Auch ein anderer notwendiger Mechanismus der Beziehungen des Menschen und der Götter wird aus dem Modell der Beziehungen der Menschen
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how Empedocles drew attention to divine craft ftsmanship by detailing the anatomy of the eye […]. Xenophon’s Socrates is equally eloquent in praising the eye, but he limits himself to externally obvious benefits fi [Mem. 1.4.6]. […] Appreciation of god’s special care for mankind in no way depends on theorizing about just how his gifts ft have been engineered.“ Siehe auch unten S. 238 Anm. 23. Mem. 4.3.13-14: ὅτι δέ γε ἀληθῆ λέγω, καὶ σὺ γνώσῃ, ἂν μὴ ἀναμένῃς ἕως ἂν τὰς μορφὰς τῶν θεῶν ἴδῃς, ἀλλ’ ἐξαρκῇ σοι τὰ ἔργα αὐτῶν ὁρῶντι σέβεσθαι καὶ τιμᾶν τοὺς θεούς. […] ἃ χρὴ κατανοοῦντα μὴ καταφρονεῖν τῶν ἀοράτων, ἀλλ’ ἐκ τῶν γιγνομένων τὴν δύναμιν αὐτῶν καταμανθάνοντα τιμᾶν τὸ δαιμόνιον. Das Ziel dieses Gedankengangs sowie eines ähnlichen in Mem. 1.4 besteht m.E. nicht im Beweis der Existenz der Götter (contra Mueller-Goldingen, 2007, 25 ff.), ff sondern im Beweis der Notwendigkeit der σωφροσύνη ihnen gegenüber (siehe Mem. 4.3.2: περὶ θεοὺς ffassung von der Allσώφρων und Mem. 1.1.20: περὶ θεοὺς σωφρονεῖν), d.h. der Auff macht und Allwissenheit der Götter und von der Begrenztheit der menschlichen Fähigkeiten, die ihrerseits als eine rationale Basis der Frömmigkeit dient. Siehe auch Dorion & Bandini, 2011b, 119. Mem. 1.4.10: οὐκοῦν, ἔφη, ὅσῳ μεγαλοπρεπέστερον ὂν ἀξιοῖ σε θεραπεύειν, τοσούτῳ μᾶλλον τιμητέον αὐτό [τὸ δαιμόνιον]. Siehe auch oben S. 233 Anm. 11.
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zueinander übernommen: Die Frömmigkeit wird von demselben utilitaristischen Charakter wie auch die menschliche Freundschaft ft gekennzeichnet. Nicht nur aus Dankbarkeit für die schon erwiesenen Wohltaten muss man die Götter verehren, sondern auch in Erwartung anderer Wohltaten in der Zukunft, ft ohne welche es dem Menschen wenn nicht ganz unmöglich, dann auf jeden Fall schwierig ist zu leben. Der Anthropomorphismus der Götter des Xenophontischen Sokrates besteht nämlich auch darin, dass sie einerseits dem Menschen helfen, andererseits das nicht immer wollen können und dass sie außerdem sowohl das Gute als auch das Böse tun können19, daher
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Dass die Götter Böses tun können, sagt Sokrates nur einmal, als er Aristodemos zu überzeugen versucht, dass die Menschen die Götter verehren sollen: οἴει δ’ ἂν τοὺς θεοὺς τοῖς ἀνθρώποις δόξαν ἐμφῦσαι ὡς ἱκανοί εἰσιν εὖ καὶ κακῶς ποιεῖν, εἰ μὴ δυνατοὶ ἦσαν, καὶ ἀνθρώπους ἐξαπατωμένους τὸν πάντα χρόνον οὐδέποτ’ ἂν αἰσθέσθαι; (Mem. 1.4.16). Da er aber dieses konventionelle Urteil nicht widerlegt, sondern es hingegen aufgreift ft und als eines seiner Argumente in seinen Überlegungen benutzt, haben wir keine Gründe (und keine Beweise), zu behaupten, dass der Xenophontische Sokrates eine andere Ansicht vertritt (d.h. dass die Götter kein Böses tun können). Es ist Hermogenes im Symposion, der noch einmal in den sokratischen Schriften Xenophons von dieser üblichen Auff ffassung von der Macht der Götter spricht: καὶ μὴν ὅτι νομίζομέν γε δύνασθαι αὐτοὺς καὶ εὖ καὶ κακῶς ποιεῖν καὶ τοῦτο σαφές. πάντες γοῦν αἰτοῦνται τοὺς θεοὺς τὰ μὲν φαῦλα ἀποτρέπειν, τἀγαθὰ δὲ διδόναι (Symp. 4.47). Auch hier widerlegt Sokrates dieses Urteil nicht, sondern bemerkt, es gebe nichts Unglaubliches, und strebt, zu erfahren, wie es Hermogenes gelinge, das Wohlwollen der Götter zu gewinnen: ἀλλὰ τούτων μὲν οὐδὲν ἄπιστον. ἐκεῖνο μέντοι ἔγωγε ἡδέως ἂν πυθοίμην, πῶς αὐτοὺς θεραπεύων οὕτω φίλους ἔχεις (Symp. 4.49). Einerseits muss man folglich zugeben, dass der Xenophontische Sokrates in dieser Hinsicht die Grundsätze der konventionellen Religion befolgt, andererseits ist aber bemerkenswert, dass er von den bösen Taten der Götter noch weniger spricht als von den Missetaten der Menschen (siehe oben S. 112 ff.). ff Trotzdem kann Morrisons Urteil nicht für unbestreitbar gehalten werden, da es die oben erwähnten Kontexte unberücksichtigt lässt: „But the important fact is that the beliefs of Xenophon’s Socrates concerning sacrifice fi and divination are not in fact traditional, but rather revolutionary, because they occur in the context of the Socratic postulate that the gods are good“ (Morrison, 1987, 16). Beachtenswert ist außerdem Folgendes: Sokrates selbst behauptet jedes Mal, dass der fromme Mensch bestimmt das Wohlwollen der Götter genießen wird (siehe z.B. Mem. 4.3.17 und 1.3.3); dass sogar der gute Mensch in einigen Fällen ohne Hilfe der Götter bleiben kann, erwähnt in den sokratischen Schriften Xenophons nicht Sokrates, sondern einmal Ischomachos: οἱ θεοὶ τοῖς ἀνθρώποις […] φρονίμοις δ’ οὖσι καὶ ἐπιμελέσι τοῖς μὲν διδόασιν εὐδαιμονεῖν, τοῖς δ’ οὔ (Oec. 11.8), und einmal Xenophon selbst, wenn er die Lebensweise des Sokrates beschreibt: διαίτῃ δὲ τήν τε ψυχὴν ἐπαίδευσε καὶ τὸ σῶμα ᾗ χρώμενος ἄν τις, εἰ μή τι δαιμόνιον εἴη, θαρραλέως καὶ ἀσφαλῶς διάγοι καὶ οὐκ ἂν ἀπορήσειε τοσαύτης δαπάνης (Mem. 1.3.5). Siehe auch Oec. 5.18-20.
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muss sich jeder, der ihre Hilfe bekommen will, ihr Wohlwollen sichern. Zum anderen sind die Menschen nicht imstande, die Zukunft ft zu kennen, während die Götter ein solches Wissen besitzen und daher denjenigen, denen sie wohlwollend gegenüberstehen, Zukünft ftiges voraussagen können20. Die Voraussetzung, dass das Wissen des Menschen sehr begrenzt und das göttliche Wissen hingegen unbegrenzt ist, und die anthropomorphistische Auff ffassung vom Verhalten der Götter führen den Xenophontischen Sokrates dazu, dass er die Kultausübung utilitaristisch betrachtet und die Mantik und das Beten für nützliche Mittel zur Erreichung des Wohls hält: Mittels der Mantik kann man versuchen, die Grenzen des menschlichen Wissens zu überschreiten21, beim Beten kann man sich an die Götter mit einer Bitte wenden. Hier aber soll man die Grenze zwischen dem Wissen, das für Menschen erreichbar ist, und dem, das hingegen nicht erreichbar ist, richtig bestimmen: Der Mensch ist imstande verschiedene Fachkenntnisse zu erwerben und Dinge durch Zählen, Messen und Wägen zu erforschen – in solchen Fällen ist es unfromm, die Götter durch Wahrsagekunst um Hilfe zu bitten22. Diese Überlegungen bedeuten, dass man das rationale Denken, die Untersuchung und Praxisforschung nicht durch Mantik ersetzen soll. Innerhalb der Grenzen der menschlichen Fähigkeiten und Möglichkeiten sollen sich die Menschen auf sich selbst verlassen. Andererseits ist es aber nach der Meinung des Xenophontischen Sokrates unsinnig, zu begreifen zu versuchen, was nur die Götter wissen können, nämlich den Ausgang aller menschlichen Taten23. So
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Mem. 1.1.19: τοὺς θεοὺς γὰρ οἷς ἂν ὦσιν ἵλεῳ σημαίνειν; siehe auch Apol. 13: προσημαίνειν ᾧ βούλεται. Mem. 4.7.10: εἰ δέ τις μᾶλλον ἢ κατὰ τὴν ἀνθρωπίνην σοφίαν ὠφελεῖσθαι βούλοιτο, συνεβούλευε μαντικῆς ἐπιμελεῖσθαι. Mem. 1.1.9. Außerdem verbergen die Götter das Wissen von der Natur der Dinge vor den Menfb des Universums bezeichnet Sokrates bei schen (Mem. 4.7.6). Die Fragen des Aufbaus Xenophon als ‚göttliche‘ Fragen (τὰ δαιμόνια, τὰ θεῖα) und stellt solche Fragen den ‚menschlichen‘ (τὰ ἀνθρώπινα) gegenüber. Sokrates selbst hat mit seinen Gesprächspartnern über die ‚göttlichen‘ Themen nie diskutiert und auch den anderen abgeraten (Mem. 1.1.11-13). Sokrates’ Urteile, die am Anfang dieses Kapitels beschrieben wurden, widersprechen dieser These Th nicht, wie oben bereits bemerkt wurde (siehe oben S. 235 Anm. 16): Der Xenophontische Sokrates sieht im Aufbau fb des Universums den Beweis der Philanthropie der Götter (oder einer göttlichen Vernunft), ft aber nie untersucht er Ursachen und Mechanismen der natürlichen (‚göttlichen‘) Erscheinungen (Mem. 1.1.15), und einmal nennt er sogar den Blitz und den Wind Diener der Götter (Mem. 4.3.14: τοὺς ὑπηρέτας τῶν θεῶν). Vgl. Calvo Martínez, 2008, 55: „C’est dans les écrits socratiques de Xénophon qu’il est, sûrement, licite de parler de la religiosité socratique comme frein ou limite aux aspirations démesurées de la raison. Les limites sont tracées par les dieux et toute tentative de les dépasser constitue un acte irréligieux et impie.“
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muss derjenige, der den Acker besät, alles das wissen, was er tun soll, damit später eine gute Ernte kommt, aber er kann nicht wissen, wer diese Ernte einbringen wird; und derjenige, der ein Haus baut, muss wissen, wie man das macht, aber er kann nicht wissen, ob er selbst in diesem Haus wohnen wird; und derjenige, der in die Politik geht, muss alle notwendigen Fachkenntnisse haben, er kann aber nicht wissen, ob diese Beschäftigung ft ihm einen Vorteil bringen wird. In allen Fällen, bei denen das menschliche Wissen und die Erfahrung nicht dafür reichen, dass der Mensch den zukünft ftigen Ausgang seiner Tat mit Bestimmtheit voraussagen kann, ob sie ihm zum Nutzen sein wird oder nicht, ist es nützlich, die Götter um einen Hinweis zu bitten, um zu erfahren, was zu tun ist und was nicht (so dass der Mensch nur dasjenige tut, das ihm zum Nutzen sein wird)24. Aus demselben Grund müssen die Menschen nach dem Vorbild des Xenophontischen Sokrates in ihren Gebeten die Götter nur darum bitten, dass sie das Gute gewähren, weil die Götter wissen, was für jeden Menschen gut ist, während der Mensch selbst wegen
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Mem. 1.1.6-9: τὰ μὲν γὰρ ἀναγκαῖα συνεβούλευε καὶ πράττειν ὡς ἐνόμιζεν ἄριστ’ ἂν πραχθῆναι· περὶ δὲ τῶν ἀδήλων ὅπως ἀποβήσοιτο μαντευσομένους ἔπεμπεν, εἰ ποιητέα. […] ἔφη δὲ δεῖν, ἃ μὲν μαθόντας ποιεῖν ἔδωκαν οἱ θεοί, μανθάνειν, ἃ δὲ μὴ δῆλα τοῖς ἀνθρώποις ἐστί, πειρᾶσθαι διὰ μαντικῆς παρὰ τῶν θεῶν πυνθάνεσθαι. Siehe auch Mem. 1.4.18; 2.6.8; 4.7.10. Gigon spricht m.E. irrtümlicherweise von zwei Gegensatzpaaren: „Xenophon hat off ffensichtlich zwei Gegensatzpaare miteinander vermischt. Das eine lautet δῆλα – ἄδηλα, das andere kann man etwa ἀναγκαῖα – περιττά nennen. Das erste Paar bleibt auf der Ebene des Erkennens: das eine kann man lernen und wissen, das andere nicht. Das zweite Paar dagegen steht auf der Ebene des Geschehens und Handelns: ἀναγκαῖα sind (um es vorläufig fi so zu sagen) die Handgriffe, ff in denen der Mensch kompetent ist, weil er sie zum Leben braucht; περιττά müssen dann wohl die Resultate seines Handelns sein“ (Gigon, 1953, 9). Es gibt nur ein Gegensatzpaar: dasjenige, das der Mensch erkennen kann (und dazu gehören auch alle möglichen Kompetenzen und Fertigkeiten sowie die auf diesen beruhenden rationalen Vermutungen über eine mögliche zukünft ftige Entwicklung der Ereignisse und über mögliche Ergebnisse einer Tat), und dasjenige, das sich nicht rational erlernen und untersuchen lässt, d.h. dasjenige, das wenigstens teilweise von den für die menschliche Vernunft ft im Voraus unbegreifl flichen Faktoren beeinfl flusst werden kann. Weiter schreibt Gigon dem Xenophontischen Sokrates noch eine Idee zu, die er in Wirklichkeit nie ausspricht: „Vorhin war gesagt, daß der Erfolg des Tuns unbekannt sei und darum bei den Göttern stehe. Nun [sc. in Mem. 1.1.9] wird (mindestens implicite) erklärt, die ethischen Werte blieben unsicher, weil sie sich nicht auf mathematischem Wege eindeutig fixieren ließen“ (Gigon, 1953, 13 f.). Es gibt im Text Xenophons m.E. weder implizite noch explizite Andeutungen darüber, dass die ethischen Probleme als solche sich nicht mit der menschlichen Vernunft ft erkennen lassen: Siehe oben S. 105 ff ff.
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seiner Unwissenheit auch um das bitten kann, was sich für ihn als schlecht und schädlich erweisen wird25.
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Mem. 1.3.2: καὶ ηὔχετο δὲ πρὸς τοὺς θεοὺς ἁπλῶς τἀγαθὰ διδόναι, ὡς τοὺς θεοὺς κάλλιστα εἰδότας ὁποῖα ἀγαθά ἐστι· τοὺς δ’ εὐχομένους χρυσίον ἢ ἀργύριον ἢ τυραννίδα ἢ ἄλλο τι τῶν τοιούτων οὐδὲν διάφορον ἐνόμιζεν εὔχεσθαι ἢ εἰ κυβείαν ἢ μάχην ἢ ἄλλο τι εὔχοιντο τῶν φανερῶς ἀδήλων ὅπως ἀποβήσοιτο. Nach Dorion widerspricht diese Passage dem vorher Gesagten: περὶ δὲ τῶν ἀδήλων ὅπως ἀποβήσοιτο μαντευσομένους ἔπεμπεν, εἰ ποιητέα (Mem. 1.1.6, siehe die vorhergehende Anm.). Siehe Dorion & Bandini, 2000, 125: „Si Socrate conseillait le recours aux oracles pour tous les sujets dont l’issue est obscure, il ne devrait pas, en bonne logique, s’opposer aux prières qui portent sur les mêmes sujets. La position que Xénophon prête ici [sc. in Mem. 1.3.2] à Socrate n’est donc pas compatible avec celle qu’il lui attribue en I 1, 6.“ M.E. folgt dieses Urteil aus der fehlerhaften ft Auff ffassung der Passage Mem. 1.3.2; siehe Dorions Übersetzung: „Il pensait qu’il n’y a aucune différence ff entre la prière de ceux qui demandent de l’or, de l’argent, la tyrannie, ou toute autre chose de ce genre, et le fait de prier en vue d’une partie de dés, d’une bataille, ou de toute autre chose dont l’issue est manifestement obscure“ (Hervorhebung von mir). Ich verstehe diesen Gedanken des Xenophontischen Sokrates folgendermaßen: Es ist allen Menschen klar, dass man das Ergebnis von solchen Sachen wie Spiel oder Schlacht nicht im Voraus mit Bestimmtheit wissen kann (τῶν φανερῶς ἀδήλων); die meisten verstehen aber nicht, dass das Geld und die Macht sich in dieser Hinsicht nicht davon unterscheiden: Ob sie zum Sieg (d.h. zum Wohl) oder zur Niederlage (d.h. zum Übel) führen werden, kann der Mensch im Voraus genauso wenig mit Sicherheit wissen. Wenn der Mensch die Götter um das Geld oder die Macht bittet, tut er dasselbe, als ob er sie darum bäte, ihm ein Spiel oder eine Schlacht zu schicken, d.h. zu bewirken, dass er an einem Spiel oder einer Schlacht teilnehmen muss (dies ist m.E. der Sinn der Worte κυβείαν ἢ μάχην ἢ ἄλλο τι εὔχοιντο und nicht „angesichts eines Spiels oder einer Schlacht zu beten“). Und niemand würde das Letztere tun, weil niemand für sich um etwas bitten würde, was ein schlechtes Ende haben kann. Deswegen widersprechen die Passagen Mem. 1.1.6 und 1.3.2 einander nicht, sondern im Gegenteil ergänzen sie sich: Bei der Wahl eines Freundes ist es richtig, Götter um einen Rat zu bitten, ob es sich lohnt, sich diesen Menschen zum Freund zu machen (Mem. 2.6.8), weil man im Voraus nicht wissen kann, ob diese Freundschaft ft sich einmal als verhängnisvoll erweisen würde; so wie es auch richtig ist, Götter darum zu bitten, dass die Beziehungen mit diesem Menschen – sei es Freundschaft ft oder nicht – zum Wohl führen. Hingegen wäre es in dieser Situation unrichtig, in gutem Glauben, das führe zum Wohl, Götter darum zu bitten, dass sie diesen Menschen dem Bittenden zum Freund machen. Es gibt noch ein Beispiel einer Situation solcher Art in Xenophons Text: οὔτε τῷ καλὴν γήμαντι, ἵν’ εὐφραίνηται, δῆλον εἰ διὰ ταύτην ἀνιάσεται (Mem. 1.1.8; siehe ibidem auch andere ähnliche Beispiele). Vor dem Heiraten ist es nützlich, Götter um einen Rat zu bitten, ob es sich lohnt, diese schöne Frau zu heiraten oder nicht, weil der Mensch sich zu eigener Freude verheiraten möchte, aber er kann im Voraus nicht wissen, ob er statt der Freude das Unglück bekommt. Diesem widerspricht nicht, wenn dieser Mensch gleichzeitig Götter auch um das Gute bittet – in jeder Situation: Sollte die Heirat zu-
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stande kommen oder nicht. Es ist aber unfromm, Götter darum zu bitten, dass sie die gewählte schöne Frau diesem Menschen zur Ehegattin machen: Das ist genau dasselbe, wie darum zu bitten, dass die Götter den Menschen zu einer Schlacht schicken, deren Ausgang unbekannt ist. Der Irrtum der meisten Menschen besteht darin, dass sie nicht verstehen, dass alle konkreten üblichen Güter (wie z.B. die Schönheit, der Reichtum, die Macht) sich nicht als das Gute, sondern als das Böse erweisen können (siehe Mem. 4.2.35-36 und oben S. 110 ff.); um solche Sachen zu bitten bedeutet darum zu bitten, dass der Mensch zu einer Schlacht geschickt wird. So verstehe ich die Passagen Mem. 1.3.2 und 1.1.6 (siehe auch Gigon, 1953, 97), in denen es folglich keineswegs darum geht, Götter um ihre Hilfe in den Angelegenheiten zu bitten, deren Ausgang unbekannt ffetti, mentre qui [sc. in Mem. 1.3.2] Socrate ist (contra Bevilacqua, 2010, 324: „In eff aff fferma che non ha senso chiedere aiuto agli dèi per cose il cui esito è incerto, in I, i, 6, Socrate consiglia, proprio in questi casi, di chiedere agli dèi, se non aiuto, quanto meno un consiglio tramite la consultazione di un oracolo“, Hervorhebung von mir). Die Passage Mem. 1.3.2 widerspricht also weder Mem. 1.1.6 noch Oec. 5.19 (contra Dorion & Bandini, 2000, 125): καὶ τοὺς μὲν ἐν τῷ πολέμῳ ὁρᾷς, οἶμαι, πρὸ τῶν πολεμικῶν πράξεων ἐξαρεσκομένους τοὺς θεοὺς καὶ ἐπερωτῶντας θυσίαις καὶ οἰωνοῖς ὅ τι τε χρὴ ποιεῖν καὶ ὅ τι μή. Hier, wie auch in vielen anderen ähnlichen Kontexten in den Schriften Xenophons, geht es um das Gebet vor der Schlacht, zu welcher der Mensch schon herangezogen ist, und um die Bitte, ein gutes Ende bei dieser Schlacht zu gewähren und einen Rat zu geben, was zu tun ist (weiter in Oec. 5.20 ist es davon die Rede, dass man Götter auch um ein glückliches Ergebnis aller landwirtschaftlichen ft und Ackerbauarbeiten bitten muss), während in Mem. 1.3.2 der Gedanke ausgedrückt wird, dass es ein offensichtlicher ff Unsinn ist, Götter darum zu bitten, dass sie den Menschen zu einer Schlacht schicken (und keineswegs der Gedanke, es sei unsinnig, vor der Schlacht, an welcher der Mensch schon teilnehmen muss, zu beten). Ischomachos’ Verhalten widerspricht diesem m.E. auch nicht, wie es Dorion meint: „La réponse de Socrate consiste à laisser aux dieux le soin de déterminer quels sont les biens qui conviennent à l’homme. Cette réponse s’oppose toutefois […] à la position d’Ischomaque (Xénophon ?), qui n’hésite pas à demander, dans ses prières aux dieux, des biens précis “ (Dorion & Bandini, 2011b, 132; siehe auch ibidem, 107; 2011a, 362 f. und 2000, 124 f.). Ischomachos’ Worte πειρῶμαι δὲ ποιεῖν ὡς ἂν θέμις ᾖ μοι εὐχομένῳ καὶ ὑγιείας τυγχάνειν καὶ ῥώμης σώματος καὶ τιμῆς ἐν πόλει καὶ εὐνοίας ἐν φίλοις καὶ ἐν πολέμῳ καλῆς σωτηρίας καὶ πλούτου καλῶς αὐξομένου versteht Dorion folgendermaßen: Ischomachos bitte die Götter in seinen Gebeten um konkrete Dinge, die er für das Gute hält: um die Gesundheit, den Reichtum und Anderes. Für die richtige Auff ffassung dieser Worte muss der Zusammenhang angeführt werden, in dem Ischomachos diese Worte sagt: ἐπεὶ γὰρ καταμεμαθηκέναι δοκῶ ὅτι οἱ θεοὶ τοῖς ἀνθρώποις ἄνευ μὲν τοῦ γιγνώσκειν τε ἃ δεῖ ποιεῖν καὶ ἐπιμελεῖσθαι ὅπως ταῦτα περαίνηται οὐ θεμιτὸν ἐποίησαν εὖ πράττειν, φρονίμοις δ’ οὖσι καὶ ἐπιμελέσι τοῖς μὲν διδόασιν εὐδαιμονεῖν, τοῖς δ’ οὔ, οὕτω δὴ ἐγὼ ἄρχομαι μὲν τοὺς θεοὺς θεραπεύων, πειρῶμαι δὲ ποιεῖν ὡς ἂν θέμις ᾖ μοι εὐχομένῳ καὶ ὑγιείας τυγχάνειν καὶ ῥώμης σώματος καὶ τιμῆς ἐν πόλει καὶ εὐνοίας ἐν φίλοις καὶ ἐν πολέμῳ καλῆς σωτηρίας καὶ πλούτου καλῶς αὐξομένου (Oec. 11.8). Am Anfang dieser Passage spricht Ischomachos darüber, dass Götter den Menschen ohne Wissen, was zu tun ist, und ohne Anstrengung bei dessen Ausführung kein Glück gewähren. Aber auch unter den Wissenden und den Tüchtigen gibt es diejenigen, denen die Götter das Glück gewähren, und diejenigen, denen sie das Glück doch nicht gewähren. Kurz zusammengefasst ist
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der hier ausgedrückte Gedanke folgender: Um glücklich zu sein, muss der Mensch 1) das Wissen haben und fleißig sein – man darf nicht in der Hoff ffnung auf die Götter müßig herumsitzen, 2) die Götter verehren – da sie unberechenbar sind und der Mensch ihr Wohlwollen gewinnen muss. Sowohl die erste als auch die zweite Bedingung ist notwendig, aber jede einzelne ohne die andere ist nicht hinreichend: Um das Glück zu erreichen, muss der Mensch beide Bedingungen erfolgreich erfüllen. Weiter spricht Ischomachos von seinem eigenen Vorgehen und benutzt eine chiastische Formulierung, indem er mit dem Punkt 2) anfängt: Jede Arbeit beginnt er mit der Anbetung der Götter (vgl. mit Xenophons Worten über Sokrates: εὐσεβὴς μὲν οὕτως ὥστε μηδὲν ἄνευ τῆς τῶν θεῶν γνώμης ποιεῖν (Mem. 4.8.11, siehe unten)). Und erst dann erläutert er den Punkt 1): Er versucht alles zu tun (d.h. alles Notwendige zu tun, was vom Menschen verlangt wird: das Wissen zu erwerben und es eifrig in die Praxis umzusetzen), damit die Götter auf seine Gebete hin, die notwendig, aber allein nicht hinreichend sind, es für richtig halten (ὡς ἂν θέμις ᾖ), ihm die Gesundheit, den Reichtum und andere Dinge zu geben, d.h. damit sie alle Bedingungen für von ihm erfüllt halten und der Meinung sind, dass er alles verdient hat. So spricht Ischomachos m.E. nicht darüber, dass er die Götter um konkrete Dinge bittet, die er für Güter hält; er erwähnt nicht, wie er seine Gebete und Bitten an die Götter formuliert. Das Einzige, worüber er sich äußert, ist, dass er von den Göttern konkrete Güter erwartet (wenigstens einem Teil von welchen Sokrates skeptisch gegenübersteht – siehe seine fft und wartet auf das, Antwort in Oec. 11.9 und Mem. 4.2.35), d.h. Ischomachos hofft was er für das Gute hält. Aber seine Gebete als solche widersprechen den Gebeten des Xenophontischen Sokrates nicht. Dass Ischomachos hier nicht über die Formulierung seiner Gebete, sondern über sein Verhalten spricht, bestätigt das gesamte darauff ffolgende Gespräch. Auf Ischomachos’ Worte erwidert Sokrates mit folgenden Fragen: σὺ δέ μοι λέξον, ὦ Ἰσχόμαχε, ἀφ’ ὧνπερ ἤρξω, πῶς ὑγιείας ἐπιμελῇ; πῶς τῆς τοῦ σώματος ῥώμης; πῶς θέμις εἶναί σοι καὶ ἐκ πολέμου καλῶς σῴζεσθαι; (Oec. 11.11 – vgl. mit denselben Worten in Oec. 11.8 oben). Hätte Sokrates Ischomachos’ Worte so verstanden, dass er in seinen Gebeten die Götter um die Gesundheit, Körperkraft ft und die glückliche Teilnahme am Krieg bittet, hätte er nicht danach gefragt, wie Ischomachos alles das besorgt, d.h. was er deswegen tut (worüber Ischomachos im Folgenden erzählt), sondern danach, wie er seine Gebete formuliert. Auch Sokrates’ Schluss kann das bestätigen: τὸ γὰρ ἐν τῷ αὐτῷ χρόνῳ συνεσκευασμένοις χρῆσθαι τοῖς τε πρὸς τὴν ὑγίειαν καὶ τοῖς πρὸς τὴν ῥώμην παρασκευάσμασι καὶ τοῖς εἰς τὸν πόλεμον ἀσκήμασι καὶ ταῖς τοῦ πλούτου ἐπιμελείαις, ταῦτα πάντα ἀγαστά μοι δοκεῖ εἶναι. καὶ γὰρ ὅτι ὀρθῶς ἑκάστου τούτων ἐπιμελῇ ἱκανὰ τεκμήρια παρέχῃ· ὑγιαίνοντά τε γὰρ καὶ ἐρρωμένον ὡς ἐπὶ τὸ πολὺ σὺν τοῖς θεοῖς σε ὁρῶμεν… (Oec. 11.19-20). Ischomachos erfüllt die beiden notwendigen Bedingungen, um gesund u.s.w. zu sein: Er kümmert sich um alles Notwendige und gewinnt das Wohlwollen der Götter. Zuletzt finde ich keinen Widerspruch zwischen allem oben Gesagten und Mem. 4.8.11: εὐσεβὴς μὲν οὕτως ὥστε μηδὲν ἄνευ τῆς τῶν θεῶν γνώμης ποιεῖν, […] φρόνιμος δὲ ὥστε μὴ διαμαρτάνειν κρίνων τὰ βελτίω καὶ τὰ χείρω μηδὲ ἄλλου προσδεῖσθαι, ἀλλ’ αὐτάρκης εἶναι πρὸς τὴν τούτων γνῶσιν, ἱκανὸς δὲ καὶ λόγῳ εἰπεῖν τε καὶ διορίσασθαι τὰ τοιαῦτα… Der erste Teil des Zitats widerspricht m.E. den in Mem. 1.1.6-9 geäußerten Ideen nicht (siehe oben S. 239 Anm. 24), sondern steht ganz im Gegenteil mit den Worten περὶ δὲ τῶν ἀδήλων ὅπως ἀποβήσοιτο μαντευσομένους ἔπεμπεν, εἰ ποιητέα im Einklang (contra Halévy, 1896, 94): Sokrates lehrte seine Gesprächspartner, in welchen Fällen man die Götter um einen Rat bitten muss, und
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Der Anthropomorphismus der Götter des Xenophontischen Sokrates zeigt sich aber, wie schon bemerkt, darin, dass sie nach seiner Meinung nur denen helfen, welchen sie helfen wollen, d.h. welchen gegenüber sie wohl-
bekräftigte ft seine Worte mit seinen eigenen Taten. Ich bin nicht geneigt, die Worte μηδὲν ἄνευ τῆς τῶν θεῶν γνώμης ποιεῖν so buchstäblich zu verstehen, dass der Xenophontische Sokrates überhaupt nichts tut, ohne Götter gefragt zu haben. Vgl. Dorion & Bandini, 2011b, 226: „De l’avis même de Socrate, il n’est donc pas nécessaire de consulter les dieux avant d’entreprendre quoi que ce soit, puisque de nombreuses activités humaines peuvent être conduites sous l’égide de la raison et de la compétence technique.“ Im letzten Paragraphen der Memorabilien gibt Xenophon m.E. eine kurze Zusammenfassung von allem, was früher in dieser Schrift ft gesagt wurde, das Wort μηδέν in Mem.4.8.11 muss deshalb im Lichte der in Mem. 1.1.6-9 gegebenen längeren Erläuterung als μηδὲν τῶν ἀδήλων ὅπως ἀποβήσοιτο verstanden werden: D.h. ohne Götter um einen Rat gebeten zu haben, hat Sokrates nichts von den Sachen getan, deren zukünft ftiger Ausgang dem Menschen im Voraus nicht bekannt sein kann und in denen deswegen der göttliche Rat erforderlich ist. Der zweite Teil der angeführten Passage Mem. 4.8.11 widerspricht nach Dorion sowohl dem ersten Teil dieser Passage als auch dem Kontext Mem. 1.3.2 (siehe oben in dieser Anm.): „En effet, ff si Socrate était à ce point pieux qu’il n’entreprenait rien sans la γνώμη des dieux […], comment se fait-il qu’il était autosuffi ffisant pour la connaissance du bien et du mal? […] s’il se contentait de demander les biens, laissant aux dieux le soin de déterminer ce que sont les biens, il s’ensuit qu’il ne savait pas ce que sont les biens. Or s’il n’a besoin de personne pour déterminer ce qui est bien ou mal, il s’ensuit qu’il sait en quoi consiste le bien ; dans ces conditions, rien n’empêche qu’il demande aux dieux des biens précis“ (Dorion & Bandini, 2011b, 228; siehe auch ibidem, 107 und 132 f.). In Mem. 1.3.2 geht es, wie oben schon angedeutet, darum, dass Sokrates in seinen Gebeten Götter darum bittet, dass sie ihm das Gute gewähren möchten (τἀγαθὰ διδόναι), aber nicht darum, dass sie ihm das Wissen vom Guten gewähren. Sogar in dem Fall, wenn er das Wissen vom Guten hat, begreift ft er gleichzeitig, dass die Götter auch über dieses Wissen verfügen, deswegen braucht er – streng genommen – nicht genauer zu formulieren und zu konkretisieren. Außerdem sagt hier nicht Sokrates, dass er sich nie geirrt hat (μὴ διαμαρτάνειν), sondern Xenophon, und dies schon de facto, so dass der Xenophontische Sokrates selbst seinen Irrtum für möglich hält, aber gleichzeitig von der Allwissenheit der Götter völlig überzeugt ist. Aber m.E. wird in den angeführten Worten in Mem.4.8.11 nicht behauptet, dass Sokrates das Wissen vom Guten hatte: Er war imstande, selbstständig und ohne fremde Hilfe (im Unterschied zu denen, die ohne seine Hilfe nicht auskommen konnten) das Bessere und das Schlechtere, d.h. was mehr nützlich und was weniger nützlich ist, auseinanderzuhalten (siehe diese Bedeutung des Verbs κρίνω auch z.B. in Mem. 3.1.9: τούς τε ἀγαθοὺς καὶ τοὺς κακοὺς κρίνειν – „die Guten und die Schlechten zu unterscheiden“). Und das ist gerade das die Tugend bildende Wissen (siehe oben S. 103 und 144). Es handelt sich also noch einmal um das notwendige rationale Wissen des Menschen und um die Hilfe der Götter über τὰ ἄδηλα, was zusammen mit der Verehrung der Götter und mit den Bitten um das Gute eine notwendige Vorbedingung des menschlichen Glücks ist. Siehe auch unten S. 252 f. Anm. 55.
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wollend sind. Und eben um ihr Wohlwollen zu gewinnen und sich ihre Hilfe zu sichern, muss der Mensch sie verehren. Der Xenophontische Sokrates verficht fi also den Grundsatz ‚do ut des‘ nicht nur gegen die Freunde, sondern auch gegen die Götter26, aber in beiden Fällen läuft ft das auf die Mahnung zur Tugend und auf den Beweis ihrer Nützlichkeit hinaus, da nur der gerechte Mensch Freunde haben kann und nur dem frommen Menschen die Götter wohlwollend gegenüberstehen27. Hier stellt sich die Frage, auf welche Weise die Götter verehrt werden sollen, damit der Mensch das Ziel erreicht, d.h. ihr Wohlwollen gewinnt. Der Xenophontische Sokrates antwortet darauf folgendermaßen: Wie sie selber befehlen, das bedeutet – nach dem Brauch des Staats28. Die Götter zu verehren wird also vom ungeschriebenen Gesetz veranlasst, aber auf welche Weise sie verehrt werden sollen, wird schon von den geschriebenen Staatsgesetzen angeordnet. In diesem Fall ergänzen das positive und das göttliche Gesetz einander: Indem man dem Ersteren gehorcht, befolgt man zugleich den Befehl des Letzteren; und wer strebt, dem Letzteren zu gehorchen, muss die Vorschriften ft des Ersteren beachten29. Der Brauch des Staats ist nach Sokrates’ Worten, die Götter nach bestem Vermögen zu verehren:
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Diese Parallele zwischen den Beziehungen des Menschen mit anderen Menschen einerseits und den Beziehungen des Menschen und der Götter andererseits zieht Sokrates im Text Xenophons explizit: ἂν μέντοι, ὥσπερ ἀνθρώπους θεραπεύων γιγνώσκεις τοὺς ἀντιθεραπεύειν ἐθέλοντας καὶ χαριζόμενος τοὺς ἀντιχαριζομένους […], οὕτω καὶ τῶν θεῶν πεῖραν λαμβάνῃς θεραπεύων, εἴ τί σοι θελήσουσι περὶ τῶν ἀδήλων ἀνθρώποις συμβουλεύειν […] (Mem. 1.4.18). Vgl. auch Bevilacqua, 2010, 104: „… una logica di scambio, in base alla quale preghiere e sacrifici fi vengono off fferti agli dèi allo scopo di ottenere da loro dei benefi fici.“ Siehe z.B. Mem. 1.3.3 und 4.3.17. Vgl. auch Sokrates’ Worte im Symposion, die er als Antwort auf die Erläuterung des Hermogenes sagt, auf welche Weise er das Wohlwollen der Götter gewonnen hat: νὴ Δί’, ἔφη ὁ Σωκράτης εἰ ἄρα τοιοῦτος ὢν φίλους αὐτοὺς ἔχεις, καὶ οἱ θεοί, ὡς ἔοικε, καλοκἀγαθίᾳ ἥδονται (Symp. 4.50). Darauf, dass wir diese Worte für Ernst halten können, weist die Bemerkung Xenophons: οὗτος μὲν δὴ ὁ λόγος οὕτως ἐσπουδαιολογήθη. Siehe Huß, 1999, 299 und Calvo Martínez, 2008, 57 f. Mem. 1.3.1: […] ἥ τε γὰρ Πυθία νόμῳ πόλεως ἀναιρεῖ ποιοῦντας εὐσεβῶς ἂν ποιεῖν; 4.3.16: […] ὁ ἐν Δελφοῖς θεός, ὅταν τις αὐτὸν ἐπερωτᾷ πῶς ἂν τοῖς θεοῖς χαρίζοιτο, ἀποκρίνεται· Νόμῳ πόλεως. Siehe auch Gray, 2004a, 444: „Socrates confi firms the compatibility of written law with the unwritten law to respect the gods ([…] he has the god of Delphi endorse obedience to the ‘law of the polis’ in worshipping the gods, so that in conforming to the law of the polis one is also obeying the instruction of the god)“; Calvo Martínez, 2008, 52: „Il faudrait donc dire que les normes légales de la cité relatives au culte viennent concrétiser ce principe général de la loi divine non écrite, en même temps qu’elles trouvent en elle
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νόμος δὲ δήπου πανταχοῦ ἐστι κατὰ δύναμιν ἱεροῖς θεοὺς ἀρέσκεσθαι. […] ἀλλὰ χρὴ τῆς μὲν δυνάμεως μηδὲν ὑφίεσθαι· ὅταν γάρ τις τοῦτο ποιῇ, φανερὸς δήπου ἐστὶ τότε οὐ τιμῶν θεούς30.
So verehrt derjenige die Götter richtig, der ihnen die seinen Kräft ften angemessenen Opfer bringt. Hieraus ergibt sich aber, dass der Mensch nach eigenem Ermessen beschließt, was genau das κατὰ δύναμιν in seinem Fall bedeutet. Das macht das Verfahren der Verehrung der Götter rational überlegt – jeder Mensch muss für sich selbst rechnen, was seinen Kräft ften angemessen ist –, und gleichzeitig subjektiv, da es auf der Hand liegt, dass Kriterien bei dieser Berechnung sehr unterschiedlich sein können. Beachtenswert ist auch das Problem, ob es genügt, die den eigenen Kräften angemessenen Opfer zu bringen, um sich das Wohlwollen der Götter zu sichern. Einerseits scheint es, genügend zu sein31, weil eben das vom geschriebenen und vom ungeschriebenen Gesetz verordnet wird. Andererseits behauptet Sokrates aber, dass die Götter sich nicht über die Größe des Opfers freuen, sondern über dasjenige, das der fromme Mensch bringt: […] ἐνόμιζε τοὺς θεοὺς ταῖς παρὰ τῶν εὐσεβεστάτων τιμαῖς μάλιστα χαίρειν32.
Wenn die Regel in Kraft ft ist, die den eigenen Kräft ften angemessenen Opfer zu bringen, hat die Größe des Opfers selbst wirklich keine Bedeutung: Ein den Kräft ften des reichen Menschen angemessenes Opfer ist unvermeidlich größer als ein den Kräft ften des armen Menschen angemessenes. Sokrates behauptet aber außerdem, dass große Opfer oft ft Opfer von schlechten Menschen sind,
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leur fondement dernier“; Dorion, 2010, 309: „One must note and acknowledge that Xenophon to the contrary tries to show that far from involving controversial relations, the positive and unwritten laws are in accord, complement and reinforce each other mutually.“ Mem. 4.3.16-17: „Es gibt ein allgemeines Gesetz, die Götter so viel wie möglich durch Opfer freundlich zu stimmen. […] Aber niemand darf weniger tun, als in seinen Kräften steht, sonst erweist er den Göttern nicht genügend Ehre“; siehe auch Mem. 1.3.3. Im Gespräch mit Euthydemus werden außerdem die Gesetze erwähnt, die vorschreiben, auf welche Weise die Götter zu verehren sind: νόμοι εἰσὶ καθ’ οὓς δεῖ τοὺς θεοὺς τιμᾶν (Mem. 4.6.2). Die Gesprächspartner kommen zum Schluss, dass derjenige für fromm gehalten werden kann, der diese Gesetze kennt (und folglich sie einhält: Siehe oben S. 99 ff.). ff Tomás Calvo Martínez spricht deswegen von „la conception légaliste de la religiosité“ des Xenophontischen Sokrates (Calvo Martínez, 2008, 51). Mem. 4.3.17: χρὴ οὖν μηδὲν ἐλλείποντα κατὰ δύναμιν τιμᾶν τοὺς θεοὺς θαρρεῖν τε καὶ ἐλπίζειν τὰ μέγιστα ἀγαθά. Mem. 1.3.3.
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so dass er also schon von Eigenschaft ften der Opfer bringenden Menschen spricht33. Daraus folgt, dass es eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung der Frömmigkeit ist, die den eigenen Kräften ft angemessenen Opfer zu bringen, da es noch eine notwendige Bedingung gibt: Der Mensch selbst, der das Opfer bringt, muss irgendwelchen Anforderungen entsprechen. Man kann allerdings diese Worte auch anders interpretieren: Man kann sie so verstehen, dass schlechte Menschen nach der Meinung des Xenophontischen Sokrates nicht imstande sind, das κατὰ δύναμιν in ihrem Fall richtig zu bestimmen, deswegen können ihre Opfer die wichtigste Verordnung nicht erfüllen. In diesem Fall bleibt aber das Folgende unklar: Sokrates spricht darüber, dass es unfromm ist, kleinere Opfer zu bringen, als es in den Kräften des Menschen steht; ist es aber fromm, größere Opfer zu bringen, als es in den Kräft ften des Menschen steht34? Unklar bleibt auch, auf welche Weise das den Kräft ften des Menschen angemessene Maß zu bestimmen ist, damit die subjektive Einschätzung des Menschen mit der Einschätzung der Götter übereinstimmt, so dass sie diese Bedingung für erfüllt halten und wohlwollend werden. Dass Sokrates nicht nur selbst Opfer brachte und sich der Mantik bediente, sondern auch seine Gesprächspartner dazu anregte, soll nach Xenophon die Anklage gegen ihn widerlegen, dass er die vom Staat anerkannten Götter nicht anerkannte35. Es wurde aber außerdem behauptet, dass Sokrates auch neue Götter einführte, die dem staatlichen Kult fremd waren. In diesem Zusammenhang ist τὸ δαιμόνιον des Xenophontischen Sokrates zu betrachten36.
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Ibidem: οὔτε γὰρ τοῖς θεοῖς ἔφη καλῶς ἔχειν, εἰ ταῖς μεγάλαις θυσίαις μᾶλλον ἢ ταῖς μικραῖς ἔχαιρον· πολλάκις γὰρ ἂν αὐτοῖς τὰ παρὰ τῶν πονηρῶν μᾶλλον ἢ τὰ παρὰ τῶν χρηστῶν εἶναι κεχαρισμένα· οὔτ’ ἂν τοῖς ἀνθρώποις ἄξιον εἶναι ζῆν, εἰ τὰ παρὰ τῶν πονηρῶν μᾶλλον ἦν κεχαρισμένα τοῖς θεοῖς ἢ τὰ παρὰ τῶν χρηστῶν. Siehe oben S. 245 Anm. 31 und vgl. Ischomachos’ Worte im Oikonomikos: ἡδὺ γάρ μοι δοκεῖ, ὦ Σώκρατες, καὶ θεοὺς μεγαλείως τιμᾶν (Oec. 11.9). Apol. 11: ὡς ἐγὼ οὓς ἡ πόλις νομίζει θεοὺς οὐ νομίζω· ἐπεὶ θύοντά γέ με ἐν ταῖς κοιναῖς ἑορταῖς καὶ ἐπὶ τῶν δημοσίων βωμῶν καὶ οἱ ἄλλοι οἱ παρατυγχάνοντες ἑώρων… Siehe auch Mem. 1.1.2 und 1.3.1. Es ist aber das einzige Argument gegen den Teil der Anklage, dass Sokrates die vom Staat anerkannten Götter nicht anerkannte. Und dieses Argument ist rein faktisch. Sokrates’ Erörterungen in beiden „religiösen“ Kapiteln der Memorabilien (Mem. 1.4 und 4.3) beweisen aber, dass er an Götter (oder an eine abstrakt-allgemeine Gottheit) glaubte, als ob gegen ihn eine Anklage wegen Atheismus eingereicht worden wäre, und beweisen doch nicht, dass er an die vom Staat anerkannten Götter glaubte, worin aber die Anklage eben bestand. Siehe auch unten S. 251 Anm. 52. Mem. 1.1.1-2: ἀδικεῖ Σωκράτης οὓς μὲν ἡ πόλις νομίζει θεοὺς οὐ νομίζων, ἕτερα δὲ καινὰ δαιμόνια εἰσφέρων […]. διετεθρύλητο γὰρ ὡς φαίη Σωκράτης τὸ δαιμόνιον
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Nach Xenophon behauptet Sokrates, dass τὸ δαιμόνιον ihm zeigt, was zu tun ist und was nicht zu tun ist37. In der Apologie bezeichnet Sokrates die Weise, auf welche er solche Hinweise bekommt, als die ‚Stimme des Gottes‘38. Naheliegend ist die Hypothese, dass, wenn Sokrates sagt, dass sich das ‚Daimonion‘ ihm widersetze39, er meint, dass er eine göttliche Stimme hört, die ihm verbietet, seine Verteidigung vor den Richtern vorzubereiten. Dann ist τὸ δαιμόνιον kein Instrument, mittels dessen etwas sich widersetzt, sondern das ‚Göttliche‘ selbst, das mittels der ‚Stimme‘ dem Sokrates verbietet, sich eine Verteidigungsrede zu überlegen. Die Zitate, die oben in diesem Kapitel angeführt wurden, zeigen, dass das Wort τὸ δαιμόνιον in den sokratischen Schrift ften Xenophons nicht nur das ‚Daimonion‘ des Sokrates bedeutet, sondern auch die göttlichen im Gegensatz zu den menschlichen Erscheinungen, sowie alles, was göttlicher Natur ist, bezeichnen kann40. Deswegen scheint es
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ἑαυτῷ σημαίνειν· ὅθεν δὴ καὶ μάλιστά μοι δοκοῦσιν αὐτὸν αἰτιάσασθαι καινὰ δαιμόνια εἰσφέρειν. Apol. 12: καινά γε μὴν δαιμόνια πῶς ἂν ἐγὼ εἰσφέροιμι λέγων ὅτι θεοῦ μοι φωνὴ φαίνεται σημαίνουσα ὅ τι χρὴ ποιεῖν; Mem. 4.8.1: τὸ δαιμόνιον προσημαίνειν ἅ τε δέοι καὶ ἃ μὴ δέοι ποιεῖν. Siehe auch Mem. 1.1.2 in der vorhergehenden Anm. und Mem. 1.1.4: τὸ δαιμόνιον γὰρ ἔφη σημαίνειν. Vgl. ὅ τι χρὴ ποιεῖν in Apol. 12 und ἅ τε δέοι καὶ ἃ μὴ δέοι ποιεῖν in Mem. 4.8.1, wo es um τὸ δαιμόνιον des Sokrates geht, mit εἰ ποιητέα in Mem. 1.1.6 (siehe oben S. 239 Anm. 24), wo es sich um die traditionellen Methoden der Divination handelt: In beiden Fällen ist von einem göttlichen Rat oder Hinweis die Rede, der auf diese oder jene Weise erhalten wird und dem Menschen mitteilt, was zu tun ist und was nicht zu tun ist. Das ‚Daimonion‘ des Sokrates ist folglich eine Art der Divination, was im Text Xenophons nicht einmal explizit behautet wird: Siehe Apol. 13; Mem. 1.1.3-4; 1.4.15. Siehe auch Dorion & Bandini, 2000, 51 f. Apol. 12 (das Zitat siehe oben Anm. 36). Apol. 4: ἐναντιοῦταί μοι τὸ δαιμόνιον; Mem. 4.8.5: ἠναντιώθη τὸ δαιμόνιον. Siehe z.B. die Gegenüberstellung von τὰ δαιμόνια und τὰ ἀνθρώπινα in Mem. 1.1.12 (dasselbe in 1.1.9; siehe oben S. 238 Anm. 23). In Mem. 1.3.5 bedeuten die Worte εἰ μή τι δαιμόνιον εἴη „wenn nichts besonderes [durch göttliche Fügung] vorfällt“ (siehe oben S. 237 Anm. 19). Sokrates’ Gespräch mit Aristodemos über die Götter bezeichnet Xenophon als ein Gespräch περὶ τοῦ δαιμονίου (1.4.2), und die Gesprächspartner sagen teils τὸ δαιμόνιον, teils οἱ θεοί (1.4.10-11). Dasselbe kommt im Gespräch mit Euthydemus vor (siehe Mem. 4.3.14-16). In demselben Sinn kann Sokrates auch τὸ θεῖον verwenden (siehe Mem. 1.1.15: τὰ θεῖα = τὰ δαιμόνια; vgl. auch Oec. 21.12, wo τὸ θεῖον und τὸ ἀνθρώπινον gegenübergestellt sind, dasselbe auch in Mem. 2.1.32); außerdem kann τὸ θεῖον eine besondere Bedeutungsnuance haben und die göttlichen Eigenschaften ft im allgemeinen bezeichnen (siehe Mem. 1.4.18; 1.6.10; 4.3.14). Calvo Martínez bemerkt ganz richtig, dass das Adjektiv δαιμόνιος von Xenophon immer nur im Neutrum (Singular oder Plural) verwendet wird und nie Menschen oder konkrete Dinge bezeichnet (Calvo Martínez, 2008, 62). Siehe auch Dorion & Bandini, 2000, 50 ff ff.
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kein Fehler zu sein, τὸ δαιμόνιον für das ‚Göttliche‘ oder die abstrakte ‚Gottheit‘ zu halten41. Folgende Beobachtung kann dieses Urteil bestätigen: In der Apologie erwähnt Sokrates zweimal, warum er über seine Verteidigung nicht nachdenkt, aber einmal sagt er, dass das Daimonion sich ihm widersetzt, das andere Mal aber, dass die Götter sich ihm widersetzen42. Da aber der Xenophontische Sokrates andererseits das Wort τὸ δαιμόνιον niemals so verwendet, dass man in ihm wenigstens eine Andeutung auf einen ‚Mittler‘ zwischen den Göttern und Sokrates selber sehen kann, scheint mir folgende Auffassung ff schlüssig zu sein: Sokrates’ ‚Daimonion‘ ist eine abstrakte Macht von göttlicher Natur, oder anders gesagt die abstrakt-allgemeine Gottheit, die allen anderen Göttern nicht gegenübergestellt wird, sondern gerade ihren Willen verkörpert und Sokrates Hinweise gibt, die er als eine Stimme hört. Aber diese Stimme an sich, d.h. die Hinweise, ist kein ‚Daimonion‘43. Τὸ δαιμόνιον ist folglich eine Art von Synonym für die Götter. Wie Sokrates in den Überlegungen über den Aufbau fb des Universums eher vom abstrakten ‚Schöpfer‘ als von den Göttern spricht44, so sagt er auch in diesem Fall meistens τὸ δαιμόνιον und nicht οἱ θεοί, um der Konkretisierung auszuweichen45.
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Dieselbe Meinung vertreten auch Dorion (Dorion & Bandini, 2000, 52; Dorion, 2003b, 170 und passim) und Calvo Martínez (Calvo Martínez, 2008, 60 und 62); Bevilacqua ist mit dieser abstrakten Auff ffassung nicht einverstanden und sieht hier das übliche ‚Daimonion‘ des Sokrates: „il demone, una sorta di divinità che intrattiene con Socrate un rapporto privilegiato in qualità di consigliere“ (Bevilacqua, 2010, 111; siehe auch 261: „divinità vista sotto una particolare angolazione“). Apol. 4: ἐναντιοῦταί μοι τὸ δαιμόνιον und 8: οἱ θεοὶ μου ἠναντιοῦντο. Vgl. auch Mem. 1.3.4: εἰ δέ τι δόξειεν αὐτῷ σημαίνεσθαι παρὰ τῶν θεῶν. In diesem Punkt stimmt meine Auff ffassung mit Dorions Interpretation überein: Siehe Dorion & Bandini, 2000, 52 und Dorion, 2003b, 173; Gigons Auff ffassung scheint mir fehlerhaft ft zu sein (Gigon, 1953, 15: „Werkzeug der Gottheit”; 100: „Wink der Gottheit“). Mem. 1.4.5: ὁ ἐξ ἀρχῆς ποιῶν ἀνθρώπους; Mem. 4.3.13: ὁ τὸν ὅλον κόσμον συντάττων τε καὶ συνέχων. Siehe Viano, 2001, 114 und Sedley, 2007, 149. ff de rester Vgl. auch Calvo Martínez, 2008, 62: „L’utilisation de ce mot permet, en effet, dans une certaine ambiguïte, étant donné la pluralité de nuances que ce mot peut exprimer selon les contextes.“ In demselben abstrakten allgemeinen Sinn verwendet Sokrates auch das Wort ὁ θεός im Singular, ohne irgendeinen konkreten Gott zu meinen. So sagt Sokrates, wenn er seine eigenen Worte erläutert, dass τὸ δαιμόνιον und οἱ θεοί sich ihm widersetzen, dass es dem ‚Gott‘ scheint, für Sokrates sei es besser zu sterben (Apol. 5: τῷ θεῷ δοκεῖ ἐμὲ βέλτιον εἶναι ἤδη τελευτᾶν; dasselbe in Mem. 4.8.6), und dass der ‚Gott‘ ihm gnädig den rechtzeitigen Tod schenkt (Apol. 7: ὁ θεὸς δι’ εὐμένειαν προξενεῖ μοι τὸ ἐν καιρῷ τῆς ἡλικίας καταλῦσαι τὸν βίον). Wenn er fbau des Universums diskutiert, spricht Sokrates meistens vom ‚Gott‘ im über den Aufb
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Diese Stimme, die Sokrates hört, vergleicht er mit den Vogelstimmen, den Stimmen von Begegnenden, dem Donner und den Sprüchen der Pythia, d.h. mit den konventionellen Arten der Weissagekunst, und behauptet, dass er sich von den anderen Menschen nur dadurch unterscheidet, dass er die Dinge bei ihrem rechten Namen nennt: Während alle sagen, dass die Vögel wahrsagen, sagt Sokrates, dass die Gottheit wahrsagt, d.h. die Götter46. Es könnte der Eindruck entstehen, dass Sokrates ausschließlich den Unterschied der Ausdrücke meint, als ob er, wie alle anderen, den Rat der Götter mittels der üblichen Arten der Divination erfahre und als ob dieser Teil der Anklage sich auf ein Missverständnis stütze, infolge des unüblichen Wortgebrauchs des Sokrates47. In diesem Zusammenhang ist dennoch folgendes zu beachten: Während Sokrates seine Gesprächspartner nachdrücklich mahnt, sich der Mantik zu bedienen und die Götter durch Wahrsagekunst um Rat zu bitten48, sagt er von sich selber im Text Xenophons niemals, dass er von den herkömmlichen Arten der Divination Gebrauch macht49. In allen solchen Fällen sagt er, dass die ‚Gottheit‘ ihm Hinweise gibt. Es erweckt unwillkürlich den Eindruck, dass, während alle anderen Menschen die Götter um Rat bitten müssen, Sokrates allein das nicht zu tun braucht, weil ihm die Götter selber ohne seine Fragen alles Nötige mitteilen. Euthydemus’ Bemerkung bestätigt diese Vermutung:
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Singular: Siehe z.B. Mem. 2.3.18-19; 4.7.6; vgl. auch 1.4.17; 4.4.19; 4.4.24. In der Apologie bemerkt Sokrates, dass er sich niemals als Betrüger erwiesen hat, wenn er seinen Freunden die von ihm gehörten Ratschläge des Gottes mitteilte (Apol. 13: τὰ τοῦ θεοῦ συμβουλεύματα), und gleich danach bezeichnet er die ihm wohlwollenden Götter als δαίμονες (Apol. 14: ἐμὲ τετιμῆσθαι ὑπὸ δαιμόνων). Apol. 13; siehe auch oben S. 247 Anm. 37. Noch deutlicher schreibt Xenophon darüber auktorial im ersten Kapitel der Memorabilien: Mem. 1.1.3-4. Siehe Gigon, 1953, 4: „Als Beleg für die Mantik werden die Aeußerungen des Sokrates über das Daimonion angeführt“. Vgl. auch Dorion, 2003b, 170-180; Calvo Martínez, 2008, 53 f.; Bevilacqua, 2010, 112. Siehe Mem. 1.1.6-9; 4.3.12; 4.7.10; vgl. auch Mem. 1.4.2: Sokrates missbilligt Aristodemos’ Verhalten, der keine Opfer bringt und sich der Weissagekunst nicht bedient. Dass Sokrates sich der Mantik bediente, wird im Text Xenophons nur einmal und auktorial gesagt (Mem. 1.1.2: καὶ μαντικῇ χρώμενος οὐκ ἀφανὴς ἦν). Wenn in der Apologie der Xenophontische Sokrates schon selber darüber spricht, erwähnt er nur Opfer und Schwüre: θύοντά γέ με ἐν ταῖς κοιναῖς ἑορταῖς καὶ ἐπὶ τῶν δημοσίων βωμῶν (Apol. 11); οὐδὲ γὰρ ἔγωγε ἀντὶ Διὸς καὶ Ἥρας καὶ τῶν σὺν τούτοις θεῶν οὔτε θύων τισὶ καινοῖς δαίμοσιν οὔτε ὀμνὺς οὔτε νομίζων ἄλλους θεοὺς ἀναπέφηνα (Apol. 24).
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σοὶ δ’, ἔφη, ὦ Σώκρατες, ἐοίκασιν ἔτι φιλικώτερον ἢ τοῖς ἄλλοις χρῆσθαι, εἴ γε μηδὲ ἐπερωτώμενοι ὑπὸ σοῦ προσημαίνουσί σοι ἅ τε χρὴ ποιεῖν καὶ ἃ μή50.
Sokrates bestreitet dieses Urteil nicht51! Der Unterschied zwischen Sokrates und den anderen Menschen besteht folglich nicht darin, dass er das eigene ‚Daimonion‘ hat (denn τὸ δαιμόνιον ist eine abstrakte Bezeichnung für die Götter), sondern darin, dass alle anderen Menschen an die Götter Fragen stellen und sie um Rat bitten müssen, während Sokrates der einzige ist, dem die Götter selberr ihre Hinweise auch dann geben, wenn er sie darum nicht bittet. Außerdem bezieht sich, obwohl der Xenophontische Sokrates behauptet, dass er göttliche Ratschläge darüber, was zu tun ist und was nicht zu tun ist, nicht nur für sich selbst, sondern auch für seine Freunde bekommt und dass er sich niemals als Lügner erwiesen und niemandem einen falschen Rat
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Mem. 4.3.12: „Dir, mein lieber Sokrates, scheinen die Götter besonders freundlich gesinnt zu sein, wenn sie dir sogar, ohne dass du bei ihnen anfragst, voraussagen, was du tun musst und was nicht.“ Dorion weist auf die Erzählung in der Apologie über die Antwort des Orakels von Delphi auf Chairephons Frage hin: Χαιρεφῶντος γάρ ποτε ἐπερωτῶντος ἐν Δελφοῖς περὶ ἐμοῦ πολλῶν παρόντων ἀνεῖλεν ὁ Ἀπόλλων μηδένα εἶναι ἀνθρώπων ἐμοῦ μήτε ἐλευθεριώτερον μήτε δικαιότερον μήτε σωφρονέστερον (Apol. 14) und sieht in dieser Erzählung eine mögliche Erklärung dafür, dass der Xenophontische Sokrates die göttlichen Ratschläge nicht nur für sich selbst, sondern auch für seine Freunde bekommt: „Il était donc possible, semble-t-il, de pratiquer la divination pour le bénéfi fice de ses amis. D’où l’hypothèse qu’une caractéristique propre au Socrate de Xénophon – le fait que le signe divin étendait sa sollicitude au cercle des amis de Socrate – provient elle aussi de l’assimilation du signe divin aux autres modes de divination“ (Dorion, 2003b, 177). Doch Chairephon hat seine Frage gestellt und eine Antwort darauf bekommen, von Sokrates aber wird an keiner Stelle gesagt, dass er jemals das Orakel befragte. Die Mantik ist die Kunst von Fragen, die der Mensch an die Götter stellt, und von Antworten auf diese, die der Mensch danach von den Göttern bekommt. Die göttliche Stimme, die Sokrates hört, hört er hingegen, ohne Fragen gestellt zu haben. Vgl. auch Symp. 4.47-48. Im Gespräch mit Aristodemos gibt es eine ähnliche Episode: Mem. 1.4.15. Sokrates fragt, was die Götter tun müssen, damit Aristodemos an ihre Fürsorge glaubt. Darauf antwortet er: ὅταν πέμπωσιν, ὥσπερ σὺ φὴς πέμπειν αὐτούς, συμβούλους ὅ τι χρὴ ποιεῖν καὶ μὴ ποιεῖν. Während Aristodemos auf Sokrates und die göttliche Stimme, die er hört, anspielt (darauf weist das betonende Pronomen σύ hin), ignoriert Sokrates diese Anspielung und sagt nichts von sich selbst, sondern verweist noch einmal auf die übliche mantische Kunst: ὅταν δὲ Ἀθηναίοις, ἔφη, πυνθανομένοις τι διὰ μαντικῆς φράζωσιν, οὐ καὶ σοὶ δοκεῖς φράζειν αὐτούς; Darauf, dass der modus operandi des ‚Daimonions‘, wie er von Xenophon beschrieben wird, sich nicht zu den konventionellen Methoden der Divination zählen lässt, weist mit Recht Bevilacqua hin: Bevilacqua, 2010, 112.
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gegeben hat , das einzige Beispiel des göttlichen Hinweises, das in den sokratischen Schrift ften Xenophons vorkommt, auf Sokrates allein und verbietet ihm, seine Verteidigung vor den Richtern vorzubereiten53. Und sogar in diesem einzigen Fall hat Sokrates an die Götter keine Frage gestellt, ob er über 52
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Apol. 13; Mem. 1.1.4. Siehe auch Mem. 1.1.5: δῆλον οὖν ὅτι οὐκ ἂν προέλεγεν, εἰ μὴ ἐπίστευεν ἀληθεύσειν. ταῦτα δὲ τίς ἂν ἄλλῳ πιστεύσειεν ἢ θεῷ; πιστεύων δὲ θεοῖς πῶς οὐκ εἶναι θεοὺς ἐνόμιζεν; Auch hier spricht Xenophon so, als ob die Anklage gegen Sokrates darin bestände, dass er die Götter nicht anerkannte, während er angeklagt wurde, dass er die vom Staat anerkannten Götter nicht anerkannte (siehe Gigon, 1953, 7 und oben S. 246 Anm. 35). Außerdem behauptet Xenophon, dass Sokrates seinen Freunden nicht weissagen würde, wäre er nicht davon überzeugt, dass er die Wahrheit sagte. Da er doch weissagte, bedeute es, dass diese Weissagungen einen göttlichen Ursprung hatten und er sie mittels der göttlichen Stimme bekam. Wenn wir einerseits kein Beispiel eines göttlichen Hinweises für Sokrates’ Freunde haben, haben wir andererseits ein Beispiel dafür, dass Sokrates ohne den göttlichen Hinweis weissagt und sich darauf beruft ft, dass Homer einigen Helden vor ihrem Tod die Gabe der Prophezeiung zuschreibt: ἀλλὰ μέντοι, φάναι αὐτόν, ἀνέθηκε μὲν καὶ Ὅμηρος ἔστιν οἷς τῶν ἐν καταλύσει τοῦ βίου προγιγνώσκειν τὰ μέλλοντα, βούλομαι δὲ καὶ ἐγὼ χρησμῳδῆσαί τι (Apol. 30). Nachdem Sokrates schuldig gesprochen und zum Tode verurteilt wurde, konnte er seinen baldigen Tod zur Rechtfertigung seiner Weissagung vorbringen, während im Laufe des Lebens er keinen solchen Vorwand hatte. Nicht unbedeutend ist, dass diese Prophezeiung des Sokrates, obwohl ohne den göttlichen Hinweis gemacht, sich erfüllt hat (ταῦτα δ’ εἰπὼν οὐκ ἐψεύσατο). Sie hat sich darum als richtig erwiesen, weil sie aus den rationalen Überlegungen folgte: Da Sokrates wusste, von welcher Bedeutung die Enthaltsamkeit und die Übung sind, fiel fi es ihm leicht, zu begreifen, welche Zukunft ft dem Sohn des Anytos bevorstand: συνεγενόμην γάρ ποτε βραχέα τῷ Ἀνύτου υἱῷ, καὶ ἔδοξέ μοι οὐκ ἄρρωστος τὴν ψυχὴν εἶναι· ὥστε φημὶ αὐτὸν […] διὰ δὲ τὸ μηδένα ἔχειν σπουδαῖον ἐπιμελητὴν προσπεσεῖσθαί τινι αἰσχρᾷ ἐπιθυμίᾳ, καὶ προβήσεσθαι μέντοι πόρρω μοχθηρίας. Die Hypothese ist naheliegend, wenn auch nicht beweisbar, dass auch andere Voraussagen des Sokrates, die er seinen Freunden machte, einen ebensolchen rationalen Charakter haben konnten und sich auf seine eigenen Überlegungen stützen konnten. Dass Sokrates sich nie geirrt hat, zeugt nach Dorion auch davon, dass Sokrates das besondere Wohlwollen der Götter genossen hat, denn nur demjenigen, dem sie wohlwollend gegenüberstehen, geben die Götter klare Hinweise, d.h. solche, die keine Deutung brauchen (Dorion, 2003b, 179). M.E. ist es so, dass, wenn auch der Inhalt des göttlichen Hinweises klar sein kann (z.B. dass Sokrates über seine Verteidigung nicht nachdenken soll), die Motive der Götter, warum sie diesen Hinweis geben, dem Menschen aber unbekannt bleiben und deswegen der Deutung bedürfen (siehe unten S. 255 Anm. 61). Ganz genau gesagt, kann eine Andeutung auf noch einen göttlichen Hinweis im Symposion gefunden werden: καὶ ὁ Ἀντισθένης ἔλεξεν· Ὡς σαφῶς μέντοι σὺ μαστροπὲ σαυτοῦ ἀεὶ τοιαῦτα ποιεῖς· τοτὲ μὲν τὸ δαιμόνιον προφασιζόμενος οὐ διαλέγῃ μοι, τοτὲ δ’ ἄλλου του ἐφιέμενος (Symp. 8.5). Wenn Antisthenes’ Worte ernst zu nehmen sind, dann erfahren wir noch einen Fall, in dem die Gottheit Sokrates verbietet, etwas
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seine Verteidigung nachdenken soll oder nicht, sondern er hat die Stimme des Gottes dann gehört, als er schon begann, darüber nachzudenken: ἀλλὰ ναὶ μὰ Δία, φάναι αὐτόν, καὶ δὶς ἤδη ἐπιχειρήσαντός μου σκοπεῖν περὶ τῆς ἀπολογίας ἐναντιοῦταί μοι τὸ δαιμόνιον. […] ὀρθῶς δὲ οἱ θεοὶ τότε μου ἠναντιοῦντο, φάναι αὐτόν, τῇ τοῦ λόγου ἐπισκέψει ὅτε ἐδόκει ἡμῖν ζητητέα εἶναι ἐκ παντὸς τρόπου τὰ ἀποφευκτικά54.
Was auch immer für eine Natur diese Stimme haben mag – wichtig ist, dass Sokrates’ Urteil sich unter ihrem Einfluss fl verändert hat: Zunächst schien es ihm, dass er über seine Verteidigungsrede im Gericht nachdenken müsse, aber später kam er zu dem Schluss, dass es nicht nötig sei. In der Apologie, wie oben zitiert wurde, sagt Sokrates, dass er es zweimal versucht hat. Das kann bedeuten, dass er zunächst den göttlichen Hinweis nicht verstanden hat, d.h. ihn nicht deuten und sich deswegen nicht nach ihm richten konnte55. Aber in jedem Fall bleibt Folgendes unklar: Sokrates hört einen göttlichen Hinweis,
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zu tun, nämlich mit Antisthenes zu sprechen. Bemerkenswert ist, dass auch dieser göttliche Hinweis Sokrates selbst und nicht seine Freunde betrifft fft und dass auch in diesem Fall die göttliche Stimme im abhaltenden und nicht im anregenden Sinne auft ftritt. Wir kennen aber keine Einzelheiten sowie keine anderen Beispiele von göttlichen Hinweisen aus dem Text Xenophons. Apol. 4 und 8: „Ich habe, weiß Gott, schon zweimal versucht, über meine Verteidigung nachzudenken, aber das Daimonion hinderte mich daran. […] Mit Recht hinderten mich daher die Götter an der Vorbereitung der Rede, als wir beschlossen hatten, auf jede Weise Gründe für meine Freisprechung zu suchen“. Vgl. auch Mem. 4.8.5: ἤδη μου ἐπιχειροῦντος φροντίσαι τῆς πρὸς τοὺς δικαστὰς ἀπολογίας ἠναντιώθη τὸ δαιμόνιον. Vgl. Mem. 1.3.4: εἰ δέ τι δόξειεν αὐτῷ σημαίνεσθαι παρὰ τῶν θεῶν, ἧττον ἂν ἐπείσθη παρὰ τὰ σημαινόμενα ποιῆσαι ἢ εἴ τις αὐτὸν ἔπειθεν ὁδοῦ λαβεῖν ἡγεμόνα τυφλὸν καὶ μὴ εἰδότα τὴν ὁδὸν ἀντὶ βλέποντος καὶ εἰδότος […] αὐτὸς δὲ πάντα τἀνθρώπινα ὑπερεώρα πρὸς τὴν παρὰ τῶν θεῶν συμβουλίαν. In diesem Fall – da Sokrates nicht sofort nach dem ersten Verbot auf die Vorbereitung der Verteidigungsrede verzichtet hat – bedeutet das, dass er dieses Verbot nicht interpretieren konnte, d.h. er konnte nicht verstehen, wie er sich nach ihm richten muss. Im letzten Kapitel der Memorabilien wird nicht erwähnt, dass Sokrates zweimal versucht hat, die Rede zu überlegen (siehe die vorhergehende Anm.). Siehe v. Arnim, 1923, 34: „Daß die zweimalige Mahnung des Daimonion in Ap. bei der Überarbeitung für Mem. absichtlich von Xenophon auf eine einmalige reducirt und nicht etwa in Mem. δίς vor ἤδη nur von einem Abschreiber fortgelassen worden ist, geht aus der Änderung von ἐπιχειρήσαντος in ἐπιχειροῦντος und von ἐναντιοῦται in ἠναντιώθη hervor. Das durative ἐναντιοῦται drückt aus, daß wiederholten Anläufen gegenüber das Daimonion seinen Widerstand aufrecht hält, das punktuelle ἠναντιώθη, daß gleich beim ersten Anlauf der Einspruch erfolgte, den Sokrates als maßgeblich betrachtete und daher weitere Versuche un-
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der ihm verbietet, über seine Verteidigung nachzudenken, aber erklärt die göttliche Stimme auch den Grund, warum eigentlich Sokrates darüber nicht nachdenken soll? Oder hört Sokrates nur die Hinweise – in diesem Fall das Verbot –, die er dann schon selbst interpretieren muss? Es gibt keine direkte Antwort auf diese Frage im Xenophontischen Text, daher sind wir in diesem Fall auf Vermutungen angewiesen. Xenophon behauptet, dass der prahlerische Ton des Sokrates im Gericht seiner Gesinnung entsprach56. Die göttliche Stimme hat Sokrates verboten, über seine Verteidigung nachzudenken,
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terließ. Der Grund der Änderung dürft fte gewesen sein, daß es als eine Unvollkommenheit des Sokrates erschien, sich nicht bei dem ersten Einspruch zu beruhigen“ und Edelstein, 1935, 132: „Das ist möglich, aber nicht beweisbar.“ Siehe auch Narcy, 2005, 121. Es kann scheinen, dass diese Episode vom ‚Daimonion‘ beim Versuch der Vorbereitung der Verteidigungsrede dem Urteil widerspricht, dass Sokrates ohne die γνώμη der Götter nichts unternommen hat und dass er sich beim Unterscheiden, was besser und was schlechter ist, niemals geirrt hat und keine fremde Hilfe dafür brauchte (Mem. 4.8.11, siehe oben S. 240 ff. Anm. 25). Die Tatsache, dass Sokrates das Verbot des ‚Daimonions‘ schon während seiner Überlegung gehört hat, bedeutet, dass er vorher die Götter nicht um einen Rat gebeten hatte; das widerspricht aber m.E. Mem. 4.8.11 nicht, weil Sokrates es für notwendig hielt, die Götter nach ihrer γνώμη über τὰ ἄδηλα zu fragen, ob der Ausgang einer Tat gut oder schädlich sein würde. Das Problem der Vorbereitung zum Gericht als solches gehört aber nicht zu τὰ ἄδηλα, sondern gerade zu τὰ ἀναγκαῖα (siehe oben S. 239 Anm. 24), deswegen ist der Mensch hier imstande, selbständig eine Entscheidung zu treff ffen. Das ist der gemeine Lauf der Dinge: Wenn der Mensch an einem Gerichtsverfahren irgendwie teilnehmen muss, ist es off ffenbar, dass er sich vorbereiten muss; wie es off ffenbar ist, dass derjenige, der am Krieg teilnehmen muss, bewaffnet ff sein und die Waff ffen zu führen wissen muss. Andererseits durft fte Sokrates auch nicht um einen Rat bitten, ob es sich lohnt, am Gerichtsverfahren teilzunehmen, weil er schon gezwungen wurde, an ihm teilzunehmen; das war nicht sein Wunsch, der von den Göttern gutgeheißen werden soll. Aus dem Bereich von τὰ ἄδηλα konnte man sich in dieser Situation z.B. folgende Frage vorstellen: Ob es sich lohnt, an die Gefühle der Richter zu appellieren und die Kinder ins Gericht mitzubringen. Ebenso wenig widerspricht diese Geschichte vom ‚Daimonion‘ m.E. der Behauptung, dass Sokrates sich nie geirrt hat und keine fremde Hilfe bei der Unterscheidung, was besser und was schlechter ist, brauchte. Contra Dorion & Bandini, 2011b, 228: „[…] l’intervention du signe avant le procès tend à démontrer que Socrate ne pouvait pas comprendre par lui-même que la mort n’est pas un mal.“ Als Sokrates versucht hat, seine Verteidigungsrede zu überlegen, stand er schon deshalb nicht vor der Wahl zwischen dem Leben und dem Tod, weil eine Vorbereitung der Verteidigungsrede noch nicht die Freisprechung bedeutet. Und als das ‚Daimonion‘ verboten hat, die Verteidigungsrede vorzubereiten, hat es nicht erläutert, dass es schlechter ist, zu leben, und besser ist, zu sterben. Zu diesem Schluss ist Sokrates selbstständig gekommen: Siehe unten S. 255 Anm. 61. Apol. 2: ὥστε πρέπουσαν φαίνεσθαι τὴν μεγαληγορίαν αὐτοῦ τῇ διανοίᾳ. Gleich vor diesen Worten sagt Xenophon, dass Sokrates’ Gesinnung eine Erläuterung braucht,
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aber indem man dem göttlichen Hinweis gehorchte, konnte man sich auf verschiedene Weise benehmen: Z.B. konnte man überhaupt keine Rede halten oder ohne Überlegung und Vorbereitung im Gericht einfach improvisieren57. Sokrates aber hat beschlossen, eine Lobrede auf sich selbst zu halten58. Da die Lobpreisung seiner eigenen Person keine Verteidigungsrede gegen die erhobenen Anklagen ist, verletzt Sokrates mit seiner prahlerischen Rede im Gericht den göttlichen Befehl nicht. Aber eine Rede eben solcher Art zu halten, war Sokrates’ eigene Entscheidung, welche er infolge des Nachdenkens über den göttlichen Hinweis getroff ffen hat. Auch die Schlussfolgerung, warum eigentlich die Verteidigungsrede nicht vorzubereiten ist, ist von Sokrates selber abgeleitet worden: Hermogenes scheint es erstaunlich zu sein, dass die Gottheit Sokrates an der Vorbereitung der Rede hindert, und Sokrates erklärt, dass die Gottheit es ihm darum verbietet, weil es für ihn besser ist, schon zu sterben als zu leben59. Aber dies ist das Urteil des Sokrates60,
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weil ansonsten seine Prahlerei im Gericht unsinnig scheinen kann: ὥστε ἀφρονεστέρα αὐτοῦ φαίνεται εἶναι ἡ μεγαληγορία. Das bedeutet, dass die μεγαληγορία des Sokrates hingegen absichtlich war und sich auf seine Überlegungen stützte. In der Auffasff sung von der Bedeutung des Wortes μεγαληγορία in der Apologie Xenophons stimme ich Dorions Auff ffassung zu: „Since megalēgoria does not designate the tone adopted by the speaker so much as the very act of openly attributing to oneself great merits, it is the term ‘boastfulness’ that seems to be the most adequate to translate megalēgoria“ (Dorion, 2005, 132). Siehe auch Vander Waerdt, 1993, 14. Vgl. Dorion, 2003b, 178: „[…] l’interdiction divine ne serait pas à interpréter dans le sens d’une invitation à quitter la vie, mais comme une injonction à préparer un autre type de défense!“. An einer anderen Stelle behauptet aber Dorion, dass die μεγαληγορία das Einzige war, was dem Sokrates übrig blieb: „As Socrates has to abandon, due to the intervention of the daimonion, the preparation of his defence in a rhetorical form and as he knows full well, moreover, that only the use of rhetoric would allow him to move the judges to pity and to bring them to be favourably disposed fice, by exalting towards him, there rests onlyy for him to defend himself without artifi the ergon of a life that conforms to justice, declaring proudly the virtues and merits that are his own“ (Dorion, 2005, 133 f.; Hervorhebung von mir). M.E. war es die Entscheidung des Sokrates selbst, dass es das Einzige ist, was ihm übrig bleibt, während man in Wirklichkeit auch anders handeln konnte. Apol. 9. Vgl. Dorions Schluss: „a defence limited to recalling the exemplary life he is convinced he has lived“ (Dorion, 2005, 131). Apol. 5: ἦ θαυμαστὸν νομίζεις εἰ καὶ τῷ θεῷ δοκεῖ ἐμὲ βέλτιον εἶναι ἤδη τελευτᾶν; Vgl. auch Mem. 4.8.6: θαυμάζεις, φάναι, εἰ τῷ θεῷ δοκεῖ βέλτιον εἶναι ἐμὲ τελευτᾶν τὸν βίον ἤδη; Apol. 1: ἤδη ἑαυτῷ ἡγεῖτο αἱρετώτερον εἶναι τοῦ βίου θάνατον; Apol. 22: ἀλλὰ καὶ καιρὸν ἤδη ἐνόμιζεν ἑαυτῷ τελευτᾶν; Apol. 33: ἔγνω τοῦ ἔτι ζῆν τὸ τεθνάναι αὐτῷ κρεῖττον εἶναι. Warum Sokrates es für besser hält zu sterben als zu leben, siehe oben S. 150 f.
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mit dem er das göttliche Verbot zu erklären sucht, während die Gottheit ein anderes Motiv haben konnte und jemand anderer an der Stelle des Sokrates einen anderen rationalen Grund hätte herausfinden fi können. Daraus lässt sich schließen, dass die göttliche Stimme – was für eine Natur sie auch haben mag – den Gedanken des Sokrates eine neue Wende gibt, ihm eine neue Perspektive eröff ffnet, aber die endgültigen Entscheidungen trifft fft Sokrates selber infolge seiner rationalen Überlegung61. Als eine Grundlage der Frömmigkeit des Xenophontischen Sokrates dient seine anthropozentrische und providentielle Theologie: Das Universum ist zum Nutzen der Menschen aufgebaut, und sein teleologischer Charakter zeugt von dem göttlichen Ursprung. Die Notwendigkeit der religiösen Verehrung der Götter, des Kultes, wird damit motiviert, dass das menschliche Wissen beschränkt ist und dass das Glück des Menschen daher auf die allwissenden Götter angewiesen ist. Die Frömmigkeit des Xenophontischen Sokrates hat einen rationalen und utilitaristischen Charakter: Der Mensch muss die Götter verehren, weil er ihrer Hilfe bedarf. Während es Xenophon wenigstens teilweise gelingt, die Anklage zu widerlegen, dass Sokrates die staatlichen Götter nicht anerkannte, vermittelt die Natur von Sokrates’ ‚Daimonion‘ jedoch den Eindruck von einem besonderen – nicht wie es bei anderen Menschen ist – Verhältnis zwischen Sokrates und den Göttern. 61
Im Text Xenophons wird darüber nur gesagt, dass das ‚Daimonion‘ sich dem Sokrates bei seinem Versuch, die Verteidigungsrede zu überlegen, widersetzte (siehe oben S. 247 Anm. 39), d.h. das ‚Daimonion‘ den Sokrates auf irgendeine Weise auf den Gedanken gebracht hat, dass er keine Verteidigungsrede vorbereiten muss. Aber es gibt keine Andeutungen darauf, dass dieses Verbot von einer Erläuterung, einer Begründung oder irgendeinem positiven Ratschlag begleitet war: M.E. brauchen die Hinweise des ‚Daimonions‘ des Sokrates genauso eine Deutung wie alle konventionellen Methoden der Divination und unterscheiden sich deshalb in dieser Hinsicht nicht von diesen (siehe oben S. 250 Anm. 51). In diesem Punkt ist meine Meinung der Auff ffassung von Dorion entgegengesetzt: „[…] il [Xénophon] ne présente aucun exemple d’intervention du daimonion qui nécessite un déchiff ffrement ou une interprétation de la part de Socrate“ (Dorion & Bandini, 2000, 53) und auch der von Bevilacqua: „… si tratta di indicazioni esplicite, di moniti, di consigli, non di “segni” bisognosi di interpretazione: è il demone che riversa in Socrate la sua superiore sapienza, senza che le facoltà mentali, le risorse intellettuali di Socrate vengano minimamente coinvolte“ (Bevilacqua, 2010, 111 f.). Vgl. aber Dorion, 2003b, 178 f.: „Mais cette signification fi de l’interdiction divine est en réalité le fruit de l’interprétation de Socrate, puisqu’on ne sait rien, en fait, des véritables motifs qui ont poussé la divinité à intervenir. Socrate aurait très bien pu prêter d’autres significations à cette interdiction d’origine divine. […] Toujours est-il que la signifi fi fication de l’interdiction divine, telle qu’elle est formulée par Socrate, ne peut être que le résultat de l’interprétation que Socrate donne de cette intervention divine. Or, assez curieusement, le texte de Xénophon court-circuite le moment exégétique qui devrait en principe se situer entre l’intervention divine et la signifi fication que Socrate lui prête.“
Zusammenfassung Die vorliegende Arbeit hat sich der Frage gewidmet, welche Ansichten über Moral, Politik und Religion Sokrates bei Xenophon vertritt. Die sokratischen Schriften ft Xenophons lassen den Leser fundamentale Fragen formulieren, wenn auch nicht alle von ihnen im Xenophontischen Text eine klare Antwort haben. Aus der durchgeführten Untersuchung lässt sich folgender Schluss ziehen: Die Einstellungen des Xenophontischen Sokrates, obwohl nicht systematisch dargelegt, erweisen sich als einheitlich und kohärent. Alle seine Meinungen, Aussagen und Handlungen sind eine logische Folge des rationalen Denkens. So beruht sogar die Gewohnheit, sich mit allen Gesprächspartnern unentgeltlich zu unterhalten, auf Sokrates’ rationaler Ansicht, das Verhältnis von ‚Verkäufer‘ und ‚Käufer‘ mache die Freundschaft ft zwischen Lehrer und Schüler unmöglich, während das zum Wissen führende Gespräch nur unter Freunden möglich sei, die das gleiche Ziel anstreben. Der grundlegende Begriff ff in der Ethik des Sokrates bei Xenophon ist der Begriff ff der Enthaltsamkeit oder Selbstbeherrschung, die keine rationale Eigenschaft ft der menschlichen Seele, d.h. kein Wissen und keine Tugend ist. Sie ist die Kraft ft der Seele, welche sich – wie die körperliche Kraft ft – durch Übung entwickeln und verstärken lässt. Sie ist die Fähigkeit, dank der der Mensch imstande ist, dem ihm angeborenen Hang zum körperlichen Vergnügen zu widerstehen. Die Abhängigkeit von körperlichen Genüssen bringt den Menschen von allem Anderen ab und macht ihn zu keiner Beschäft ftigung fähig, so dass der unbeherrschte Mensch die Tugend nicht erwerben kann. Die Enkrateia ist eine notwendige Bedingung sowohl des Erwerbs als auch der Aufrechterhaltung der Tugend, denn bei einem Verlust der Selbstbeherrschung geht zugleich auch das vorher erworbene sittliche Wissen verloren. Während Xenophons Sokrates die Akrasia als absichtliche und bewusste Wahl des Schlechteren für unmöglich hält, hält er den Verlust der Tugend selbst hingegen für möglich, d.h. er gibt zu, dass derjenige, der das sittliche Wissen hat, einmal dieses Wissen verlieren könnte und deswegen das Gute und das Schlechte nicht mehr unterscheiden würde. Die Selbstbeherrschung ist eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung der Tugend. Denn die Tugend ist Wissen. Ihrerseits ist die Tugend als das Wissen vom Nützlichen eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung des Glücks, nach dem alle Menschen streben: Ohne das Wissen vom Nützlichen kann man das Glück nicht erreichen, aber auch der tugendhaft fte Mensch kann in einer Situation unglücklich sein. Und obwohl die Tugend als Wissen grundsätzlich für alle Menschen erreichbar ist, hat nicht unbedingt jeder Mensch sie, da der Mensch kein Wissen angeboren hat und
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die Tugend sich nur durch Lernen erwerben lässt. Den Mangel an Wissen des Menschen können die Götter auszufüllen helfen, indem sie vorhersagen können, was für den Menschen gut ist und was ihm Glück bringen wird. Hier liegt die rationale Begründung der Religiosität des Xenophontischen Sokrates. Außer Göttern sind die Staatsgesetze dafür bestimmt, den Unwissenden mit dem Wissen vom Nützlichen auszustatten, da ihr Zweck ist, die Menschen glücklich zu machen. Daraus folgt, dass nur diejenigen Gesetze erlassen können und sollen, die das notwendige Wissen besitzen, damit die Gesetze ihre Aufgabe erfüllen können. Und obwohl alle Menschen dieses Wissen erwerben und daher Politik treiben können, haben es nicht alle, so dass in der Realität nicht alle Menschen in die Politik gehen dürfen, denn sonst wäre die Folge, dass nicht alle Staatsgesetze ihren Zweck erfüllen. Die These des Xenophontischen Sokrates, das Gesetzliche sei gerecht, ist daher Th idealistisch und teleologisch aufzufassen: Der Zweck des Gesetzlichen ist, gerecht zu sein. Zusammenfassend lässt sich sagen: Die Ansichten des Xenophontischen Sokrates können als ethischer Rationalismus charakterisiert werden. Sogar seine im Ganzen gesehen konventionellen religiösen Vorstellungen sind rational motiviert. Seine Ethik zeigt zugleich Züge von Eudämonismus, Egoismus und Utilitarismus: Der Beweggrund des menschlichen Handelns ist das Streben nach dem eigenen Glück, und die Grundlage für die Bewertung jeder Handlung ist ihre Nützlichkeit für das Glück. Alle diese Züge vereinigen sich aber im Begriff ff der Tugend als Wissens vom Nützlichen: Die Tugend verleiht dem Menschen das Wissen z.B. davon, dass Freundschaft ft und in einigen Fällen sogar der Verzicht auf eigene Wünsche zugunsten des Interesses der Anderen nützlich für einen selbst sind. Die Ansichten des Xenophontischen Sokrates über Politik zeigen zugleich demokratische und oligarchische Züge: Einerseits können alle Menschen im Prinzip Politik treiben, andererseits dürfen in der Realität nicht alle in die Politik gehen, denn zum Politiker macht den Menschen das spezifische fi Wissen, welches nicht alle besitzen, ebenso wie nicht alle Menschen Kenntnisse der Medizin haben. Obwohl man den Xenophontischen Sokrates selbst anscheinend als Optimisten bezeichnen kann, erschaffen ff die sokratischen Schrift ften Xenophons für den modernen Leser insgesamt eher eine pessimistische Weltanschauung: Da die Enkrateia nicht von rationaler Natur ist und da die Neigung zum körperlichen Vergnügen jedem Menschen angeboren ist, ist niemand vor dem Verlust der Selbstbeherrschung und folglich der Tugend sicher; die Letztere kann außerdem auch aus anderen Gründen verloren gehen: z.B. bei schlechter Gesundheit oder Gedächtnisstörung. Und da sowohl die Selbstbeherrschung als auch die Tugend, d.h. das sittliche Wissen, leichter und
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schneller verloren gehen als praktische und technische Kenntnisse, ist die Existenz von Missetätern, d.h. von Menschen, die nicht tugendhaft ft sind, aber irgendein technisches Wissen haben, mehr als wahrscheinlich. Beim Lehren kann kein Lehrer sicher sein, dass sein Schüler immer tugendhaft ft sein wird und das erworbene Wissen nie mit schlechter Absicht benutzen wird. Aber auch was ihn selbst betrifft fft, kann sogar der tugendhaft fte Mensch nicht sicher sein, dass er glücklich sein wird, weil die Tugend für das Glück nicht hinreichend ist und außerdem günstige Bedingungen notwendig sind, in welchen der Mensch seiner Beschäftigung ft nachgehen kann. Was den Bereich der Politik angeht, ist hier unklar, auf welche Weise es zu machen ist, dass Staatsgesetze nur von den Wissenden erlassen werden, und wie bestimmt werden kann und auch wer bestimmen kann, dass ein Mensch das notwendige Wissen hat und deswegen Politik treiben kann und darf, dass ein anderer aber nicht das erforderliche Wissen hat und daher nur Schaden bringen wird, wenn er in die Politik geht.
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Stellenregister Apologie
Hellenika
1
225 Anm. 86; 254 mit Anm. 60
1.7
2
253 mit Anm. 56
Hieron
4
225 Anm. 86; 247 mit Anm. 39; 248 mit Anm. 42; 252 mit Anm. 54
2.17
5
149 mit Anm. 141; 153 Anm. 153; 248 Anm. 45; 254 mit Anm. 59
Hipparchikos
6
150 mit Anm. 142
7
248 Anm. 45
8
248 mit Anm. 42; 252 mit Anm. 54
9
254
11
230; 246 Anm. 35; 249 Anm. 49
4.1
223
78 Anm. 43
30 Anm. 49
Kynegetikos 12.13
80 Anm. 46
Kyrupädie 1.2.1
61 Anm. 20
1.2.16
30 Anm. 49
12
247 mit Anm. 36-37
1.6.17
30 Anm. 49
13
238 Anm. 20; 247 Anm. 37; 249 mit Anm. 45; 250 f. mit Anm. 52
8.8.8
30 Anm. 49
14
249 Anm. 45; 250 Anm. 50
16
9 Anm. 2-3; 36 Anm. 64; 148
17
Memorabilien 1.1.1
179 mit Anm. 61
9 Anm. 3; 148; 165 Anm. 21
1.1.1-2
246 f. mit Anm. 36
18
49 Anm. 98; 184 Anm. 71
1.1.2
22
254 mit Anm. 60
230; 246 Anm. 35; 247 Anm. 37; 249 Anm. 49
24
230; 249 Anm. 49
1.1.3-4
247 Anm. 37; 249 Anm. 47
26
9 Anm. 2; 153 Anm. 153; 162 Anm. 17
1.1.4
247 Anm. 37; 250 f. mit Anm. 52
27
148; 150 mit Anm. 144
1.1.5
251 Anm. 52
29
153 Anm. 153
1.1.6
240 f. Anm. 25; 247 Anm. 37
1.1.6-9
239 mit Anm. 24; 242 f. Anm. 25; 249 Anm. 48
30
251 Anm. 52
30-31
29 Anm. 45
33
254 mit Anm. 60
1.1.8
240 Anm. 25
34
162 Anm. 17
1.1.8-9
41 Anm. 81
Stellenregister 1.1.9
271
239 Anm. 24
1.2.15
1.1.11
235 Anm. 16
1.2.15-16
62; 129
1.1.11-13
238 Anm. 23
1.2.16
129 mit Anm. 90
1.1.11-16
235 Anm. 16
1.2.17
99 Anm. 7
1.1.12
247 Anm. 40
1.2.18
1.11.15
238 Anm. 23; 247 Anm. 40
62 mit Anm. 25; 130 mit Anm. 92; 187 Anm. 82
1.1.16
45; 99 mit Anm. 8
1.2.19
72 Anm. 37; 88 mit Anm. 56; 194; 233 Anm. 12
1.1.18
120 Anm. 64; 223 Anm. 78
1.2.19-23
86 Anm. 52
1.1.19
234 Anm. 14; 238 mit Anm. 20
1.2.21
83 mit Anm. 50
1.2.22
63 mit Anm. 30; 86 mit Anm. 52
1.2.23
64 Anm. 31; 84 mit Anm. 51; 233 Anm. 12
1.2.24
63 Anm. 28; 79 Anm. 45; 130 mit Anm. 96; 233 Anm. 12
1.2.25
62 f. mit Anm. 28
1.2.26
62 mit Anm. 27; 72 Anm. 37; 130 mit Anm. 95
1.2.27
63 mit Anm. 29
1.2.29
175 Anm. 50
1.1.20
90 Anm. 62; 236 Anm. 17
1.2.1
8 Anm. 1; 23 mit Anm. 33; 23 Anm. 35; 24 Anm. 37; 36 Anm. 63-64; 39; 43 Anm. 84; 89 Anm. 59; 167 Anm. 27
1.2.1-8
31 Anm. 49
1.2.2
233 Anm. 12
1.2.3
18 mit Anm. 22
1.2.4
22 Anm. 31; 26 mit Anm. 42; 30 f. mit Anm. 49; 32 Anm. 50; 233 Anm. 12
131 Anm. 99
1.2.31
224 mit Anm. 82
1.2.32
120 Anm. 64; 224 Anm. 83
1.2.39
13 mit Anm. 12; 17 mit Anm. 18
128 Anm. 87; 130 mit Anm. 95; 209; 211
1.2.40-46
205
1.2.8
18 mit Anm. 22; 157 Anm. 5
1.2.42
1.2.9
212 mit Anm. 47; 216 mit Anm. 59
205 mit Anm. 27; 209 mit Anm. 37; 210 mit Anm. 40
1.2.43
206 mit Anm. 28
1.2.10
140 Anm. 120; 166 Anm. 23; 212 mit Anm. 46
1.2.44
206 mit Anm. 29
1.2.44-45
206 mit Anm. 30
1.2.12
127 mit Anm. 83
1.2.46
208 mit Anm. 34
1.2.12-13
208 mit Anm. 35
1.2.47
129 f. mit Anm. 90
1.2.14
8 Anm. 1; 21 mit Anm. 27; 36 Anm. 64; 39 mit Anm. 72; 40 mit Anm. 75; 42 f. Anm. 84; 128 mit Anm. 87
1.2.48
129 Anm. 89; 188
1.2.49
209
1.2.50
125 Anm. 77
1.2.5
20 Anm. 26; 31 Anm. 49
1.2.6
9 Anm. 2; 14 mit Anm. 14; 44
1.2.7
272
Stellenregister
1.2.51
159 Anm. 11
1.3.12
61 Anm. 21
1.2.52
159 mit Anm. 11; 164 Anm. 20
1.3.14
1.2.53
194 mit Anm. 104; 233 Anm. 12
26 Anm. 42; 29; 30 f. Anm. 49; 32 Anm. 50; 89 Anm. 59; 174 mit Anm. 48
1.3.15
49 Anm. 98; 89 Anm. 59
1.2.53-54
160
1.4
1.2.55
160 f. mit Anm. 14
230; 236 Anm. 17; 246 Anm. 35
1.2.56
164 Anm. 19
1.4.1
133 mit Anm. 101
1.2.57
122 Anm. 68
1.4.2
249 Anm. 48
1.2.60
9 Anm. 2; 42 f. Anm. 84; 132 mit Anm. 100; 161 Anm. 15
1.4.4
231 mit Anm. 3
1.4.5
248 mit Anm. 44
1.2.64
229 Anm. 96
1.4.6
231 Anm. 4; 236 Anm. 16
1.3.1
183 Anm. 67; 187 Anm. 82; 244 mit Anm. 28; 246 Anm. 35
1.4.7
231 Anm. 5
1.4.8
234 Anm. 13-14
1.3.1-3
230
1.4.9
233 mit Anm. 12
1.3.2
41 mit Anm. 81; 239 ff ff. mit Anm. 25
1.4.10
233 Anm. 11; 236 mit Anm. 18
1.3.3
237 Anm. 19; 244 Anm. 27; 245 mit Anm. 30; 246 mit Anm. 33
1.4.11-14
231 Anm. 5
1.4.12
167 Anm. 27
1.4.13
22 Anm. 31; 194; 234 Anm. 14; 235 Anm. 15
1.3.4
248 Anm. 42; 252 Anm. 55
1.3.5
8 Anm. 1; 25 mit Anm. 40; 89 Anm. 59; 193 mit Anm. 102; 233 Anm. 12; 237 Anm. 19; 247 Anm. 40
1.4.13-14
233 Anm. 12
1.4.14
194 Anm. 104
1.4.15
247 Anm. 37; 250 Anm. 51
1.3.5-8
36 Anm. 64
1.4.16
237 Anm. 19
1.3.6
26 Anm. 42; 29 mit Anm. 48; 33 mit Anm. 52; 233 f. Anm. 12
1.4.17
194 Anm. 104; 233 Anm. 12; 234 Anm. 14; 249 Anm. 45
1.3.6-7
29
1.4.18
1.3.8
29; 173 f. mit Anm. 47-48; 175 Anm. 50; 191 Anm. 97
234 Anm. 14; 239 Anm. 24; 244 Anm. 26; 247 Anm. 40
1.5
39 Anm. 71; 57
1.3.9
60 mit Anm. 19
1.5.1
38 Anm. 67; 167 Anm. 27
1.3.10
60 f. mit Anm. 20
1.5.2
1.3.11
45; 58 f. mit Anm. 16; 61 mit Anm. 21; 63 Anm. 30; 174 mit Anm. 49
143 mit Anm. 125; 172 mit Anm. 43
1.5.3
33 mit Anm. 52; 64 Anm. 31; 233 Anm. 12
Stellenregister 1.5.4
35 mit Anm. 62; 55 f. mit Anm. 10; 57 Anm. 13; 71 Anm. 35; 87 Anm. 54; 233 Anm. 12
1.5.5
33 mit Anm. 52; 56; 57 f. Anm. 13-14; 184 Anm. 72; 233 Anm. 12
1.5.6
9 Anm. 2; 14 mit Anm. 1314; 44; 187 Anm. 82
273 2.1.2
38 Anm. 67
2.1.3
24 Anm. 37; 38 Anm. 67; 59 Anm. 17
2.1.3-5
167 Anm. 27
2.1.4
29 Anm. 45
2.1.4-5
29 Anm. 45
2.1.5
91 Anm. 64; 176
2.1.6
23 mit Anm. 34; 36 Anm. 63
2.1.11
102 Anm. 19
1.6.1
11 Anm. 7
1.6.2
22; 151 mit Anm. 145
2.1.15
59 Anm. 17
1.6.3
9 Anm. 2; 20 mit Anm. 26; 44 mit Anm. 89
2.1.18-20
144 f. mit Anm. 131; 151 Anm. 147
1.6.5
9 Anm. 2; 14 mit Anm. 14; 25 Anm. 40; 44
2.1.19
1.6.6
22 mit Anm. 30; 23 Anm. 33; 36 Anm. 63
23 Anm. 35; 112 Anm. 42; 233 Anm. 12
2.1.20
23 Anm. 35; 33 mit Anm. 52; 56; 57 Anm. 14; 59 Anm. 17; 149; 194 Anm. 104; 233 Anm. 12
1.6.6-7
22 mit Anm. 32
1.6.7
22 Anm. 31; 36 Anm. 63; 139
1.6.8
27 Anm. 43; 36 Anm. 64; 45; 145 mit Anm. 133; 187 Anm. 81
2.1.21
147 Anm. 136
2.1.21-34
133 f. Anm. 103; 147 Anm. 135
1.6.8-9
49 mit Anm. 101
2.1.22
33 mit Anm. 52
1.6.9
59 Anm. 16; 148 mit Anm. 138; 149 mit Anm. 140; 151
2.1.23
133 Anm. 103; 147 Anm. 136
1.6.10
42 Anm. 84; 45 f. mit Anm. 92; 247 Anm. 40
2.1.24
59 Anm. 17
2.1.25
59 Anm. 17; 233 Anm. 12
2.1.27
127 Anm. 85; 134 Anm. 103
2.1.28
22 Anm. 31; 23 Anm. 35; 59 Anm. 17
2.1.29
59 Anm. 17; 102 Anm. 19; 133 Anm. 103
2.1.29-30
59 Anm. 17
2.1.30
25 Anm. 40; 146 f. mit Anm. 135; 157 Anm. 5; 175 Anm. 50
2.1.31
33 mit Anm. 52; 59 Anm. 17; 157 Anm. 5; 233 Anm. 12
1.6.11
9 Anm. 2
1.6.11-14
10 ff.
1.6.13
10 mit Anm. 6; 11 Anm. 7; 15 Anm. 16; 18 Anm. 23; 70 Anm. 34; 175 Anm. 50
1.6.13-14
18 Anm. 23
1.6.14
161 f. mit Anm. 16; 163 Anm. 18
1.7.1
152 mit Anm. 149
1.7.2-3
214 Anm. 54
2.1.1
36 f. Anm. 64-65; 88 mit Anm. 58
274 2.1.32
Stellenregister 247 Anm. 40
2.6.23
9 Anm. 2; 19 Anm. 23; 159 Anm. 10
2.1.33
153
2.2
160 Anm. 11
2.6.28
165 Anm. 22
2.2.2-3
113 Anm. 43
2.6.28-29
165 Anm. 22
2.2.4
167 Anm. 27
2.6.29
166 Anm. 23
2.2.5
160 Anm. 11
2.6.30
233 Anm. 12
2.2.14
101; 158 Anm. 8
2.6.32
233 Anm. 12
2.3.4
166 Anm. 23
2.6.35
113 Anm. 43; 164 Anm. 20
2.3.11-13
158 mit Anm. 7
2.6.36
214 Anm. 54
2.3.11-14
190
2.6.37
189 mit Anm. 91
2.3.14
113 Anm. 43; 166 Anm. 23
2.6.37-38
189
2.3.16
232 Anm. 8
2.6.38
214 Anm. 54
2.6.39
126 mit Anm. 79; 128 Anm. 86
2.3.18-19
249 Anm. 45
2.4-6
164 Anm. 20
2.7-10
161 Anm. 15
2.4.5
158 Anm. 8
2.7.7
38 Anm. 67; 146 Anm. 134
2.4.6
158 mit Anm. 6; 164 Anm. 20
2.7.7-8
220 Anm. 71
2.8.4
213 Anm. 51
2.5
160 Anm. 12
2.10.3
158 Anm. 8
2.6
160 Anm. 12
2.10.4
160 Anm. 12
2.6.1
36 Anm. 64; 37 f. Anm. 67
3.1.1
183 Anm. 67
3.1.4
98; 117 mit Anm. 54; 215 mit Anm. 56
3.1.9
243 Anm. 25
3.2.1
102 Anm. 19
3.2.2
102 Anm. 19
3.2.2-4
213 mit Anm. 50
3.2.4
102 Anm. 19
2.6.2
43 mit Anm. 85
2.6.4
158 Anm. 7
2.6.6-7
159 Anm. 8
2.6.8
166 Anm. 23; 239 f. Anm. 24-25
2.6.10
188
2.6.12
189
2.6.13
189
2.6.16
158 mit Anm. 7
2.6.19
157 Anm. 5
2.6.21
155 mit Anm. 1
2.6.22 2.6.22-23
37 Anm. 65; 167 Anm. 28; 175 Anm. 50 156 mit Anm. 2
3.3.9
214
3.3.10-11
207 Anm. 32
3.4.6-12
213 Anm. 51
3.4.9
38 Anm. 67
3.4.12
143 Anm. 127
3.5.7
152 Anm. 149
3.5.13
123
Stellenregister 3.5.15
22 Anm. 31
3.5.21
215 Anm. 57
3.5.23 3.6
275 3.9.10
214 f. mit Anm. 55; 216 Anm. 59
9 Anm. 3
3.9.11
144 Anm. 129; 214
215 Anm. 56
3.9.14
146 mit Anm. 134; 148
3.6.14
213 Anm. 51
3.9.15
146 Anm. 133; 219 Anm. 71
3.6.17-18
152 Anm. 149
3.10.1
183 Anm. 67
3.6.18
214 Anm. 54
3.10.3
233 Anm. 12
3.7.1
219 mit Anm. 68
3.10.8
233 Anm. 12
3.7.1-2
121 Anm. 65
3.11
177 ff.; 188 Anm. 84
3.7.3
219 mit Anm. 69
3.11.1
183 mit Anm. 68
3.7.6
218 mit Anm. 66; 220 Anm. 72
3.11.1-2
179 mit Anm. 60
3.11.3
186 Anm. 79
3.7.7
219 mit Anm. 70
3.7.9
123
3.11.4
185 Anm. 76
3.8.2
106 Anm. 29
3.11.10
193; 233 Anm. 12
3.8.2-3
106
3.8.4
106
3.8.5
101; 107 mit Anm. 30
3.8.5-7
107 mit Anm. 31
3.9.1
233 Anm. 12
3.9.1-3 3.9.4
3.11.11
185 mit Anm. 73
3.11.12
185 mit Anm. 74
3.11.13
25 Anm. 40; 170 Anm. 34; 185 mit Anm. 76
3.11.1314
185 mit Anm. 75
126 mit Anm. 80; 128 Anm. 86; 137
3.11.15
178 mit Anm. 55; 182 Anm. 66; 186
52 mit Anm. 3; 56 mit Anm. 12; 64 ff. mit Anm. 32; 70 f. mit Anm. 35-36; 74 f.; 97 Anm. 1; 101 mit Anm. 18; 117; 118 Anm. 59; 121 Anm. 66; 156 mit Anm. 3
3.11.16
178 mit Anm. 56; 188 mit Anm. 84
3.11.1618
187
3.11.18
178 mit Anm. 57
51 mit Anm. 1; 90 Anm. 61; 94 f. mit Anm. 1; 103 Anm. 23; 104 Anm. 25; 110 Anm. 36; 115 mit Anm. 49; 118 mit Anm. 59; 119 Anm. 61; 121 Anm. 66; 197 mit Anm. 3
3.12
22 Anm. 31; 23
3.12.1
34 Anm. 57
3.12.2-4
34 mit Anm. 55
3.9.6
123; 125
3.12.6-7
34 mit Anm. 56
3.9.6-7
124 Anm. 77
3.13.1
233 Anm. 12
3.9.8
148
3.13.2
25 Anm. 40
3.9.5
3.12.5
33
3.12.6
34 f. mit Anm. 57-59; 86 mit Anm. 53
276 3.14
Stellenregister 25 Anm. 40
4.2.33
3.14.6
49 Anm. 98; 221 Anm. 73
4.2.35
242 Anm. 25
3.14.7
233 Anm. 12
4.2.35-36
241 Anm. 25
4.1.1
183 Anm. 67; 191 Anm. 97
4.2.36
125
4.1.2
18 Anm. 21; 103 Anm. 22; 127 Anm. 84; 152 Anm. 149; 165 Anm. 22; 166 mit Anm. 25; 215 Anm. 58; 233 Anm. 12
4.2.39
45
4.2.40
133 mit Anm. 102
4.1.3 4.1.3-4 4.1.4
4.1.5 4.2
111 mit Anm. 38
4.3
246 Anm. 35
4.3.1
99 Anm. 7; 119 Anm. 61
126 mit Anm. 81
4.3.2
90 Anm. 62; 236 Anm. 17
141
4.3.3-14
231 mit Anm. 5
99; 122 mit Anm. 68; 122 Anm. 68; 126 f. mit Anm. 82-83; 194 mit Anm. 107
4.3.5
231 Anm. 6
4.3.6
231 Anm. 6
4.3.7
231 Anm. 6
4.3.8
231 Anm. 6
101 mit Anm. 18; 124; 153 mit Anm. 151 110 ff. mit Anm. 37; 131 f. mit Anm. 100; 211 mit Anm. 43; 215 Anm. 56
4.3.9
231 Anm. 6
4.3.10-11
231 Anm. 5
4.3.11
80 Anm. 46; 234 Anm. 14
4.3.12
249 Anm. 48; 250 mit Anm. 50
4.3.13
248 mit Anm. 44
4.3.13-14
234 f. Anm. 15; 236 mit Anm. 17
4.3.14
80 Anm. 46; 233 mit Anm. 12; 234 Anm. 14; 238 Anm. 23; 247 Anm. 40
4.3.14-16
247 Anm. 40
4.2.1
131 Anm. 98
4.2.2
215 mit Anm. 57-58
4.2.5
215 Anm. 57
4.2.7
215 mit Anm. 58
4.2.8
131 Anm. 98
4.2.11
99 Anm. 7; 213 f. mit Anm. 51-52; 215 Anm. 56; 221
4.2.12
112
4.2.15
114 mit Anm. 46
4.2.19
114 mit Anm. 48
4.3.15
233 Anm. 11
4.2.22
45; 98 mit Anm. 2
4.3.16
244 mit Anm. 28
4.2.23
187 Anm. 79
4.3.16-17
245 mit Anm. 30
4.2.24
123 mit Anm. 69-70
4.3.17
4.2.25
123 Anm. 70
101; 237 Anm. 19; 244 Anm. 27; 245 mit Anm. 31
4.2.25-26
123; 124 Anm. 74
4.4
199 ff. ff
4.2.25-29
124 mit Anm. 77
4.4.1
187 Anm. 82; 222 mit Anm. 76
4.2.28-29
152 mit Anm. 148
4.4.2
4.2.30
123 mit Anm. 70
120 Anm. 64; 222 mit Anm. 78
Stellenregister
277
4.4.3
120 Anm. 64; 223 f. mit Anm. 81
4.5.7
59 Anm. 16; 70 Anm. 34; 71 f. Anm. 36
4.4.4
225 mit Anm. 85
4.5.7-9
69 mit Anm. 33
4.4.5
202 mit Anm. 17; 222 Anm. 77
4.5.9
4.4.7-8
202 mit Anm. 19
4.4.8
202
26 mit Anm. 41; 27 Anm. 43; 28 mit Anm. 45; 36 Anm. 64; 37 Anm. 65; 72 Anm. 37; 167 mit Anm. 28; 187
4.4.9
199 mit Anm. 8; 203 mit Anm. 20
4.5.10
4.4.10
187 Anm. 82
27 Anm. 43; 33 mit Anm. 53; 56; 57 f. Anm. 14; 59 mit Anm. 17; 145 Anm. 132; 171 Anm. 38
4.4.10-12
199 mit Anm. 9
4.5.11
4.4.11
120 mit Anm. 63; 121 mit Anm. 65
29 Anm. 45; 49 Anm. 100; 58 Anm. 15; 124
4.5.12
144 Anm. 130
4.4.12
199 mit Anm. 10
4.6
104 Anm. 25; 198
4.4.13
80 Anm. 46; 200 f. mit Anm. 12-15; 204; 205 Anm. 27; 229 mit Anm. 97
4.6.1
103 Anm. 22; 117 Anm. 53; 197 Anm. 3; 198 mit Anm. 7
4.6.2
245 Anm. 30
4.4.14
204 mit Anm. 23; 228 Anm. 93
4.4.15-17
204 mit Anm. 24; 228 Anm. 93
4.4.16
204 Anm. 24
4.4.18
203 mit Anm. 21
4.4.19
249 Anm. 45
4.4.19-25
232 mit Anm. 7
4.4.21-25
232 mit Anm. 8
4.4.24
249 Anm. 45
4.6.2-4
197 Anm. 5
4.6.2-6
98; 100
4.6.3
102 mit Anm. 21
4.6.5
102 f. Anm. 22; 196 Anm. 1; 197 Anm. 2
4.6.5-6
196 ff. mit Anm. 1; 197 Anm. 4
4.6.6
102 mit Anm. 21; 103 Anm. 23; 197 Anm. 6; 216 Anm. 60
4.6.7
72 Anm. 36; 98; 104 mit Anm. 24; 197 Anm. 5
4.6.8
109 mit Anm. 34
4.6.8-9
101; 108 mit Anm. 33
4.5
39 Anm. 71; 57; 171 Anm. 38
4.5.1
39 Anm. 72; 89 mit Anm. 59; 119 Anm. 61; 121 Anm. 66; 187 Anm. 82
4.6.9
109 mit Anm. 35
4.5.3-4
171 mit Anm. 40
4.6.10
101 Anm. 15; 103 Anm. 23
4.5.3-5
122 mit Anm. 67
4.6.10-11
98; 100
4.5.4
45
4.6.11
102 mit Anm. 21
4.5.5
58 mit Anm. 15; 77 Anm. 42
4.6.12
216 Anm. 60
4.5.6
51 f. mit Anm. 2; 54 mit Anm. 7; 57 mit Anm. 14-15; 76 ff.; 80 Anm. 46; 82; 87 Anm. 54; 171 Anm. 38
4.6.14
182 Anm. 66
4.7.1
41 mit Anm. 80; 42 f. Anm. 84; 43 mit Anm. 86
278
Stellenregister
4.7.2
235 Anm. 16
2.2
21 mit Anm. 27
4.7.3
235 Anm. 16
2.2-4
10 Anm. 4
4.7.4
235 Anm. 16
2.3
8 Anm. 1; 21 mit Anm. 27
4.7.5
235 Anm. 16
2.8
9 Anm. 3; 165 Anm. 21
4.7.5-6
235 Anm. 16
2.11
8 Anm. 1; 21 mit Anm. 27
4.7.6
238 Anm. 23; 249 Anm. 45
3.10-11
141 f. mit Anm. 121
4.7.9
22 Anm. 31; 43; 49 Anm. 98
3.13
142 Anm. 123
4.7.10
41 Anm. 81; 238 mit Anm. 21; 239 Anm. 24; 249 Anm. 48
3.15
143 mit Anm. 126
4.2
4.8.1
247 mit Anm. 37
217 mit Anm. 61; 218 Anm. 67
4.8.2
24 mit Anm. 39
4.2-3
216 f.; 218 Anm. 67
4.8.5
247 mit Anm. 39; 252 Anm. 54
4.3
217 mit Anm. 63
4.24
26 Anm. 41
4.8.6
149 mit Anm. 140; 248 Anm. 45; 254 Anm. 59
4.8.6-7
149 mit Anm. 139
4.8.7
153 Anm. 153
4.8.8
150 mit Anm. 143
4.8.9
101; 113 Anm. 44
4.8.10
153 Anm. 153
4.8.11
36 Anm. 64; 40 mit Anm. 76; 42 f. mit Anm. 83-84; 92 mit Anm. 65; 113 mit Anm. 44; 144 Anm. 130; 229 Anm. 96; 242 f. Anm. 25; 253 Anm. 55
4.25
144 Anm. 130
5
220 Anm. 72
5.1
22 Anm. 31
5.4
23 Anm. 33; 36 Anm. 63
5.11
220 Anm. 71
5.18-20
237 Anm. 19
5.19
241 Anm. 25
5.20
241 Anm. 25
7.5
142 f. mit Anm. 123
7.12
160 Anm. 11
7.18
231 Anm. 5
7.18-31
143 Anm. 126; 231 Anm. 5
Oikonomikos
7.23
36 Anm. 63
1.7
108 Anm. 33
7.23-27
134 f. mit Anm. 106
1.9
108 Anm. 33
7.28
139
1.10
108 Anm. 33
9.11
36 Anm. 64
1.16-23
77 Anm. 42
9.12
148
1.19
38 Anm. 67
10.1
142 Anm. 123
1.20
184 Anm. 72
10.11
22 Anm. 31; 26 Anm. 41
1.22
36 Anm. 64; 122 Anm. 68
11.3
8 Anm. 1; 21 mit Anm. 27
1.23
79 Anm. 45; 113 mit Anm. 45; 184 Anm. 72
11.8
237 Anm. 19; 241 f. Anm. 25
Stellenregister 11.9
242 Anm. 25; 246 Anm. 34
279 4.44
165 Anm. 22
11.11
242 Anm. 25
4.47
237 Anm. 19
11.12
30 Anm. 49
4.47-48
250 Anm. 50
11.13
22 Anm. 31
4.49
237 Anm. 19
11.19-20
242 Anm. 25
4.50
244 Anm. 27
12.11
63 Anm. 30
4.58
166 Anm. 23
12.11-14
29 Anm. 45; 36 Anm. 64
5.4
108 Anm. 32
12.13
63 Anm. 30
8
20
38 Anm. 67
168 f. mit Anm. 30; 172 f. mit Anm. 45
20.6
136 Anm. 108
8.2
165 Anm. 22
20.15
38 Anm. 67
8.5
251 f. Anm. 53
21.8
140 Anm. 120
8.6
169 Anm. 30
247 Anm. 40
8.10
166 Anm. 23
8.13
166 Anm. 23
Staatsverfassung der Lakedaimonier
8.13-14
169 f. Anm. 32
3.4
8.15
166; 170 mit Anm. 34
8.17
171
21.12
139 mit Anm. 119
Symposion 1.1
191 Anm. 96
2
136 f.
2.9
134 ff. ; 138; 140; 142
2.10
168 Anm. 30
2.12
137 mit Anm. 109
8.19
171 Anm. 37
8.21
17 mit Anm. 19; 176. Anm. 50
8.23
171
8.24
165 Anm. 22
8.27
172 Anm. 44
8.28-29
173 mit Anm. 46
8.32
171 mit Anm. 41
2.17
22 Anm. 31; 26 Anm. 41
2.17-19
22 Anm. 32
2.18
48 f. mit Anm. 98
8.36
172 Anm. 42
2.19
24 Anm. 38
8.41
165 Anm. 22; 168 Anm. 29
4.8
25 Anm. 40
8.43
214 Anm. 54
9.7
168 f. Anm. 30
4.24
58 f. Anm. 15; 62; 82 Anm. 49; 161 Anm. 15
4.25-26
61 f. mit Anm. 23; 82 Anm. 49
Über die Reitkunst 4.2
80 Anm. 46
4.41
25 Anm. 40
5.6
235 Anm. 16
Das Buch bietet eine systematische Untersuchung der Ansichten des Sokrates bei Xenophon. Die so genannten sokratischen Schriften Xenophons werden als autonome intellektuelle Ereignisse ernst genommen und analysiert. So gibt die Arbeit nicht nur eine umfassende Darstellung des Xenophontischen Sokrates, wie sie bisher noch nicht zu finden ist, sondern sie stellt auch eine solide Ausgangsposition für einen vertiefteren Vergleich zwischen dem Xenophontischen und dem Platonischen Denken zur Verfügung.