Xenophon: Erinnerungen an Sokrates [Reprint 2021 ed.]
 9783112526620, 9783112526613

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

XENOPHON ERINNERUNGEN

AN

SOKRATES

PHILOSOPHISCHE

STUDIENTEXTE

XENOPHON

ERINNERUNGEN AN SOKRATES

Ins Deutsche übertragen von Johannes

AKADEMIE-VERLAG

Irmscher

• B E R L I N • 1955

Erschienen im A k a d e m i e -Verlag G m b H , Berlin W 8, M o h r e n s t r a ß e 39 Lizenz-Nr. 202/100/173/55 S a t z , Druck u n d B i n d u n g : I V / 2 / 1 4 - V E B Werlcdruck G r ä f e n h a i n i c h e n 538 Bestell und Verlags-Nr. 4005 P r i n t e d in G e r m a n y

VORWORT Xenophons „Erinnerungen an Sokrates" sind eines der schönsten Zeugnisse pietätvoller Dankbarkeit des Schülers f ü r den geliebten und verehrten Meister und Lehrer, in ihren Konzeptionen in mancher Hinsicht Eckermanns Goethegesprächen vergleichbar. Die exakte Forschung hat längst erwiesen, daß der Xenophontische nicht der wahre Sokrates ist, wenngleich die von jenem gezeichnete Gestalt sicher weit mehr historische Züge trägt als das Idealbild Piatons. Xenophon, der in verhältnismäßig jungen Jahren dem Sokrateskreise angehörte, dessen Neigung und Begabung, wie sein späteres Leben beweist, durchaus aufs Praktische gerichtet waren, war wahrlich nicht die Persönlichkeit, u m aus den okkasionellen Betrachtungen des athenischen Weisen ein philosophisches System zu entwickeln. Was ihn zu Sokrates hinzog, war zweifelsohne nicht so sehr die Lehre als vielmehr die Persönlichkeit des wunderlichen Mannes. E r war ihm, dem u m Generationen Jüngeren, ein vertrauter Freund geworden, an dessen R a t Xenophon seine Lebensführung band; er hatte dem Sproß eines vornehmen Athener Hauses seine Weltanschauung vermittelt u n d ihm so viel an allgemeiner Bildung mitgegeben, wie ein weltgewandter M a n n in der Zeit der Wende vom fünften zum vierten vorchristlichen Jahrhundert benötigte; und, was mehr ist als das, er hatte das Herz des ihm anvertrauten Jünglings aufgeschlossen f ü r alles, was groß und gut u n d edel ist, war f ü r diesen in seinem eigenen Handeln Vorbild geworden fürs ganze Leben. Es ist nicht kalte Verehrung des als überragend anerkannten Geistes, es sind vielmehr Gefühle inniger Liebe

5

und herzlicher Dankbarkeit, die Xenophon für Sokrates hegte. Jeder Leser der „Erinnerungen" wird auch heute noch einen Hauch dieser Gesinnung verspüren, die wohl das Wertvollste an dem Werkchen ausmacht. Ihn in eine gegenwartsnahe deutsche Sprache hinüberzutragen, hat sich die vorliegende Übersetzung zur Aufgabe gemacht, die mit voller Absicht auf alles gelehrte Beiwerk verzichtet, das nur geeignet wäre, die Schrift auf eine andere Ebene zu stellen, als ihren Absichten und Möglichkeiten gemäß ist. Statt dessen wurde die von Diogenes Laertios überlieferte Biographie Xenophons vorangestellt. Sie soll dem Leser die Lebensgeschichte unseres Autors ins Gedächtnis zurückrufen und ihm dabei zugleich einen Eindruck von der Arbeitsweise und den Interessen antiker Kulturhistoriker vermitteln. Berlin, im Frühjahr 1955

6

Johannes

Irmscher

D a s L e b e n des X e n o p h o n von Diogenes Laertios ') Xenophon, des Gryllos Sohn, stammte aus Athen, und zwar aus dem Demos 2) Erchia. Er war ein gebildeter Mann von außergewöhnlich stattlicher Gestalt. Wie man sich erzählt, begegnete er einstens in einer engen Gasse dem Sokrates. Der streckte seinen Stock aus und hinderte dadurch Xenophon am Weitergehen, während er an ihn die Frage stellte, wo man die verschiedenen Lebensmittel zu kaufen erhalte. Als ihm der Angeredete darauf antwortete, erkundigte er sich weiter danach, wo Menschen zu ausgereiften Persönlichkeiten werden könnten. Da Xenophon keinen Bescheid zu geben wußte, rief Sokrates ihn an: „So komm, folge mir und lerne es!" Von da ab war Xenophon sein Hörer. Unter dem Titel „Erinnerungen" hat er als erster Gespräche des Sokrates niedergeschrieben und veröffentlicht. Ebenfalls als erster unter den Philosophen hat er darüber hinaus Geschichte geschrieben. Aristipp 3 ) berichtet im vierten Buche seiner Schrift über das Wohlleben in alter Zeit, er sei in Kleinias 4) verliebt gewesen und habe zu diesem bemerkt: „In meinem jetzigen Zustande sehe ich Kleinias lieber an als alles sonst, was unter den Menschen für schön gilt; für alles andere könnte ich blind werden, nur für meinen Kleinias 1) Griechischer Schriftsteller a u s d e m d r i t t e n nachchristlichen J a h r h u n d e r t , b e k a n n t d u r c h seine z e h n B ü c h e r „ Ü b e r Leben, A n s i c h t e n u n d A u s s p r ü c h e der b e r ü h m t e n P h i l o s o p h e n " , eine ziemlich s y s t e m l o s e Z u s a m m e n stellung v o n teilweise j e d o c h h o h e m Quellenwert ( d e u t s c h als B a n d 5 3 / 5 4 der P h i l o s o p h i s c h e n Bibliothek). 2) Der a t h e n i s c h e S t a a t w a r in d e r klassischen Zeit in zehn V e r w a l t u n g s einheiten, Deinen, a u f g e t e i l t . 3) Über ihn vgl. S. 59 A n m . 1. 4) B r u d e r des Alkibiades (vgl. S. 25 A n m . 2).

7

nicht. Ich hasse die Nacht und den Schlaf, weil ich den Freund dann nicht sehe; dem Tageslicht und der Sonne aber weiß ich höchsten Dank, weil sie ihn mir zeigen." Mit Kyros 1) kam Xenophon auf folgende Weise in Verbindung. Xenophon kannte einen Böotier namens Proxenos, einen Schüler des Gorgias' 2) aus Leontinoi, und dieser war mit Kyros befreundet. Er lebte an dessen Hofe in Sardes und richtete von da aus einen Brief an Xenophon nach Athen, in welchem er ihn aufforderte, sich mit Kyros bekannt zu machen. Xenophon zeigte Sokrates das Schreiben und erbat sich einen Rat. Der Philosoph schickte ihn darauf nach Delphi, um den Gott zu befragen. Xenophon fügte sich, reiste zum Orakel, fragte das aber nicht, ob er sich überhaupt zu Kyros begeben solle, sondern in welcher Art und Weise. Sokrates machte ihm das zwar zum Vorwurf, riet ihm aber dennoch zu reisen. Also kam Xenophon zu Kyros, der ihm nicht minder gewogen wurde als dem Proxenos. Die Ereignisse auf dem Zuge nach Persien und beim Rückmarsch in die Heimat berichtet er uns selber ausführlich. 3) In Feindschaft stand er zu Menon aus Pharsalos, der zur Zeit der Expedition die ausländischen Söldner führte; zu dessen Schande stellte er fest, daß Menon Liebesverhältnisse zu an Jahren älteren Männern unterhalte. Aber auch einen gewissen Apollonides 4) schmähte er seiner durchbohrten Ohren wegen. Nach der persischen Expedition, den Niederlagen in Pontius und dem Vertragsbruch des Odrysenkönigs Seuthes 5) 1) Kyros der Jüngere, persischer Kronprätendent; wan dtesich mit einem Söldnerheer, dem auch Xenophon angehörte, gegen seinen Bruder, den Großkönig Artaxerxes Mnemon, und unterlag diesem 401 in der Schlacht bei Kunaxa. 2) Einer der bekanntesten Sophisten. 3) I n der „Anabasis". 1) Anabasis 3, 1, 31. 5) Fürst eines thrakischen Stammes; nahm die griechischen Söldner des Kyros nach ihrem Rückzug in seine Dienste, hielt sich dabei jedoch nicht an die vereinbarten Bedingungen.

8

ging Xenophon nach Kleinasien zu Agesilaos 1 ), dem König von Sparta, und führte ihm die Soldaten des Kyros als Söldner zu; das Verhältnis der beiden Männer war sehr herzlich. Zu dieser Zeit etwa wurde Xenophon seiner spartafreundlichen Einstellung wegen von den Athenern verbannt. Bei einem Aufenthalte in Ephesos gab er die Hälfte des von ihm mitgeführten Goldes dem Artemispriester Megabyzos in Verwahrung mit dem Beding, daß jener, falls Xenophon im Felde bliebe, davon ein Weihgeschenk anfertigen und es der Gottheit aufstellen sollte; von der anderen Hälfte seines Vermögens schickte er Gaben nach Delphi. Darauf begab er sich mit Agesilaos, der zum Kriege gegen Theben aufgeboten worden war, nach Griechenland, und die Spartaner verliehen ihm die Proxenie 2 ). Später trennte er sich von Agesilaos und reiste nach Skillus, einem Ort in Elis, nicht weit von der Hauptstadt entfernt. Mit ihm reisten auch seine Frau, die nach Demetrios aus Magnesia 3) Philesia hieß, sowie seine beiden Söhne Gryllos und Diodor; letztere führten den Beinamen Dioskuren, wie Deinarchos 4) in seiner Rede gegen Xenophon in Sachen pflichtvergessener Freigelassener feststellt. Dadurch, daß Megabyzos zu den Spielen nach Olympia kam, erhielt Xenophon sein Geld zurück. Er kaufte sich davon ein Landgut, das er der Artemis weihte. Durch seinen Besitz floß der dem ephesischen gleichnamige Selinus. Von nun an lebte Xenophon der Jagd, der Geselligkeit und schriftstellerischer Arbeit, übrigens behauptet Deinarch, die Spartaner hätten ihm Anwesen und Ländereien 1) Der Spartanerkönig Agesilaos II. stand seit dem Frühjahr 396 in Kleinasien in erfolgreichem Kampf gegen die Perser; 394 mußte er wegen des Korinthischen Krieges mit seinem Heer nach Griechenland zurückkehren. 2) Staatliche Gastfreundschaft, eine Form des Bürgerrechts für Angehörige anderer Staaten. 3) Literarhistoriker der Zeit Ciceros. 4) Attischer Redner des vierten Jahrhunderts, politischer Gegner des Deraosthenes. Die hier erwähnte, uns nicht erhaltene Bede richtete sich gegen den Enkel des berühmten Xenophon.

9

geschenkt. Nach dieser Darstellung überließ ihm der Spartiate Phylopidasaußerdem noch in Dardanos 2 ) eingebrachte Kriegsgefangene; über die habe er nach Belieben verfügen können. Weiter wird berichtet, daß die Eleer, als sie gegen Skillus zogen, den Platz einnahmen, da die Spartaner säumten. Damals flüchtete Xenophons Familie mit einer kleinen Anzahl von Sklaven nach Lepreon; er selber begab sich zunächst nach Eids, dann nach Lepreon zu seinen Söhnen und rettete sich schließlich gemeinsam mit seiner Familie nach Korinth, wo er seinen neuen Wohnsitz nahm. Da sich in der Zwischenzeit die Athener zur Unterstützung Spartas entschlossen hatten, schickte er seine Söhne nach Athen, damit sie auf der Seite der Spartaner ins Feld rücken könnten, waren sie doch — so berichtet Diokles 3 ) in seinen Philosophenbiographien — in Sparta ausgebildet. Ohne namhafte Taten vollbracht zu haben, kehrte Diodor aus dem Kriege zurück; sein Sohn führte den Namen seines Bruders. Gryllos dagegen, der als Reiter focht — es war die Schlacht bei Mantineia 4 ), Kephisodor Kommandeur der Kavallerie und Hegesilaois Infanterieführer —, fand, wie Ephoros 5 ) im 25. Buche mitteilt, den Tod in heißer Schlacht. In diesem Kampfe fiel auch Epameinondas 6 ). Zu eben dieser Zeit habe Xenophon bekränzt geopfert. Als ihm der Tod seines Sohnes berichtet wurde, nahm er den Kranz ab; doch wie er erfuhr, daß Gryllos als Held starb, setzte er ihn wieder auf. Einige Quellen behaupten, er habe nicht einmal geweint, sondern gelassen geantwortet: „Ich wußte es, daß ich einen 1) Sonst nicht näher bekannt. 2) Stadt in der Troas, am Hellespont. 3) Biokies aus Magnesia, eklektischer Philosoph des ersten vorchristlichen Jahrhunderts. 4) Ort der Entscheidungsschlacht zwischen Sparta und Theben vom Jahre 362, in welcher die Thebaner siegten, ihr Führer Epameinondas jedoch fiel. 5) Geschichtsschreiber des vierten vorchristlichen Jahrhunderts; sein Werk ist nur fragmentarisch erhalten. 6) Der Führer der Thebaner in ihrem Befreiungskampfe gegen Sparta und ihrem Streben nach Hegemonie.

10

sterblichen Menschen zum Sohne hatte." Nach Aristoteles 1 ) verfaßten damals sehr viele Lob- u n d Grabsprüche f ü r Gryllos, wodurch auch der Vater geehrt werden sollte. In seinem Tiheophrastibuche erzählt Hermippos 2 ), daß sogar Isokrates 3 ) ein Preisgedicht auf Gryllos verfaßte. T i m o n 4 ) dagegen machte die Spottverse: „Langweilig sind sie, die Werke der zwei oder drei auch und viere, Schreiberling'! Xenoplion, Aischines sind audh darunter. Schwächlich' Geschwätz!" Xenophons Leben verlief wie folgt. Im vierten J a h r e der 94. Olympiade 5 ) stand er auf der Höhe seines Lebens u n d nahm unter dein Archontat des Xenainetos 6 ), ein J a h r vor Sokrates' Tode, am Kyroszuge teil. Nach den von dem Athener Stesikleides 7) in seinem Verzeichnis d e r Archonten und Olympiasieger getroffenen Feststellungen fällt sein Tod in das erste J a h r der 105. Olympiade 8 ), unter das Archontat des Kallidemides, in das J a h r des Regierungsantritts Philipps von Makedonien 9 ), des Sohnes des Amyntas. Wie Demetrios aus Magnesia 1 0 ) überliefert, verstaub er zu Korinth in hohem Alter. Seine Fähigkeiten lagen vor allem auf den Gebieten der Pferdezucht, der Jagd u n d des Kriegswesens, wie aus seinen Schriften deutlich wird. Xenophon war ein 1) In dem verlorengegangenen Dialog „Gryllos oder über die R h e t o r i k " . 2) Hermippos von Smyrna, biographischer Schriftsteller, um 200 vor Christus. 3) Athenischer Redner u n d Lehrer der Rhetorik (436—338), in seiner Anlehnung an König Philipp von Makedonien Gegner des Demosthenes. 4) Timon von Phlius (3. vorchristliches Jahrhundert), Anhänger der Skepsis, Meister der parodisch-satirischen Dichtung. 5) 400. 6) 400. 7) Sonst nicht näher bekannter Schriftsteller der alexandrinischen Zeit. 8) 360. 0) Philipp II., der Begründer des makedonischen Balkanreiches, dem auch Griechenland eingegliedert wurde. 10) Vgl. S. 9 Anm. 3.

11

frommer Mann, genau in der Erfüllung seiner Opferpflichten, mit der Eingeweideschau vertraut und ein eifriger Jünger des Sokrates. Er verfaßte an die vierzig Bücher, die verschieden gruppiert werden. Ich nenne die „Anabasis", in welcher er jedem einzelnen Buch, nicht aber dem Gesamtwerk ein Vorwort gab; die „Kyrupädie", die „Griechische Geschichte" u n d die „Erinnerungen"; das „Gastmahl", den „Haushälter", die Schriften über die Beiterei, die Jagd und die Kavallerieführung, die „Apologie des Sokrates", das Werk über die Einkünfte, „Hieron" (oder „Das Tyrannenbuch"), „Agesilaos" sowie Abhandlungen über die athenische und die spartanische Verfassung, welch letztere nach Demetrios aus Magnesia Xenophon nicht zugehört. 1 ) Ferner wird überliefert, er habe sich die Bücher des Thukydides 2 ), die bis dahin noch unzugänglich waren, verschaffen können u n d sie zum R u h m e des Verfassers zur Veröffentlichung gebracht. Wegen seiner gefälligen Ausdrucksweise wurde er als die attische Muse bezeichnet. Aus diesem Grunde herrschte zwischen ihm u n d Plato eine gewisse Verstimmung. Wir besitzen die nachfolgenden Grabschriften: „Nicht nur gegen die Perser zog Xenophon mit Kyros, sondern er sucht' auch den Weg, wie er zur Tugend hinführt. Was er dachte, das zeigt er in seiner Griechengeschichte. Sokrates immer getreu; so er sein Leben lang blieb." Ferner eine weitere, die wie folgt endet: „Mochten dich auch, Xenophon, der Kekropsstadt Bürger vertreiben, weil du zu aller Zeit Kyros' getreuer Freund warst, 1) Diese Auffassung teilt die moderne Forschung nicht: wohl aber hält sie die „Staatsverfassung der Athener" f ü r unxenophonisch. 2) Die Frage, wer die Herausgabe des unvollendeten Geschichtswerks des Thukydides besorgte, ist auch heute noch nicht völlig beantwortet.

12

nahm dich doch Korinthos auf, die gastliche, darin zu wohnen, und du nähmest es an, immer bliebest du dort." An anderer Stelle las ich, seine Blütezeit falle mit der der andern Sokratiker zusammen in die 89.Olympiade 1 ). Istros 2 ) berichtet, seine Verbannung sowohl wie seine Rückkehr gehe auf von Eubulos 3 ) eingebrachte Beschlüsse zurück. Der Name Xenophon erscheint siebenmal: 1. der hier geschilderte Xenophon, 2. Xenophon aus Athen, der Bruder des Pythostratos, des Verfassers einer These'is, der selber neben andern Werken Biographien des Epameinondas und Pelopidas schrieb. 3. ein Arzt aus Kos, 4. der Hannibalhistoriker, 5. ein Sammler von Wundererzählungen, 6. ein Bildhauer aus Paros, 7. ein Dichter der alten Komödie. 1) 424—420. 2) Istros von K y r e n e (um 200 vor Christus), Schüler des K a l l i m a c h o s , Gelehrter und Dichter. 3) Athenischer Politiker des vierten J a h r h u n d e r t s .

13

XENOPHON ERINNERUNGEN AN SOKRATES

ERSTES BUCH

ERSTES KAPITEL

Xenophon widerlegt die gegen Sokrates vorgebrachte Anklage, er verehre die Götter des athenischen Staates nicht1) 1

Oftmals habe ich mir die Frage vorgelegt, wie es nur möglich war, daß Sokrates' Ankläger die Bürger Athens zu dem Glauben bringen konnten, jener sei aus Staatsnotwendigkeit des Todes schuldig. Die gegen ihn gerichtete Anklage hatte nämlich etwa nachstehenden Inhalt: Sokrates. ist erstens straffällig, da er die vom Staate sanktionierten Gottheiten nicht anerkennt und statt dessen neue Dämonen 2 ) einführt, zweitens deshalb, weil er die Jugend verdirbt.

2

Auf welches Beweismaterial haben nur seine Ankläger ihre erste Behauptung, daß er die staatlich sanktionierten Gottheiten nicht auerkenne, gestützt? Jedermann war es doch bekannt, daß Sokrates nicht nur zu Hause, sondern auch auf den öffentlichen Altären der Stadt häufig Opfer darbrachte, und jeder wußte, daß ersieh der Mantik bediente. Nun wurde freilich Sokrates' Behauptung, eine göttliche Stimme in seinem Innern gebe ihm Weisungen, überall erzählt, und von daher stammt augenscheinlich die Beschuldi-

3 gung, daß er neue Dämonen einführe. In Wirklichkeit war er jedoch ebensowenig ein Revolutionär wie all die anderen, die an die Mantik glauben und Vogelerscheinungen, menschliche Stimmen, bestimmte Zufälligkeiten und die dargebrachten Opfer ausdeuten. Diesen ist nämlich sehr wohl bekannt, daß weder die Vögel noch die Menschen, denen sie zufällig begegnen, etwas davon wissen, was dem Fragesteller von 1) Die Kapitelüberschriften sind vom Ubersetzer hinzugefügt, u m eine bessere Übersicht zu ermöglichen. 2) Dämon ist im Sinne des griechischen Sprachgebrauchs als Gottheit zu verstehen. 2 Irmscher, Sokrates

17

Nutzen ist, sondern es vielmehr die Götter sind, die auf solche Weise ihren Willen kundtun, u n d auch Sokrates vertrat keine andere Ansicht. Nur ist es eben so, daß die große Menge leichthin daherredet, daß Vogelzeichen und gewisse zufällige Begegnungen zu einer Tat hindrängten u n d vor einer anderen warnten, während Sokrates seine Aussage seiner Erkenntnis entsprechend dahingehend formulierte, daß seine innere Stimme ihm Weisungen erteile. Und eben nach diesen Weisungen sagte er manch einem aus seinem Bekanntenkreise vorher, was er tun und was er lassen müsse; die sich danach hielten, hatten den Nutzen davon, während die Reue der Unfolgsamen zu spät kam. Niemand wird aber behaupten, daß Sokrates, wenn er so riet, in den Augen seiner Umgebung hätte als schwatzhafter Narr dastehen wollen. Das wäre jedoch geschehen, wenn er angeblich göttliche Inspirationen verkündet hätte, die sich am Ende als Lügen entpuppten. Es liegt also klar, daß er keine Voraussagen gemacht haben würde, wenn er nicht an ihre Erfüllung geglaubt hätte. Und wem anders als einem Gotte hätte er solche Prophezeihungen glauben können? Vertraute er aber den Göttern, wie hätte er d a n n ihre Existenz bestreiten sollen? Doch noch meihr als das tat er für seine Freunde. W e n n es u m alltägliche Angelegenheiten ging, so gab er ihnen den Rat, nach bestem Können u n d Vermögen vorzugehen; handelte es sich dagegen um etwas, dessen Ausgang ungewiß war, so verwies er sie an das Orakel. Auch wer erfolgreich Ökonomie oder Politik treiben wolle, der käme, so meinte er, ohne die Mantik nicht aus. Zu bauen, zu schmieden, die Landwirtschaft zu betreiben, im politischen Leben zu führen, zu organisieren, zu rechnen, hauszuhalten, Truppen zu kommandieren, das alles waren nach seiner Auffassung Fähigkeiten, die m a n sich auch mit der menschlichen Einsicht erwerben könne; das Entscheidende hätten freilich auch dabei sich die Götter selber vorbehalten und den Menschen nicht offen18

bart. Denn wer seinen Acker gut bestellt hat, der weiß doch nicht, wer ihn abernten wird; ein anderer ¡baut ein schöne« Haus, und er vermag doch nicht zu sagen, wer darin wohnen wird; kein Feldherr hat die Gewißheit, daß der Sieg sein ist; unsicher ist es für den Staatsmann, ob seine Politik von Erfolg gekrönt sein wird; jemand, der sich eine schöne Frau nimmt, um daran seine Freude zu haben, weiß nicht, ob sie ihm Kummer bringen wird; wieder einer, der in die herrschenden Kreise einheiratet, kann nicht wissen, ob er nicht 9 gerade dadurch seiner Staatsbürgerschaft verlustig geht. Diejenigen, welche in all diesem Geschehen kein göttliches Wirken erblicken, sondern alles von der menschlichen Vernunft abhängig machen wollen, sind nach Sokrates' Worten von allen guten Geistern verlassen; von solchen guten Geistern verlassen sind aber auch die, welche das Orakel in Dingen angehen, welche die Menschen dank den Göttern erkennen und selber beurteilen können. So fragt zum Beispiel einer, ob es zweckmäßiger sei, jemanden als Kutscher zu nehmen, der mit dem Fahren Bescheid wisse, statt eines, der nichts davon verstünde; ein anderer, ob man zur Seefahrt einem gelernten Steuermann vor anderen den Vorzug geben solle; und wieder andere orakeln um Dinge, die sie durch Zählen, Messen oder Wiegen in Erfahrung bringen könnten. Sokrates vertrat den Standpunkt, wer sich mit solchen Fragen an die Götter wende, vergehe sich gegen ihre Rechtsordnungen. Was die Götter dem menschlichen Verstände zu begreifen gegeben, das müsse man erfassen und danach handeln, so lehrte er; was hingegen nicht deutlich zu erforschen sei, darum solle man mit Hilfe der Mantik die Götter befragen. Denn wem sie gnädig wären, dem würden sie auch ihren Willen zu erkennen geben. 10

übrigens wirkte Sokrates stets in aller Öffentlichkeit. Des Morgens begab er sich in die öffentlichen Wandelhallen und Gymnasien, hielt sich dort den Vormittag über auf und war 2*

19

für den Rest des Tages immer da zu treffen, wo er damit rechnen konnte, mit sehr vielen Leuten zusammenzukommen. E r sprach sehr viel, und jeder, der Lust hatte, konnte ihm zuhören. Keiner hat Sokrates je bei einem Frevel ertappt oder ihn etwas gegen die Religion sagen hören. Im Gegensatz zu den meisten andern Philosophen befaßte er sich nämlich nicht mit dem Wesen des Universums, noch stellte er Betrachtungen an über den Kosmos, von welchem die Sophisten sprechen, oder über die Gesetzmäßigkeiten in den Bewegungen der Himmelskörper; vielmehr prangerte er die, welche solchen Fragen nachgingen, als Toren an. Dabei achtete er vor allem andern darauf, ob diese Leute, weil sie über den Menschen bereits Bescheid zu wissen glaubten, an derartige Probleme herangingen, oder ob sie auf dem richtigen Wege zu sein meinten, wenn sie unter Verzicht auf die Behandlung der mit dem Menschen zusammenhängenden Fragen sich dem Wesen des Göttlichen zuwandten. Oftmals drückte er sein Verwundern darüber aus, wenn es jenen Männern nicht zum Bewußtsein kam, daß in diesen Dingen Menschen eine Lösung nicht finden können; waren doch die, welche sich mit ihren Lehren besonders groß taten, untereinander keineswegs einig, sondern befanden sich in dieser Hinsicht zueinander in derselben Situation wie Wahnsinnige. Denn unter diesen gibt es solche, die sich selbst vor dem Gefahrvollen nicht fürchten, während andere sogar vor harmlosen Dingen Angst haben; manchen scheint es keineswegs unangebracht, in aller Öffentlichkeit über alles unbefangen zu sprechen und alles unbefangen zu tun, während sich andere überhaupt nicht unter die Menschen getrauen; viele zeigen keinerlei Achtung vor Tempeln, Altären und sonstigen Kultstätten, wieder andere erweisen sogar Steinen, 1) Sophist wird hier in der Bedeutung von Philosoph schlechthin gebraucht, also nicht in der Einschränkung auf die bekannte geistige Bewegung des ausgehenden 5. Jahrhunderts und ohne diskreditierende Bewertung.

20

beliebigen Hölzern und Tieren ihre Verehrung. Von denen nun, die sich mit dem Wesen des Universums befassen, hat die eine Richtung die Vorstellung, das Seiende sei etwas Singuläres, während die andere es unzähligemal verkörpert findet; nach den einen befindet sich alles im Fluß, den andern zufolge gibt es keinerlei Bewegung; diese glauben an ein dauerndes Werden und Vergehen, jene leugnen Entstehen 15 sowohl wie Enden. Sokrates stellte dazu folgende Uberlegung an: Die, welche sich mit dem Wesen des Menschen befassen, ziehen aus ihren Studien für sich und alle, die sich anschließen wollen, die praktischen Folgerungen; glauben nun diejenigen, die dem Wesen des Göttlichen auf die Spur zu kommen suchen, daß sie, wenn sie die Gesetzmäßigkeit in allem Geschehen erkannt haben, Wind u n d Regen u n d Reife, und was dergleichen mehr ist, hervorzurufen vermögen? Oder erhoffen sie sich solche Fähigkeiten nicht einmal, sondern wären schon damit zufrieden, daß sie wüßten, 16 auf welche Art diese Erscheinungen zustande kommen? Das also war Sokrates' Meinung über die, welche sich mit solchen Problemen befaßten. Er selbst unterhielt sich immerfort über die den Menschen betreffenden Fragen. Was ist fromm, was ruchlos? Was gefällt, was stößt ab? Was ist recht, was unrecht? Was ist Verstand, was Wahnsinn? Was Tapferkeit, was Feigheit? Was ist der Staat, wer ein Politiker? Was ist Führung und wer ein Führer? W e r über diese Dinge Bescheid wußte, war nach seiner Meinung wahrhaft gebildet, während man die andern mit Recht als Knechtsseelen bezeichne. 17

Wenn Sokrates' Richter ihn in diesen Fragen, zu denen seine Stellung nicht jedermann bekannt war, falsch beurteilten, so ist das nicht zu verwundern; merkwürdig hingegen ist es, wenn sie sich allgemein bekannter Tatsachen 18 nicht erinnerten. So führte er einmal, als er Ratsmitglied geworden war u n d den Ratseid, daß er sein Amt nach den

21

Gesetzen verwalten werde, geschworen hatte, den Vorsitz in der Volksversammlung. Damals bestand das Volk darauf, wider das Gesetz durch eine einzige Abstimmung neun Kommandeure, und zwar Thrasyllos, Erasinides und ihre Kollegen, zum Tode zu verurteilen; Sokrates dagegen war entschlossen, die Abstimmung zu unterbinden. Obgleich er sich dadurch den Zorn der Menge und manche Drohung aus einflußreichem Kreise zuzog, hielt er doch seinen Eid für höhe? als die widergesetzliche Gunstbezeigung der Menge und den Schutz vor B e d r o h u n g . D e n n er glaubte daran, daß göttliche Wesen auf die Menschen achten, nur nicht auf die Weise, wie man landläufig annimmt; danach wissen die Götter zwar mancherlei, sind aber über anderes in Unkenntnis. Nach Sokrates' Auffassung ist dagegen Göttern alles bekannt, Worte, Taten und Gedanken; die Götter sind allgegenwärtig und gebieten über die Menschen auf allen Bereichen. Ich frage mich daher, wie sich Athener zu der Überzeugung bringen ließen, daß Sokrates über die Götter falsche Vorstellungen hege, da er doch weder durch Worte noch durch Taten sich j e gegen die Götter verging, sondern im Gegenteil so sprach und handelte, wie es dem Frömmsten wohl anstehen möchte.

ZWEITES

KAPITEL

Sokrates verführte die Jugend

nicht

Merkwürdig scheint mir ferner die Tatsache, wie mancher Athener sich einreden ließ, daß Sokrates die Jugend verdürbe; dabei war dieser Mann in Dingen der Liebe und des Genusses beherrscht wie kein anderer, im höchsten 1) Zur Sache vgl. Xenophon, Griechische Geschichte 1, 7.

22

Gesetzen verwalten werde, geschworen hatte, den Vorsitz in der Volksversammlung. Damals bestand das Volk darauf, wider das Gesetz durch eine einzige Abstimmung neun Kommandeure, und zwar Thrasyllos, Erasinides und ihre Kollegen, zum Tode zu verurteilen; Sokrates dagegen war entschlossen, die Abstimmung zu unterbinden. Obgleich er sich dadurch den Zorn der Menge und manche Drohung aus einflußreichem Kreise zuzog, hielt er doch seinen Eid für höhe? als die widergesetzliche Gunstbezeigung der Menge und den Schutz vor B e d r o h u n g . D e n n er glaubte daran, daß göttliche Wesen auf die Menschen achten, nur nicht auf die Weise, wie man landläufig annimmt; danach wissen die Götter zwar mancherlei, sind aber über anderes in Unkenntnis. Nach Sokrates' Auffassung ist dagegen Göttern alles bekannt, Worte, Taten und Gedanken; die Götter sind allgegenwärtig und gebieten über die Menschen auf allen Bereichen. Ich frage mich daher, wie sich Athener zu der Überzeugung bringen ließen, daß Sokrates über die Götter falsche Vorstellungen hege, da er doch weder durch Worte noch durch Taten sich j e gegen die Götter verging, sondern im Gegenteil so sprach und handelte, wie es dem Frömmsten wohl anstehen möchte.

ZWEITES

KAPITEL

Sokrates verführte die Jugend

nicht

Merkwürdig scheint mir ferner die Tatsache, wie mancher Athener sich einreden ließ, daß Sokrates die Jugend verdürbe; dabei war dieser Mann in Dingen der Liebe und des Genusses beherrscht wie kein anderer, im höchsten 1) Zur Sache vgl. Xenophon, Griechische Geschichte 1, 7.

22

Grade gegen Kälte, Hitze und Strapazen abgehärtet und derart an,eine mäßige Lebensweise gewöhnt, daß er, obgleich er nur sehr wenig besaß, bequem sein Auskommen fand, 2 ganz abgesehen von den bereits berührten Punkten. Wie hätte er bei solcher Veranlagung andere zu Frevlern, Asozialen, Verschwendern, Lüstlingen oder Faulpelzen machen können? E r brachte im Gegenteil viele von diesem Wege ab, indem er sie auf hohes Menschentum hinwies und in ihnen die Hoffnung erweckte, selber solche Menschen zu werden, 3 wenn sie nur an sich arbeiteten. Dessenungeachtet nahm er es niemals für sich in Anspruch, hierin Lehrer zu sein; aber gerade dadurch, daß er seine Stellung in ein solches Licht rückte, vermochte er in seiner Umgebung die Hoffnung zu erwecken, daß einer, der es ihm nachtäte, zu solcher Ent4

faltung heranreifen könne. Auch seinen Körper vernachlässigte Sokrates in keiner Weise, und die, welche sich in dieser Hinsicht gehen ließen, zogen sich seine Mißbilligung zu. Wenn er auch die Völlerei der Athleten verwarf, so war er doch der Meinung, daß, was das Herz begehre, der Magen auch verdauen könne. Eine solche Lebensweise, behauptete er, sei recht gesund und täte der Sorge um die Seele keinen

5 Abbruch. Dabei trieb er keinerlei überflüssigen Luxus, weder hinsichtlich seiner Kleidung und seiner Schuhe noch bezüglich seiner sonstigen Lebensgewohnheiten. Auch geldgierig machte er seine Zuhörer nicht; denn er brachte sie ja von allen übrigen Begierden ab. Von denen, die seine Untero Weisung begehrten, nahm er kein Geld. Durch diesen Verzicht glaubte er sich seine Freiheit zu wahren, so daß er die, welche sich für ihre Gesellschaft bezahlen ließen, als Sklaven ihrer selbst bezeichnen konnte, insofern für sie die Notwendigkeit bestand, sich stets mit denen zu unterhalten, von 7 welchen sie Geld empfangen hatten. Es wunderte ihn, wenn einer, der sich die Tugend zu lehren erbot, dafür Geld einforderte und, statt in der Erwerbung eines neuen Freundes

23

höchsten Gewinn zu erblicken, die Befürchtung hegte, sein Schüler könne nach Abschluß der Ausbildung dem Lehrer, der ihm so sehr genutzt, den gebührenden Dank abzustatten vergessen. Sokrates machte niemals jemandem derartige An- 8 träge; er glaubte allerdings daran, daß die aus seinem Kreise, die sich zu seinen Auffassungen bekannten, ihr ganzes Leben lang ihm und einander gute Freunde sein würden. Wie sollte ein solcher Mann die Jugend verderben? Man müßte dann schon das Streben nach Vervollkommnung als Verderbnis bezeichnen. J a , aber nach der Meinung des Anklägers veranlaßte 9 Sokrates seine Zuhörer zur Mißachtung der bestehenden Gesetze, indem er behauptete, es sei eine Torheit, die Lenker des Staates auf Grund des Ergebnisses einer Bohnen-Abstimmung zu ernennen, während niemand einen auf solche Weise ermittelten Steuermann, Baumeister, Flötenspieler oder was sonst auch würde haben wollen, obgleich in diesen Berufen weit geringerer Schaden angerichtet werden könne, als ihn die führenden politischen Persönlichkeiten hervorzurufen vermögen. Solche Reden stacheln nach der Auffassung jener die jungen Leute zur Verachtung der bestehenden Staatsordnung an und machen sie aufsässig. Ich bin 10 dagegen der Ansicht, daß die, welche dazu befähigt sind und sich für berufen halten, ihre Mitbürger im günstigen Sinne zu beeinflussen, sich aller Gewaltsamkeit enthalten, aus der Erkenntnis heraus, daß aus der Gewalt Feindschaft und Gefahr erwachsen, während das überzeugende Wort ohne Fährnis in aller Freundschaft das gleiche erreicht. Die nämlich, gegen die Gewalt gebraucht wird, fühlen sich ihrer Freiheit beraubt, und das erzeugt Haß; wer dagegen durch Überzeugung gewonnen wird, nimmt dies als ein Geschenk, und daraus erwächst Liebe. Daher bedienen sich Menschenkenner niemals der Gewalt, wohl aber die, welche zwar rohe Kraft, aber keine Einsicht besitzen. Schließlich braucht, wer 11 24

mit Gewalt zum Ziele zu kommen sucht, nicht wenige Bundesgenossen, keinen einzigen dagegen, wer die Gabe zu überzeugen besitzt; denn er hält sich für befähigt, seine Sache allein auszurichten. Ebensowenig kann es geschehen, daß ein solcher Politiker zum Morde anstiftet; denn wer würde einen andern töten wollen, den er, wenn er lebte, als Anhänger gewinnen könnte? 12 Aber, warf der Ankläger ein, da sind ja noch Kritias und Alkibiades 2), die, nachdem sie Sokrates' Hörer gewesen, den Staat in größtes Unglück stürzten; war doch Kritias zur Zeit der Oligarchie der schlimmste Räuber, Despot und Mörder und, als die Demokratie galt, niemand maßloser, schand13 barer und gewalttätiger als Alkibiades! Ich möchte diese beiden Männer, wenn sie sich gegen ihre Vaterstadt vergingen, nicht in Schutz nehmen; berichten dagegen will ich, 14 wie es zu ihrer Verbindung mit Sokrates kam. Bekanntlich waren diese beiden von einem ursprünglichen Ehrgeiz besessen wie sonst keiner in Athen, wollten alles in ihre Hand bekommen und vor allen übrigen genannt werden; andererseits wußten sie davon, daß Sokrates mit ganz geringen Mitteln in vollster Zufriedenheit lebte, in all seinen Wünschen mäßig war bis zum letzten und doch jeden, mit dem er sich unterhielt, durch seine Gesprächsführung nach seinem Willen 15 lenkte. Wenn Männer von der oben geschilderten Veranlagung das sahen, wer vermag da zu sagen, ob sie mit Sokrates Verbindung suchten, weil ihnen seine Lebensweise und sein 1) Kritias, Piatons Oheim, gehörte im J a h r e 411 der oligarchischen Regierung der Vierhundert und im Jahre 404 nach dem Sturz Athens dem von den Spartanern eingesetzten Schreckensregiment der dreißig Tyrannen an. 2) Alkibiades trat nach dem Nikiasfrieden von 421 an die Spitze der radikaldemokratischen Kriegspartei und war die treibende Kraft bei der Vorbereitung der sizilischen Expedition von 415. Obgleich er wegen des Hermokopidenprozesses zum Landesverräter wurde und, auf spartanischer Seite stehend, seinen Landsleuten großen Schaden zufügte, wurde er dennoch 411 von den gegen die Oligarchie siegreichen Demokraten zurückgerufen und 408 zum unumschränkten Oberfeldherrn ernannt.

25

überlegener Gleichmut imponierten, oder weil sie annahmen, daß sie, wenn sie in seinen Kreis träten, die beste Übung im Reden und Handeln erhalten würden? Nun, ich bin der Auffassung, wenn ihnen ein Gott die Wahl gestellt hätte, ihr ganzes Leben in der Art des Sokrates zuzubringen oder zu sterben, sie würden dem Tode den Vorzug gegeben haben. Aus ihrer Handlungsweise wurde das deutlich; sobald sie sich nämlich ihren Freunden überlegen glaubten, sprangen sie ab und wandten sich der Politik zu, um deretwillen allein sie den Umgang mit Sokrates gesucht hatten. Vielleicht möchte hier jemand den Einwand machen, Sokrates hätte eben seine Hörer erst Weisheit und nur in zweiter Linie Politik lehren sollen. Dem widerspreche ich nicht; aber es ist doch so, daß alle Lehrer ihre Schüler nicht nur durch ihren Unterricht für ihre Bestrebungen zu gewinnen suchen, sondern ihnen darüber hinaus vorleben, wie ihre Lehre es verlangt. Von Sokrates weiß ich nun, daß er in seinem Kreise allezeit eine edle Gesinnung an den Tag legte und über Tugend und Menschentum erhabene Gespräche führte. Mir ist ferner bekannt, daß jene beiden Männer, solange sie sich in Sokrates' Gesellschaft befanden, sich selbst bescheideten, nicht etwa aus Furcht, von Sokrates gestraft oder gezüchtigt zu werden, sondern aus ihrer damaligen Uberzeugung heraus, daß diese Handlungsweise die beste sei. Wieder könnte es sein, daß eine große Anzahl derjenigen, die sich als Philosophen bezeichnen, dagegen einwendet, daß ein Gerechtdenkender niemals ungerecht und ein besonnener Mensch niemals anmaßend sein werde, ebensowenig wie einer, der etwas gelernt habe, auf diesem Gebiete je ohne Kenntnisse sein könne. Ich vermag mich dieser Auffassung nicht anzuschließen; denn es ist meine Erkenntnis, daß ebensowenig wie jemand, der seinen Körper nicht geübt hat, körperliche Leistungen zu vollbringen vermag, ein Mensch, der sich nicht zur Sittlichkeit erzogen, moralisch einwandfrei

26

handeln wird, da er ja gar nicht imstande ist, etwas zu tun 20 oder zu lassen, je nachdem wie es sich gebührt. Daher halten Väter ihre Söhne, selbst wenn diese Verstand genug besitzen, von bösen Menschen fern, in dem Glauben, gute Gesellschaft fördere die Rechtschaffenheit, während schlechter Umgang die Sitten verderbe. Das bezeugt auch das Dichterwort, das wie folgt lautet: „Wackeres lernst du vom Wackern; doch in der Gesellschaft der Bösen suchst du sie häufiger auf, wird dir dein Sinn nur verderbt." !) Oder ein zweites: „Bös ist zuweilen der Mensch, der gute, der anders sonst tüchtig." 2 ) 21 Ich selber vermag das zu bezeugen; weiß ich doch, daß man Verse vergißt, wenn man nicht in der Übung bleibt, und ebenso Belehrungen aus dem Gedächtnis entschwinden, sobald man sich nicht um sie bekümmert. Wer sich aber erst einmal der mahnenden Worte nicht mehr erinnert, der denkt auch nicht mehr daran, wie betroffen er in seinem Herzen war, als in ihm das Verlangen lebte, Maß zu halten. Ist es aber verwunderlich, daß, wer daran nicht mehr denken will, auch das 22 Maßhalten selber vergißt? Ich weiß davon, daß einer, der sich dem Trünke ergeben oder in Liebesaffären verstrickt hat, nicht mehr wie früher sich einzusetzen vermag, wo es notwendig ist, noch dort, wo Zurückhaltung geboten, diese mehr üben kann. Viele zum Beispiel, die, bevor sie sich verliebten, sparsam zu wirtschaften verstanden, sind dazu späterhin nicht mehr in der Lage, und nachdem ihre Mittel aufgebraucht waren, tragen sie keine Bedenken, ihr Geld auf eine Weise zu erwerben, die sie vordem als schandbar abgelehnt hätten. 23 Sollte es also unmöglich sein, daß jemand, der vorher Maß zu 1) Nach Theognis 1, 35 f. 2) Der Verfasser des Verses ist unbekannt.

27

halten wußte, später über seine Grenzen hinausging, oder daß ein anderer, der zu richtigem Handeln befähigt war, in der Folge schwach wurde? Alle guten Anlagen und Eigenschaften bedürfen nach meiner Meinung der Übung, die Besonnenheit aber ganz besonders. Die Begierden, die in demselben Körper wie die Seele ihre Wohnung gefunden haben, drängen danach, diese der Tugend zu entfremden und statt dessen, je eher je lieber, f ü r sich und den Körper dienstbar zu machen. So war es auch bei Kritias und Alkibiades. Solange diese mit Sokrates zusammen waren, vermochten sie unter seiner Mithilfe ihrer schlimmen Triebe Herr zu werden. Nach der Trennung freilich ging Kritias nach Thessalien in die Verbannung und lebte dort mit Menschen zusammen, denen die Anarchie lieber war als jeder Rechtszustand. Alkibiades war seines guten Aussehens wegen der Abgott manch einer Dame der Gesellschaft; wegen seiner Beziehungen im Staate und bei den Bundesgenossen durch eine Legion vornehmer Schmeichler übermütig gemacht und von der großen Menge geehrt, gelangte er leicht zur Macht. Doch genauso wie die, welche in Sportkämpfen leichte Siege erlangen, ihr Training vernachlässigen, vergaß auch Alkibiades seiner selbst. Ist aber bei einem Zusammentreffen so vieler Umstände, wie der Eingebildetheit dieser beiden Männer auf ihre adlige Herkunft, den durch ihren Reichtum begünstigten Übermut, ihren Stolz auf die von ihnen ausgehende Macht, ihre abgöttische Verehrung durch das Volk, die durch all das bedingte charakterliche Verderbnis und ihre langjährige Trennung von Sokrates, ja ist es da zu verwundern, daß sie ihre Grenzen vergaßen? Und da macht dieser Ankläger Sokrates f ü r ihre Vergehen verantwortlich ! Daß sie Sokrates in ihrer Jugend, in einem Alter, 1) Infolge des Sturzes der Vierhundert (411) war Kritias genötigt, außer Landes zu gehen. Er begab sich nach Thessalien, wo er sich auf die Seite der Demokraten schlug und einen Aufstand der Penesten (Heloten) organisierte.

28

da Trotz und Unverstand das Natürliche sind, zum Guten erzog, diese Tatsache scheint dem Ankläger keines Lobes wert. Bei anderem Anlaß pflegt man anders zu urteilen. Welcher Flöten- oder Zitherspieler oder was sonst für ein Lehrer trägt die Schuld daran, wenn seine Schüler, die er gut ausgebildet, zu anderen Lehrern überwechseln und dadurch offensichtlich in ihren Leistungen nachlassen? Welcher Vater, dessen Sohn sich in der Umgebung eines Freundes gut entwickelt, d a n n aber mit einem anderen in Berührung kommt und dadurch verdorben wird, würde den ersten dafür verantwortlich machen? Lobt er ihn nicht vielmehr in dem Maße, in welchem der zweite ungünstig von ihm absticht? J a sogar die Väter selbst, die doch dauernd mit ihren Söhnen zusammen sind, tragen an deren Vergehungen keine Schuld, sofern sie n u r persönlich das Rechte wissen. Gerechterweise m u ß m a n Sokrates nach denselben Gesichtspunkten beurteilen. Hätte er selber Unrecht getan, so würde er mit allem Grund als Übeltäter angesehen worden sein. Wie sollte er aber, wenn er selber ein sittliches Leben führte, an einer Bosheit, die nicht die seinige war, Schuld haben können? Doch schon wenn er selber gar kein Unrecht begangen, sondern nur das Handeln derjenigen, die er auf schlechtem Wege ertappte, gebilligt hätte, wäre er mit Fug und Recht getadelt worden. Nun, als Sokrates merkte, daß sich Kritias in Euthydem verliebte u n d bei diesem körperlichen Liebesgenuß suchte, bemühte er sich, ihn davon abzubringen, indem er ihn darauf hinwies, daß es sklavisch und eines gebildeten Mannes unwürdig sei, den Geliebten, in dessen Augen der Liebende doch als ein wertvoller Mensch erscheinen wolle, nach Bettlerart anzuflehen u n d u m Nachgiebigkeit in einer nicht einmal guten Sache zu bitten. Als Kritias auf diese Mahnungen nicht hörte, sondern sein Werben fortsetzte, da 1) Der sonst nicht näher bekannte Sokratesanhänger Euthydemos wird auch 4, 5. 2 erwähnt.

29

soll Sokrates in Gegenwart zahlreicher anderer u n d auch des Euthydem sich geäußert haben, er habe den Eindruck, daß Kritias unter die Schweine gegangen sei; er wolle sich nämlich an Euthydem reiben wie Schweine an den Steinen. Von da ab haßte Kritias den Sokrates so sehr, daß er sich noch, als er als einer der Dreißig neben Charikles 1 ) das Gesetzgeberamt innehatte, dieser Feindschaft erinnerte und ein Verbot der Pflege der Redekunst erließ, und weil er, so sehr er auch Sokrates mit seiner Feindschaft verfolgte, doch keine Möglichkeit sah, ihm persönlich beizukommen, wandte er hierbei die von der Menge gemeinhin gegen die Philosophen vorgebrachten Argumente 2 ) wider Sokrates und verleumdete ihn auf diese Weise vor dem Volke. Dabei habe weder ich selbst jemals aus Sokrates' Munde Äußerungen in dem angedeuteten Sinne vernommen, noch konnte mir ein anderer berichten, daß er ihn derartige Reden habe führen hören. Gar bald aber wurde alles klar. Als die Dreißig viele ihrer Mitbürger, u n d darunter nicht die Schlechtesten, hinrichteten und ebenso viele zu Schandtaten anstifteten, äußerte sich Sokrates einmal, er fände es merkwürdig, wenn einer, der zum Hirten einer Rinderherde bestellt sei und bei dieser Aufgabe die Herde an Zahl und Qualität verlieren lasse, nicht zugeben wolle, daß er ein schlechter Hirt sei; noch merkwürdiger freilich berühre es ihn, wenn jemand, der die Leitung eines Staatswesens übernommen habe und seine Bürgerschaft nach Zahl u n d Qualität mindere, sich darüber nicht schäme noch sich eingestehe, daß er ein schlechter Staatsmann ist. Als dieser Ausspruch dem Kritias und Charikles hinterbracht wurde, riefen sie Sokrates zu sich, legten ihm das Gesetz vor 1) Charikles gehörte zu den einflußreichsten unter den Dreißig. 2) Sie sind am treffendsten zusammengefaßt von Piaton, Apologie 23 D: . . . daß er (der Philosoph) dem, was im Himmel und unter der Erde ist, nachtrachte, keine Götter glaube und aus Schwarz Weiß mache (in der Übertragung von Matthias Claudius, hrsg. von Bruno Snell, Hamburg 1948, S. 16).

30

und untersagten es ihm, mit den jungen Leuten Unterhaltungen zu führen. Sokrates erkundigte sich darauf, ob er Fragen stellen dürfe, wenn ihm eine von den Verordnungen 34 unklar sei. Das bejahten die beiden. Erwiderte er: „Ich bin entschlossen, den Gesetzen zu gehorchen; damit ich nun aber nicht aus Unwissenheit eine Übertretung begehe, möchte ich das Folgende von euch genau erfahren. Meint ihr, wenn ihr die Redekunst zu lehren untersagt, daß sie es mit der Wahrheit oder der Unwahrheit zu tun hat? Hat sie es mit der Wahrheit zu tun, so würde das bedeuten, daß man aufhören müsse, die Wahrheit zu sagen; im andern Falle, wenn es die Redekunst mit der Unwahrheit hält, muß man sich natürlich 35 bemühen, die Wahrheit zu reden." — Da fuhr Charikles wütend dazwischen: „Wenn du, Sokrates, nicht verstehen willst, so wollen wir es dir deutlicher sagen, daß wir dir jeglichen Umgang mit der Jugend verbieten."—Sokrates darauf: „Damit kein Zweifel besteht, wie weit ich gehen kann, ohne gegen das Verbot zu verstoßen, so setzt mir fest, bis zu welchem Alter die Menschen als Jugendliche anzusprechen sind!" — „Solange wie sie wegen ihrer Unerfahrenheit vom Rate noch ausgeschlossen sind. Meide deshalb die Unterhaltung mit Menschen, die weniger als dreißig Jahre alt sind!" erwiderte 36 Charikles darauf. — Sokrates: „Wenn ich nun etwas kaufen will und der Verkäufer ist noch nicht dreißig, darf ich dann fragen, wieviel die Ware kostet?" — Entgegnete Charikles: „Das wohl; doch hast du die Gewohnheit, auch dann, wenn du weißt, wie sich die Sache verhält, eine Menge Fragen darüber zu stellen. Das laß lieber!" — „Also soll ich, obgleich ich es weiß, keine Antwort geben, wenn ein junger Mann mich zum Beispiel fragt, wo Charikles wohnt oder wo sich Kritias aufhält?" — „Selbstverständlich kannst du das", er37 widerte Charikles. — „Aber mit deinen Reden über Schuster, Zimmerleute und Schmiede wirst du aufhören müssen", setzte ihn Kritias fort, „denn deren Namen sind, so scheint 31

es mir, schon ganz abgenutzt, so oft führst du sie im Munde." — „Darf ich auch darüber nicht mehr sprechen", fragte Sokrates, „wovon f ü r gewöhnlich nach der Unterhaltung über diese Handwerker die Rede ist, über das, was recht und was f r o m m ist, und über all die andern Fragen?" — „Darüber nicht", entgegnete Charikles, „und auch über Hirten nicht. Sonst ist Gefahr, daß auch du den Bestand der Herde verringerst." Damit wurde es klar, d a ß die beiden, als 38 man ihnen die Äußerung vom Hirten und seiner Herde hinterbracht hatte, über Sokrates erbost waren. Hierdurch wäre das Zusammenkommen von Kritias und 39 Sokrates sowie ihr gegenseitiges Verhältnis berichtet. Ich möchte daraus den Schluß ziehen, d a ß jedwede erzieherische Einwirkung nur durch einen sympathetisch veranlagten Menschen möglich ist. Kritias und Alkibiades traten nicht darum mit Sokrates in Verbindung, weil er ihnen sympathisch war, sondern weil sie es sich von vornherein zum Ziel gesetzt hatten, an die Spitze des Staates zu treten; denn sogar während der Zeit, die sie noch mit Sokrates verbrachten, interessierten sie sich für nichts so sehr wie f ü r Gespräche mit führenden Politikern. Von Alkibiades beispielsweise wird 40 folgende Unterhaltung berichtet, die er, noch nicht zwanzig J a h r e alt, mit seinem Vormunde Perikles 1 ), dem damaligen Lenker des Staates, über die Gesetze geführt haben soll: „Kannst du mich wohl, lieber Perikles, darüber unter- 41 richten, was ein Gesetz ist?" — „Das wollte ich meinen", erwiderte der Gefragte. — „So lehre es mich, bei den Göttern!" sagte Alkibiades darauf. „Ich habe nämlich von einigen gehört, die in dem Rufe stehen, rechtliche Männer zu sein, und bin der Überzeugung, daß keiner zu Recht ein solches Lob erlangt, der nicht weiß, was ein Gesetz ist." — „Aber du 42 fragst ja gar nichts Schwieriges, mein lieber Alkibiades, wenn 1) Alkibiades dürfte etwa 451 geboren sein; sein Vater Kieinias fiel 447 bei Koroneia. Das Gespräch würde danach in die Blütezeit des Perikles fallen.

32

du das Wesen der Gesetze erkunden möchtest. Alles das ist Gesetz, was die Volksversammlung gebilligt und beschlossen hat; sie macht in ihren Gesetzen Aussagen darüber, was man tun darf und was nicht." — „Beschließt sie nun, das Gute zu tun oder das Böse?" — „Das Gute natürlich, junger 43 Freund, das Schlechte nicht." — „Welcher Natur sind diese Forderungen aber da, wo, wie in der Oligarchie, nicht das Volk, sondern nur einige wenige zusammentreten, um Gesetze zu geben?" — „Alles, was die Staatsgewalt als zu tun notwendig beschließt und bekanntgibt, ist Gesetz", antwortete ihm Perikles darauf. — „Wenn nun aber ein Tyrann die Macht im Staate hat und den Bürgern vorschreibt, was sie zu tun haben, ist auch das Gesetz?" — „Auch was der regierende Tyrann anordnet, wird als Gesetz bezeichnet." — 44 „Was aber, Perikles, sind dann Gewalt und Gesetzlosigkeit? Findet man sie nicht da, wo der Stärkere den Schwächeren, ohne ihn gewonnen zu haben, kraft seiner Machtfülle das zu tun zwingt, was ihm als geraten erscheint?" — „Da hast du recht", pflichtete ihm Perikles bei. — „Ist es aber nun nicht Gesetzlosigkeit, wenn ein Tyrann seine Bürger, ohne sie von deren Notwendigkeit zu überzeugen, durch gesetzliche Maßnahmen zwingt?" — „Dem stimme ich zu", erklärte Perikles, „und ich nehme die Behauptung zurück, daß das, was der Tyrann ohne die Zustimmung seiner Bürger 45 anordnet, Gesetz sei." — „Bezeichnen wir nun das, was eine Minderheit ohne Zustimmung der Majorität lediglich kraft ihrer Machtstellung zum Gesetz macht, als Gewaltsamkeit oder nicht?" — „Alles, was jemand", antwortete Perikles, „einen andern wider seinen Willen zu tun zwingt, sei es nun mit schriftlicher Anweisung oder ohne eine solche, möchte ich eher als Gewaltsamkeit denn als Gesetzesakt ansprechen." — „Ist es dann Recht oder nicht vielmehr Gewalt, wenn die große Masse, weil sie die Herrschaft über die Besitzenden hat, ohne deren Zustimmung entsprechende 3 Irmscher, Sokrates

33

Gesetze erläßt?" — „Mein lieber Alkibiades", wandte Perikles darauf ein, „auch wir waren, als wir in euerm Alter standen, groß in derlei Disputierkünsten. Solche Dinge klügelten wir zu unserer Übung aus, genauso wie du dich jetzt damit zu befassen scheinst." — Rief Alkibiades: „Ach, wäre ich doch damals bei dir gewesen, Perikles, als du in solchen Erörterungen aiuf der Höhe deiner Kunst standest!" Sobald sich also Kritias und Alkibiades den Politikern ihrer Zeit überlegen dünkten, kamen sie nicht mehr zu Sokrates. Denn erstens fanden sie nicht den geringsten Gefallen daran, und zweitens ärgerten sie sich darüber, daß sie, wenn sie zu ihm gingen, ihrer Fehler überführt wurden. Sie widmeten sich daher ihrer politischen Karriere, um deretwegen sie ja Sokrates aufgesucht hatten. Aber auch Kriton war Sokrates' Hörer, ebenso Chairephon 2 ), Chairekrates, Hermogenes 3 ), Simias 4 ), Kebes, Phainondas 5 ) und andere mehr, die zu Sokrates gekommen waren, nicht um Demagogen oder Advokaten zu werden, sondern u m wahre Bildung zu erlangen und danach im Hause gegen Sklaven, Freunde u n d Verwandte sowie im Staate gegen die Mitbürger recht handeln zu können. Von diesen Männern hat keiner, weder in seiner Jugend noch im Alter, etwas Schlechtes begangen oder deswegen unter Anklage gestanden. Aber Sokrates, behauptete der Ankläger, lehrte, die Eltern zu mißachten. Er redete nämlich seinen Zuhörern ein, daß er sie klüger mache, als ihre Väter es seien, stellte sodann fest, daß es gesetzlich erlaubt sei, sogar den eigenen Vater 1) Die Titelfigur des bekannten Platonischen Dialogs. 2) Die Brüder Chairephon und Chalrekrates gehörten von Jugend an zu den eifrigsten Anhängern des Sokrates. Chairephon war es, der die Befragung des delphischen Orakels, ob jemand weiser sei als Sokrates, einleitete (vgl. Piaton, Apologie 20 E, 21 A). 3) Einer der engsten Freunde des Sokrates (vgl. 4, 8, 4 ff.), Abkömmling einer reichen altathenischen Familie. 4) Simias und Kebes waren 3, 11, 17 zufolge aus Theben gekommen, u m Sokrates zu hören. 5) Nach Piaton, Phaidon 59 C ebenfalls ein Thebaner.

34

zu fesseln, wenn er des Wahnsinns überführt wäre, und zog als Beweis heran, daß der Unwissendere mit Fug und Recht so von dem Klügeren gefesselt werden dürfe. Nun, Sokrates befand es für recht, daß einer, der einen andern seiner Unwissenheit halber in Fesseln legte, selber wieder von denen gebunden würden die sich auf Dinge verstünden, welche ihm unbekannt wären. Von solchen Erwägungen her stellte er oftmals Betrachtungen an über den Unterschied zwischen Wahnsinn und Unwissenheit: Den Wahnsinnigen müsse man um seiner selbst und seiner Freunde willen in Fesseln legen, dagegen täte der, dem es an den notwendigen Kenntnissen gebräche, gut daran, sie sich von denen, welche sie besitzen, anzueignen. 51

Weiter der Ankläger: Sokrates hielt seine Hörer nicht nur dazu an, ihre Eltern gering zu achten, sondern auch ihre sonstigen Angehörigen. Er behauptete nämlich, Verwandtschaft wäre weder in Tagen der Krankheit noch vor Gericht etwas nütze; vielmehr brauche man im ersten Falle einen 52 guten Arzt, im zweiten'einen tüchtigen Rechtsbeistand. Ebenso habe er von der Freundschaft gesagt, daß die Zuneigung allein nichts tauge, wenn der Freund nicht auch zu helfen vermöge. Die allein seien ehrenwert, welche die Notwendigkeiten zu erfassen und zu entwickeln vermöchten. Dadurch, daß er den jungen Leuten einredete, er sei der Allerweiseste und dazu befähigt, auch andere weise zu machen, habe er es dahin gebracht, daß seine Umgebung im Vergleich mit 53 ihm alle übrigen Menschen gering schätzte. Nun, ich weiß, daß Sokrates das alles über Eltern, Verwandte und Freunde gesagt hat, ja mehr noch, daß er behauptete, man müsse den Körper selbst des liebsten Menschen eilends aus den Augen schaffen, nachdem ihn die Seele, die ja allein den 54 Sitz des Denkvermögens darstellt, verlassen. Denn, so argumentierte er, auch zu Lebzeiten entfernt doch ein jeder von seinem Körper, wiewohl er ihn über alles liebt, was ohne

35

Zweck und Nutzen ist, oder beauftragt einen anderen mit dieser Arbeit. Man beschneidet sich Nägel, Haare und Schwielen oder überläßt dieses Entfernen, wenn niaht gar Ausbrennen, dem Arzte, der es unter großen Schmerzen vornimmt und trotzdem dafür noch Geld erhält. Auch den Speichel speit man j a möglichst weit aus, da er, solange er im Munde ist, keinen Nutzen, wohl aber Schaden bringt. Das stellte Sokrates fest, ohne damit behaupten zu wollen, daß man seinen Vater lebendig begraben und sich selber zerfleischen müsse, sondern um zu beweisen, daß, was keinen Sinn hat, nicht geachtet wird. E r forderte daher seine Hörer auf, sich zu bemühen, gebildet und dadurch für ihre Umgebung nützlich zu werden; wenn sie Wert darauf legten, bei Vater, Bruder, Freund oder sonstwem geachtet zu sein, so sollten sie sich nicht auf diese nahe Verwandtschaft verlassen, sondern danach streben, daß sie denen, deren Achtung sie sich wünschten, auch wirklich etwas bedeuteten. Sokrates habe, so behauptete der Ankläger weiter, aus den Sfihriftcn der berühmtesten Dichter die anstößigsten Stellen ausgesucht und, indem er sich auf diese Zitate bezog, seine Anhänger zu Verbrechern und Tyrannen erzogen. Hesiods Wort: „Keine Arbeit bringt Schand', Faulheit ist immer Schand'" 1 ), habe er dahingehend ausgelegt, daß der Dichter dazu auffordere, man solle sich keiner Tätigkeit, auch einer ungerechten oder schandbaren, nicht entziehen, sondern auch sie mit Gewinn ausüben. In Wirklichkeit hatte Sokrates festgestellt, daß Arbeit für den Menschen ein nützliches Gut, Faulheit hingegen ein schädliches Übel sei, und danach die, welche tüchtig schufen und etwas leisteten, als Arbeiter bezeichnet, während er die Spieler und alle, die sonst nichtswürdigen, tadelnswerten Geschäften nachgingen, Faulpelze schalt. Der Dichter hat also ganz recht: „Keine Arbeit bringt Schand', Faulheit bringt immer Schand'." 1) Hesiod, Werke und Tage 811.

36

58

Oftmals habe Sokrates, so behauptete der Ankläger, Homer zitiert, wo es von Odysseus heißt:

„Wenn er sodann von den Königen und Mächtigeren einen da antraf, / trat er zu ihm und faßt' ihn, mit freundlichen Worten ermahnend: / ,Freund, dir schickt es sich niemals, dem Feiglinge gleich zu verzagen; / bleibe du selbst hier stehn und bring auch die andern zum Halten.' / Doch wenn er einen vom Kriegsvolk in Angst und Erregung gefunden, / schlug er ihn hart mit dem Szepter und schalt ihn mit drohenden Worten: / .Bleibe da stehn, Mensch, und achte auf die Befehle von andern, / die mehr gelten als du, elender Feigling und Schwächling, / wirst im Kriege für nichts und für nichts im Rate gerechnet!' " x ) Diese Verse habe Sokrates dahingehend ausgelegt, daß der Dichter es billige, wenn einfache, arme Menschen geschlagen so würden. Nie jedoch hat Sokrates das behauptet; er würde es ja dann für recht befunden haben, selber auf solche Art Schläge zu empfangen. Vielmehr gab er der Meinung Ausdruck, daß man die, die sich weder durch R a t noch durch die Tat nützlich machen und daher, wenn es darauf ankommt, weder im Heere noch in der Verwaltung noch in der Politik etwas leisten, zumal wenn sie überdies noch anmaßend sind, mit allen Mitteln in Schranken halten müsse, ungeachtet 60 ihres vielleicht beträchtlichen Reichtums. Ganz im Gegensatz zu jener Beschuldigung war Sokrates ein großer Menschenfreund. Denn obgleich er sich viele Anhänger, Athener und Stadtfremde, gewann, nahm er doch niemals ein Entgelt für seine Unterweisungen, sondern gab noch allen reichlich von dem Seinen. In diesem Schülerkreise freilich gab es einige, die, was sie an Lehren von ihm umsonst empfangen, für teures Geld an andere weitergaben. Das waren keine Menschenfreunde wie ihr Meister; denn sie lehnten es ab, sich mit denen, die kein Geld geben konnten, 1) Ilias 2, 188—191, 198—202.

37

zu unterhalten. Aber auch in der Welt diente Sokrates dem Ansehen seiner Stadt viel mehr als z. B. Lichas der seiner Freigebigkeit wegen sprichwörtlich wurde, dem Ruhme Spartas. Speiste Lichas nur jedesmal zu den Gyinnopädien 2 ) die Fremden, die nach Sparta kamen, so opferte Sokrates sein ganzes Leben lang seine Habe und brachte jedem, der es nur wünschte, den größten Nutzen; denn wer mit ihm zusammenkam, ging als besserer Mensch hinweg. loh bin daher der Meinung, daß sich Sokrates um seine Heimatstadt Ehre verdiente, nicht aber den Tod. Zur gleichen Auffassung wird gelangen, wer den Gesetzesbestimmungen nachgeht. Nach dem Gesetze steht auf Diebstahl, Raub, Wucher, Einbruch, Freiheitsberaubung, Tempelschändung der Tod. Vor all solchen Vergehen hat sich Sokrates gehütet wie sonst kein Mensch. Seine Heimat hat er in keinen unglücklichen Krieg noch in Aufstand, Verrat oder dergleichen gestürzt. Im Privatleben hat er niemals jemanden an Gut oder Blut geschädigt noch ins Unglück gebracht, ja nicht einmal den Anlaß zu derartigen Beschuldigungen hat er j e gegeben. Wie sollte er also der Klage verfallen ¡sein? Er, der nicht, wie es in der Anklageschrift hieß, die Götter leugnete, sondern sie offensichtlich höher verehrte als sonst einer in der ganzen Welt; er, der nicht, wie sein Kläger ihn beschuldigt hatte, die Jugend verdarb, sondern augenscheinlich die unter seinen Zuhörern, welche schlimmen Begierden folgten, davon abbrachte und ihr Streben auf die vollendetste geistige und seelische Bildung hinlenkte, durch welche Staat und Familie gedeihen. Verdiente, wer so handelte, nicht die höchste öffentliche Auszeichnung? 1) Zeitgenosse des Sokrates, dessen sprichwörtliche Freigebigkeit noch Plutarch, Kimon 10 erwähnt. 2) Die Gymnopädien vereinigten zu Ehren Apolls musische und gymnastische Wettkämpfe.

38

61

62

63

64

DRITTES KAPITEL

VOM Sokrates' Frömmigkeit 1

und Mäßigkeit

Wie nun Sokrates seinem Kreise wirklich half, indem er bald sich tatkräftig selber einsetzte und ein andermal eine Sache gründlich besprach, davon will ich niederschreiben, woran ich mich erinnere. In Dingen der Religion hielt er sich in Wort und Werk offenbar an das, was Pythia auf die Frage, wie man sich zu Opfer, Ahnenkult und dergleichen zu stellen habe, zur Antwort gegeben. Ihr Spruch lautete, daß, wer sich dabei an die Gewohnheit seines Staates halte, recht tue. Danach richtete sich Sokrates und gab andern denselben Rat, während er die, welche nicht so handelten, für

2 verblendete Toren hielt. Zu den Göttern betete er, sie möchten ihm kurzweg das Gute geben; denn die Götter wüßten ja am besten, was gut sei. Wenn manche um Gold, Silber, Macht und dergleichen mehr beteten, so mutete ihn das nicht anders an, als wollte jemand um ein Würfelspiel, Gelegenheit zu einer Schlacht oder sonst einem Geschehnis bitten, 3 dessen Ausgang vollkommen ungewiß ist. Wenn er aus seiner geringen Habe ein kleines Opfer brachte, so glaubte er dennoch, nicht jenen hintanstehen zu müssen, die aus reicher Fülle eine große Menge darbrachten. Denn, so sagte er, es würde um die Götter nicht gut stehen, wenn sie sich über große Opfer mehr als über kleine freuten. Oftmals müßten sie nämlich sonst dem, was die Sünder ihnen darbrächten, den Vorzug geben vor den Opfern der Rechtschaffenen. Das Leben wäre aber nicht mehr lebenswert, wenn das, was aus den Händen der Sünder kommt, den Göttern erwünschter sein sollte als das, was ihnen die Frommen darbieten. Somit vertrat Sokrates den Standpunkt, daß sich die Götter 39

dann am meisten freuten, wenn die frömmsten Menschen sie ehrten. Oft lobte er das Wort: „Bringe den Göttern dein Opfer nach Kraft und nach bestem Vermögen!" u n d empfahl diese Mahnung „Nach bestem Vermögen" f ü r das Verhältnis zu Freunden und Gästen u n d jede andere Lebenslage auch. W a r er des Glaubens, ein göttliches Zeichen emp- 4 fangen zu haben, so hätte man ihn eher dazu bringen können, einen blinden, des Weges unkundigen Führer an Stelle eines sehenden, in der Gegend erfahrenen zu wählen, als daß man ihn überredet haben würde, wider dieses Zeichen zu handeln. Denen warf er ihre Torheit vor, die sich gegen die göttlichen Zeichen wehrten, u m ihren geringen Ruf bei den Menschen zu wahren. Selber achtete er alles Menschenwerk gering gegenüber einer göttlichen Weisung. Psychisch und physisch hatte er sich eine solche Lebens- s art anerzogen, die, normale Verhältnisse vorausgesetzt, einem Menschen ein sorgenfreies, gesichertes Auskommen ermöglichte u n d ihn vor großem Aufwand bewahrte. Derart schlicht u n d sparsam war er, daß ich es mir nicht vorstellen kann, daß jemand so wenig sich erarbeitete, um nicht das zu erhalten, womit Sokrates sich begnügte. E r aß n u r solange, wie er mit Lust aß, und kam bereits in solchem Zustande zu Tisch, daß ihm der Hunger als Zukost gedient hatte. Jedes Getränk war ihm angenehm, da er nicht trank, wenn ihn nicht dürstete. Den meisten wird es, wenn sie zu Gast ge- 6 beten sind, sehr schwer, sich im Zaume zu halten, u m nicht über den Hunger hinaus zu essen; Sokrates vermochte sich darin leicht zu beherrschen, wenn er einmal einer Einladung folgte. Denen, die das nicht konnten, gab er den Rat, Speisen und Getränke zu meiden, welche anreizen, ohne Hunger zu essen u n d ohne Durst zu trinken; diese seien es auch, welche Leib, Kopf u n d Herz schädigten. Scherzend fügte er hinzu, 7 er glaube, auch Kirke habe auf solche Weise ihre Gäste zu 1) Hesiod, Werke und Tage 336.

40

Schweinen gemacht x ), Odysseus dagegen habe, da Hermes ihn väterlich gemahnt und er auch sonst mäßig lebte, davon nicht mehr angerührt, als, um satt zu werden, notwendig 8 war, und sei darum kein Schwein geworden. Halb im Scherz, halb im Emst sprach Sokrates über diese Dinge. Den Liebesgenuß mit schönen Jünglingen riet er mit aller Kraft zu meiden. Denn wer davon ergriffen sei — das war seine Meinung —, der werde schwerlich die Vernunft behalten können. Als er nun bei einer Gelegenheit erfuhr, daß Kritobulos 2 ), Kritons 3 ) Sohn, den Sohn des Alkibiades 4), einen Jüngling von schöner Gestalt, geküßt hatte, richtete 9 er in Kritobulos' Gegenwart an Xenophon die Frage: „Sag mir doch, Xenophon, meintest du nicht auch, daß Kritobulos eher zu den ruhigen Menschen gehöre als zu den leidenschaftlichen, daß er mit Vorbedacht handele, nicht aus Unverstand und Übermut?" — „Ganz gewiß", erwiderte Xenophon. — „Nun, so denk daran, daß er jetzt ein schrankenloser Hitzkopf ist! Er würde sich bedenkenlos gegen Schwerter 10 stürzen oder ins Feuer springen." — „Wobei beobachtetest du ihn, daß du zu dieser Auffassung kamst?" fragte Xenophon. — „Weißt du es denn nicht, daß er es gewagt hat, Alkibiades' Sohn zu küssen, der sehr schön von Antlitz und Gestalt ist?" — „ J a " , erwiderte Xenophon darauf, „aber wenn das wirklich etwas so Waghalsiges ist, dann, denke ich, würde n ich diese Gefahr auch durchstehen." — „Mein Lieber", antwortete ihm Sokrates, „was glaubst du schon Gutes zu genießen, wenn du küßtest? Wärst du nicht auf der Stelle unfreier Sklave? Wendetest viel auf für schädliche Freuden? Fändest keine Zeit mehr, dich um echte Werte zu bemühen? Würdest statt dessen gezwungen, dich mit Dingen zu befassen, 1) 2) 3) 4)

Vgl. Homer, Odyssee 10, 229 ff. Gehörte wie sein Vater zum engeren Kreise des Sokrates. Vgl. S. 34 Anm. 1. Vgl. S. 25 Anm. 2.

41

um die sich nicht einmal ein Narr kümmerte?" — „Bei Gott", fiel Xenophon ein, „du siefest ja die Macht eines Kusses für gewaltig an." — „Und darüber wunderst du dich?" entgegnete Sokrates. „Weißt du nicht, daß die Spinnen, die doch noch keinen halben Obolus groß sind, durch die bloße Berührung ihres Mundes dem Menschen solche Schmerzen zuzufügen vermögen, daß er ohnmächtig wird?" — „Ei freilich, Sokrates; beim Stiche infizieren ihn die Spinnen." — „Daß aber die schönen Menschen ihre Liebhaber durch ihre Küsse ebenfalls infizieren, das willst du Dummkopf nicht glauben, weil du es nicht sehen kannst", fuhr darauf Sokrates ihn an. „Weißt du nicht, daß dieses Untier, das die Leute als Schönheit und Üppigkeit bezeichnen, dadurch um so viel schlimmer ist als die Spinnen, als diese ihr Gift nur bei unmittelbarer Berührung, jenes hingegen ohne ein solches Zusammentreffen, sondern schon bei bloßem Ansehen, ja sogar von fernher infizieren kann, daß davon die Menschen den Verstand verlieren? Darum, lieber Xenophon, gebe ich dir den Rat, eilends davonzugehen, wenn du eines schönen Menschen ansichtig wirst. Und du, Kritobulos, solltest für längere Zeit verreisen; vielleicht, daß du unterdes gesund wirst!" So vertrat Sokrates die Auffassung, daß die, welche ihrer selbst in Dingen der Liebe nicht sicher wären, sich an solche Möglichkeiten halten sollten, zu denen ohne ein körperliches Verlangen kein Bedürfnis bestünde, die aber andererseits, wenn ein solches vorhanden, keinen Schaden anrichteten. Er selbst war in dieser Hinsicht offensichtlich derart veranlagt, daß es ihm leichter fiel, an den schönsten und kraftstrotzendsten Männern leidenschaftlos vorüberzugehen, als anderen an häßlichen, reizlosen Gestalten. Das also waren Sokrates' Ansichten über Speise, Trank und Liebe, und er meinte, dabei nicht weniger auf seine Kosten zu kommen als die, welche deswegen großen Aufwand trieben, während er doch viel geringere Betrübnis litt als jene.

42

VIERTES

Sokrates

beweist

KAPITEL

die Existenz

von

Göttern

Wenn manche, gestützt auf gewisse Nachrichten über Sokrates' Wirksamkeit, der Meinung sind, er habe es zwar aufs beste verstanden, Menschen auf ein Tugendideal hinzuweisen, sei aber nicht imstande gewesen, es in ihnen zu verwirklichen, so mögen diese Kritiker nicht nur daran denken, daß er die, welche alles zu wissen glaubten, um sie zurechtzuweisen, durch Fragen eines andern belehrte, sondern sich auch jener Gespräche erinnern, die er den ganzen Tag über mit seinen Freunden führte, und sollen dann urteilen, ob er die Menschen, mit denen er Umgang hatte, zu bessern vermochte. Zuerst will ich ein Gespräch berichten, das er mit Aristodem 1 ), der den Beinamen „Der Kleine" trägt, über das Göttliche führte. Sokrates hatte nämlich gehört, daß dieser Aristodem weder den Göttern opferte noch sich der Mantik bediente, im Gegenteil die, welche das taten, belachte. Fragte er ihn: „Sag mir, lieber Aristodem, gibt es Menschen, für die du ihres Könnens wegen Bewunderung hegst?" — „Ganz gewiß", erwiderte jener. Darauf Sokrates: „So nenn mir ihre Namen!" — „Auf dem Gebiete der Epik bewundere ich Homer am meisten, in der Dithyrambendichtung Melanippides 2 ), auf dem Felde der Tragödie Sophokles, unter den Bildhauern Polyklet, unter den Malern Zeuxis 3 )." — „Wer nun, meinst du, verdient größere Achtung, die, welche unsinnige, unverständige Gestalten darstellen, oder jene, 1) Nachher einer der vertrautesten Anhänger des Sokrates: Piaton, Gastmahl 173 B und 218 B. 2) Zeitgenosse des Sokrates, ohne besondere Nachwirkung. 3) Ebenfalls Zeitgenosse des Sokrates, nach den antiken Schriftquellen einer der größten Maler des Altertums.

43

deren Motive verständige lebende Wesen bilden?" — „Selbstverständlich die letzteren, sofern ihre Tätigkeit nicht aus einem Zufall, sondern aus bewußter Überlegung erwachsen ist." — „Da es nun Werke gibt, deren Existenzberechtigung sich nicht ohne weiteres angeben läßt, und andere, deren Nutzbarkeit augenscheinlich ist, so sag mir, welche du als Produkte des Zufalls und welche du als Ergebnis geistiger Tätigkeit ansiehst!" — „Notwendigerweise müssen die nutzbar zu machenden Schöpfungen des Geistes sein." — „Meinst du also nicht auch, daß der, der im Anfang die 5 Menschen schuf, ihnen zu ihrem Nutzen Sinnesorgane beigab, Augen, um das Sichtbare zu sehen, Ohren, um das Hörbare zu hören? Und was wären uns alle Düfte nütze, hätten wir nicht Nasen bekommen! Wieviel schmeckten wir von Süß und Herb und all den Genüssen, die durch unseren Mund gehen, wenn uns, diese zu beurteilen, nicht eine Zunge gewachsen wäre? Deutet dir schließlich nicht auch e jener Umstand auf ein vorausschauendes Wirken, daß, wenn das Auge müde wird, die Lider es wie durch eine Tür abschließen, um sich, wenn man seiner bedarf, wieder zu öffnen, während sie zur Schlafenszeit geschlossen bleiben? Damit auch die Winde keine Gefahr bringen können, sind nach Art eines Siebes die Wimpern angewachsen; durch die Brauen ist nach oben hin ein Gesims gebildet, so daß auch der Schweiß von der Stirn keinen Schaden stiften kann; das Ohr nimmt alle Geräusche auf und wird doch niemals voll; Vorderzähne besitzen alle Lebewesen, um zuzubeißen, Backenzähne, um von diesen die Nahrung zu übernehmen und zu zerkleinern; der Mund, durch welchen alles in den Körper gelangt, was Lebewesen begehren, hat seine Stelle in der Nähe von Augen und Nase; da die Exkremente Ekel hervorrufen, sind ihre Kanäle in möglichst weiter Entfernung von den Sinnesorganen geführt. Vermagst du noch, da dies alles so vorausschauend angelegt ist, daran zu zweifeln, ob dabei der Zufall 44

7 oder der Geist im Spiele war?" — „Bei Gott nicht", antwortete der Gefragte, „wenn man im Gegenteil dies alles betrachtet, muß man auf einen weisen, von Liebe zur Kreatur erfüllten Schöpfer schließen." — „Denk ferner an den Zeugungstrieb, an den Drang, die Brut zu pflegen, an den Lebenswillen der Geschöpfe, welchem eine gleichstarke Todesfurcht gegenübersteht!" — „Gewiß, auch das geht auf das Wirken einer Macht, welche das Dasein lebendiger Wesen beschlos8 sen, zurück." — „Und du selber hältst dich für vernunftbegabt?" — „So frag mich, und ich will dir Antwort geben!" — „Anderswo aber, glaubst du, gibt es nirgends eine Vernunftbegabung, obgleich dir doch bekannt ist, daß du in deinem Körper von dem festen Element, das in großer Menge vorhanden ist, nur einen geringen Teil besitzest und ebenso von der Feuchtigkeit, die man auch zahlreich antrifft, wie ja überhaupt dein Körper aus kleinen Mengen auch der übrigen, zahlreich vorhandenen Substanzen aufgebaut ist? Den Verstand hingegen, meinst du, da es ihn sonst nicht gibt, durch einen günstigen Zufall an dich gerissen zu haben, und dieser gewaltige, reiche Kosmos hat nach deiner Auffassung 9 durch pure Unvernunft seine Ordnung gefunden." — „Ja, bei Zeus, sehe ich doch nicht die Meister, wie ich bei den Dingen, die sich hier abspielen, die Schöpfer erkenne." — „Nun, deine eigene Seele siehst du nicht, die doch Herrin über deinen Körper ist; danach kannst du freilich behaupten, daß du nichts mit Überlegung, sondern alles nach Schickung des 10 Zufalls tust." — Aristodem erwiderte darauf: „Keineswegs, Sokrates, übersehe ich das Göttliche; ich halte es jedoch für viel zu erhaben, als daß es meines Dienstes bedürfte." — Sokrates: „Eben weil es so erhaben ist und sich deiner denu noch annimmt, müßtest du es um so mehr verehren." — Antwortete Aristodem: „Merk dir, wenn ich glaubte, daß die Götter sich auch nur im geringsten um die Menschen bekümmern, daß ich sie dann nicht vernachlässigen würde!" — 45

„Also du meinst, daß der Mensch ihnen vollkommen gleichgültig ist? Nun, erstens haben sie ihm als einzigem unter allen Lebewesen aufrechte Haltung verliehen; dadurch kann er weiter sehen, besser den Blick nach oben richten und leichter Gefahren vermeiden. Zweitens gaben sie den andern Lebewesen Füße, die ihnen lediglich die Fortbewegung ermöglichen; dem Menschen dagegen bildeten sie außerdem Hände, welche die Uberzahl jener Güter schaffen, durch die unsere Glückseligkeit größer ist als die der Tiere. Die Zunge, welche doch alle Wesen besitzen, befähigten sie ausschließlich beim Menschen dazu, daß sie durch mannigfaltige Bewegungen innerhalb des Mundes Laute hervorbringen und wir einander alles mitteilen können, was wir begehren. Als sie den Tieren die Freuden der Liebe verliehen, beschränkten sie sie auf eine bestimmte Zeit des Jahres, uns hingegen gewähren sie sie ohne Unterbrechung bis ins Alter hinein. Indessen beschloß der Gott nicht nur, für den Körper des Menschen zu sorgen, sondern, was mehr ist, er begnadete ihn auch mit der herrlichsten Seele. Denn welches Wesens Seele sonst hat zuerst die Wirklichkeit der Götter, die die Schöpfer aller Dinge sind, erfühlt? Welches Geschlecht außer dem menschlichen verehrt die Götter? Welche Seele wäre besser befähigt als die des Menschen, um vor Hunger, Durst, Kälte und Hitze zu bewahren, Krankheiten zu begegnen, Stärke zu üben oder zum Lernen zu gewöhnen, welche eher imstande, sich auf das zu besinnen, was sie gehört, gesehen oder erfahren hat? Ist es dir denn nicht klar, daß im Vergleich zu den anderen Kreaturen die Menschen wie die Götter leben, da sie ihnen ihrer Natur nach sowohl körperlich wie seelisch überlegen sind? Denn weder ein Wesen, das zwar menschliche Vernunft, daneben aber Rindsgestalt besäße, könnte ausrichten, was ihm gefiele, noch vermögen die Tiere, die wohl Hände haben, aber doch nicht vernunftbegabt sind, mehr als die andern. Du freilich, der du diese beiden wert46

vollen Gaben verliehen erhieltest, willst nicht glauben, daß die Götter für dich sorgten. Was also müßten sie tun, daß 15 du an ihre Fürsorge glaubtest?" — „Sie müßten Ratgeber schicken, um mir zu sagen, was ich tun und was ich lassen soll, so, wie du behauptest, daß sie dir sie sendeten." — „Wenn sie den Athenern auf eine Anfrage hin auf dem Wege der Mantik etwas kundtun, glaubst du nicht, daß sie dann auch zu dir sprechen, oder wenn sie dem Griechenvolke oder gar der ganzen Menschheit durch Wunderzeichen etwas verkünden? Nehmen sie vielleicht dich allein aus und vernachl« lässigen dich so? Meinst du etwa, die Götter hätten den Menschen den Glauben daran gegeben, daß sie, die Götter, imstande sind, ihnen, den Menschen, Gutes und Böses zu tun, wenn sie nicht dazu die Macht hätten, und denkst du, die Menschen würden diesen Betrug die ganze Zeit nicht gemerkt haben? Erkennst du nicht, daß gerade die ältesten und weisesten menschlichen Gemeinschaften, Staaten und Völkerschaften die stärkste Religiosität zeigen, ferner daß die Menschen in dem Alter, da sie die meiste Lebenserfahrung be17 sitzen, sich die Götter besonders angelegen sein lassen? Denke daran, lieber Freund, daß auch deine Vernunft deinen Körper, den sie bewohnt, nach ihrem Gutdünken behandelt! Folglich muß man annehmen, daß auch der Weltgeist alles nach seinem Wohlgefallen richtet, und darf nicht glauben, daß, während dein Auge viele Stadien überschauen kann, das des Gottes nicht in der Lage sei, alles zugleich zu betrachten, und daß ferner du zwar die Möglichkeit hast, über das, was hier am Ort und in Ägypten und auf Sizilien geschieht, gleichzeitig nachzudenken, die göttliche Vernunft hingegen außer18 stände ist, alle Dinge zur selben Zeit zu besorgen. Wie du nun, wenn du anderen Menschen Ehrerbietung erweist, am besten erfährst, wem an deiner Hochachtung gelegen ist, und dadurch, daß du selber gefällig bist, erkennen kannst, auf wen du rechnen darfst, oder wie du, wenn du Ratschläge erteilst, die

47

verständigen Menschen kennen lernst, so versuch es doch auch einmal mit den Göttern, ob sie dir in Dingen, die den Menschen verborgen sind, werden raten wollen, wenn du ihnen dienst! Du wirst dann erkennen, daß die Götter so groß und mächtig sind, daß sie zu gleicher Zeit alles sehen, alles hören, überall sein und alles besorgen können." Ich meine, durch solche Reden bewirkte Sokrates bei seinen Zuhörern, daß sie nicht nur, wenn andere auf sie sahen, keine vor Göttern und Menschen schandbaren Handlungen begingen, sondern auch dann, wenn sie mit sich allein waren; hatten sie doch die Erkenntnis gewonnen, daß nichts, was sie tun würden, den Göttern verborgen sein könnte.

FÜNFTES KAPITEL

Selbstbeherrschung

der Grund aller Tugend

Da auch die Selbstbeherrschung eine edle Mannestugend ist, so laßt uns sehen, ob Sokrates sie förderte, wenn er darüber folgende Reden führte: „Ihr Männer, wenn es jetzt Krieg gäbe und wir wollten einen Mann finden, der uns selber rettete und dem Feinde den größten Schaden zufügte, würden wir dann einen erwählen, von dem wir wüßten, daß er ein Völler, ein Säufer, ein Lebemann, ein Feigling oder ein Langschläfer ist? Wie sollten wir glauben können, daß solch ein Mensch uns zu beschützen oder die Feinde niederzuwerfen imstande sei? Werden wir, wenn wir an unserm Lebensende jemandem unsere Söhne zur Erziehung, unsere unverheirateten Töchter zur Betreuung und unser Geld zur Verwaltung übergeben müßten, werden wir das alles einem Charakterschwachen anvertrauen? Möchten wir einem zügellosen Sklaven unsere Herden, unsere Speicher oder die Aufsicht

48

verständigen Menschen kennen lernst, so versuch es doch auch einmal mit den Göttern, ob sie dir in Dingen, die den Menschen verborgen sind, werden raten wollen, wenn du ihnen dienst! Du wirst dann erkennen, daß die Götter so groß und mächtig sind, daß sie zu gleicher Zeit alles sehen, alles hören, überall sein und alles besorgen können." Ich meine, durch solche Reden bewirkte Sokrates bei seinen Zuhörern, daß sie nicht nur, wenn andere auf sie sahen, keine vor Göttern und Menschen schandbaren Handlungen begingen, sondern auch dann, wenn sie mit sich allein waren; hatten sie doch die Erkenntnis gewonnen, daß nichts, was sie tun würden, den Göttern verborgen sein könnte.

FÜNFTES KAPITEL

Selbstbeherrschung

der Grund aller Tugend

Da auch die Selbstbeherrschung eine edle Mannestugend ist, so laßt uns sehen, ob Sokrates sie förderte, wenn er darüber folgende Reden führte: „Ihr Männer, wenn es jetzt Krieg gäbe und wir wollten einen Mann finden, der uns selber rettete und dem Feinde den größten Schaden zufügte, würden wir dann einen erwählen, von dem wir wüßten, daß er ein Völler, ein Säufer, ein Lebemann, ein Feigling oder ein Langschläfer ist? Wie sollten wir glauben können, daß solch ein Mensch uns zu beschützen oder die Feinde niederzuwerfen imstande sei? Werden wir, wenn wir an unserm Lebensende jemandem unsere Söhne zur Erziehung, unsere unverheirateten Töchter zur Betreuung und unser Geld zur Verwaltung übergeben müßten, werden wir das alles einem Charakterschwachen anvertrauen? Möchten wir einem zügellosen Sklaven unsere Herden, unsere Speicher oder die Aufsicht

48

über die Feldarbeiten übertragen? Würden wir einen solchen Mann selbst ohne Lohn als Diener und Einkäufer annehmen 3 wollen? Wenn wir aber einen Charakterschwachen nicht einmal als Sklaven nehmen wollten, mit wieviel mehr Berechtigung werden wir uns dann davor hüten, selber so zu werden! Denn im Gegensatz zum Habgierigen, der, wenn er andern ihr Geld nimmt, selber reich zu werden vermeint, ist der Charakterschwache nicht etwa den andern zum Schaden und sich selber zum Nutzen, sondern wird seinen Mitmenschen zum Verderben, weit mehr aber noch sich selbst, insofern man es als das größte Übel ansehen muß, wenn einer nicht nur sein Haus, sondern auch seinen Körper und seine 4 Seele zugrunde richtet. Wer wollte bei einem Menschen froh werden, von dem er genau weiß, daß er sich an Trank und Speise mehr freut als an guten Freunden, daß ihm Dirnen lieber sind als seine Kameraden! Muß nicht jeder Mann, der in der Selbstbeherrschung das Fundament aller Tugend sieht, 5 diese vor allem andern in seinem Herzen verankern? Wer vermöchte ohne sie etwas Rechtschaffenes zu lernen oder mit Erfolg auszuüben? Befindet sich nicht, wer seinen Gelüsten frönt, körperlich wie seelisch in Unordnung? Bei Hera, ich meine, ein freier Mann sollte darum beten, daß er niemals ein solcher Sklave seiner selbst werde, und wer zum Knecht dieser Triebe geworden, der müßte die Götter anflehen, ihm gute Herren zu verleihen. Nur so, meine ich, kann er gerettet werden." 6

Das waren Sokrates' Worte. Größere Selbstbeherrschung noch als in Worten bewies er in seiner Lebensführung. Denn er war nicht nur Herr seiner leiblichen Triebe, sondern auch der Geldgier; wer nämlich von jedem beliebigen Geld annehme, der, meinte er, mache es zu seinem Herrn und leiste schlimmen Sklavendienst.

4 Irmscher, Sokrates

49

SECHSTES K A P I T E L

Sokrates

verteidigt

seine

Lebensprinzipien

Nicht vergessen werden darf schließlich auch, was Sokrates 1 zu dem Sophisten Antiphon 1 ) sprach. Antiphon wollte nämlich Sokrates die Hörer ausspannen, k a m daher z u ihm und sagte in deren Gegenwart: „Ich dachte immer, lieber So- 2 krates, daß die, welche sich mit Philosophie befaßten, davon glücklicher werden müßten; bei dir dagegen habe ich den Eindruck, als hättest du gerade die gegenteilige Frucht der Philosophie genossen. Denn du führst ein Leben, bei dem ein Sklave seinem Herrn davonlaufen würde, ißt und trinkst das Schlechteste v o m Schlechten, bist nicht nur unansehnlich, sondern auch unzulänglich gekleidet, indem du sommers wie winters dasselbe trägst, bist ohne Sandalen und ohne Rock. Trotzdem nimmst du kein Geld an, wiewohl dessen Er- 3 werfe Freude macht und sein Besitz ein angenehmeres und freieres Leben ermöglicht. W e n n du nun gleich den Lehrern anderer Fächer deine Schüler zur Nachahmung deiner Lebensweise anhältst, so kannst du schon glauben, daß du sie wirklich ihr eigenes Unglück lehrst." Sokrates erwiderte darauf: „Du, Antiphon, scheinst anzunehmen, ich führte ein so 4 elendes Dasein, daß ich überzeugt bin, du würdest lieber sterben als mit mir tauschen wollen. So laßt uns nun prüfen, was du als so elend an meinem Dasein empfindest! Vielleicht 5. das, daß die, welche Geld annehmen, notwendigerweise abarbeiten müssen, wofür sie ihr Salär erhielten, während ich, da ich nichts annehme, es nicht nötig habe, mich mit jemandem zu unterhalten, mit dem ich es nicht will. Oder tadelst 1) Sophist und Traumdeuter, nicht zu verwechseln mit dem ihm gleichnamigen attischen Redner.

50

du meine Lebensweise, weil meine Speisen weniger gesund und von geringerem Nährwert sind als die deinigen? Oder weil die von dir benötigten Lebensmittel weniger leicht zu beschaffen sind als die meinigen, da sie rarer und teurer sind? Oder weil dir das, was du dir zubereitest, besser schmeckt als mir das meinige? Weißt du nicht, daß, wer aus Hunger ißt, am wenigsten braucht, und wer aus Durst trinkt, mit dem zufrieden ist, was er hat? Dir ist bekannt, daß, wer seine Kleider wechselt, dies der Kälte oder Hitze wegen tut und man Sandalen trägt, um durch die Unebenheiten des Weges nicht am Gehen gehindert zu werden. Hast du aber je wahrgenommen, daß ich der Kälte wegen häufiger als andere zu Hause geblieben wäre oder daß ich wegen der Hitze mit jemandem um ein schattiges Plätzchen gestritten hätte? Wäre ich je, weil mich meine Füße schmerzten, nicht dorthin gegangen, wohin ich wollte? Solltest du nicht wissen, daß Menschen, die von Natur aus sehr schwächlich veranlagt sind, durch beständige Übung in mancher Hinsicht recht kräftigen Leuten, die sich vernachlässigten, überlegen werden und auf ihrem Gebiete Besseres leisten? Willst du nicht glauben, daß ich, der ich meinen Körper alles, was immer auch kam, zu ertragen gewöhnte, widerstandsfähiger bin als du, der du solche Übung nicht besitzt? Wenn jemand sich nicht seinem Bauche, seinem Schlafbedürfnis und seinem Geschlechtstrieb unterwirft, so, glaub mir, hat das keine andere Ursache als die, daß er Werte besitzt, welche über jene hinausgehen, Werte, die nicht nur, solange man sie genießt, das Herz erfreuen, sondern darüber hinaus einen dauernden Nutzen in Aussicht stellen. Und auch das weißt du, daß die, die nichts recht zu machen meinen, keine Freude haben, hingegen jene, welche gute Fortschritte festzustellen glauben, sei es als Bauern oder als Schiffsleute oder was sonst sie betreiben mögen, sich freuen, daß sie auf dem rechten Wege sind. Glaubst du nun, daß aus all diesen Tätigkeiten so große 51

Freude erwächst, wie sie der empfindet, der sich selber zu bessern und seine Freundschaften sittlich zu vertiefen für befähigt hält? Ich jedenfalls bin dieser Meinung. Wenn es einmal gilt, Freunden oder dem Staate zu dienen, wer, meinst du, ist dann besser vorbereitet, diesen Verpflichtungen nachzukommen, der, welcher wie ich lebt, oder der, der sich an deine Art hält? Wer wird im Felde besser zurechtkommen, wer ohne kostbaren Aufwand nicht auszukommen vermag, oder wer sich mit dem, was er gerade hat, zufrieden gibt? Wer wird sich eher ergeben, der, dessen Notdurft schwierigst zu Beschaffendes erheischt, oder der, welcher an Dingen, die sich leicht auftreiben lassen, sein Genüge hat? Du, Antiphon, gleichest einem, der das Glück in Üppigkeit und Pracht erblickt; ich bin der Meinung, daß nichts zu bedürfen göttlich ist. Möglichst wenig zu bedürfen kommt dem Göttlichen sehr nahe. Nichts ist aber stärker denn das Göttliche; je näher einer also dem Göttlichen kommt, um so stärker wird er." Bei einer andern Gelegenheit führte Antiphon mit Sokrates folgende Unterhaltung: „Mein lieber Sokrates, ich halte dich wohl für einen rechtdenkenden Mann, für einen Weisen aber keinesfalls. Das wirst du selber einsehen. Von niemandem forderst du für deine Unterweisung Geld; dagegen würdest du dein1 Gewand, dein Haus oder was du sonst besitzt, da du diese als Geldeswert ansiehst, keinem für einen Unterpreis, geschweige denn umsonst abgeben. Augenscheinlich würdest du also, wenn du auch deinen Unterweisungen einen Wert beimäßest, einen diesen nicht unterschreitende Geldsumme dafür einfordern. Rechtdenkend bist du also, da du nicht aus Habgier betrügst, weise hingegen nicht, da dein Wissen keinen Wert besitzt." — Sokrates antwortete darauf: „Bei uns, bester Antiphon, gilt die Regel, daß Schönheit und Weisheit ebensowohl auf edle wie auch auf unwürdige Art veräußert werden können. Wer seine Schönheit gegen Geld einem jeden Kauflustigen darbietet, den bezeichnen wir als Strichjungen; 52

wer dagegen einen andern, in dem er einen Gleichgesinnten von Bildung erblickt, sich zum Freunde macht, den nennen wir ehrbar. In diesem Sinne vergleichen wir die Sophisten, die ihre Weisheit einem jeden gegen Geld prostituieren, mit Buhlern; wer dagegen den Jüngling, dessen Empfänglichkeit er erkennt, alles Gute, das er zu vergeben hat, lehrt und ihn sich als Freund gewinnt, der tut nach unserer Auffassung nur 14 seine Pflicht als rechtschaffener Bürger. Wie nun jemand an einem schönen Pferde, einem Hunde oder Vogel sein Gefallen findet, so und noch viel mehr freue ich mich, lieber Antiphon, über gute Freunde. Wenn ich etwas Rechtes weiß, so gebe ich es an sie weiter und mache sie mit solchen Menschen bekannt, die nach meiner Ansicht zu ihrer Bildung beitragen können. ' Die Schätze der Weisen aus vergangener Zeit, die diese in ihren Büchern uns hinterließen, spüre ich auf und gehe sie mit meinen Freunden durch; finden wir etwas Gutes, so heben wir es auf und achten es für großen Gewinn, wenn wir einander fördern können." Ich als Ohrenzeuge dieses Gespräches hatte den Eindruck, daß Sokrates selber glücklich sein müsse und seine Hörer zu menschlicher Vollendung führe. 15

Als Antiphon ein andermal darauf hinwies, daß Sokrates andere für den Staatsdienst auszubilden meine, sich selbst aber politisch nicht betätige, woher zweifelhaft, ob er überhaupt etwas davon verstehe, gab der ihm zur Antwort: „In welchem Falle tue ich mehr für den Staat, wenn ich als einzelner mich in der Politik betätige oder wenn ich mich bemühe, möglichst viele Menschen für solche Wirksamkeit befähigt zu machen?"

53

SIEBENTES

KAPITEL

Sokrates warnt vor der

Großmannssucht

Wollen wir nun untersuchen, ob Sokrates seine Freunde 1 von Großmannssucht zurückhielt und statt dessen zu wirklicher Leistung erzog! Immer wieder betonte er nämlich, es gäbe keinen besseren Weg zum Ruhm als den, welcher den Menschen in dem Fache tüchtig mache, in dem er als tüchtig angesehen zu werden wünsche. Zum Beweise der Richtigkeit 2 seiner Behauptung gab er folgenden Gedankengang: „Stellen wir uns einmal vor, was jemand tun müßte, der den Eindruck eines tüchtigen Flötenspielers erwecken wollte, ohne es doch zu sein! Sicher müßte er in allen Äußerlichkeiten die anerkannten Flötisten nachahmen. Erstens müßte er also, da diese schöne Instrumente besitzen und sich mit einem großen Gefolge umgeben, es ihnen darin gleichtun. Zum zweiten hätte er, da jene Prominenten einen großen Kreis von Verehrern haben, sich ebenfalls viele Lobredner abzurichten. Nur spielen dürfte er unter keinen Umständen, sonst würde er sich auf der Stelle lächerlich machen, und man hielte ihn nicht nur für einen schlechten Musikanten, sondern für einen Prahlhans dazu. Trotz seines großen Aufwandes hat er also keinerlei Nutzen, sondern kommt noch in schlimmen Ruf; führt er nicht ein sorgenvolles, nutzloses, lächerliches Leben? Nehmen wir einen andern Fall an! Jemand möchte als 3 tüchtiger Offizier oder Steuermann gelten, ohne es doch zu sein; wie wird es ihm ergehen? Gelänge es ihm nicht, seine Umgebung von seinen vermeintlichen Fähigkeiten zu überzeugen, so wäre das schon für ihn recht bitter. Noch schlimmer freilich, wenn er zu überzeugen vermag! Denn wird einem, dem die dazu erforderlichen Kenntnisse fehlen, das

54

Kommando über ein Schiff oder eine Truppe anvertraut, so kann dieser viele Menschen wider seinen Willen zu Tode bringen und wird selber init Schimpf und Schande abtreten müssen." 4 Als ebenso unsinnig stellte es Sokrates hin, wenn sich einer gegen die Wahrheit als reich, tapfer oder stark ausgebe. Würden nämlich an solche Menschen Forderungen gerichtet, die ihr Vermögen überstiegen, und hielten sie dann nicht, was sie 5 versprochen, so fänden sie keine Gnade. Als nicht kleinen Betrüger bezeichnete Sokrates schon einen Mann, der seinem Nachbarn Geld oder Sachwerte abschwatzt und sie dann nicht zurückgibt; ein viel größerer Gauner noch sei aber der Nichtskönner, der dadurch zum Betrüger wurde, daß er vorgab, den Staat regieren zu können. Ich glaube, Sokrates hat durch solche Gespräche seinen Kreis auch gegen Großmannssucht gefeit.

55

ZWEITES BUCH

ERSTES KAPITEL

Der Mensch

am

Scheidewege

1 Nach meiner Ansicht munterte Sokrates durch Gespräche solcher Art seine Umgebung dazu auf, sich beim Essen und Trinken, in den Freuden der Liebe und bei der Erholung im Zaume zu halten ebenso wie beim Ertragen von Kälte, Hitze und Strapazen. Als er aber einmal feststellen mußte, daß sich ein Mitglied seines Freundeskreises in diesen Dingen gehen ließ, knüpfte er folgendes Gespräch an: „Sag mir doch, lieber Aristipp 1 ), wie würdest du es beginnen, wenn man dir zwei junge Menschen zur Erziehung anvertraute, von denen der eine zum Herrschen befähigt werden sollte, während der andere als Untertan zu halten wäre! Ist dir es recht, so beginnen wir mit dem Einfachsten, mit der Ernährung!" — „Ich denke auch, die Frage der Ernährung muß am Anfang stehen", erwiderte Aristipp, „denn ohne zu essen könnte kein 2 Mensch leben." — „Werden, wenn es an der Zeit ist, beide denselben Wunsch haben, zu Tisch zu gehen?" — „Ich meine wohl."— „Welchen der beiden Männer müssen wir nun daran gewöhnen, der Erfüllung der Pflicht den Vorrang zu geben vor der Erfüllung der leiblichen Wünsche?" — „Selbstverständlich den, der zum Führer herangebildet wird; sonst könnten während seiner Amtsführung die Staatsgeschäfte unerledigt bleiben." — „Meinst du nicht auch, daß man, wenn die beiden trinken wollen, für den zum Herrscher Erkorenen die zusätzliche Forderung stellen sollte, daß er Durst zu er3 tragen imstande sein muß?" — „Aber ganz gewiß!" — „Von 1) Der nachmalige Stifter der kyrenäischen Schule, welche in der Lust (Hedone) das allein Er3trebenswerte erkannte und diese darum mit dem Guten gleichsetzte.

59

wem werden wir ferner fordern, daß er Herr über sein Schlafbedürfnis ist, spät zu Bett gehen, früh aufstehen und, wenn es not ist, sich wachhalten kann?" — „Immer von dem gleichen." — „Und wer muß sich im Liebesverlangen bezwingen, um nicht behindert zu sein, wenn es zu handeln gilt?" — „Stets derselbe." — „Von wem müssen wir verlangen, daß er Gefahren nicht flieht, sondern sie freiwillig auf sich nimmt?" — „Von dem, der zum Herrscher erzogen werden soll." — „Wenn man, um den Gegner niederzuhalten, sich Kenntnisse aneignen muß, wer von den beiden sollte zu dieser Verpflichtung angehalten werden?" — „Wiederum der zum Führer Bestimmte; denn ohne solches Wissen wäre ihm alles übrige nichts nütze." — „Meinst du nicht auch, daß, wer * so abgerichtet ist, seinen Gegnern weniger leicht in die Falle läuft als zum Beispiel die Tiere? Von diesen lassen sich manche durch Speisen ködern, und einige, die an sich von sehr scheuer Natur sind, treibt trotzdem die Gier nach Fraß an den Köder und damit in die Gefangenschaft; wieder andere jagt man, indem man Getränke ausstellt." — „Da hast du recht." — „Andere geraten durch ihre Wollust in die Gewalt des Jägers, so Wachteln und Rebhühner, die voller Gier und Hoffnung auf Paarung in der Richtung der Stimme des Weibchens fliegen und dabei die Gefahr außer acht lassen." — Auch das wurde bejaht.—„Ist es also nicht doch eine Schande, 5 wenn ein Mensch dasselbe leiden muß wie das unvernünftigste Tier? So, wenn die Lüstlinge an die Stätten des Lasters kommen, obgleich ihnen bekannt ist, daß sie Gefahr laufen, nach dem Gesetz verurteilt und nach ihrer Ertappung bestraft zu werden; all (dieses Leides, all dieser Schande, die auf ihrem Tun liegt, ungeachtet, trotz der vielen Möglichkeiten, die sie von ihrer Gier befreien könnten, lassen sich diese Menschen ins Unglück treiben! Sind das nicht Anzeichen der Besessenheit?" — „Ich möchte es meinen." — „Und obgleich die wich- & tigsten Berufe wie der des Kriegers oder der des Bauern und

60

viele andere noch, die nicht zu den schlechtesten gehören, im Freien ausgeübt werden müssen, ist die große Menge der Menschen doch nicht widerstandsfähig gegen Hitze und Kälte; sollte da kein Versäumnis vorliegen?" — Auch diese Frage bejahte Aristipp. — „Du meinst also auch, daß, wer zum Herrscher bestimmt ist, sich darin üben und gegen solche 7 Strapazen gefeit sein muß?" — „Aber ganz gewiß." — „Wenn wir nun die, die in all solchen Anfechtungen Herr ihrer selbst waren, unter die Führerschicht rechneten, so werden wir jene, die dazu außerstande sind, als die geborenen Untertanen ansprechen." — Auch das gab Aristipp zu. — „Hast du dir, da dir doch die Ordnung dieser beiden Schichten bekannt ist, schon deine Gedanken darüber gemacht, zu welcher du dich 8 billigerweise rechnen müßtest?" — Erwiderte Aristipp: „Unter keinen Umständen zähle ich mich unter jene, die nach der Regierung streben. Es zeugt mir nämlich recht sehr von Unvernunft, wenn einer, dem es schon schwer wird, seine eigenen Bedürfnisse zu befriedigen, sich nicht darauf beschränkt, sondern statt dessen noch die Sorge um die Erfordernisse seiner Mitbürger übernimmt. Wer den Staat regiert, muß vieles entbehren, was er sich wünscht, ja, er muß sich sogar noch dafür verantworten, wenn er nicht alle Notwendig9 keiten dieses Staates zu erfüllen vermag! Staatswesen halten sich ihre Regenten wie ich mir meine Sklaven. Ich verlange von meinen Sklaven, daß sie mir reichlich alles, was zum Leben gehört, heranschaifen, selber aber nichts davon anrühren; im Staate gilt, daß die führenden Männer für diesen erwerben müssen, soviel sie nur können, während sie persönlich davon nichts erhalten dürfen. Ich würde daher diejenigen, die gewillt sind, viel auf sich zu nehmen und andern viel aufzuerlegen, in der geschilderten Weise erziehen und zu Regenten machen; selber möchte ich zu denen gehören, die 10 möglichst unbeschwert und angenehm.leben wollen." — Sagte Sokrates: „Ist es dir recht, wenn wir auch der weiteren Frage 61

nachgehen, ob Herrscher oder Untertanen das angenehmere Leben führen?" — „Aber sicher." — „Unter den uns bekannten Völkern stoßen wir in Asien auf die Perser als Herren und auf Syrer, Phryger u n d Lyder als Vasallen; in Europa finden wir die Skythen im Besitze der Macht, während die Mäoten beherrscht werden; in Nordafrika führen die Karthager u n d werden die Libyer regiert; welche unter diesen Völkern, glaubst du, führen das schönere Leben? Wer befindet sich unter den Griechen, zu denen ja auch du gehörst, nach deiner Auffassung in günstigerer Lage, wer die Hegemonie hat oder wer in Abhängigkeit steht?" — „Aber ich will mich ja gar nicht in Knechtschaft begeben", fiel ihm da Aristipp ins Wort, „nur m u ß doch ein Mittelweg zwischen den beiden Extremen vorhanden sein. Den wollte ich einschlagen, nicht als Herr u n d nicht als Knecht, sondern als freier Mensch; denn die Freiheit führt am ersten zum Glück." — „Ja", warf darauf Sokrates ein, „wenn dieser Weg, wie er nicht durch Herrschaft u n d nicht durch Knechtschaft geht, überhaupt nicht an Menschen vorbeiführte, dann würdest du vielleicht recht haben. Wolltest du dagegen unter Menschen auf beides Verzicht leisten, auf das Befehlen wie auf das Gehorchen, und dich nicht freiwillig bereit finden, den Regierenden deine Reverenz zu erweisen, dann, glaube ich, würdest du sehen, wie gut sich die Mächtigen, im Staatswie im Privatleben, darauf verstehen, den ihnen Unterlegenen das Wasser in die Augen zu treiben u n d sie zu ihren Knechten zu machen. Kennst du sie wirklich nicht, die, was andere säten und pflanzten, vom Halme abschneiden und bis zum Stumpfe fällen, die denen, die schwächer sind als sie und ihnen doch nicht dienstbar sein wollen, solange zusetzen, bis jene, in ihrer Willenskraft geschwächt, die Knechtschaft dem dauernden Kampfe mit dem Mächtigeren vorziehen? Sollte es dir unbekannt sein, daß sich im täglichen Leben die Tapferen u n d Starken die unmännlichen Schwächlinge unter-

62

werfen und in ihren Dienst einspannen?" — „Ganz gewiß, aber um all dein zu entgehen, schließe ich mich eben nicht an einen bestimmten Staat an, sondern weile überall als Fremd14 ling." — Erwiderte Sokrates: „Das hast du dir freilich fein ausgedacht; denn seit Sinis, Skiron und Prokrustes tot sind, tut den Fremden ja keiner mehr etwas zuleide! Indes auch in heutiger Zeit geben die Regierenden ihren Ländern Gesetze, damit ihnen nichts Arges geschieht, gewinnen sie sich neben ihren Blutsverwandten noch Freunde zur Hilfe, befestigen sie ihre Städte und legen sich Waffen zu zur Verteidigung gegen den Angreifer, und zu all dem werben sie noch Bundesgenossen im Ausland. Doch was nützt ihnen das alles? Trotz15 dem bleiben sie böswilligen Angriffen ausgesetzt! Du dagegen, der du allen solchen Schutz entbehrst, bist viel auf der Landstraße, wo doch das meiste Unrecht geschieht, bist in jeder Stadt, in die du kommst, ohnmächtiger als der geringste ihrer Bürger, gehörst zu denen, die ein äußerst beliebtes Objekt für alle Übeltäter bilden, und meinst trotzdem, daß dir allein darum, weil du ein Landesfremder bist, nichts geschehen wird? Oder bist du darum so zuversichtlich, weil dir von Staatswegen freier Zutritt und freier Weggang garantiert wird? Oder weil du als Sklave doch keinem Herrn etwas nützen würdest? Wer sollte sich auch einen Menschen im Hause halten, der nichts arbeiten, aber um so besser leben 16 wollte! Vielleicht fragen wir aber auch einmal danach, wie sich Sklavenhalter zu solchen Dienern stellen. Ist es nicht so, daß sie deren Wollust durch Hunger bezähmen, sie am Stehlen dadurch hindern, daß sie alles, was nicht niet- und nagelfest ist, anschließen, daß sie jede Gelegenheit zur Flucht durch Fesseln vereiteln, die Faulheit mit Stockschlägen bezwingen? Oder wie machst du es, wenn du erfährst, daß sich 17 solch ein Bursche unter deinem Gesinde befindet?" — „Ich 1) Drei Straßenräuber, denen Theseus den Garaus machte (vgl. Plutarch, Theseus 8, 10 und 11).

63

bestrafe ihn", meinte Aristipp, „auf alle nur mögliche Weise, bis ich ihn zum Dienen zwinge. Aber, bester Sokrates, worin unterscheiden sich nun die Zöglinge dieser königlichen Kunst, welche du, wie mir scheint, für ein Glück ansiehst, worin unterscheiden sie sich von denen, die durch die Ungunst der Verhältnisse Not leiden müssen, wenn sie, zwar aus freien Stücken, ebenso hungern, dürsten, frieren, wachen und dulden müssen? Ich jedenfalls vermag darin, ob man sich freiwillig oder unfreiwillig das Fell gerben läßt oder ob man seinen Körper solchen Einwirkungen mit oder wider Willen aussetzt, keinen andern Unterschied zu erblicken, als daß den, der aus eigenem Antrieb sich Schmerz auferlegt, dazu noch der Vorwurf der Dummheit trifft." —Sokrates: „Aber, lieber Aristipp, meinst du nicht, daß aus freien Stücken auferlegte Entbehrungen sich von denen aus Zwang darin unterscheiden, daß, wer aus eigenem Entschluß heraus hungert, essen, wer aus ebensolchem Entschluß heraus dürstet, trinken kann, wenn er will, und das Entsprechende für die übrigen Lebensbereiche gilt, daß dagegen, wer Umstände halber Not leidet, dieser nicht ledig zu werden vermag, selbst wenn er es wünscht? Wer freiwillig entsagt, leidet schließlich alle Entbehrungen voller guter Hoffnung, genauso wie der Jäger, weil er auf Beute rechnet, gern alle Strapazen auf sich nimmt. Dabei ist der Preis solcher Mühe nur gering. Wer dagegen entsagt, um gute Freunde zu gewinnen oder seine Gegner zu schwächen oder um selber stark zu werden an Leib und Seele, seinen Hausstand recht zu führen, seinen Freunden zu nützen und seiner Heimat zu dienen, warum sollte der für ein solches Ziel sich nicht gern Beschränkungen auferlegen wollen und sich dennoch seines Lebens freuen können, da er vor sich selber Achtung haben und auf Lob und Nacheiferung bei den andern rechnen darf? Die leichten Eintagsfreuden sind weder dem Körper dienlich — das bestätigen die Turnlehrer — noch befördern sie wesentlich die geistige Bildung; wer dagegen 64

ohne Unterlaß sich müht, wird rechte Taten vollbringen können, worüber sich alle wackeren Männer einig sind. Bei Hesiod zum Beispiel heißt es: ,Zu der Untugend ist's leicht, auch scharenweise zu kommen: breit und glatt ist der Weg, und nahe wohnet sie bei dir. Vor die Trefflichkeit setzten den Schweiß die unsterblichen Götter, lang gar windet und steil der Weg zur Tugend sich aufwärts und sehr rauh im Beginn; doch ist erstiegen der Gipfel, dann ist er leicht und freundlich zu geihn, so schwierig er erst war.' Das bezeugt ferner Epibharm 2 ) mit dem Verse: ,Nur für Arbeit wird von den Göttern uns das Gute verkauft.' Auch der gelehrte Prodikos 3 ) spricht in seiner Abhandlung über Herakles, die er im großen Kreise vorträgt, in diesem Sinne über die rechte Lebensführung, und zwar, soweit ich mich erinnere, etwa wie folgt. Als Herakles, so berichtet er, in das Alter gekommen war, in dem sich die jungen Menschen darüber klar werden müssen, ob sie einen guten oder bösen Lebensweg einschlagen wollen, sei er in die Einsamkeit gegangen und habe in der Stille bei sich bedacht, welchen Weg er wählen solle. Da traten zu ihm, so berichtet Prodikos weiter, zwei Frauen heran, die eine stattlich anzusehen, von edlen Formen, Reinheit des Körpers und schamhaften Augen, wohlgebildet, in weißer Kleidung; die andere zeigte üppige, weiche Formen, ihre Haut war geschminkt, um die weiße und rote Tönung hervorzuheben, ihre Haltung sollte ihre Größe noch steigern, die Augen 1) Hesiod, Werke und Tage 287—292 2) Fragm. 287 Kaibel. 3) Sophist, Zeitgenosse des Sokrates und Xenophon. 5 Irmscher, Sokrates

65

schien sie offen zu halten, aus ihrer Kleidung leuchtete ihre jugendliche Schönheit hervor, oft prüfte sie ihr Aussehen und bekümmerte sie sich darum, ob jemand nach ihr sah, und häufig achtete sie auf ihren eigenen Schatten. Als die beiden 23 näher an Herakles herankamen, blieb die erste trotzdem bei ihrer Gangart, die zweite dagegen begann zu laufen, da sie der andern zuvorkommen wollte, und redete Herkules an: ,Wie ich sehe, bester Herakles, bist du in Gedanken darüber, welchen Lebensweg du einschlagen sollst. Nimmst du mich zu deiner Freundin, so will ich dich den angenehmsten und leichtesten Weg führen, kein Genuß soll dir vorenthalten sein, und du wirst fern von aller Plage leben. Nicht an Kampf 24 und Mühe wirst du zuerst denken, sondern allein darauf dein Augenmerk richten, was du Verlockendes zu essen oder zu trinken findest, woran sich dein Auge oder dein Ohr ergötzen könnte, was zu riechen und was zu berühren dich freuen würde, welche Liebschaften dir das größte Vergnügen bereiteten, wie du am bequemsten ruhtest und auf welche Weise du alle diese Freuden ohne die geringste Mühe erlangtest. Argwöhnst du jedoch einmal, daß du Mangel an 25 Mitteln für das alles haben könntest, so sei ohne Sorge; ich werde dich nicht dahinbringen, daß du, um dir, was du brauchst, zu verschaffen, dich wirst mühen noch leibliche oder seelische Entbehrung wirst leiden müssen! Was andere herstellen, dessen sollst du dich bedienen und keine Gelegenheit vorüberlassen, wobei du etwas gewinnen kannst. Denn denen, die zu mir gehören, biete ich die Möglichkeit, von überall her Nutzen zu ziehen.' Herakles hörte sich das 29 alles an und fragte dann: ,Wie heißt du, liebe Frau?' Sie erwiderte: ,Meine Freunde nennen mich das Glück, die mich hassen, heißen mich, um mich zu schmähen, das Laster.' Währenddes trat die andere Frau herzu und sprach: ,Auch 27 ich komme zu dir. Ich kenne deine Eltern und habe dein Wesen während deiner Kindheit kennengelernt. Daraus

66

schöpfe ich die Hoffnung, du wirst den Weg zu mir wählen, nach Kräften um das, was gut und schön ist, ringen und mich noch mehr verherrlichen und durch deine guten Taten preisen. Ich will dich nicht mit gleisnerischen Reden täuschen, isondern dir die Dinge der Wahrheit gemäß darstellen, 28 so, wie sie die Götter geordnet haben. Von allem, was wirklich gut und schön ist, geben die Götter den Menschen nicht ohne Mühe und Arbeit. Willst du vielmehr, daß die Götter dir gnädig sind, so mußt du sie ehren; wünschst du von deinen Freunden geliebt zu werden, mußt du ihnen Gutes tun; begehrst du, daß ein Staatswesen dich ehrt, mußt du dich ihm nützlich erweisen; legst du Wert darauf, daß ganz Hellas dich deiner Tugend halber bewundert, so mußt du versuchen, sein Wohltäter zu werden; möchtest du, daß dein Land dir reiche Frucht bringt, mußt du es bebauen; meinst du, durch Viehzucht reich werden zu können, mußt du dich um deine Herden kümmern; treibt es dich, durch Krieg das Deine zu vermehren, deinen Freunden Hilfe und deinen Feinden Verderben zu bringen, mußt du die Kriegskunst von denen, die sich darauf verstehen, erlernen und dich in ihrer Anwendung üben; willst du endlich einen kraftvollen Körper haben, so mußt du ihn daran gewöhnen, sich der Vernunft zu unterwerfen und sich unter Schweiß und 29 Mühen zu üben.' Da fiel das Laster ihr, wie Prodikos berichtet, ins Wort: ,Erkennst du, Herakles, welch schweren, langen Weg dir diese Frau zu den Freuden des Lebens weist? Ich will dich auf leichter, geschwinder Bahn zum 30 Glück führen.' Doch die Tugend erwiderte darauf: ,Du Arme, was für ein Gut kannst du schon haben! Welches Glück willst du schon kennen, die du doch nichts darum tun magst? Nicht einmal solange zu warten vermagst du, bis die Begier nach Lust sich einstellt, sondern ehe noch der Wille sich regt, hast du dich bereits gesättigt; noch ehe du Hunger hast, beginnst du zu essen, noch vor dem Durst zu 5»

67

trinken, und um dein Mahl reizvoller zu gestalten, mußt du gar besondere Köche ausfindig machen, um besser zu trinken, dir köstliche Weine beschaffen, die du des Sommers gar noch mit Schnee zu kühlen suchst. Um gut zu schlafen, richtest du dir nicht bloß ein weiches Lager her, sondern stellst noch Stützen unters Bett; denn nicht aus Müdigkeit, sondern aus Langerweile begehrst du zu schlafen. Zu geschlechtlicher Betätigung zwingst du dich, ehe du ein Bedürfnis danach empfindest, scheust dabei kein Mittel und gebrauchst Männer wie Frauen; dazu nämlich erziehst du deine Freunde, nachts dem Laster zu frönen und die nützlichsten Tagesstunden zu verschlafen. Obgleich unsterblich, 31 wurdest du aus den Reihen der Götter verstoßen, und alle ordentlichen Menschen verachten dich. Das Beste, das man nur hören kann, nämlich das eigene Lob, hast du nie vernommen und das Schönste, das man je sehen kann, nie geschaut; denn noch nie warst du Zeuge einer guten Tat, die du begangen. Wer sollte deinen Worten Glauben schenken, wer deinen Bitten entsprechen? Welcher vernünftige Mensch würde sich dir anzuschließen wagen? Solche allenfalls, die in ihrer Kindheit körperlich schwach waren und, als sie älter wurden, auch an Verstand nicht zunahmen; Leute, die in ihrer Jugend ohne ihr Zutun fett gefüttert wurden und nun mit knapper Not als ausgedörrte Greise ihr Dasein fristen; die sich über das, was sie taten, schämen und sich über das, was sie jetzt treiben, ärgern; die früh alle Freuden mitnahmen und alle Aufgaben sich fürs Alter aufhoben! Ich 32 dagegen bin bei den Göttern und bin bei allen tüchtigen Menschen; weder hüben noch drüben geschieht etwas Gutes ohne mich. Von Göttern und wackeren Leuten werde ich geehrt wie sonst keiner. Den Künstlern bin ich eine geschätzte Mitarbeiterin, ein treuer Wächter allen Hausherren, freundlich stehe ich dem Knechte zur Seite, gern helfe ich mit bei friedlichem Werke, als standhafter Bundesgenosse stehe

68

ich im Kampfe bei, und in der Freundschaft übertrifft mich 33 keiner. Froh und ohne Sorgen sitzen meine Freunde zu Tische; denn sie halten an sich, solange der Appetit fehlt. Der Schlaf kommt ihnen erwünschter als denen, die nicht müde sind; müssen sie ihn aber unterbrechen, sind sie doch deshalb ohne Verdruß, noch versäumen sie um seinetwillen die notwendigen Arbeiten. Die Jungen freuen sich, wenn Ältere sie loben, und die an des Lebens Schwelle stehen, haben ihr Gefallen an den Ehren, die ihnen die Jugend erweist. Gern gedenken sie dessen, was sie vollbracht, und in froher Laune gehen sie an ihr Tagewerk. Ich mache sie den Göttern zu Freunden, ihrer Umgebung zu lieben Mitmenschen und ihrer Heimat zu ehrenwerten Bürgern. Und wenn ihr letztes Stündlein schlägt, dann deckt sie das Grat nicht mit Vergessen, sondern sie leben ewig weiter in den Lobliedern der Ihren. Wenn du so, Herakles, du, wackrer Eltern Sohn, dein Leben durchhältst, darfst du auch die vollkommene 34 Glückseligkeit besitzen.' In der Weise etwa beschreibt Prodikos, wie Herakles durch die Göttin der Tugend Unterricht empfing, nur daß er ihre Reden noch mehr ausschmückte, als ich es jetzt tat. Du, lieber Aristipp, solltest dir das überlegen und einmal versuchen, dir über deinen ferneren Lebensweg Gedanken zu machen."

ZWEITBS

KAPITEL

Sokrates mahnt seinen Sohn zur Achtung vor der Mutter 1

Als Sokrates einmal erfuhr, daß sein ältester Sohn Lamprokles auf seine Mutter zornig war, fragte er ihn: „Sag 1) Sokrates hatte mit Xanthippe drei Söhne: Lamprokles, Sophroniskos und Menexenos; «her die späteren Schicksale des Lamprokles ist nichts bekannt.

69

ich im Kampfe bei, und in der Freundschaft übertrifft mich 33 keiner. Froh und ohne Sorgen sitzen meine Freunde zu Tische; denn sie halten an sich, solange der Appetit fehlt. Der Schlaf kommt ihnen erwünschter als denen, die nicht müde sind; müssen sie ihn aber unterbrechen, sind sie doch deshalb ohne Verdruß, noch versäumen sie um seinetwillen die notwendigen Arbeiten. Die Jungen freuen sich, wenn Ältere sie loben, und die an des Lebens Schwelle stehen, haben ihr Gefallen an den Ehren, die ihnen die Jugend erweist. Gern gedenken sie dessen, was sie vollbracht, und in froher Laune gehen sie an ihr Tagewerk. Ich mache sie den Göttern zu Freunden, ihrer Umgebung zu lieben Mitmenschen und ihrer Heimat zu ehrenwerten Bürgern. Und wenn ihr letztes Stündlein schlägt, dann deckt sie das Grat nicht mit Vergessen, sondern sie leben ewig weiter in den Lobliedern der Ihren. Wenn du so, Herakles, du, wackrer Eltern Sohn, dein Leben durchhältst, darfst du auch die vollkommene 34 Glückseligkeit besitzen.' In der Weise etwa beschreibt Prodikos, wie Herakles durch die Göttin der Tugend Unterricht empfing, nur daß er ihre Reden noch mehr ausschmückte, als ich es jetzt tat. Du, lieber Aristipp, solltest dir das überlegen und einmal versuchen, dir über deinen ferneren Lebensweg Gedanken zu machen."

ZWEITBS

KAPITEL

Sokrates mahnt seinen Sohn zur Achtung vor der Mutter 1

Als Sokrates einmal erfuhr, daß sein ältester Sohn Lamprokles auf seine Mutter zornig war, fragte er ihn: „Sag 1) Sokrates hatte mit Xanthippe drei Söhne: Lamprokles, Sophroniskos und Menexenos; «her die späteren Schicksale des Lamprokles ist nichts bekannt.

69

mir, mein Junge, sind dir Leute bekannt, die andere als undankbar bezeichnen?" — „Aber gewiß, Vater!" — „Und hast du herausbekommen, was die tun, die man so nennt?" — „Ei freilich; wer etwas Gutes empfing und es, obgleich er dazu in der Lage wäre, nicht vergilt, den heißt man undankbar." — „Und meinst du nicht auch, daß die Undankbaren zu den Ungerechten zählen?" — „Jawohl." — „Hast 2 du dir nun auch schon folgendes üiberlegt? Wenn jemand seine Freunde in Abhängigkeit bringt, so ist das doch wohl nicht gerecht; dagegen ist es in der Ordnung, wenn jemand Feinde zu Sklaven macht. Wie steht es nun mit der Undankbarkeit, ist sie ein Unrecht, wenn sie sich gegen Freunde, begründet dagegen, wenn sie sich gegen Feinde richtet?" — „Nun, ich bin der Meinung, wenn jemandem Gutes erwiesen wird, gleich ob von Freundes- oder Feindesseite, und er versucht nicht, seinen Dank dafür zum Ausdruck zu bringen, so tut er Unrecht." — „Wenn dem wirklich so ist, so muß 3 die Undankbarkeit sonnenklar als Unrecht angesprochen werden." — Lamprokles bejahte. Darauf Sokrates: „ J e größere Wohltaten also einer genießt, ohne dafür zu danken, um so größer ist sein Unrecht?" — Auch hier pflichtete der Sohn bei. — „Wo nun fänden wir größere Wohltaten, als Eltern sie ihren Kindern erweisen! Sie riefen uns aus dem Nichts ins Dasein, ließen uns so viel Schönes sehen und an so vielem Guten teilhaben, was nur die Götter den Menschen bescheren! Diese Güter erscheinen uns als die wertvollsten, so daß jeder unter uns nichts so sehr zu meiden sucht wie die Gefahr, sie verlieren zu können; daher setzte denn auch die Gemeinschaft als Strafe für die schwersten Vergehen den Tod, in der Auffassung, durch die Furcht vor diesem größten Übel das Verbrechen beseitigen zu können. Auch kannst du 4 nicht annehmen, daß die Menschen bloß um ihrer Wollust willen Kinder zeugen, da sie, um dieser zu genügen, überall auf Straßen und in Freudenhäusern reichste Möglichkeiten 70

finden; augenscheinlich achten wir vielmehr darauf, welche Frauen uns die tüchtigsten Kinder gebären können, wenn s wir uns zur Zeugung paaren. Der Mann übernimmt den Unterhalt der zukünftigen Mutter u n d trifft nach besten Kräften alle Vorbereitungen, daß es seinen Kindern an nichts fehlt, was nach seiner Ansicht ihnen fürs Leben nützlich ist. Die schwangere Frau trägt ihre Last unter Schmerzen und Gefahren f ü r ihr eigenes Leiben u n d nährt sie mit ihrer eigenen Nahrung; hat sie dann das Kind mit viel Mühe zur Welt gebracht, zieht sie es auf u n d besorgt es, ohne dafür etwas Gutes zu empfangen, ja, ohne daß das Kind weiß, wer sein Wohltäter ist; da das kleine Wesen nicht anzugeben vermag, was es braucht, erforscht die Mutter selber, was ihm dienlich ist und Freude macht, u n d sucht es ihm zu beschaffen; lange Zeit nährt sie ihr Kind u n d steht ihm Tag u n d Nacht zur Verfügung, ohne zu wissen, was f ü r Dank sie je f ü r all 6

das haben wird. Doch nicht auf das Ernähren beschränkt sie sich; sind vielmehr die Kinder soweit, daß man glaubt, sie könnten etwas lernen, dann bringen ihnen die Eltern das bei, was sie selber an Lebensnotwendigem wissen, u n d wenn sie meinen, daß ein anderer f ü r diesen Unterricht geeigneter ist, dann schicken sie, ohne Kosten zu scheuen, ihre Kinder zu ihm u n d tun alles dafür, daß sie die bestmögliche Aus-

7

bildung erhalten." — W a n d t e der junge Mensch ein: „Und wenn die Mutter dies alles u n d noch viel mehr dazu getan hätte, so könnte doch keiner ihr mürrisches Wesen ertragen!" — Sokrates: „Was, meinst du, ist schwieriger zu ertragen, die Heftigkeit eines wilden Tieres oder die einer Mutter?" — „Ich möchte meinen, die einer Mutter, so wie die meine veranlagt ist." — „Hast du durch sie je zu leiden gehabt, indem sie dich biß oder nach dir ausschlug, wie dies von Tieren 8 ja schon manchem geschehen ist?" — „Sie hat mir, bei Gott, Sachen gesagt, die man ums ganze Leben nicht hören möchte." — „Und wievielmal, meinst du", fragte Sokrates, 71

„bist du ihr seit deiner Kindheit durch dein Geschrei und deine Unarten beschwerlich geworden, wievielmal hast du ihr Kummer gemacht, wenn du krank warst?" — „Aber niemals habe ich etwas gesagt oder getan, worüber sie sich hätte schämen müssen." — „Was will das schon? Meinst du etwa, es sei für dich schwieriger, wenn du auf ihre Reden hören mußt, als für die Schauspieler, die in der Tragödie einander das Schlimmste sagen?" — „Doch; denn ich glaube, weil sie ja das Gesagte nicht für wahr halten, weil, wer zurechtweist, doch nicht zurechtweist, um zu strafen, und weil, wer droht, doch nicht droht, um etwas Böses zu tun, darum können sie diese Reden leicht ertragen." — „Obgleich du aber sehr gut weißt, daß, wenn deine Mutter dir etwas sagt, sie das nicht tut, weil sie etwas gegen dich hätte, sondern im Gegenteil, obgleich sie dir wohl will wie sonst keinem auf der Welt, trotzdem zürnst du mit ihr? Oder meinst du ernsthaft, deine Mutter stünde gegen dich?" — „Nein, das nehme ich nicht an." — Sokrates: „Aber du kannst glauben, daß diese Frau bösartig ist, die doch nur dein Bestes will, die, wenn du krank bist, nach bestem Vermögen für deine Genesung sorgt und dich nichts entbehren läßt, die darüber hinaus in inbrünstigem Gebet von den Göttern alles Gute für dich erfleht und darum ihr Gelübde leistet? Wenn du eine solche Mutter nicht hinnehmen willst, denke ich, solltest du auch ihre Gaben nicht hinnehmen. Doch sag mir, glaubst du, daß man seinen Mitmenschen entgegenkommen soll, oder bist du so eingestellt, daß du niemandem zu gefallen versuchst, keinem folgst noch jemandem Gehorsam leistest, sei er nun General oder sonst ein Beamter?" — „Nein, gewiß nicht!" — „Also legst auch du Wert auf ein freundnachbarliches Verhältnis, damit dir, wenn du es brauchst, ein Feuer angezündet wird, du rechte Unterstützung empfängst und dir jemand wohlwollend aufhilft, wenn du einmal ins Unglück kommst?" — „Ja." — „Wie ist es nun auf Reisen oder zur See? Ist es 72

dir da ohne Belang, ob dein Gefährte dein Freund oder dein Feind ist, oder hältst du es f ü r erforderlich, auch hier Sym13 pathien zu gewinnen?" — „Sicher." — „Du trittst also für solche Interessen ein, glaubst dagegen, daß es nicht nötig sei, der Mutter, die dich a m allermeisten liebt, Ehrerbietung zu erweisen? Ist dir nicht bekannt, daß der Staat sich sonst u m Undankbarkeit nicht kümmert u n d sie nicht gerichtlich belangt, sondern es übersieht, wenn jemand empfangene Wohltaten nicht vergilt, daß er aber den, der seine Eltern nicht ehrt, mit Strafe bedroht u n d ihm die Befähigung zum Archontenamt abspricht, da Opfer, die ein solcher Mensch f ü r die Stadt darbringt, nicht mit der nötigen Frömmigkeit dargebracht noch sonst etwas, was er verrichtet, so wie es sich gebührt, getan sein kann? Ja, bei Zeus, wenn einer die Gräber seiner verstorbenen Eltern nicht pflegt, so stellt auch das die Stadt bei den Prüfungen f ü r das Archontenamt f e s t 1 ) . 14

Darum, mein Sohn, wenn du klug bist, so bete zu den Göttern, sie mögen dir verzeihen, wenn du deine Mutter vernachlässigtest, damit sie dich nicht f ü r undankbar halten u n d dir ihre Guttaten nicht mehr erweisen wollen! Vor den Menschen aber hüte dich, d a ß niemand es erfährt, wie du deine Eltern vernachlässigtest, damit sie dich nicht alle wie einen Ehrlosen behandeln u n d du dich bald ohne Freunde findest! Denn wenn m a n erst einmal vermutet, daß d u u n d a n k b a r gegen deine Eltern wärest, dann wird keiner mehr glauben wollen, daß er Dank erntet, wenn er dir Gutes tut!" 1) Diese Dokimasie fand nach erfolgter Auslosung s t a t t ; sie erstreckte sich auf den Besitz des Bürgerrechts sowie die Erfüllung der kultischen, familiären und staatsbürgerlichen Verpflichtungen.

73

DRITTES KAPITEL

Sokrates

mahnt zu brüderlicher

Eintracht

Einmal erfuhr Sokrates, daß Chairephon und Chairekrates ein ihm gut bekanntes Brüderpaar, miteinander in Streit lagen. Fragte er, als er Chairekrates begegnete: „Nicht wahr, Chairekrates, du gehörst doch nicht zu denen, die Geld für nützlicher halten als leibliche Brüder? Dabei sind in andern Fällen diese Brüder noch recht unverständig, während du dich auf den deinen verlassen kannst; bedürfen andere der Hilfe, indes der deine dich zu unterstützen imstande ist; ja und nicht zuletzt besitzen andere mehrere Brüder, du aber nur den einen. Ferner m u ß ich mich darüber wundern, wenn manche Menschen in ihren Brüdern eine Schädigung f ü r sich selbst erblicken, da deren Besitz nicht auch der ihre ist, während sie sich durch ihre Mitbürger nicht benachteiligt fühlen, obgleich sie doch deren Habe auch nicht besitzen können; in diesem Falle bedenkt man sich nämlich, daß es vorteilhafter ist, in einer zahlreichen Umgebung hinreichend viel als sein Eigen sicher zu wissen, als bei einem Leben in Einsamkeit sämtlichen Besitz der Mitbürger unter Gefährdung für sich zu haben; handelt es sich freilich um die eigenen Brüder, dann ist das alles vergessen. Wer dazu in der Lage ist, der kauft sich Sklaven, um Mitarbeiter zu haben, und sucht sich Freunde, wenn er Helfer braucht, den Bruder dagegen übersieht man; denn Mitbürger können zu Freunden werden, Brüder aber nicht! Und doch drängt ja die gemeinsame Abstammung und die gemeinsame Erziehung zur Freundschaft hin, fühlen sich doch sogar die Tiere zu ihren Geschwistern hingezogen. Hinzu kommt, daß, wer Geschwister hat, von seinen Mit1) Zu den Personen vgl. S. 34 Anm. 2.

74

menschen größere Achtung erfährt und weniger Angriffen ausgesetzt ist." — Chairekrates antwortete darauf: „Ja, lieber Sokrates, wenn die Differenzen nicht beträchtlich wären, dann müßte ich wohl mit meinem Bruder auskommen und dürfte ihn Bagatellen halber nicht schneiden; denn du hast schon recht, ein Bruder ist ein großes Gut, wenn er so ist, wie er sein soll. Ist er dagegen das ganze Gegenteil dieses Idealbildes, was sollte man sich dann am ungeeigneten Objekt versuchen?" — Sokrates: „Wie ist es, Chairekrates, vermag so wie du auch sonst keiner mit Chairephon auszukommen, oder gibt es Menschen, denen er gefällt?" — „Das ist es ja eben, weswegen ich ihn beinah hassen möchte, daß er allen andern gefällig sein kann, während er mir bei jeder Gelegenheit durch Wort und Tat mehr Schaden antut als Nutzen bereitet." — „Wie ein Pferd jemanden, der nicht reiten kann und es doch versucht, zu Schaden bringt, so, scheint mir, ist es wohl auch mit einem Bruder, wenn man, ohne es zu vermögen, mit ihm in engere Verbindung treten will." — Brauste Chairekrates auf: „Inwiefern verstehe ich es nicht, mit meinem Bruder umzugehen? Ich vermag recht gut dem, der freundlich zu mir redet, freundlich zu antworten und dem, der sich meiner annimmt, wieder Gutes zu erweisen. Wer sich jedoch in seinem Reden und in seinem Handeln gegen mich zu wenden versucht, für den könnte ich keine schönen Worte finden oder mich ihm nützlich machen, und wollte es auch gar nicht." — Sokrates: „Das wundert mich. Hättest du einen Hund, der sich als guter Wächter erwies und die Hirten freundlich umschwänzelte, dich dagegen, wenn du zu ihm trätest, anbellte, so würdest du, statt deinen Zorn auf ihn zu laden, ihn durch Milde dir geneigt zu machen suchen; nun sagst du, einen Bruder zu besitzen sei viel wert, wenn er so sei, wie er sein solle, und behauptest ferner, du verstündest dich darauf, Gutes zu tun und Gutes zu reden, und trotzdem bemühst du dich nicht, 75

dahin zu kommen, daß dein Bruder für dich solchen Wert gewinnt." — „Ich befürchte, lieber Sokrates, ich habe nicht Verstand genug, um Chairephon so auf mich einzustellen, wie es sein sollte." — „Ich meine dagegen, du brauchtest da überhaupt nichts Neuartiges oder Besonderes anzuwenden; denn ich denke, du weißt selber, was ihn derart bezwingen könnte, daß er vor dir Hochachtung empfände." — „Sag es doch lieber frei heraus, wenn du glaubst, ich verstünde mich auf einen Zauber, der mir selber verborgen ist!" — „Nun, wenn du darauf ausgingest, daß dich jemand aus deinem Bekanntenkreise nach dem Opfer zur Tafel lüde, was würdest du dann tun?" — „Natürlich würde ich jenen Bekannten, wenn ich selber opferte, zuerst einladen." — „Und was tätest du, wenn du wünschtest, daß einer deiner Freunde sich in deiner Abwesenheit deiner Geschäfte annähme?" — „Selbstverständlich würde ich mich zuerst um das Seine kümmern, wenn er auf Reisen ist." — „Wenn du wolltest, daß ein auswärtiger Bekannter dich beherbergte, wenn du zu ihm kämest, wie würdest du dich in diesem Falle verhalten?" — „Ich würde ihm natürlich zuerst Obdach bieten, wenn er nach Athen käme, und wenn ich Wert darauf legte, daß er mir bei der Erledigung meines Reisezwecks behilflich wäre, müßte ich ihm zuvor den gleichen Dienst erweisen." — „Also weißt du alle Zauber, die unter Menschen wirksam sind, und verbargst sie nur. Fürchtest du um dein Ansehen, wenn du zuerst deinem Bruder freundlich entgegentrittst? Ich wollte meinen, der sei des höchsten Lobes wert, der voransteht, wenn es gilt, den Feind zu treffen, genauso wie wenn es heißt, dem Freunde zu helfen. Hätte ich übrigens geahnt, daß Chairephon viel besser geeignet gewesen wäre, darin den Anfang zu machen, so würde ich mein Bemühen darein gesetzt haben, um zuerst ihn zu dem Versuche zu bewegen, dich sich zum Freunde zu gewinnen. Aber ich habe nun einmal den Eindruck, daß du besser den Anfang wirst machen 76

15 können." — W a n d t e Chairekrates ein: „Was für Unsinn redest du da, Sokrates, der sich für dich gar nicht schickt, wenn du mich als den Jüngeren aufforderst, vor dein Älteren den Anfang zu machen! Bei allen Menschen gilt doch gerade die gegenteilige Regel, daß in jedem Falle, in Wort u n d Tat, 16 wer älter ist, voranzugehen hat." — „Was soll das besagen?" fragte ihn Sokrates. „Ist es nicht auch Sitte, daß der Jüngere, begegnet er einem Älteren, ihm stets ausbiegt, daß er, wenn er sitzt, sich erhebt, dem andern einen weichen Platz einräumt und ihm in der Rede nachgibt? Was zauderst du noch, lieber Freund! Bemüh dich doch einmal ernsthaft, deinem Bruder entgegenzukommen, u n d du sollst sehen, wie bald er dir nachgibt! Siehst du nicht, daß er ehrliebend u n d großherzig ist? Nichtsnutzigen Subjekten kann man nämlich nicht anders beikommen, als daß m a n ihnen nachgibt; anständige Menschen hingegen gewinnt m a n sich am ehesten, wenn m a n 17 ihnen freundlich entgegentritt." — Ei'widerte Chairekrates darauf: „Gesetzt nun, ich verhielte mich so und mein Bruder würde trotzdem nicht anders?" — „Welches andere Risiko gehst du dabei ein, als daß deine Rechtschaffenheit u n d Bruderliebe zutage treten könnte, während m a n deinen Bruder für einen schlechten Charakter hielte, der deine Zuneigung nicht verdiente? Aber ich glaube nicht daran, daß dieser Fall eintreten wird; vielmehr bin ich der Auffassung, daß in ihm, Sobald er n u r deine Aufforderung zum edlen Wettstreit gewahr wird, der Ehrgeiz wach werden wird, dich 18 an Tatbeweisen jeder Art zu übertreffen. Jetzt ist es mit euch so, wie wenn die beiden Hände, die Gott dazu geschaffen hat, daß sie miteinander anfassen, diese ihre Bestimmung vergäßen und sich statt dessen darauf verlegten, einander zu schaden, oder wenn die beiden Füße, die kraft göttlichen Spruchs miteinander arbeiten sollen, sich nicht mehr daran 19 halten, sondern sich gegenseitig behindern wollten. Ist es nicht Unverstand, ja Besessenheit, das, was einem zum

77

Nutzen dienen sollte, zum eigenen Schaden zu verwenden? Und Brüder, meine ich, hat Gott geschaffen, daß sie einander größere Vorteile bringen sollten als Hände, Füße, Augen und was sonst der Mensch paarweis besitzt. Sollen die Hände zu gleicher Zeit Dinge ergreifen, die mehr als einen Klafter entfernt sind, so können sie es nicht; auch die Füße vermögen nicht im selben Augenblick zu erreichen, was einen Klafter überschreitet; sogar die Augen, die nach dem ersten Anschein doch das meiste zu erfassen vermögen, können doch nicht zur selben Zeit erkennen, was vor und was hinter uns liegt, und wäre es noch so nah; Brüder dagegen, die einander lieb haben, wirken zusammen, auch wenn sie noch so weit getrennt sind, zu beiderseitigem Nutzen."

VIERTES K A P I T E L

Vom Wert der

Freundschaft

Einmal habe ich Sokrates auch über die Freundschaft i reden hören, und ich glaube, manch einer hätte da seine Nutzanwendung ziehen können, wie man sich Freunde gewinnen und erhalten kann. Er höre von vielen, so erzählte damals Sokrates, daß ein wahrer, guter Freund das größte Gut bedeute, aber auf der andern Seite sähe er, daß die Mehrzahl der Menschen sich um alles andere eher bekümmere als darum, sich Freunde zu machen. Das beobachte er, daß 2 die Leute sich Äcker, Sklaven, Herden und Geräte mit viel Eifer erwürben und sich bemühten, diesen Besitz zu wahren; dagegen strenge sich kaum einer an, einen Freund zu gewinnen, der doch angeblich das größte Gut darstelle, noch bemühe sich jemand darum, die erworbenen Freunde sich zu erhalten. Vielmehr mache er die Erfahrung, daß nicht 3 • 78

Nutzen dienen sollte, zum eigenen Schaden zu verwenden? Und Brüder, meine ich, hat Gott geschaffen, daß sie einander größere Vorteile bringen sollten als Hände, Füße, Augen und was sonst der Mensch paarweis besitzt. Sollen die Hände zu gleicher Zeit Dinge ergreifen, die mehr als einen Klafter entfernt sind, so können sie es nicht; auch die Füße vermögen nicht im selben Augenblick zu erreichen, was einen Klafter überschreitet; sogar die Augen, die nach dem ersten Anschein doch das meiste zu erfassen vermögen, können doch nicht zur selben Zeit erkennen, was vor und was hinter uns liegt, und wäre es noch so nah; Brüder dagegen, die einander lieb haben, wirken zusammen, auch wenn sie noch so weit getrennt sind, zu beiderseitigem Nutzen."

VIERTES K A P I T E L

Vom Wert der

Freundschaft

Einmal habe ich Sokrates auch über die Freundschaft i reden hören, und ich glaube, manch einer hätte da seine Nutzanwendung ziehen können, wie man sich Freunde gewinnen und erhalten kann. Er höre von vielen, so erzählte damals Sokrates, daß ein wahrer, guter Freund das größte Gut bedeute, aber auf der andern Seite sähe er, daß die Mehrzahl der Menschen sich um alles andere eher bekümmere als darum, sich Freunde zu machen. Das beobachte er, daß 2 die Leute sich Äcker, Sklaven, Herden und Geräte mit viel Eifer erwürben und sich bemühten, diesen Besitz zu wahren; dagegen strenge sich kaum einer an, einen Freund zu gewinnen, der doch angeblich das größte Gut darstelle, noch bemühe sich jemand darum, die erworbenen Freunde sich zu erhalten. Vielmehr mache er die Erfahrung, daß nicht 3 • 78

wenige, wenn ihre Freunde u n d ihre Sklaven zu gleicher Zeit erkranken, f ü r die Sklaven Ärzte herbeiriefen u n d mit Sorgfalt alles zur Genesung Erforderliche beschafften, während sie ihre Freunde vernachlässigten. Und käme es zum Sterben, dann wären sie ihrer Sklaven wegen betrübt u n d betrachteten deren Tod als großen Verlust; hingegen meinten sie, daß sie durch das Ableben ihrer Freunde nichts weiter verloren hätten. Besitz darf keinen Augenblick ohne Pflege u n d Wartung sein; daß aber auch der Freund der Fürsorge 4 bedarf, wird vergessen. Ferner habe er festgestellt, daß die meisten Menschen ihr Eigentum, so reich sie auch wären, zahlenmäßig anzugeben wüßten, während sie ihre Freunde, trotzdem sie nur einige wenige besäßen, aufzuzählen nicht imstande seien. Wären sie vielmehr einmal gebeten, diese anzugeben, so nähmen sie, nachdem sie ihre Aufzählung begonnen, die bereits genannten Namen wieder zurück. So wenig bekümmerten sich die meisten Menschen um ihre 5 Freunde. Und doch k a n n man in Vergleich setzen, was man will, immer wird der Freund am besten abschneiden. Welches Roß, welches Gespann wäre so wertvoll wie ein wackrer Freund, welcher Diener zeigte gleiche Ergebenheit und 8 Treue, welcher Besitz sich so vielfältig nützlich! W o immer im eigenen Haushalt oder bei gemeinsamen Unternehmungen Not am Mann ist, springt der gute Freund in die Bresche; gilt es, jemandem Gutes zu tun, so ist er dabei; droht Gefahr, dann leiht er seine Hilfe, indem er weder seine Mittel noch seine Person schont, hier schmeichelt, da Härte beweist, den Erfolgreichen noch fröhlicher stimmt und den Strauchelnden i wieder aufrichtet. Was auch die Hände für Arbeiten leisten, die Augen sehen, die Ohren hören u n d die Füße hinter sich bringen mögen, hinter keinem dieser Dienste steht der Freund mit seiner Hilfe zurück; gar oft aber hatte der Freund alles schon geordnet, ehe der andere erst Hand anlegen, aufmerken, hinhören oder dazutreten konnte. Aber freilich, wie

79

viele bemühen sich ihrer Früchte wegen um Bäume, um den allerertragreichsten Besitz dagegen, um die Freundschaft, bekümmern sich die meisten nur lässig und ohne Lust.

FÜNFTES

KAPITEL

Vom Wert der

Freunde

Gelegentlich eines anderen Gesprächs, dessen Ohrenzeuge x ich war, richtete Sokrates an seine Zuhörer die Aufforderung, sie sollten sich einmal die Frage vorlegen, wieviel sie ihren Freunden bedeuteten. Er hatte nämlich festgestellt, daß einer seiner Bekannten sich eines in Armut geratenen Freundes nioht annahm, und richtete daher in Gegenwart dieses Mannes und zahlreicher anderer an A n t i s t h e n e s d i e Frage: „Sag, Antisthenes, mißt du dem Freunde einen Wert 2 bei so wie zum Beispiel dem Sklaven? Denn unter den Sklaven kostet der eine zwei Minen 2 ), der andere eine halbe, ein dritter fünf, wieder ein anderer zehn, ja Nikias 3 ), des Nikeratos Sohn, soll für einen Aufseiher in seinen Silbergroben ein Talent gezahlt haben. Ich möchte also gern wissen, ob dem Freunde ebenso wie dem Sklaven ein wirklicher Wert zukommt." — „Bei Zeus", antwortete ihm Antisthenes, „ich 3 würde gern auf zwei Minen verzichten, wenn der oder jener mein Freund werden wollte, einem andern würde ich selbst vor einer halben Mine nicht den Vorzug geben, ein dritter dagegen wäre mir lieber als zehn Minen, und eines vierten Freundschaft möchte ich erwerben, selbst wenn es alle Schätze 1) Der nachmalige Gründer der kynischen Schule. 2) 1 Mine = 100 Drachmen = ca. 75 Mark; 1 Talent = 60 Minen = ca. 4500 Mark. 3) Nikias, der Führer der Aristokraten im ersten Teil des Peloponnesischen Krieges und Urheber des Friedensschlusses von 421, gehörte zu einer der reichsten Familien Athens; in seinen Silbergruben beschäftigte er an die 1000 Menschen.

80

viele bemühen sich ihrer Früchte wegen um Bäume, um den allerertragreichsten Besitz dagegen, um die Freundschaft, bekümmern sich die meisten nur lässig und ohne Lust.

FÜNFTES

KAPITEL

Vom Wert der

Freunde

Gelegentlich eines anderen Gesprächs, dessen Ohrenzeuge x ich war, richtete Sokrates an seine Zuhörer die Aufforderung, sie sollten sich einmal die Frage vorlegen, wieviel sie ihren Freunden bedeuteten. Er hatte nämlich festgestellt, daß einer seiner Bekannten sich eines in Armut geratenen Freundes nioht annahm, und richtete daher in Gegenwart dieses Mannes und zahlreicher anderer an A n t i s t h e n e s d i e Frage: „Sag, Antisthenes, mißt du dem Freunde einen Wert 2 bei so wie zum Beispiel dem Sklaven? Denn unter den Sklaven kostet der eine zwei Minen 2 ), der andere eine halbe, ein dritter fünf, wieder ein anderer zehn, ja Nikias 3 ), des Nikeratos Sohn, soll für einen Aufseiher in seinen Silbergroben ein Talent gezahlt haben. Ich möchte also gern wissen, ob dem Freunde ebenso wie dem Sklaven ein wirklicher Wert zukommt." — „Bei Zeus", antwortete ihm Antisthenes, „ich 3 würde gern auf zwei Minen verzichten, wenn der oder jener mein Freund werden wollte, einem andern würde ich selbst vor einer halben Mine nicht den Vorzug geben, ein dritter dagegen wäre mir lieber als zehn Minen, und eines vierten Freundschaft möchte ich erwerben, selbst wenn es alle Schätze 1) Der nachmalige Gründer der kynischen Schule. 2) 1 Mine = 100 Drachmen = ca. 75 Mark; 1 Talent = 60 Minen = ca. 4500 Mark. 3) Nikias, der Führer der Aristokraten im ersten Teil des Peloponnesischen Krieges und Urheber des Friedensschlusses von 421, gehörte zu einer der reichsten Familien Athens; in seinen Silbergruben beschäftigte er an die 1000 Menschen.

80

4 und tausend Mühen kostete." — „Nun, wenn dem so ist", erwiderte Sokrates, „dann kann sich ja ein jeder leicht ausrechnen, welchen Wert er für seine Freunde darstellt, und sich darum bemühen, daß er für sie möglichst viel bedeute, damit ihn seine Freunde nicht so leicht preisgeben. Oftmals habe ich es nämlich zu hören bekommen, von dem einen, sein Freund habe ihn im Stich gelassen, von einem andern, daß -einem Mann, an dessen freundschaftliche Gesinnung er geglaubt, eine Mine mehr wert gewesen sei als seine Zu5 neigung. Aus all dem glaube ich den Schluß ziehen zu müssen, daß es schließlich naheliegend ist, einen lauen Freund gegen Wichtigeres fahren zu lassen, genauso wie der Sklavenhalter einen faulen Knecht feilbietet und zu jedem Preis abgibt. Keiner dagegen entledigt sich eines wackeren Freundes, ebensowenig wie er einen tüchtigen Sklaven verkauft."

SECHSTES KAPITEL

über Wahl und Behandlung x

der

Freunde

Wichtige Hinweise darüber, wer es denn verdient, als Freund gewonnen zu werden, hat meiner Meinung nach Sokrates in folgenden Ausführungen gegeben: „Sag mir doch", wandte er sich an Kritobulos 1 ), „worauf müssen wir eigentlich achten, wenn wir uns einen rechten Freund wünschen? Soll man in erster Linie darauf sehen, ob der Betreffende Herr über seine körperlichen Bedürfnisse, über seine Triebe, seine Müdigkeit und Bequemlichkeit ist? Wer sich nämlich dadurch beherrschen läßt, wird kaum etwas Rechtes leisten, weder für sich selber noch für seinen Freund." — „Ganz gewiß nicht." — „Du meinst also auch, man soll 1) Vgl. S. 41 Anm. 2. 6

Irmscher, Sokrates

81

4 und tausend Mühen kostete." — „Nun, wenn dem so ist", erwiderte Sokrates, „dann kann sich ja ein jeder leicht ausrechnen, welchen Wert er für seine Freunde darstellt, und sich darum bemühen, daß er für sie möglichst viel bedeute, damit ihn seine Freunde nicht so leicht preisgeben. Oftmals habe ich es nämlich zu hören bekommen, von dem einen, sein Freund habe ihn im Stich gelassen, von einem andern, daß -einem Mann, an dessen freundschaftliche Gesinnung er geglaubt, eine Mine mehr wert gewesen sei als seine Zu5 neigung. Aus all dem glaube ich den Schluß ziehen zu müssen, daß es schließlich naheliegend ist, einen lauen Freund gegen Wichtigeres fahren zu lassen, genauso wie der Sklavenhalter einen faulen Knecht feilbietet und zu jedem Preis abgibt. Keiner dagegen entledigt sich eines wackeren Freundes, ebensowenig wie er einen tüchtigen Sklaven verkauft."

SECHSTES KAPITEL

über Wahl und Behandlung x

der

Freunde

Wichtige Hinweise darüber, wer es denn verdient, als Freund gewonnen zu werden, hat meiner Meinung nach Sokrates in folgenden Ausführungen gegeben: „Sag mir doch", wandte er sich an Kritobulos 1 ), „worauf müssen wir eigentlich achten, wenn wir uns einen rechten Freund wünschen? Soll man in erster Linie darauf sehen, ob der Betreffende Herr über seine körperlichen Bedürfnisse, über seine Triebe, seine Müdigkeit und Bequemlichkeit ist? Wer sich nämlich dadurch beherrschen läßt, wird kaum etwas Rechtes leisten, weder für sich selber noch für seinen Freund." — „Ganz gewiß nicht." — „Du meinst also auch, man soll 1) Vgl. S. 41 Anm. 2. 6

Irmscher, Sokrates

81

alle die meiden, die ihr eigenes Triebleben nicht im Zaume zu halten vermögen?" — „Ganz recht." — „Und glaubst du 2 nicht auch, daß der ungenügsame Verschwender, der ohne seine Nachbarn nicht auszukommen vermag, der annimmt, ohne zurückgeben zu können, und auf den, der ihm nicht geben will, böse wird, glaubst du nicht auch, daß der kein rechter Freund sein kann?" — „Jawohl." — „Also werden wir auch solchen Menschen aus dem Wege gehen?" — „Das müssen wir." — „Was hältst du von den Leuten, die zu 3 wirtschaften verstehen und viel Geld gewinnen möchten, aber gerade darum schwer zu behandeln sind, weil sie zwar gern nehmen, aber nur höchst ungern etwas abgeben wollen?" — „Ich glaube, diese Leute sind noch schlimmer als die vorgenannte Gruppe." — „Was meinst du über die, die aus lauter Raffgier für nichts anderes Zeit finden als für solche Dinge, aus denen sie Nutzen zu ziehen vermögen?" — „Auch die können wir nicht brauchen; denn ein solcher Mensch würde dem Freunde nichts nützen." — „Wenn nun jemand ein 4 Revolutionär ist und dadurch seinen Freunden viele Gegner eintragen würde?" — „Auch vor diesem Mann sollte man sich vorsehen." — „Gesetzt nun, jemand wäre mit keinem dieser Übel belastet, er ließe es sich aber gefallen, daß man ihm Freundlichkeiten erwiese, ohne daß er daran dächte, sich irgendwie zu entschädigen, was würdest du darüber denken?" — „Auch der Mann ist nach meiner Auffassung nicht zu gebrauchen. Doch sag mir endlich, Sokrates, wie soll denn nun der beschaffen sein, um dessen Freundschaft wir uns bemühen wollen!" — „Nun, ich denke, er sollte im 5 Gegensatz zu den Vorgenannten in allen leiblichen Genüssen maßvoll sein, ein freundlicher Ratgeber und dankbarer Mensch, der denen, die ihm Freundlichkeiten erwiesen, darin nicht nachstünde, so daß er seinen Bekannten greifbaren Nutzen brächte." — „Und wie, Sokrates, kann man das fest- 6 stellen, ehe man in nähere Bekanntschaft tritt?" — „Wenn 82

wir über Bildhauer urteilen müssen, dann halten wir uns nicht an ihre Worte, sondern schenken dem, von dem wir wissen, daß er schon früher gute Arbeiten geschaffen hat, das Vertrauen, daß auch seine späteren Werke etwas taugen wer7 den." — „Damit willst du sagen, daß jemand, der dem Augenschein zufolge seine bisherigen Freunde gefördert hat, offensichtlich auch neugewonnenen sich nützlich machen wird?" — „Ja. Denn auch wenn jemand Pferde bis jetzt nach meiner Auffassung richtig behandelte, nehme ich an, 8 daß das in Zukunft nicht anders sein wird." — „Gut. Wie kann ich aber nun den zum Freunde gewinnen, der meiner Freundschaft würdig erscheint?" — „Zuvörderst muß man die Zeichen der Götter beachten, ob diese zu solcher Freundschaft raten." — „Ja, und vermagst du weiter zu sagen, wie diese Freundschaft geschlossen werden soll, wenn ich sie selbst gutheiße und die Götter nichts einzuwenden haben?" — 9 „Nun, man kann sie nicht mit den Füßen erjagen wie einen Hasen noch tückisch überlisten wie Vögel noch auch durch einen Gewaltstreich nehmen wie die Feinde. Jemanden wider seinen Willen für eine Freundschaft gewinnen zu wollen, ist sinnlos, und schwer, einen andern wie einen Sklaven in Fesseln zu halten; derartige Methoden werden eher Feinde als 10 Freunde hervorbringen." — „Aber wie schafft man sich Freunde?" — „Man sagt, es gäbe da Zaubersprüche; wer die wisse, der könne sich, wen er wolle, zum Freunde machen. Ferner gäbe es geheimnisvolle Formeln; wer davon Kenntnis habe, der komme in engere Fühlung mit allen, deren Umgang er sich wünsche." — „Ja, aber woher könnten wir die 11 erfahren?" — „Du weißt doch aus Homer, was die Sirenen zu Odysseus sangen. Der Anfang davon geht etwa so: ,Komm, gepriesner Odysseus, du großer Ruhm der Achäer!'" 1) H o m e r , Odyssee 12, 1 8 4 .

e*

83

„übten nun die Sirenen auch auf andere Menschen durch ihren Gesang solchen Zauber aus, daß die, an die ihre Verse gerichtet waren, nicht mehr fortzukommen vermochten?" -r„Nein, nur an die wandten sie sich, die nach Höherem strebten." — „Du willst damit wohl sagen, daß man mit solchen Worten werben soll, bei denen der Angesprochene nicht den Eindruck hat, als wolle ihn der Lobredner in Wirklichkeit verspotten. Denn verhaßt nur und gemieden würde sich machen, wer einen andern, von dem er wüßte, daß er klein, häßlich und schwach ist, in der Weise loben wollte, daß er ihn als ansehnlich, stattlich und kräftig bezeichnete. Aber kennst du noch andere Zauberworte?" — „Nein, doch habe ich gehört, daß Perikles über mannigfache verfügte, durch deren Anwendung er sich das Volk geneigt machte." — „Und wie gewann sich Themistokles die Menge?" — „Indem er sie — bei Zeus! — nicht durch Worte, sondern durch Taten an sich kettete." — „Das soll also heißen, daß wir, wenn wir einen rechten Freund gewinnen wollen, selber ebenso tüchtig in Worten wie in Taten sein müssen." — „Würdest du glauben", fragte Sokrates weiter, „daß ein nichtsnutziger Mensch wackre Freunde zu erwerben imstande sei?" — „Ich denke wohl", erwiderte Kritobulos, „habe ich doch schlechte Redner kennengelernt, die Freundschaft mit ausgezeichneten Demagogen verband, und Leute getroffen, die auf militärischem Gebiete Laien waren und trotzdem mit tüchtigen Offizieren in kameradschaftlichem Verkehr standen." — „Weißt du aber auf dem von uns berührten Gebiete ein Beispiel, daß jemand, der selber zu nichts zu brauchen, tüchtige Freunde gewann?" — „Nein, wirklich nicht. Aber wenn es unmöglich ist, daß der Nichts1) Die ähnliche Verbindung von Perikles u n d Themistokles in Xenophons Gastmahl 8, 89 beweist, daß Xenophon die Absicht fern lag, Themistokles gegen Perikles auszuspielen; dafür schätzten die Griechen die Macht des Wortes viel zu hoch. Themistokles' Verdienste beruhen vor allem auf der Begründung der athenischen Seemacht.

84

nutz sich rechte Freunde gewinnt, so drängt sich mir die Frage auf, ob er, wenn er zu edler Gesinnung heranwächst, dann ohne weiteres mit ebensolchen Menschen in freundschaftlichen Verkehr treten kann." — „Es beunruhigt dich, Kritobulos, daß du häufig feststellen mußt, daß Männer, die das Rechte tun und das Böse meiden, statt in Freundschaft miteinander zu leben, sich befehden und sich gegeneinander fester abschließen als gegen weniger wertvolle Menschen." — Fiel Kritobulos ein: „Und nicht nur im Privatleben ist das so, sondern auch in der Politik. Staatswesen, die nach dem rechten Wege trachten und alles Dunkle heftigst verabscheuen, stehen nicht selten auf verschiedenen Fronten. Wenn ich das überlege, habe ich wenig Mut, mir Freunde zu suchen. Wenn schlechte Menschen keine Freunde werden können, so sehe ich das ein; denn wie sollten undankbare, nachlässige, habsüchtige, treulose, unbeherrschte Menschen zur Freundschaft taugen! Nein, die Schlechten sind ihrer Natur nach stärker zu gegenseitiger Feindschaft als zu gemeinsamem Verstehen veranlagt. Nun, sagst du aber, könnten diese Menschen überhaupt nie in freundschaftliche Bindungen, auch nicht zu den Rechtdenkenden, treten; denn wie sollten sich Menschen, die das Böse tun, sich mit denen anfreunden können, die es hassen? Wenn nun aber auch die wertvollen Menschen sich wegen der politischen Vorherrschaft uneins sind und aus gegenseitigem Neid einander hassen, wer ist dann überhaupt noch zur Freundschaft befähigt, wo in aller Welt gibt es dann noch Treu und Glauben?" — Sokrates gab ihm zur Antwort: „All das geht ineinander über. Naturgemäß ist den Menschen die Liebe; denn sie bedürfen einander, empfinden gegenseitiges Mitleid, schaffen zu allgemeinem Nutzen und, sofern sie sich darüber klar werden, wissen sie einander darum Dank. Naturgemäß ist aber auch der Kampf, weil die Menschen um das, was sie für gut und angenehm halten, sich streiten und bei 85

Meinungsverschiedenheiten sich gegeneinander stellen. Streit und Zorn sind Zeichen solcher Gesinnung, Habsucht erzeugt Feindschaft, und der Neid ist vollends verabscheuungswürdig. Doch trotz allem bindet die Freundschaft da, 22 wo sie in Erscheinung tritt, edle Herzen aneinander. Aus sittlichem Gefühl heraus wollen sie lieber ein bescheidenes Besitztum ohne Mühe ihr Eigen nennen, als sich durch Krieg zum Herrn über alles aufschwingen; obgleich sie selber hungern und Durst leiden, vermögen sie doch ohne Schmerz Speise und Trank zu teilen und sich, um niemanden zu betrüben, des Liebesgenusses zu enthalten, wiewohl auch sie Freude daran haben; in Geldsachen halten sie sich nicht nur, 23 frei von jeder Habsucht, nach Recht und Gesetz, sondern sind noch imstande, einander auszuhelfen; Streit können sie nicht nur ohne Beschwer, sondern sogar noch zu gegenseitigem Vorteil schlichten, und ihren Zorn verhalten sie solange, bis der Ausbruch sie reut; Neid lassen sie überhaupt nicht aufkommen, indem sie ihren eigenen Besitz den Freunden zur Nutzung überlassen und die Habe der Freunde als ihre eigene ansprechen. Ist es da nicht ganz natürlich, daß 24 tüchtige Menschen nicht nur nicht zum Schaden, sondern vielmehr zum Vorteil für ihre politische Karriere sich zusammenschließen? Denn wer in der Gemeinschaft nach Macht und Ansehen trachtet, um dadurch Möglichkeiten zu persönlicher Bereicherung, zügellosem Ausleben und Völlerei zu finden, der ist bestimmt ein vollendeter Verbrecher und somit unfähig zu irgendwelcher Bindung. Wer dagegen nach 2S ehrenvollen Stellungen strebt, um selber nicht Unrecht zu leiden und den Freunden in ihren berechtigten Ansprüchen beispringen zu können, wer als Beamter seine Heimat zu fördern versucht, warum sollte solch ein Mann nicht auf einen Gleichgesinnten treffen? Wird er, umgeben von sittlich hochstehenden Persönlichkeiten, etwa seinen Freunde» weniger helfen können? Oder sollten seine Bemühungen um

86

das Gemeinwohl weniger erfolgreich sein, wenn tüchtige 28 Menschen ihm Hilfe leisten? Ganz im Gegenteil; denn schon beim sportlichen Wettkampf ist es ja augenscheinlich, daß die Starken immer die Oberhand behielten und alle Preise davongetragen haben würden, wenn es ihnen möglich gewesen wäre, vereint gegen die Schwächeren zu gehen. Was beim Sport unmöglich ist, das ist im politischen Ringen, in dem die Besten sich messen, möglich; denn keiner wird sich weigern, willst du mit ihm dem Staatswohl dienen. Warum sollte es also nicht von Nutzen sein, im Bunde mit den Besten die Führung im Staate zu übernehmen? Ist es nicht besser, diese als Freunde und Mitarbeiter statt als Wider37 sacher zu wissen? Und noch ein weiteres ist klar, daß nämlich ein jeder, der in den Krieg zieht, Bundesgenossen braucht, und zwar um so mehr, wenn er einem ebenbürtigen Gegner gegenübersteht. Wer aber Bundesgenossenschaft leisten soll, der rechnet auf sichtbare Freundschaftsbeweise, soll sein Eifer nicht erlahmen; dabei ist es zweckmäßiger, sich die in der Minderzahl befindlichen Tüchtigen zu gewinnen als die Durchschnittsmenschen, welche die große Menge ausmachen. Die Unterwertigen fordern nämlich viel zahlreichere Guttaten als die rechtdenkenden Menschen. 28 Also nur Mut, lieber Kritobulos", fuhr Sokrates fort, „Mut, nach dem Höhern zu .streben! Hast du es erreicht, dann richte sich dein Sinn darauf, dir die Edlen zu Freunden zu gewinnen. Vielleicht kann ich dir bei diesem Beginnen sogar ein wenig behilflich sein, da ich mich auf die Liebe verstehe; denn wenn mich ein Mensch anzieht, dann richtet sich mein ganzes Sinnen darauf, daß meine Liebe auf Gegenliebe stößt, mein Sehnen Erwiderung findet und mein Drängen zu vertraulichem Umgang mit gleichen Gefühlen beantwortet 29 wird. Auch du, glaube ich, brauchst solche seelischen Kräfte, wenn du mit jemandem Freundschaft schließen willst. Verbirg mir es darum nicht, wem du dich enger anschließen

87

möchtest; da es eben mein Bestreben ist, dem, der mir gefällt, meine Gunst zu erweisen, glaube ich, bin ich nicht ganz unerfahren in der Menschenjagd." — Kritobulos: „Auch ich, 30 bester Sokrates, bemühe mich schon seit langem um diese Kunst, besonders aber um die Frage, ob das gleiche Wissen mir bei den guten Menschen die Seele und bei den schönen den Körper zu gewinnen vermögen wird." — Sokrates dar- 31 auf: „Soweit reicht auch meine Fähigkeit nicht, daß ich die wohlgestalteten Menschen dazu bringen könnte, daß sie es duldeten, wenn ich sie mit meinen Händen berührte. Es ist übrigens meine Überzeugung, daß die Leute deshalb vor der Skylla 1). fliehen, weil sie die Hände nach ihnen ausstreckt; dagegen wird berichtet, daß alle den Sirenen 2 ) nachgehen, . die ihre Hand auf niemand richten, sondern durch ihren Zauber von fernher wirken, und geraten alle, die darauf hören, in ihren Bann." — Wieder Kritobulos: „Soll ich also 32 nicht die Hände ausstrecken, so sag es mir, wenn du mir raten kannst, Freunde zu gewinnen!" — „Auch den Mund wirst du nicht auf des andern Mund drücken?" — „Da kannst du unbesorgt sein", erwiderte Kritobulos, „ich werde niemanden küssen, es sei denn, er ist schön". — „Da hast du, lieber Kritobulos, das ganze Gegenteil von dem, was zu-, trifft, behauptet. Schöne Menschen werden solche Zudringlichkeit nämlich nicht dulden, während sie häßlichen nur zu gelegen kommt, da sie des Glaubens sind, man nenne sie ihrer edlen Gesinnung halber schön." — Darauf Kritobulos: 33 „Soll ich also schöne Menschen lieben und gute küssen, dann, lieber Sokrates, lehre mich ohne Umschweife, wie ich mir Freunde gewinnen kann!" — „Wenn du, lieber Kritobulos, 1) Ein Meerungeheuer, das zusammen mit der Charybdis eine Meerenge sperrte; mit ihren sechs Köpfen und zwölf Füßen ging sie auf die vorbeifahrenden Seeleute los. 2) Die Sirenen lockten durch ihren Gesang die Seeleute an, u m sie dann zu töten. Sowohl Skylla und Charybdis wie auch die Sireneninsel h a t t e Odysseus auf seinen Irrfahrten zu passieren.

88

jemandes Freund werden willst, ist dir es dann recht, wenn ich dich ihm gegenüber beschuldige, du bewundertest ihn und suchtest nach seiner Freundschaft?" — „In diesem Sinne kannst du mich gern anschwärzen, weiß ich doch, daß nie34 mand die haßt, die ihm lobreden." — „Und wenn ich meine Beschuldigung noch dahin steigere, daß du jenen, eben weil du ihn bewunderst, in dein Herz geschlossen hast, wirst du das als Verleumdung von meiner Seite auffassen?" — „Im Gegenteil; ich selbst habe auch Sympathien zu denen, von welchen ich glaube, daß ich ihnen angenehm bin." — 35 Sokrates: „Das also darf ich über dich denen gegenüber äußern, deren Freundschaft du suchst? Wenn du mir aber darüber hinaus noch Vollmacht gibst, von dii» zu sagen, daß du dich deiner Freunde annimmst, dich nichts so sehr freut wie gute Freunde, ihre Erfolge dich nicht weniger erheben als deine eigenen, ihren Vorteil du dem deinen gleich achtest und du nicht müde wirst, dich um sie zu sorgen, und wenn ich ferner erzähle, du wissest, daß die Tugend eines Mannes darin liege, seinen Freunden zu nützen und seinen Feinden zu schaden, so glaube ich, werde ich dir ein rechter Kamerad sein bei deiner Jagd nach guten Freunden." — Erwiderte Kritobulos: „Was sagst du das mir, als ob es nicht in deiner Gewalt stünde, was du über mich redest!" — „Bei Zeus, nein! Aspasia 1 ) hat mir nämlich einmal gesagt, die Kunst guter Heiratsvermittlerinnen bestünde darin, daß sie der Wahrheit gemäß alle guten Seiten herausstrichen und so die Paare zusammenbrächten; dagegen wollte sie die gleisnerischen nicht anerkennen. Die betrogenen Partner haßten nämlich nicht nur einander, sondern auch die, die ihre Ehe gestiftet. Da ich von der Richtigkeit dieser Worte überzeugt bin, halte ich mich nicht für berechtigt, wenn ich dich lobe, auch nur ein Wort zu sagen, das nicht der Wahrheit ent37 spricht." — Kritobulos: „Und hätte ich auch nur ganz wenig, 36

1) Die hochgebildete Hetäre und nachmalige Gattin des Perikles.

89

was mir Freunde gewinnen würde, so bist du, Sokrates, derart mit mir befreundet, daß du mir helfen kannst; im andern Falle würdest du nicht mit bloßen Vorspiegelungen zu meinem Nutzen sprechen wollen." — Sokrates antwortete ihm: „In welchem Fall, glaubst du, leiste ich dir einen bessern Dienst, wenn ich dich wider die Wahrheit lobe oder wenn ich dich dazu anhalte, ein tüchtiger Mann zu werden? Damit dir das klar wird, bedenke folgendes: Gesetzt, ich 38 wollte dich mit einem Schiffseigner bekannt machen, behauptete, du seiest ein tüchtiger Steuermann, und dieser SchifTsherr glaubte mir und überließe dir sein Schiff, ohne daß du doch mit der Seefahrt vertraut bist, was berechtigte dich dann noch zu der Hoffnung, daß du und dein Schiff nicht untergehen würden? Oder wenn ich mit der falschen Behauptung, du seiest in der militärischen Führung, im Gerichtswesen und in der Politik erfahren wie nur jemand, die Bürgerschaft dazu brächte, dir ihre Geschicke zu übertragen, was meinst du, wie es dann dir und dem Staate erginge! Oder ich verführte einen unserer Mitbürger dazu, dir seine Vermögensangelegenheiten zu übertragen, indem ich ihm vorspiegelte, du wärest ein geschickter Haushalter, welchen Schaden würdest du ihm zufügen und wie verächtlich stündest du da, wenn du eine Probe deines Könnens geben solltest! Nein, mein lieber Kritobulos, der kürzeste, sicherste 89 und ehrenhafteste Weg dazu, daß man dich für gut hält, liegt darin, daß du dich bemühst, es auch wirklich zu sein. Wieviele gute Eigenschaften es unter den Menschen auch geben mag, du wirst doch bei näherem Hinschauen finden, daß sie alle sich durch Fleiß und Übung vertiefen lassen. Auf diese Weise, denke ich, werden wir Freunde gewinnen müssen. Bist du anderer Meinung, so sag es mir!" Doch Kritobulos erwiderte: „Ich müßte mich schämen, wollte ich dir widersprechen; denn was ich sagen könnte, wäre weder vernünftig noch richtig."

90

SIEBENTES KAPITEL

Sokrates mahnt zu nützlicher

Tätigkeit

1

Nöte, die seinen Freunden aus ihrer Unwissenheit erwuchsen, suchte Sokrates durch seine Unterweisung zu beseitigen; waren sie dagegen durch Armut und Bedürftigkeit ¡begründet, so, lehrte er, müßten sie einander nach Kräften helfen. Auch hierzu will ich mitteilen, was ich von ihm weiß. Einmal sah er, daß Aristarch mit finsterer Miene einherging; fragte er: „Aristarch, dich bedrückt etwas. Du solltest deine Last auch deinen Freunden mitteilen; vielleicht, daß 2 wir dich erleichtern könnten!" — Aristarch antwortete: „Ja, du hast recht, Sokrates, ich befinde mich wirklich in großer Not. Als nämlich während der Revolution viele Männer nach Piräus fliehen mußten 2), sind all die zurückgebliebenen Schwestern, Nichten und andern Anverwandten zu mir gekommen, so daß jetzt in meinem Hause allein vierzehn Freigeborene leben. Dabei bekommen wir vom Lande auch nicht das Geringste; denn dort herrscht der Gegner. Aber auch in der Stadt ist nichts zu holen; Athen ist ja menschenleer. Hausgerät will keiner kaufen, und Geld ist nirgends zu leihen; ich habe den Eindruck, daß man eher etwas auf der Straße findet, als daß man etwas geliehen erhält. Es ist freilich schlimm, wenn man es mit ansehen muß, wie seine Lieben verenden, und doch ist es ein Ding der Unmöglichkeit, unter solchen Umständen so viele Menschen zu unter3 halten." — Als das Sokrates erfuhr, sagte er: „Wie kommt es bloß, daß Keramon 3 ), der ebenso viele Hausgenossen zu 1) Sonst nicht näher bekannt. 2) Zur Sache vgl. Xenophon, Griechische Geschichte 2, 4,1. 3) Sonst nicht näher bekannt.

91

unterhalten hat, nicht nur für sich und für diese das Notwendige schallt, sondern darüber hinaus noch so viel erwirbt, daß er ein reicher Mann wird, während du bei deinem gleichen Haushalt befürchtest, daß ihr sämtlich aus Mangel am Lebensnotwendigsten zugrunde geht?" — „Sehr einfach, weil Keramon Sklaven zu unterhalten hat und ich Freigeborene." — „Und wen achtest du für wertvoller, die Frei-1 geborenen in deinem Hause oder die Sklaven bei Keramon?" — „Meine Freigeborenen, wollte ich meinen." — „Ist es aber dann nicht eine Schande, daß dieser Keramon an seinen weniger wertvollen Menschen reich wird, während du mit deinen Hausgenossen, die diesen weit überlegen sind, in Not bist?" — „So ist es freilich, und zwar deshalb, weil Keramon Handwerker bei sich hat, ich aber Menschen, die als Freigeborene aufwuchsen." — „Handwerker sind also Leute, 5 die sich auf eine nützliche Kunst verstehen?" — „Ganz recht." — „Gerstenmehl ist etwas Nützliches?" — „Sehr sogar." — „Brote auch?" — „Die nicht minder." — „Wie steht es mit Männer- und Frauenkleidung, Wäsche, Mänteln und Kitteln?" — „Auch das sind alles sehr nützliche Dinge." — „Ja, und verstehen sich denn deine Leute gar nicht darauf, irgend etwas von diesen Dingen herzustellen?" — „Alles 8 sogar, denke ich." — „Und dann weißt du nicht, daß Nausikydes 1 ) von einer einzigen unter diesen Tätigkeiten, von der Müllerei nämlich, nicht nur sich und sein Gesinde ernährt, sondern dazu noch viele Schweine und Rinder, und soviel verdient, daß er sich häufig der Allgemeinheit zur Verfügung stellt. Kyrebos 2) unterhält sein ganzes Haus mit seiner Bäckerei und lebt mit großem Aufwand, Demeas aus Kollytos 3 ) von der Mantelfabrikation, Menon 4 ) von der 1) 2) 3) 4)

92

Vgl. noch Aristoph., Ekkl. 426. Sonst nicht näher bekannt. Sonst nicht näher bekannt. Sonst unbekannt.

Kleiderkonfektion, die meisten Megarer von der Herstellung von Kitteln." — „Ja freilich; alle diese Leute halten sich gekaufte Ausländer, die sie zwingen, gutgehende Waren herzustellen; ich dagegen habe Freigeborene bei mir und noch 7 dazu Verwandte." — „Weil sie freigeboren und mit dir verwandt sind, glaubst du also, brauchten sie nichts anderes zu tun als zu essen und zu schlafen? Sagt dir nun deine Erfahrung, daß unter den übrigen Freigeborenen die besser und glücklicher leben, die sich an die Art deiner Verwandten halten, oder jene, die sich auf etwas Nützliches verstehen und von dieser Fähigkeit Gebrauch machen? Oder empfindest du, daß Faulheit und Nachlässigkeit dem Menschen etwas nützen, um das, was zu wissen notwendig ist, zu erlernen, und um das Gelernte zu behalten, u m gesund und bei Kräften zu bleiben, um sich etwas zu schaffen und das Lebensnotwendige zu sichern, während Fleiß und 8 Arbeit dazu nicht taugen? Du sagst, deine Verwandten verstünden sich auf diese Fertigkeiten; etwa, weil diese zum Leben ohne Nutzen und um sie nicht auszuüben, oder nicht im Gegenteil dazu, um sich darauf zu verlegen und daraus Nützen zu ziehen? Wer handelt vernünftiger, der Faulpelz oder der, der etwas Nützliches schafft? Was ist gerechter, zu 9 arbeiten oder müßig über seine Notdurft zu beraten? Hinzu kommt noch, daß, wie ich meine, in der jetzigen Lage du" sie nicht liebst, sie dich aber auch nicht. Denn du denkst doch, daß du durch deine Verwandten nur Schaden hast, und diesen wieder kann es nicht entgehen, daß du dich über sie ärgerst. Die Gefahr liegt darin, daß sich diese Differenzen noch verstärken und die einstige Dankbarkeit in Vergessenheit geraten könnte. Ziehst du hingegen deine Gäste zur Mitarbeit heran, so wirst du sie wertschätzen, da du ihre Leistung als für dich nutzbringend erkennst; sie wiederum werden zu dir in ein herzlicheres Verhältnis treten, wenn sie das Gefühl haben, daß du dich über sie freust. Des früher Geschehenen werdet 93

ihr euch gern erinnern und einander dafür um so größeren Dank wissen; euer gegenseitiges Verhältnis wird sich herzlicher und freundschaftlicher gestalten. Wollte man sie freilich 10 zwingen, etwas Unrechtes zu tun, würden sie den Tod vorziehen müssen; aber in diesem Falle besitzen sie ja Fertigkeiten, wie sie sich schöner und für eine Frau geeigneter nicht denken lassen. Jeder arbeitet aber auf dem Gebiete, auf das er sich versteht, am leichtesten, schnellsten, besten und liebsten. Zögere darum nicht, diese Ordnung, die für dich und für deine Verwandten die vorteilhafteste ist, einzuführen; sie werdendirbestimimtfolgen."—Darief Aristarch:„Ja, Sokrates, n bei den Göttern, deine Darlegungen klingen mir ganz einleuchtend. Während ich vorher mich nicht entschließen konnte, etwas Geld zu leihen, weil mir klar war, daß es verbraucht werden und ich nicht würde zurückzahlen können, habe ich jetzt den Mut, mir als Anfangskapital eine Summe auszuborgen." Wie gesagt, so getan. Aristarch nahm Gelder auf und kaufte 12 Wolle dafür ein. Während der Arbeit wurde das Frühstück eingenommen, und nach Feierabend gab es die Hauptmahlzeit. An die Stelle verbitterter Minen traten fröhliche Gesichter, und während man sich früher mißtrauisch nach einander umgeschaut hatte, sah jetzt jeder den andern gern an. Die Frauen sahen in Aristarch ihren Retter, und dieser schätzte sie als wertvolle Hausgenossen. Schließlich kam er zu Sokrates und erzählte ihm freudestrahlend alles, was bei ihm geschehen. „Und", fügte er hinzu, „jetzt beschuldigen sie mich als den einzigen Faulpelz im Hause, der ohne Arbeit sein Brot esse." Sokrates fragte ihn darauf: „Hast du ihnen 13 nicht die Geschichte vom Hunde erzählt? Zu der Zeit nämlich, als die Tiere noch sprechen konnten, da wandte sich, wie es heißt, das Schaf an seinen Herrn: ,Es ist unverständlich, daß du uns, die wir dir Wolle, Lämmer und Käse liefern, nichts gibst außer dem, was wir uns selbst aus der Erde rupfen,

94

•während du dem Hunde, der dir keine solchen Dienste leistet, 14 von dem gibst, was auf deinen Tisch kommt.' Der Hund hatte das mit angehört und antwortete darauf: ,Bei Zeus! Meine Aufgabe liegt ja gerade darin, auch euch zu beschützen, daß die Menschen euch nicht stehlen noch Wölfe euch fortschleppen; bewachte ich euch nicht, ihr würdet nicht einmal auf die Weide gehen können, aus Furcht vor der tödlichen Gefahr.' Darauf sollen denn die Schafe zugegeben haben, daß dem Hunde der Vorrang gebühre. So sag es auch deinen Verwandten, daß du wie der Hund die Stelle des Beschützers und Ordners einnimmst und sie es dir verdanken, wenn sie unbehelligt, ungefährdet und ohne Sorge ihrer Arbeit leben können!"

ACHTES K A P I T E L

Sokrates fordert

Verantwortungsfreudigkeit

l

Einmal begegnete Sokrates einem alten Bekannten, den er Jahre nicht gesehen hatte: „Was machst du jetzt, Eutheros?" x) — „Gegen Kriegsende 2) war ich im Auslande, jetzt bin ich wieder in Athen. Da mir meine auswärtigen Besitzungen enteignet wurden und in Attika mir mein Vater nichts vererbte, bin ich jetzt gezwungen, mir wie ein Fremder durch körperliche Arbeit meinen Lebensunterhalt zu verdienen. Ich halte das für vorteilhafter, als andere anzugehen, abgesehen davon, daß ich gar nichts wüßte, worauf ich etwas leihen 2 könnte." — „Und wie lange noch, meinst du, wird dein Körper zu solcher Lohnarbeit imstande sein?" fragte Sokrates. — „Bei Gott, lange nicht mehr." — „Und trotzdem ist es augenscheinlich, daß du, auch wenn du älter bist, noch 1) Sonst unbekannt. 2) Gemeint ist der Peloponnesische Krieg (431—404).

95

•während du dem Hunde, der dir keine solchen Dienste leistet, 14 von dem gibst, was auf deinen Tisch kommt.' Der Hund hatte das mit angehört und antwortete darauf: ,Bei Zeus! Meine Aufgabe liegt ja gerade darin, auch euch zu beschützen, daß die Menschen euch nicht stehlen noch Wölfe euch fortschleppen; bewachte ich euch nicht, ihr würdet nicht einmal auf die Weide gehen können, aus Furcht vor der tödlichen Gefahr.' Darauf sollen denn die Schafe zugegeben haben, daß dem Hunde der Vorrang gebühre. So sag es auch deinen Verwandten, daß du wie der Hund die Stelle des Beschützers und Ordners einnimmst und sie es dir verdanken, wenn sie unbehelligt, ungefährdet und ohne Sorge ihrer Arbeit leben können!"

ACHTES K A P I T E L

Sokrates fordert

Verantwortungsfreudigkeit

l

Einmal begegnete Sokrates einem alten Bekannten, den er Jahre nicht gesehen hatte: „Was machst du jetzt, Eutheros?" x) — „Gegen Kriegsende 2) war ich im Auslande, jetzt bin ich wieder in Athen. Da mir meine auswärtigen Besitzungen enteignet wurden und in Attika mir mein Vater nichts vererbte, bin ich jetzt gezwungen, mir wie ein Fremder durch körperliche Arbeit meinen Lebensunterhalt zu verdienen. Ich halte das für vorteilhafter, als andere anzugehen, abgesehen davon, daß ich gar nichts wüßte, worauf ich etwas leihen 2 könnte." — „Und wie lange noch, meinst du, wird dein Körper zu solcher Lohnarbeit imstande sein?" fragte Sokrates. — „Bei Gott, lange nicht mehr." — „Und trotzdem ist es augenscheinlich, daß du, auch wenn du älter bist, noch 1) Sonst unbekannt. 2) Gemeint ist der Peloponnesische Krieg (431—404).

95

Ausgaben hast, während dir für deine körperliche Leistung niemand mehr etwas wird zahlen wollen." — „Da hast du schon recht." — „Also ist es zweckmäßiger, sich beizeiten nach solchen Aufgabengebieten umzusehen, denen man auch in vorgerückterem Alter noch gewachsen ist. Wende dich also an jemanden, der zu den Begüterteren gehört und eines Mannes bedarf, der ihn bei der Verwaltung seines Vermögens unterstützt, leite seine Unternehmungen, hilf ihm beim Landbau, bewache seinen Besitz, mach dich ihm nützlich und genieße deinerseits seine Hilfe!" — „Nur schwer, lieber Sokrates, könnte ich ein Knechtsverhältnis eingehen." — „Aber wieso! Hält man etwa die Träger öffentlicher Ämter deshalb für weniger frei, oder ist es nicht gerade umgekehrt?" — „Nein, Sokrates, ich mag überhaupt keine Verantwortung auf mich nehmen." — „Das, Eutheros, ist freilich nicht leicht, eine Tätigkeit zu finden, bei der es keinerlei Verantwortung gibt. Denn es ist schwierig, etwas so vollendet zu tun, daß kein Fehler mehr daran ist, und ebenso schwierig ist es, selbst wenn einem eine noch so tadelfreie Arbeit gelang, nicht doch einem harten Beurteiler in die Hände zu laufen. Ja, ich müßte mich wundern, wenn es bei deiner gegenwärtigen Tätigkeit so einfach wäre, unangefochten zu bleiben. Man muß sich also bemühen, den prinzipiellen Tadlern aus dem Wege zu bleiben, muß sich an die Großzügigen halten, darf nur solche Aufgaben übernehmen, denen man wirklich gewachsen ist, und muß sich dessen, was man tut, mit größtem Eifer und aller Sorgfalt widmen. So wirst du nach meiner Ansicht am wenigsten zur Verantwortung gezogen werden, wirst in der Not am ehesten Hilfe finden, unbeschwert und ohne Gefahren leben und bis ins Alter genug haben."

96

NEUNTES KAPITEL

Sokrates lehrt Kriton, sich gegen falsche Ankläger

sichern 1

J

loh erinnere mich, wie bei einer Gelegenheit Kriton ) dein Sokrates davon berichtete, mit welchen Schwierigkeiten in Athen das Leben für jemand verbunden sei, der seinen Geschäften nachgehen wolle. „Da bringen mich jetzt", so erzählte er, „ein paar Leute vors Gericht, nicht deshalb, weil ich ihnen etwas zuleide getan hätte, sondern weil sie denken, 2 ich werde lieber zahlen als prozessieren wollen." — „Sag mir", erwiderte ihm Sokrates darauf, „hältst du dir Hunde, die dir die Wölfe von den Schafen abhalten sollen?" — „Aber natürlich, habe ich doch größern Vorteil davon, als wenn ich es unterließe." — „Könntest du dir nun nicht auch einen Mann halten, der gewillt und imstande ist, dich gegen jene Menschen zu schützen, die dir etwas antun möchten?" — 3 „Herzlich gern sogar, wenn ich nur nicht zu befürchten brauchte, daß er sich auch gegen mich selbst wenden könnte." — „Was soll das heißen? Verstehst du nicht, daß es weit angenehmer ist, sich dadurch Nutzen zu schaffen, daß man sich mit einem Manne deiner Art anfreundet, statt sich mit ihm zu verfeinden? Du kannst mir glauben, es gibt genug, die es sich zur Ehre anrechnen würden, dürften sie deine Freunde sein." *

Nach diesem Gespräch begegneten sie Archedemos 2 ), der ein befähigter Redner und Arbeiter und doch völlig unbemittelt war. Er schlug nämlich nicht aus jeder Sache seinen Gewinn, dazu war er zu anständig; aber den Denunzianten ihr Geld abzunehmen, das, sagte er, sei doch noch am einfachsten. 1) Vgl. S. 34 Arno. 1 und S. 41 Anm. 3. 2) Wahrscheinlich der nachmalige Ankläger im Arginuaenprozeß (vgl. S. 22 Anm. 1). 7

Irmscher Sokrate9

97

Wenn nun Kriton Getreide, öl, Wein, Wolle oder sonst irgendwelche lebenswichtigen landwirtschaftlichen Produkte erhielt, gab er davon Archedemos etwas ab; wenn er opferte, lud er ihn ein; kurz, er bemühte sich um ihn in jeder Weise. Da Archedemos Kritons Haus als seine Zufluchtsstätte ansah, brachte er diesem seine Hochachtung entgegen, und nicht viel später hatte er eine Unzahl der von den Denunzianten gegen Kriton vorgebrachten Beschuldigungen heraus und kannte dessen Feinde. Einem von diesen drohte er mit einer Staatsklage, bei welcher über die Zuständigkeit einer Leibes- oder Geldstrafe hätte erkannt werden müssen. Im Bewußtsein seiner zahlreichen dunklen Machenschaften bot dieser Mann alles auf, um Archedem loszuwerden. Doch der gab nicht eher nach, als bis jener aufhörte, Kriton nachzustellen, und ihm, Archedem, ein Schweigegeld gab. Nachdem Archedemos mehrmals so erfolgreich gewesen, da baten auch andere aus Kritons Freundeskreis, ihnen Arohedem für solchen Wachdienst zu überlassen, nicht anders wie die Hirten, wenn jemand einen guten Hund hat, diesen gerne bei ihren Herden sehen. So stand Archedem Kriton gern zur Verfügung und verschaffte nicht bloß ihm, sondern auch seinen Freunden Ruhe; schalt ihn aber jemand von denen, gegen die er sich gewandt hatte, er schmeichele Kriton, weil er durch ihn Nutzen habe, so antwortete Archedemos: „Was ist schandbar, wenn man von rechtschaffenen Menschen Hilfe erfährt, sich diese durch Gegenleistungen zu Freunden macht und von den Minderwertigen sich distanziert, oder wenn man sich mit den anständigen Elementen verfeindet, dadurch, daß man ihnen Schaden tut, und statt dessen mit den Venbrechern gemeinsame Sache macht und ihre Gunst sucht?" Von da ab gehörte Archedemos zu Kritons Vertrauten und stand auch bei dessen anderen Freunden in Ansehen.

98

ZEHNTES K A P I T E L

Sokrates

gewinnt Diodor für wahre

Freundschaft

Mit Diodor 1 ), einem seiner Bekannten, hat, wie ich weiß, Sokrates etwa folgende Unterhaltung geführt: „Sag mir, Diodor, wenn dir einer der Sklaven entflieht, bemühst du 2 dich dann, ihn wiederzubekommen?" — „Ich rufe sogar noch andere zu Hilfe und setze eine Belohnung für den aus, der ihn zurückbringt." — „Und wenn einer deiner Sklaven krank wird, sorgst du dann für ihn und bemühst den Arzt, damit er nicht stirbt?" — „Aber freilich." — „Wenn nun einer der Bekannten, der dir viel näher steht als deine Sklaven, in Gefahr ist zu verhungern, hältst du dich dann nicht für verpflichtet, 3 für seine Errettung zu sorgen? Du weißt doch, daß Herxnogenes 2 ) nicht undankbar ist, ja daß er sich schämen würde, von dir etwas zu empfangen, ohne seinerseits mit einer Gegengabe aufwarten zu können; ferner, will mir scheinen, würde er aus freien Stücken freundlich und geduldig zur Verfügung stehen und nicht nur das tun, wozu er angehalten wäre, vielmehr würde er sich aus eigenem Antrieb nützlich machen, Vorsorgen und raten und somit mehr wert sein als eine ganze 1

4 Anzahl Sklaven zusammen. Wenn etwas Wertvolles billig zu erstehen ist, dann, sagen gute Haushälter, müsse man es kaufen, jetzt ist es der obwaltenden Umstände wegen möglich, gute Freunde auf die billigste Weise zu erwerben." — 5 Diodor fiel ein: „Du hast mir aus der Seele gesprochen; laß Hermogenes zu mir kommen!" — „Bei Zeus, ich nicht! Ich halte es nämlich erstens für richtiger, wenn du selbst zu ihm 1) Sonst nicht näher bekannt. 2) Vgl. S. 34 Anm. 3. 7*

99

hingehst, statt daß du ihn zu dir rufst, und bin zweitens der Auffassung, daß, wenn dies geschieht, dir ein größerer Gefallen getan wird als ihm." Also ging Diodor zu Hermogenes 6 und gewann sich an ihm einen Freund, der es sich angelegen sein ließ, darauf zu achten, was Diodor nütze und womit er ihn erfreue.

100

DRITTES BUCH

ERSTES KAPITEL

Wer das Amt begehrt, darf die Ausbildung

nicht

scheuen

1

Wie Sokrates die unter seinen Hörern, die nach Staatsämtern strebten, in ihren Bemühungen förderte, davon will ich jetzt berichten. Als er zum Beispiel davon erfuhr, daß Dionysodor 1 ) nach Athen käme und sich erbiete, in der Kriegskunst zu unterrichten, da sagte er zu einem jungen Manne aus seiner Umgebung, von dem er glaubte, daß er 2 nach einem militärischen Range strebe: „Wenn jemand dem Staate als Offizier dienen •will, so ist es schändlich, wenn solch ein Mensch eine Gelegenheit, sich dafür auszubilden, vorübergehen läßt, und mit gutem Recht wird dieser Mann schärfer zur Rechenschaft gezogen werden als zum Beispiel jemand, der Statuen herstellt, ohne durch eine Bildhauer3 lehre gegangen zu sein. Da in Kriegszeiten das Schicksal der ganzen Stadt in der Hand ihres Feldherrn liegt, so sind mit seinem Erfolge natürlicherweise beträchtliche Vorteile für diese und im Falle seines Versagens entsprechende Nachteile verbunden; es ist daher nur billig, wenn den, der seine Ausbildung vernachlässigte, aber trotzdem auf seine Wahl bedacht war, Strafe trifft." Durch derartige Darlegungen brachte Sokrates den jungen Mann dazu, daß er sich zur < Teilnahme am Unterricht entschloß. Nach dessen Beendigung meinte er scherzend: „Homer nennt Agamemnon einen ansehnlichen Mann 2 ); was meint ihr, Männer, kommt euch unser Freund, nachdem er in der Kriegskunst ausgebildet wurde, nicht noch ansehnlicher vor? Denn genauso wie einer, der Zither spielen kann, auch dann ein Musiker ist, 1) Sophist aus Chio3; vgl. Piaton, Euthydem. 273 A. 2) Ilias 3,170.

103

wenn er gerade nicht spielt, oder ein anderer, der sich auf die Heilkunst versteht, auch d a n n ein Arzt, wenn er sie nicht ausübt, so m u ß von jetzt ab auch unser Freund als Feldherr angesehen werden, selbst wenn er nicht zu dem Amte erwählt wird. W e m dagegen die Ausbildung fehlt, der kann weder Offizier noch Arzt werden, und wenn ihn alle Menschen dazu wählten. Aber damit auch wir, falls einer von 5 uns bei dir Unteroffizier oder Kompanieführer werden sollte, in militärischen Dingen besser beschlagen sind, so berichte uns, womit dein Unterricht in der Kriegskunst begann!" — Der Befragte erwiderte: „Mit denselben Fragen, mit denen er auch endete. Ich habe nämlich Taktik u n d nichts als Taktik gelernt." — „Das freilich", wandte Sokrates ein, „ist nur 6 ein sehr geringer Teil dessen, was ein Feldherr braucht. Denn er m u ß sich darauf verstehen, die Vorbereitungen zum Kriege zu treffen, und muß imstande sein, für den Nachschub zu sorgen. Erfinderisch, beweglich, umsichtig, beharrlich, einfallsreich sollte er sein, gütig und zugleich hart, einfältig und zugleich intrigenreich, ein Wächter u n d dabei ein Dieb, freigebig und doch habsüchtig, vorsichtig und zugleich angriffslustig, u n d was sonst noch f ü r körperliche u n d geistige Fähigkeiten ein erfolgreicher Feldherr besitzen muß. Etwas < Wichtiges ist allerdings auch die Beherrschung der Taktik, ist doch ein geordnetes Heer weit mehr wert als ein ungeordnetes, genauso wie Steine, Ziegel, Holz und Ton, die ohne Ordnung herumliegen, ohne Nutzen sind, während, wenn die Bestandteile, die weder in Fäulnis geraten noch zerschmelzen, nämlich die Steine u n d Dachziegel, darunter und darüber angesetzt u n d dazwischen Mörtel u n d Holz eingefügt werden, so wie es beim Bau geschieht, ein Haus, also ein Objekt von ansehnlichem Wert, zustande kommt." — „Da hast du wirklich, lieber Sokrates", fiel hier der junge 8 Mann ins Wort, „den rechten Vergleich gefunden! Auch im Kampfe müssen die Tüchtigen in den ersten u n d letzten

104

Reihen stehen und in der Mitte die weniger Tüchtigen, damit jene die Führung haben und diese mit fortgerissen wer8 den." — „Hat dir nun aber dein Lehrer auch gesagt, wie du Tüchtige und Mindertüchtige unterscheiden kannst? Sonst würde dir ja das, was du lerntest, gar nichts nützen. Denn wenn dich zum Beispiel jemand ersuchte, Geld nach seiner Echtheit zu sortieren, ohne dich darin zu unterweisen, wie du echtes und Falschgeld unterscheiden kannst, so wäre dein Bemühen vergebens." — „Nein, bei Zeus, das hat er mir nicht gesagt! So müssen w i r eben die Tüchtigen und die 10 Unbrauchbaren voneinander scheiden!" —„Achten wir darauf, daß wir dabei keine Fehler begehen!" — „ J a , das wollen wir!" — Sokrates: „Wenn es darum geht, Geld zu erbeuten, verfahren wir wohl richtig, wenn wir die Habgierigsten voranstellen?" — „Das denke ich." — „Und wenn es Gefahren zu bestehen gilt? Sollte man dann die Ehrgeizigsten ins erste Glied bringen?" — „Das sind die, welche, um Ruhm zu erlangen, die Gefaihr durchstehen; die sind nioht verborgen, sondern überall bekannt und darum unschwer zu n finden." — „Hat dich dein Meister bloß soviel gelehrt, wie du deine Leute aufstellen mußt, oder dich auch darin unterwiesen, wo und in welcher Weise jede Einheit einzusetzen ist?" — „Nein." — „Es gibt nämlich zahlreiche Fälle, in denen weder die gleiche Aufstellung noch die gleiche Führung möglich ist." — „Nein, davon hat er mir nichts gesagt." — „Bei Zeus, dann geh hin und frag ihn danach! Weiß er es selber und ist er kein Betrüger, so wird er sich schämen, daß er dein Geld genommen und dich trotzdem mit so mangelhaften Kenntnissen entlassen hat."

105

ZWEITES KAPITEL

Von den Pflichten

des

Feldherrn

Einen Mitbürger, der zum Feldherrn gewählt worden 1 war, fragte Sokrates: „Warum wohl, glaubst du, hat Homer Agamemnon einen Völkerhirten genannt? 1 ) Etwa deshalb, weil, wie der Hirt dafür zu sorgen hat, daß die Schafe keinen Schaden leiden, sie ihr Futter haben und der Zweck ihrer Aufzucht erreicht wird, so auch der Heerführer darauf achthaben muß, daß seine Soldaten gesund bleiben, sie ihren Unterhalt bekommen und das Ziel des Feldzugs erreicht wird? Das besteht aber darin, den Feind zu besiegen und die eigene Lage zu verbessern; oder warum sonst lobte Homer den Agamemnon, wenn er sagte: ,Beides, ein tüchtiger Herrscher sowohl als ein wackerer Kämpfer!' 2) Als 2 wackren Kämpfer hätte ihn der Dichter nicht bezeichnet, wenn er isich bloß für seine Person standhaft im Kampfe gegen den Feind gezeigt hätte, nicht aber in solcher Haltung für seine gesamte Streitmacht vorbildlich gewesen wäre. Und als guter König würde er nicht angesprochen worden sein, hätte er nur für seine Person ein mustergültiges Leiben geführt, ohne daß sich seine Herrschaft auch auf seine Untertanen segensreich ausgewirkt haben würde. Denn nicht dazu wird einer zum König erwählt, daß er gut für 3 sich sorge, sondern daß seine Wähler durch ihn Vorteile genießen; wer ins Feld zieht, will seine Lebenslage verbessern, und Feldherrn werden gewählt, um Führer zu diesem Ziel zu sein. Seine Wähler zu solchem Ziele zu bringen, ist die * Aufgabe eines Feldherrn. Man wird schwerlich eine schönere 1) Ilias 2, 243. 2) Ilias 3 , 1 7 9 .

106

Aufgabe finden als diese, aber auch nichts, was schändlicher wäre als ihre Vernachlässigung." Bei dieser Betrachtung des idealen Feldherrn blieb alles andere beiseite und wurde nur der eine Auftrag des Heerführers herausgehoben: Die glücklich zu machen, die seinem K o m m a n d o unterstehen.

DRITTES K A P I T E L

Was der Reiterführer 1

wissen

muß

Mir ist im Gedächtnis, wie sich Sokrates an einen jungen Mann, der z u m Kavalleriekommandeur gewählt worden war, mit folgenden Worten wandte: „Sicher kannst du uns etwas darüber sagen, warum d u

Reiterführer werden

wolltest.

K a u m wohl deshalb, weil du dann als erster v o r den andern reiten kannst. Denn die berittenen Bogenschützen,

deren

Aufgabe das ist, reiten sogar noch v o r den Kommandeuren." —

„ D a s entspricht

den Tatsachen." —

„Aber

sicherlich

strebtest du auch deshalb nicht nach diesem Amt, u m allgemein bekannt zu werden; denn schließlich sind auch die 2 Verrückten in der ganzen Stadt bekannt." — „ A u c h darin pflichte ich dir bei." — „ D u meinst vielmehr, du werdest die Kavallerie in besserer Verfassung als vorher an den Staat zurückgeben, werdest sie, wenn man ihrer bedürfe, anführen und dadurch deiner Heimat gute Dienste erweisen." — „ G a n z gewiß." — „ U n d es ist bestimmt etwas Großes", antwortete Sokrates, „wenn es dir gelingt, das zu erreichen, übrigens, das Amt, zu dem du gewählt wurdest, befaßt sich 3 mit Pferden und Reitern?" — „Freilich." — „ S o

erzähle

uns doch einmal v o n deinen Plänen, wie du die Pferde leistungsfähiger zu machen gedenkst!"



Der

Gefragte:

„Darin sehe ich nicht meine A u f g a b e ; ich vertrete vielmehr

107

Aufgabe finden als diese, aber auch nichts, was schändlicher wäre als ihre Vernachlässigung." Bei dieser Betrachtung des idealen Feldherrn blieb alles andere beiseite und wurde nur der eine Auftrag des Heerführers herausgehoben: Die glücklich zu machen, die seinem K o m m a n d o unterstehen.

DRITTES K A P I T E L

Was der Reiterführer 1

wissen

muß

Mir ist im Gedächtnis, wie sich Sokrates an einen jungen Mann, der z u m Kavalleriekommandeur gewählt worden war, mit folgenden Worten wandte: „Sicher kannst du uns etwas darüber sagen, warum d u

Reiterführer werden

wolltest.

K a u m wohl deshalb, weil du dann als erster v o r den andern reiten kannst. Denn die berittenen Bogenschützen,

deren

Aufgabe das ist, reiten sogar noch v o r den Kommandeuren." —

„ D a s entspricht

den Tatsachen." —

„Aber

sicherlich

strebtest du auch deshalb nicht nach diesem Amt, u m allgemein bekannt zu werden; denn schließlich sind auch die 2 Verrückten in der ganzen Stadt bekannt." — „ A u c h darin pflichte ich dir bei." — „ D u meinst vielmehr, du werdest die Kavallerie in besserer Verfassung als vorher an den Staat zurückgeben, werdest sie, wenn man ihrer bedürfe, anführen und dadurch deiner Heimat gute Dienste erweisen." — „ G a n z gewiß." — „ U n d es ist bestimmt etwas Großes", antwortete Sokrates, „wenn es dir gelingt, das zu erreichen, übrigens, das Amt, zu dem du gewählt wurdest, befaßt sich 3 mit Pferden und Reitern?" — „Freilich." — „ S o

erzähle

uns doch einmal v o n deinen Plänen, wie du die Pferde leistungsfähiger zu machen gedenkst!"



Der

Gefragte:

„Darin sehe ich nicht meine A u f g a b e ; ich vertrete vielmehr

107

den Standpunkt, daß ein jeder f ü r sein eigenes Pferd sorgen muß." — „Wenn dir nun beim Appell manche Soldaten Pferde vorführen, die schlechte Läufer, von wenig gutem Körperbau oder schwächlich sind, andere unterernährte Tiere bringen, die nicht mehr mitzukommen vermögen, die Pferde, welche die dritte Gruppe hat, wieder so wenig abgerichtet sind, daß sie nicht stehenbleiben wollen, wohin du sie stellst, und es sich bei wieder anderen u m Schläger handelt, mit denen du überhaupt nicht fertig zu werden vermagst, sag, was willst du mit solch einer Kavallerie anfangen? Oder was würdest du als deren Führer zum Nutzen des Staates leisten können?" — „Ja, damit hast du ganz recht; ich werde mich daher nach besten Kräften u m die Pferde bekümmern." — „Ja, und darauf willst du kein Augenmerk legen, daß auch die Leistungsfähigkeit der Reiter gehoben wird?" — „Doch, doch!" — „Du wirst sie also im Aufsitzen weiter ausbilden?'" — „Das ist meine Pflicht; weiß sich doch solch ein Reiter, wenn er abgeworfen wird, leichter zu helfen." — „Wirst du nun, wenn es darauf ankommt, den Befehl geben, die Feinde auf den Reitplatz zu locken, wo für gewöhnlich eure Übungen stattfinden, oder wdrist d u versuchein, eure Übungen in solchem Gelände stattfinden zu lassen, wie es f ü r gewöhnlich das Schlachtfeld darbietet?" — „Das ist das Vorteilhaftere." — „Wirst du dich bemühen, daß möglichst viele von ihren Pferden aus schießen können?" — „Auch das ist zweckmäßig." — „Hast du ferner daran gedacht, daß du, u m ihre K a m p f k r a f t zu heben, die Reiter anfeuern und gegen die Feinde aufbringen mußt?" — „Noch nicht, aber ich will mich schon bemühen." — „Wie werden dir die Reiter gehorchen? Hast du dir das überlegt? Ohne Gehorsam sind weder Pferde noch gute, kampffreudige Reiter zu brauchen.'" — „Damit hast du recht; aber, lieber Sokrates, wie bringt man sie dazu?" — „Soviel weißt du, daß Menschen in jedem Falle dem gegenüber zum größten Gehorsam bereit sind, den

108

sie als im höchsten Grade expert ansehen; in der Krankheit folgen sie dem am besten, den sie für den geschicktesten Arzt halten, zur See dem erfahrensten Steuermann, in Fragen des Landbaus dem tüchtigsten Landwirt." — „Das stimmt." — „Dasselbe gilt für die Reitkunst, daß die andern demjenigen am ehesten zu gehorchen bereit sind, der sich nach ihrer Auffassung am besten auf die Notwendigkeiten ver10 steht." — „Gesetzt nun, Sokrates, man habe von mir den Eindruck, daß ich in diesen Fragen am besten beschlagen wäre, würde das ausreichen, daß die andern mir gehorsam wären?" — „Unter der Bedingung, daß du sie außerdem darüber belehrtest, daß es für sie selbst zweckmäßiger und dienlicher ist, sich dir zu unterstellen." — „ W i e kann ich ihnen das beibringen?" — „Eis ist jedenfalls viel leichter, als wenn du die Aufgabe hättest, sie davon zu überzeugen, daß das Böse besser und nutzbringender ist als das Gute." — n „Vertrittst du den Standpunkt, daß ein Reiterführer neben allem andern auch noch reden können muß?" — „Dachtest du, er könnte durch Stillschweigen kommandieren? Oder hast du dir noch nie vergegenwärtigt, daß wir alle Leitsätze unserer Lebensführung, die wir kraft des Gesetzes erlernten, in mündlicher Unterweisung erfuhren und daß alle sonstige Wissenschaft, die wir in uns aufnahmen, uns mündlich übermittelt wurde? Die besten Lehrer sind die bedeutendsten Redner und die ernsthaftesten Denker die größten Dia12 lektiker. Auch daran dachtest du wohl nicht, daß, wenn Athen einen Chor ausrüstet, so wie es ihn beispielshalber nach Delos sendet 1 ), diesem keiner gleichkommt, noch daß es nirgends sonst einen Festzug gibt, der dem Athener an 13 die Seite zu stellen wäre?" — „Das stimmt." — „Aber weder durch schöne Stimmen noch durch ansehnliche Gestalt und 1) A u f Delos f a n d e n zu Ehren des A p o l l o n die Dellen s t a t t , u n d z w a r alle vier J a h r e in g r o ß e m , w ä h r e n d

der dazwischenliegenden

J a h r e in

be-

scheidenerem A u s m a ß .

109

Körperkraft unterscheiden sich die Athener so sehr von den Einwohnern anderer Städte als vielmehr durch ihren Ehrgeiz, der sie zu rechtem, ehrenvollem Handeln anspornt." — „Auch darin gebe ich dir recht." — „Wenn nun sich jemand um unsere Kavallerie ernsthaft bekümmerte, um ihre Ausrüstung an Mannschaften und Pferden sowie ihre Ausbildung und Einsatzbereitschaft, meinst du nicht auch, daß dann die Athener auch auf diesem Gebiete vor anderen sich auszeichnen würden, wenn nur Ruhm und Ehre dabei zu gewinnen wäre?" — „Ganz gewiß." — „Was zögerst du also noch? Bemüh dich, deine Leute soweit zu bringen, daß du von ihnen Nutzen hast und deine Mitbürger von dir!" — „Bei Zeus, das will ich versuchen!"

VIERTES KAPITEL

Der gute Haushälter

ist auch zum Feldherrn

geschickt

Einmal begegnete Sokrates dem Nikomachides der gerade von den Beamtenwahlen kam. Redete er ihn an: „Wer ist zum General gewählt worden, Nikomachides?" — „Ach", erwiderte der, „so sind nun die Athener! Mich, der ich von der Pike auf als Soldat, als Kompanieführer und Kommandeur gedient und" — dabei deckte er seine Wundmale auf und zeigte darauf — »der ich so viele Wunden vor dem Feinde empfangen habe, mich haben sie nicht gewählt; aber deaa Antisthenes 2 ), der als Hoplit überhaupt niemals im Felde gestanden und als Reiter nichts überragendes vollbracht hat, der nichts weiter versteht, als Reichtümer aufzuhäufen, den haben sie sich auserkoren!" — „Aber", wandte Sokrates ein, „ist das nicht recht vorteilhaft, da er doch so 1) Sonst unbekannt. 2) Lediglich durch seinen Reichtum bekannt.

110

Körperkraft unterscheiden sich die Athener so sehr von den Einwohnern anderer Städte als vielmehr durch ihren Ehrgeiz, der sie zu rechtem, ehrenvollem Handeln anspornt." — „Auch darin gebe ich dir recht." — „Wenn nun sich jemand um unsere Kavallerie ernsthaft bekümmerte, um ihre Ausrüstung an Mannschaften und Pferden sowie ihre Ausbildung und Einsatzbereitschaft, meinst du nicht auch, daß dann die Athener auch auf diesem Gebiete vor anderen sich auszeichnen würden, wenn nur Ruhm und Ehre dabei zu gewinnen wäre?" — „Ganz gewiß." — „Was zögerst du also noch? Bemüh dich, deine Leute soweit zu bringen, daß du von ihnen Nutzen hast und deine Mitbürger von dir!" — „Bei Zeus, das will ich versuchen!"

VIERTES KAPITEL

Der gute Haushälter

ist auch zum Feldherrn

geschickt

Einmal begegnete Sokrates dem Nikomachides der gerade von den Beamtenwahlen kam. Redete er ihn an: „Wer ist zum General gewählt worden, Nikomachides?" — „Ach", erwiderte der, „so sind nun die Athener! Mich, der ich von der Pike auf als Soldat, als Kompanieführer und Kommandeur gedient und" — dabei deckte er seine Wundmale auf und zeigte darauf — »der ich so viele Wunden vor dem Feinde empfangen habe, mich haben sie nicht gewählt; aber deaa Antisthenes 2 ), der als Hoplit überhaupt niemals im Felde gestanden und als Reiter nichts überragendes vollbracht hat, der nichts weiter versteht, als Reichtümer aufzuhäufen, den haben sie sich auserkoren!" — „Aber", wandte Sokrates ein, „ist das nicht recht vorteilhaft, da er doch so 1) Sonst unbekannt. 2) Lediglich durch seinen Reichtum bekannt.

110

auf jeden Fall befähigt sein wird, die Versorgung seiner Soldaten in die Wege zu leiten?" — Nikomachides widersprach: „Auch die Kaufleute verstehen sich darauf, Schätze zu sammeln, und trotzdem können sie keine Truppen anführen." 3 — „Aber ehrgeizig ist Antisthenes, und das muß ein Feldherr sein. Ist dir es nicht bekannt, daß er jedesmal, wenn er einen Chor ausstattete, alle anderen ausstach?" — Rief Nikomachides: „Bei Zeus, es ist doch wahrhaftig nicht dasselbe, ob man einen Chor oder ein Heer zu führen hat!" 4 „Und doch war Antisthenes, obgleich er selber weder etwas vom Gesang noch von der Chorlehre versteht, in der Lage, die herauszufinden, die auf diesen Gebieten die größte Befähigung besitzen." — „Nun", meinte Nikomachides, „so wird er auch bei der Truppe andere finden, die an seiner Statt die Führung übernehmen, und wieder andere, die s kämpfen können!" — Sokrates: „Und wenn er wie im chorisohen Wettstreit auch im Kriege die Befähigtsten herausfindet und sie an die rechte Stelle bringt, dann siegt er bestimmt. Ferner ist wohl klar, daß er für den Sieg der ganzen Stadt in einer kriegerischen Auseinandersetzung mehr aufzuwenden bereit sein wird als für den Erfolg seines Stadt6 viertels im musischen Wettstreit." — „Du behauptest also, Sokrates, daß es ein und demselben Menschen möglich sei, einen Chor auszustatten und ein Heer zu führen?" — „Ich stelle fest, daß, wer die Notwendigkeiten erkennt und sie zur Tat werden zu lassen vermag, ein befähigter Organisator ist, gleichgültig, was er auch zu verwalten hat, eine chorische Aufführung, einen Hausstand, ein Staatswesen oder ein 7 Heer." — „Bei Zeus, lieber Sokrates", meinte Nikomachides dazu, „nie hätte ich erwartet, aus deinem Munde die Behauptung zu hören, daß gute Haushälter auch gute Generale sein müßten." — „Nun", meinte Sokrates, „so wollen wir 1) Die Ausstattung von Chören gehörte zu den Leistungen (Liturgien), welche die athenische Demokratie von ihren reichen Bürgern erwartete.

111 I

ihre Tätigkeiten durchgehen, um zu sehen, ob sie einander gleichen oder sich unterscheiden!" — „Das ist mir reoht." — 8 „Beide müssen zum Beispiel die ihnen unterstellten Menschen zu unbedingtem Gehorsam erziehen." — „Jawohl." — „Ferner einem jeden die Aufgaben zuweisen, für die er sich besonders eignet." — „Auch das." — „Auch dazu sind, glaube ich, beide verpflichtet, daß sie die, die Strafe verdienen, in Zucht nehmen und den Tüchtigen Ehren erweisen." — „Ganz 9 recht." — „Und stünde es nicht beiden an, sich ihre Gefolgsleute geneigt zu machen?" — „Ich denke schon." — „Hältst du es bei beiden für vorteilhaft, wenn sie sich Kampfgefährten und Helfer gewinnen, oder nicht?" — „Doch, doch!" — „Müssen sie sich beide auch darauf verstehen, ihren Besitz zu wahren?" — „Natürlich." — „Da müssen sie wohl auch ihre Aufmerksamkeit und ihren Eifer auf dieselben Fragen richten?" — „ J a , in all diesen Dingen gilt 10 für beide dasselbe; nur zu kämpfen hat nicht jeder der beiden." — „Aber Feinde erwachsen doch dem einen sowohl wie dem andern?" — „Selbstverständlich." — „Daher ist es für ¡beide zweckmäßig, dieser Feinde Herr zu werden?" — „Ohne Zweifel. Aber eines vergißt du: Was nützt alles n wirtschaftliche Talent, wenn es zu kämpfen gilt?" — Sokrates: „In keiner andern Lage so viel wie gerade in dieser. Ein guter Haushälter weiß nämlich, daß nichts für ihn von solchem Nutzen und Gewinn ist, wie wenn er seine Feinde im Kampfe überwindet, während ihm nichts so viel Schaden und Nachteil bringt wie eine Niederlage. Er wird daher unablässig darüber nachdenken, was ihm zum Siege verhelfen kann, und sich danach verhalten; er wird sorgfältig auf alles achten, was in eine Niederlage hineintreibt, und sich davor hüten. Ist seine Rüstung so stark, daß ihm der Sieg gewiß scheint, wird er mit allen Kräften kämpfen; ist er unvorbereitet, wird er sich ebensosehr einer Schlacht zu entziehen suchen. Verachte mir die guten Haushälter nicht, lieber Niko- 12 112

machides! Di« Verwaltung des eigenen Besitzes unterscheidet sich nämlich von der Staatsverwaltung nur dem Umfange nach, in jeder andern Hinsicht bestehen Parallelen; was schließlich am meisten ins Gewicht fällt, ist die Tatsache, daß weder die private noch die öffentliche Verwaltung auf Mitarbeiter verzichten kann, es aber in beiden Fällen die gleichen Menschen sind, die solche Arbeit leisten. Denn die Leiter der Staatsverwaltung bedienen sich keines anders gearteten Personals als die, welche ihren eigenen Hausstand führen. Wer sich darauf versteht, hat bei privaten wie bei staatlichen Unternehmungen Erfolg, genauso wie der, dem diese Dinge nicht liegen, in jedem Fall eine Schlappe erleidet."

FÜNFTES KAPITEL

Wie die alte Tüchtigkeit 1

wiederhergestellt

werden

kann

In einem gelegentlichen Gespräch mit dem Sohne des großen Perikles 1 ) äußerte sich Sokrates: „Ich habe die Hoffnung, daß unter dir als Befehlshaber unsere Stadt wieder kriegerische Erfolge und Waffenruhm ernten und ihrer Feinde Herr werden wird." — Seufzte Perikles: „Möchten deine Worte in Erfüllung gehen, Sokrates! Wie es freilich geschehen sollte, vermag ich nicht zu sagen." — „Wenn dir es recht ist", antwortete darauf Sokrates, „so wollen wir in der Unterhaltung über diese Probleme zu ergründen suchen, worin die Möglichkeiten für solch eine Entwicklung bestehen." —

2 „Mir ist es schon recht." — „Ist dir bekannt, daß die Athener den Böotiern zahlenmäßig nicht unterlegen sind?" — „Das weiß ich." — „Meinst du, daß man unter den Böotiern oder unter den Athenern ein größeres Aufgebot an gesunden, 1) Illegitimer Sohn des Perikles und der Aspasia, nach dem Tode der beiden legitimen SOhne des Perikles 430 adoptiert, nach der Schlacht bei den Arginusen (vgl. oben 1,1, 17 ff. u n d S. 22 Anm. 1) hingerichtet. 8 Irmscher, Sokrates

113

machides! Di« Verwaltung des eigenen Besitzes unterscheidet sich nämlich von der Staatsverwaltung nur dem Umfange nach, in jeder andern Hinsicht bestehen Parallelen; was schließlich am meisten ins Gewicht fällt, ist die Tatsache, daß weder die private noch die öffentliche Verwaltung auf Mitarbeiter verzichten kann, es aber in beiden Fällen die gleichen Menschen sind, die solche Arbeit leisten. Denn die Leiter der Staatsverwaltung bedienen sich keines anders gearteten Personals als die, welche ihren eigenen Hausstand führen. Wer sich darauf versteht, hat bei privaten wie bei staatlichen Unternehmungen Erfolg, genauso wie der, dem diese Dinge nicht liegen, in jedem Fall eine Schlappe erleidet."

FÜNFTES KAPITEL

Wie die alte Tüchtigkeit 1

wiederhergestellt

werden

kann

In einem gelegentlichen Gespräch mit dem Sohne des großen Perikles 1 ) äußerte sich Sokrates: „Ich habe die Hoffnung, daß unter dir als Befehlshaber unsere Stadt wieder kriegerische Erfolge und Waffenruhm ernten und ihrer Feinde Herr werden wird." — Seufzte Perikles: „Möchten deine Worte in Erfüllung gehen, Sokrates! Wie es freilich geschehen sollte, vermag ich nicht zu sagen." — „Wenn dir es recht ist", antwortete darauf Sokrates, „so wollen wir in der Unterhaltung über diese Probleme zu ergründen suchen, worin die Möglichkeiten für solch eine Entwicklung bestehen." —

2 „Mir ist es schon recht." — „Ist dir bekannt, daß die Athener den Böotiern zahlenmäßig nicht unterlegen sind?" — „Das weiß ich." — „Meinst du, daß man unter den Böotiern oder unter den Athenern ein größeres Aufgebot an gesunden, 1) Illegitimer Sohn des Perikles und der Aspasia, nach dem Tode der beiden legitimen SOhne des Perikles 430 adoptiert, nach der Schlacht bei den Arginusen (vgl. oben 1,1, 17 ff. u n d S. 22 Anm. 1) hingerichtet. 8 Irmscher, Sokrates

113

tüchtigen Kämpfern erhalten könnte?" — „Auch darin stehen nach meiner Ansicht die Athener nicht nach." — „Wo herrscht nach deiner Kenntnis die größere Einigkeit?" — „Bei den Athenern; während unter den Böotiern eine ganze Anzahl, die von Thebanern übervorteilt wurden, miteinander in Zwist liegen, sind mir in Athen derartige Fälle nicht be>kannt." — »Nun, die Athener sind ehrgeizig und prunk- s liebend wie sonst niemand, und solche Eigenschaften spornen dazu an, sich um des Ruhmes willen fürs Vaterland in Ge-, fahren zu begeben." — „Deshalb verdienen sie keinen Tadel." — „Nirgends sonst sind von den Vorfahren so zahlreiche und (mannigfaltige Ruhmestaten erzählt wie in Athen; daraus schöpfen viele die Kraft, selber tapfer zu sein und heldenhaft zu kämpfen." — „Auch darin pflichte ich dir bei, So- * krates. Aber du siehst ja selbst, daß seit der Niederlage der 1000 des Tolmides bei Lebadeia und Hippokrates' Unglück beim Delion 2 ) Athens Ruhm über die Böotier dahin ist, während sich die Hoffart der Thebaner gegen Athen richtet; daher droben jetzt die Böotier, die sich früher nicht einmal im eigenen Lande ohne spartanische und sonstige peloponnesische Hilfe den Athenern zu stellen wagten, mit einem Einfall nach Attika, und die Athener, die ehedem, wenn die Böotier allein standen, deren Land verwüsteten, fürchten sich jetzt davor, daß die Böotier Attika heimsuchen könnten." — Darauf erwiderte Sokrates: „Ich weiß wohl, daß sich 5 das so verhält, und gerade deshalb glaube ich, daß die Situation für Athen jetzt günstiger ist als vorher, sofern ein tüchtiger Mann den Oberbefehl erhält. Sicherheit ruft näm-' X) Die Böotier waren infolge ihrer Niederlage bei Oinophyta im J a h r e 456 : dem athenischen Bunde einverleibt worden; davon befreiten sie sich durch die hier erwähnte Schlacht bei Lebadeia (oder Eoroneia) im J a h r e 447 (vgl. Thukydides 1 , 1 1 3 ) . 2) I n der Schlacht b : i Delion im Peloponnesischen Krieg (424) erlitt Athen eine schwere Niederlage (Thukydides 4, 9 3 f f . ) ; Sokrates selbst hat an dieser Schlacht teilgenommen (vgl. die Vita bei Diogenes Laertios).

114

lieh Nachlässigkeit, Leichtsinn und Ungehorsam hervor, die Furcht dagegen erzieht zu Achtsamkeit, Gehorsam und Disziplin. Zum Beweise dessen möge das Verhalten einer Schiffsbesatzung dienen. Solange nichts zu befürchten ist, geht alles durcheinander; m u ß man aber mit Sturm oder einem Feindangriff rechnen, dann führen alle nicht bloß die ihnen erteilten Befehle aus, sondern erwarten stillschweigend weitere Weisungen, ganz so wie die Mitglieder einer Tanzgruppe." — „Ja", erwiderte Perikles, „wenn man also gegenwärtig tatsächlich weitgehend auf Gehorsam rechnen könnte, so müßte man nur wissen, auf welche Weise das Volk wieder für die alten Ideale zu gewinnen ist." — „Nun", meinte Sokrates, „wenn es uns darum ginge, daß das Volk auf fremdes Besitztum Anspruch erhöbe, würden wir in der Weise a m weitesten kommen, daß wir diese Werte als ihm von den Voreltern her zukommend darstellten. Nun ist es unser Ziel, daß Athen wieder seine ruhmvolle politische Führerstellung einnehme; also müssen wir seinen Bürgern vor Augen führen, daß ihnen diese nach alter Tradition zukommt. Streben sie aber erst wieder einmal ernsthaft nach diesem Ideal, dann sind sie den andern leicht überlegen." — „Wie läßt sich diese Erziehungsaufgabe meistern?" — „Ich glaube, wir brauchen nur die Erinnerung daran aufzufrischen, welch mächtige Stellung die allerersten Einwohner Athens innehatten." — „Denkst du dabei an den Streit der Götter, den Kekrops 1 ) u n d seine Freunde ihrer hohen Sittlichkeit wegen entscheiden durften?" — „Daran denke ich sowie a n des Erechtheus' Geburt u n d Auferziehung 2 ), an den Krieg, der X) Kekrops, der Erbauer der athenischen Burg und erste König der Stadt, war Schiedsrichter in dem Streite, der zwischen Poseidon u n d Athene u m die Schutzherrschaft über Attika ausgebrochen war. 2) Hephaistos stellte der jungfräulichen Athene nach, die sich gegen ihn zur Wehr setzte. Aus dem zur Erde herabfließenden Samen des Hephaistos entstand Erechtheus, der, nachdem er von Athene erzogen, zum zweiten Gründer Athens nach der deukalionischen Flut wurde.

8*

115

zu seiner Zeit gegen die Bewohner des gesamten Festlandes geführt werden mußte 1 ), an die Kämpfe gegen die Peloponnesier unter den Herakliden 2 ), an die Heldentaten der Theseusgeneration 3 ), wo iimmer die Athener ihren Zeitgenossen unbestritten überlegen waren. Ferner habe ich die Taten der Abkömmlinge dieser Athener, jener Menschen, die nur wenig vor unserer Zeit lebten, im Auge; vieles vollbrachten sie allein 4 ), anderes im Bunde mit den Peloponnesiem, zu Wasser und zu Lande, gegen das Volk, das ganz Asien und Europa bis hin nach Makedonien beherrschte, das Macht und Reichtum besaß wie nie jemand vor ihm auf Erden u n d Gewaltiges leistete. Von jenen Bürgern Athens sagt man, sie hätten ihre Zeitgenossen weit übertroflen." — „Ja, so rühmt man." — „So viele Umwälzungen auch über Griechenland kamen, die Athener blieben in ihrem Lande; gar viele, die um Rechte stritten, überließen ihnen die Entscheidung; mancher, der unter d e m Drucke Mächtigerer litt, suchte Zuflucht bei ihnen." — Darauf sagte Perikles: „Ich muß mich wundern, Sokrates, wie es mit dieser Stadt derart abwärts gehen konnte." — Sokrates antwortete: „Ich stelle mir es so vor: Wie Athleten, die immer neue Erfolge einheimsen, leichtsinnig werden und dadurch gegenüber ihren Widersachern ins Hintertreffen geraten, so vernachlässigten sich auch die Athener, nachdem sie einen so beträchtlichen Vorsprung gewonnen hatten, und das schlug ihnen zum Nachteil aus." — „Und wie können sie jetzt ihren einstigen Wert wiedergewinnen?" — „Das scheint mir kein Geheimnis. Bemühen sie sich u m die Lebensauffassung ihrer Vorfahren und 1) Vgl. Thukydides 2, 15. 2) Der König Eurystheus, in dessen Dienst Herakles seine berühmten zwölf Arbeiten verrichtete, verfolgte noch dessen Nachkommen; erst den Ururenkeln des Herakles gelang die endgültige Eroberung des Peloponnes. 3) Theseus, der attische Nationalheros, zog gegen den Kreterkönig Minos, mit den Argonauten nach Kolchis, gegen die Amazonen usf. 4) Angespielt ist auf die Schlacht bei Marathon.

116

handeln sie danach, dann werden sie ihnen in nichts nachstehen; halten sie sich istatt dessen wenigstens an die jetzigen Machthaber 1 ) und richten sie ihr Handeln nach diesen aus, dann werden sie, sofern sie sich der gleichen Mittel bedienen, diesen nicht unterliegen, ja sie sogar noch übertreffen, wenn 15 ihr Eifer ernsthafter ist." — „Du behauptest also, daß Athen von seinem einstigen Ideal weit entfernt sei? Denn wann würden je die Athener dem Alter solche Verehrung zollen wie die Spartaner, sie, die bei ihren Vätern beginnen, das Alter zu mißachten! W a n n werden sie derart die Leibesübungen pflegen, sie, die jetzt nicht nur ihre persönliche Hygiene vernachlässigen, son dern sogar noch die, welchesiesich angelegen 16 sein lassen, deshalb verlachen? W a n n werden sie ihren Führern gehorsam sein? Jetzt jedenfalls tun sie sich groß damit, ihre Magistrate zu verachten. Oder wann werden sie eines Sinnes werden? Statt sich zu gemeinsamem Nutzen zu helfen, bedrohen sie sich und hegen gegeneinander größern Neid als auf alle andern Menschen. Zu höchster Steigerung kommen diese Meinungsverschiedenheiten bei Versammlungen im kleineren wie im größeren Kreis. Die meisten Prozesse führen sie gegeneinander, u n d es ist ihnen angenehmer, auf diese Weise sich gegenseitig ärmer zu machen als f ü r den gemeinsamen Nutzen zu arbeiten. Staatseigentum betrachten sie als fremdes Gut, kämpfen d a r u m und haben ihre ganz besondere 17 Freude daran, in solchem Streit ihre Kräfte zu messen. Unfähigkeit u n d Unsittlichkeit im Staate sind die Folgen solcher Zustände, dazu zahlreiche Feindschaften und gegenseitiger H a ß unter den Bürgern. Ich hege daher dauernd die Befürchtung, es könnte eines Tages ein Unglück über die Stadt hereinbrechen, von solcher Wucht, daß sie es nicht mehr zu tragen 18 vermöchte." — „Nein, nein, lieber Perikles", wandte Sokrates darauf ein. „Glaube ja nicht, d a ß die Athener von einer so ganz unheilbaren Krankheit befallen seien. Siehst du nicht, *) Gemeint sind die Spartaner.

117

wie sie beim Dienst in der Flotte Disziplin halten, wie sie bei Sportkämpfen ihren Vorturnern gehorchen, wie sie bei der Einstudierung von Chören ihren Lehrern folgen, nicht schlechter als irgendein anderer auch?" — „Das ist ja eben w das Merkwürdige, daß Menschen dieser Stände ihren Vorgesetzten gehorsam sind, während die Hopliten u n d die Reiter, die durch ihre Haltung von den übrigen Bürgern abstechen sollten, keine Disziplin zeigen." — Sokrates warf dar- 20 auf ein: „Der Areopag besteht doch aus alterprobten Männern?" — Perikles bejahte. — „Kennst du aiber eine Instanz, die ein Rechtsurteil oder ihre sonstigen Aufgaben begründeter, legaler, achtunggebietender und gerechter zustande brächte?" — „Darauf zielt ja auch nicht mein Tadel." — „Also darf m a n auch nicht verzagen, wenn die Athener nicht immer Ordnung halten." — „Und trotzdem hören sie doch in militä- 21 rischen Dingen, wo es ganz 'besonders auf ruhige Überlegung und zuchtvolle Unterordnung ankommt, auf keinen jener Männer." — „Vielleicht darum", meinte Sokrates, „weil auf diesem Gebiete Menschen Befugnisse haben, die von der Sache das Wenigste verstehen. Dir ist doch klar, daß keiner anfangen würde, die Zither zu schlagen, als Chor- oder Einzeltänzer auftreten zu wollen, ohne auf diesem Gebiete etwas zu können, und dasselbe gilt f ü r Ringer und Wettkämpfer. Alle diese Männer vermögen vielmehr anzugeben, wo sie ihr Fach studiert haben; unter den Heerführern hingegen besitzen die meisten keinerlei Ausbildung. Ich nehme nicht an, daß 22 du zu diesen gehörst, glaube aiber trotzdem, daß du ebensowenig sagen könntest, wann du die Strategie oder die Kampftechnik zu lernen begannest. Immerhin, denke ich, wirst du zahlreiche Feldzugspläne deines Vaters übernommen, andere dir von verschiedensten Seiten beschafft haben, so daß du auf diese Weise die f ü r ein Feldherrnamt erforderlichen Kenntnisse gewannst. Ferner, nehme ich an, ist es deine be- 23 ständige Sorge, daß dir nichts, was in dieser Hinsicht von

118

Wichtigkeit sein könnte, entgeht, und wenn du einmal feststellst, daß dir irgend etwas unbekannt ist, so fragst du die danach, welche damit Bescheid wissen, und sparst weder mit Geschenken noch mit Danikesbezeugungen, um von ihnen die dir unbekannten Tatsachen zu erfahren und in ihnen getreue 24 Mitarbeiter zu finden." — Perikles erwiderte darauf: „Lieber Sokrates, ich merke wohl, daß du all das nicht sagist, weil du von solchen Bemühungen aiuf meiner Seite wirklich überzeugt wärest, sondern um mich darüber zu belehren, daß der zukünftige Heerführer auf alle diese Fragen sein Augenmerk richten muß; doch dessenungeachtet pflichte ich dir in allen 25 Punkten bei." — „Hast du schon einmal darauf geachtet, lieber Perikles, daß unserm Lande ein mächtiges Gebirge vor. gelagert ist, da® sich nach Böotien erstreckt, daß die über dieses Gebirge führenden Einfallstraßen eng und steil sind und das Land selber durch schwer einzunehmende Massive 26 mittendurch geteilt wird?" — „Natürlich." — „Sicher hast du auch gehört, daß die Mysier und Pisidier, die im Lande des Großkönigs stark befestigte Plätze innehaben, bei leichter Bewaffnung weite Teile des dem Großkönige Untertanen Gebietes durchstreifen und verheeren können, während sie selbst 27 unbehelligt leben." — „Das ist mir bekannt." — „Wenn nun die Athener im waffenfähigen Alter in leichter Armierung die ihrem Lande vorgelagerte Gebirgsgegend besetzten, meinst du nicht auch, daß sie dann den Feinden gefährlich werden und für ihre Mitbürger eine wirkungsvolle Schutzwehr bilden könnten?" — Perikles antwortete darauf: „Ich bin von der Zweckmäßigkeit einer solchen Maßnahme durchaus über28 zeugt." — Erwiderte Sokrates: „Wenn dir der Plan gefällt, so führe ihn aus! Alle Erfolge, die du damit erringst, werden dir Ruhm und der Stadt Vorteile bringen; gelingt dir aber etwas dabei nicht, so wirkt es sich für die Allgemeinheit nicht schädlich aus und macht dir selber keine Schande."

119

SECHSTES KAPITEL

Kein Amt ohne

Vorbereitung

Aristons Sohn Glaukon ') suchte, noch ehe er zwanzig 1 Jahre alt geworden war, öffentlich hervorzutreten, da er eine führende Stellung im politischen Leben anstrebte, und niemand unter seinen Freunden und Verwandten konnte ihn davon abbringen, sich von der Rednerbühne stoßen und der Lächerlichkeit preisgeben zu lassen; nur Sokrates, der ihm Charmides' und Piatons wegen wohlwollte, war dazu imstande. Als er nämlich Glaukon eines Tages begegnete, zog er a ihn, um ihn aufnahmebereit zu machen, mit etwa folgender Frage ins Gespräch: „Wie man sich erzählt, lieber Glaukon, hast du dich entschlossen, im Staate an führender Stelle zu wirken." — „Das ist richtig." — „Bei Zeus", antwortete Sokrates, „das ist eine wahrhaft lohnenswerte Aufgabe. Denn erreichst du dein Ziel, so wirst du selbstverständlich die Möglichkeit haben, zu erhalten, was dein Herz begehrt, wirst deinen Freunden zur Seite stehen können, deine Familie zu Ansehen bringen, dein Vaterland vergrößern, selber zunächst in Athen, darauf in ganz Griechenland, vielleicht wie Themistokles sogar im Auslande zu Ansehen kommen und, wo du dich auch aufhältst, im Mittelpunkt des Interesses stehen." Solche Worte waren nach Glaukons Sinn, und er hörte gern 3 1)

Glaukon Charmides

Periktlone Adeimantos

oo Piaton

Aristón ßlaukon

Potone

Weder von Aristón noch von seinem Sohn Glaukon ist Wesentliches bekannt; über Charmides vgl. das nächste Kapitel.

120

weiter zu. Fuhr Sokrates fort: „Soviel ist dir doch klar, lieber Glaukon, daß du, willst du Ehre gewinnen, der Stadt Vorteile bringen mußt?" — „Aber freilich." — „Nun, vor mir brauchst du dich nicht zu genieren, sondern kannst es frei heraussagen: Womit willst du beginnen, dich dem Staate nützlich zu machen?" Da Glaukon ein Weilchen schwieg, u m sich die Frage zu überlegen, f u h r Sokrates fort: „Wird vielleicht dein Bestreben darauf zielen, d e n Reichtum der Stadt zu mehren, so wie d u auf die wirtschaftliche Besserstellung eines Freundes hinarbeiten würdest, dessen Vermögen du vergrößern wolltest?" — „Ja." — „Würde die Stadt durch eine Vergrößerung ihrer Einnahmen reicher werden?" — „Natürlich."— „So sag mir, woher nimmt der Staat seine Einnahmen und welche Höhe erreichen sie? Denn sicher hast du daran gedacht, daß du, wenn einige dieser Quellen nur spärlich fließen, ihnen aufhelfen und, wenn andere versiegen, f ü r sie Ersatz schaffen mußt." — „Bei Zeus, mit dieser Frage habe ich mich noch nicht beschäftigt." — „Nun, wenn du das übersehen hast, so nenne uns einmal die Ausgaben des Staates. Bestimmt hast du wohl die Absicht, von diesen die überflüssigen zu vermeiden." — „Ach nein, auch damit habe ich mich noch nicht befaßt." — „So wollen wir die Frage nach einer finanziellen Hebung des Staates vorerst aufschieben. Wie soll sich schließlich jemand mit diesen Problemen beschäftigen, der nicht einmal über die Einnahmen u n d Ausgaben des Staates Bescheid weiß?" — „Aber", warf Glaukon ein, „auch von seinen Feinden kann ein Staat Einnahmen haben." — „Ja", antwortete Sokrates darauf, „wenn er sie besiegt. Verliert er dagegen, dann ist auch das dahin, was er vorher besaß." — „Da hast du recht." — „Wer Krieg führen will, der muß aber die Macht seines eigenen Staates u n d die seiner Gegner genau kennen, u m für den Fall, daß die eigene Macht stärker ist, der Bürgerschaft zu militärischen Maßnahmen zu raten und sie f ü r den Fall einer gegnerischen 121

Übermacht zu einer Politik der Vorsicht zu veranlassen." — „Das ist richtig." — „So gib uns erstens die Stärke des Heeres und der Flotte unserer Stadt und sodann die Zahlen f ü r die gegnerische Streitmacht an!" — „Aber bei Zeus, das kann ich dir wirklich nicht aus dem Kopfe sagen!" — „Wenn du es dir aufgeschrieben hast, so hole deine Notizen; ich hätte zu gern darüber Aufschluß!" — „Ach, ich habe mir auch gar nichts notiert." — „Also können wir fürs erste auch über den Krieg und seine Probleme uns noch nicht unterhalten; ich kann mir schon vorstellen, da du erst am Anfang deiner Laufbahn stehst, daß du dich mit diesem so umfänglichen Gebiete noch nicht befaßt hast. Nun weiß ich aber, daß du dich mit den Angelegenheiten der Polizei beschäftigt hast, und so ist dir wohl bekannt, wie viele Posten erforderlich sind u n d wie stark die Wachen besetzt sein müssen, und du wirst einen Rat geben können, um die notwendigen Posten zu verstärken u n d die überflüssigen einzuziehen." — „Ja", meinte Glaukon, „ich bin der Auffassung, mian sollte alle einziehen, denn trotz ihres Wäohterdienstes kommen immer wieder Diebstähle vor." — „Wenn m a n nun alle Posten wegnimmt, meinst du nicht, d a ß sich d a n n jedem alle Möglichkeiten zum R a u b bieten? Bist du übrigens zu deiner Auffassung durch eigene Prüfung gekommen, oder woher weißt du sonst, daß sie ihren Dienst schlecht versehen?" — „Ich vermute es." — „So wollen wir über dieses Thema beraten, wenn wir nicht mehr bloß vermuten, sondern Genaueres wissen!" — „Das ist vielleicht besser", gab Glaukon zu. — „Soviel ich weiter weiß, bist du noch nicht in die Silbergruben gekommen, u m sagen zu können, warum die Einnahmen aus diesen jetzt geringer sind als früher." — „Nein, ich bin nicht da gewesen." — „Außerdem, sagt man, ist die Gegend dort ungesund; ich denke, das wird eine ausreichende Entschuldigung sein, wenn diese Fragen zur Debatte stehen." — „Du verspottest mich", warf Glaukon ein. — „Aber ich bin davon überzeugt,

122

daß du die folgende Aufgabe nicht vergessen, sondern dich ausführlich mit ihr beschäftigt hast: Auf wielange kann das im Lande erzeugte Getreide Athen ernähren, und wie groß ist der zusätzliche Bedarf pro Jahr? Durch dein Versehen darf ja schließlich die Stadt nicht Mangel leiden, vielmehr willst du durch deine Kenntnisse dem Staate helfen und ihn vor Hungersnot bewahren, indem du zu den notwendigen Maßnahmen rätst." — Glaukon erwiderte: „Du stellst große Forderungen, wenn ich mich auch um diese Dinge kümmern soll." — Sokrates entgegnete ihm: „Das wäre ein schlechter Haushalter, der nicht um alle Notwendigkeiten wüßte, sich alles angelegen sein ließe und alles besorgte! Da nun unser Staat aus mehr als 10 000 Haushaltungen besteht und es schwierig ist, für so viele zugleich zu sollen, warum hast du dann nicht den Versuch gemacht, zuerst einmal nur einen einzigen Haushalt, nämlich den deines Onkels, auf festere Grundlagen zu stellen? Der hat es nötig. Bist du erst einmal mit einem vertraut geworden, kannst du dich auch an weiteren versuchen. Vermagst du dabei keinen Nutzen zu stiften, wirst du es bei größeren Aufgaben auch nicht können. Wenn einer ein Talent nicht tragen kann, ist es dann nicht klar, daß er mehr zu übernehmen sich nicht bemühen sollte?" 15

— „Ach", erwiderte Glaukon, „ich würde schon den Haushalt meines Onkels unterstützen, wenn der mir nur nachgeben wollte!" — „Nun, wenn du deinen Onkel nicht nach deinem Willen lenken kannst, meist du etwa, daß du dann in der Lage sein wirst, die Athener insgesamt, deinen Onkel nicht ausgenommen, in deinem Sinne zu beeinflussen? ig Sei vorsichtig, Glaukon, deine Ruhmbegier könnte sonst ins Gegenteil umschlagen! Merkst du nicht, wie leichtsinnig es ist, etwas zu tun oder zu reden, wovon man nichts versteht? Denk an die andern, von denen du weißt, daß sie augenscheinlich über Dinge sprachen und Aufgaben übernahmen, denen sie nicht gewachsen waren! Meinst du, daß sie des123

wegen Lob oder Tadel ernteten? Wollte inan sie eher bewundern oder verachten? Denk dann aber auch an die, die von den Gegenständen, über die sie sprachen oder mit denen sie sich befaßten, wirklich etwas verstanden, und du wirst, davon bin ich überzeugt, in jedem Falle feststellen können, daß die, welche in Ehre und Ansehen standen, zu den Tüchtigsten gehörten, während die Unfähigen nur Tadel und Verachtung erwarteten. Wenn du im Staate Ehre und Ruhm genießen willst, dann erarbeite dir zu allererst die Kenntnisse, welche du für die Aufgaben brauchst, die du lösen willst! Darin mußt du von deinen Mitbewerbern abstechen; dann sollte es mich nicht wundern, daß du, wenn du eine Rolle in der Politik spielen willst, ohne Schwierigkeiten dein Ziel erreichtest."

SIEBENTES KAPITEL

Sokrates

mahnt den Befähigten

zu politischer

Betätigung

Einmal traf Sokrates den Gharmides 1), Glaukons Sohn, einen begabten und den Politikern seiner Zeit an Befähigung weit überlegenen Mann, der nur immer wieder zögerte, vor das Volk zu tretein und sich politisch zu betätigen. Fragte er ihn: „Sag mir, lieber Gharmides, als was würdest du einen Mann ansprechen, der sehr wohl imstande wäre, im sportlichen Wettkaonpfe einen Sieg zu erringen, dadurch für sich Elhre und Ruhm für seine Vaterstadt gewinnen könnte und trotzdem nicht kämpfen wollte?" — „Natürlich als einen feigen Schwächling." — „Wenn nun alber jemand die Befähigung besitzt, eine führende öffentliche Stellung zu bekleiden, dadurch seiner Heimat einen Dienst erweisen und selber zu hohem Ansehen kommen könnte und trotzdem sich nicht dazu zu entschließen 1) Vgl. S. 120 Anm. 1.

124

wegen Lob oder Tadel ernteten? Wollte inan sie eher bewundern oder verachten? Denk dann aber auch an die, die von den Gegenständen, über die sie sprachen oder mit denen sie sich befaßten, wirklich etwas verstanden, und du wirst, davon bin ich überzeugt, in jedem Falle feststellen können, daß die, welche in Ehre und Ansehen standen, zu den Tüchtigsten gehörten, während die Unfähigen nur Tadel und Verachtung erwarteten. Wenn du im Staate Ehre und Ruhm genießen willst, dann erarbeite dir zu allererst die Kenntnisse, welche du für die Aufgaben brauchst, die du lösen willst! Darin mußt du von deinen Mitbewerbern abstechen; dann sollte es mich nicht wundern, daß du, wenn du eine Rolle in der Politik spielen willst, ohne Schwierigkeiten dein Ziel erreichtest."

SIEBENTES KAPITEL

Sokrates

mahnt den Befähigten

zu politischer

Betätigung

Einmal traf Sokrates den Gharmides 1), Glaukons Sohn, einen begabten und den Politikern seiner Zeit an Befähigung weit überlegenen Mann, der nur immer wieder zögerte, vor das Volk zu tretein und sich politisch zu betätigen. Fragte er ihn: „Sag mir, lieber Gharmides, als was würdest du einen Mann ansprechen, der sehr wohl imstande wäre, im sportlichen Wettkaonpfe einen Sieg zu erringen, dadurch für sich Elhre und Ruhm für seine Vaterstadt gewinnen könnte und trotzdem nicht kämpfen wollte?" — „Natürlich als einen feigen Schwächling." — „Wenn nun alber jemand die Befähigung besitzt, eine führende öffentliche Stellung zu bekleiden, dadurch seiner Heimat einen Dienst erweisen und selber zu hohem Ansehen kommen könnte und trotzdem sich nicht dazu zu entschließen 1) Vgl. S. 120 Anm. 1.

124

vermöchte, müßte der nicht auch als Feigling gelten?" — „Vielleicht", war die Antwort, „doch weshalb fragst d u mich das?" — „Deshalb, weil ich glaube, d a ß du, obgleich du der geeignete M a n n wärest, dennoch Bedenken hast, dich u m die öffentlichen Aufgaben zu bekümmern, an denen du als Bürger notwendigerweise Anteil nehmen solltest." — „Wobei hast du meine Befähigung erkannt, d a ß du mich so verurteilst?" — „Bei den Versammlungen, an welchen du mit den führenden Persönlichkeiten der Stadt teilnahmst. Wird dir nämlich bei solcher Gelegenheit etwas zur Kenntnis gebracht, so kann ich feststellen, daß du richtig rätst, und, wenn etwas falsch ist, nach G e b ü h r tadelst." — „Ja, lieber Sokrates, aber es ist doch nicht dasselbe, ob m a n im kleinen Kreise etwas bespricht oder vor der Menge im Wahlkampf steht." — „Nun, wenn zum Beispiel jemand zählen kann, so macht er das vor vielen Zeugen nicht schlechter als im stillen Kämmerlein, u n d wer für sich die Zither gut schlägt, tritt auch vor einem zahlreichen Publikum virtuos auf." — „Weißt du nicht, daß Scheu u n d Furcht dem Menschen angeboren sind und ihn in einer großen Versammlung viel leichter überkommen als im häuslichen Kreise?" — „Ja, u n d ich will dir sogar beweisen, d a ß du nicht etwa vor Hochgebildeten Scheu und vor wirklich Mächtigen Furcht empfindest, sondern es ganz unverständige, einflußlose Leute sind, vor denen zu sprechen du Bedenken hast. Oder bist du etwa vor Tuchmachern gehemmt, vor Schustern, vor Zimmerleuten, vor Schmieden oder vor Bauern, vor Kaufleuten oder vor den Händlern auf dem Markte, denen es darum geht, Ware f ü r billiges Geld einzukaufen u n d mit Profit wieder abzustoßen? Alle diese Leute bilden nämlich die Volksversammlung. Inwiefern unterscheidet sich also dein Verhalten von dem eines Mannes, der die Fachleute noch überbietet und sich trotzdem vor dem Laien fürchtet? Denn du unterhältst dich unbeschwert mit den Führern des

125

Staates, von denen dich sogar einige verachten, und bist denen, die an ein öffentliches Auftreten denken, weit überlegen, wagst es aber trotzdem nicht, vor Leuten zu sprechen, die sich niemals u m Politik gekümmert haben und von denen dich keiner verachtet, aus Furcht, du könntest ausgelacht werden." — „Aber ist es denn schließlich nicht oft genug in 8 der Volksversammlung vorgekommen, daß die, die das Recht vertraten, verspottet wurden?" — „Und nicht bloß in der Volksversammlung! Das ist es ja gerade, weswegen ich mich wundere, daß du, während du mit jenen Politikern in solchen Situationen leicht fertig wirst, es dir absolut nicht zutrauen willst, auch die große Masse zu bezwingen. Nein, » nein, mein Lieber, verkenne dich nicht und begehe nicht denselben Fehler wie die meisten Menschen; sobald diese nämlich daran sind, sich um fremder Leute Angelegenheiten zu bekümmern, vergessen sie es, noch nach dem Eignen zu sehen! Das versäume nie, sondern sieh immer, so sehr du nur kannst, auf dich selber! Und vernachlässige deine Vaterstadt nicht, wenn sie durch dich Vorteile haben kann! Steht das Land in Blüte, dann haben nicht nur deine Mitbürger, sondern auch deine Freunde und du selber größten Nutzen davon."

ACHTES KAPITEL

Vom Guten und Schönen Als Aristipp den Versuch machte, Sokrates aufs Eis zu führen, so wie er selber vorher von Sokrates in die Enge getrieben worden war, da antwortete der ihm, da er seinen Zuhörern wirklich Wertvolles sagen wollte, nicht nach der Art derjenigen, die sich immer nur davor fürchten, daß ihre 1) Siehe S. 59 Anm. 1.

126

1

Staates, von denen dich sogar einige verachten, und bist denen, die an ein öffentliches Auftreten denken, weit überlegen, wagst es aber trotzdem nicht, vor Leuten zu sprechen, die sich niemals u m Politik gekümmert haben und von denen dich keiner verachtet, aus Furcht, du könntest ausgelacht werden." — „Aber ist es denn schließlich nicht oft genug in 8 der Volksversammlung vorgekommen, daß die, die das Recht vertraten, verspottet wurden?" — „Und nicht bloß in der Volksversammlung! Das ist es ja gerade, weswegen ich mich wundere, daß du, während du mit jenen Politikern in solchen Situationen leicht fertig wirst, es dir absolut nicht zutrauen willst, auch die große Masse zu bezwingen. Nein, » nein, mein Lieber, verkenne dich nicht und begehe nicht denselben Fehler wie die meisten Menschen; sobald diese nämlich daran sind, sich um fremder Leute Angelegenheiten zu bekümmern, vergessen sie es, noch nach dem Eignen zu sehen! Das versäume nie, sondern sieh immer, so sehr du nur kannst, auf dich selber! Und vernachlässige deine Vaterstadt nicht, wenn sie durch dich Vorteile haben kann! Steht das Land in Blüte, dann haben nicht nur deine Mitbürger, sondern auch deine Freunde und du selber größten Nutzen davon."

ACHTES KAPITEL

Vom Guten und Schönen Als Aristipp den Versuch machte, Sokrates aufs Eis zu führen, so wie er selber vorher von Sokrates in die Enge getrieben worden war, da antwortete der ihm, da er seinen Zuhörern wirklich Wertvolles sagen wollte, nicht nach der Art derjenigen, die sich immer nur davor fürchten, daß ihre 1) Siehe S. 59 Anm. 1.

126

1

Worte mißdeutet werden könnten, sondern wie einer, der davon überzeugt ist, daß er sich auf dem rechten Wege befindet. Aristipp richtete nämlich an ihn die Frage, ob er etwas Gutes anzugeben vermöchte, um ihn dann, wenn er irgend etwas, zum Beispiel Essen oder Trinken, Geld, Gesundheit, Kraft oder Mut anführte, zu beweisen, daß all diese Dinge bisweilen auch schädlich sein könnten; doch Sokrates wußte darum, daß wir, wenn uns etwas quält, uns nach Abhilfe sehnen, und gab daher die richtige Antwort: „Du fragst mich also, ob ich etwas weiß, das gegen Fieber gut ist?" — „Nein." — „Oder gegen Hunger." — „Nein." — „Nun, wenn du mich fragst, ob ich etwas weiß, das zu nichts gut ist, so muß ich dir sagen, daß ich etwas der Art nicht kenne und auch nicht kennen will." Bei anderer Gelegenheit richtete Aristipp an ihn die Frage, ob er etwas Schönes kenne. Sokrates antwortete: „Sehr vieles sogar." — „Besteht nun eine Ähnlichkeit zwischen all diesen schönen Dingen?" — „Ihrem Wesen nach sind einige recht unähnlich." — „Wie kann aber ein Gegenstand, der einem andern schönen Gegenstand unähnlich ist, selber schön sein?" — „Weil einem tüchtigen Läufer ein anderer Mensch nicht ähnelt, der seinerseits ein tüchtiger Ringer ist, und weil ein Schild, der zum Stoßen bestens geeignet ist, gar keine Ähnlichkeit mit einem Speer besitzt, dessen gute Eigenschaft darin liegt, daß man ihn wirksam weit werfen kann." — „Du gibst mir also die gleiche Antwort wie damals, als ich dich fragte, ob du etwas Gutes wüßtest." — „Meinst du vielleicht, daß beide Begriffe Verschiedenes bezeichneten? Ist es dir nicht bekannt, daß, auf dasselbe Ziel bezogen, alle Dinge gut u n d schön sind? Die Tugend zum Beispiel ist nicht einmal etwas Gutes und ein andermal etwas Schönes, ferner werden Menschen nur im Hinblick auf ein bestimmtes gleiches Gebiet als gut u n d tüchtig angesprochen; in diesem Sinne erscheint der menschliche 127

Körper als Wohlgestalt u n d leistungsfähig und nicht minder alles andere, dessen sich die Menschen bedienen, je nach dem, wozu man das einzelne gebrauchen kann." — „Also ist auch ein Mistkorb etwas Schönes?" — „Natürlich, und ein goldener Schild etwas Unschönes, wenn nämlich der Korb für seine Aufgabe geeignet und der Schild für seine Bestimmung ungeeignet ist." — „Du behauptest demnach, Schön und Unschön sei dasselbe." — „Ja, auch Gut und Schlecht ist gleich. Oftmals ist nämlich, was für den Hunger gut ist, für das Fieber schlecht, und was für das Fieber gut ist, für den Hunger schlecht. Was für den Lauf taugt, taugt häufig nicht für den Ringkampf, und was beim Ringen nützt, schadet beim Laufen. Jedes Ding ist gut und wertvoll in bezug auf das, wofür es nützt, aber schlecht und nutzlos hinsichtlich jener Gebiete, auf denen es Schaden stiftet." Wenn Sokrates davon sprach, daß Häuser zugleich schön und nützlich sein müßten, so glaube ich, hat er uns damit lehren wollen, wie man Häuser bauen soll. Das war etwa sein Gedankengang: „Wer ein zweckmäßiges Haus bauen will, muß doch wohl darauf achten, daß es bequem zu bewohnen und nützlich eingerichtet ist." Dem stimmte Aristipp zu. „Also muß es im Sommer kühlen und im Winter erwärmen." Auch hier kein Widerspruch. „Demnach scheint in nach Süden gerichteten Häusern zur Winterszeit die Sonne in die Vorhalle, indessen sie während des Sommers über uns und das Dach hinwegzieht und Schatten spendet. Folglich muß man, wenn diese Behauptung berechtigt ist, nach Süden hin höher bauen, damit im Winter die Sonne noch aufgefangen werden kann, und nach Norden niedriger, um die kalten Winde abzuhalten. Um es zusammenzufassen: Dort, wo der Mensch »ich gern aufhält und er seinen Besitz am ehesten gesichert weiß, das ist als die schönste und zweckmäßigste Wohnung anzusprechen. Ausmalungen und Verzierungen bringen mehr Nachteile als Vorteile. Für

128

Tempel und Altäre muß ein entsprechender Platz gewählt werden, der weithin sichtbar und nicht leicht zugänglich ist; denn gern verrichtet mancher schon im Vorübergehen sein Gebet, und jeder tritt lieber rein an den Altar." Das sagte Sokrates zu diesem Punkte.

NEUNTES K A P I T E L

über einige häufige Begriffe 1

Ein andermal wurde an Sokrates die Frage gerichtet, ob Tapferkeit lehrbar sei oder naturgegeben sein müsse. „Ich bin der Auffassung", antwortete dieser, „daß, wie ein Körper seiner Veranlagung nach ausdauernder ist als ein anderer, so auch die seelische Widerstandskraft des einen Menschen von Natur stärker ist als beim andern; denn ich muß feststellen, daß Menschen, die unter gleichen Sitten und Gewohnheiten aufgewachsen sind, sich im Augenblick der 2 Gefahr sehr unterschiedlich verhalten. Jedoch glaube ich, daß eine jede Veranlagung durch Belehrung und Übung sich nach der Tapferkeit hin ausbilden läßt; augenscheinlich würden es nämlich Skythen und Thraker nicht wagen, mit Schild und Speer sich Spartanern zum Kampfe zu stellen, und die Spartaner ihrerseits würden nicht mit Kleinschilden und Spießen gegen Thraker oder mit Bogen gegen Skythen 3 antreten. Auch auf allen anderen Gebieten mache ich die Erfahrung, daß die Menschen ihrer Veranlagung nach beträchtlich voneinander abweichen und durch Übung gewisse Fortschritte erzielen; daraus ergibt sich, daß alle, sowohl die Mehr- wie die Minderbegabten, auf dem Gebiete, auf dem sie einmal mitreden wollen, lernen und arbeiten müssen." * Zwischen Weisheit und Besonnenheit machte Sokrates keinen Unterschied, sondern nannte jemanden, der wußte, 9

Irinscher, Sokrates

129

Tempel und Altäre muß ein entsprechender Platz gewählt werden, der weithin sichtbar und nicht leicht zugänglich ist; denn gern verrichtet mancher schon im Vorübergehen sein Gebet, und jeder tritt lieber rein an den Altar." Das sagte Sokrates zu diesem Punkte.

NEUNTES K A P I T E L

über einige häufige Begriffe 1

Ein andermal wurde an Sokrates die Frage gerichtet, ob Tapferkeit lehrbar sei oder naturgegeben sein müsse. „Ich bin der Auffassung", antwortete dieser, „daß, wie ein Körper seiner Veranlagung nach ausdauernder ist als ein anderer, so auch die seelische Widerstandskraft des einen Menschen von Natur stärker ist als beim andern; denn ich muß feststellen, daß Menschen, die unter gleichen Sitten und Gewohnheiten aufgewachsen sind, sich im Augenblick der 2 Gefahr sehr unterschiedlich verhalten. Jedoch glaube ich, daß eine jede Veranlagung durch Belehrung und Übung sich nach der Tapferkeit hin ausbilden läßt; augenscheinlich würden es nämlich Skythen und Thraker nicht wagen, mit Schild und Speer sich Spartanern zum Kampfe zu stellen, und die Spartaner ihrerseits würden nicht mit Kleinschilden und Spießen gegen Thraker oder mit Bogen gegen Skythen 3 antreten. Auch auf allen anderen Gebieten mache ich die Erfahrung, daß die Menschen ihrer Veranlagung nach beträchtlich voneinander abweichen und durch Übung gewisse Fortschritte erzielen; daraus ergibt sich, daß alle, sowohl die Mehr- wie die Minderbegabten, auf dem Gebiete, auf dem sie einmal mitreden wollen, lernen und arbeiten müssen." * Zwischen Weisheit und Besonnenheit machte Sokrates keinen Unterschied, sondern nannte jemanden, der wußte, 9

Irinscher, Sokrates

129

was Gut und Schön ist, und sich dieser Werte bediente, sowie den, der das Schlechte kannte und sich davor zu hüten verstand, weise und besonnen. Als man ihn weiter fragte, ob diejenigen, die zwar den richtigen Weg wüßten, aber trotzdem anders handelten, nach seiner Auffassung weise und beherrscht seien, antwortete er: „Nichts weniger als das. Wie ich glaube, hält sich ein jeder, wenn ihm verschiedene Möglichkeiten sich darbieten, an das, was ihm am zweckmäßigsten erscheint, und handelt danach. Wer daher unrecht handelt, der kann meiner Uberzeugung nach weder weise noch besonnen sein." Auch die Gerechtigkeit und jede 5 andere gute Eigenschaft, sagte er, sei eine Art Weisheit, da ja jede gerechte Tat und alles, was sonst aus guter Veranlagung heraus geschieht, schön und gut sei; wer das wisse, der kenne keinen andern Weg als nur diesen, während die, denen solche Kenntnis abginge, ihn nicht finden könnten, ja sogar dann ihn verfehlten, wenn sie sich darum bemühten. Da aber alles rechtliche oder sonstwie gute und edle Handeln eine entsprechende Gesinnung zur Voraussetzung hat, so ergibt sich, daß die Gerechtigkeit und jede andere gute Eigenschaft Weisheit ist. Wahnsinn, so drückte er sich 6 aus, ist das Gegenteil von Weisheit; doch rechnete er die Unwissenheit nicht unter den Wahnsinn. Mangelnde Selbsterkenntnis jedoch und den Glauben, etwas erkennen zu können, ohne es doch zu kennen, stellte er neben den Wahnsinn. Irrtümer in solchen Fragen, über die die überwiegende Mehrheit auch nicht Bescheid weiß, sehe man nicht als Zeichen von Wahnsinn an, wohl dagegen deute man so ein Nichtwissen bei Dingen, deren Kenntnis man voraussetzen muß. Bedünkte sich jemand so groß zu sein, daß er beim T Durchschreiten der Tore einer Mauer daran anstieße, oder hielte sich jemand für so stark, um Häuser zu versetzen und andere Aufgaben dieser Art, deren Unausführbarkeit einleuchtet, zu bewältigen, so bezeichne man solche Menschen 130

als Rasende. Wer dagegen sich in nur unbedeutenden Angelegenheiten irrt, gilt in den Augen der Öffentlichkeit noch lange nicht als verrückt, vielmehr wird, wie man ein heftiges Begehren als Brunst bezeichnet, große Unvernunft Wahnwitz genannt. Bei seinem Forschen nach dem Wesen des Neides empfand Sokrates diesen als eine Art Betrübnis, freilich nicht über Unglück bei den Freunden oder Erfolge auf Seiten der Feinde; der Neidische ärgere sich vielmehr über das Wohlergehen seiner Freunde. Als Verwunderung darüber laut wurde, wie man mit einem andern befreundet sein und trotzdem seiner Erfolge wegen verärgert werden könne, erinnerte Sokrates daran, daß es viele Menschen gibt, die andere nicht in Not sehen können, sondern ihnen aus ihrem Unglück helfen müssen, die sich aber dann darüber erbosen, wenn jene zu Wohlstand kommen. Ein vernünftiger Mensch werde sich einer solchen Situation entziehen, aber dem weniger Begabten erginge es nicht selten so. Auch über den Müßiggang machte sich Sokrates seine Gedanken und kam zu dem Ergebnis, daß die meisten Menschen selbst während solcher Zeit sich mit irgend etwas beschäftigen. Denn auch der Spieler oder der Spaßmacher beschäftigten sich ja in gewisser Weise, und trotzdem bezeichne man ihre Tätigkeit als Müßiggang deshalb, weil sie die Möglichkeit hätten, statt dessen etwas Nützlicheres zu tun. Nach Sokrates' Auffassung sollte niemand Zeit dafür finden, sich vom Besseren einer schlechteren Sache zuzuwenden, sonst handele er nicht recht. Als Könige und Archonten wollte er nicht die angesehen wissen, die das Szepter trügen oder von irgendwem gewählt oder durch Zufall erlost worden wären, auch nicht die Gewaltmenschen noch die Betrüger, sondern die allein, die sich aufs Regieren verstehen. Immer nämlich, wenn jemand zugab, daß es Herrscherpflicht sei, nach Gebühr zu befehlen, 131

und Sache des Untertanen, zu gehorchen, wies Sokrates darauf hin, daß bei einer Seefahrt der kundige Seemann die Anweisungen gibt, während der Schiffsherr und die übrigen Passagiere ihm folgen. Auch beim Landbau würden die Grundbesitzer, in der Krankheit die Siechen, bei den Leibesübungen die Sportsleute wie überhaupt ein jeder, der in einer Hinsicht Mangel leide, sich um Abhilfe bemühen, sofern sie sich selber für dazu befähigt hielten; sonst müßten sie sich nioht nur den ansässigen Leuten mit Erfahrung unterordnen, sondern notfalls solche von fernher herbeiholen, um unter ihrer Anleitung die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen. Auf dem Gebiete der Weberei, so bewies Sokrates, sind sogar Frauen den Männern überlegen, da diese etwas vom Handwerk verstehen, während die Männer keine Kenntnisse auf diesem Gebiete besitzen. Auf den Einwand, 12 daß ja der Tyrann selbst auf berechtigte Darlegungen nioht einzugehen brauche, antwortete er: „Wie könnte er die Macht haben, nicht zu gehorchen, obgleich doch Strafe darauf steht, wenn jemand auf begründete Vorstellungen nioht eingeht? Wer nämlich, gleich auf welchem Gebiete, dem guten Rate nicht folgt, begeht Fehler, und wer Fehler begeht, wird dafür zur Verantwortung gezogen werden." Auf den w weiteren Einwand, daß der Tyrann ja auch rechtdenkende Menschen hinrichten lassen könne, erwiderte Sokrates: „Glaubst du, daß einer, der seine besten Bundesgenossen beseitigt, straflos bleibt oder einen willfährigen Richter findet? Meinst du, daß jemand, der so handelt, sich wird halten können, oder sollte er nicht doch recht bald ein schlimmes Ende finden?" Als an Sokrates bei dieser Gelegen- 1* heit jemand die Frage richtete, was er für das wichtigste Erfordernis ansehe, antwortete der: „Die Leistung." Auf die weitere Frage, ob er auch das Glück als ein wesentliches Erfordernis ansehen könne, erwiderte er: „Glück und Leistung erachte ich für vollkommene Antipoden. Wenn zum 132

Beispiel jemand, ohne danach zu suchen, das von ihm Benötigte vorfindet, so nenne ich das Glück; dort aber erst finde ich auch die rechte Gesinnung, wo einer etwas gelernt hat und sich darin übt, seine Pflicht zu tun. Nur solche Menschen handeln nach meiner Auffassung recht." Wertvolle, auch bei den Göttern angesehene Menschen sind nach Sokrates' Auffassung die, welche als Bauern ihr Feld ordentlich bebauen, als Ärzte ihre Kranken gut versorgen, als Politiker die Sache ihres Staates betreiben; wer dagegen nichts Rechtes zustande bringt, ist weder ein nützliches Glied der Gesellschaft, noch vermag er sich der Liebe der Götter zu erfreuen.

ZEHNTES KAPITEL

Wesen

und Aufgaben

der

Kunst

Sogar Künstler, die sich ihrer Gaben zum Broterwerb bedienten, förderte Sokrates, wenn er mit ihnen ins Gespräch kam. So besuchte er einmal den Maler Parrhasios 1 ) und fragte diesen im Verlaufe der Unterhaltung: „Ist es richtig, wenn ich die Malerei einen Spiegel der sichtbaren Welt nenne deshalb, weil ihr Höhen und Tiefen, Licht und Dunkel, Spannung und Schlaffheit, Härte und Weichheit, Alt und Neu durch eure Farben im Abbilde wiedergebt?" — „Damit hast du recht", erwiderte der Maler. — „Da aber schwerlich ein Mensch vollkommen makelfrei ist, gelangt ihr auf die Weise zur Gestaltung der Schönheit, daß ihr bei einer größeren Anzahl von Wesen von jedem die schönsten Züge nachbildet, und die Folge davon ist, daß alle Körper, die ihr malt, schön aussehen. J a ? " — „Ja, so arbeiten 1) Parrhasios aus EpheBos lebte meist in Athen und war einer der bekanntesten Maler seiner Zeit; von seinen Werken ist uns keines erhalten.

133

Beispiel jemand, ohne danach zu suchen, das von ihm Benötigte vorfindet, so nenne ich das Glück; dort aber erst finde ich auch die rechte Gesinnung, wo einer etwas gelernt hat und sich darin übt, seine Pflicht zu tun. Nur solche Menschen handeln nach meiner Auffassung recht." Wertvolle, auch bei den Göttern angesehene Menschen sind nach Sokrates' Auffassung die, welche als Bauern ihr Feld ordentlich bebauen, als Ärzte ihre Kranken gut versorgen, als Politiker die Sache ihres Staates betreiben; wer dagegen nichts Rechtes zustande bringt, ist weder ein nützliches Glied der Gesellschaft, noch vermag er sich der Liebe der Götter zu erfreuen.

ZEHNTES KAPITEL

Wesen

und Aufgaben

der

Kunst

Sogar Künstler, die sich ihrer Gaben zum Broterwerb bedienten, förderte Sokrates, wenn er mit ihnen ins Gespräch kam. So besuchte er einmal den Maler Parrhasios 1 ) und fragte diesen im Verlaufe der Unterhaltung: „Ist es richtig, wenn ich die Malerei einen Spiegel der sichtbaren Welt nenne deshalb, weil ihr Höhen und Tiefen, Licht und Dunkel, Spannung und Schlaffheit, Härte und Weichheit, Alt und Neu durch eure Farben im Abbilde wiedergebt?" — „Damit hast du recht", erwiderte der Maler. — „Da aber schwerlich ein Mensch vollkommen makelfrei ist, gelangt ihr auf die Weise zur Gestaltung der Schönheit, daß ihr bei einer größeren Anzahl von Wesen von jedem die schönsten Züge nachbildet, und die Folge davon ist, daß alle Körper, die ihr malt, schön aussehen. J a ? " — „Ja, so arbeiten 1) Parrhasios aus EpheBos lebte meist in Athen und war einer der bekanntesten Maler seiner Zeit; von seinen Werken ist uns keines erhalten.

133

wir." — „Wie haltet ihr es nun mit seelischen Erscheinungen? Gebt ihr da die gewinnendste, angenehmste, liebreizendste, am meisten begehrenswerte u n d anmutigste Möglichkeit wieder? Oder kann man diese überhaupt nicht abbilden?" — „Wie sollte m a n etwas wiedergeben können, was weder Maß noch Farbe hat noch irgendeine der von dir erwähnten Eigenschaften besitzt, ja überhaupt nicht sichtbar ist?" — „Ist es aber nicht richtig, daß ein Mensch den andern 4 freundlich oder auch böse anblicken kann?" — „Das will ich meinen." — „Läßt sich das nidht im Ausdruck der Augein wiedergeben?" — „.Natürlich." — „Nimmst du an, d a ß die, die an Freud u n d Leid ihrer Freunde teilnehmen, denselben Gesichtsausdruck zeigen wie jene, die das nicht tun?" — „Bei Zeus, ganz bestimmt nicht! Wer sich freut, zeigt ein heiteres, wer Trauer hat, ein düsteres Gesicht." — „Kann man das im Bilde ausdrücken?" — „Freilich." — „Aber auch 5 Großzügigkeit, Edelmut, Bescheidenheit, Unfreiheit, Bedachtsamkeit, Besonnenheit, Wahnwitz und schlechter Geschmack kommen in Ausdruck und Gebärden stehender und sich bewegender Menschen zur Geltung." — „Ohne Zweifel." — „Also lassen sie sich auch wiedergeben?" — „Ja." — „Glaubst d u nun, daß die Leute lieber solche Darstellungen sehen, aus denen das Schöne u n d das Gute u n d das Liebenswerte durchblickt, oder daß sie Bilder bevorzugen, die das Häßliche u n d Unwerte u n d Nichtswürdige wiedergeben?" — „Da ist wahrlich ein großer Unterschied, lieber Sokrates." Einmal kam Sokrates zu dem Bildhauer Kleiton 1 ) u n d 8 richtete im Verlaufe ihres Gesprächs an diesen die Frage: „Daß du, Kleiton, verschiedenartige Läufer, Ringer, Boxer u n d Athleten darstellst, ist mir bekannt; das Erregendste dabei aber ist, daß diese Gestalten im Beschauer den Ein1) Ein Bildhauer Kleiton ist sonst nicht b e k a n n t ; daß Kleiton jedoch, wie gelegentlich angenommen wurde, Kurzform f ü r Polykleitos sein sollte, ist wenig wahrscheinlich.

134

druck wirklichen Lebens erwecken. Wie rufst du diesen her7 vor?" Da Kleiton sich darauf erst bedachte und nicht gleich Antwort gab, fuhr Sokrates fort: „Bringst du dadurch die Lebendigkeit in deine Gestalten, daß du dein Werk dem Ausdruck lebender Menschen nachbildest?" — „So ist es." — „Du gibst demnach die Hebungen und Senkungen, die bei verschiedenen Stellungen am Körper sichtbar werden, ebenso wie Momente des Drucks und der Dehnung, Spannung und Gelöstheit wieder und erzielst dadurch die Lebensnähe und -Wahrheit deiner Schöpfungen?" — „Ja, so ist es." — 8 „Ruft nicht auch die Wiedergabe seelischer Stimmungen in deinen Gestalten Befriedigung beim Beschauer hervor?" — „Ganz gewiß." — „Es muß somit auch das Blitzen in den Augen der Kämpfer und der strahlende Gesichtsausdruck des Siegers gestaltet werden?" — „Jawohl." — „Fassen wir es zusammen: Der Bildhauer muß seelisches Leben zum Ausdruck bringen." e

Einmal besuchte Sokrates den Panzerschimied Pistias und dieser zeigte ihm gut gearbeitete Panzer. „Bei Hera, ich bewundere diese Erfindung, welche die sohutzbedürftdgen Teile des menschlichen Körpers bedeckt, ohne die Hände am 10 Gebrauch zu hindern. Doch, sag mir, lieber Pistias", fuhr er fort, „warum machst du deine Panzer nicht fester und nicht prächtiger als andere und verkaufst sie doch zu höherem Preise?" — „Deshalb, Sokrates, weil ich sie passender mache." — „Beweist du diese bessere Paßform durch Maß oder Gewicht, wenn du einen höheren Preis forderst? Denn ich kann mir nicht denken, daß du alle gleich oder ähnlich machst, wenn sie passend sein sollen." — „Ja, sie müssen 11 sitzen; denn sonst nützen Panzer nichts." — „Sind nun die Körper der verschiedenen Kunden gut oder schlecht proportioniert?" — „Teils, teils." — „Wie proportionierst du aber 1) Sonst nicht näher bekannt.

135

einen Panzer, der auf einen schlecht proportionierten Körper paßt?" — „Indem ich ihn passend mache; denn was paßt, hat Proportion." — „Anscheinend beziehst du die Proportioniert- 12 heit nicht auf sich selbst, sondern auf den, der sich ihrer bedient; du würdest demnach sagen, daß ein Schild die rechte Gestalt hat für den, dem er paßt, und von einem Mantel und andern Dingen der Art ganz das Entsprechende behaupten. Vielleicht trat aber zur rechten Paßform noch ein weiterer, 18 nicht gering anzuschlagender Vorteil." — „Erzähle mir darüber, wenn es dir möglich ist, Sokrates!" — „Selbst bei gleichem Gewicht drücken gut sitzende Panzer nicht so sehr wie schlecht passende. Ungefüge Panzer wie überhaupt alles, was auf den Schultern oder sonst am Körper hängt, werden durch den heftigen Druck, den sie ausüben, beschwerlich und lästig, passende dagegen verteilen ihre Last auf Schlüsselbeine und Schultern, auf Brust, Rücken und Unterleib und ähneln somit nicht so sehr einer Last als vielmehr einem bloßen Anhängsel." — „Du trafst diese Feststellungen, weil 14 ich meine Erzeugnisse für hochqualifiziert ansehe; andere kaufen dagegen lieber glitzernde und vergoldete Panzer." — „Wenn sie dabei schlecht sitzende Stücke erhalten, dann, denke ich, haben sie mit ihrem Glitzern und ihrer Vergoldung nichts Gutes erkauft. Noch eins! Der Körper ändert ja seine 15 Gestalt, indem er sich bald krümmt und bald aufrichtet; können da genau anliegende Panzer passen?" — „Keineswegs." — „So passen also nicht die genau anliegenden, sondern die, welohe beim Gebrauche nicht beschwerlich werden." — „Ganz so ist es, lieber Sokrates, du hast mich vollkommen verstanden."

136

ELFTES KAPITEL

Wie man treue Freunde 1

gewinnt

Einst hielt sich in Athen eine schöne Frau namens Theodote auf, die ihre Gesellschaft einem jeden lieh, der sie zu gewinnen suchte; ihrer gedachte einer von Sokrates' Freunden und erzählte, daß ihre Schönheit unaussprechlich sei und Maler zu ihr kämen, um sie zu porträtieren, und sie zeige ihnen alles, was der Anstand erlaube. Da rief Sokrates: „Auf, wollen wir selbst sehen; denn das Unaussprechliche läßt sich nicht aus Worten entnehmen." — Drauf der Er-

2 zählen „Nun, so folgt mir." Gesagt, getan, machten sie sich auf den W e g zu Theodote, die sie, während sie einem Maler Modell stand, antrafen, und betrachteten sie. Als der Maler eine Pause einlegte, fragte Sokrates: „ W a s meint ihr, Freunde, müssen wir nun Theodote Dank wissen dafür, daß sie uns ihre Schönheit gezeigt hat, oder nicht sie vielmehr uns, deshalb, weil wir sie anschauten? Sofern für sie solch ein Sichvorstellen von größerem Vorteil ist, so sollte sie uns verbunden sein, brachte uns dagegen ihr Anschaun den größeren 3 Nutzen, dann liegt die Verpflichtung auf unserer Seite." Als ihm jemand beipflichtete, fuhr er fort: „Demnach gewinnt Theodote durch uns einen großen Namen, und wenn wir ihren Ruhm verbreiten, wird sie noch mehr Nutzen davon haben; wir hingegen möchten das, was wir zu sehen bekamen, auch anrühren dürfen und gehen, von heimlichem Feuer und Begehren gepackt, davon. So erklärt es sich, daß wir die Anbeter sind und sie die Angebetete." — Theodote erwiderte darauf : „Wenn dem so wäre, müßte ich euch wirklich dafür dank1) Berühmte Hetäre, Geliebte des Alkibiades, den sie nach seinem gewaltsamen Tode in Phrygien begrub.

137

bar sein, daß ihr mioh ansehen kommt." Bei solchem Gespräch 4 stellte Sokrates fest, welch kostbaren Schmuck Theodote trug, wie ihre Mutter, die bei ihr war, keineswegs alltäglich gekleidet war und sich und ihre zahlreichen hübschen Dienerinnen in keiner Weise vernachlässigte, ja, daß schließlich ihr Haus auch in jeder anderen Hinsicht - vornehm ausgestattet war, und so fragte er: „Sag mir, Theodote, besitzest du Grund und Boden?" — „Nein." — „Dann aber ein Haus, vom dem du Einnahmen hast?" — „Auch das nicht." — „Oder du beschäftigst Lohnarbeiter?" — „Nicht einen." — „Womit bestreitest du dann deine Bedürfnisse?" — „Wenn mir jemand vertraut geworden ist und sich mir dafür erkenntlich zeigt, das ist mein Einkommen." — „Bei Hera, du hast aber 5 ein stattliches Besitztum. Eine Schar von Freunden ist somit weit einträglicher als Herden von Schafen, Rindern und Ziegen. Uberläßt du es nun aber dem Zufall, daß dich ein Freund einer Fliege gleich anfliegt, oder tust du selber auch etwas dafür?" — „Wie sollte ich auf derartige Möglichkeiten 6 kommen?" — „Ich dächte, noch eher als zum Beispiel die Spinnen, die, wie du weißt, sich ihren Lebensunterhalt erjagen, indem sie feine Gewebe spinnen und das zur Nahrung verwenden, was sich darin fängt." — „Und mir gibst du den Rat, ein ähnliches Fangnetz zu weben?" — „Man darf nicht t annehmen, als seien Freunde, das höchste Gut, so ohne weiteres zu gewinnen. Siehst du nicht, daß man, um Dinge von geringem Wert wie Hasen z. B. zu erjagen, schon mancherlei aufbieten muß? Da die Hasen nämlich zur Nachtzeit grasen, 8 müssen sich ihre Jäger Nachthunde beschaffen, um sie aufzuspüren; des Morgens verlassen sie ihre Weideplätze, und man hat dann andere Hunde, die durch ihren Geruchssinn feststellen, welchen Weg die Hasen vom Weide- zum Lagerplatz einschlugen, und sie wieder auffinden; da nun aber sich die Hasen derart schnell fortzubewegen vermögen, daß sie selbst aus nächster Nähe noch entkommen können, richtet man 138

besondere Jagdhunde ab, die sie einholen; und weil sogar dabei noch ein Teil der Beute entgeht, legt man an den Fluchtwegen der Hasen Netze aus, in denen sie sich festlaufen 9 sollen." — „Auf welche Weise sollte ich also Freunde gewinnen?" — „So vielleicht, daß du dir nach der Art eines Spürhundes jemanden gewönnest, der dir der Schönheit aufgeschlossene, reiche Leute ausfindig machte und dann seine Kraft darauf verwendete, diese Menschen in deine Netze zu 10 verstricken." — „Und was für Netze müßte ich haben?" — „Zuerst einen recht anschmiegsamen Körper und darin eine Seele, die dich erkennen läßt, durch welchen Blick du Entzücken und mit welchem Wort du Freude hervorrufen kannst, und die dich darüber belehrte, daß man den Strebenden freundlich aufnehmen, jedoch den üppigen Schwelger ausschließen soll, daß es gut ist, den Freund, wenn er krank ist, teilnehmend zu besuchen, sich mit ihm zu freuen, wenn er etwas erfolgreich vollbracht, und ihm mit ganzer Seele zugetan zu sein, wenn eT sich herzlich um dich sorgt. Ich weiß sehr wohl, daß du dich nicht nur auf sinnliche, sondern ebensowohl auf geistige Liebe verstehst, und mir ist bekannt, daß dir deine Freunde darum zugetan sind, weil du sie nicht durch Worte, sondern durch Taten gewinnst." — „Aber bei Zeus", erwiderte Theodote, „nichts von all dem betreibe ich." — 11 „Und doch liegt sehr viel daran, daß man den Menschen seiner Natur entsprechend richtig behandelt. Gewaltsam läßt er sich weder gewinnen noch halten, dagegen machen ihn Wohltun und Freundlichkeit zugänglich und anhänglich." — 12 „Damit hast du recht." — „Von deinen Verehrern darfst du daher im Anfang nur soviel fordern, wie ihnen zu gewähren unschwer möglich ist; ihre Gunst solltest du in gleicher Weise erwidern; so, denke ich, wird am ehesten Freundschaft entstehen, die längste Zeit andauern und die schönsten 13 Blüten treiben. Ihrer Liebe wirst du dich am besten versichern, wenn du erst dann deine Gaben austeilst, wenn

139

ein Verlangen danach besteht; denn du hast es ja erfahren, daß selbst die köstlichsten Speisen, wenn man sie jemandem vorsetzt, der keinen Appetit danach hat, nicht schmecken wollen, ja bei einem Satten gar Widerwillen hervorrufen, während am Tische des Hungrigen sogar Hausmannskost aufs beste schmeckt." — „Wie soll ich aber jemandem nach 14 den Gaben, die ich zu verschenken habe, Appetit machen?" — „Indem du denen, die bereits gesättigt sind, deine Gunst weder anbietest noch in die Erinnerung bringst, bis ihre Sättigung vorüber und sie erneut Appetit empfinden, und indem du dich ferner denen, die nach dir lechzen, in möglichst anmutiger Unterhaltung in Erinnerung bringst, ihnen deine Bereitwilligkeit zu erkennen gibst und dich doch solange zurückhältst, bis ihr Begehren seinen Höhepunkt erreicht. Dann erscheinen dieselben Gaben in weit glänzenderem Lichte, als wenn sie verschenkt werden, ehe ein Verlangen nach ihnen besteht." — Theodote: „Warum, lieber 15 Sokrates, bist du mir nicht zum Helfer geworden, als ich Freunde gewinnen wollte?" — „Brauchst mich ja nur dafür zu begeistern!" — „Wie sollte ich das?" — „Das wirst du selber ausfindig machen und zur Tat werden lassen müssen, wenn du meiner bedarfst." — „So magst du mich öfters besuchen." — Scherzte Sokrates mit seiner Untätigkeit: „Ich habe kaum 18 Zeit, liebe Theodote; persönliche und Staatsgesohäfte beanspruchen mich, und außerdem habe ich viele Freundinnen, die mich Tag und Nacht nicht von sich lassen, weil sie Zaubermittel und Bannsprüche von mir lernen." — „Verstehst 17 du auch davon etwas, Sokrates?" — „Warum sonst, meinst du, wollten A p o l l o d o r u n d Antisthenes ^ nicht von mir gehen? Oder weswegen kämen Kebes und Simias 3) von Theben hierher? Glaub mir, ohne Beschwörung, Zauber1) Einer der treuesten Anhänger des Sokrates, Träger der Erzählung in Piatons Gastmahl. 2) Vgl. S. 80 Anm. 1. 3) Vgl. S. 34 Anm. 4.

140

spruch und Zauberrad wäre das nicht möglich!" — „So leih mir dein Zauberrad, damit ich es zuerst anwende, um dich zu fangen!" — „Aber ich will ja gar nictht zu dir, sondern wünschte, daß du zu mir kämest." — „Ich will schon kommen, nimm mich nur auf!" — „Ich werde dich schon einlassen, wenn nicht gerade jemand bei mir ist, der mir noch mehr a m Herzen liegt."

ZWÖLFTES KAPITEL

Von der Bedeutung der

Leibesübungen

2

Als Sokrates den Epigenes ) sah, der zu den jüngeren unter seinen Anhängern gehörte und etwas schwächlich war, sagte er: „Mir scheint, du bekümmerst dich nicht um deinen Körper, Epigenes." — Der Angesprochene: „Ich brauche es auch nicht." — „Du müßtest es schon, und zwar nicht weniger als die Anwärter für die olympischen Spiele. Oder achtest du den Kampf um Leben und Tod f ü r gering, in den die Athener eintreten werden, wenn sich ihnen nur eine Gelegenheit bietet? Leider gehen in den Gefahren des Krieges nicht wenige an ihrer schlechten körperlichen Verfassung zugrunde oder bleiben doch ihr Leben lang behindert. Viele andere geraten aus dem gleichen Grunde in Gefangenschaft, wo sie, wenn es ihr Schicksal so will, den Rest ihres Lebens in erbärmlichster Sklaverei verbringen, oder sie werden in harte Not gedrängt, da man ihnen mehr zu zahlen auferlegt, als ihr Besitz ausmacht, daß sie in nicht enden wollender Bedrängnis und bittrem Herzeleid ihre Tage 1) Das Wort .Zauberrad' bezeichnet primär den Vogel Wendehals, dem das Altertum Zauberkraft andichtete. Um einem Menschen Liebe einzuflößen, band man diesen Wendehals als Lockvogel an ein Bad, auf das dann da9 Wort übertragen wurde. 2) Nach Piaton, Phaidon 59 B auch bei Sokrates' Tode zugegen.

141

spruch und Zauberrad wäre das nicht möglich!" — „So leih mir dein Zauberrad, damit ich es zuerst anwende, um dich zu fangen!" — „Aber ich will ja gar nictht zu dir, sondern wünschte, daß du zu mir kämest." — „Ich will schon kommen, nimm mich nur auf!" — „Ich werde dich schon einlassen, wenn nicht gerade jemand bei mir ist, der mir noch mehr a m Herzen liegt."

ZWÖLFTES KAPITEL

Von der Bedeutung der

Leibesübungen

2

Als Sokrates den Epigenes ) sah, der zu den jüngeren unter seinen Anhängern gehörte und etwas schwächlich war, sagte er: „Mir scheint, du bekümmerst dich nicht um deinen Körper, Epigenes." — Der Angesprochene: „Ich brauche es auch nicht." — „Du müßtest es schon, und zwar nicht weniger als die Anwärter für die olympischen Spiele. Oder achtest du den Kampf um Leben und Tod f ü r gering, in den die Athener eintreten werden, wenn sich ihnen nur eine Gelegenheit bietet? Leider gehen in den Gefahren des Krieges nicht wenige an ihrer schlechten körperlichen Verfassung zugrunde oder bleiben doch ihr Leben lang behindert. Viele andere geraten aus dem gleichen Grunde in Gefangenschaft, wo sie, wenn es ihr Schicksal so will, den Rest ihres Lebens in erbärmlichster Sklaverei verbringen, oder sie werden in harte Not gedrängt, da man ihnen mehr zu zahlen auferlegt, als ihr Besitz ausmacht, daß sie in nicht enden wollender Bedrängnis und bittrem Herzeleid ihre Tage 1) Das Wort .Zauberrad' bezeichnet primär den Vogel Wendehals, dem das Altertum Zauberkraft andichtete. Um einem Menschen Liebe einzuflößen, band man diesen Wendehals als Lockvogel an ein Bad, auf das dann da9 Wort übertragen wurde. 2) Nach Piaton, Phaidon 59 B auch bei Sokrates' Tode zugegen.

141

zubringen. Noch andere kommen ihrer körperlichen Unfähigkeit halber in Verruf, weil man sie f ü r feige hält. Schlägst du etwa die Nachteile solcher Körperschwäche gering an, daß du meinst, sie leicht ertragen zu können? Ich möchte vielmehr annehmen, daß es viel einfacher u n d schöner ist, wenn einer, der seinen Körper nicht vernachlässigt hat, was an ihn herantritt, auszuhalten vermag. Oder hältst du Schwächlichkeit etwa f ü r gesünder u n d auch in anderer Hinsicht f ü r förderlicher als Abhärtung? Ubersiehst du die aus der Abhärtung erwachsenden Erfolge? Es ist doch so, daß den Abgehärteten und den Schwächlingen sich alle Dinge gerade zum Gegenteil hin entwickeln. W e r seinen Körper in Zucht hält, der bleibt gesund u n d leistungsfähig, und manch einer ist dadurch gut durch zahlreiche Schlachten gekommen u n d hat sich aus allen Gefahren gerettet. Viele helfen ihren Freunden, dienen ihrem Vaterlande, dessen Dank sie genießen, erwerben sich großen R u h m u n d ehrenvolle Auszeichnungen; sie verbringen daher ihren Lebensabend herrlich u n d in Freuden u n d hinterlassen ihren Kindern reiche Mittel f ü r ihren Unterhalt. Deshalb, weil der Staat die militärische Erziehung nicht pflegt, braucht sie der einzelne nicht zu vernachlässigen, sondern sollte nicht minder darauf bedacht sein. Denn du kannst mir glauben, daß du auch bei jedem sportlichen Wettkampf, ja überhaupt bei jeder anderen Tätigkeit im Vorteil bist, ist doch zu jeder menschlichen Tätigkeit der Körper erforderlich. Uberall aber, wo m a n sich des Körpers bedient, kommt es wesentlich auf seine Gesundheit an. Selbst da, wo es allem Anschein nach am wenigsten u m körperliche Tätigkeit geht, beim Denken, vermag keiner zu sagen, ob nicht viele gerade deshalb ohne Erfolg bleiben, weil sie körperlich nicht gesund sind. Manch einer wird von Vergeßlichkeit, Verzagtheit, Verdrießlichkeit u n d Besessenheit infolge körperlicher Schwäche in solchem Maße befallen, daß darunter am Ende

142

3

4

5

6

7 sein Wissen schwindet. Die Gesunden dagegen haben ein Gefühl der Sicherheit und schweben nicht in Gefahr, infolge Körperschwäche derartige Schäden zu erleiden; eindeutig ist also körperliche Leistungsfähigkeit das beste Mittel, um gerade das Gegenteil von jenen Erscheinungen, welche die Schwächlichkeit mit sich bringt, herbeizuführen. W a s würde ein kluger Mensch allein um der geschilderten Vorteile willen 8 auf sich nehmen! Es ist schon eine Schande, wenn jemand durch seine Nachlässigkeit alt wird, noch ehe er sich in voller körperlicher Kraft und Schönheit gesehen hat! Doch dem Nachlässigen ist das nicht vergönnt; denn solche Eigenschaften pflegen sich nicht von selber einzufinden."

DREIZEHNTES KAPITEL

Sokratische

Dikta

1

Als einmal jemand deswegen in Zorn geriet, weil ein anderer ihm auf seinen Gruß nicht gedankt hatte, meinte Sokrates: „Es ist zum Lachen. Wärest du jemandem begegnet, der körperlich häßlicher war als du, du würdest dich nicht ereifern; nun du aber einen trafst, der es dir an Gesittung nicht gleichtut, so schmerzt dich das."

2

Ein anderer erzählte, er habe keinen Appetit beim Essen. „Akumenos" 1 ), meinte Sokrates, „weiß ein gutes Mittel dagegen." — „Und das wäre?" — „Hör auf zu essen; dann wirst du besser, billiger und gesünder leben!"

3

Wieder ein anderer beklagte sich, bei ihm sei das Wasser zu warm zum Trinken. „Dann wird es gerade passend sein, wenn du dich warm baden willst", antwortete Sokrates. — „Zum Baden ist es zu kalt." — „Beschweren sich eigentlich deine Sklaven, wenn sie es trinken und sich damit waschen 1) Ein mit Sokrates befreundeter Arzt.

143

7 sein Wissen schwindet. Die Gesunden dagegen haben ein Gefühl der Sicherheit und schweben nicht in Gefahr, infolge Körperschwäche derartige Schäden zu erleiden; eindeutig ist also körperliche Leistungsfähigkeit das beste Mittel, um gerade das Gegenteil von jenen Erscheinungen, welche die Schwächlichkeit mit sich bringt, herbeizuführen. W a s würde ein kluger Mensch allein um der geschilderten Vorteile willen 8 auf sich nehmen! Es ist schon eine Schande, wenn jemand durch seine Nachlässigkeit alt wird, noch ehe er sich in voller körperlicher Kraft und Schönheit gesehen hat! Doch dem Nachlässigen ist das nicht vergönnt; denn solche Eigenschaften pflegen sich nicht von selber einzufinden."

DREIZEHNTES KAPITEL

Sokratische

Dikta

1

Als einmal jemand deswegen in Zorn geriet, weil ein anderer ihm auf seinen Gruß nicht gedankt hatte, meinte Sokrates: „Es ist zum Lachen. Wärest du jemandem begegnet, der körperlich häßlicher war als du, du würdest dich nicht ereifern; nun du aber einen trafst, der es dir an Gesittung nicht gleichtut, so schmerzt dich das."

2

Ein anderer erzählte, er habe keinen Appetit beim Essen. „Akumenos" 1 ), meinte Sokrates, „weiß ein gutes Mittel dagegen." — „Und das wäre?" — „Hör auf zu essen; dann wirst du besser, billiger und gesünder leben!"

3

Wieder ein anderer beklagte sich, bei ihm sei das Wasser zu warm zum Trinken. „Dann wird es gerade passend sein, wenn du dich warm baden willst", antwortete Sokrates. — „Zum Baden ist es zu kalt." — „Beschweren sich eigentlich deine Sklaven, wenn sie es trinken und sich damit waschen 1) Ein mit Sokrates befreundeter Arzt.

143

müssen?" — „Bei Zeus, nein, und ich habe mich auch schon oft darüber gewundert, daß sie es für beide Zwecke gern verwenden." — „Ist eigentlich dein Trinkwasser wärmer oder das im Asklepiostempel?" — „Das im Tempel." — „Und ist dein Waschwasser kühler oder das im Amphiareion?" 1) — „Das im Amphiareion." — „So denke daran, daß du in Gefahr bist, undankbarer zu sein als deine Dienerschaft und die Kranken!" Als ein Herr seinen Begleiter heftig schalt, fragte ihn So- 4 krates, warum er seinem Diener zürne. „Weil er gefräßig und faul, geldgierig und nichtsnutzig zugleich ist." — „Hast du schon einmal darüber nachgedacht, wer von euch beiden mehr Schläge verdient, du oder dein Diener?" fragte Sokrates. Zu einem, der sich vor dem Weg nach Olympia fürchtete, 5 sagte Sokrates: „Wie kannst du vor der Reise Angst haben, da du doch auch zu Hause fast den ganzen Tag auf den Beinen bist? Wenn du dich dorthin auf die Wanderung begibst, wirst du nach einigen Wegstunden dein Frühstück und nach weiterem Marsch deine Hauptmahlzeit einnehmen und dich darauf zur Ruhe begeben; ist es dir nicht klar, daß du, wenn du deine Gänge, die du in fünf, sechs Tagen ausrichtest, aneinanderreihtest, leicht von Athen bis nach Olympia kämest? Gut ist es freilich, beizeiten aufzubrechen, da man es als beschwerlich empfindet, wenn man das Tagespensum ungebührlich überschreiten muß, während es auf der andern Seite eine beträchtliche Erleichterung gewährt, wenn man einen Tag zulegt. Besser, man sputet sich beim Aufbruch als auf dem Wege!" Als ein anderer davon erzählte, wie erschöpft er nach 6 einer langen Reise gewesen, fragte ihn Sokrates, ob er eine Last habe tragen müssen. „Nein, nur mein Gewand." — 1) Tempel des Heilgottes Amphiaraos bei Oropus in Böotien.

144

„Gingst du allein, oder hattest du einen Bediensteten bei dir?" — „ E i n Diener reiste mit mir." — „Hatte der etwas z u tragen oder nicht?" — „ E r trug natürlich das Bettzeug und das sonstige Gepäck." — „ U n d wie ist ihm die Reise b e k o m m e n ? " — „Soviel ich sehen kann, besser a l s ' m i r . " — „ U n d wie meinst du, d a ß dir es ergangen wäre, wenn du seine Last zu tragen gehabt hättest?" — „Bei Zeus, schlecht natürlich; ich hätte es nicht mehr fortbringen können." — „ D u vermagst also so viel weniger auszuhalten als ein S k l a v e ; wie vereinbarst du das aber mit deiner gymnastischen Erziehung?"

VIERZEHNTES KAPITEL

Sokrates 1

übt Mäßigkeit

bei

Tisch

W e n n man sich z u m Essen begab und einer viel, der andere wenig Zukost mitbrachte, dann gab Sokrates dem Sklaven die Weisung, kleine Portionen entweder auf

die

gemeinsame Tafel zu legen oder jedem sein Teil zuzuweisen. Die nun, die viel mitgebracht hatten, scheuten sich natürlich, an der gemeinsamen Tafel nicht teilzunehmen, andererseits wollten sie das Ihre nicht gern dazu beisteuern. Schließlich legten sie aber doch, was sie mitgebracht hatten, auf den für alle bestimmten Tisch. Da ihnen so nicht mehr zufiel als denen, die nur wenig mitgebracht hatten, hörten sie v o n selber auf, viel Zukost zu essen. 2

Sokrates hatte erfahren, daß einer seiner Tischgenossen die Zukost f ü r sich allein aß, das Brot dagegen stehen ließ. Als einmal die Rede auf die Namensgebung k a m und man darüber sprach, wie ein jeder Name v o n einer Tätigkeit abgeleitet ist, sagte Sokrates: „ L ä ß t sich wohl erklären, liebe Freunde, weswegen man jemanden ein Leckermaul nennt? 10

Irmscher, Sokrates

145

„Gingst du allein, oder hattest du einen Bediensteten bei dir?" — „ E i n Diener reiste mit mir." — „Hatte der etwas z u tragen oder nicht?" — „ E r trug natürlich das Bettzeug und das sonstige Gepäck." — „ U n d wie ist ihm die Reise b e k o m m e n ? " — „Soviel ich sehen kann, besser a l s ' m i r . " — „ U n d wie meinst du, d a ß dir es ergangen wäre, wenn du seine Last zu tragen gehabt hättest?" — „Bei Zeus, schlecht natürlich; ich hätte es nicht mehr fortbringen können." — „ D u vermagst also so viel weniger auszuhalten als ein S k l a v e ; wie vereinbarst du das aber mit deiner gymnastischen Erziehung?"

VIERZEHNTES KAPITEL

Sokrates 1

übt Mäßigkeit

bei

Tisch

W e n n man sich z u m Essen begab und einer viel, der andere wenig Zukost mitbrachte, dann gab Sokrates dem Sklaven die Weisung, kleine Portionen entweder auf

die

gemeinsame Tafel zu legen oder jedem sein Teil zuzuweisen. Die nun, die viel mitgebracht hatten, scheuten sich natürlich, an der gemeinsamen Tafel nicht teilzunehmen, andererseits wollten sie das Ihre nicht gern dazu beisteuern. Schließlich legten sie aber doch, was sie mitgebracht hatten, auf den für alle bestimmten Tisch. Da ihnen so nicht mehr zufiel als denen, die nur wenig mitgebracht hatten, hörten sie v o n selber auf, viel Zukost zu essen. 2

Sokrates hatte erfahren, daß einer seiner Tischgenossen die Zukost f ü r sich allein aß, das Brot dagegen stehen ließ. Als einmal die Rede auf die Namensgebung k a m und man darüber sprach, wie ein jeder Name v o n einer Tätigkeit abgeleitet ist, sagte Sokrates: „ L ä ß t sich wohl erklären, liebe Freunde, weswegen man jemanden ein Leckermaul nennt? 10

Irmscher, Sokrates

145

Bekanntlich essen ja alle die leckre Zukost zum Brot, aber ich kann mir nicht denken, daß man sie deshalb Leckermäuler nennt." — „Bestimmt nicht", meinte einer der Zuhörer. „Wenn freilich jemand seine Beikost ohne Brot ißt; und zwar nicht eines Trainings wegen, sondern aus lauter Gier, soll der dann als Leckermaul gelten oder nicht?" — „Niemand sonst ist es eher als er." — Fragte einer aus dem Kreise der Zuhörer: „Wie steht es, wenn einer bloß ein bißchen Brot und viel Belag dazu ißt?" — „Auch für einen solchen Menschen trifft meiner Meinung nach die Bezeichnung Leckermaul zu; wenn nämlich andere von den Göttern reiche Feldfrucht erbitten, dann wird der um viel Schleckerei beten." Jener junge Mann merkte wohl, daß solche Worte 4 aus Sokrates' Munde auf ihn gemünzt waren; zwar hörte er deshalb nicht auf, sich an die Beikost zu halten, aber er nahm doch Brot dazu. Als Sokrates das sah, rief er: „Ihr da, achtet einmal darauf, ob unser junger Freund das Brot als Belag oder den Belag als Brot verwendet!" Als Sokrates einmal bemerkte, wie einer seiner Tisch- 5 genossen zu einer Scheibe Brot mehrere Sorten Belag nahm, meinte er: „Kann man sich eine kostspieligere Nahrungszubereitung oder vielmehr Nahrungsverfälschung denken, als wenn jemand auf einmal die verschiedensten Leckerbissen in den Mund nimmt? Wer mehr Zutaten zusammenmischt, als die Köche das tun, der verteuert seine Speisen; bringt einer dagegen Aggredienzien zusammen, die andere als nicht harmonierend fernhalten, dann befindet er sich, sofern jene im Recht sind, auf falschem Wege und verstößt gegen die Regeln seiner Kunst. Und ist es nicht eine Lächer- 6 lichkeit, wenn solch ein Mensch, der von der Kochkunst auch nicht das Mindeste versteht, das Ergebnis der Arbeit ausgebildeter Köche umzustoßen versucht? Und noch ein weiteres kommt hinzu. Ist einmal nicht viel vorhanden, so befürchtet der Betreffende bereits, er werde zu kurz kommen,

146

da es ihn nach dem üblichen Maß gelüstet. Wer dagegen daran gewöhnt ist, zu einem Bissen Brot einen Bissen Belag zu verzehren, der wird auch, wenn nicht viel da ist, diesen einen Bissen ohne Not haben können." Auch darauf wies er hin, daß das Wort „Wohlleben" im athenischen Dialekt soviel wie „essen" bedeute. Das „wohl" wolle in diesem Zusammenhang bedeuten, daß man das essen solle, was weder für die Seele noch für den Körper von Schaden und unschwer aufzufinden sei. So brachte er auch das „Wohlleben" in Verbindung zu einer harmonischen Lebensführung.

147

VIERTES BUCH

ERSTES K A P I T E L

Von der Notwendigkeit 1

der Erziehung

So förderte Sokrates seine Freunde in jeder Hinsicht und auf alle Art. Es war daher für jeden nur einigermaßen Begabten, der sich das bedachte, klar, daß es für ihn nichts Nutzbringenderes geben konnte, als mit Sokrates zusammenzusein und sich zu jeder Gelegenheit über jedes nur mögliche Thema zu unterhalten. Ja denen, die mit ihm zusammenzuleben gewöhnt waren und sich nach seinen Lehren hielten, diente es schon, wenn sie sich in seiner Abwesenheit an ihn erinnerten. Denn ob er scherzte oder ernst sprach, immer war die Unterhaltung mit ihm von Vorteil für die, die daran

2 teilnahmen. Sooft er davon sprach, daß er zu jemand Liebe trage, wurde es augenscheinlich, daß sein Streben sich nicht auf die richtete, die sich durch körperliche Schönheit auszeichneten, sondern auf solche Menschen, deren Seelen dem Guten zugewandt waren. Er erkannte diese edlen Seelen daran, daß sie rasch erfaßten, worauf sie ihre Aufmerksamkeit gerichtet hatten, das Gelernte im Gedächtnis behielten und nach all den Kenntnissen strebten, die zu einer guten Haus- und Staatsverwaltung wie überhaupt zum Umgang mit den Menschen und zur Erledigung ihrer Aufgaben 3 dienlich sind. Solche Männer würden, das war seine Uberzeugung, wenn sie die erforderliche Ausbildung erführen, nicht nur im eigenen Bereich Ordnung zu halten vermögen, sondern auch andere Menschen, ja ganze Staaten glücklich machen können. Er ging nicht in jedem Falle nach dem gleichen System vor, sondern belehrte vielmehr die, welche meinten, von Natur tüchtig zu sein, und daher die Bildung verachteten, daß gerade die anscheinend besten Naturen in besonderem Maße der Erziehung bedürfen. Das bewies er

151

an den schöngewachsenen Pferden, die ihrer Natur nach wild und feurig sind; würden diese von jung auf gezähmt, so erweisen sie sich als im höchsten Grade brauchbar, während man mit ihnen, wenn sie nicht gezügelt werden, nichts anzufangen vermag. Auch von schönen Hunden, die alle lebhaft und scharf sind, eignen sich die, die man abrichtet, vortrefflich zur Jagd und zu sonstigen Zwecken; dagegen bleiben die, die nicht in die Zucht genommen werden, ungeschickt, läppisch und ungehorsam. Genauso ist es auch bei edlen 4 Menschen, die Seelenstärke und Geschick zur Arbeit beweisen, daß sie sich, wenn sie sich ausbilden und die notwendigen Kenntnisse aneignen, bestens entwickeln und Rechtschaffenes leisten. Bleiben sie hingegen ohne Erziehung und Ausbildung, so geraten sie auf die schiefe Bahn. Denn da sie, was recht ist, nicht zu entscheiden imstande sind, verwickeln sie sich in zweifelhafte Geschäfte; ihrer Großmannssucht und Heftigkeit halber werden sie beschwerlich, ja unerträglich, und was sie schaffen, ist böse. Diejenigen, 5 die sich mit ihrem Reichtum großtaten und deshalb meinten, keiner Erziehung mehr zu bedürfen, da sie sich einbildeten, ihr Geld reiche aus, um allen ihren Wünschen Erfüllung zu verschaffen und sich selbst unter ihren Mitmenschen geehrt zu machen, alle die wies Sokrates zurecht. Ein Tor, sagte er, ist, wer meint, Schädlich und Nützlich unterscheiden zu können, ohne es gelernt zu haben; ein Narr, wer keine Kenntnisse besitzt und sich trotzdem in dem Glauben wiegt, weil ihm sein Reichtum alles Wünschbare ermöglicht, werde er auch nach seinem Nutzen handeln können; ein Tölpel, wenn einer meint, obgleich er sein Handeln nicht sinnvoll auszurichten vermag, befinde er sich doch auf dem rechten Wege und falle ihm das Lebensnotwendige zu; ein Dummkopf auch, wer sich bedünkt, auf Grund seines Geldes etwas darzustellen, wennschon er nichts kann, und auf Ansehen rechnet, trotzdem er augenscheinlich nichts geleistet. 152

ZWEITES K A P I T E L

Erkenne 1

dich

selbst!

Wie Sokrates Leuten entgegentrat, die da glaubten, eine vorzügliche Ausbildung genossen zu haben, und sich mit ihrer Weisheit großtaten, davon will ich jetzt erzählen. So erfuhr er zum Beispiel von Euthydem dem Schönen, der mit Fleiß die Lehren der Dichter und Denker gesammelt hatte und daraus den Schluß zog, daß er seine Altersgenossen an Wissen bereits weit übertreffen müsse, und sich großen Hoffnungen hingab, daß er kraft seiner Rednergabe und seiner praktischen Fähigkeiten allen andern voraus sein werde. Nun bemerkte Sokrates, daß sich dieser Euthydem seiner Jugend halber noch nicht aufs Forum wagte, sondern sich, wenn er seiner Meinung Geltung verschaffen wollte, in einer Sattlerwerkstatt nahe beim Markte niederließ; dahin machte er sich selber auch auf und nahm noch einige

2 Freunde mit. Als zu Beginn der Unterhaltung jemand die Frage stellte, ob Themistokles seine geistige Überlegenheit durch gelehrten Unterricht oder durch natürliche Veranlagung gewonnen habe, infolgederen sich die Mitbürger an ihn wandten, wenn sie eines tüchtigen Mannes bedurften, machte Sokrates, um Euthydem zu treffen, den Einwurf, es sei schlechthin unverständlich, wenn man annehmen wolle, daß sich in einfachen Tätigkeiten ohne geeignete Lehrkräfte Vollkommenheit nicht erreichen ließe, während zur Staatsleitung, die doch den höchsten unter allen Berufen ausmacht, 3 Menschen von selbst geeignet würden. Bei einer andern Gelegenheit beobachtete Sokrates, wie Euthydem den Versammlungsort verließ, um nicht den Anschein zu erwecken, 1) Vgl. S. 29 Anm. 1.

153

als bewundere er den Philosophen ob seiner Weisheit; bemerkte dieser so, daß jener es hören mußte: „Daß unser Freund Euthydem, wenn er das erforderliche Alter besitzen wird, sich keine Zurückhaltung auferlegen dürfte, wenn in der Volksversammlung ein Thema zur Diskussion gestellt wird, halte ich nach seinem jetzigen Auftreten für sicher, übrigens kommt es mir so vor, als habe er sich dadurch, daß er es vermeidet, von irgendeiner Seite Belehrung anzunehmen, schon einen prachtvollen Redeanfang präpariert. Denn es ist wohl selbstverständlich, daß er seine Reden wie folgt beginnen wird: ,Niemand, ihr Athener, ist je mein 4 Lehrer gewesen, nie habe ich mich bemüht, wenn ich Menschen ihrer Fähigkeiten wegen rühmen hörte, mit diesen zusammenzukommen, nie lag mir etwas daran, daß ein verständiger Mann mich unterrichtete, sondern im Gegenteil! Ich ging nicht nur jeder Gelegenheit aus dem Wege, wo ich etwas hätte lernen können, sondern vermied schon jeden Anschein in dieser Richtung. Trotzdem jedoch will ich euch mit dem zu Rate stehen, was mir von ungefähr zuflog.' Das 6 bedeutet, daß er, wollte er sich um eine Stellung als Arzt bewerben, seine Rede folgendermaßen anfangen müßte: ,Niemals, ihr Athener, habe ich mich mit der Heilkunde befaßt, noch nie einen Arzt darum gebeten, mein Lehrer zu werden; vielmehr bin ich mein Leben lang auf der Hut davor gewesen, von Ärzten das Geringste zu erlernen, ja, auch nur den bloßen Anschein zu erwecken, als verstünde ich etwas von ihrer Kamst. Dessen ungeachtet übertragt mir eine Stellung als Arzt! Ich will es schon mit euch versuchen, ob ich nicht doch noch etwas lerne.'" Alle Anwesenden brachen über solch eine Rede in Gelächter aus. Als es später deutlich wurde, daß Euthydem zwar bereits e auf Sokrates' Worte hörte, es jedoch noch vermied, irgend etwas zur Unterhaltung beizutragen, da er annahm, durch sein Schweigen den Eindruck geistiger Überlegenheit hervor-

154

zurufen,. wandte sich Sokrates an ihn, um ihn aus seinem Schweigen zu reißen: „Es ist doch merkwürdig: Wenn einer beim Zither- oder Flötenspiel, im Reiten oder sonst einer Kunst etwas erreichen will, dann legt er Wert darauf, diese Tätigkeit möglichst ohne Unterbrechung auszuüben, und zwar nicht für sich allein, sondern unter den Augen der Meister seines Fachs, ja er setzt alles darein und bringt manches Opfer, um nichts ohne deren Begutachtung zu tun, weil es für ihn keinen andern Weg gibt, um selber berühmt zu werden; dagegen sind unter denen, die auf dem politischen Forum und in der Verwaltung eine Rolle spielen möchten, einige der Meinung, dazu seien sie ohne besondere Ausbil7 dung und Übung ganz von selbst imstande. Und trotzdem erscheinen mir die letztgenannten Aufgaben um so viel schwieriger vor andern Berufen, wie die Zahl derer, die auf diesem Gebiete erfolgreich tätig sind, ungeachtet der zahlreichen Bewerber geringer ist im Vergleich zu all den vielen andern. Entsprechend benötigen die, welche hierbei ihre Ehre suchen, 8 fleißigerer und intensiverer Vorarbeit als jene andern!" So begann Sokrates, wobei Euthydem ihm zuhörte, und als er feststellte, daß dieser schon geduldiger ausharrte, wenn er sich mit ihm unterhielt, und williger sein Ohr lieh, trat er allein hinein in die Sattlerwerkstatt. Euthydem setzte sich zu ihm. Fragte ihn Sokrates: „Sag mir, lieber Euthydemos, ist es wahr, was ich höre, daß du zahlreiche Schriften der sogenannten Philosophen gesammelt hast!" — „Ja, Sokrates, ich 9 saimmle auch noch, soviel iah nur erwerben kann." — „Dann, bei Hera, bewundere ich dich, daß du nicht lieber Reichtümer an Gold und Silber statt der Weisheit besitzen wolltest. Denn offensichtlich ist es doch deine Uberzeugung, daß Geld und Gut die Menschen nicht bessert, während einen inneren Reichtum 'besitzt, wer sich die Lehren der Weisen zu eigen gemacht hat." Euthydem freute sich über diese Worte, glaubte er doch, Sokrates halte seinen Weg zur Erkenntnis 155

für den richtigen. Als der aber merkte, daß sich der junge Mann über das Lob freute, fragte er ihn: „Auf welchem Gebiete möchtest du tüchtig werden, wenn du deine Bücher sammelst?" Euthydem überlegte lange, was er darauf antworten sollte; Sokrates fuhr darum fort: „Etwa als Arzt, da es ja so viele medizinische Schriften gibt?" — „Bei Zeus, wirklich nicht." — „Oder willst du vielleicht Baumeister werden? Denn auch dieser Beruf fordert einen Mann von Bildung." — „Nein." — „Feldmesser so wie Theodoras 1) möchtest du doch nicht werden?" — „Auch Feldmesser will ich nicht werden." — „Oder gar Astronom?" — Wieder ein „Nein". — „Dann vielleicht Rhapsode. Die behaupten nämlich, daß sie sich die gesamten Homerischen Epen zu eigen gemacht hätten." — „Auch Rhapsode zu werden liegt mir nicht, zumal mir bekannt ist, daß diesen Männern zwar der Wortlaut der Epen wohl vertraut, sie selbst aber rechte Dummköpfe sind." — Sokrates wieder: „Strebst du dann vielleicht nach jener Geisteshaltung, die Menschen zu Politikern, Haushältern, Regenten, kurz, zu nützlichen Gliedern der Gesellschaft macht?" — „Ja", erwiderte Euthydem, „solcher Bildung bedarf ich." — „Bei Zeus", antwortete ihm Sokrates, „dann strebst du nach der schönsten Tugend und größten Kunst; denn Könige üben sie, und sie wird darum eine königliche genannt. Doch hast du dir schon einmal bedacht, ob jemand, der nicht gerecht ist, sich trotzdem darauf verstehen kann?" — „Natürlich habe ich mir die Frage vorgelegt, und das ist meine Antwort: Ohne Gerechtigkeit kann man kein guter Staatsbürger sein." — „Und hast du dich selbst darum bemüht?" — „Ja, Sokrates, ich halte mich für berechtigt anzunehmen, daß man mich für nicht minder gerecht ansieht als jeden andern auch." — „Steht es nun mit den Werken der Gerechtigkeit genauso wie mit den Werken der Baukunst?" — „Jawohl." — „Demnach könnten die 1) Vielleicht der in Piatons Theaitet begegnende Mathematiker aus Kyrene.

156

Gerechten ihre Taten genauso darlegen, wie Baumeister auf ihre Werke hinzuweisen vermögen?" — „Zweifelst du daran, daß ich auf die Werke der Gerechtigkeit hinweisen könnte? Und, bei Zeus, auch auf die der Ungerechtigkeit. Denn davon kann man jeden Tag mehr als genug zu sehen u n d zu hören 13 bekommen." — „So wollen wir hierhin", wandte sich Sokrates an ihn, „ein G schreiben u n d dorthin ein U! Handlungen, die du als Ausfluß gerechter Gesinnung ansiehst, schreiben wir unter das G, solche, die von ungerechter Einstellung zeugen, unter das U!" — „Wenn das noch erforderM lieh ist, so bitte ich darum." — Also schrieb Sokrates u n d sagte: „Kommt es vor, daß Menschen lügen?" — „Natürlich." — „Und wohin setzen wir die Lüge?" — „Selbstverständlich unter die Ungerechtigkeit." — „Wie verhält es sich mit dem Betrügen?" — „Auch das kommt vor." — „Wohin gehört es?" — „Auch der Betrug rechnet unter das Unrecht." — „Was gilt von Mißhandlungen?" — „Das Gleiche." — „Von Freiheitsberaubung?" — „Nichts anderes." — „Unter die Gerechtigkeit gehört keine dieser Handlungen, lieber 15 Euthydem?" — „Das wäre eine Zumutung!" — „Was aber, wenn einer, der zum Feldherrn gewählt wurde, einem Feindstaate, der sich im Unrecht befindet, seine Freiheit nimmt? Wollen wir behaupten, daß dieser Mann Unrecht täte?" — „Nein, niemals." — „Müssen wir nicht vielmehr feststellen, daß er sich im Recht befindet?" — „Ganz gewiß." — „Und wenn er mit Kriegslist betrügt?" — „Auch dann ist er im Recht." — „Gesetzt, er raubt u n d plündert das Eigentum seiner Feinde, verhält er sich nicht auch dann dem Rechte gemäß?" — „Ohne Zweifel; nur n a h m ich anfangs an, deine Frage bezöge sich lediglich auf das Verhältnis zu Freunden." — „Demnach müßten wir alles, was wir als Ungerechtigkeit verbuchten, auch unter Gerechtigkeit ansetzen?" — 16 „Dem Anschein zufolge." — „Bist du einverstanden, wenn wir diesen Sachverhalt dahingehend definieren, daß die an-

157

geführten Handlungsweisen

gegen

Feinde

berechtigt,

an

F r e u n d e n dagegen u n r e c h t sind, ja es v i e l m e h r erforderlich ist, sich d e n e n g e g e n ü b e r so o f f e n w i e n u r m ö g l i c h z u v e r h a l t e n ? " — „ I c h b i n e s . " — „ W i e ist n u n d e r B e t r u g z u 17 werten, den ein General begeht, der sein H e e r in Mutlosigkeit vorfindet u n d

es d u r c h

die unrichtige

B u n d e s g e n o s s e n seien i m A n m a r s c h ,

Behauptung,

aus seiner

Lethargie

h e r a u s r e i ß t ? " — „ I c h h a l t e d i e s e H a n d l u n g s w e i s e f ü r gerecht." — „ N o c h ein Beispiel! J e m a n d e s S o h n b r a u c h t eine A r z n e i , will s i e a b e r n i c h t e i n n e h m e n . ; d r a u f g i b t sie i h m d e r V a t e r als S p e i s e u n d e r r e i c h t es d u r c h d i e s e T ä u s c h u n g , d a ß s e i n S o h n g e s u n d e t . W i e soll m a n d i e s e n B e t r u g

an-

s e h e n ? " — „ N a c h m e i n e m D a f ü r h a l t e n liegen h i e r d i e D i n g e ebenso wie v o r h i n . " — „Weiter! J e m a n d fürchtet f ü r einen s c h w e r m ü t i g e n F r e u n d , er k ö n n t e sich d a s L e b e n n e h m e n , u n d n i m m t i h m d a h e r sein S c h w e r t o d e r w a s e r s o n s t h a t , w e g ; w a s m e i n s t d u d a z u ? " — „ A u c h sein H a n d e l n

zählt

u n t e r d i e G e r e c h t i g k e i t . " — „ A l s o b e h a u p t e s t d u , m a n d ü r f e 18 auch

Freunden

gegenüber

nicht

immer

ganz

aufrichtig

sein." — „ J a freilich, ich m u ß e b e n nötigenfalls m e i n e TheSe a b ä n d e r n . " — „ D a s ist b e s s e r , als U n r i c h t i g e s z u b e h a u p t e n , ü b r i g e n s , u m k e i n e n F a l l a u ß e r a c h t z u l a s s e n , w e r b e g e h t , id w e n n der F r e u n d d u r c h d e n B e t r ü g S c h a d e n leidet, größeres Unrecht, derjenige, der wider seinen Willen, oder derjenige, d e r m i t s e i n e m W i l l e n so h a n d e l t ? " — „ A c h , l i e b e r S o k r a t e s , ich t r a u e m e i n e n A n t w o r t e n n i c h t m e h r . B e i d e n v o r h i n a n g e f ü h r t e n Fällen erscheint m i r jetzt alles in e i n e m a n d e r e n L i c h t e , als i c h es e r s t s a h . U n d t r o t z d e m m ö c h t e ich b e h a u p t e n , d a ß d e r j e n i g e g r ö ß e r e s U n r e c h t auf sich l ä d t , d e r a b s i c h t l i c h b e t r ü g t , als j e n e r , d e r o h n e s e i n e n s c h l u ß so h a n d e l t . "

— „Glaubst du

an

ein

WillensentLernen

u n d 20

Wissen der T u g e n d in derselben Weise wie bei der G r a m m a t i k ? " — „ J a . " — „ W e n h ä l t s t d u f ü r g r a m m a t i s c h b e s s e r geschult, d e n , d e r m i t W i l l e n f a l s c h s c h r e i b t u n d liest, o d e r

158

den, der es unabsichtlich tut?" — „Den, der vorsätzlich so handelt; denn wenn er wollte, könnte er es richtig machen." — „Folglich ist jemand, der vorsätzlich falsch schreibt, grammatisch gebildet, nicht dagegen der, dem versehentlich ein Fehler unterläuft." — „Logischerweise." — „Wer weiß also, was recht ist, der, der vorsätzlich lügt und betrügt, oder jener, der es ohne Absicht tut?" — „Natürlich der erste." — „Wer in der Grammatik Bescheid weiß, besitzt auf diesem Gebiete ein größeres Wissen als der, der sie nicht kennt?" — „ J a . " — „Gerechter ist folglich, wer das Recht weiß, als der, der es nicht kennt?" — „Ich denke wohl, aber ich getraue mir nicht 21 recht, es zu behaupten." — „Was hältst du nun von einem Menschen, der die Wahrheit zu reden gewillt ist und doch über die gleichen Dinge keineswegs zu jeder Zeit die gleichen Aussagen macht, sondern von einem Weg einmal behauptet, er führe nach Osten, und ein andermal, er gehe nach Westen, oder der das Ergebnis einer Rechnung bald als größer und bald als geringer angibt?" — „Bei Zeus, wer so redet, zeigt, daß 22 er nicht kennt, was er zu kennen glaubt." — „Sind dir Menschen bekannt, die man als Sklavenseelen bezeichnet?" — „ J a . " — „Geschieht dies ihrer Kenntnisse oder ihrer Unwissenheit wegen?" — „Natürlich ihrer Unkenntnis wegen." — „Etwa wegen ihrer Unkenntnis auf dem Gebiete des Schmiedehandwerks?" — „Keineswegs." — „Oder des Bauhandwerks?" — „Auch deshalb nicht." — „Oder der Schusterei wegen?" — „Nein, ganz im Gegenteil; die meisten Angehörigen dieser Berufe sind nämlich gerade solche Knechtsseelen." — „Also trifft diese Bezeichnung die, welche nicht wissen, was schön 23 und gut und recht ist?" — „Das ist meine Meinung." — „Wir müssen uns demnach mit aller Kraft davor hüten, um nicht so niedriger Gesinnung anheim zu fallen." — „Ach, bester Sokrates, bei allen Göttern, ich habe allen Fleiß darauf gewandt, Philosophie zu studieren, weil ich des Glaubens war, dadurch würde ich in allem ausgebildet, was ein Mann 159

braucht, der nach Höherem strebt! Jetzt nun muß ich erkennen, daß ich mit dem, was ich bisher gelernt, nicht einmal imstande bin, darauf Antwort zu geben, was zu wissen lebensnotwendig ist, und es gibt keinen andern Weg, der mich weiterführte! Kannst du dir vorstellen, wie mutlos ich bin?" — Sokrates: „Sag mir, lieber Euthydemos, bist du schon einmal in Delphi gewesen?" — „Zweimal sogar." — „Hast du da die Inschrift am Tempel gelesen: ,Erkenne dich selbst!'?" — „Ja." — „Hast du dieses Wort unbeachtet gelassen, oder hast du es dir gemerkt und dich bemüht, dein eigenes Wesen zu ergründen?" — „Bei Zeus, nein; war ich doch der Meinung, darüber Bescheid zu wissen. Schwerlich hätte ich nämlich ein Wissen von andern Dingen haben können, wenn ich zuvor mich nicht selbst gekannt hätte." — „Was ist deine Ansicht: Wer kennt sich selber besser: der, der nur seinen Namen weiß, oder der, der es macht wie die Käufer von Pferden? Die behaupten nämlich, daß sie ein zur Wahl stehendes Pferd erst dann kennen, wenn sie untersucht haben, ob es gehorsam oder ungehorsam, schnell oder langsam, ja überhaupt in allem, was man von einem Pferde erwartet, brauchbar oder unbrauchbar ist. Genauso erkennt erst der seine Stärke, der sich der Prüfung unterworfen, inwieweit er den an Menschen herantretenden Aufgaben gerecht wird." — „Das leuchtet auch mir ein, daß der, der seine Stärke nicht kennt, sich selber nicht kennt." — „Das weitere aber ist dir nicht deutlich, daß Selbsterkenntnis größte Vorteile und Selbsttäuschung schlimmste Nachteile mit sich bringt? Die sich selber kennen, wissen, was ihnen frommt, und vermögen zu unterscheiden, was in ihrer Macht liegt und was nicht. Indem sie das tun, worauf sie sich verstehen, verdienen sie sich ihren Unterhalt und ernten Erfolge; dadurch, daß sie Aufgaben, denen sie nicht gewachsen sind, meiden, begehen sie keine Fehler und haben keine Mißerfolge. Ihr Wissen ermöglicht es ihnen, auch andere richtig einzu160

schätzen, und im Umgänge mit Menschen heimsen sie das Gute ein und gehen dem Nachteiligen aus dem Wege. Denjenigen dagegen, die ihre Möglichkeiten nicht kennen, sondern sich darin Täuschungen hingeben, geht es hinsichtlich anderer Menschen und fremder Handlungen nicht besser. Sie wissen nicht, was sie tun, noch mit wem sie umgehen, sondern täuschen sich in allen diesen Fragen; jeder Vorteil entgeht ihnen, u n d sie stürzen ins Unglück. Hingegen haben die, welche bewußt handeln, Erfolg in ihren Bestrebungen u n d kommen zu R u h m und Ansehen; Gleichgesinnte pflegen Umgang mit ihnen, u n d wer mit seinen Angelegenheiten Unglück gehabt hat, legt Wert darauf, d a ß solche Menschen ihn beraten u n d f ü r ihn handeln, er setzt auf sie alle Erfolgshoflnungen und zollt daher niemandem sonst größere Verehrung. Dagegen treffen die, deren Handeln nicht auf bewußter Überlegung basiert, meist die falsche Wahl; was sie anfangen, mißlingt, u n d nicht nur, daß die Strafe ihnen auf dem Fuße folgt! Nein, die Schande hängt ihnen deswegen an, sie werden zum Gespött, fristen verachtet u n d ohne An-, sehen ihr Dasein. Auch in der Politik siehst du ja, daß Staaten, die ihre Kraft falsch einschätzen u n d sich mit mächtigeren Gegnern einlassen, entweder der Zerstörung oder der Versklavung anheimfallen." — Euthydemos: „So vernimm denn, Sokrates, mir will es scheinen, man müsse die Selbsterkenntnis besonders hoch achten! Wo aber soll ich anfangen, um mich selber zu prüfen? Ich schaue bewundernd auf zu dir; willst d u es mir sagen?" — „Nun", meinte Sokrates, „was gut und böse ist, das weißt du ja." — „Aber freilich; wüßte ich das nicht, so müßte ich ja noch hinter den Sklaven zurückstehen." — „Dann wirst du es mir wohl auch erklären können." — „Das ist nicht so schwer. Erstens halte ich Gesundheit für etwas Gutes und Krankheit für etwas Schlechtes, von dem sodann, was beides hervorruft, von Nahrung u n d Lebensführung, nenne ich das gut, was zur Gesundheit führt, 11 Irrascher, Sokrates

161

und das schlecht, was Krankheit verursacht." — „Gesundheit 32 und Krankheit sollen also, wenn sie Gutes stiften, nicht als gut, und wenn sie Böses hervorrufen, nicht als schlecht angesprochen werden?" — „Wann hätte sich je Gesundheit als etwas Nachteiliges und Krankheit als Vorteil erwiesen?" — „Wenn zum Beispiel bei einem verfehlten Feldzug oder einer mißglückten Flottenexpedition und andern Unternehmungen dieser Art diejenigen, die kraft ihres Gesundheitszustandes daran teilnähmen, den Tod fanden, und die, die krankheitshalber zurückblieben, gerettet wurden." — „Da hast du recht. Aber du mußt doch einsehen, daß an vielen nützlichen Dingen manche ihrer Robustheit wegen teilhaben können, während andere infolge ihrer Schwächlichkeit ausscheiden müssen." — „Sind nun solche Gegebenheiten, die bald Nutzen bringen und bald Schaden stiften, eher als gut oder als schlecht anzusprechen?" — „Nach unserer Erörterung weder 33 als das eine noch als das andere. Doch ist die Weisheit unzweifelhaft ein Gut; denn was gäbe es, worin der Weise den Ungebildeten nicht überträfe?" — „Wirklich? Hast du noch nicht von Dädalos J ) gehört, der auf Grund seines Könnens von Minos festgesetzt und in seine Dienste gezwungen wurde und so Vaterland und Freiheit zugleich preisgeben mußte, der beim Versuche, mit seinem Sohn zu entfliehen, das Kind verlor und sich selber nicht in Sicherheit bringen konnte, sondern zu wilden Völkern verschlagen wurde, denen er wieder zu Willen sein mußte?" — „Ja freilich, bei Zeus, so erzählt man es sich." — „Auch des Palamedes' 2) Unglück ist dir unbekannt? Es wissen ja alle von ihm zu berichten, daß 1) Dädalos erbaute dem Kreterkönig Minos das Labyrinth; da er von Minos an der Rückkehr in die Heimat gehindert wurde, fertigte er, u m ihm zu entkommen, f ü r sich u n d seinen Sohn Ikaros Flügel. Beim Fluge über das Meer stürzte Ikaros ab. 2) Palamedes, der Sohn des Königs von Euböa, wurde durch eine Fälschung des Odysseus des Hochverrats verdächtigt und im Lager von Troja gesteinigt.

162

Gdysseus ihn beneidete und seinen Untergang herbeiführte.'' — „Auch davon erzählt die Sage." — „Und wie viele, glaubst du, sind ob ihrer Weisheit vor den Großkönig geschleppt worden und mußten ihm dienen?" — „So ist wohl, lieber Sokrates, das Glück das am wenigsten angefochtene Gut." — „Sofern es nicht jemand, lieber Euthydem, aus zweifelhaften Gütern aufbaut." — „Was könnte es denn an der Glückseligkeit Ungewisses geben?" — „Nichts eigentlich, sofern wir -nicht mit ihr Werte nach Art der Schönheit, der Kraft, des Reichtums oder des Ruhmes verbinden." — „Aber sie gehören doch notwendigerweise dazu; wie könnte jemand ohne diese Güter glücklich sein?" — „Nun gut, so wollen wir diese Quellen so mannigfachen menschlichen Leides dazugehören lassen! Wie mancher ist wegen seines guten Aussehens durch solche Menschen, denen Schönheit den Kopf verdreht, zugrunde gegangen! Gar manche haben sich ob ihrer Kraft mit übermächtigen Gewalten eingelassen und kamen dadurch unter nicht geringen Schmerzen zu Fall! Viele wurden ihres Reichtums wegen umschmeichelt und umgarnt und fanden auf diese Weise ihr Ende. Nicht wenige mußten wegen ihres Ruhmes und ihres politischen Einflusses viel leiden." — „Ja wahrhaftig, wenn ich auch mit dem Lobe des Glücks nicht recht rede, dann muß ich bekennen, daß ich nicht weiß, was man von den Göttern erbitten sollte." — „Das hast du vielleicht deshalb, weil du dich in deinem Wissen gar zu sicher fühltest, zu wenig bedacht. Da du dich aber anschickst, eine führende Stellung in einem demokratischen Staatswesen einzunehmen, so ist es klar, daß du über das Wesen der Demokratie Bescheid weißt." — „Aber natürlich." — „Erscheint es dir als möglich, daß jemand über das Wesen der Volksherrschaft Bescheid weiß, ohne daß er doch über den Begriff des Volkes etwas aussagen könnte?" — „Nein." — „Und was meinst du, daß das Volk sei?" — „Die Armen unter den Bürgern." — „Uber die Armen weißt du Bescheid" — „Wie sollte u*

163

ich nicht?" — „So kannst du auch etwas über die Reichen sagen?" — „Nicht weniger als über die Armen." — „Wen bezeichnest du als reich und wen als arm?" — „Wer nicht das Lebensnotwendige besitzt, den nenne ich arm, den, dessen Besitz darüber hinausgeht, reich." — „Hast du schon einmal die Beobachtung gemacht, daß manchen, die nur wenig besitzen, dies wenige nicht nur ausreicht, sondern sie dävon sogar noch erübrigen, während andere an einem beträchtlichen Vermögen noch nicht genug haben?" — „Bei Zeus", antwortete Euthydem, „da hast du mich im rechten Augenblick erinnert; ich weiß nämlich von Gewaltmenschen, die nicht anders als die Ärmsten der Armen der Mangel dazu zwang, Unrecht zu begehen." — Sokrates: „Wenn das stimmt, müssen wir die Tyrannen unter das Volk rechnen und die, die nur wenig besitzen, aber recht damit umzugehen verstehen, unter die Reichen." — „Meine geringe Urteilskraft zwingt mich dazu, die Schlüssigkeit auch dieses Beweises einzugestehen. Ich weiß nicht, vielleicht ist es das Beste, ich sage gar nichts mehr; ich bin doch nur in Gefahr, binnen kurzem mit meiner Weisheit am Ende zu sein." Sich selber verachtend und von seinem Banausentum überzeugt, ging Euthydemos verzagt davon. Viele von denen, die Sokrates derart zurechtgewiesen hatte, kamen nicht mehr zu ihm zurück, und der Philosoph geißelte ihre Beschränktheit entsprechend; Euthydem dagegen glaubte, daß er nur durch Sokrates' Gesellschaft ein tüchtiger Mann werden könnte, und trennte sich von ihm nur noch in Notfällen. Manchmal ahmte er sogar den Meister in seinem Verhalten nach; doch der erschreckte ihn, wenn er das merkte, nicht, sondern legte ihm ganz offen und klar dar, was er zu wissen und zu tun für notwendig hielt.

164

DRITTE S KAPITEL

Von der Fürsorge der Götter Damit, daß seine Freunde redegewandt, praktisch und erfinderisch wurden, hatte es Sokrates nicht weiter eilig; er vertrat vielmehr den Standpunkt, daß sie in erster Linie zu charakterlicher Ausgeglichenheit kommen müßten. Nach seiner Meinung neigten nämlich die, welche ohne eine solche Entwicklung ins praktische Leben gingen, gar zu leicht zu Ungerechtigkeit und Zügellosigkeit. Zuerst bemühte sich Sokrates, eine derartige Gesinnung in religiöser Hinsicht zu erwecken. Andere berichten von ähnlichen Gesprächen der Art, deren Zeugen sie waren; ich war dabei, als Sokrates mit Eutihydem etwa folgende Unterhaltung führte: „Sag imir, lieber Euthydemos, bist du schon einmal darauf gekommen, dir zu überlegen, wie sorgsam die Götter alles zubereitet haben, dessen die Menschen bedürfen?" — „Nein, bisher noch nicht." — „Aber dir ist doch bekannt, daß wir vor allem das Licht brauchen, das uns die Götter darbieten?" — „ J a ; denn hätten wir das nicht, so ginge es uns trotz unserer Augen nicht besser als den Blinden." — „Und da wir der Erholung bedürfen, schenken sie uns die Nacht als beste Möglichkeit dazu." — „Auch das ist unseres Dankes wert." — „Weiter! Während die Sonne durch ihre Leuchtkraft zu den Tagesstunden alles erhellt, sieht man bei Nacht wegen der Dunkelheit weniger deutlich. Doch haben uns nicht die Götter f ü r diese Zeit die Sterne aufleuchten lassen, die uns während der Nachtstunden Licht spenden, so daß wir noch vieles, was für uns notwendig ist, erledigen können?". — „Das ist richtig." — „Sodann zeigt uns der Mond nicht nur die Teile der Nacht, sondern auch die des Monats an." — „Jawohl." — 165

„Denkst du auch daran, daß die Götter die Nahrung, derer wir bedürfen, uns aus der Erde hervorsprießen lassen u n d d a f ü r bestimmte Zeiten festlegen, während deren wir nicht nur nach unsern Bedürfnissen reichlich ernten, sondern uns zugleich an der Natur erfreuen dürfen?" — „Auch das ist ein Beweis ihrer Menschenfreundlichkeit." — „Sie schenken 6 uns ferner das Wasser, das für uns von so großer Wichtigkeit ist, weil es uns zur rechten Stunde aus der Erde alles, was uns nützlich ist, empor- und heranwachsen läßt, das uns selber nährt und, unter unsere sonstigen Nahrungsmittel gemengt, diese verdaulicher, nahr- und schmackhafter macht. Da wir aber das Wasser in großer Menge benötigen, bieten es uns die Götter auf das freimütigste dar." — „Das zeugt auch von ihrer Fürsorge." — „Denk schließlich an 7 das Feuer, das sie uns geben! Es hilft uns gegen Kälte u n d Dunkelheit, u n d wir brauchen es zu jedem Handwerk, ja für alles, was die Menschen sich zum Nutzen produzieren. Es gibt doch unter den lebensnotwendigen Gütern schlechthin nichts, was m a n ohne Feuer herstellte." — „Damit überbietet sich ihre Menschenfreundlichkeit." — „Wenn sich die 8 Sonne i m Winter gewendet, kommt sie uns wieder näher, bringt zur Reife und zur Dörre, wie die Zeit es erfordert; doch nachdem das geschehen, wendet sie sich ab u n d verläßt uns aufs neue, u m zu verhindern, d a ß sie uns durch übergroße Hitze schadet. H a t sie sich freilich dann so weit entfernt, daß wir bei einer weiteren Fortsetzung ihrer Bahn augenscheinlich vor Kälte würden erstarren müssen, da neigt sie sich uns wieder zu, kommt heran und dreht wieder an der Stelle des Himmels, wo sie uns am meisten Nutzen bringt." — „Bei Zeus, all das scheint m i r wie auf die Bedürfnisse des Menschen abgestellt." — „Da es ferner nicht 9 unbekannt ist, daß wir weder Hitze noch Kälte, wenn sie plötzlich einträten, würden aushalten können, so kommt die Sonne allmählich heran u n d entfernt sich ebenso all-

166

mählich wieder, daß wir, ohne es zu merken, erst in das eine und dann in das andere Extrem versetzt werden." — „Ich habe mir auch schon lange die Frage vorgelegt", warf Euthydem ein, „ob die Götter noch ein anderes Ziel verfolgen als das, die Menschen zu fördern; nur stört mich dabei das eine, daß auch die andern Lebewesen an allen diesen Gütern teilhaben." — „Erkennst du nicht", erwiderte ihm Sokrates darauf, „daß auch sie nur der Menschen wegen da sind und aufgezogen werden? Denn welches Wesen sonst hat von Ziegen, Schafen, Pferden, Rindern, Eseln und andern Tieren solchen Nutzen wie der Mensch? Ich glaube, sogar noch mehr als von den Pflanzen. Zwar genießt man pflanzliche Speisen nicht anders als tierische Kost. Doch verwenden viele Leute die Produkte des Bodens überhaupt nicht als Nahrung, sondern leben von der Milch, dem Käse und dem Fleisch ihrer Herden. Alle aber zähmen sich die geeigneten Tiere für den Krieg und andere Zwecke und bedienen sich ihrer Hilfe." — „Auch darin stimme ich zu, zumal ich es ja beobachte, wie Tiere, die viel stärker sind als wir, dem Menschen zur Hand gehen, daß er sie nach seinem Willen verwenden kann." — „Noch nicht genug damit! Weil es so viel schöne und nützliche und doch voneinander unterschiedene Dinge gibt, haben die Götter den Menschen die entsprechenden Sinnesorgane verliehen, vermittels deren wir alles Gute in uns aufnehmen. Sie haben uns die Gabe der Vernunft eingepflanzt, so daß wir über unsere Eindrücke nachdenken, aus der Erfahrung zu unserm Nutzen lernen und dafür Vorsorge treffen können, daß wir das Gute genießen und das Schlechte von uns fernhalten. Sie haben uns die Fähigkeit der Sprache verliehen, mit deren Hilfe wir auf dem Wege der Lehre einander an allen hohen Werten teilnehmen lassen, Gesetze festlegen und unsere gemeinsamen Angelegenheiten besorgen können." — „In jeder Hinsicht bemühen sich, so will mir scheinen, die Götter um uns 167

Menschen." — „Auch dann, wenn es uns nicht möglich ist, auf das uns für die Zukunft Nützliche zu kommen, stehen sie uns hilfreich bei, indem sie uns, wenn wir sie darum befragen, vermittels derMantik unser Schicksal vorhersagen und uns belehren, wie wir immer es am besten meistern." — „Und mit dir, Sokrates, scheint mir, halten sie noch engere Freundschaft als mit den andern, wenn sie dir sogar, ohne daß du sie darum befragst, sagen, was du tun und was du lassen sollst." — „Daß ich die Wahrheit spreche, das kannst du selber erfahren, wenn du nicht darauf wartest, die Götter leibhaftig zu sehen, sondern dich damit begnügst, ihr Wirken zu erkennen und sie innig zu verehren. Denke daran, daß die Götter selbst es so wollen! Schon die andern Gottheiten, die uns Gutes verleihen, treten nicht in Erscheinung, wenn sie das tun; der Gott aber, der alles erbaut und alles erfaßt, in dem alles Gute und alle Schönheit beschlossen liegt, der Dauer, Gesundheit und Jugend gewährt, dieser Gott ist wohl zu schauen, wenn er das alles schafft, bleibt uns aber unsichtbar, währenddes er darüber waltet. Auch das bedenk, daß die allen sichtbare Sonne es den Menschen nicht gestattet, genau nach ihr hinzuschaun, sondern vielmehr dem, der sie frech anzublicken wagt, das Augenlicht nimmt! Sogar die Diener der Götter sind unsichtbar, wie d u wirst feststellen können. Daß der Blitz vom Himmel herabkommt, weiß ein jeder, und daß er dort, wo er hintrifft, alles in seinen Bann zieht, nicht minder; dagegen bleibt er unsichtbar, wenn er herankommt u n d einschlägt und wenn er wieder davonfährt. Auch die Winde sind selbst nicht zu sehen, nur ihre Wirkung ist deutlich, und wir spüren sie, wenn sie wehen. Schließlich die Menschenseele, die wie sonst nichts am Menschen an Göttlichem teilhat, wird offenbar, wenn sie unser Herr ist, und doch ist auch sie nicht zu sehen. Es gilt daher, auf das Unsichtbare zu achten, aus den Wirkungen die Ursachen zu erschließen und darin die Gott-

168

15 heit zu verehren." — „Dessen bin ich gewiß, Sokrates", erwiderte Euthydem, „daß ich auch nicht die geringste Spur göttlichen Wirkens unbeachtet lassen werde; dagegen mache ich mir Sorgen, weil ich den Eindruck habe, d a ß überhaupt niemand die göttlichen Wohltaten durch gebührenden 16 Dank zu entgelten vermag." — „Deswegen, lieber Euthydem, magst du beruhigt sein. Denn du weißt ja wohl, daß der delphische G o t t 1 ) auf die Frage, wie m a n die Gnade des Himmels erlangen könne, die Antwort gab: ,Nach dem Gesetze des Staates'. Dies Gesetz fordert aber überall auf, die Götter nach besten Kräften durch Opfer zu befriedigen. Welchen besseren u n d frömmeren Weg, die Götter zu ehren, könnte es also geben als den, den sie uns selber gebieten? Jedoch kommt es darauf an, in seiner Opferfreudigkeit nicht 17 nachzulassen; wer dies tut, verehrt zu diesem Zeitpunkt ohne Zweifel die Götter nicht. Wir sollen daher nicht nachlassen, unsere Gottesfurcht zu beweisen, den Göttern zu vertrauen und das Beste von ihnen zu erhoffen. Es wäre ja widersinnig, von andern Mächten mehr zu erwarten als von denen, die a m meisten zu tun imstande sind, und die Berechtigung solcher Hoffnung ist a m größten, je mehr sich einer diesen Mächten gefällig erweist. Worin sonst aber sollte das bestehen als darin, daß er ihnen ganz besonders gehorcht?" 18

So sprach u n d handelte Sokrates. E r hat dadurch die Frömmigkeit und Lebensführung seiner Zuhörer günstig beeinflußt. 1) Bezeichnung des Apollon, dessen Hauptheiligtum in Delphi lag.

169

VIERTES KAPITEL

über Ebensowenig

hielt

die

Gerechtigkeit

Sokrates

mit

seiner

Stellungnahme i

zur Gerechtigkeit zurück, sondern brachte sie durch Taten z u m Ausdruck, indem er im Privatleben einem jeden fair und rechtlich gegenübertrat und der Obrigkeit im Frieden sowohl wie im Kriege nach den Gesetzesvorschriften gehorsam war. Als Soldat hielt er stramme Manneszucht, und wenn 2 er in der Volksversammlung als Vorsitzender fungierte, gab er es nicht zu, d a ß das Volk gesetzeswidrige Beschlüsse faßte, sondern trat mit legalen Mitteln einem derartigen Begehren der Menge entgegen, dem, wie mir scheinen will, kein anderer nachgegeben hätte. Als ihm die Dreißig einmal Unrecht zu 3 tun aufgaben, gehorchte er ihnen nicht; erstens nämlich, als sie ihm den Umgang mit jungen Leuten untersagten l ) , und zweitens, als sie ihm neben andern Bürgern einen Unschuldigen zum Tode zu führen befahlen, verweigerte als einziger den Gehorsam,

da

dieser

Auftrag

ungesetzlich

war 2 ). (Wiewohl es sonst üblich wiar, v o r Gericht den Rieh- * tern nach dem Munde zu reden, ihnen zu schmeicheln und sie 'Widergesetzlich anzuflehen und obgleich durch

solche

Mittel schon mancher einen Freispruch erwirkt hatte, verabscheute es Sokrates, als er v o n Meietos 3) angeklagt wurde, sich auch nur im geringsten derart ungesetzlicher Methoden zu bedienen, sondern zog es vor, dem Gesetze getreu

zu

sterben, statt ihm ungetreu zu leben, wenngleich die Richter ihn ohne Schwierigkeiten freigelassen hätten, würde er nur 1) Vgl. den Parallelbericht 1, 2, 3 1 f f . 2) Vgl. Griechische Geschichte 2, 3, 39 und Piaton, Apologie 32 C. 3) Der Hauptankläger im Sokratesprozeß des Jahres 399.

170

5 ganz geringe Konzessionen gemacht haben.) Auch andern gegenüber berührte er diese Frage. So erinnere ich mich eines Gespräches, das er einmal mit Hippias *) aus Elis über das Recht führte. Dieser Hippias war nach längerer Zeit wieder einmal nach Athen gekommen und traf sich mit Sokrates, der gerade einigen Freunden gegenüber seine Verwunderung aussprach, daß es, wenn man einen Schuster, Zimmermann, Schmied oder'Kutscher brauche, gar keine Schwierigkeiten habe, einen solchen zu bekommen. (Auch wenn einer sein Pferd oder seine Kuh richtig halten wolle, dann gebe es dem Vernehmen nach Leute in Hülle und Fülle, die sich damit befaßten.) Nur wenn einer selber, was recht ist, lernen oder es seinen Sohn, auch seinen Knecht lehren lassen wolle, dann sei guter Rat teuer, wo ein Lehrer 6 dafür zu finden wäre. Als das Hippias vernahm, warf er, gleichsam um Sokrates zu verspotten, ein: „Nun, lieber Sokrates, du redest ja immer noch dasselbe, was ich schon zu Olims Zeiten aus deinem Munde vernommen habe." — Doch Sokrates erwiderte: „Ja, lieber Hippias, und was noch schlimmer ist: Ich stelle nicht nur immer dieselben Behauptungen auf, sondern behandle auch immer den gleichen Gegenstand. Da du ein gelehrter Mann bist, sagst du wahrscheinlich über den gleichen Gegenstand niemals dasselbe." — „Ich bemühe mich freilich, immer etwas Neues auszui sagen." — „Wenn dich also jemand nach Dingen, die dir bekannt sind, fragt, wie zum Beispiel danach, wie viele und welche Buchstaben das Wort ,Sokrates' bilden, dann versuchst du, ihm heute die und morgen eine andere Antwort zu geben? Oder wenn dir jemand ein Rechenexempel aufgibt, ob nämlich zweimal fünf zehn ist, dann hast du nicht das gleiche Ergebnis wie vorher?" — „Auf solche Fragen gebe ich natürlich die gleiche Antwort, ganz genauso wie du; dagegen kann ich über das Recht Feststellungen treffen, 1) Einer der berühmtesten Sophisten.

171

denen weder du noch sonst jemand widersprechen wird.'" — „Bei Hera, dann behauptest du, eines wertvollen Gutes inne geworden zu sein, werden doch nunmehr die Richter nicht mehr unterschiedliche Urteile abgeben, die Bürger des Rechtes wegen nicht mehr Widerspruch, Zank und Parteiungen haben, die Staaten aufhören, um juristischer Streitfälle willen in Konflikte und Kriege zu geraten; auch ich selbst möchte dich nicht gehen lassen, ehe ich gehört, wie du solch wertvolles Gut fandest." — „Das wirst du nicht eher zu hören bekommen, als bis du selber klarlegst» was du unter dem Recht verstehst. Jetzt ist nämlich das Maß voll, daß du andere verspottest, indem du sie fragst und aufs Eis führst, während du selber niemandem Rede und Antwort stehen und zu keiner Frage Stellung nehmen willst." — „Aber lieber Hippias, ist es dir entgangen, daß ich ohne Unterlaß meine Stellung zum Recht darlege?" — „Und was ist deine Meinung dazu?" — „Nicht durch Worte, sondern durch die Tat lege ich Zeugnis ab. Und ist es nicht so, daß die Tat beweiskräftiger ist als das Wort?" — „Um vieles, bei Zeus! Denn viele führen große Worte von Gerechtigkeit im Munde und handeln doch wider das Recht; wer dagegen recht tut, der kann nicht ungerecht sein." — „Hast du aber je bemerken können, daß ich falsches Zeugnis abgelegt, jemanden denunziert, Freunde in Zwietracht gestürzt, die Menge aufgeputscht oder anderes Unrecht begangen hätte?" — „Nein." — „Siehst du es nun aber nicht für gerecht an, wenn sich jemand des Unrechts enthält?" — „Es ist augenscheinlich, lieber Sokrates, daß du auch jetzt alle Anstrengungen machst, um nicht eindeutig dazu Stellung nehmen zu müssen, was du für gerecht hältst. Denn nicht, wie die Gerechten handeln, legst du dar, sondern wie sie nicht handeln." — „Nun, ich war der Meinung, es sei ein hinreichender Beweis gerechter Einstellung, wenn jemand kein Unrecht begehen wolle. Falls du anderer Mei172

nung bist, so überleg dir einmal, ob du mit folgender Feststellung zurechtkommst! Ich behaupte also, daß das, was dem Gesetze gemäß ist, gerecht ist." — „Willst du damit sagen, daß Gesetzlichkeit und Gerechtigkeit dasselbe seien?" 13 — „Jawohl." — „Ich habe von dir jedoch noch gar nicht erfahren, was du unter Gesetzlichkeit und was du unter Gerechtigkeit verstehst." — „Die Gesetze des Staates sind dir bekannt?" — „Jawohl!" — „Und wofür siehst du sie a n ? " — „Als die schriftliche Formulierung dessen, was die Bürgerschaft als erlaubt und als verboten feststellte." — „Gesetzesgemäß leibt demnach, wer sein Handeln entsprechend einrichtet, ungerecht derjenige, der diese Gesetze überschreitet." — „Ganz recht." — „Das Rechte tut also, wer diesen Gesetzen gehorcht, Unrecht, wer sich ihnen widersetzt?" — „Sehr wohl." — „Wer das Rechte tut, ist aber gerecht, und wer Unrecht tut, ungerecht?" — „Notwendigerweise." — „Demnach ist gerecht, wer nach den Gesetzen lebt, und un14 gerecht, wer sie übertritt." — „Wie sollte man aber Gesetze so wichtig nehmen, um ihnen zu gehorchen, da doch häufig ihre Urheber sie verwerfen und abändern?" — „Auch Kriege Werden oft begonnen und danach trotzdem wieder Frieden geschlossen." — „??" — „Du achtest die nach dem Gesetze Lebenden gering, weil diese Gesetze unter Umständen aufgehoben werden können. Glaubst du, damit etwas anderes zu tun, als wenn du Soldaten ihren Gehorsam deswegen vorhieltest, weil j a wieder einmal Frieden werden könne? Oder willst du vielleicht auch die Männer tadeln, die im Kriege für ihre Heimat mutig eingetreten sind?" — „Das iö sei ferne!" — „Dir ist aber bekannt, daß Lykurg dadurch Spartas Sonderstellung begründete, daß er seine Bürger zu ganz besonderem Gesetzesgehorsam erzog. Auch weißt du, daß politische Führer, die ihre Mitbürger zum Gehorsam gegen das Gesetz veranlaßten, in höchstem Ansehen stehen. Staaten, deren Bürger sich weitestgehend dem Gesetze fügen, 173

kommen im Frieden zur Blüte und sind im Kriege unüberwindlich. Eintracht halte ich aber für einen höchst wichtigen Besitz für jeden Staat. Daher mahnen die Ältestenräte und Aristokraten ihre Mitbürger immer wieder, Eintracht zu halten, und überall in Griechenland besteht das Gesetz, nach dem die Bürger ihren Willen zur Einigkeit eidlich bekräftigen. Das geschieht aber, so will mir ischeinen, nicht deshalb, damit ein jeder dem gleichen Chor den Preis zuerkennt, dem gleichen Musiker Beifall zollt; denselben Dichter wählt noch sich an den gleichen Gütern erfreut, sondern dazu, daß sie sich alle den Gesetzen unterwerfen. Solange die Bürger ihr Handeln in diesem Sinne einrichten, stehen ihre Staaten in Glanz und Blüte, während ohne Eintracht weder ein Staat noch ein Hausstand erfolgreich geführt werden kann. Welchen andern Weg gäbe es für den einzelnen, von seiner Stadt weniger Maßregelung, aber um so größere Ehre zu erfahren, als den des Gehorsams gegenüber dem Gesetze? Wann wird er vor Gericht je erfolgreicher sein? Wem wird man größeres Vertrauen schenken, sein Geld, seine Söhne und Töchter zu überlassen? Wem wird die ganze Stadt mehr Glauben schenken als dem, der ihre Gesetze hält? Wer wird an Eltern, Verwandten, Bediensteten, Freunden, Mitbürgern und Fremden eher tun, was Rechtens ist? Wem sollten die Feinde bei Waffenstillstandsverhandlungen, Vertrags- und Friedensschlüssen mehr trauen? Wer sollte eher Bundesgenossen finden als der Freund des Gesetzes? Wem werden diese Bundesgenossen leichter den Oberbefehl, ihre Befestigungsanlagen und ihre Städte überlassen? Von wem kann man eher annehmen, daß er für Gutes, das er empfing, Dank abstatten wird, als von dem, der die Gesetze hält? Wem aber wird man lieber Gutes erweisen als dem, bei dem man auf Dank rechnen zu können glaubt? Mit wem wird man lieber befreundet, mit wem weniger gern verfeindet sein wollen? Wer aber wird sich 174

mit jemandem in kriegerische Auseinandersetzungen einlassen wollen, der nur Freunde u n d keine Feinde besitzt? 18 Wessen Partei sonst wird man lieber ergreifen? So, Hippias, damit beweise ich, daß Gesetzlichkeit u n d Gerechtigkeit dasselbe sind. Bist du gegenteiliger Ansicht, so laß es mich wissen!" — Doch Hippias antwortete: „Bei Zeus, nein, lieber Sokrates, ich möchte nicht das Gegenteil von dem ver19 treten, was du über das Recht gesagt hast." — „Weißt d u nun, lieber Hippias, etwas von ungeschriebenen Gesetzen?" — „Das sind die, die in jedem Lande in derselben Weise gelten." — „Vermagst du zu behaupten, d a ß die Menschen sich diese gegeben haben?" — „Wie sollte ich, da sie doch alle sich gar nicht versammeln können, noch dieselbe Sprache sprechen?" — „Wer hat daher nach deiner Auffassung diese Gesetze gegeben?" — „Mir will scheinen, die Götter; d e n n bei allen Menschen gilt es als oberstes Gesetz, die Götter 20 zu verehren." — „Ist es auch überall Sitte, die Eltern zu achten?" — „Jawohl, auch das." — „Ferner jene Regel, daß Eltern nicht mit ihren Kindern und Kinder nicht mit ihren Eltern fleischlich verkehren dürfen?" — „Hierin erblicke ich nicht mehr ein göttliches Gesetz." — „Und warum?" — 21 „Weil mir Fälle der Überschreitung bekannt sind." — „Deren gibt es noch mehr. Aber trotzdem finden alle, die gegen göttliche Gesetze verstoßen, ihre Strafe, der kein Mensch entgehen kann, während manch einer, der menschliche Satzungen übertrat, nicht zur Verantwortung gezogen werden konnte, sei es, weil er sich verborgen hielt, oder aber, 22 weil er sich gewaltsam widersetzte." — „Was ist aber d a n n die Strafe, Sokrates, der Eltern u n d Kinder, die miteinander fleischlich verkehrten, nicht entrinnen?" — „Bei Zeus, die allerschlimmste! Denn was Schlimmeres könnten Menschen, die sich Nachkommenschaft wünschen, erleiden, als 23 daß diese Nachkommenschaft ungeraten ist?" — „ W a r u m soll die Nachkommenschaft solcher Menschen nicht geraten,

175

die, sofern sie selber wertvoll sind, mit ebenfalls wertvollen Menschen sich paaren können?" — „Deshalb, weil es nicht nur darauf ankommt, d a ß die sich Paarenden wertvolle Eigenschaften mitbringen, sondern weil sie auch körperlich auf der Höhe ihrer Entwicklung stehen müssen. Oder meinst du, daß die Keimstoffe von Menschen gereiften Alters, solcher in den Reifejahren und dritter, die den Gipfel ihres Lebens bereits überschritten, von gleicher Beschaffenheit sind?" — „Natürlich sind sie nicht gleich." — „Und welche sind die besseren?"— „Augenscheinlich die derjenigen Menschen, die auf der Höhe ihrer Kraft stehen." — „Und die Keimstoffe derjenigen, die sich nicht in diesem Alter befinden, sind nicht wertvoll?" — „Selbstverständlich nicht." — „Es wäre daher nicht wünschenswert, daß diese Menschen Nachkommen zeugten?" — „Nein." — „Zeugen sie aber trotzdem, dann begehen sie Unrecht?" — „Jawohl." — „Wer anders aber würde ungeratene Nachkommenschaft haben?" — „Auch darin stimme ich dir zu." — „Weiter! Uberall gilt es doch als recht, wenn jemand, der Gutes erlitt, das mit Gutem vergilt?" — „Jawohl; doch auch dagegen wird gesündigt." — „Aber diejenigen, die sich so versündigen, finden auch ihre Strafe, indem niemand mehr mit ihnen gut Freund sein will und sie dadurch gezwungen werden, denen nachzulaufen, die sie eigentlich hassen. Denn es ist doch so: Gute Freunde sind die, die ihren Bekannten Gutes mit Gutem vergelten; wer das nicht tut, gegen den richtet sich der Haß des Geschädigten, der die Beziehungen nur deshalb aufrecht erhält, weil sie für ihn von Nutzen sind." — „Das erscheint mir freilich als gottgewollt; denn darin, daß im Gesetz bereits die Strafe f ü r seinen Übertreter beschlossen liegt, offenbart sich mir eine höhere Weisheit als die eines menschlichen Gesetzgebers." — „Meinst du nun, lieber Hippias, daß die Götter das, was gerecht ist, zum Gesetz machen oder etwas anderes?" — „Nichts anderes, 176

bei Zeus; denn schwerlich würde ein anderer gerechte Gesetze geben können außer dem Gotte." — „Aiuoh für die Götter ist also Gerechtigkeit und Gesetzlichkeit dasselbe." Durch solche Reden und seine entsprechende Handlungsweise trug Sokrates viel zur sittlichen Besserung derer, die mit ihm in Berührung kamen, bei.

FÜNFTES KAPITEL Sokrates

schafft

brauchbare

Menschen

für den

Lebenskampf

1

Davon, daß Sokrates seine Zuhörer auch fürs praktische Leben befähigt machte, will ich nunmehr berichten. So war es nach seiner Anschauung für jemanden, der etwas Rechtes vollbringen wollte, notwendig, mäßig zu sein; wie nun jeder seiner Bekannten mit eigenen Augen sehen konnte, hielt er selber sich derart in Zucht wie sonst keiner. Ferner ermahnte er seine Zuhörer in allererster Linie zur Selbstbeherrschung. 2 Zu jeder Zeit war er sich all der Werte bewußt, die zu einem rechten Lebenswandel beitragen, und nie versäumte er es, alle seine Freunde daran zu erinnern. So denke ich daran, wie er einmal mit Euthydemos über die Frage der Selbstbeherrschung das folgende Gespräch führte: „Sag mir, mein lieber Euthydem, glaubst du, daß die Freiheit für den Einzelnen wie für die Gesamtheit ein großes, wertvolles Be-

3 sitztum darstellt?" — „Ganz gewiß." — „Wird nun jemand durch seine körperlichen Triebe beherrscht und dadurch außerstand gesetzt, nach Gebühr zu handeln, meinst du, daß dieser Mensch frei ist?" — „Nicht im geringsten." — „Demnach siehst du das Wesen der Freiheit darin, daß der Mensch nach Gebühr handelt, und hältst ihn für unfrei, wenn Momente vorliegen, die eine solche Handlungsweise 1) Vgl. S. 29 Anm. 1. 12

Irmscher, Sokrates

177

bei Zeus; denn schwerlich würde ein anderer gerechte Gesetze geben können außer dem Gotte." — „Aiuoh für die Götter ist also Gerechtigkeit und Gesetzlichkeit dasselbe." Durch solche Reden und seine entsprechende Handlungsweise trug Sokrates viel zur sittlichen Besserung derer, die mit ihm in Berührung kamen, bei.

FÜNFTES KAPITEL Sokrates

schafft

brauchbare

Menschen

für den

Lebenskampf

1

Davon, daß Sokrates seine Zuhörer auch fürs praktische Leben befähigt machte, will ich nunmehr berichten. So war es nach seiner Anschauung für jemanden, der etwas Rechtes vollbringen wollte, notwendig, mäßig zu sein; wie nun jeder seiner Bekannten mit eigenen Augen sehen konnte, hielt er selber sich derart in Zucht wie sonst keiner. Ferner ermahnte er seine Zuhörer in allererster Linie zur Selbstbeherrschung. 2 Zu jeder Zeit war er sich all der Werte bewußt, die zu einem rechten Lebenswandel beitragen, und nie versäumte er es, alle seine Freunde daran zu erinnern. So denke ich daran, wie er einmal mit Euthydemos über die Frage der Selbstbeherrschung das folgende Gespräch führte: „Sag mir, mein lieber Euthydem, glaubst du, daß die Freiheit für den Einzelnen wie für die Gesamtheit ein großes, wertvolles Be-

3 sitztum darstellt?" — „Ganz gewiß." — „Wird nun jemand durch seine körperlichen Triebe beherrscht und dadurch außerstand gesetzt, nach Gebühr zu handeln, meinst du, daß dieser Mensch frei ist?" — „Nicht im geringsten." — „Demnach siehst du das Wesen der Freiheit darin, daß der Mensch nach Gebühr handelt, und hältst ihn für unfrei, wenn Momente vorliegen, die eine solche Handlungsweise 1) Vgl. S. 29 Anm. 1. 12

Irmscher, Sokrates

177

unmöglich machen." — „Ganz recht." — „Wer nicht Herr seiner selbst ist, ist demnach vollkommen unfrei?" — „Bei Zeus, freilich!" — „Hast du den Eindruck, daß solche Menschen lediglich a m rechten Handeln verhindert werden, oder werden sie zugleich zu ehrlosen Taten gezwungen?" — „Ich glaube, der Zwang zu diesen ist nicht geringer als die Abhaltung von rechten Taten." — „Wie beurteilst du Herren, die das Gute verhindern und das Böse fördern?" — „Ich halte sie f ü r die denkbar schlechtesten." — „Welche Knechtschaft ist nach deiner Auffassung die schlimmste?" — „Die unter den schlimmsten Herren." — „Also müßten die Menschen, die nicht Herren ihrer selbst sind, sich in der schlimmsten Knechtschaft befinden?" — „Das ist wenigstens meine Auffassung." — „Bist du nicht auch der Meinung, daß die Zügellosigkeit den Menschen die Weisheit, das höchste Gut, vorenthält, indem sie sie ins Gegenteil stürzt? Oder hast du nicht den Eindruck, d a ß sie durch ihre Verführung zum Angenehmen die Menschen davon abhält, auf das, was ihnen not ist, zu achten u n d es zu erlernen? Ist dir bekannt, d a ß schon oft Leute, die G u t und Böse zu scheiden wußten, vor lauter Schrecken sich das Schlechtere anstelle des Besseren zu tun entschlossen?" — „Das ist der Fall", lautete die Antwort. — „Wer, lieber Euthydem, ist wohl weniger lebensklug als der Unmäßige? Lebensweisheit und Übermaß sind schließlich das vollkommene Gegenteil." — „Auch darin pflichte ich dir bei." — „Glaubst du, daß irgend etwas sonst so sehr den Menschen hindert, seine Pflicht zu tun, wie die Zügellosigkeit?" — „Nein." — „Kann es f ü r den Menschen Schlimmeres geben als eine Macht, die ihn statt zu seinem Nutzen zu seinem Schaden sich entscheiden läßt, die es ihm nahelegt, für das zu sorgen, was ihn behindert, und das hintanzustellen, was ihn fördert, die ihn dazu zwingt, gerade das Gegenteil von dem zu tun, wozu die Überlegung rät?" — „Nein." — „Die Mäßigkeit hingegen bedingt naturgemäß 178

einen ganz andern Ablauf der Dinge wie die Zügellosigkeit?" — „Selbstverständlich." — „Es hat demnach den Anschein, lieber Euthydem, daß die Selbstbeherrschung ein großes Gut für den Menschen darstellt?" — „Ganz offen0 sichtlich, Sokrates!" — „Hast du aber noch etwas anderes bedacht?" — „Nämlich?" — „Daß zum Genüsse, um dessentwillen allein sieh die Menschen gehen lassen, Zügellosigkeit niemals führen kann, daß aber die Mäßigkeit zur Freude an allen Dingen erzieht." — „Inwiefern?" — „Aus folgendem Grunde: Der üppige will nichts davon wissen, Hunger, Durst, Brunst und Wachen zu ertragen, obgleich es doch, wenn einer mit Freude essen, trinken und der Liebe pflegen, sich ausruhen und ausschlafen will, dahin nur den einen Weg gibt, nämlich solange auszuhalten und auszuharren, bis diese Freuden den Grad höchster Vollkommenheit erreichen; seine Veranlagung hindert somit den Schlemmer, sich an den lebensnotwendigen, alltäglichen Genüssen recht zu erfreuen. Allein die Mäßigkeit gibt die Kraft, in dem angedeuteten Sinne abzuwarten und sich mit wahrer bleibender Freude 10 hinzugeben." —„Da hast du vollkommen recht." — „Gutesund Rechtes zu lernen, jene Eigenschaften zu pflegen, durch die man seinen Körper gesund erhalten, sein Haus gut verwalten, seinen Freunden und seiner Heimat dienen und seiner Feinde Herr werden kann, woraus nicht nur vielfältiger Nutzen, sondern auch größte Freude erwächst, zu all dem sind enthaltsame Menschen befähigt, währenddes die Triebbeherrschten daran kein Teil haben. Denn wem, glaubst du, kämen diese Gaben weniger zu als dem, der sie sich zu erringen in keiner Weise imstande ist, da ihn die Gier nach den Genüssen um ihn herum voll in Anspruch nimmt?" — 11 Euthydem: „Wie ich es auffasse, kommt dem Manne, der seinen körperlichen Begierden unterliegt, keinerlei Anteil an höherem Menschentum zu." — „Worin unterscheidet sich denn auch, mein lieber Euthydem, ein unbeherrschter 12»

179

Mensch von dem unvernünftigsten Tiere? Wer des Besten nicht achtet und nur nach dem Lustvollen Ausschau hält, was trennt den von dem dummen Schaf in der Herde? Nur den Menschen, die sich selber in der Gewalt haben, ist es gegeben, bei Worten und Taten auf das Beste zu achten und, nachdem sie sich über das Wesen von Gut und Böse verständigt, sich f ü r das Erste zu entscheiden und das Zweite zu meiden." (Auf diese Weise, behauptete Sokrates, könnten Männer zu Ansehen und Glück gelangen und erfolgreiche Diskussionspartner werden. Der Begriff „Diskutieren" käme daher, daß Menschen sich versammelten, sich öffentlich berieten und über alles nach seinem Wesen ihre Diskussionen veranstalteten.)

SECHSTES KAPITEL

Beispiele

Sokratischer

Dialektik

Auch davon, wie Sokrates seine Schüler in der Kunst der Dialektik fortbildete, will ich Beispiele zu geben versuchen. Seine Meinung ging nämlich dahin, daß, wer über das Wesen der Dinge Bescheid wisse, auch andere darüber aufklären werde, während es ihm nicht verwunderlich vorkam, wenn die, denen solche Kenntnisse abgingen, sich selber und andere täuschten. Deshalb strebte er mit seinem Kreise unaufhörlich danach, zu erforschen, worin das Wesen alles Seins liege. Alle seine Definitionen durchzugehen, würde zu weitläufig werden; dagegen werde ich solche Beispiele auswählen, die seine Untersuchungsmethode charakterisieren. So war sein Gedankengang zum Thema Frömmigkeit etwa folgender: „Sag, mein lieber Euthydemos, was, glaubst du, sei Frömmigkeit?" — „Etwas sehr Schönes", erwiderte der. — „Vermagst du mir danach den Frommen zu charakterisieren?" — „Ich 180

Mensch von dem unvernünftigsten Tiere? Wer des Besten nicht achtet und nur nach dem Lustvollen Ausschau hält, was trennt den von dem dummen Schaf in der Herde? Nur den Menschen, die sich selber in der Gewalt haben, ist es gegeben, bei Worten und Taten auf das Beste zu achten und, nachdem sie sich über das Wesen von Gut und Böse verständigt, sich f ü r das Erste zu entscheiden und das Zweite zu meiden." (Auf diese Weise, behauptete Sokrates, könnten Männer zu Ansehen und Glück gelangen und erfolgreiche Diskussionspartner werden. Der Begriff „Diskutieren" käme daher, daß Menschen sich versammelten, sich öffentlich berieten und über alles nach seinem Wesen ihre Diskussionen veranstalteten.)

SECHSTES KAPITEL

Beispiele

Sokratischer

Dialektik

Auch davon, wie Sokrates seine Schüler in der Kunst der Dialektik fortbildete, will ich Beispiele zu geben versuchen. Seine Meinung ging nämlich dahin, daß, wer über das Wesen der Dinge Bescheid wisse, auch andere darüber aufklären werde, während es ihm nicht verwunderlich vorkam, wenn die, denen solche Kenntnisse abgingen, sich selber und andere täuschten. Deshalb strebte er mit seinem Kreise unaufhörlich danach, zu erforschen, worin das Wesen alles Seins liege. Alle seine Definitionen durchzugehen, würde zu weitläufig werden; dagegen werde ich solche Beispiele auswählen, die seine Untersuchungsmethode charakterisieren. So war sein Gedankengang zum Thema Frömmigkeit etwa folgender: „Sag, mein lieber Euthydemos, was, glaubst du, sei Frömmigkeit?" — „Etwas sehr Schönes", erwiderte der. — „Vermagst du mir danach den Frommen zu charakterisieren?" — „Ich 180

denke mir, derjenige ist fromm, der die Götter ehrt." — „Ist diese Verehrung der Götter in jeder beliebigen Weise statthaft?" — „Nein, es gibt vielmehr Gesetze, die gewisse Formen 3 der Verehrung vorschreiben." — „Wer diese Gesetze kennt, müßte demnach wissen, auf welche Weise die Götter verehrt werden sollen." — „Das will mir scheinen." — „Wer also weiß, auf welche Weise die Götter zu verehren sind, der weiß auch, daß kein anderer Weg als der ihm bekannte zulässig ist?" — „Nein, kein andrer." — „Verehrt jemand die Götter in anderer Weise, als es nach seiner Auffassung not4 wendig ist?" — „Das glaube ich nicht." — „Wer die Religionsgesetze kennt, müßte demnach die Götter nach diesen Gesetzen verehren." — „Jawohl." — „Verehrt der, dessen Verehrung sich an die Religionsgesetze hält, die Götter recht?" — „Wie sollte er nicht?" — „Ist derjenige, der die Götter in der rechten Weise verehrt, fromm?" — „Jawohl." — „Der Fromme wäre somit zu definieren als derjenige, der die auf die Götter Bezug nehmenden Gesetze kennt." — „Das ist meine Auffassung." 5

„Kann man sein Verhältnis zu den Mitmenschen nach Gutdünken gestalten?" — „Nein, auch hier gilt es, daß nur, wer das Recht weiß, nach dem man sein Verhalten zu andern einzustellen hat, ein rechtlicher Mensch ist." — „Diejenigen aber, die ihr Verhalten nach solchen Regeln einrichten, verfahren richtig?" — „Freilich." — „Wer sein Verhalten nach den Erfordernissen der Ethik einrichtet, handelt sittlich?" — „Natürlich." — „Wer den Gesetzen folgt, handelt gerecht?" — 6 „Jawohl." — „Weißt du auch, was man als gerecht ansieht?" — „Das, was die Gesetze befehlen." — „Demnach handeln diejenigen, die das tun, was das Gesetz befiehlt, gerecht und richtig?" — „Aber freilich." — „Sind die, die das Rechte tun, gerecht?" — „Ich möchte es meinen." — „Kannst du dir vorstellen, daß es Menschen gibt, die den Gesetzen folgen, ohne zu wissen, was die Gesetze befehlen?" — „Nein." 13

IrmschcTj Sokrates

181

— „Kannst du dir vorstellen, daß es Menschen gibt, die wissen, wie sie handeln sollen, und dennoch glauben, sie brauchten sich nicht daran zu halten?" — „Nein." — „Kennst du ein Beispiel dafür, daß jemand anders handelt, als er es nach seiner Überzeugung für erforderlich hält?" — „Nein." — „Wer demnach die das gegenseitige Verhältnis der Menschen regelnden Gesetze kennt, der handelt gerecht?" — „So ist es." — „Wer aber gerecht handelt, der ist auch gerecht?" — „Wer sollte es sonst sein?" — „Wir vertreten somit die richtige Auffassung, wenn wir definieren, daß diejenigen gerecht sind, welche die für das Verhältnis der Menschen zueinander geltenden Gesetze kennen?" — „Das ist meine Meinung." „Wie wäre das Wesen der Weisheit zu charakterisieren? Sag mir, sind diejenigen, die weise sind, weise auf einem Gebiete, auf dem sie Bescheid wissen, oder kann man auch weise sein, ohne wissend zu sein?" — „Nein, augenscheinlich besteht Weisheit im Wissen; denn wie sollte jemand auf einem Gebiete Weisheit besitzen, auf dem er kein Wissen hat?" — „Demnach beruht Weisheit auf Wissen?" — „Wodurch sonst wäre jemand weise als durch sein Wissen?" — „Könnte nach deiner Ansicht jemand auch durch etwas anderes als auf Grund seines Wissens weise sein?" — „Nein." — „Wissen ist also Weisheit?" — „Ich denke." — „Hältst du es nun für möglich, daß ein Mensch alle Dinge weiß?" — „Nein, aber doch wohl einen beträchtlichen Teil." — „Auf jedem Gebiete kann demnach ein Mensch nicht weise sein?" — „Bei Zeus, nein!" — „Auf dem Gebiete also, auf dem einer Kenntnisse besitzt, ist er auch weise?" — „Jawohl." „Lieber Euthydem, ist das Gute in derselben Weise zu er- a fahren?" — „In welcher Weise?" — „Hast du den Eindruck, daß ein und dasselbe für alle von Nutzen ist?" — „Nein." — „Du meinst also auch, daß, was dem einen von Wert ist, einem andern unter Umständen Schaden bringen kann?" — „Jawohl." — „Kennst du sonst noch etwas Gutes außer dem 182

Nutzbringenden?" — „Nein." — „Letzteres ist also etwas Gutes für den, dein es förderlich ist." — „Das scheint mir so." 9 „Könnten wir das Schöne anders beschreiben? Oder bezeichnest du einen Körper, ein Gerät oder sonst einen Gegenstand so, der nach deiner Kenntnis in jeder Hinsicht schön ist?" — „Nein." — „Demnach ist eine Sache für den Zweck schön zu gebrauchen, für den sie nützlich ist?" — „Ganz recht." — „Bezieht sich dieses Schönsem auch auf eine andere Richtung als die nützliche Verwendung?" — „Nein, nur darauf." — „Das Nützliche ist also schön in bezug auf seine Nützlichkeit." — „Diese Auffassung vertrete ich." 10 „Auch die Tapferkeit siehst du doch als etwas Wertvolles an, lieber Euthydem?" — „Als einen Höchstwert sogar." — „Du meinst also, daß es nicht die geringsten Dinge sind, wozu Tapferkeit förderlich ist?" — „Aber nein, ganz im Gegenteil." — „Betrachtest du es im Angesicht von Schwierigkeiten und Gefahren als Vorzug, wenn man diese nicht kennt?" — „Absolut nicht." — „Die Menschen also, die sich davor allein deshalb nicht fürchten, weil sie ihre wirkliche Lage nicht kennen, sind nicht tapfer?" — „Bei Zeus; sonst wäre ja manch ein Verrückter, ja mancher Feigling tapfer!" — „Wie steht es dann mit denen, die sich selbst vor Dingen fürchten, die keine Gefahr bedeuten?" — „Sie sind, bei Zeus, noch viel weniger tapfer!" — „Demnach hältst du die, die sich in großer, gefährlicher Zeit bewähren, für tapfer und die andern, die in solcher Stunde versagen, für feige?" — „So u ist es." — „Als bewährt in solcher Zeit bezeichnest du doch wohl niemand sonst als die, welche der Lage Herr zu werden wissen?" — „Niemand anders als diese Menschen." — „Und als untüchtig erscheinen dir die, welche der Situation nicht gewachsen sind?" — „Wer sonst?" — „Nun handelt aber doch jeder so, wie er es schuldig zu sein glaubt." — „ J a , natürlich." — „Wissen nun diejenigen, die zu erfolgreichem 13»

183

Handeln außerstande sind, was zu tun erforderlich ist?" — „Nein, freilich nicht." — „Die es dagegen wissen, haben auch die Kraft, es durchzuführen?" — „Ja, sie allein." — „Wie steht es nun um die Erfolgreichen, sind auch sie unwissend?" — „Das nehme ich nicht an." — „Die Unkundigen aber bleiben ohne Erfolg?" — „Das ist naturnotwendig." — „In summa: Wer in harten, gefährlichen Situationen sich gut hält, der ist tapfer; wer versagt, ist feige." — „So meine ich es auch." Königtum und Tyrannis hielt Sokrates für mögliche Regierungsformen, nur sah er Unterschiede zwischen beiden. Eine Regderungsform, die sich auf die Freiwilligkeit der Untertanen und die Gesetze des Staates gründete, bezeichnete er als Königtum, als Tyrannis eine solche, die nicht dem Willen des Volkes entsprach und sich nicht an die Gesetze, sondern an den Willen des Herrschers hielt. Dort, wo die Behörden aus solchen Männern gebildet werden, die nach dem Gesetze ihre Pflicht erfüllen, sprach Sokrates von einer Aristokratie, da, wo es bei solchen Ernennungen nach dem Geldbeutel ging, von einer Plutokratie, und dort, wo jedem jedes Amt offenstand, von einer Demokratie. Widersprach jemand dem Sokrates in irgendeiner Sache ohne rechten Grund oder Beweis mit der Behauptung, eine von ihm erwähnte Persönlichkeit sei klüger, politisch erfahrener oder sonstwie der von Sokrates genannten überlegen, dann pflegte dieser seine Behauptung bis zur letzten Wurzel zurückzuführen in etwa der folgenden Art: „Meinst du, daß der von dir oder der von mir gelobte Bürger der tüchtigere ist? — „Der von mir genannte." — „Bist du es einverstanden, so wollen wir zuerst einmal die Frage stellen, worin das Handeln eines tüchtigen Bürgers besteht." — „Das ist mir willkommen."—„Wer den finanziellen Reichtum seines Staates mehrte, müßte sich auf die Finanzverwaltung verstehen." — „Ohne Zweifel." — „Im Kriege kommt es auf den 184

an, der seinen Gegnern überlegen ist." — „Ganz gewiß." — „Bei einer Gesandtschaft heißt es Freunde, nicht Feinde zu gewinnen." — „Auch das ist klar." — „Und in der Politik Parteiungen zu beenden und Eintracht zu schaffen." — „Das denke ich." — Durch derartige Klarlegungen wurde auch denen, die Sokrates erst widersprachen, die Wahrheit offen15 bar. Sooft er selber einen Gedankengang vortrug, hielt er sich an das, was allgemein anerkannt war, weil er in dieser Art die Sicherheit seiner Beweisführung erblickte. In den meisten Fällen, an die ich mich erinnere, gewann er sich die Zustimmung derer, die ihn hörten. Auch Homer, sagte er, behaupte von Odysseus, daß er ein „sicherer Redner" gewesen sei, womit er ausdrücken wolle, daß er imstande war, seine Beweisführung im Rahmen des allseitig Anerkannten zu halten.

SIEBENTBS KAPITEL

Sokrates belehrt seine Freunde, inwieweit Grundlagen erforderlich sind 1

theoretische

Daß Sokrates denen, die sich mit ihm unterhielten, klar seine Meinung sagte, scheint mir das Vorhergehende bewiesen zu haben; jetzt will ich davon sprechen, wie er sich darum bemühte, seine Freunde bei allen an sie herantretenden praktischen Aufgaben von fremder Hilfe unabhängig zu machen. In jedem mir bekannt gewordenen Falle legte er Wert darauf zu erfahren, auf welchem Fachgebiete jemand unter seinen Zuhörern Fertigkeiten besaß. Soweit er selber Kenntnisse in den allgemeinbildenden Fächern hatte, unterrichtete er alle andern darin mit großem Eifer; lag ihm ein Gebiet weniger, dann führte er seine Freunde zu denen, die 1) Odyssee 8, 171.

185

an, der seinen Gegnern überlegen ist." — „Ganz gewiß." — „Bei einer Gesandtschaft heißt es Freunde, nicht Feinde zu gewinnen." — „Auch das ist klar." — „Und in der Politik Parteiungen zu beenden und Eintracht zu schaffen." — „Das denke ich." — Durch derartige Klarlegungen wurde auch denen, die Sokrates erst widersprachen, die Wahrheit offen15 bar. Sooft er selber einen Gedankengang vortrug, hielt er sich an das, was allgemein anerkannt war, weil er in dieser Art die Sicherheit seiner Beweisführung erblickte. In den meisten Fällen, an die ich mich erinnere, gewann er sich die Zustimmung derer, die ihn hörten. Auch Homer, sagte er, behaupte von Odysseus, daß er ein „sicherer Redner" gewesen sei, womit er ausdrücken wolle, daß er imstande war, seine Beweisführung im Rahmen des allseitig Anerkannten zu halten.

SIEBENTBS KAPITEL

Sokrates belehrt seine Freunde, inwieweit Grundlagen erforderlich sind 1

theoretische

Daß Sokrates denen, die sich mit ihm unterhielten, klar seine Meinung sagte, scheint mir das Vorhergehende bewiesen zu haben; jetzt will ich davon sprechen, wie er sich darum bemühte, seine Freunde bei allen an sie herantretenden praktischen Aufgaben von fremder Hilfe unabhängig zu machen. In jedem mir bekannt gewordenen Falle legte er Wert darauf zu erfahren, auf welchem Fachgebiete jemand unter seinen Zuhörern Fertigkeiten besaß. Soweit er selber Kenntnisse in den allgemeinbildenden Fächern hatte, unterrichtete er alle andern darin mit großem Eifer; lag ihm ein Gebiet weniger, dann führte er seine Freunde zu denen, die 1) Odyssee 8, 171.

185

sich darauf verstanden. Auch darüber belehrte er sie, bis zu welchem Grade der Gebildete in jedem Fache beschlagen sein muß. Die Feldmeßkunst zum Beispiel müsse man soweit erlernen, um erforderlichenfalls in der Lage zu sein, Land mit richtigem Maß zu übernehmen, daß, wer dem Studium der Feldmeßkunst obliege, nach dessen Abschluß sowohl die Größe eines Landes anzugeben vermöge und sich zugleich darauf verstehe, es zu vermessen. Dagegen verwarf er es, die Wissenschaft bis zu unverständlichen Einzelfragen hin zu betreiben; er sehe nicht ein, wozu das gut sein solle. Trotzdem verstand er sich selber darauf, nur, meinte er, seien solche Dinge geeignet, einen Menschen sein Leben lang zu beschäftigen und von zahlreichen andern, nützlichen Wissenschaften abzuhalten. Auch zur Beschäftigung mit der Astronomie regte er an, und zwar insoweit, um für die Zwecke des Land- und Seeverkehrs sowie des Wachtdienstes die Gezeiten der Nacht, des Mondes und des Jahres feststellen und das, was sonst noch mit Nacht, Monat oder Jahr in Verbindung steht, aus der Kenntnis der vorerwähnten Zeiten erschließen zu können. Die Anleitung dazu könne man unschwer von Jägern, Steuerleuten und anderen, die solche Kenntnisse beruflich benötigten, erhalten. Die Astronomie über diesen Umfang hinaus zu betreiben, sich mit den Dingen jenseits dieses Weltsystems, mit Planeten und nichtfixen Sternen zu beschäftigen, ihre Entfernung von der Erde, ihren Umfang und die ihnen innewohnenden Kräfte zu ergründen, lehnte Sokrates energisch ab; darin sehe er keinen Nutzen. Trotzdem hatte er sich mit diesen Fragen befaßt, die, wie er sagte, imstande wären, einen Menschen sein Leben lang zu beschäftigen und ihm die Zeit für vielerlei nützliche Aufgaben zu rauben, überhaupt riet er davon ab, sich damit zu befassen, wie die Götter das Jenseits gestalteten. Nach seiner Meinung waren diese Probleme für Menschen unlösbar, noch glaubte er, daß einer sich die Götter gnädig stimmen würde, 186

der zu ergründen suchte, was jene als ihr Geheimnis behalten wollten. Wer sich damit befasse, so sagte er, der litte an dem gleichen gefährlichen Wahn, von dem Anaxagoras 1) erfaßt war, der sich viel darauf zugute tat, daß er die Wege der Götter zu erzählen wußte. Dieser Mann hatte behauptet, das Feuer und die Sonne seien von gleicher Substanz, und doch nicht gewußt, daß die Leute leicht ins Feuer blicken können, während ihr Auge die Sonne nicht aushält, ferner die Sonne die Haut zu bräunen vermag, nicht dagegen das Feuer. Und auch das hatte Anaxagoras übersehen, daß von all den Gewächsen, die aus der Erde hervorsprießen, keines ohne das Strahlen der Sonne recht zu gedeihen vermag, während alles, was vom Feuer verbrannt wird, eingeht. Wenn Anaxagoras weiter behauptete, die Sonne sei ein glühender Stein, so vergaß er dabei, daß ein Stein im Feuer nicht glüht noch sich lange hält, die Sonne dagegen immerfort bleibt, feuerglühend wie sonst nichts auf Erden. Auch zur Beschäftigung mit der Rechenkunst hielt Sokrates an, aber auch dabei warnte er, wie schon bei andern Wissenschaften, vor leeren Spekulationen; gründlich dagegen betrieb er mit seinen Hörern das Rechnen, soweit es praktisch verwendbar ist. Zur Gesundheitspflege erzog Sokrates seinen Kreis, wenn er dazu aufforderte, sich das auf diesem Gebiete notwendige Wissen anzueignen und das ganze Leben hindurch darauf acht zu geben, welche Speisen, welches Getränk und welche körperliche Übung am förderlichsten, ja überhaupt, welche Lebensweise die gesündeste sein würde. Hielte nämlich jemand selber derart auf seine Gesundheit, dann werde er, so sagte Sokrates, nicht so leicht einen Arzt finden, der das für ihn Zuträgliche besser wisse als er selbst.— Wenn sich jemand über alles menschliche Vermögen hinaus X) Freund und Zeitgenosse des Perikles, wurde wegen Gottlosigkeit vor Gericht gestellt, entzog sich der Strafverfolgung jedoch durch freiwillige Verbannung.

187

sichern wollte, dann riet ihm Sokrates zur Mantik, und zwar darum, weil derjenige, der die Mittel kenne, durch welche die Götter den Menschen ihren Willen in bestimmten Fragen zu erkennen geben, niemals ohne ihren Beistand sein werde.

ACHTES K A P I T E L

über Sokrates'

Tod

W e i l Sokrates behauptete, sein Daimonion gebe ihm an, 1 was er zu tun und zu lassen habe, er aber trotzdem v o n seinen Richtern z u m Tode verurteilt wurde, könnte vielleicht jemand glauben, damit sei bewiesen, daß Sokrates' Aussagen über das Daimonion falsch gewesen wären. Jedoch bedenke man erstens, daß der Philosoph damals bereits in hohem Alter stand, so daß mit seinem Tode wenn nicht zu diesem Zeitpunkt, so doch wenig später zu rechnen war, und zweitens, daß er durch seine Verurteilung jener unglückseligen Lebensperiode entging, in der bei allen die geistigen Fähigkeiten nachlassen, und er sich statt dessen durch den Beweis seiner Seelenstärke ewigen R u h m gewann, wenn er seinen Prozeß v o r allen Menschen wahr, freimütig und gerecht führte und dann das Todesurteil leicht und männlich auf sich nahm. Denn unbestritten hat noch keiner seit Menschengedenken den T o d würdiger getragen. Er hatte nämlich nach seiner Verurteilung noch dreißig Tage zu leben, weil in diesen Monat die Delien 1 ) fielen und das Gesetz es nicht zuließ, daß jemand hingerichtet wurde, ehe die Festgesandtschaft von Delos zurück war. Während dieser Zeit lebte Sokrates nach dem übereinstimmenden Zeugnis derer, die bei ihm waren, nicht anders als vorher, und er wurde doch v o n jeher allseits wegen seiner fröhlichen, unbeschwerten Lebensführung bell Vgl. 8. 109 Anm. 1. 188

sichern wollte, dann riet ihm Sokrates zur Mantik, und zwar darum, weil derjenige, der die Mittel kenne, durch welche die Götter den Menschen ihren Willen in bestimmten Fragen zu erkennen geben, niemals ohne ihren Beistand sein werde.

ACHTES K A P I T E L

über Sokrates'

Tod

W e i l Sokrates behauptete, sein Daimonion gebe ihm an, 1 was er zu tun und zu lassen habe, er aber trotzdem v o n seinen Richtern z u m Tode verurteilt wurde, könnte vielleicht jemand glauben, damit sei bewiesen, daß Sokrates' Aussagen über das Daimonion falsch gewesen wären. Jedoch bedenke man erstens, daß der Philosoph damals bereits in hohem Alter stand, so daß mit seinem Tode wenn nicht zu diesem Zeitpunkt, so doch wenig später zu rechnen war, und zweitens, daß er durch seine Verurteilung jener unglückseligen Lebensperiode entging, in der bei allen die geistigen Fähigkeiten nachlassen, und er sich statt dessen durch den Beweis seiner Seelenstärke ewigen R u h m gewann, wenn er seinen Prozeß v o r allen Menschen wahr, freimütig und gerecht führte und dann das Todesurteil leicht und männlich auf sich nahm. Denn unbestritten hat noch keiner seit Menschengedenken den T o d würdiger getragen. Er hatte nämlich nach seiner Verurteilung noch dreißig Tage zu leben, weil in diesen Monat die Delien 1 ) fielen und das Gesetz es nicht zuließ, daß jemand hingerichtet wurde, ehe die Festgesandtschaft von Delos zurück war. Während dieser Zeit lebte Sokrates nach dem übereinstimmenden Zeugnis derer, die bei ihm waren, nicht anders als vorher, und er wurde doch v o n jeher allseits wegen seiner fröhlichen, unbeschwerten Lebensführung bell Vgl. 8. 109 Anm. 1. 188

3 wundert. Welcher Tod hätte schöner sein können als der des Sokrates? Könnte jemand ein würdigeres Ende finden, als wer mit solcher Seelengröße stirbt? Welche Art zu sterben verhieße eher die Glückseligkeit als ein Tod von solcher Erhabenheit? Und welches Sterben bewiese mehr die Liebe der 4 Götter als ein Dahingehen in die Glückseligkeit? Ich will noch erzählen, was ich von Hermogenes des Hipponikos Sohn, über Sokrates' letzte Tage hörte: Dieser berichtet, als Meietos 2) bereits seine Anklage eingereicht, habe er, Hermogenes, erfahren, daß Sokrates über alles andere, nur nicht über Rechtsfragen disputierte, und ihm daher gesagt, er müsse an seine Verteidigung denken. Doch das sei Sokrates' Antwort gewesen: „Meinst du, ich habe darin während meines langen Lebens keine Erfahrungen gesammelt?" Als Hermogenes um nähere Auskunft bat, da erklärte ihm Sokrates jenem Bericht zufolge, daß er zu jeder Zeit seine ganze Aufmerksamkeit auf Recht und Unrecht gewandt habe, indem er nämlich das, was recht ist, tat und das Unrecht mied; darin erblicke er die beste Vorübung für seine 5 Verteidigung. Darauf wiederum Hermogenes: „Aber, lieber Sokrates, siehst du denn nicht, daß die Richter in Athen, durch Überredungskünste verführt, schon manchen, der unschuldig war, zum Tode führten und viele andere, "die Unreoht getan hatten, freiließen?" — „Ganz gewiß, bester Hermogenes; doch als ich schon einmal daran dachte, mich um meine Verteidigung zu bekümmern, widersetzte sich das 6 Daimonion." — „Das ist merkwürdig." — „Du wunderst dich, daß es der Gottheit besser dünkt, wenn ich jetzt mein Leben beschließe? Weißt du nicht, daß bis zu dieser Stunde kein Mensch ein so schönes und so angenehmes Leben geführt hat wie ich? Denn das beste Leben führt nach meiner Auffassung der, der nach bestmöglicher Vervollkommnung strebt, das angenehmste, wer es am häufigsten verspüren kann, wie er 1) Vgl. S. 34 Anm. 3.

2) Vgl. S. 170 Anin.'S. 189

dieser Vollkommenheit näher kommt. Nach dem, was ich im 7 Verlaufe meines Lebens an mir selbst erfuhr, und nach dem, was ich im Umgang und im Vergleich mit andern feststellte, bin ich zu solcher Erkenntnis über mich selbst gekommen; doch nicht nur ich selbst, auch meine Freunde sind der gleichen Auffassung über mich, und zwar nicht deshalb, weil sie meine Freunde sind — denn sonst würden auch die, welche mit andern befreundet sind, zum selben Urteil über ihre Freunde gelangen —, sondern darum, weil auch sie der Uberzeugung sind, im Umgang mit mir bessere Menschen geworden zu sein. Würde ich nooh länger leben, so wäre es 8 vielleicht notwendig, dem Alter seinen Tribut zu zahlen, Auge und Ohr könnten sich verschlechtern, mein Denkvermögen nachlassen, ich würde schlecht auffassen und sohneil vergessen und auf Gebieten, auf denen ich früher andere übertraf, unterlegen sein. Wäre mein Leben etwa nicht lebenswert, wenn mir das alles erspart bliebe, oder müßte ich nicht vielmehr, wenn ich es erlebte, elend und freudlos sein? Sterbe ich nun wider das Recht, so ist es eine 9 Schande für die, die mich ungerechtfertigt töteten; denn wenn es Schimpf bringt, jemandem Böses anzutun, so muß es wohl auch schandbar sein, eine Handlung zu Unrecht zu begehen* Doch was schadet es mir, wenn andere über mich nicht recht zu erkennen und recht zu urteilen vermögen? Soweit ich sehe, stehen von den Menschen früherer Genera- 10 tionen bei den Heutigen die, welche Unrecht taten, und die, welche es litten, keineswegs in gleichem Ansehen, und so weiß ich es, daß mein Ruf unter den Menschen, auch wenn ich jetzt sterbe, nicht der gleiche sein wird wie der meiner Mörder. Ich bin gewiß, daß man mir immer bezeugen wird, daß ich nie jemandem etwas zuleide getan oder ihn benachteiligt habe, sondern mein Leben lang bestrebt war, die, die mit mir waren, zu fördern." Das waren Sokrates' Worte zu Hemmogenes und zu den andern. 190

Ii

Unter denen, die Sokrates schätzen lernten, entbehren ihn alle die, denen es um ihr Leben ernst ist, auch heute noch wie sonst nichts auf der Welt, da er ihnen der beste Führer auf dem Wege zu edlem Menschentum war. So steht er vor mir, wie ich es erzählte: So fromm, daß er nichts ohne die Zustimmung der Götter unternahm, so gerecht, daß er niemanden auch nur im geringsten schädigte, wohl aber denen, die mit ihm zusammenkamen, höchsten Nutzen brachte, so beherrscht, daß er niemals der Lust vor der Tugend den Vorzug gab, so klug, daß er in seinem Urteil über Gut und Böse niemals fehlging, daß er fremde Hilfe nicht in Anspruch zu nehmen brauchte, sondern sich auf seine eigenen Kenntnisse verlassen konnte, befähigt, das alles in geschickter Rede auseinanderzusetzen, und in der Lage, auch andere richtig einzuschätzen, sie im Irrtum zu überführen und zu Sittlichkeit und Bildung hinzulenken, wahrlich, der beste und frömmste Mann! Wer das nicht glauben will, der vergleiche andere mit ihm und bilde sich selbst sein Urteil.

191

Weiterführende Literatur Kritische Textausgaben v o n E . C. M a r c h a n t : X e n o p h o n , Opera omnia, B d . 2, Oxford 1900, S. 1 ff., und Carolus H u d e : X e n o phontis Commentarii, E d . maior, Leipzig 1934 (Bibliotheca T e u b neriana). Kommentierte Ausgaben der Memorabilien von L u d w i g Breitenbach, 6. Aufl. v o n Rudolf Mücke, Berlin 1889, und R a p h . Kühner, 6. Aufl. von R u d . Kühner, Leipzig 1902. Kommentare v o n Olof Gigon, K o m m e n t a r z u m ersten B u c h von X e n o p h o n s Memorabilien, B a s e l 1953 (mit Verzeichnis der neueren Xenophon-Literatur; der K o m m e n t a r soll auf die übrigen Bücher ausgedehnt werden), und A. Delatte, L e troisième livre des souvenirs socratiques de X é n o p h o n , Lüttich u. Paris 1933. Klassische Übersetzung ausgewählter Stücke v o n C. M. Wieland, zuletzt gedruckt in den „Klassikern des Altertums", hrsg. v o n Heinrich Conrad, B d . 16: X e n o p h o n , Schriften über Sokrates, München u. Leipzig 1912, S. 1 ff. Zur Sprache und Grammatik vgl. Frid. Guil. Sturzius, L e x i c ó n X e n o p h o n t e u m , 4 B ä n d e , Leipzig 1801, und G u s t a v u s S a u p p e , Lexilogus X e n o p h o n t e u s sive index Xenophontis g r a m m a t i c u s , Leipzig 1869, sowie speziell f ü r die Memorabilien Catharina Maria Gloth u. M a r i a Francisca Kellogg, I n d e x in X e n o p h o n t i s Memorabilia, Ithaca 1900. Eingehende Interpretationen finden sich bei A u g u s t Döring, Die L e h r e des Sokrates als sociales Reformp r o g r a m m , München 1895, Ivo B r u n s , D a s literarische Porträt der Griechen im fünften und vierten J a h r h u n d e r t v o r Christi Geburt, Berlin 1896, S. 361 ff., K a r l J o e l , Der echte u n d der Xenophontische Sokrates, 2 B ä n d e , Berlin 1 8 9 3 - 1 9 0 1 , Werner J a e g e r , Paideia. Die F o r m u n g des griechischen Menschen, B d . 2, Berlin 1944, S. 59 ff. Literatur verzeichnen neben den Fachbibliographien die H a n d bücher v o n Wilhelm v o n Christ, Geschichte der griechischen Literatur, B d . 1, 6. Aufl. v o n Wilhelm Schmid, München 1912, S. 494 ff., u n d Friedrich Überweg, Grundriß der Geschichte der Philosophie des Altertums, 13. Aufl. v o n K a r l Praechter, Tübingen 1953, S. 59 ff. D a s russischsprachige Schrifttum nennt der Artikel KceHOOHT i n : Bojibiiian CoBeTCKa« 9jmnKjione;inH, 2 . Aufl.,. B d . 23, 1953, S. 570 f.

192

Inhaltsverzeichnis Vorwort des Herausgebers

5

Das Leben des Xenophon von Diogenes Laertios

7

Xenophon Erinnerungen an Sokrates

15

E R S T E S BUCH

Erstes Kapitel Xenophon widerlegt die gegen Sokrates vorgebrachte Anklage, er verehre die Götter des athenischen Staates nicht

17

Zweites Kapitel Sokrates verführte die Jugend nicht

22

Drittes Kapitel Von Sokrates' Frömmigkeit und Mäßigkeit

39

Viertes Kapitel Sokrates beweist die Existenz von Göttern

43

Fünftes Kapitel Selbstbeherrschung der Grund aller Tugend

48

Sechstes Kapitel Sokrates verteidigt seine Lebensprinzipien

50

Siebentes Kapitel Sokrates warnt vor der Großmannssucht

54

ZWEITES BUCH

Erstes Kapitel Der Mensch am Scheidewege

59

Zweites Kapitel Sokrates mahnt seinen Sohn zur Achtung vor der Mutter

69

Drittes Kapitel Sokrates mahnt zu brüderlicher Eintracht

74

193

Viertes Kapitel Vom Wert der Freundschaft

78

Fünftes Kapitel Vom Wert der Freunde

80

Sechstes Kapitel über Wahl und Behandlung der Freunde

81

Siebentes Kapitel Sokrates mahnt zu nützlicher Tätigkeit

91

Achtes Kapitel Sokrates fordert Verantwortungsfreudigkeit

95

Neuntes Kapitel • Sokrates lehrt Kriton, sich gegen falsche Ankläger sichern

97

Zehntes Kapitel Sokrates gewinnt Diodor für wahre Freundschaft . . . . Erstes Kapitel

99

DRITTES BUCH

Wer das Amt begehrt, darf die Ausbildung nicht scheuen

103

Zweites Von den Kapitel Pflichten des Feldherrn

106

Drittes Kapitel Was der Reiterführer wissen muß

107

Viertes Kapitel Der gute Haushälter ist auch zum Feldherm geschickt .

110

Fünftes Kapitel Wie die alte Tüchtigkeit wiederhergestellt werden kann .

113

Sechstes Kapitel Kein Amt ohne Vorbereitung

120

Siebentes Kapitel Sokrates mahnt den Befähigten zu politischer Betätigung Achtes Kapitel Vom Guten und Schönen .' Neuntes Kapitel über einige häufige Begriffe 194

124 126 129

Zehntes Kapitel Wesen und Aufgaben der Kunst

133

Elftes Kapitel Wie man treue Freunde gewinnt

137

Zwölftes Kapitel Von der Bedeutung der Leibesübungen

141

Dreizehntes Kapitel Sokratische Dikta

143

Vierzehntes Kapitel Sokrates übt Mäßigkeit bei Tisch

145

V I E R T E S BUCH

Erstes Kapitel Von der Notwendigkeit der Erziehung

151

Zweites Kapitel Erkenne dich selbst!

153

Drittes Kapitel Von der Fürsorge der Götter

165

Viertes Kapitel über die Gerechtigkeit

170

Fünftes Kapitel Sokrates schafft brauchbare Menschen für den Lebenskampf

177

Sechstes Kapitel Beispiele Sokratischer Dialektik

180

Siebentes Kapitel Sokrates belehrt seine Freunde, inwieweit Grundlagen erforderlich sind

theoretische 185

Achtes Kapitel über Sokrates' Tod

188

Weiterführende Literatur

192