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German Pages 275 [276] Year 1993
Materiale Soziologie
TB 3
Charisma
Materiale Soziologie TB 3
Materiale Soziologie stellt Arbeiten vor, in denen konkrete kulturelle Lebensformen dokumentiert und analysiert werden. Soziologie ist hier Wirklichkeitswissenschaft: der untersuchte Einzelfall kommt selbst zur Sprache. Beschreibung, Deutung und Theorie müssen sich am Material bewähren, an der soziologischen Rekonstruktion von Milieus, Stilen, kommunikativen Mustern, Handlungsfiguren und Sinnkonstruktionen des gesellschaftlichen Lebens. Materiale Soziologie vereinigt Perspektiven von Wissens-, Kultur- und Sprachsoziologie einerseits, Kulturanthropologie und Ethnologie andererseits. Die Autoren stützen sich auf Verfahren der Ethnographie, der sozialwissenschaftlichen Hermeneutik und der Gattungsanalyse: kontrollierte Rekonstruktion tritt an die Stelle sonst üblicher Konstruktion und Spekulation. Herausgeber Prof. Dr. Jörg R. Bergmann, Gießen Prof. Dr. Hans-Georg Soeffner, Hagen Prof. Dr. Thomas Luckmann, Konstanz
Charisma Theorie - Religion - Politik
Herausgegeben von
Winfried Gebhardt Arnold Zingerle und Michael N. Ebertz
w DE
G Walter de Gruyter · Berlin · New York 1993
Dr. hábil. Winfried Gebhardt, Lehrstuhl für Allgemeine Soziologie, Universität Bayreuth, Bayreuth Prof. Dr. Arnold Zingerle, Lehrstuhl für Allgemeine Soziologie, Universität Bayreuth, Bayreuth Prof. Dr. Michael N. Ebertz, Katholische Fachhochschule für Sozialarbeit und Religionspädagogik Freiburg, Freiburg i. Br.
® Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt. Die Deutsche Bibliothek — CIP-Einheitsaufnahme
Charisma : Theorie, Religion, Politik / hrsg. von Winfried Gebhardt... - Berlin ; New York : de Gruyter, 1993 (Materiale Soziologie ; TB ; 3) ISBN 3-11-014047-0 NE: Gebhardt, Winfried [Hrsg.]; Materiale Soziologie / TB
© Copyright 1993 by Walter de Gruyter & Co., D-10785 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Druck: Druckerei Gerike GmbH, Berlin. Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer, Berlin. Einbandentwurf: Johannes Rother, Berlin.
Vorwort
"Charisma" ist ein schillernder, ja verführerischer Begriff. Als soziologische Chiffre steht er für etwas, das Constans Seyfarth einmal treffend den "nicht sozialisierbaren Rest des menschlichen Handelns" genannt hat, und verweist deshalb auf soziale Tatbestände, die sich jeder vordergründigen sozialstrukturellen Erklärung entziehen, vielmehr in jenem weiten und diffusen Feld menschlicher Emotionen, Glaubensüberzeugungen und Zukunftshoffnungen angesiedelt sind, das vor allem der kultursoziologischen Analyse zugänglich ist. So ausgestattet mit dem Reiz des A u ßeralltäglichen, des Geheimnisvollen, des Nicht-Jedem-Zugänglichen hat "Charisma" auch immer dann Konjunktur, wenn sich durch den Geltungsverlust bisher fraglos anerkannter Gewißheitsmuster und Ordnungsvorstellungen Unsicherheitspotentiale und Orientierungsnöte auftun. In solchen Lagen wächst die Neigung, das Attribut des Charismatischen vorschnell auf all jene Erscheinungen im Feld des Sozialen anzuwenden, die auch nur im geringsten aus den Rahmen des Üblichen und Gewohnten fallen. So wird heute jedem blondgelockten Jüngling, dem es gelingt, mit Hilfe eines Tennisschlägers eine wohlgefüllte Sporthalle in Entzücken zu versetzen, Charisma attestiert. Neue religiöse Bewegungen treten mit dem Versprechen des "charismatischen Erlebnisses" auf, das durch Methoden der Bewußtseinserweiterung für jede(n) jederzeit abrufbar sein soll. Unternehmensberater unterweisen Politiker und Manager in der Kunst, "Charisma zu entwickeln und zielführend einzusetzen". Selbst Kirchenführer bedienen sich populistischer Inszenierungen zur Steigerung ihres Amtscharisma, um dieses dann bewußt zur Durchsetzung spezifischer Wirklichkeitsauslegungen einzusetzen. Eine solche Inflationierung der Zuschreibung charismatischer Attribute, eine solch artifzielle Konstruktion charismatischen Scheins führt freilich nicht nur zur Verwischung der ursprünglichen Inhalte des Begriffs, sie evoziert auch zunehmend die Frage, ob die "klassische Theorie" des Charisma, wie sie von Max Weber entwickelt wurde, noch ein taugliches Instrument für die Analyse moderner G e sellschaften sein kann. D e r vorliegende Band, dessen Kernbeiträge anläßlich einer Tagung an der Universität Bayreuth entstanden sind, bejaht diese Frage ohne Vorbehalt. Er will zeigen, daß "Charisma" auch heute noch den Rang eines "kardinalen sozialwissenschaftlichen Begriffs" ( Wolfgang Lipp) beanspruchen kann. Wenn man zum einen die partiellen Engführungen seiner ursprünglichen, weitgehend auf Max Weber zurückgehenden Fassung aufhebt, zum anderen aber gerade auf der strikten Beachtung der von Weber vorgegebenen Definitionsmerkmale besteht, ist er nämlich nicht nur in der Lage, historische, aber auch gegenwärtige soziale Tatbestände in ihrer Kulturbedeutung zu erfassen, sondern kann darüber hinaus auch beitragen zu einer Überwindung der unfruchtbaren Polarität system- und handlungstheoretischer Ansätze in den gegenwärtigen Sozialwissenschaften, weil sich in ihm struktu-
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Vorwort
relie und kulturelle Momente des Sozialen bündeln und konkretisieren. Als Ausdruck einer Soziologie, die den subjektiv gemeinten Sinn der Akteure genau so ernst nimmt wie objektive sozialstrukturelle Lagen, ermöglicht die "Theorie des Charisma" das, was schon immer die vornehmste Aufgabe soziologischer Theoriebildung gewesen ist: Anleitung zu sein, um die soziale Wirklichkeit des Menschen denkend zu durchdringen und deutend zu verstehen. Allen Autoren dieses Bandes danken wir für Ihre Mitarbeit. Dank gebührt auch Frau Hannelore Tröger, die für die gewissenhafte Übertragung der Texte Sorge getragen hat. Ganz besonders danken wir Herrn Franz Beitzinger, der mit Geduld und Konsequenz die umfangreichen redaktionellen Aufgaben gemeistert hat. Ein ausgezeichneter Dank gilt den Herren Luckmann, Bergmann und Soeffner, die den vorliegenden Band in die von ihnen herausgegebene Reihe "Materiale Soziologie" aufgenommen haben. Die Drucklegung wurde vom Verlag Walter de Gruyter & Co. verständnisvoll und sorgsamst betreut, wofür auch an dieser Stelle nochmals herzlichst gedankt sein soll.
Bayreuth und Freiburg im Frühjahr 1993 Winfried Gebhardt Arnold Zingerle Michael N. Ebertz
Inhalt
Einleitung - Grundlinien der Entwicklung des CharismaKonzeptes in den Sozialwissenschaften Winfried Gebhardt
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Theorie 1 Charisma - Schuld und Gnade Soziale Konstruktion, Kulturdynamik, Handlungsdrama Wolfgang Lipp
15
2 Charisma, Gemeinde und Bewegung Zwei Paradigmata für den charismatischen Prozeß Luciano Cavalli
33
3 Charisma und Ordnung Formen des institutionalisierten Charisma - Überlegungen in Anschluß an Max Weber Winfried Gebhardt
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Religion 4 Macht aus Ohnmacht Die stigmatischen Züge der charismatischen Bewegung um Jesus von Nazareth Michael Ν. Ebertz
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5 Alltagscharismen Über das Charisma der charismatischen Erneuerungsbewegungen Hanns-Werner Eichelberger
91
6 Charisma und neue Religiosität Eine kultursoziologische Studie am Beispiel der New-Age-Bewegung Gottfried Küenzlen
109
7 Erscheinungsformen von Charisma - Zwei Päpste Jörg R. Bergmann, Hans-Georg Soeffner und Thomas Luckmann
121
Politik 8 Das Charisma der Vernunft Stefan Breuer
159
VIII
Inhalt
9 Verfassung, Präsident und Oberster Gerichtshof Formen des institutionalisierten Charisma in den USA Arthur Schweitzer
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10 Geborgtes Charisma Populistische Inszenierungen Hans-Georg Soeffner
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11 Charisma und Heroismus Die Generation von 1890 und der Begriff des Politischen Georg Kamphausen
221
Ausblick 12 Theoretische Probleme und Perspektiven der Charisma-Forschung Ein kritischer Rückblick Arnold Zingerle
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Die Autoren
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Einleitung: Grundlinien der Entwicklung des Charismakonzeptes in den Sozialwissenschaften Winfried Gebhardt
Kaum ein anderer Begriff Max Webers ist, auch was seine öffentliche Wirksamkeit anbelangt, so erfolgreich gewesen wie der des Charisma - die "Protestantische Ethik" vielleicht ausgenommen. Sucht man nach Erklärungen für diesen Erfolg, der offensichtlich nicht allein der wissenschaftlichen Fruchtbarkeit des Begriffs zuzuschreiben ist, so stößt man schnell auf die nicht zuletzt auch emotionale Faszination und bildliche Kraft des Konzeptes, das in der Lage zu sein scheint, ein wohl universales, die Menschen schon immer in den Bann ziehendes Herrschaftsphänomen, nämlich dasjenige des "großen Menschen", dem es gelingt, im Namen einer Idee oder nur kraft seiner Persönlichkeit, eine ihm ergebene Anhängerschaft zu mobiliseren und mit ihr Altes zu überwinden und Neues zu gestalten, zu fassen und zu beschreiben. Diese Plausibilität und Anschauungskraft des Charisma-Konzepts, die es so leicht macht, es sofort auf gewisse - in irgendeinem Sinn herausragende - "Persönlichkeiten" zu übertragen, verführt allerdings auch schnell dazu, seine Tiefenschärfe und vor allem seine theoretische Tragweite zu unterschätzen. Es liegt in ihm - jedenfalls in der Gestalt, die ihm von Max Weber gegeben wurde - mehr als eine Theorie des politischen Führertums, auf die es in der Vergangenheit oftmals reduziert wurde. Arnold Zingerle1 hat in seiner 1981 erschienen Wirkungsgeschichte der materialen Soziologie Max Webers diese Stereotypie der Rezeption, die das ursprünglich theoretisch sehr anspruchsvolle Charisma-Konzept in zweifacher Weise verkürzt hat, hinreichend nachgewiesen und aus der besonderen Lage der - vor allem amerikanischen - Soziologie der 50er und 60er Jahre erklärt. Die eine Verkürzung liegt für ihn darin, daß derjenige Teil des Charisma-Konzeptes, dem Weber selbst - allein der Umfang der in Frage kommenden Textteile in "Wirtschaft und Gesellschaft" zeigt dies - die größere Aufmerksamkeit geschenkt hat, nämlich die Veralltäglichungs- und Institutionalisierungsprozesse, die das Charisma durchläuft, nur bedingt in die sozialwissenschaftliche Forschung eingegangen ist. Die andere Verkürzung besteht für Zingerle darin, daß das Charisma-Konzept, ganz anders als bei Weber selbst, fast ausschließlich auf Herrschaftsphänomene im Bereich des politischen Handelns angewandt wurde, charismatische Erscheinungsformen in Religionsgemeinschaften oder in religiösen Bewegungen dagegen weitgehend außer Acht gelassen wurden, was folgerichtig dazu geführt hat, daß die von Weber zwar nicht systematisch, wohl aber faktisch - vor allem im religionssoziologischen Teil von "Wirtschaft und Gesellschaft" - getroffene Unterscheidung von Charisma, das Personen, und Charisma, das Dingen oder vorgestellten Gegenständen bis hin zu Ideen zugesprochen wird, nur selten aufgegriffen wurde.2
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Obwohl seit dem Erscheinen der Zingerleschen Wirkungsgeschichte die Zahl der sozialwissenschaftlichen Untersuchungen zur Charisma-Problematik weiter angestiegen ist, hat dieses Urteil auch heute noch weitgehend Gültigkeit: Der weitaus größte Teil der seit 1980 erschienenen Literatur beschäftigte sich - zumeist in Fallstudien - mit der Person des charismatischen Führers. Zwar ist zu beobachten, daß das Charisma-Konzept zunehmend auch auf religiöse Bewegungen angewandt wird, insbesondere auf die seit den 60er-Jahren sich entwickelnden "neuen religiösen Bewegungen und Sekten", doch wird auch hier der Begriff des Charisma, wenn nicht sogar nur als schmückendes Attribut, weitgehend für die Analyse der Bedeutung und Funktion des Gründers oder Stifters der betreffenden Bewegung oder Sekte gebraucht.3 Freilich ist nicht zu übersehen, daß mit der Ausweitung des Charisma-Konzepts auf die Sphäre des religiösen Handelns auch entscheidende Fortschritte in der Weiterentwicklung des Weberschen Charisma-Konzeptes verbunden sind, die sich insbesondere in einer theoretischen wie empirischen Vertiefung der makro- und mikrosoziologischen Voraussetzungen und Bedingungen der Entstehung charismatischer Beziehungen und der Erforschung der spezifischen Interaktionsstrukturen zwischen dem charismatischen Führer und seiner Gefolgschaft mit Hilfe neuerer handlungstheoretischer Ansätze niederschlagen. Im einzelnen lassen sich vier Themenschwerpunkte benennen, in denen sich die Interessen der sozialwissenschaftlichen Charisma-Forschung konzentrieren4: 1. Die Vielschichtigkeit und Komplexität des Weberschen Charisma-Konzeptes führt immer wieder zu Versuchen, die ursprüngliche Webersche Begrifflichkeit typologisch zu präzisieren und zu erweitern. Allerdings ist festzustellen, daß viele dieser Versuche den bereits bei Weber erreichten Erkenntnisstand nur bedingt übersteigen, sich vielmehr oftmals in der Paraphrasierung Webers erschöpfen.5 Eine über Weber hinaus weisende Differenzierung ist in den Arbeiten Arthur Schweitzers zu finden6, der vorschlägt, explizit zwischen "value-charisma", das auf einem Kanon explizit herausgearbeiteter religiöser, ideologischer oder politischer Werte beruht, und "faith-charisma", das, relativ frei von ethischen Inhalten, von der Kraft und Ausstrahlung einer Person abhängt, zu unterscheiden.7 2. Größere Aufmerksamkeit wird in der Literatur auch dem Verhältnis von Führer und Anhängerschaft gewidmet, insbesondere in der Phase der Entstehung einer charismatischen Beziehung. Hier dokumentiert sich eine deutliche Verschiebung des sozialwissenschaftlichen Interesses von der Person des charismatischen Führers auf die Struktur und Kultur charismatischer Bewegungen und Gemeinschaften, auf die interaktionstheoretischen Bedingungen und Abläufe und auf die Bedeutung der mit der charismatischen Bewegung verbundenen Ideen und Botschaften.8 Besondere Aufmerksamkeit verdient dabei der von Wolfgang Lipp entwickelte devianz-soziologische Ansatz, der in der Verbindung von Stigma und Charisma die Ursprungszusammenhänge charismatischer Beziehungen in einem neuen Licht erscheinen läßt.9 3. Die bereits genannte Verschiebung des Interesses von der Person des charismatischen Führers auf die Struktur charismatischer Bewegungen zeigt sich
Einleitung
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ebenfalls in zunehmenden Bemühungen, eine begrifflich-analytische Differenzierung des Veralltäglichungsprozesses genuin charismatischer Beziehungen vorzunehmen, wobei der Schwerpunkt des Interesses auf dem Problem der Sukzession, d.h. der institutionellen Regelung der Nachfolge des charismatischen Führers, liegt.10 Studien, die sich darüber hinaus Aspekten des Veralltäglichungsprozesses des genuinen Charisma in den bereits von Weber genannten Formen des Amtsund Gentilcharisma widmen, die also direkt oder indirekt an die von Edward Shils und Shmuel N. Eisenstadt in den 60er Jahren geführte und von Dirk Käsler nach Deutschland übertragene Debatte über die Notwendigkeit des Einbaus des Charisma in gesellschaftliche Strukturen und Institutionen anschließen, treten dagegen deutlich zurück.11 Hinzuweisen ist hier auf die Arbeiten Francesco Alberonis, der nicht nur die institutionalisierten (Alltags-) Formen des Charisma in ihrer gesellschaftlichen Funktion beleuchtet, sondern darüber hinaus versucht, das grundsätzlich dialektische Verhältnis von Charisma und Institution für eine Theorie des sozialen Wandels fruchtbar zu machen.12 4. Zunehmendes Interesse findet schließlich die Frage nach dem Schicksal und den Ausformungen des Charisma in der modernen Gesellschaft. Neben zahlreichen Fallstudien, die aktuelle charismatische (insbesondere sich in der sogenannten Dritten Welt entwickelnde) politische und religiöse Bewegungen13 mit Hilfe der Weberschen Begriffe analysieren, beschäftigen sich viele Studien mit dem Problem des "künstlichen", durch die neuen Medien erzeugten oder verstärkten Charisma. In den modernen Massendemokratien hat nicht zuletzt die von den Sozialwissenschaften geförderte Einsicht in die gesellschaftliche Wirkungskraft des Charisma zu einer zunehmenden Instrumentalisierung desselben geführt, zu planvoll gestalteten Versuchen, bestimmte Personen mit einem "charismatischen Image" auszustatten oder bereits vorhandene charismatische Zuschreibungseffekte mit Hilfe der Medien zu verstärken, um eine größere Anhängerschaft zu rekrutieren, zu begeistern und in Wahlen zu lenken. Die Folgen einer solchen Entwicklung finden unter Sozialwissenschaftlern immer größeres Interesse, wobei insbesondere die Person des jetzigen Papstes, Johannes Paul II., und dessen Bereitschaft, sich der Möglichkeiten der modernen Massenmedien zu bedienen, eine gewisse Faszination auszuüben scheint.14 Während also die meisten Arbeiten weiterhin das "reine Charisma" als spezifisch "außeralltägliche" Herrschaftsform in seiner Binnenstruktur thematisieren und damit die eingefahrenen Gleise der Rezeption nicht verlassen, versuchen einige neuere Ansätze, die oben genannten Verkürzungen aufzuheben und die Tiefe und Multidimensionalität des Weberschen Charisma-Konzeptes wieder aufzudekken, so daß es für gegenwärtige theoretische und empirische Problemstellungen in den Sozialwissenschaften genutzt werden kann. Diese Arbeiten stammen zum Großteil aus der Feder anerkannter Weber-Spezialisten und müssen im Kontext der sich in den Sozialwissenschaften etwa seit Mitte der 70er Jahre vollziehenden Weber-Renaissance gesehen werden. Sie hat nicht nur zu einer umfassenden Würdigung des Weberschen Gesamtwerkes geführt, sondern auch den Anspruch erho-
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ben, die Einheit dieses riesigen Oeuvres zu erweisen, also die leitende, alle einzelnen Teile integrierende Fragestellung, d.h. den Schlüssel zum Werk zu finden. Im Fortschreiten dieser Weber-Renaissance wurde dann auch schnell deutlich, daß das Charisma-Konzept nicht ein Thema unter anderen im Werk Max Webers darstellt. Im Gegenteil, es wurde immer klarer, daß Weber selbst Begriff und Theorie des Charisma nicht auf eine Theorie des charismatischen Führertums beschränkt wissen wollte, sondern in ihm ein grundlegendes, alles menschliche Handeln durchziehendes soziales Grundmuster gesehen hat, das im dauernden Wechselspiel mit dem ihm entgegengesetzten Moment des Alltags das soziale Fundament menschlicher Lebensführung, gesellschaftlicher Ordnung und sozio-kulturellen Wandels bildet. Diese neue Perspektive eröffnet zu haben ist vor allem ein Verdienst der Arbeiten Friedrich Tenbrucks, Constans Seyfarths, Günther Roths, Stefan Breuers und - nicht zuletzt - Wolfgang Schluchters. Ihnen gemeinsam ist der Anspruch, im Konzept des Charisma und seines Komplementärbegriffs, des Alltags, einen Schlüssel zum Verständnis des Weberschen Werkes gefunden zu haben; sie differieren allerdings in der Frage, in welche Tür dieser Schlüssel nun paßt. So hat Friedrich Tenbruck bereits 1975 in seinem Aufsatz "Das Werk Max Webers" 15 das Konzept des Charisma von seiner Fixierung auf die Theorie charismatischen Führertums im besonderen und der politischen Soziologie im allgemeinen gelöst, um es zu einem Grundbestandteil einer anthropologischen Theorie zu erklären, die der gesamten Weberschen Soziologie, zumindest aber seiner in den "Soziologischen Grundbegriffen" entwickelten Handlungstheorie zugrundeliegen soll. Für Tenbruck fußt Webers Verständnis des menschlichen Handelns und der sich daraus entwickelnden sozialen Ordnungen auf einer anthropologischen Dauerproblematik. Diese besteht in der dauernden Erfahrung der sich aus der nur unzureichenden Erfolgssicherheit des menschlichen Handelns ergebenden, spezifischen "Sinnlosigkeit der Welt", die insbesondere in der Form persönlichen Leids, der Minderbefriedigung materieller Bedürfnisse und sozialer Ungerechtigkeit erfahren wird. Diese prinzipielle Sinnlosigkeit der Welt zu überwinden, sucht der Mensch in außeralltäglichen, charismatischen Erlebnissen, in denen er magische Kraft über die Umwelt erlangt und dadurch Träger von Charisma wird. Die Suche nach Charisma ist für Weber, so jedenfalls Tenbruck, eine anthropologische Konstante, weil sie durch die Vorgabe von Sinn Erlösung aus einer grundsätzlichen Handlungsunsicherheit verspricht. Damit aber nicht genug: Aus dieser anthropologischen Universalie entwickelt sich nun eine innere Dynamik, weil jede konkrete charismatische Lösung partiell unbefriedigend bleibt, jede charismatische Erklärung oder Technik über sich hinausdrängt, solange nicht, wie z.B. in den großen Weltreligionen, eine einheitliche und zusammenhängende Erklärung des Sinnlosen in der Welt gefunden, Charisma also erfolgreich in Weltbildern institutionalisiert ist. Das Charisma unterliegt deshalb zwingend einem Prozeß der Rationalisierung, es fließt ein in die - von Intellektuellen getragene - Bildung von systematisierenden Weltbildern, die eine umfassende Erklärung der Sinnlosigkeit der
Hinleitung
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Welt und damit eine spezifische Form der Vereinheitlichung des Handelns vorgeben, und wird so in veralltäglichter Form zu einem Fundament aller historischen Lebens- und Gesellschaftsformen. Ähnlich argumentiert Constans Seyfarth16, allerdings ohne soweit zu gehen, im Werk Max Webers eine anthropologische Theorie finden zu wollen. Aber auch Seyfarth sieht die Charisma-Thematik aufs engste verknüpft mit den theoretischen Grundlagen der Weberschen Soziologie. Auch für ihn dient der Idealtypus des Charisma nicht allein der Analyse charismatischer Bewegungen, sondern ist im wesentlichen für den Zweck komponiert, "die innere Logik und Dynamik von historischen Lebensformen zu rekonstruieren".17 Seyfarth weist eindringlich darauf hin, daß das Charisma in unterschiedlichsten Formen, z.B. als Amts- oder Gentilcharisma, in den menschlichen und gesellschaftlichen Alltag eingebaut ist, daß dieser geradezu nur als Synthese aus Außeralltäglichkeit und Alltäglichkeit zu begreifen ist. Soziale Ordnungen, so resümiert er, sind ohne die Einwirkung außeralltäglicher Ideen nicht denkbar, weil das Alltagshandeln sich nicht aus sich selbst heraus trägt und diszipliniert.18 Aus diesem Grund hat das Charisma als gestaltende Kraft auch in der modernen Gesellschaft noch seinen Platz: In der spezifisch modernen Form des Charisma der Vernunft ist es in den Alltag des modernen Menschen eingegangen. In die politischen Institutionen des modernen Staates eingebunden, durch Intellektuelle stetig rationalisiert, durch Symbole, Dogmen und Rituale überhöht, prägt es als spezifisch moderner Glaube an Individualität, Freiheit, Rationalität und Wissenschaft unsere moderne Lebenswelt.19 Diese spezifisch moderne Form des Charisma, die nicht mehr ausschließlich an auserwählte Personen, sondern an "unpersönliche" Ideen gebunden ist, und die deshalb in der bisherigen Rezeption des Weberschen Charisma-Konzeptes fast vollständig übersehen wurde, hat Günther Roth eingehend analysiert. Aufbauend auf der systematischen Erkenntnis, daß die Webersche Theorie des Charisma eine entwicklungsgeschichtliche Dimension besitzt, weist er überzeugend nach20, daß das Charisma der Vernunft als revolutionäre Legitimationsstrategie auf naturrechtlicher Basis entscheidend die Ausbildung moderner demokratischer politischer Systeme vorangetrieben hat. Ergänzend zeigt er, daß, weil das Charisma der Vernunft primär mit Ideen und nur bedingt mit Personen verknüpft ist, in der Moderne eine charismatisch qualifizierte Sozialform in den Vordergrund tritt, die zwar in der Geschichte schon immer vorhanden, aber zumeist von der Person des charismatischen Führers überdeckt wurde: die charismatische Gemeinschaft ideologischer Virtuosen, die als elitäre Gruppe eine auf dem Wert und der Bedeutung der durch sie vertretenen Ideen gründende Eigenlegitimation beansprucht und sich als Vorkämpfer oder Avantgarde der "Vernunft" betrachtet. Die umfassendste, mit systematischem Anspruch auftretende Interpretation des Weberschen Charisma-Konzeptes hat Wolfgang Schluchter vorgelegt. Aufbauend auf Vorarbeiten von Edward Shils, Shmuel N. Eisenstadt, Reinhard Bendix und Günther Roth21, entwirft er eine über Weber hinausführende, universale Theorie des Charisma, deren zentraler Bestandteil die bei Weber zwar schon vorhandene,
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begrifflich aber nicht eindeutig vollzogene Trennung von zwei unterschiedlichen, je eigenständigen Bedeutungsebenen des Charisma-Konzeptes ist. Bereits in den entsprechenden Kapiteln seines 1979 erschienenen Buches "Die Entwicklung des okzidentalen Rationalismus"22 weist er nicht nur nach, daß der theoretische Schwerpunkt des Charisma-Konzeptes von Weber auf den Veralltäglichungsprozeß des "reinen Charisma" gelegt wurde, sondern zeigt darüber hinaus, daß dieser Idee eine doppelte - sozusagen strukturelle und entwicklungsgeschichtliche - Bedeutung innewohnt. Dementsprechend schlägt er vor, diese beiden Komponenten auch begrifflich zu scheiden und aufzulösen in die Prozesse der Veralltäglichung und der Versachlichung des Charisma. Veralltäglichung des Charisma meint dann jenen Sachverhalt, daß alle charismatischen Bewegungen und Erscheinungen dazu tendieren, sich aus strukturellen Gründen zu rationalisieren und zu traditionalisieren. Versachlichung des Charisma meint hingegen keine strukturelle, universale Größe, sondern eine konkrete, historische Entwicklung. Im Rahmen des die europäische Geschichte durchziehenden Rationalisierungsprozesses wandelt sich auch die Form und der Inhalt des Außeralltäglichen. Versachlichung des Charisma bedeutet dann, daß sich der Charakter der charismatischen Sendung "in entwicklungsgeschichtlicher Weise verändert, daß aus der magisch bedingten die religiös bedingte und schließlich die durch die Vernunft bedingte Sendung wird".23 Im Zuge dieser Wandlung gewinnt das Charisma an Abstraktheit und Universalität, bis es in der charismatischen Verklärung der Vernunft, d.h. der Verklärung des vernünftigen, vernunftbegabten Subjekts, die logisch letzte Form erreicht. Diese Anregung Schluchters hat dann Stefan Breuer leicht modifiziert aufgenommen und die "Entwicklungsgeschichte des Charisma" historisch entfaltet.24 In zwei weiteren Arbeiten hat sich Schluchter ausführlich mit der strukturellen Bedeutungsebene des Charisma-Konzeptes auseinandergesetzt. In der Einleitung zu dem von ihm 1984 herausgegebenen Sammelband "Max Webers Sicht des antiken Christentums"25 hat er am Beispiel der Entstehung der frühchristlichen Kirche die unterschiedlichen Stadien des Veralltäglichungsprozesses einer charismatischen Bewegung nachgezeichnet, wobei er in Anschluß an Günther Roth 26 ebenfalls die zentrale Bedeutung charismatischer Vergemeinschaftungsformen im Prozeß der erfolgreichen Institutionalisierung, des gelungenen Einbaus des Charisma in gesellschaftliche Institutionen, betonte. Diese am Beispiel des antiken Christentums gewonnenen Einsichten hat er in dem 1988 erschienen Aufsatz "Umbildung des Charismas. Überlegungen zur Herrschaftssoziologie"27 wieder aufgegriffen, verallgemeinert, systematisiert und begrifflich und typologisch fixiert. Hier trennt er scharf zwischen zwei unterschiedlichen Wegen zur Stabilisierung des genuinen Charisma; einerseits zwischen der Traditionalisierung und Legalisierung des Charisma, die das ursprüngliche Charisma zerstört, beziehungsweise es in einer Art tolerierter Sonderexistenz an den Rand der Gesellschaft drängt, und andererseits der Versachlichung und Entpersönlichung des Charisma, bei der die ursprüngliche charismatische Sendung in veralltäglichter und erfolgreich institutionalisierter Form erhalten bleibt. "Die Umbildung des genuinen Charisma kann entweder in
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alltägliche oder außeralltägliche Dauergebilde bzw. strukturell stabile Gebilde einmünden: in traditionale oder legale Dauergebilde einerseits, in personal-charismatische und institutionencharismatische Dauergebilde andererseits"28. Diese Differenzierung ist für Schluchter freilich kein Selbstzweck, sie dient ihm als systematische Grundlage für eine erweiterte Typologie der Herrschaftsformen, von der erwartet werden kann, daß sie mit vielen Mißverständnissen aufräumt, die Webers ursprüngliche Typologie der Formen der legitimen Herrschaft immer wieder verursacht hat. Alle hier genannten Arbeiten können als erfolgreiche, wenn auch in Einzelheiten diskussionswürdige Versuche angesehen werden, die Komplexität und Multidimensionalität des Weberschen Charisma-Konzeptes zu rekonstruieren und für die aktuelle sozialwissenschaftliche Forschung wieder fruchtbar zu machen. Es ist insbesondere zu erwarten, daß die Differenzierungen Wolfgang Schluchters ebenso wie die Ausführungen Seyfarths und Roths über die Bedeutung des Charisma der Vernunft zu neuen Fragestellungen und Einsichten bei der Analyse charismatischer Bewegungen führen werden. Darüber hinaus eröffnen diese Arbeiten neue interessante Perspektiven für weitere Forschungen. In Anschluß an Seyfarth wäre insbesondere die Bedeutung des Charisma-Konzeptes für die handlungstheoretische Grundlegungen der Weberschen Konzeption von Soziologie eingehend zu erörtern. Und in Anschluß an Schluchters differenzierende Betrachtungen über die Veralltäglichungsformen des Charisma steht noch eine ausführliche Erörterung der Frage an, in welchen Formen der Bewahrung, mit Hilfe welcher Strategien und mit welchen Konsequenzen für soziale Ordnungen und individuelle Handlungsfähigkeiten sich der Einbau des Charisma in den gesellschaftlichen Alltag vollzieht. Der vorliegende Sammelband versucht, seinen Teil zu dieser Aufgabe beizusteuern. Der erste Abschnitt des Bandes umfaßt drei Beiträge, die der theoretischen Weiterführung und Explikation des Weberschen Charisma-Konzeptes gewidmet sind, also Aspekte aufgreifen und vertiefen, die Weber selbst nicht beachtet oder nur im Vorbeigehen gestreift hat. Wolfgang Lipp erörtert die von Weber nur am Rande behandelte Frage nach den Entstehungsvoraussetzungen und Entstehungsbedingungen von Charisma. Er beschreibt und analysiert unterschiedliche Werdenszusammenhänge charismatischer Beziehungen mit dem Ziel, eine "generative Theorie des Charisma" zu entwickeln, in deren Mittelpunkt Prozesse der Selbststigmatisierung durch bewußte und direkte Übernahme von Schuld stehen. Luciano Cavalli versucht zum einen, eine konzise Begriffsbestimmung der bei Weber ineinanderfließenden Begriffe "charismatische Bewegung" und "charismatische Gemeinde" zu leisten sowie diese zum Phänomen einer "charismatischen Aristokratie" in Beziehung zu setzen, zum anderen die Funktion und Bedeutung von - in der Moderne vermehrt auftretenden - charismatischen Bewegungen herauszuarbeiten, die ohne die direkte körperliche Anwesenheit eines charismatischen Führers existieren. Winfried Gebhardt geht es um die systematische Darstellung der bei Weber zwar thematisierten, aber begrifflich nicht eindeutig getrennten Pro-
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zesse der Veralltäglichung, der Versachlichung und der Institutionalisierung des Charisma, an deren Ende eine Typologie der Formen des institutionalisierten Charisma steht, die über die von Weber selbst genannten Formen des Gentil- und Amtscharisma hinausführt. Im zweiten Teil des Bandes steht die Anwendung des so erweiterten CharismaKonzeptes auf historische und gegenwärtige religiöse Bewegungen und Gruppen im Mittelpunkt der Betrachtung. Michael N. Ebertz bricht mit Hilfe des Begriffs der charismatischen Bewegung die dogmatisch abgesicherte, kirchlich-theologische Interpretation der Person Jesu Christi auf, um so das ursprüngliche religiöse Phänomen sichtbar zu machen und auf die gesellschaftlichen Kommunikations- und Handlungszusammenhänge zu beziehen, in die es historisch eingebettet ist. Gottfried Küenzlen stellt die Frage, ob es sich bei den unter der Bezeichnung "New Age" firmierenden "neuen religiösen Gruppen" um "charismatische Bewegungen" handelt. Er kann zeigen, daß sich zwar im Selbstanspruch und in der Selbstdeutung des "New Age" vielfältige Merkmale von Charisma finden lassen, daß diese sich allerdings bei einer objektivierten, kritischen Außenbetrachtung sofort wieder auflösen. Die New Age-Bewegung hat nichts Revolutionäres an sich, schafft sich keine bedingungslose Gefolgschaften, sondern verbleibt in ihren Sinnangeboten wie in ihren Organisationsstrukturen den Traditionen der von ihr attackierten Moderne verhaftet. Werner Eichelberger nutzt die Differenz des soziologischen und des theologischen Charisma-Verständnisses, um am Beispiel der charismatischen Gemeindeerneuerungsbewegungen der Frage nachzugehen, welche Funktion und Bedeutung dem Charisma beziehungsweise der Erfahrung von Charisma auch heute noch in der kirchlichen Szene zukommt. Jörg R. Bergmann, Thomas Luckmann und Hans-Georg Soeffner untersuchen am Beispiel der beiden Päpste Johannes XXIII. und Johannes Paul II. den unterschiedlichen Umgang mit dem ihnen anvertrauten Amtscharisma. Anhand der Analyse filmisch dokumentierter, öffentlicher Auftritte der beiden Päpste weisen sie nicht nur auf das dem Amt notwendig immanente Spannungsverhältnis von Amts- und Personalcharisma hin, sondern zeigen zudem, wie sich mit dem Aufkommen moderner massenmedialer Kommunikationstechniken der Umgang mit dem Charisma des Amtes trivialisiert. Den Schwerpunkt des dritten Abschnittes bildet die Anwendung des erweiterten Charisma-Konzeptes im Bereich des Politischen. Stefan Breuer gelingt es, den Sinn- und Bedeutungsgehalt des bei Weber nur kurz erwähnten "Charisma der Vernunft" zu identifizieren und historisch-soziologisch zu verorten. Ausgehend von der Frage, warum das "Charisma der Vernunft" in der Französischen und nicht in der ähnlich gearteten Amerikanischen Revolution entstanden ist, entwickelt er die These, daß das "Charisma der Vernunft" als besondere Modernisierungs- und Rationalisierungstriebkraft nur in sogenannten "Late-comer" Staaten anzutreffen ist. Nicht zuletzt deshalb ist das "Charisma der Vernunft" nicht ausschließlich ein historisches Phänomen, sondern auch heute noch in Staaten anzutreffen, die Prozesse nachholender Modernisierung forcieren. Arthur Schweitzer versucht nachzuweisen, daß das politische Leben Amerikas zwar nicht durch ein spezifisches Cha-
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risma der Vernunft geprägt ist, daß es aber in vielfältigster Weise von anderen charismatischen Elementen durchzogen wird. Nicht nur ist es aufgrund seiner personenzentrierten politischen Struktur anfällig für das Auftreten "charismatischer Führer", es ist zudem gekennzeichnet durch die charismatische Verklärung seiner politischen Institutionen, allen voran des Präsidentenamtes, des Obersten Gerichtshofes und der Verfassung selbst. Hans-Georg Soeffner lenkt den Blick auf die grundsätzliche Differenz, die zwischen Charisma und Populismus besteht. Mittels der Analyse öffentlicher Auftritte zeitgenössischer Politiker zeigt er, daß Charisma und Populismus zwar denselben Quellen, nämlich der Erfahrung von Unsicherheit und Krise, entstammen, daß sie aber von so unterschiedlicher Wirkung sind, daß von einer strukturellen Unvereinbarkeit gesprochen werden kann: Während der Charismatiker strukturverändernd wirken will, orientiert sich der Populist am Bestehenden, das er lediglich mit dem Reiz des Außergewöhnlichen zu garnieren versucht. Eine gewisse Sonderstellung nimmt der Beitrag von Georg Kamphausen ein. Sein primär wissenschaftsgeschichtlich orientierter Beitrag will die besonderen geistespolitischen Entstehungsbedingungen beleuchten, innerhalb derer sich ein Begriff wie Charisma entfalten konnte, will jene leitenden Motive beschreiben, die dem Begriff seinerzeit zur Plausibilität verhalfen. Indem er Weber und seine politische Philosophie einer spezifischen Generation zurechnet und zu Autoren wie Georges Sorel, Gaetano Mosca, Robert Michels und Carl Schmitt in Beziehung setzt, möchte er zeigen, daß Webers Charisma-Begriff, jedenfalls dort, wo er ihn zur Beschreibung und Analyse aktueller politischer Lagen einsetzt, wie bei der Konzeption seiner "plebiszitären Führerdemokratie", dem Denken seiner Zeit und seiner Generation verhaftet ist. Angesichts veränderter politischer Realitäten stellt sich für Kamphausen deshalb die Frage, ob dieser Begriff - jedenfalls im Bereich des Politischen - heute überhaupt noch sinnvoll genutzt werden kann. Abgerundet wird der Band durch einen summierenden Ausblick, in dem Arnold Zingerle nicht nur versucht, die einzelne Beiträge in einen Zusammenhang zu stellen, sondern sie zudem auf ihre Anschlußfähigkeit überprüft.
Anmerkungen 1 2
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Zingerle, Α.: Max Webers historische Soziologie, Darmstadt 1981, S.130ff. Zu einem ähnlichen Urteil gelangen Roth,G.: Politische Herrschaft und persönliche Freiheit. Heidelberger Max Weber-Vorlesungen 1983, Frankfurt/M. 1987; und Schluchter,W.: "Umbildung des Charismas. Überlegungen zur Herrschaftssoziologie", in: ders.: Religion und Lebensführung. Studien zu Max Webers Religions- und Herrschaftssoziologie, 2 Bde., Bd.2, Frankfurt/M. 1988, S.535-554. Die Entstehung der sogenannten "Neuen Religösen Bewegungen" in den USA und Teilen Westeuropas hat zu zahlreichen religionssoziologischen Studien Anlaß gegeben. Viele dieser Arbeiten benutzen den Begriff des Charisma aber nur als schmückendes Attribut zur Benennung des Phänomens oder im Zusammenhang mit den sich selbst als "charismatisch" bezeichnenden Gemeindeerneuerungsbewegungen beider christlicher Konfessionen (vgl. u.a. McGuire,M.B.: Pentecostal Catholics. Power, Charisma, and Order in a Religious Movement, Philadelphia 1982; Bord, R J./Faulkner,J.E.: The Catholic Charismatics. The Anatomy of a Modern Religious Movement,
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Winfried Gebhardt
Pennsylvania State University Press 1983; Lindberg,C.: The 3rd Reformation? Charismatic Movements and the Lutheran Tradition, Macon 1983; Martin,D./Mullen,P.(Hrsg.): Strange Gifts? A Guide to Charismatic Renewal, Oxford 1984; Lewis,M.: Religion in Context. Cults and Charisma, New York 1986, Aronica,M.T.: Beyond Charismatic Leadership. The New York Catholic Worker Movement, New Brunswick 1987; Neitz, M. J.: Charisma and Community. A Study of Religious Commitment within the Charismatic Renewal, New Brunswick 1987; Robbins,^: Cults, Converts and Charisma. The Sociology of New Religious Movements, London 1988; Smidt,C.: "Praise the Lord Politics. A Comparative Analysis of the Social Characteristics and Political Views of American Evangelical and Charismatic Christians", in: Sociological Analysis 50/1989, S.53-72). - Arbeiten, die die analytische Kraft des Weberschen Konzepts nutzen sind eher in der Minderzahl (vgl. Zablocki,B.: The Joyful Community. An Account of the Bruderhof A Communal Movement now in its Third Generation, London/Chicago 1971; ders.: Alienation and Charisma. A Study of Contemporary American Communes, London/New York 1980; Theobald,R.: "The Role of Charisma in the Development of Social Movements", in: Archives des Sciences Sociales des Religions 49/1980, S.83-100; Leger,D.: "Charisma, Utopia and Communal Life. The Case of Neo-rural Apocalyptic Communes in France", in: Social Compass 29/1982, S.41-58; Wallis,R.(Hrsg.): Millenialism and Charisma, Belfast 1982; Williamson,E.: "The Notion of Charisma in Religious Life", in: Studia Canonica 19/1985, S.99ff.; Jacobs,J.: "Deconversion from Religious Movements. An Analysis of Charismatic Bonding and Spiritual Commitment", in: Journal for the Scientific Study of Religion 26/1987, S.294-308; Palmer,S.J.: "Charisma and Abdication. A Study of the Leadership of Bhagwan Shree Raineesh", in: Sociological Analysis 49/1988, S.119-135; Fitcher,J.H.: "Charisma and Community. A Study of Religious Commitment", in: American Journal of Sociology 94/1989, S.942-944). - Auch in der Theologie (insbesondere in der ev. Theologie) sind die Entstehung der "Neuen Religiösen Bewegungen", noch mehr allerdings die Entwicklung der sogenannten charismatischen Gemeindeerneuerungsbewegungen, der Anlaß für eine erneute Diskussion des Verhältnisses von Geistkirche und Amtskirche, von Charisma und Institution, gewesen. Das Webersche Charisma-Konzept ist innerhalb dieser theologischen Diskussion allerdings nur von randständiger Bedeutung (vgl. Rendtdorff,T.[Hrsg.]: Charisma und Institution, Gütersloh 1985; Evangelische Theologie 49/1989, Sonderheft: Charisma und Institution). Zur theologischen Semantik des Charisma-Begriffs vgl. Baumert,N.: "Das Fremdwort 'Charisma' in der westlichen Theologie", in: Theologie und Philosophie 65/1990, S.395-415; ders.: "'Charisma' - Versuch einer Sprachregelung", in: Theologie und Philosophie 66/1991, S.21-48. 4
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Eine ausführliche Rezeptionsgeschichte des Charisma-Konzepts, zugeschnitten auf explizit religionsgeschichtliche und religionssoziologische Fragestellungen findet sich bei Ebertz,M.N.: Das Charisma des Gekreuzigten. Zur Soziologie der Jesusbewegung, Tübingen 1987, S.29ff. Einen qualitativ hochstehenden, zusammenfassenden Überblick über den gegenwärtigen Forschungsstand gibt der von R.Glassman und W.Swatos herausgegebene Sammelband "Charisma. History and Social Structure", Westport 1986, der neben "klassischen Arbeiten" zur CharismaThematik eine Reihe neuer, richtungsweisender Arbeiten vorstellt. Vgl. Camic,C.: "Charisma: Its Varieties, Preconditions, and Consequences", in: Sociological Inquiry 50/1980, S.5-23; Madsen,D./Snow,P.G.: "The Dispersion of Charisma", in: Comparative Political Studies 16/1983, S.337-362; Miyahara.K.: "Charisma - from Weber to Contemporary Sociology", in: Sociological Inquiry 53/1983, S.368-388; Thomas,H.M.: "'Religiöse' Phänomene in der Etablierung der Revolution", in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 35/1983, S.145-160; ders.: "Der politische, besonders der revolutionäre Charismatiker", in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 37/1985, S.289-308; Willner/i R·: The Spellbinders. Charismatic Political Leadership, New Haven/London 1984; Lindholm,C.: Charisma, Oxford 1990. Schweitzer^.: The Age of Charisma, Chicago 1984; vorher schon: ders.: "Theory of Political Charisma", in: Comparative Studies in Society and History 16/1974, S.182-186; kritisch dazu: Sanders,J.: "Beauty and Charisma. A Comment on Arthur Schweitzer's 'Theory of Political Charisma'", ebd., S.182-184. Schweitzer 1984, S. 39ff.
Einleitung
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Vgl. Wallis,R.: "The Social Construction of Charisma", in: Social Compass 29/1982, S.25-39; Wasielewski,P.L.: "The Emotional Basis of Charisma", in: Symbolic Interaction 8/1985, S.207222; Williamson,E.: T h e Notion of Charisma in Religious Life", in: Studia Canonica 19/1985, S.99ff.; Madsen,D./Snow,P.O.: "Recruitment contrasts in a divided charismatic movement", in: American Political Science Review 81/1987, S.233-238; Lindholm,C.: "Lovers and Leaders. A Comparison of Social and Psychological Models of Romance and Charisma", in: Social Science Information 27/1988, S.3-45; Couch,CJ.: "From Hell to Utopia and Back to Hell: Charismatic Relationships", in: Symbolic Interaction 12/1989, S.265-279. 9 Lipp,W.: Stigma und Charisma. Über soziales Grenzverhalten, Berlin 1985; vorher schon: Lipp,W.: "Charisma - Social Deviation, Leadership and Cultural Change", in: Annual Review for the Social Sciences of Religion 1/1977, S.59-77. Eine erste Anwendung des Lippschen Konzeptes findet sich bei Ebertz,M.N.: Das Charisma des Gekreuzigten. Zur Soziologie der Jesusbewegung, Tübingen 1987, der versucht das devianz-soziologische Konzept auf die charismatische Bewegung um Jesus von Nazareth zu übertragen. Siehe hierzu jetzt auch: Theißen,G.: "Jesusbewegung als charismatische Wertrevolution", in: New Testament Studies 35/1989, S.343-360. 10 Toth,M.: The Theory of the Two Charismas, Washington 1981; Sylla.L.: "Succession of the Charismatic Leader - the Gordian Knot of African Politics", in: Daedalus 111/1982, S.ll-28; Nelson,D.N.: "Charisma, Control, and Coercion. The Dilemma of Communist Leadership", in: Comparative Politics 17/1984, S.l-15; Robinson,J.C.: "Institutionalizing Charisma: Faith, Rationality and Leadership in Three Societies", in: Polity 18/1985, S.181-203; RobinsonJ.C.: "Mao After Death. Charisma and Political Legitimacy", in: Asian Survey 28/1988, S.353-368. 11 Vgl. vor allem: Shils,E.: "Charisma, Order, and Status", in: American Sociological Review 30/1965, S.199-213; Eisenstadt,S.N.: "Introduction", in: ders.(Hrsg.): Max Weber on Charisma and Institution Building, Chicago 1968; Käsler,D.: Revolution und Veralltäglichung. Eine Theorie postrevolutionärer Prozesse, München 1977. Die von Shils eröffnete Tradition wird u.a. fortgeführt bei: Jamieson,J.-W.: "Familial Charisma", in: Mankind Quarterly 23/1983, S.357-364; Tambiah,S J.: The Buddhist Saints of the Forest and the Cult of Amulets. A Study in Charisma, Hagiography, Sectarianism, and Millennial Buddhism, Cambridge 1984; Greenfield,L.: "Reflections on Two Charismas", in: British Journal of Sociology 36/1985, S.117ff.; Feldmann,S.P.: "Culture, Charisma and the CEO. An Essay on the Meaning of High Office", in: Human Relations 39/1986, S.211-228; Smith,T.S.: T h e Release of the Romantic Impulse. Charisma and its Transformations", in: Current Perspectives in Social Theory 10/1990, S.31-62. - Zwei besonderen Aspekten der "Veralltäglichung des Charisma" geht Maurizio Bach in seiner Fallstudie "Die charismatischen Führerdiktaturen. Drittes Reich und italienischer Faschismus im Vergleich ihrer Herrschaftsstrukturen" (Baden-Baden 1990) nach: zum einen den Durchsetzungsvoraussetzungen und dem Durchsetzungsvermögen charismatisch qualifizierter Führerpersönlichkeiten gegenüber bereits existierenden bürokratischen Verwaltungsstäben; zum anderen den Folgen charismatischer Einflußnahme auf eben diese. Vgl. hierzu auch: Lepsius,M.R.: "Charismatic Leadership: Max Weber's Model and its Applicability to the Rule of Hitler", in: Graumann,C.F./Moscovici,S.(Hrsg.): Changing Conceptions of Leadership, New York/Berlin/Heidelberg/Tokyo 1986, S.53-66. 12 Alberoni.F.: "Carisma d'ufficio e movimenti spontanei", in: Cavazza,F./Graubard,S.R.(Hrsg.): Il caso italiano, 2 Bde., Milano 1973, S.470-477; Alberoni.F.: Movement and Institution, New York 1984. 13 Vgl. PunitAE.: "Ghandi. A Study in Charismatic Leadership", in: Man in India 60/1980, S.285300; Faure,G.-0.: "Charisme et reforme sociale en Inde", in: Social Compass 28/1982, S.75-92; Keren,M.: Ben Gurion and the Intellectuals. Power, Knowledge, and Charisma, Northern Illinois University Press 1983; Huggins,N.: "Martin Luther King. Charisma and Leadership", in: Journal of American History 74/1988, S.477-481; Hussain,A.: "Charismatic Leadership and Pakistan's Politics", in: Economic and Political Weekly 24/1989, S.136-137; Skinner,E.P.: "Sankare and the Burkinabé Revolution. Charisma and Power, Local and External Dimensions", in: Journal of Modern African Studies 26/1989, S.437-455; Van Doren,R.: "Charisma en Revolutie: Max Weber in Iran", in: Acta Politica 24/1989, S.409-432.
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14 Allgemein zum Themenbereich des "künstlichen Charisma" vgl. Bensman,J./Givant,M.: "Charisma and Modernity. The Use and Abuse of a Concept", in: Social Research 42/1975, S.570614; Glassman.R.: "Legitimacy and Manufactured Charisma", in: Social Research 42/1975, S.615636; Swatos,W.H.: "The Disenchantment of Charisma. A Weberian Assessment of Revolution in a Rationalized World", in: Sociological Analysis 42/1981, S.119-136; Swatos,W.H.: "Revolution and Charisma in a Rationalized World. Weber Revisited and Extended, in: Glassman, R./Murvar,V.(Hrsg.): Max Weber's Political Sociology, Westport/London 1984, S.201-216; Luke,T.: Televisual Democracy and the Politics of Charisma", in: Telos 70/1986/87, S.59-79; Ling,R.: "The Production of Synthetic Charisma", in: Journal of Political and Military Sociology 15/1987, S.157-170; Partis,E.B.: "Charismatic Leadership and Cultural Democracy", in: The Review of Politics 49/1987, S.231-250; SandersA/Wagner,K.: "The Myth of Charisma in American Politics", in: Social Policy 18/1988, S.57-61; Gebhardt,W.: "Das Charisma der Vernunft und die Vernunft des Charisma. Religionssoziologische Anmerkungen über die Erscheinungsformen des Charisma in modernen Gesellschaften", in: Casper,B./Sparn,W. (Hrsg.): Alltag und Transzendenz. Studien zur religösen Erfahrung in der gegenwärtigen Gesellschaft, Freiburg 1992, S.267291. - Fallstudien, die als Gegenstand den gegenwärtigen Papst der katholischen Kirche, Johannes Paul II., wählen, sind: Mörth.I.: "Massenmedien und Charisma. Notizen zum 'Medienereignis Papstbesuch' in Österreich", in: Österreichische Zeitschrift für Soziologie 11/1986, S.137144; Lemieux,R.: "Charisme, mass-media et religion populaire. Le voyage du Pape au Canada", in: Social Compass 34/1987, S.ll-31. Vgl. auch - für das Papstcharisma im 19. Jahrhundert Ebertz,M.N.: "Herrschaft in der Kirche. Hierarchie, Tradition und Charisma im 19. Jahrhundert", in: Gabriel,K./Kaufmann,F.-X.(Hrsg.): Zur Soziologie des Katholizismus, Mainz 1980, bes. S.108ff. - Über Charisma als Zeichen der Krisis der Moderne in Literatur und Volkskultur vgl. Lanternari,V.: Festa, carisma, apocalisse, Palermo 1983; Berman,R_A.: The Rise of Modem German Novel: Crisis and Charisma, Cambridge Mass. 1986. 15 Tenbrock,F.: "Das Werk Max Webers", in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 27/1975, S.663-702; ausführlich über eine anthropologische Bestimmung des Charisma vgl. Tenbrock,F.: "Anthropologie des Handelns", in: Lenk,H.(Hrsg.): Handlungstheorien - interdisziplinär, Bd.2, München 1978, S.89-138. 16 Seyfarth,C.: "Alltag und Charisma bei Max Weber", in: Sprondel,W.M./Grathoff,R.(Hrsg.): Alfred Schütz und die Idee des Alltags in den Sozialwissenschaften, Stuttgart 1979, S.155-177. 17 Seyfarth 1979, S. 160. 18 Seyfarth 1979, S. 169. 19 Zum Verhältnis von Charisma und Wissenschaft vgl. Rhodes,A.A.: "Charisma and Objectivity", in: Archives Européennes de Sociologie 29/1988, S.12-30. 20 Roth 1987, insbesondere S.137ff.; vorher schon: Roth,G.: "Socio-Historical Model and Development Theory. Charismatic Community, Charisma of Reason and the Counter-Culture", in: American Sociological Review 41/1975, S.148-157. 21 Bendix,R.: Max Weber - Das Werk, München 1964; Shils 1965; Eisenstadt 1968; Roth 1975. 22 Schluchter,W.: Die Entwicklung des okzidentalen Rationalismus. Eine Analyse von Max Webers Gesellschaftsgeschichte, Tübingen 1979, insbesondere S.180ff. 23 Schluchter 1979, S. 187. 24 Zur Entwicklungsgeschichte des Charisma, insbesondere über das Verhältnis von magischem und religiösem Charisma, vgl. Breuer,S.: Max Webers Herrschaftssoziologie, Frankfurt/M. 1991, insbesondere S.33ff.; vorher schon: Breuer,S.: "Magisches und religiöses Charisma. Entwicklungsgeschichtliche Perspektiven", in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 41/1989, S.215-240; ders.: Der archaische Staat. Zur Soziologie charismatischer Herrschaft, Berlin 1990. 25 Schluchter,W.: "Einleitung: Max Webers Analyse des antiken Christentums. Grundzüge eines unvollendeten Projekts", in: ders.(Hrsg.): Max Webers Sicht des antiken Christentums, Frankfurt/M. 1985, S.ll-71. 26 Roth 1975. 27 Schluchter 1988, S.535ff. 28 Schluchter 1988, S.549.
Theorie
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Charisma - Schuld und Gnade Soziale Konstruktion, Kulturdynamik, Handlungsdrama Wolfgang Lipp
Wer sich mit "Charisma" beschäftigt, setzt sich dem Verdacht aus, Esoteriker zu sein. Grenzt Charisma nicht ans bloß "Wundersame", hat es zu tun nicht mit "Übernatürlichem", spielt es nicht über ins "Außeralltägliche"? Ist Charisma - mag solches Fragen ergänzen - etwas überhaupt Reales, stellt es nicht etwas nur Luftiges, "subjektiv" Geltendes, "Kulturelles" dar, dessen "Sinn" schnell verweht? Hekuba? Mit Mißverständnissen muß man rechnen; der Verdacht aber geht ins Leere. Ich möchte im folgenden zeigen, daß Charisma nicht nur sachlich, sondern begrifflich zu den ergiebigsten Themen zählt, die die Sozialwissenschaften vor sich haben1, und nenne vorab hier zwei Gründe: Charisma ist kardinaler sozialwissenschaftlicher Gegenstand zunächst insofern, als er inhaltlich herausragt; er verbindet verschiedenste - z.B. religiöse, politische, individuelle wie kollektive, bejahende wie verneinende - Bezüge, die die Wirklichkeit ausmachen, wie in einem Spiegel und erhält Schlüsselcharakter auf dieser Ebene. Das Phänomen ist Prüfstein aber auch für vertiefte, theoretische Analysen. Es macht paradigmatisch nicht nur sichtbar, daß die Momente, die Gesellschaft und Kultur bestimmen, hochkomplex zusammenhängen, sondern läßt erkennen, daß sie typischen normativen Spannungen unterliegen und am Ende dialektisch - "grenzdialektisch" - gefügt sind. Wer sich mit Charisma beschäftigt, hat in der Tat ein "spannendes", kontrapunktisch faszinierendes, die Grundlagen von "Kultur" selbst erschließendes Thema aufgenommen.2 Er entdeckt, daß das "Alltags"-Dasein, das "Normale", regelmäßig ins Zugespitzte, "Extreme" - und vice versa - umschlägt, daß die Gegensätze sich berühren und "Peripheres", "Abgedrängtes", wiederkehrt als Wertverklärtes, "Zentrales". Wer sich mit Charisma beschäftigt, stellt, mit anderen Worten, fest, daß zwischen "Himmel" und "Erde" Dinge liegen, die die Sphären verbinden, und wird lernen, das Wie der Verknüpfungen zu verstehen. Er sieht, daß die Wirklichkeit nicht nur vielgestaltig, mit Tendenzen zum semantischen "Flimmern", sondern hintergründig, bis hin zum Abgrund, gewirkt ist, und erfährt, daß das Alltagsgeschehen, als allein vermeintlich Reales, griffig faßlich erst vom Außer- und Nicht-Alltag, dem Sinn und Gegensinn überall eingeflochtener, "normativer Verwirbelungen", "Schattenseiten" und "Blitze" wird.
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Wolfgang Lipp
1.1
Was heißt nun Charisma, was besagt das Wort? Zwar hatte wichtige Hinweise schon der Schöpfer des Konzepts, Max Weber3, gegeben; Charisma ist nach ihm die "Qualität einer Persönlichkeit", die als begabt "mit übernatürlichen oder übermenschlichen oder mindestens spezifisch außeralltäglichen, nicht jedem anderen zugänglichen Kräften oder Eigenschaften ..., oder als gottgesandt oder als vorbildlich und deshalb als 'Führer' gewertet wird"4. Bei aller Betonung, die Weber hier auf den "subjektiven"5, von den Charismatikern und ihren Anhängern insoweit erst "hergestellten" - "sozial konstruierten"6 - Charakter des Phänomens legte, hat er die Frage nach der "Entstehung" von Charisma - den Bedingungen und Anstößen dieser Konstruktion - aber vernachlässigt. Will man Charisma über die sicher erhellende "idealtypische" Begriffsbestimmung hinaus, die Weber gab, gründlicher erfassen, ist es freilich unerläßlich, auf Werdenszusammenhänge einzugehen. Charisma zu verstehen, kann weder nur bedeuten, Aktualanalysen vorzunehmen - die ins "Reine" wie immer "gesteigert" werden -, noch den Weg nur des Verfalls - der "Verflachung" des Typus - zu beschreiben, den Charisma mit "Veralltäglichung" geht. Wer die Forschung beleben will, muß vielmehr vorstoßen zu einer elaborierten "generativen Theorie" des Charisma. Wie kommt Charisma zustande? Welche Kräfte, welche Grundverhältnisse tragen den Prozeß? Knappe Hinweise, sich der Frage zu nähern, liegen immerhin schon bei Weber vor. Wenn Weber schreibt, die "Anerkennung" von Charisma wurzele in der aus "Begeisterung oder Not ... geborene(n) ... , ganz persönliche(n) Hingabe" der Gefolgsleute7, nennt er über die psychologischen Begleitumstände hinaus, die hier wichtig werden, summarisch Randbedingungen auch sozialer (sozialstruktureller) und kultureller Art. Läßt "Not", wie ich zuordnen möchte, sich mit wirtschaftlicher Not oder, abgeleitet, politischer (herrschaftlicher) Unterdrückung in Verbindung bringen, so "Begeisterung" mit der spezifischen, kulturellen Signatur von Werten, Wertbetroffenheit und Wertenthusiasmus. Wie hängen die Aspekte aber näher zusammen? Die Forschung steht keineswegs hier am Ende, sondern setzt spezifisch erst ein, und sie bedarf dirigierender neuer Gesichtspunkte. Ich stelle die These auf, daß Charisma in der Tat mit Notlagen - "strukturellen Mängeln", Defiziten im Sinne von Qualitäten des "Nicht-Seins", "Nicht-Habens", resp. "kulturellen Debita" im Sinne von "Sollens-'Forderungen, - zu tun hat, und führe den Zusammenhang auf die Erfahrung letztlich von "Schuld", das Behaftetsein mit Schuld, auf "Stigmata" und "Stigmatisierung"8 zurück. Schuld ist in Gesellschaft - jener "moralischen Anstalt", die "nach dem Rechten" sieht und "Gut" und "Böse", "Gnade" und "Ungnade" immer neu verteilt, ubiquitär gegeben. Charisma - "übernatürlich" begründete "Gnadengabe" - und Stigmata - Zeichen für Abnormität, soziale Verfehlung, Bann und Fluch - verweisen, so meine These, dabei im Kern aufeinander: Abgedrängt in Randlagen, Schattenseiten, Ächtungsräume der Gesellschaft, in denen "Not" herrscht und Selbstwert - Identität - zunichte wird, müssen Stigmatisierte versuchen, Stigmatisierung - die Zuschreibung sozialer
Charisma - Schuld und Gnade
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Schuld - von sich abzuwehren. Als Strategie, identifikative Ansprüche durchzusetzen und in zentrale soziale Würdefelder zurückzukehren, erscheint namentlich "Selbststigmatisierung". Indem Selbststigmatisierer Stigmata, die die Gesellschaft auferlegt, demonstrativ für sich bejahen, rücken sie im Wagnis der Ächtung, das sie auf sich nehmen, aufsteigende, neue kulturelle Werte ans Licht. Getragen von Gefolgschaften und aufbrechenden sozialen Massen, die sich mit ihnen identifizieren, erhalten sie am Ende charismatischen Glanz. Eine These vorzutragen ist eine Sache, sie zu erhärten eine andere. Kategorien wie Schuld und Gnade, Wert und Unwert sprechen gewiß eine Sprache, die ins Grundsätzliche geht und dazu neigt, sich in allzu abstrakten philosophischen, ja theologischen Spekulationen zu verlieren. Sie stellen zugleich freilich Begriffe dar, die das Alltagsdasein selbst entwickelt, und sind selbst lebendige, unhintergehbare soziokulturelle Realität. Für die Aufgabe, die These analytisch näher zu klären, mag es gleichwohl sich empfehlen, aus jenen Tiefen einmal aufzusteigen und den flacheren einzelwissenschaftlichen Boden soziologischer Teildisziplinen zu betreten. Ist es erstens dabei die "Devianzsoziologie", die den Fragenkomplex zu erhellen hilft9, so zweitens die "Soziologie der Kultur".10 Hier wie dort finden sich Anhaltspunkte, die dem Thema wünschenswerte, systematischere Konturen geben; sie sind freilich nur knapp zu skizzieren: Devianzsoziologisch kann man zeigen, daß Charisma in die Phänomenklasse "sozialer Abweichung" fällt. Da das Dasein in der Regel von Institutionen, Normen, Werten legitimer Art reguliert wird - Kräften, die zugleich durchsetzungsmächtig sind und sich verbünden mit "Kontrollinstanzen" -, wird Abweichung gewöhnlich negativ gewertet und als Irritation, Regelbruch, Kriminalität unter Strafe gestellt. Abweichung trägt immer wieder aber auch deutliche positive Züge. Propheten, Helden, Genies fallen ersichtlich aus der Reihe; sie gehen nicht nur über das statistische soziale Durchschnittsverhalten hinaus, sondern transzendieren die Standards sozialer Normalität als solche, und schon formal gesehen ergibt sich, daß sie zur Negativform von Abweichung einen analog placierten, positiven Pol darstellen. Setzt man Durchschnittsverhalten, gestreut um jeweils gültige normative Parameter, fiktiv als Mitte des Systems, kann Abweichung in der Tat nach zwei Seiten, ins negative wie positive Extrem auspendeln11; es herrscht insoweit Symmetrie, und die Vermutung drängt sich auf12, daß Abweichung des ersten Typs - Abweichung, die als Schuld ausfällt und schwere stigmative Lasten trägt -, und Abweichung des zweiten Typs - Abweichung, die als Charisma erscheint und Gnade bringt - sich intim entsprechen und in Wechselwirkung stehen.13 Wichtige ergänzende Hinweise gibt an dieser Stelle die Kultursoziologie. Ausgehend von der Einsicht, daß die Elemente von Kultur - "Symbole": Hochspannungssymbole, wie "letzte Werte" - den Charakter nicht nur der Vieldeutigkeit, sondern der "Enantiodromie"14, der latenten Verkehrbarkeit, haben, arbeitet sie heraus, daß Stigma und Charisma, als Grenzwerte möglicher sozialer Abweichung, in der Tat interferieren und im Wertaspekt umschlagen können. Kultursoziologisch gesehen, ist "Kultur" - der offene "semantische Horizont" und "Sinn" des Daseins - einem
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Bildschirm vergleichbar, dessen Signale für den, der Orientierung sucht, unentwirrbar oft "flimmern"15. Sie ähnelt zugleich der Vexierbildscheibe; ihre Bedeutungen "springen", wie die Deutungen selbst, ineinander auch "um", und es sind weniger die mobilen symbolischen Gehalte, die solche Sprünge bewirken, als die Handlungsumstände, in die sie gelagert sind, und immer eingeknüpfte sozialpraktische Verhältnisse. Wenn Stigma und Charisma, so gegensätzlich sie scheinen, tatsächlich einander berühren, sind ohne Zweifel anwachsende gesellschaftliche Konflikte, sind Ausbeutung, Unterdrückung und Irreführung, sind ökonomische, politische, religiöse Not im Spiel. Gleiten die Entwicklungen, unter "Streß" gesetzt, in diesem Sinne in schwelende soziokulturelle "Krisen" über, hat das Dasein, als Handlungsdasein, die Tendenz, sich zuzuspitzen, radikal zu werden und "dramatische" Züge anzunehmen; es geht den Dingen auf den Grund, schüttelt und beutelt sie, wie es geschüttelt und gebeutelt auch selber wird, und stellt sie auf den Kopf. Radschlagen, wie in Düsseldorf, findet nicht nur im Karneval statt; es ist, bei aller Komik, auch eine ernste, an den Nerv rührende Angelegenheit, und wenn Würdenträger zu Verbrechern, Stigmata zu Zeichen von Charisma gewandelt werden, übernimmt Kultur kraft ihrer Eigenschaft, semantisch fluktuieren, oszillieren und "pervers" werden zu können, hier ebenso nachhaltige wie oft unbewußte, unwillkürliche Hebammenfunktion. Sind die Sachfragen zum Thema hinreichend einmal umrissen, wird es nunmehr nötig, ins Detail zu gehen und die Zusammenhänge aufzuschlüsseln. Dies geschieht in drei Schritten: Erläutert werden soll zunächst, inwieweit "Schuld" - wie jedes andere soziokulturelle Phänomen - als Implikat grundlegender "sozialer Konstruktion" zu verstehen ist; die Überlegungen laufen auf das Konzept hier der "Selbststigmatisierung" zu. Die genauere "kulturelle Dynamik", die das Geschehen antreibt, ist Gegenstand eines zweiten Abschnitts. Dabei werden Aussagen unter anderem über den "Passagen"-: den Wandlungs- und Übergangs-Charakter des Daseins zu treffen sein. Der dritte Abschnitt schließlich ist engeren "dramatologischen" Fragen gewidmet. Zentrale Aufmerksamkeit wird auf die Figur hier des "Helden", des "Opfers", des "Heils" und "Heilsbringers" gelenkt.
1.2
Soziokulturelle Wirklichkeit ist Wirklichkeit, die in wesentlicher Hinsicht Konstrukt ist; sie ist zusammengesetzt nicht nur aus Daten, Fakten, Materieteilchen, die verknüpft im Sinne der Gesetze der Naturwissenschaften sind, sondern gewirkt aus Handlungen - i.e. sinnhaften, symbolisch vermittelten Handlungen -, hinter denen Menschen stehen. Die Zahl der möglichen relationalen Bezüge, die dabei Zustandekommen, ist prinzipiell unermeßlich; entsprechend endlos präsentieren die Konstrukte, zu denen das Dasein zusammentritt, sich selbst. Sie haben am Ende den Sinn, angesichts der Fülle, Beweglichkeit, Offenheit des Seins, das den Menschen umfängt - einer Lage, die zugleich Problemlast bedeutet -, Wahlen zu
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treffen, Lösungen zu finden und Werte zu beziehen, die von Mal zu Mal, Situation zu Situation existentiell befriedigen. 1. Wenn zu den Hauptaufgaben, denen Gesellschaft und Kultur gegenüberstehen, der Aufbau und Erhalt von "Ordnung" zählen, Ordnung aber eine "moralische" Sache ist, tritt als Hauptmotiv, das Konstruktionen hier bestimmt, die "Definition", dann die "Allokation" von Ordnungsvorgaben selbst, von Parametern also hervor, die "Ordnung" und "Nichtordnung", "Devianz" und "Konformität" festlegen. Da die Verteilung dabei anfallender positiver Werte im allgemeinen akzeptiert wird, die Zuschreibung negativer Werte aber - die Belastung mit "Schuld" bedeutet und "Strafe" nach sich zieht - auf Widerstand stößt, tritt im Gefolge aufgewühlter existentieller Betroffenheiten in den Mittelpunkt des Geschehens vor allem letzterer Prozeß. Wirklichkeitskonstruktion - Arbeit am Bau der "moralischen Anstalt" Gesellschaft - erscheint insofern primär hier als Vorgang, der die Ausprägung, Verteilung und Bewältigung von Schuld reguliert. Daß Schuld, "religiöse Schuld, integrierender Bestandteil aller Kultur, alles Handelns ... alles geformten Lebens überhaupt" ist, hatte mit Blick auf die großen, evolutionär entscheidenden, "erlösungsethischen" Kultursysteme auch Weber betont16; über seine grundlegenden religionswissenschaftlichen Studien hinaus ist die Erkenntnis tatsächlich doch auszuweiten und auf Gesellschaft und Wirtschaft, Politik oder Herrschaft allgemein zu beziehen. "If order, then guilt; if guilt, then need for redemption."17 Schuld ist "Erblast", soziale Erblast des Menschen; sie ereignet sich immer neu, muß immer neu auch bewältigt werden. Gliedert man die Fragen im Sinne des Themas genauer auf, kommt der Zusammenhang von "Schuld" und "Gnade" in Sicht. Vorab, in einem Zwischenstück, ist Schuld indessen selbst zu klären.18 Der Terminus drückt erstens aus, daß etwas "fehlt"; er zeigt an, daß "Mängel", "Defizite" bestehen, die im Lichte bestimmter, als gültig vorausgesetzter Ordnungen auf Dauer zu beheben sind. Und Schuld unterstellt zum zweiten, daß in Gesellschaft und Kultur Instanzen - Handlungsinstanzen - existieren, die diese Fehlstellen herbeigeführt, bezweckt oder verursacht haben. Von Schuld zu sprechen heißt insofern, "Sollwerte" anzusetzen, "Mißachtung" zu registrieren und "Verantwortung" einzuklagen; es heißt näher, "Verantwortliche", die man zur "Rechenschaft" zieht, auch konkret zu benennen. Mängel, die die Qualität ursprünglich engerer, sachhaft-empirischer Mängel trugen, nehmen den Charakter nun zusätzlicher moralischer "Makel" an, und Defizite erhalten die Eigenschaft von "Debita". Schuld wird in der Tat hier hergestellt; sie ist nicht von sich aus gegeben. Menschen, die in den Sog des Prozesses massiver geraten - so daß ihnen jedes Minus, das sie z.B. körperlich besitzen (z.B. Verkrüppelte), oder wirtschaftlich (z.B. Obdachlose) oder politisch (z.B. Emigranten) an sich haben, als "Verfehlung" angelastet wird, werden - wie Sklaven durch ihren Herrn - "kulpativ" gleichsam gebrandmarkt; sie werden "stigmatisiert" und prägen in einhakenden, devianten Karrieren "Stigmata" immer krasser aus. Schuld zu haben, Schuld ertragen zu müssen, bedeutet, schwere, bis an die Vernichtung der Existenz reichende Last auszuhalten; es übt Druck nicht nur auf
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einzelne soziale Individuen, sondern die Gesellschaft als ganze aus, und hier wie dort wird es nötig, Schuld abzubüßen, zu mindern und neu zu verteilen. Die Lage wird kritisch vor allem dann, wenn die "Menge" sozialer Schuld, die im Dasein gewöhnlich anfällt, statistisch atypisch ansteigt: die Kriminalitätsziffern also klettern, die Normen brüchig werden, die Sitten verwildern. Sie bedarf temperierender, die Schuldquanten ausgleichender Vorkehrungen indessen auch im Normalfall, und in der Tat hat die Gesellschaft Wege, Schuld kleinzuhalten und Schuld graduell zu "bewältigen", auf individueller wie kollektiver Ebene faktisch auch immer gefunden. Können als zentraler "großer Weg", der dabei zu nennen ist, die Mechanismen etablierter "sozialer Kontrolle", namentlich "formeller" Art (Gerichte, Polizei, Verwaltungen etc.), angeführt werden, schlagen auch diverse "kleine Wege" zu Buche; sie haben am Ende dialektische Kraft und flankieren, von unterschiedlichen Ansatzpunkten her, die Bewältigung von Schuld auf ihre Weise. Wird Schuld auf dem großen Wege auf bestimmte soziale Adressaten, die mit Strafen belegt werden, erst überhaupt zugeschrieben - so daß Bewältigung durch "Definition", "Konkretisierung" und "Verteilung" zugleich erfolgt -, wird sie nebenher, auf den kleinen Wegen, durch Mechanismen der "Entlastung" - "Internalisierung", "Neutralisierung", "Ablaßventile" -, schließlich aber Strategien der "Gegenstigmatisierung" reduziert. Trägt Internalisierung z.B. dazu bei, daß Schuld, sozial einmal aufgebürdet, von den Einzelnen "schuldbewußt" anerkannt, in das psychische, individuelle Innere übertragen und vom "Schauplatz" der Gesellschaft, auf dem die Schuldmenge sich sonst häufte, detumeszierend abgezogen wird, versucht Neutralisierung, Schuld überhaupt aufzuheben, ihre moralische Seite - die Frage der Verantwortung - auszublenden und Fragen stattdessen der Kausalität, der Sachumstände, der sozio- oder psychodynamischen "Rehabilitation" hervorzuheben. Ohne daß es möglich wäre, die Mechanismen hier zu detaillieren, sei festgehalten, daß die genannten Strategien im Gesamtkontext, in den Schuld - und Bewältigung von Schuld - verflochten ist, durchaus wichtigen Stellenwert haben. Als probates Mittel, Schuld und ihre hohe soziale Brisanz zu entschärfen, fungiert mit der Stoßrichtung, Schuld dadurch zu annullieren, daß sie "einverseelt", "abgebüßt" und "beseitigt" wird durch Individuen, vor allem Internalisierung; ist Internalisierung dabei als gleichsam zeitloser, anthropologisch begründeter Mechanismus anzusehen, scheint Neutralisierung an besondere, evolutionäre Voraussetzungen, so zunehmende soziale "Gewaltenteilung", "Rationalität" und "Sachlichkeit" gebunden zu sein. Der Einsatz, die Effizienz der Mechanismen werden so oder so, je nach Umstand, schwanken, und regelmäßig in Funktion treten zusätzlich Ablaßventile. Wirken sie einerseits, auf religiöser Ebene, im Sinne z.B. von "Sündenvergebung", so zum anderen in Form politischer "Amnestien", "Begnadigungen" oder wirtschaftlicher "Konkursverfahren". Eine dritte, vielleicht die wichtigste Variante, Ablaß von Schuld zu gewähren, liegt schließlich in der "Ventilsitte" bestimmter brauchtümlicher Riten - so der Riten des Karnevals -, die Welt temporär zu verkehren und Verhaltensweisen, die schuldbesetzt und bisher verdrängt, verboten
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oder tabuiert waren, orgiastisch und stoßhaft einmal freizugeben. Verfahren dieser Art folgen einem Schema, das analog den Strategien auch der "Gegenstigmatisierung" zugrundeliegt. Sie werden nachstehend genauer skizziert. Gegenstigmatisierung ist der Versuch, Schuld dadurch abzuschütteln, daß man sie leugnet, abwehrt und zurückgibt an die stigmatisierende Erstinstanz. Geht sie einerseits - mit eher nur schmaler Erfolgsaussicht - den Weg direkter, offener "Konfrontation", setzt sie zum anderen auch reflexive, indirekte Mittel ein und erscheint als "Selbststigmatisierung"19. Hier wie dort steht die Wiedergewinnung verletzter, stigmativ belasteter, sozialer wie personaler Integrität, stehen Selbstachtung und "Identität" auf dem Spiel. Ist die Chance, Schuld loszuwerden, im ersten Falle freilich beschränkt - offene Konflikte rufen massive, vom Gegner, der hier am längeren Hebel sitzt, immer forcierter vorgetragene Kontrollreaktionen hervor -, stehen die Zeichen für Selbststigmatisierung - die Strategie paradoxer, öffentlicher Selbstanklage - strukturell günstiger. Wie sehen die Zusammenhänge näher aus? Das Kunstwort zu erläutern, fällt auf knappem Räume nicht leicht. Es bezeichnet gleichwohl eine realistische, in breite Wirklichkeitsfelder reichende Handlungsfigur: Selbststigmatisierer stellen Personen - und gegebenenfalls Gruppen dar, die stigmativem Druck, wie die Gesellschaft ihn ausübt, weder durch Schuldbejahung - Internalisierung und Buße -, noch durch Schuldabwehr begegnen, sondern durch "Vorwegnahme", "Bloßstellung" und "Umkehr" von Schuld (Schuldzuschreibung). Die besondere "reflexive" Form des Widerstands, die sie wählen Stigmatisierung wird durch Vorwegnahme in ihrer Struktur, ihren "vested interests", ihren Akteuren spiegelbildlich erst aufgedeckt -, ruft dabei typische soziokulturelle Überraschungseffekte hervor. Sie kommen vornehmlich dann zum Zuge, wenn Widerstand gegen Schuld angeht, die bisher unterschwellig, potentiell, nicht aber manifest zugeschrieben war. Handeln, das bisher zwar latente, faktisch aber schon wirksame, stigmative Askriptionen widerständig offenlegt, setzt den Gegner unter Druck, Kontrollmaßnahmen, die er dann ohne Rückhalt, ohne näheres Konzept, gleichsam zwangshaft trifft, mit Geltungsgründen erst im Nachhinein: so aber schwach und unvollkommen zu versehen. Strategien, die mit den Mitteln der Vorwegnahme operieren, rücken die Gegenseite tendenziell ins Legitimationsdefizit. Im Maße, in dem ihre Träger, die Akteure des Widerstands, bestimmte stigmative Merkmale - letztlich die Eigenschaft, ein "anderer" zu sein, ein "Selbst" zu haben - ostentativ aus der Latenz holen - und sich so, auf gefährliche Weise, mit Schuld sua sponte beladen -, lassen sie paradox die Moral gerade der Kontrollinstanzen, die "zu spät" kam und sozusagen nichts taugte, sozial als schuldig erkennen. Sie schaffen eine Lage, die das Handlungsfeld - beteiligte weitere Gruppen und eine stets involvierte, sensible Öffentlichkeit - dazu bringen kann, Routinenormen distanzierter zu sehen, ihre Werte in Frage zu stellen und sie tentativ umzudrehen. Selbststigmatisierung stülpt Stigmatisierung in der Tat aus sich selbst heraus. Indem sie die Richtung, in der Stigmatisierung verläuft, reflektierend nach außen spiegelt - und in ihrer Brennwirkung damit bricht -, wird
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sie zur Kraft, die jene pendelnden, im Handlungsfeld immer virulenten, normativen Spannungen entscheidend zum Umschlag bringt. Sie fokussiert sie neu, läßt sie aufglühen und führt, wie sich schließlich ergibt, Stigmatisierung in Gegenstigmatisierung, Stigmata in Charisma über. 2. Daß Normen, Werte, kulturelle Symbole generell die Eigenschaft haben, vieldeutig zu sein, Gegenpole aufzubauen und die "Vorzeichen" wechseln zu können, wurde im Grundsatz schon oben entwickelt; im Fortgang der Untersuchung ist hervorzuheben, daß Vorzeichenwechsel im Kulturgeschehen strukturell zwar stets möglich ist, nicht aber automatisch erfolgt. Soll der Umschlag konkrete nicht nur gedankliche, symbolische - Bedeutung haben, soll er das Dasein praktisch erfassen, bedarf es praktischer Anstöße selbst, bedarf es der entschiedenen existentiellen Bereitschaft, Wertgegensätze und ihre brisante, innere Spannung im eigenen Tun, im gespannten eigenen Leben auszutragen. Stigmata wandeln, verkehren und steigern sich zu Qualitäten charismatischer Art nicht schon von sich aus; es sind wesentlich Handlungsakte, Akte der Selbststigmatisierung, die den Prozeß erst ins Rollen bringen. Blickt man auf Schuld, Schuldabwehr, Gegenstigmatisierung von hierher zurück, erscheinen Selbststigmatisierer als "Schuldumschuldner" par exellence. Sie bewältigen Schuld nicht nur dadurch, daß sie sie neutralisieren, internalisieren oder ablassen durch Ventile, sondern dadurch, daß sie Schuld in "Gnade" wandeln. Charismatiker stellen Personen dar, die "begnadet" sind - und Gnade spenden -, weil sie schwer an Schuld selber trugen; sie lassen Stigmata, für die sie büßten Wundmale sozialer Züchtigung - nicht als Mängel und Makel, sondern als Zeichen des "Heils" - als "Vollkommenheit" - erscheinen und erlangen die Eigenschaft, von Schuld auch mitbetroffene Dritte - "Gefolgschaften", das "Publikum" - freizusprechen. Wenn Weber - in Anlehnung an die großen kirchengeschichtlichen Studien Karl Holls (1898)20 - erwähnte, daß Charismatikern "Bußgewalt": die persönliche Macht zukomme, Sünder von Sünden zu dispensieren und ihnen Buße zu erlassen21, hat er - ohne die Dinge von Grund auf durchschaut zu haben - ein sehr zentrales Phänomen berührt. In der Tat galten die Märtyrer, die großen Mönche und Asketen der byzantinischen Kirche, die Christus nachgefolgt waren, wie Christus als "Charismatiker"; da sie am "Pneuma", Gottes "Geist", selbst teilhatten, hatten sie die Gabe, Sünden auch anderen zu vergeben und sie nicht nur gedanklich, als Bewußtseinsfrage, sondern praktisch, im Urteil der Kirchengemeinde, zu lösen. Was Holl und Weber hier am Fallbeispiel, am besonderen kichengeschichtlichen Typus, demonstrierten - Bußgewalt -, läßt sich freilich verallgemeinern; es kennzeichnet Selbststigmatisierung bis hin in die unterschiedlichsten sozialen Erscheinungsformen prinzipiell. Mit seinem Kreuzestod - seinem Leiden, seiner Erlösungstat - entsprach schon Jesus dem Schema; so rein, so "ideal" der "Menschensohn" Schuldumschuldung verkörpern mochte, so wenig hat er sie - oder hat sie das Christentum, das sie vertieft, symbolisch verfeinert, theologisch ausgedeutet hat originär doch begründet. Selbststigmatisierung stellt eine Kategorie vielmehr sui generis dar; sie ist mit Kultur und Gesellschaft: dem Schicksal, Ordnung aufbauen,
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schuldig werden und Schuld vergeben zu müssen, gleichursprünglich und unvordenklich gegeben. Rekapitulieren wir die elementare kultursoziologische Einsicht erneut: Symbole, Normen, Werte: die Grundeinheiten von Kultur oszillieren in ihren Bedeutungen und schillern; sie können, je nach Deutung und Deutungsumstand, umspringen ins Bedeutungsgegenteil, und es war nicht erst Nietzsche, der die "Umwertung der Werte" proklamiert hat.22 Kultur unterliegt fortgesetzten, teils institutionalisierten und ritualisierten, teils spontanen - "revolutionären" - Prozessen der Wertumwandlung von Anbeginn. Daß dies nicht von selbst geschieht, sondern zurückgeht auf menschliches Handeln: den "Willen", um nochmals mit Nietzsche zu sprechen, über die Verhältnisse "Macht" zu gewinnen und sie zu zwingen in die eigene - unter Zwang schon selbst stehende - Richtung, ist evident; ich gehe auf die charakteristische "dramatologische" Struktur, die dem Zusammenhang zugrunde liegt, unten noch näher ein. Ergänzend an dieser Stelle sei festgehalten, daß Kultur selbst dort, wo sie traditionalistisch (ritualistisch) erstarrt scheint, Wertverkehrungen kennt und zyklisch - im Zuge z.B. von "Passageriten"23 - in Gegenpole, Gegenordnungen eintritt. Lassen wir die Träger solcher Ordnungen, Handlungsmächte letztlich individuellen Zuschnitts, einmal außer acht; so oder so frappiert, daß das Dasein Phasen der "Ausnahme" - in denen Verhältnisse, wie sie im Alltagsfall galten, außer Kraft gesetzt und "umgesteckt" werden - regelmäßig auch kollektiv durchläuft. Männer körpern sich dann in Frauen ein; sie liegen z.B. im Männerkindbett, und Weiber werden zu Amazonen; Knechte übernehmen die Herrschaft, und Hof wird von Narren gehalten. Wilhelm Erich Mühlmann hatte zur Kennzeichnung des Zusammenhangs das Theorem der "verkehrten Welt" geprägt24; Victor W. Turner sprach vom Gegensatzpaar "Struktur" und "Antistruktur"25, und hier wie dort wird sichtbar, daß der Prozeß der Wertumwandlung über "liminalitas" - eine besondere normative "Schwelle" - führt, die "kathartische", den Menschen von den Erstwerten "lösende", "reinigende" Wirkung hat. Die Kraft, die Schwere von Werten aufzuheben und Leid, Vergeltung und Buße, die geknüpft sind an sie, zu mindern und zu vergeben, gewinnt in der Tat hier gesamtkulturelle "objektive" Geltung; sie entspricht als lebendige kulturdynamische Möglichkeit nicht nur dem Flimmern und typischen, enantiodromischen Gehalt kultureller Symbole, sondern ist eingelagert und gespeichert auch ins stabilere institutionelle Gefüge der Kultur. Zieht man zu den Spannungen, die zur Debatte stehen, ein abstraktes Zwischenfazit, ist festzuhalten, daß Transformationen, wie sie hier interessieren, grundsätzlich dreidimensional erfolgen. Getauscht, verkehrt werden können kulturdynamisch - von Bereich zu Bereich - nicht nur die Wertvorzeichen, "positiv" und "negativ"; die Werte selbst werden devaluiert, d.h. als indifferente, bloße Fakten dargestellt, und Fakten erhalten, vice versa, werthaften, moralischen Stellenwert. Was den einen hochgradig anspannt - und ihm als Norm entgegentritt -, ist dem anderen ein bloßes, je nach Zwecksetzung nützliches Stück Materie; und was ein Dritter verabscheut, hebt der Vierte in den Himmel. Norm-Fakten-Parameter
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hier, Negationen-Positionen da, durchdringen sich dabei nicht beliebig. Die Momente, so variabel sie wirken, ufern nicht aus ins Chaotische; sie werden im Kulturprozeß nicht nur immer neu gemischt, sondern immer neu auch geordnet, und als Motor solcher Ordnung - von Musterbildung im Dasein - ist Selbststigmatisierung erschienen. Selbststigmatisierung setzt an von Extrempunkten her, von Schuld und Gnade, die sie neu verteilt; sie stellt extremes soziales Handeln selber dar; wie ist ihre Struktur, ist der besondere aktionale Typus, den sie verkörpert, dramatologisch vertieft zu sehen? 3. Wurde Selbststigmatisierung oben als Handeln bezeichnet, das im Maße, in dem es latent zugeschriebene soziale Stigmata spontan übernimmt, Schuld umwerten und in Gnade wandeln kann, ist das Phänomen jetzt zu konkretisieren. Legt man das Schema zugrunde, daß Selbststigmati^ierer Schuld, mit der sie sich identifizieren, fallweise a) als "individuelles Anrecht", oder b) als "kollektives Unrecht" erscheinen lassen, und ergänzt man, daß Stigmata a) in Form von Fehlstellen (Mängeln) als faktische "Defekte", b) in Form von Bringschuld und Makel als moralische "Debita" gegeben sind, erhält man als Haupttypen von Selbststigmatisierung "Exhibitionismus", "Provokation", "Askese" und "Ekstase". Da die Charakteristika dieser Typen hier nicht näher entwickelt werden können26, werden lediglich knappe orientierende Stichworte gegeben: Exhibitionismus und Provokation tragen demnach "konkrete", bald "partikularistische", bald "spezifische" Züge; Askese und Ekstase - die als Königswege, die zu Charisma führen, schon von Weber gesehen wurden27 - gehen ins "Abstrakte", "Universalistische". Hier wie dort werden Stigmata - Anzeichen sozialer Schuld komplex verästelter, sehr unterschiedlicher Art ins Blickfeld gehoben. "Exhibitionistisch" muß das Bekunden eines Anrechts, defektive Stigmata - Mängel, Blößen zur Schau zu stellen, insofern wirken, als jedes Aufdecken solcher Male - das "Blitzen" lassen etwa nackter Haut - im Normalfall (in dem man bekleidet ist) als "schamlos" gilt; "provokativ" ist der Anspruch, Stigmata zu übernehmen, immer dann, wenn die Merkmale für die Öffentlichkeit (resp. Bezugsgruppen) debetiv (kulpativ) getönt sind und Abwehr, Vergeltung, im Sinne spezifischer "politischer" Reaktion nach sich ziehen; "Askese" liegt vor, wenn Selbststigmatisierer defektive Merkmale - so den Umstand, arm und enthaltsam zu leben, demütig zu sein anstatt Macht auszuspielen - in einer Bedeutung nach außen kehren, in der sie als Zeugnisse nicht individueller Mängel, sondern kollektiven Unrechts: der Verderbtheit und Strafwürdigkeit der Gesellschaft (bzw. bestimmter Gruppen) erscheinen; "Ekstase" schließlich glüht in Verhaltensweisen, die soziale Schuld Maßlosigkeit des Systems, Anmaßung der Herrschenden, Gewalt von Usurpartoren - durch Inkorporation entschiedener kulpativer Stigmata offenlegen. Indem Jan Pallach, dessen Selbstverbrennung der Fremdanklage, Festnahme oder Deportation zuvorkam, gesinnungsbesessen, innerlich flammend, sich selbst zum Opfer brachte, hat er die Fäulnis der Gesamtumwelt, der Militärkolonnen, Opportunisten und Gaffer ans Licht gerückt.
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Schließt man die Skizze hier ab und kehrt zum Grundtypus, Selbststigmatisierung, zurück, läßt sich die augenfällige "dramatische" Struktur28, die ihn prägt, auf drei Ebenen - der existentiellen, der sozialen, der kulturellen Ebene - verorten: Was erstere betrifft, tritt Selbststigmatisierung wesentlich dort in Funktion, wo Selbstachtung, Selbstbehauptung und kurz: die Identität des Menschen in Frage stehen. Identität, Persönlichkeit, das Ich - Größen dieser Art werden primär über Negationen - Fremdnegationen, die ihrerseits negiert werden -, erst sekundär aber über Positionen, ja-sagende Bestimmungen, aufgebaut. In jener moralischen Anstalt, die die Gesellschaft darstellt, mit Schuld, Schuldzuweisung ab ovo konfrontiert, erfährt das Handeln sich selbst in Form virtueller sozialer Verneinung; und es bestätigt sich notwendig erst - und begründet sich mit sich selbst als identisch -, indem es dialektisch dieses Verneintwerden selbst bestätigt, d.h. sich selbst stigmatisiert. Selbststigmatisierung liegt "Selbstthematisierung"29, die Identität schon immer voraussetzt, fundierend insoweit voraus; sie schafft Identität uno actu. Die virtuelle stigmative Vernichtung, die Passion und "Auferstehung" des Selbst fallen in ihr dramatisch zusammen. Dramatisch laufen die Vorgänge auch auf sozialer Ebene ab. Selbststigmatisierer erzeugen auf der Bühne - auf der sie agieren, demonstrieren, sich inszenieren mit ihrem ebenso kontrafaktischen wie kontranormativen, in der Bereitschaft zur Selbstvernichtung extremen Tun gleichsam Schockeffekte; sie machen die Szene, die sie zum "Platzen" bringen, zum Tribunal in eigener Sache. Wie in der klassischen griechischen Tragödie wird das Publikum kathartisch dabei aufgewühlt; es neigt dazu, die Umwertung der Werte, von "Unrecht" und "Recht", "Gut" und "Böse", die die Protagonisten vorexerzieren, befreit und erleichtert auch selbst mitzuvollziehen, und ist umso eher bereit, in breiter werdenden charismatischen "Gefolgschaften" mitzugehen, je ambivalenter und unbestimmter, widersprüchlicher und "kritischer" - von Krisen durchsetzt - schon die Ausgangsordnung erschien. Die Stunde nicht nur der Propheten, der Vasallen und Jünger bricht dann an; es wachsen die Potentiale an sozialer "Unruhe"30 generell. Auch der Untergrund, Geheimbünde, Konspirateure und ihre "Netzwerke"31 treten auf, und "Mäzene und Sympathisanten"32, Claqueure, Opportunisten und Adabeis schieben sich ein. Durchglüht von "effervescence"33 - fieberhafter sozialer Begeisterung - und Formen des "Enthusiasmus" - der "Ekstase", der "Orgie" -, die auch Weber als "urwüchsig" für neue, dynamische "Vergemeinschaftung" ansah34, geben Prozesse dieser Art Charisma erst nachhaltiges gesellschaftliches Gewicht; von der Forschung inzwischen näher beachtet, können sie als "Bewegung" - "soziale Bewegung"35 - begriffen werden, in die - bis hin zum Rückfluß in Alltagsroutinen - sich am Ende sehr unterschiedliche soziale Motive mischen. Im Blick zu behalten ist so oder so - was zugunsten flacherer, makrostruktureller Lageanalysen oft vernachlässigt wird -, daß die Phänomene Anstoß, Verstärkung und Katalyse erst in dramatischen, stigmativen, autostigmativen und charismatischen Akten finden. Zuspitzungen dramatischer Art sind schließlich kulturell gegeben. Indem Selbststigmatisierung, als soziales Extremverhalten, vordringt in Grenzbereiche
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hochgradiger normativer Spannung, löst es wie ein Geschoß, das die Schallmauer durchbricht, eklatante "normative Verwirbelung", den "Abriß" gleichsam der Stützen - jener Werte und Leitideen - aus, die das Handeln erwartbar bislang trugen. Das Dasein wird geschüttelt, gerüttelt wie von einer Faust; es jagt, während die alten Normen ausklinken, schrumpfen und lautlos ins Nichts wegsinken, weiter mit sprunghafter neuer Energie. Die Physik hat Prozesse, wie sie hier vorliegen, "dissipativ" genannt und "synergetisch" inzwischen gezeigt36, daß sie - nach Durchlauf zwischengeschalteter, vermeintlich "chaotischer" Phasen - sich "selbst-organisieren" und "spontane" neue Ordnungen bilden. Phänomene wie Selbststigmatisierung, Schuld und Charisma belegen, daß ähnliche Gesetze im Bereich des Kulturlebens gelten. Ist Selbststigmatisierung dabei als genuiner, energiezuführender Motor anzusehen, der Schubkraft entschieden durch Handeln erzeugt, lassen sich Dissipationen, wie sie im Lichtbogen der Kultur, der Sinnsymbole, wirbeln, als "Wertgewitter", "Wertblitz" und "Wertnimbus" bezeichnen. Das Publikum, von "Wertwolkenbrüchen" einmal erfaßt, wird schockhaft gewiß auch hier betroffen; da nicht Naturvorgänge, sondern kulturelle, eben werthafte Ereignisse in Frage stehen, kann es kaum unberührt, kaum unbeteiligt bleiben; verstört, erschüttert, normativ aber hoch auch sensibel gemacht, wird es dramatisch, wie in einem Sog, in das Geschehen einbezogen; es ist aufgerufen, Stellung zu beziehen.
1.3 Faßt man zusammen und wendet sich dem Zielpunkt der Untersuchung, Charisma und Charismatikern, zugleich expressis verbis zu, muß die Kategorie der Selbststigmatisierung, die analytisch bisher offen blieb und nur abstrakt entwickelt wurde, gleichsam synthetisch gefaßt und an die Wirklichkeit, die Phänomene selbst, auch sprachlich näher herangeführt werden. Selbststigmatisierer erscheinen im Kern dann als "Helden"; was sie tun ist "heroisches" Tun. Helden, wie sie archetypisch, im Wesenskern, in Mythen, Märchen, Sagen präsent sind, bewegen nicht nur das praktische Leben; sie beschäftigen an prominenter Stelle auch die Wissenschaften und werden von Religions- und Kulturgeschichte, Ethnologie und Psychologie vorab als Figuren des "Zwischen", als "Mittler"figuren dargestellt 37 . In der Tat sind es Helden, die zwischen Himmel und Erde, Licht und Finsternis, Krieg und Frieden, aber auch Zukunft und Vergangenheit oder Materie und Geist Wechselwege gehen38; sie steigen ab - wie die Mythik es symbolisiert hat - ins Reich der "Hei", ein "Fegefeuer" der "Läuterung"; sie "irren" durch "Wälder" und "Wüsten", kämpfen mit "Ungeheuern", tauchen ins "Drachenblut". Helden aber "erstehen" auch wieder "auf'; sie ringen die Feinde - Mächte des Bösen - nieder, kehren aus der Unterwelt - oder der Welt ferner Götter - zurück und bringen dem Dasein, das dem Alltag - seinen großen Sorgen, aber nur kleinem Glück - verhaftet blieb, das "Wasser des Lebens", Siegeszeichen und Zeichen des "Heils" ins Haus.
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Helden sind von "Fremden", "Gauklern" oder auch "Hexen" - Figuren ebenfalls des Zwischen, der Mitte und Vermittlung39 - im Kern dabei dadurch unterschieden, daß sie "heroisch" handeln, sich vorwagen in Gefahrenzonen und bereit sind, existentielle Risiken bis hin zum Tod einzugehen. Sie symbolisieren in archetypischer Verdichtung Eigenschaften, die strukturell, im Apriori der Praxis, immer schon Selbststigmatisierung prägen, und überhöhen ins Mythische, was im realen soziokulturellen Geschehen als Charisma erscheint. Der immer neue heroische "Kampf', den das Dasein ausführt, ist "Kampf um Werte"; er findet statt im Bannraum von "Schuld", fordert "Opfer" und bedeutet "Leid". Daß Fragen dieser Art radikal-philosophisch hat Nietzsche sie vorgedacht40 -, und Fragen ihrer Lösung, zu den Kernanliegen der Religionen zählen, hat Weber sehr richtig gesehen41; daß sie die Praxis auch aller weiteren soziokulturellen Lebensfelder, die mit Schuld - d.h. virtueller normativer Abweichung - überall konfrontiert sind, durchdringen, ließ er unbeachtet. Hier wie dort liegen durchgehende dramatische - am Ende tragödiale - Situationen vor42: Wenn der besondere normative Druck, der in Gesellschaften wirkt, Deviante zwar primär erfaßt, tendenziell aber verzweigte, auch umstehende Gruppen betrifft, springen Selbststigmatisierer, die sich dem Druck entgegenstellen, für andere mit in die Bresche. Adressaten einhakender sozialer Identifikationen, können sie aufsteigen zur Leitfigur und so zum Vorbild für Massen werden. Die Bedeutung von Selbststigmatisierung, ihr Rang im soziokulturellen Handlungsfeld, springt enantiodromisch um vor allem dann, wenn die Akteure ins Zentrum der Krise in der Tat vorstoßen, Risiken sichtbar auf sich nehmen und sich tragisch am Ende selber opfern. Die Bereitschaft, die Repräsentanten der alten Ordnung herauszufordern, der Mut, sich ihnen zu stellen, beleuchtet, bereinigt die Szene in bisher nicht gekanntem Maße. Die Krise wird auf ihren innersten, jetzt greifbaren Kern, auf ebenso krasse wie klare Gehalte zurückgeführt. Die alten sozialen Mächte werden dekouvriert; sie erscheinen als Kaiser ohne Kleider, und im Maße, in dem die Gesellschaft, von Gegensinn unterhöhlt, normativ in sich zusammenfällt, brechen neue soziale Freiheiten, neue schöpferische Kräfte selber durch. Der Punkt der Katharsis, der Lösung bisher lähmender krisenbedingter Hemmungen ist erreicht, und fortwirkende, sinnerfüllte soziale Praxis kommt unter neuen kulturellen Bedingung neu zustande. Von ersten Anhängern, dann Gefolgschaften, schließlich breiteren sozialen Bewegungen getragen, nimmt Selbststigmatisierung die Züge von Begnadung an; sie schlägt um in Charisma. Indem Selbststigmatisierer Stigmata - zugeschriebene soziale Schuld - als Selbstwert bejahen und sie so zu "vergültigen" - kulturell zu legitimieren - suchen43, werden sie zum Vorbild für viele und ziehen sympathetisch das "Mitgefühl", ja "Mitleiden" des Publikums überhaupt, sein "Einsgefühl"44 auf sich. Die Spannungen entladen sich "fulgurativ"45; sie schlagen um in "Verklärung", "Heiligung" und schaffen so, im Gegenzug, die Strahlkraft eben von Charisma. An dieser Stelle ist hervorzuheben, daß Charisma über die Figur des Helden hinaus, in der sich Selbststigmatisierung verdichtet - von "Helden der Askese", "Heldenekstase" hatte schon Weber gesprochen46 -, zurückführt auf die Figur des
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"Opfers". Daß das Opfer - und nahe verwandt: "Leiden" und "Leid" - im Dasein des Menschen zentralen Stellenwert haben, ist evident; es entspricht elementar der Erfahrung nicht nur der Praxis, sondern wird mit breitem Konsens von der kulturwissenschaftlichen Forschung belegt. 47 Das Phänomen hat gewiß nicht nur engere religiöse Bedeutung; es ist mit menschlichem Handeln, dessen dramatischen Kern es bildet, vielmehr prinzipiell gegeben - "if action, then drama, if drama, then conflict, if conflict, then victimage"48 -, und weist neben transitiven auch vertiefte, intransitive Seiten, die Seiten der "Selbstopferung", auf. Wenn Menschen im Streit, jenem Kampf um Werte, sich immer neu entzweien, wird Solidarität, wird Kultur überhaupt, erst dauerhaft durch das Opfer - am Ende das Selbstopfer - begründet. 4 9 Helden stellen Opferer, Selbstopferer, prototypisch dar; kategorial gesehen, erscheinen sie auf der "Walstatt Gesellschaft", auf der Normen und Gegennormen, Vergeltung und Strafe wie Sperrfeuer wirken, als "Helden der Schuld" und "voropfernde" heroische Selbststigmatisierer. Sie setzen sich dem "Stahlgewitter" des Normativen insofern aus, als sie Schuld - wie sie virtuell doch alle ergreift ebenso spontan, bewußt, wie sinnwandelnd, sinnverkehrend, stellvertretend auf sich nehmen. Da gegebener kultureller Sinn umschlug für sie in Widersinn - den Zwang eines Kollektivs, das dem Dasein weder mehr Perspektiven noch Handlungsraum und "freies Spiel" gewährte -, schaffen sie - indem sie sinnfordernd, weil sinndepraviert, ihr Selbst, ihren Selbstwert, selbst einsetzen - selbstopfernd neuen Sinn. Erst Handeln, das in Nöte, Notwendigkeiten dieser Art sich aus freien Stükken begibt, Handeln, das sozialem Zwang entgegentritt bis hin ins Risiko des Scheiterns, vermag neue Orientierungen, neuen Sinn zu geben; es "erlöst" die Lage vom alten, bisher waltenden Bann, hebt die Nebel und läßt strahlende neue Werte sichtbar werden. Helden, als Selbstopferer, erstehen hier als "Heiland" auf; sie erhalten "Nimbus" und erscheinen in charismatischem Glanz. Daß die Analyse erneut hier an Christus, als exemplarischen Charismatiker, erinnert 50 , hat gewiß guten Grund. Christus - und mehr noch die Christologie - decken die Strukturen, die zwischen Schuld und Erlösung, Opferlamm und Sündenbock, Märtyrerschaft und Gnadengabe liegen, idealtypisch auf, und wenn das Christentum Wirkung - weltgeschichtliche Wirkung - nicht nur als schöner Symbolismus, sondern als pastorale Praxis gezeigt hat, muß man folgern, daß es den Selbstdeutungen, Erfahrungen, Erwartungen gerade des konkreten, sozialexistentiellen Lebens entgegen kam. 51 Absolut zu setzen als Realtypus ist es freilich dennoch nicht: nicht nur, daß jenes Drama, das Stigmatisierung, Selbststigmatisierung, Charismatisierung bestimmt, in den Wertaspekten aufs Christliche nicht notwendig hinausläuft; der Sinn, den das Geschehen erhält, gilt, relativ zur fraglichen vorgängigen Normenlage, immer nur subjektiv; er ist Konstruktion kontingenter Art und kann, für außenstehende Dritte, sehr schnell auch verwirrend-verwirrte, "diabolische" Züge tragen. Die Phänomene beziehen sich, darüberhinaus, auf etwa letzte - schlechthin transzendente - soteriologische Zwecke, wie das Christentum sie festhält, auch keineswegs ausschließlich; sie sind in den Alltag, seine Routinen, Banalitäten und Getrieben-
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heiten, eng überall eingebunden, gehen aus höchst unterschiedlichen inhaltlichen Engagements hervor und übersteigen die Gegebenheiten i.d.R. nur "um ein kleines", temporär und partiell. Nicht nur die Königswege, Askese und Ekstase, sind es ja, die zu Charisma führen können; auch Exhibitionismus und Provokation eröffnen typische, weitverzweigte Pfade52, und "normative Blitze", gewissen charismatischen "Charme", hatten seinerzeit, 1969, auch jene Studentinnen erzeugt, die Adorno, dem Emanzipationsphilosophen, im Hörsaal die Brüste entgegenhielten. Zu notieren schließlich ist überhaupt, daß die "Verklärung" von Charismatikern, ihr "Heiligenschein" und kurz, die übersinnliche "Aura", die sie umgibt, realsoziologisch gesprochen nichts Geistiges "an sich" darstellt; sie leitet sich vielmehr ab, ist abgerungen und abgepreßt von Qualitäten, die dem Leben selbst entstammen und durchaus sinnliche, von dort her wirkende Bedeutung haben. So erscheint die Göttin des Siegs, Nike, die die Mannen beflügelt, bis hin zur "Revolution", die die Bastille stürmt, sehr körperhaft als Frau; das Schlachtfeld, ein Heer von Gefallenen, gibt dabei krassen Kontrast. Und Jesus, der Auferstandene, der die Heilsmale zeigt, zeigt Male eben des Leidens - physischen Leidens -, Wundmale der Kreuzigung, Male des Todes. Was eingeht in den Strahlenschimmer, was Charismatiker und ihr Tun im Kern verklärt, ist nicht nur der gleichsam verlöschende, von ferne noch scheinende Glanz alles dessen, was sie an Gegenwerten bekämpft, umgebogen und gewandelt hatten zu neuem Sinn; es ist die Leidenskraft des Lebens selbst, die sie, wo immer sie standen, in die Waagschale warfen, Kraft, die jetzt, im Nachhall, noch nachbebt. So verklärt sich die Scham, die Exhibitionisten verletzten, in der Tat zu "perversem" sinnlichen Reiz; die Gewalt, die Provokateure riskieren, flattert als Fahne und Führergloriole; Kasteiung, Weltflucht, Abtötung des Fleisches, wie Asketen sie üben, fließen ein in düsteres, gleichwohl betörendes Geistesglühen; das orgiastisch entbrannte lodernde Leben, das der Ekstatiker opfert, flammt als Fanal über dem Scheiterhaufen. So zeigt sich am Ende zweierlei: Die Strahlkraft, Aura und eigentümliche Verklärung, die Charismatiker an sich haben, geht zurück zunächst auf den Umstand, daß die dramatische Spannung, die Selbststigmatisierung - Opferbereitschaft - auf der Ebene der Wertsymbole - jener Sinnmuster und fließenden semantischen Potentiale - erzeugt, sich gleichsam fulgurativ, in Wertblitzen, Wertgewittern entlädt; sie springt über von Pol zu Pol, steigt auf und umzuckt das Geschehen wie Wetterleuchten. Es leitet sich dann indessen - im Effekt noch bedeutsamer - davon ab, daß das Phänomen den Glanz gerade des Lebens, eines immer sinnlichen, neuen Lebens, widerspiegelt53, den Herzschlag eines Prinzips, das von den alten soziomoralischen Ordnungen verdrängt, verschüttet, unter Schuld begraben war, und das nun, da das Grab gesprengt ist, in eine neue, wiederbegründete Kulturwelt frühlingsfrisch herüberlächelt. Der Zusammenhang trägt dialektische, von Torsionen, Torturen, Tod gequälte Züge freilich auch hier. Selbststigmatisierer sind Selbstopferer; sie schauen dem Abgrund ins Auge, und das Lächeln, das sie lächeln, ist Lächeln - erstarrtes Lächeln - letztlich derer, die mit dem "Strahl der Rache" die Gesellschaft traf, und für die sie, voropfernd, selbst nun büßen. Funkelte
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nicht im Nimbus, der Savanorola umgab, im Kern auch das Geschmeide, das auf den Bußaltar des Asketen in Florenz die Damen warfen? Glomm nicht im finsteren Schein, in dem Khomeini sich zeigte, das Augenschmachten unterdrückter, tschadorverschatteter Frauen? Und borgt nicht auch jener Glamour, den das Pinup im Spind des Soldaten hat, Licht von der Morgenröte, die groß vor dem letzten Gefecht aufzieht?
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Meine Überlegungen gehen aus von meinem Buch "Stigma und Charisma. Über soziales Grenzverhalten", Berlin 1985 (italienisch unter dem Titel: Stigma e carisma. Del comportamento sociale marginale, in Vorb.). Sie akzentuieren wichtige, dort entwickelte Konzepte inzwischen entschiedener und versuchen, die Klärung vor allem der engeren kulturellen Bezüge der Fragen voranzubringen. - Ausdrücke, die im Text unter Anführungszeichen gesetzt sind, entsprechen, soweit nicht anders angegeben, i.d.R. Begriffen, denen systematischer Stellenwert auch im Buch zukommt. Sie werden hier nicht gesondert belegt. Vgl. Lipp,W.: "Art. Kultursoziologie", in: Endruweit,G./Trommsdorf,G. (Hrsg.): Wörterbuch der Soziologie, Bd.2, Stuttgart 1989, S.373-379, bes. S.377f. Weber,M.: Wirtschaft und Gesellschaft, 5Aufl., Tübingen 1976, l.Hlbbd. Teil I, Kap. III; 2. Hlbbd, Kap. IX, Abschn. 5. Weber 1976, S.140. Weber 1976, S.140. Zu dieser Kategorie, die über den "symbolischen Interaktionismus" auf Weber selbst zurückführt, vgl. Berger,P.L./Luckmann,T.: The Social Construction of Reality, New York 1966 (deutsch unter dem Titel: Die soziale Konstruktion der Wirklichkeit, 3Aufl., Frankfurt/M. 1972); s.a. zur Idee "normativer Konstruktion": Popitz,H.: Die normative Konstruktion der Wirklichkeit, Tübingen 1980. Weber 1976, S.140, vgl.a.: S.142. Zu diesem Konzept erstmals: Goffman,E.: Stigma. Notes on the Management of Spoiled Identity, New York (deutsch unter dem Titel: Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität, Frankfurt/M. 1967); dazu ferner Shoham, Shlomo Giora: The Mark of Cain. The Stigma Theory of Crime and Societal Deviation, Jerusalem 1970; Brusten,M. und HohmeierJ. (Hrsg.): Stigmatisierung. Zur Produktion gesellschaftlicher Randgruppen, 2 Bde., NeuwiedDarmstadt 1975. In Anschluß z.B. an: Douglas,J.D. (ed.): Deviance and Respectability. The Social Construction of Moral Meanings, New York-London 1970; Lyman,S.M.: The Seven Deadly Sins. Society and Evil, New York 1978. Dazu: Lipp,W. und Tenbruck,F.H. (Hrsg.): "Kultursoziologie" (Schwerpunktheft der 'Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie' 31, Heft 3), Opladen 1979. Vgl. z.B.: Katz,J.: "Deviance, Charisma, and Rule-Defined Behavior", in: Social Problems 20, 1972, S.186-202. S. näher: Lipp,W.: "Charisma - Social Deviation, Leadership an Cultural Change. A Sociology of Deviance Approach", in: Annual Review of the Social Sciences of Religion, Vol.1,1977, S.59-77. Vgl. jetzt auch: Lewis,J.M.: Religion in Context, Cambridge 1986 (deutsch unter dem Titel: Schamanen, Hexer, Kannibalen. Die Realität des Religiösen, Frankfurt/M. 1989, z.B. S.7f., S.91), mit der Unterscheidung äquivalenter, "positiver" und "negativer" Formen von Charisma; religionsethnologisch. Jung,C.G.: Symbole der Wandlung. Analyse des Vorspiels zu einer Schizophrenie, Zürich 1952. S. erstmals: Lipp,W.: "Kultur, dramatologisch", in: Österreichische Zeitschrift für Soziologie 9, Heft 1 + 2 (Schwerpunktheft 'Kunst-Kultur-Gesellschaft') 1984, S.18; die Informationstheorie spricht von "Rauschen".
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16 Weber,M.: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. 1, Tübingen 1920 (Neudruck 1972), S .568; vgl. ebda., S.571. 17 Burke,K.: "Interaction: Dramatism", in: International Encyclopedia of the Social Sciences, hrsg. von D.L.Sills, New York 1968 (Reprint 1972), Vol. 7, S.451. 18 Vgl. zum Folgenden: Lipp 1985, Abschn.II,A; sowie: ders.: Schuld und Gesellschaft. Mechanismen der sozialen Zuschreibung. Bewältigung und Handlung von Schuld, in: Schuld - Strafe - Versöhnung. Ein interdisziplinäres Gespräch, hrsg. von A.Köpcke-Duttler, mit einem Vorwort von Volker Eid, Mainz 1990, S.117-155. 19 Vgl. erstmals: Lipp,W.: "Selbststigmatisierung'', in: Stigmatisierung. Zur Produktion sozialer Randgruppen, hrsg. von M. Brüsten und J.Hohmeier, 2 Bde., Neuwied-Darmstadt 1975, Bd. 1, S. 25-53. 20 ΗοΙΙ,Κ.: Enthusiasmus und Bußgewalt im griechischen Mönchtum. Eine Studie zu Symeon, dem neuen Theologen, Leipzig 1898. 21 Weber 1976, S.146. 22 Nietzsche,F.: Der Wille zur Macht. Versuch einer Umwertung aller Werte (1906), Ausgabe Leipzig 1930. 23 Vgl. Gennep,A. van: Les Rites de passage, Paris 1908 (deutsch unter dem Titel: Übergangsriten, Frankfurt/M.-New-York 1986). 24 Mühlmann,W.-E.: Chiliasmus und Nativismus. Studien zur Psychologie, Soziologie und historischen Kasuistik der Umsturzbewegungen, Berlin 1961. 25 Turner,V.W.: The Ritual Process. Structure and Anti-Structure, London 1969 (deutsch unter dem Titel: Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur, Frankfurt/M.-New York 1989). 26 S. ausführlich: Lipp 1985, Abschnitt II; Schemata S. 132,187,189. 27 Weber 1976, S.140; sowie bes. S.246 et passim; s. ferner Weber 1920/72: Einleitung, bes. S.242; Zwischenbetrachtung. 28 Zu einer "dramatologischen"/"dramaturgischen" Soziologie, vgl. erstmals: Goffman 1959/69; ferner z.B.: Burke 1968; Combs,J.E. und Mansfield,W.E. (eds.): Drama in Life: The Uses of Communication in Life, New York 1976; Lyman 1978; zur Weiterentwicklung s.a.: Lipp 1984. 29 S. zu dieser: Hahn, A. und V. Kapp (Hrsg.): Selbstthematisierung und Selbstzeugnis: Bekenntnis und Geständnis, Frankfurt/M. 1987. 30 Dazu z.B.: Klages,H.: Die unruhige Gesellschaft. Untersuchungen über Grenzen und Probleme sozialer Stabilität, München 1975. 31 Dazu gut: Neidhardt,F.: "Einige Ideen zu einer allgemeinen Theorie sozialer Bewegungen", in: Sozialstruktur im Umbruch. Karl Martin Bolte zum 60. Geburtstag, hrsg. von Stefan Hradil, Opladen 1985, S.193-204. 32 Dazu: StaglJ.: "Mäzene und Sympathisanten", in: ders. (Hrsg.): Aspekte der Kultursoziologie. Festschrift für Mohammed Rassem, Berlin 1982, S.221-238. 33 Durkheim,E.: Les Formes élémentaires de la vie religieuse. Le système totémique en Australie, Paris 1912 (deutsch unter dem Titel: Die elementaren Formen des religiösen Lebens, Frankfurt/M., 2. Aufl., 1984). 34 Weber 1976, S.246. 35 Vgl. f. a.: Raschke.J.: Soziale Bewegungen. Ein historisch-systematischer Grundriß, Frankfurt/M. 1985. 36 Haken,H.: Synergetics. An Introduction, Berlin-Heidelberg 1977 (deutsch unter dem Titel: Synergetik. Eine Einführung. Nichtgleichgewichts-Phasenübergänge und Selbstorganisation in Physik, Chemie und Biologie, 3. erw. Aufl., Berlin-Heidelberg 1990). 37 Vgl. z.B.: Campell,J.: Der Heros in tausend Gestalten, Frankfurt/M. 1953, mit Bezug bes. auf C.GJung. 38 Zu einer frühen - anthropologisch grundsätzlichen - Theorie des "Heroischen" vgl. mit wichtigen, auch bewußtseinsphilosophischen Implikationen: Bruno,G.: Von den heroischen Leidenschaften (italienisches Original 1585). Übers, u. hrsg. von Christiane Bachmeister. Mit einer Einleitung von Ferdinand Fellmann, Hamburg 1989. 39 Vgl. z.B. zu "Fremden": Hettlage,R.: "Der Fremde - Kulturmittler, Kulturbringer, Herausforderer von Kultur", in: Kulturtypen, Kulturcharaktere. Träger, Mittler und Stifter von Kultur, Berlin
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1987, S. 25-44.; ferner etwa: Neumann,E.: Künstlermythen. Eine psycbo-historische Studie über Kreativität, Frankfurt/M.-New York 1986; zu "Hexen": Duerr,H.P.: Traumzeit. Über die Grenzen zwischen Wildnis und Zivilisation, Frankfurt/M. 1978. Nietzsche,F.: Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift (1887), in: ders.: Gesammelte Werke, hrsg. von R.Oehler u.a., Bd. 15, München 1925. Weber 1920/72: Einleitung; Zwischenbetrachtung. Vgl. z. Folgendem: Lipp 1984, S.19f. "Schuld", engl, "guilt", und "Gültigkeit", "Geltung" dürften - wie die Dialektik der Sache selbst nahelegt - im germ. Wortstamm auch etymologisch verwandt sein; die Beziehung ist nicht gesichert. Scheler, M.: Wesen und Formen der Sympathie (1913), 5Aufl., Frankfurt/M. 1948. S.z.d. Begriff: Beierwaltes, W.: Art. "Fulguration", in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. von J.Ritter, Bd. 2., Basel-Stuttgart 1972, Sp.1130-1132. Weber 1976, S.142, S.249 ; vgl. a.: Weber 1920/72, S.251. S. bes. jetzt Girard,R.: La Violence et la sacré, Paris 1972 (deutsch unter dem Titel: Das Heilige und die Gewalt, Zürich 1987); ferner Burkert,W.: Anthropologie des religiösen Opfers. Die Sakralisierung der Gewalt, München 1984. Burke 1968, S.451. Vgl.a.: Girard,R.: Des Choses chachées depuis la fondation du monde, Paris 1978 (deutsch unter dem Titel: Das Ende der Gewalt. Analyse des Menschheitsverhängnisses, Freiburg-Basel-Wien 1983). S. näher a.: Ebertz,M.N.: Das Charisma des Gekreuzigten. Zur Soziologie der Jesusbewegung, Tübingen 1987. Vgl. z.B.: Vauchez^.: "Der Heilige", in: Der Mensch des Mittelalters, hrsg. von J.LeGoff, Frankfurt/M.-New York 1989, S.340-373; kulturgeschichtlich. Zum Zusammenhang von "Heroismus" und z.B. "Obszönität" vgl. schon: Bruno 1585/1989. Lipp,W.: "Männerbünde, Frauen und Charisma. Geschlechterdrama im Kulturprozeß", in: Männerbünde, Männerbande. Zur Rolle des Mannes im Kulturvergleich, hrsg. von G.Vögler und K.von Welck, Köln 1990, S.31-40,343-344.
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Charisma, Gemeinde und Bewegung Zwei Paradigmata für den charismatischen Prozeß Luciano Cavalli*
Max Weber hat uns einige nicht ganz miteinander abgestimmte Definitionen des Charisma und damit verwandter Begriffe hinterlassen. Für die Zwecke dieses Aufsatzes werde ich nur zwei dieser Definitionen abhandeln, die in "Wirtschaft und Gesellschaft" enthalten sind. Die erste gilt für Charisma im allgemeinen; sie ist ohne Zweifel von soziologischer Bedeutung, aber nicht direkt verbunden mit dem Projekt einer "verstehenden Soziologie". Weber erklärt hier, daß er den Begriff des Charisma für jene "außeralltäglichen Kräfte" gebrauchen wird, die von Personen, Tieren (wie dem Stier Apis) und Objekten ausgehen können. Besonders erwähnt er diejenigen Personen, die "in Ekstase ... geraten und ... Wirkungen metereologischer, therapeutischer, divinatorischer, telepathischer Art herbeiführen" können.1 Die erste Definition kann als Voraussetzung der zweiten betrachtet werden. Diese gilt nur für den Menschen und wurde von Weber insbesondere für das Studium der Herrschaftsverhältnisse entwickelt. Sie ist allgemein bekannt, aber ihre Logik und ihre Implikationen für die These dieses Aufsatzes müssen streng geprüft werden. Deshalb will ich sie mindestens teilweise zitieren: "'Charisma' soll eine als außeralltäglich ... geltende Qualität einer Persönlichkeit heißen, um derentwillen sie als mit übernatürlichen oder übermenschlichen oder mindestens spezifisch außeralltäglichen, nicht jedem andern zugänglichen Kräften oder Eigenschaften (begabt) oder als gottgesandt oder als vorbildlich und deshalb als 'Führer' gewertet wird."2 Aus diesem Zitat läßt sich ersehen, daß Weber die soziale Einschätzung der persönlichen Qualität eines Menschen als entscheidend für die Festlegung des Charisma betrachtet. Die Definition verwandelt das "persönliche" Charisma in eine interpersonale, soziologische Beziehung mit dynamischem Potential. Dies wird besonders deutlich am Ende dieser Definition, wo der Charismaträger als Führer einer Gefolgschaft bestimmt wird, die aus denen entstanden ist, die seine Qualität als außeralltäglich werten.
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Webers Ausführungen über das Phänomen des Charisma sind Bestandteil seines Projekts, ein System von Begriffen und Regeln als Instrument einer "verstehenden Soziologie" zu bilden - einer Soziologie, die aufgrund des subjektiv gemein*
Übersetzung aus dem Italienischen: Luciano Cavalli unter Mitarbeit von Arnold Zingerle und Winfried Gebhardt
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ten Sinns der Handelnden soziale Phänomene ursächlich zu erklären versucht. Eine solche Soziologie war ursprüngliche nur als "ancilla" der Historiographie gedacht, im Laufe der Zeit gestand ihr Weber aber zunehmend fachliche Eigenständigkeit zu. Von diesem Standpunkt aus betrachtet erscheinen diejenigen seiner "reinen" ("Ideal")-Typen, die einen generalisierenden Wesenszug enthalten, als besonders wichtig. Idealtypen wurden gebildet durch die Analyse sozialer Phänomene, die Weber als ähnlich erachtete. Aus diesen Phänomenen zog er bestimmte Bestandteile heraus, die er, von seinem Forschungsinteresse her gesehen, für allgemein und, vor allem, für wesentlich hielt, um sie in ein begriffliches System einzuordnen. Ein solcher Typus soll dem Forscher helfen, die Entwicklung historischer Phänomene zu verstehen, von denen angenommen werden kann, daß ihre Entwicklungslogik wenigstens zum Teil der Logik des Typus entspricht. Nach Webers Ansicht sind Idealtypen immer "Grenzbegriffe", die nur als heuristische Instrumente gebraucht werden können. Demnach ist es eher unwahrscheinlich, daß ein historisches Phänomen genau einem solchen Typus entspricht. Ein solcher Typus kann rein formal gebildet werden. Weber selbst hat jedoch keinen formalen Typus der Wechselwirkung zwischen dem charismatischen Führer und seinen Anhängern konstruiert; er ist auf den Verlauf dieser Beziehung, aus dem eine "Bewegung" oder eine "Gemeinde" entsteht, nicht näher eingegangen. Er hat uns allerdings an verschiedenen Stellen seines Werkes bedeutsame Elemente dieses Ablaufs vorgestellt. Damit hat er uns die meisten Bestandteile an die Hand gegeben, die wir benötigen, um ein begriffliches Instrument im Sinne des Weberschen "Idealtypus" zu bilden. Dieses begriffliche Instrument werde ich "Paradigma" nennen, um den dynamischen Charakter der in ihm enthaltenen Theorie hervorzuheben. Nach Webers eigenem Anspruch sollen begriffliche Werkzeuge dieser Art und die Arbeit mit ihnen die intersubjektive Gültigkeit wissenschaftlicher Forschung garantieren, die prinzipiell darin besteht, daß jeder, nach eigener Überprüfung, die gewonnenen Erkenntnisse als gültig anerkennen muß. Um diesem Anspruch zu genügen, müssen sie aber von nicht bewiesenen theoretischen Voraussetzungen und von allen meta-theoretischen Vorannahmen und Glaubensüberzeugungen frei sein. Gerade dies wird aber, was Webers eigene Typenbildungen anbelangt, hin und wieder angezweifelt. Einige seiner Kritiker behaupten zum Beispiel, daß die Definition des Charisma und des charismatischen Führers ebenso wie die anderen Bestandteile des Paradigma ohne angemessene wissenschaftliche Begründung die Existenz einer unvernünftigen und rein gefühlsmäßig handelnden Masse voraussetzen. Vielleicht setzen sie aber auch den Begriff der Suggestion voraus, den Weber von Willy Hellpach entlieh - als ob dieser ein Instrument für zusätzliche psychologische Einsichten wäre. Infolgedessen verneinen diese Kritiker, daß es das Phänomen der Hingabe einer Gruppe an einen Führer, veranlaßt durch dessen persönliche Qualitäten, die die Gruppe als außeralltäglich ansieht, als sozial bedeutsame Erscheinung überhaupt gibt. Demnach ist eher unwahrscheinlich, daß
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unser Paradigma sofort auf breite Anerkennung stößt. Von diesem Standpunkt aus entspricht es nicht Kuhns Vorstellungen von einem Paradigma als dem gemeinsamen Werkzeug einer "scientific community". Es muß allerdings bemerkt werden, daß es auch Sozialwissenschaftler gibt, die die "Theorie des Charisma" als bedeutendes Instrument soziologischer Forschung ansehen und benutzen. Neben den Begriffen "Charisma" und "charismatischer Führer" schlage ich die folgenden als Hauptbestandteile des Paradigma vor: "ungewöhnliche Situation"; "Berufung"; "Sendung"; "Verkündigung" (gestützt auf eine implizite oder explizite Lehre); "Anerkennung"; "Gefolgschaft"; "Bewährung"; "Metanoia"; "Wiedergeburt"; "Gemeinde" und "Bewegung". Die meisten dieser Begriffe hat Weber selbst definiert und genutzt. Die Begriffe "Gemeinde" und "Bewegung" gliedern sich nun ihrerseits wieder auf, so kann zum Beispiel der Begriff der "charismatischen Aristokratie" gebildet werden. Im allgemeinen stehen die hier genannten Bestandteile des Paradigma für die diachronischen Elemente eines charismatischen Ablaufs, es gibt freilich auch Synchronismen im Aufbau einer "Gemeinde" oder "Bewegung". Wie schon erwähnt, geht diese komplexe Dynamik in das Paradigma ein, das als theoretisches Schema die Analyse eines soziologischen Ablaufs ermöglichen soll.
2.2 Um das Paradigma weiter entfalten zu können, muß zuerst eine Aporie im zweiten Teil der Hauptdefinition Webers geklärt werden. Diese besagt, daß der Träger des Charisma als Führer nur bei denen Gefolgschaft findet, die seine "Qualitäten" als außeralltäglich einschätzen und ihm deshalb außergewöhnliche Kräfte oder Eigenschaften zuschreiben. Und indem sie das tun, wird eine Herrschaftsbeziehung festgeschrieben. Diese ausschließliche Ableitung der Herrschaft von der Wertung einer Qualität als außeralltäglich ist nicht gerechtfertigt. Es existiert hier ein soziologisches "non sequitur". Es ist möglich, daß eine Person einer anderen eine derartige (außerordentliche) Qualität zuschreibt, ohne daß sie sich zur Hingabe verpflichtet fühlt. Auch kann eine solche Qualität nicht nur Hingabe, sondern auch Furcht, Abneigung und andere "negative" Gefühle auslösen. Damit ein charismatischer Ablauf entstehen kann, müssen günstige historische Bedingungen existieren. Deshalb sagt Weber, daß am Anfang eines charismatischen Ablaufs immer eine "ungewöhnliche Situation" steht. Gemeint ist damit nicht nur eine "neue Situation", sondern eine solche, die die Mitglieder eines sozialen Systems vor neue Probleme im Hinblick auf ihre wichtigsten materiellen und ideellen Interessen stellt. Die "ungewöhnliche Situation" kann also durchaus als "Krise" bezeichnet werden. Diese kann sich nun, so Weber, in der "inneren" wie in der "äußeren" Welt, wie auch in beiden gemeinsam, entwickeln. Es steht ja außer Frage, daß eine "äußere Krise" gewöhnlich auch erschütternde psychologische
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Wirkungen hat, wie die Weltwirtschaftskrise der 30er Jahre hinreichend deutlich gemacht hat. Weber selbst entwickelt keine psychologische Analyse einer solchen ungewöhnlichen Situation. Aber er stellt fest, daß in solchen Situationen "Menschengruppen" anfällig sind für charismatische Entwicklungen, daß sie plötzlich eine "gemeinsame Erregung" spüren, die aus der Erfahrung des "Außerordentlichen" geboren wird.3 In einer solchen Situation kann ein Mensch mit außergewöhnlichen Qualitäten wirkungsvoll und erfolgreich auftreten. An dieser Stelle führt Weber nun den Begriff der Suggestion ein, die der Träger des Charisma auf unterschiedliche Weise ausüben kann.4 Selbst wenn von dieser besonderen Theorie abgesehen wird, steht fest, daß in Zeiten einer Krise zahlreiche Menschen bereit sind, "außergewöhnliche" Erscheinungen wahrzunehmen und einer Person bedingungslos zu folgen, die mit großer Überzeugungskraft eine Lösung der Krise verspricht. In dieser Erklärung des Ursprungs eines charismatischen Ablaufs mischen sich bei Weber, meiner Meinung zufolge, die Einflüsse von Willy Hellpach und Gustave Le Bon (den Weber allerdings mißverstanden zu haben scheint), die an anderer Stelle mit bemerkenswerten Folgen getrennt werden. Aber die Existenz einer Krise allein genügt nicht, um die Genese eines charismatischen Ablaufs in seiner tatsächlichen historischen Gestaltung zu erklären. Kritiker haben mit Recht geurteilt, daß Weber in "Wirtschaft und Gesellschaft" wenig darüber sagt. In der Abhandlung über "Das antike Judentum" aber bietet Weber eine mustergültige Rekonstruktion der kulturellen Entwicklungen an, welche im Volke Israel zuerst die Periode der großen Prophetie und dann die Ankunft Jesu vorbereiteten. Hier weist Weber eindringlich auf die Bedeutung der kulturellen Bedingungen hin. Wichtig für uns ist, daß einige dieser kulturellen Bedingungen, die jene charismatischen Phänomene in Israel vorbereiteten, auch für charismatische Entwicklungen in Europa und anderswo eine wichtige Rolle gespielt haben, insbesondere wenn in Zeiten einer Krise chiliastische und messianische Erwartungen geweckt wurden. Und natürlich wurde keine Person als Führer anerkannt, die nicht entsprechend der Kultur ihrer "Menschengruppe" die Krise zu deuten und eine kulturadäquate Lösung anzubieten wußte.
2.3 Das Paradigma geht also mit Weber davon aus, in einem charismatischen Führer den Urheber eines charismatischen Ablaufs innerhalb einer spezifischen "Menschengruppe" zu sehen, die aus unterschiedlichen Gründen für eine solche Entwicklung bereit ist. Wie schon erwähnt, ist der charismatische Führer der erste, der bedingungslos an seine Sendung glaubt. Deshalb beinhaltet der Begriff des Charisma auch notwendig die Idee einer Sendung als konstitutiven Bestandteil. Ohne diesen würde der Begriff viel von seiner analytischen Kraft verlieren, gerade wenn
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es darum geht, charismatische Phänomene in der modernen "zivilisierten" Welt zu untersuchen. Ebenso wie Hellpach glaubte auch Weber, daß die Überzeugung, Charisma zu besitzen, das Produkt einer abnormen Persönlichkeit sei, die außergewöhnlichen Erfahrungen wie ekstatischen Zuständen, Visionen und Offenbarungen ausgesetzt ist. Diese Erfahrungen werden dann als "Berufung" zur "Sendung", die Welt von ihrer Krise zu erlösen, gedeutet. Weber hatte hier insbesondere die jüdischen Propheten, später dann auch Mohammed im Auge. Aber auch in unserer Zeit lassen sich Beispiele finden, in denen ein Führer durch spezifische Erfahrungen die Gewißheit seiner charismatischen Sendung erlangt, welche sich dann als Suggestion auf seine Anhänger überträgt. Ein Mensch, der sich durch solche Erfahrungen oder auch durch eine "innere Stimme" berufen fühlt, hat das Bedürfnis, seine Lösungen durch "Verkündigung", durch eine "Botschaft" zu offenbaren und im Namen seiner Sendung Gehorsam zu fordern. Sein Charisma und seine Verkündigung sichern ihm dann die "Anerkennung" eines Teils der Menschen, die sich in einer Krise wähnen. Aus diesen entwächst seine Gefolgschaft. An dieser Stelle müssen nun, bevor das Paradigma weiter entwickelt werden kann, kurz zwei Probleme angesprochen werden. Das erste betrifft die Beziehung zwischen der "Anerkennung" des Führers und seiner "Bewährung". Für Weber ist von größter, ja von prinzipieller Bedeutung, daß der Führer Anerkennung als Pflicht seiner Anhänger fordert. Er schreibt: "Über die Geltung des Charisma entscheidet die durch Bewährung ... gesicherte freie ... Anerkennung".5 Diese Anerkennung gewinnt der Führer durch außergewöhnliche Leistungen. Weber wußte jedoch auch, daß es in der Geschichte genügend Beispiele gibt, in denen diese Reihenfolge nicht stimmt. So folgen in den Evangelien Simon und Andreas Jesus, als er das von ihnen fordert und bevor er Wunder vollbringt, andere Apostel aber erst danach. Und dies ist durchaus verstehbar, weil letzten Endes "diese 'Anerkennung' ... psychologisch eine aus Begeisterung oder Not und Hoffnung geborene gläubige, ganz persönliche Hingabe" ist.6 Wichtiger ist freilich ein anderes Problem, das Anlaß zu vielen heterodoxen Auslegungen der Charisma-Theorie gegeben hat. Beruht der Glaube der Anhänger eher auf der Person des Führers oder der Art seiner Verkündigung? Die Logik des Paradigma scheint keinen Zweifel an der Art der Antwort zu erlauben. Weber selbst schreibt allerdings über den Propheten, den er als einen "rein persönlichen Charismaträger" auffaßt, daß es nicht von grundsätzlicher Bedeutung ist, "ob mehr die Anhängerschaft an die Person wie bei Zarathustra, Jesus, Muhammed oder mehr an die Lehre als solche - wie bei Buddha und der israelitischen Prophetie hervortritt."7 Man muß bei diesen Ausführungen allerdings berücksichtigen, daß hier die unterschiedlichen Beziehungen zwischen den genannten Charismaträgern und ihren Botschaften im Vordergrund stehen. Die israelitischen Propheten wollten einen alten Glauben neu entfachen; sie sahen sich selbst als die Werkzeuge Jahwes und stellten sich in der Öffentlichkeit auch so dar. Jesus aber war der Gottessohn, der eine neue Verkündigung verkörperte. Persönliches Vertrauen
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und Hingabe an den göttlichen Herrn und Meister bildeten die "Jesusbewegung" und sind auch heute noch das Fundament des christlichen Glaubens.
2.4 Man muß annehmen, daß Weber, als er das Paradigma weiter entfaltete, sich die religiöse Gemeinde und besonders die kleine Gemeinde, die sich um Jesus herum bildete, zum Vorbild nahm. Für diesen Fall kann in der charismatischen Gemeinde die erste Entwicklungsstufe einer charismatischen Bewegung gesehen werden. Weber definiert die Gruppe der Anhänger, die sich um einen charismatischen Führer herum bildet, als besonderen Herrschaftsverband: als "Gemeinde", die er wiederum als eine "emotionale Vergemeinschaftung" bezeichnet.8 In der Tat trägt die Hingabe an einen Führer deutlich emotionale Züge und eine "Gemeinde" bildet sich bevorzugt unter jenen Anhängern, die sich als Brüder in der Person des Führers wiedererkennen. Auch aus einem anderen Grund ist die Gemeinde für unser Paradigma von Bedeutung. Als eine durch persönliche Hingabe geschaffene und durch die Gebote des Führers geordnete Gruppe ist sie bereits eine konkrete Form der Überwindung der krisenhaften sozialen und persönlichen Zustände. In ihr werden jene lebenswichtigen Erfordernisse befriedigt, deren Nichtbefriedigung die Anhänger so empfänglich für einen charismatischen Führer und seine "Suggestion" gemacht hatte. Die Gemeinde also solche ist deshalb für alle Anhänger eines charismatischen Führers von höchstem Wert. Eine solche Gemeinde ist nun für Weber auch die Voraussetzung dafür, daß dem charismatischen Führer jene innere, revolutionierende Umgestaltung seiner Anhänger gelingt, die er mit dem christlich-antiken Begriff "Metanoia" bezeichnet. In diesem Prozeß verinnerlichen die Anhänger die vom Führer verkündeten Gebote und Werte. Es wird ein "homo novus" geboren, ein Ausdruck, der zuerst im Urchristentum verwandt wurde und der in der Folgezeit von allen Revolutionären, gleich welcher couleur, mit Vorliebe benutzt wurde. Der Anhänger erfährt in diesem Prozeß eine "Wiedergeburt", glaubt, den "wahren Sinn" des Lebens gefunden zu haben und ihn auch leben zu können. Dieses "Wiedergeborensein" muß sich allerdings "bewähren", vor sich selbst, vor dem Führer und vor den anderen Mitgliedern der Gemeinde. Die erste, sozial bedeutsame Folge dieser "Bewährung" besteht in einer radikalen Entwertung der gegebenen weltlichen Ordnung, die bis hin zu ihrer - aktiven oder passiven - Ablehnung fortschreiten kann. Der Anhänger bricht alle bisherigen sozialen Beziehungen ab und löst alle Bindungen auf, flieht aus allen Rollen, die er in der bisherigen Gesellschaft zu spielen hatte und ordnet sich bedinglos den neuen Geboten der zumeist kommunistisch zusammenlebenden Gemeinschaft unter, die der Führer verkündet. Die sich formierende Gemeinde benötigt wie die meisten sozialen Gruppen so etwas wie ein "leitendes Personal". Dieses setzt sich in der Regel aus den Vertrau-
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ensmännern des charismatischen Führers zusammen. So entsteht eine von dem jeweiligen Führer vollständig abhängige "charismatische Aristokratie". Ihre Aufgabe ist es zu regieren und, wenn es die Verkündigung befiehlt, zu missionieren und Proselyten zu machen. Ist dies der Fall, dann wird sich die Gemeinde in der Regel zu einer Bewegung im oben erörterten Sinn entwickeln. Mission und Proselytentum kennen unterschiedliche Mittel: Jesus verkündigte durch das Wort, Mohammed durch das Schwert. Diese neue Aristokratie spielt nun eine bedeutende Rolle im charismatischen Ablauf. Sie ist zunächst ein wichtiges Führungsinstrument des charismatischen Führers. Ferner vermag sie es, die Gemeinde nach dem Tod des Führers zusammenzuhalten und in der Welt triumphieren zu lassen, wie es zum Beispiel im Christentum und im Islam geschah. Dabei spielen die materiellen und ideellen Interessen einer solchen Aristokratie eine wichtige Rolle. Zusammen regen sie diese Entwicklung an, die in letzter Konsequenz zu einer Institutionalisierung des ursprünglichen Charisma und zu einer Bürokratisierung des leitenden Personals führt. Von diesem Standpunkt aus gesehen ist das Christentum noch das historische Fallbeispiel, das dem Paradigma am nächsten kommt, nicht zuletzt deshalb, weil die gesamte institutionelle Entwicklung des Christentums auf dem Glauben an Jesus Christus beruht.
2.5 In seinen Ausführungen über das Charisma definiert Weber die angrenzenden Begriffe "Gefolgschaft", "Gemeinde" und "Bewegung" nicht eindeutig, wobei letzterer überhaupt nur selten benutzt wird. Sie scheinen nicht einmal sauber von einander getrennt zu werden, auch wenn sie in "Wirtschaft und Gesellschaft" unmittelbar hintereinander abgehandelt sind. "Gefolgschaft" scheint Weber zu gebrauchen, um die Gesamtheit der Anhänger generell zu bezeichnen. Der Begriff der "charismatischen Gemeinde" scheint, wie schon angedeutet, wesentlich aufgrund religiöser Erfahrungen gebildet zu sein. Im Laufe der Zeit muß sich aber das Referenzfeld erweitert haben, denn Weber scheint anzunehmen, daß "Gemeinde" auf eine Gruppe von Anhängern zutrifft, die sich um einen geistigen Führer wegen eines geistigen Ziels versammeln. Nur deshalb kann er sagen, daß sich "aus der charismatischen Gemeinde eines Propheten, Künstlers, Philosophen, ethischen oder wissenschaftlichen Neuerers eine Kirche, Sekte, Akademie, Schule" entwickeln kann.9 "Bewegung" wird von Weber nur selten gebraucht und wird dann weder eindeutig definiert noch in konkrete Beziehung zu dem charismatischen Ablauf insgesamt gesetzt. An einer Stelle erscheint "Bewegung" geradezu als Synonym für "Ablauf und ist damit für unsere Zwecke nicht zu gebrauchen.10 Die anderen Hinweise sind undeutlich, man kann darauf nicht bauen. Deshalb ist unser Versuch, einen Begriff der "Bewegung" für analytische Zwecke zu bilden, auch ein Versuch, Webers Ausführungen zu überschreiten und sie fortzuentwickeln, denn der charismatische
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Ablauf kann sich in einer Art und Weise vollziehen, für deren Analyse der Begriff der Gemeinde nicht mehr angemessen erscheint. Ein typisches Beispiel ist hier die politische Partei, die "einer charismatisch geleiteten, einer Kulturidee folgenden Gefolgschaft" entwächst.11 Es erscheint deshalb als sinnvoll, den Begriff der "Bewegung" als heuristisches Instrument für die Analyse des charismatischen Ablaufes auszubauen. Ich gehe davon aus, daß eine trennscharfe Unterscheidung zwischen "Gemeinde" und "Bewegung", die Weber nur angedeutet hat, möglich ist. Die Bezeichnung "charismatische Gemeinde" beschränkt sich dann auf solche soziale Gruppen, die in ihrer Entwicklung dem oben genannten Paradigma zwar gefolgt sind, sich aber aus der Gesellschaft zurückgezogen haben, um unter der Anleitung ihres geistigen Führers ein selbstgenügsames Leben nach eigenen Werten und Normen zu führen. Für diese Gruppen ist allein die geistige Bedeutung ihrer Lebensart von Bedeutung, sie allein auch rechtfertigt ihre Existenz. Dagegen soll die Bezeichnung "charismatische Bewegung" nur für solche Gruppen gebraucht werden, die sich zwar auch nach dem Paradigma entwickeln, sich aber nicht damit zufrieden geben, abgetrennt von der Welt gemäß ihrer eigenen Werte und Normen zu leben. Diese Gruppen wollen nach außen wirken, wollen ihre Normen, Wertvorstellungen und Glaubensüberzeugungen auf andere, sei es den Stamm, die Nation oder die gesamte Menschheit, übertragen; wollen, daß sie von den anderen als eigene angenommen werden. Welche Gruppen nun im einzelnen entstehen, hängt eher von der spezifischen Botschaft des Führers ab als von der "ungewöhnlichen Situation". Oftmals haben solch krisenhafte Situationen beide Formen, "Gemeinden" und "Bewegungen", hervorgebracht, wie die Beispiele Palästinas zur Zeit Jesu oder Italiens im sechsten und dreizehnten Jahrhundert bezeugen. Wir sind davon ausgegangen, daß sich beide hier beschriebenen Formen der charismatischen Vergemeinschaftung nach dem von uns beschriebenen Paradigma entwickeln, d.h. alle Momente, die wir aufgezeigt haben und unter denen die Entstehung einer "charismatischen Aristokratie" von besonderer Wichtigkeit ist, durchlaufen. Es ist oftmals äußerst schwierig und manchmal auch geradezu unsinnig, beide Formen begrifflich zu differenzieren. Aus diesem Grund haben wir, als wir das Paradigma konstruierten, auch generell von "Gemeinde" gesprochen. Zudem sollte berücksichtigt werden, daß in konkreten historischen Gebilden oftmals Elemente beider Typen sich vermischen. So läßt sich in einer Bewegung oftmals noch der Kern der Urgemeinde entdecken. Beide Formen tragen allerdings auch spezifische Züge, die insbesondere mit fortschreitender Institutionalisierung deutlich sichtbar werden. Die Bewegung ist gekennzeichnet dadurch, daß sich in ihr spezifische Rollen und Positionen herausbilden und institutionalisieren, die die Verantwortung für die Ausbreitung der Bewegung in der Welt tragen. So beauftragte Jesus schon zu seinen Lebzeiten seine Jünger, Proselyten zu machen und diese führten ihren Missionsauftrag auch eifrig aus. Damit hinterließ er eine besondere Art der Bewegung, in der die sogenannten "Wandercharismatiker" immer den Primat vor den "christlichen Gemeinden" bean-
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spruchen durften. Die Namen Petrus und Paulus stehen gleichsam als Symbole dieser Entwicklung, aber auch der folgenden Institutionalisierung. Im weiteren Fortlauf der Institutionalisierung einer Bewegung gewinnt ein besonderer Personenkreis an Gewicht, nämlich diejenigen, die bevorzugte, vielleicht schon bürokratisierte Stellungen besetzen: "Lehensträger, Priester, Staatsbeamte, Parteibeamte, Offiziere, Sekretäre, Redakteure und Herausgeber, Verleger, welche von der charismatischen Bewegung leben wollen."12 Diese Stufe des charismatischen Ablaufs wird hier allerdings nicht mehr behandelt, weil sein charismatischer Gehalt nur noch gering ist.
2.6 Das von uns hier vorgeschlagene Paradigma ist aufgrund seiner methodologischen Voraussetzungen natürlich nicht in der Lage, die Entstehung und Herausbildung all jener Gruppen zu erklären, die sich selbst als charismatisch bezeichnen oder in denen sich Phänomene bilden, die der Beobachter als charismatisch bezeichnen könnte. Es gilt lediglich dann, wenn es darum geht, bestimmte historische Phänomene zu erklären, bei denen offensichtlich ein charismatischer Führer den Anlaß zur Gruppenbildung gab und Triebkraft ihrer gesamten Entwicklung war. Zwar gibt es in den Sozialwissenschaften einige Stimmen, die auch eine solche Möglichkeit mit fast absoluter Sicherheit ausschließen; mir scheint eine solche Generalisierung aber unzulässig zu sein, weil sie nur auf einer kleinen Zahl historischer Fallbeispiele beruht, die zudem nicht in allen Aspekten analysiert wurden.13 Meiner Meinung nach erweist sich das hier vorgeschlagene Paradigma als durchaus hilfreich und gewinnbringend bei der Analyse historisch bedeutsamer Bewegungen. Hierzu zähle ich nicht allein die großen religösen Bewegungen, aus denen jahrhundertealte Kulturen wie das Christentum oder der Islam hervorgegangen sind, sondern auch neuzeitliche, politische Bewegungen mit chiliastischen oder messianischen Lehren, die ihren Anhängern Glück und Erlösung, zwar nicht im Jenseits, aber im Diesseits versprechen. Die Hitler-Bewegung gäbe hier ein gutes Beispiel ab. 14 Aber das Paradigma hilft auch bei der Erklärung einer dem persönlichen Charisma entsprungenen politischen Bewegung, die nicht den totalitären Weg eingeschlagen hat, wie z.B. De Gaulies RPF. Daneben kann uns das Paradigma auch den Zugang zu religiösen Phänomenen unserer Zeit erleichtern, zu Sekten wie "The People's Temple" in den Vereinigten Staaten oder zu bestimmten emotionalen Vergemeinschaftungen, die sich in Italien um Seher, Propheten und Wunderdoktoren bilden. Weber selbst hat festgestellt, daß es charismatische Phänomene gibt, die ohne die körperliche Anwesenheit eines charismatischen Führers entstehen. Auch dazu hat er ausführliche Überlegungen angestellt, die seinen Nachfolgern viele Mißverständnisse erspart hätten, wären sie mit Aufmerksamkeit gelesen worden. So unterscheidet Weber streng zwischen charismatischen Phänomenen, die ein charis-
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matischer Führer in einer dafür prädisponierten Gruppe verursacht, und jenen, die die Gruppe selbständig erzeugt. Im letzteren Fall verzichtet Weber auf Hellpach und seine Theorie der Suggestion, um ein begriffliches Instrument einzusetzen, das er unter dem Einfluß Le Bons gebildet hat: den Begriff des "massenbedingten Handelns". Dieser wird auf der Basis gebildet, "daß das Handeln des Einzelnen durch die bloße Tatsache, daß er sich innerhalb einer örtlich zusammengedrängten 'Masse' befindet, stark beeinflußt wird."15 Mit Hilfe dieses Instrumentes analysiert Weber zum Beispiel die Jesusbewegung und kommt dabei zu dem Ergebnis: "Im apostolischen Zeitalter kam der Geist nicht oder doch in aller Regel und in den von der Gemeinde als typisch bewerteten Formen nicht über den einsamen Einzelnen, sondern über die gläubige Versammlung oder in ihr auf einen oder einige ihrer Teilnehmer. ... In ihrer Mitte ... entwickelte sich das Zungenreden und die anderen 'Gaben des Geistes', auch die damalige Prophetie. Sie alle waren, in aller Regel wenigstens, offenbar Folgen der Massenwirkung oder richtiger des Massenzusammenseins, zeigten sich an dies(es) Zusammensein als, mindestens normale, Vorbedingung gebunden."16 Auch hier weist Weber nicht, oder nur implizit, auf die Bedingungen hin, die eine solche Entwicklung ermöglichten. Die wichtigste davon muß hier genannt werden: es ist der religiöse Glaube, der die "urchristliche Gemeinde" auch deutlich unterscheidet von Le Bons "Menge". Nach Webers besonderer Logik setzt diese Bedingung allerdings ihrerseits wieder andere voraus, in diesem Fall: Jesu persönliches Charisma, seine Verkündigung sowie die Existenz der charismatischen Aristokratie der Apostel, die die Verkündigung verbreitet, den Glauben entfacht und die Bewegung initiiert und geleitet haben. Eine solche Schlußfolgerung wird zudem von einer anderen Überlegung Webers gestützt, die ich bisher nicht erwähnt habe. An dieser Stelle erörtert er den Fall, in dem das Charisma nicht in Form einer "wahrnehmbaren" persönlichen Gabe im Sinne seiner Hauptdefinition auftritt, sondern nur als latent vorhanden gilt und durch Erziehung erst geweckt werden muß. Dieser Fall weist noch einmal ausdrücklich auf die Bedeutung der Gruppe, ihrer Kultur und die Art ihrer Führerschaft hin. Schließlich verknüpft Weber mit dem Problem der "Erweckung des Charisma" noch die Ideen der "Wiedergeburt" und "einer für das religiöse Heil unentbehrlichen Gesinnungsqualität, die der Einzelne sich aneignen und in seiner Lebensführung bewähren muß."17
2.7 Diese Erwägungen regen uns an, in Anschluß an das erste Paradigma ein zweites zu entwerfen, in der das Charisma als Schöpfung der Gruppe erscheint und die körperliche Anwesenheit eines charismatischen Führers nicht benötigt wird. Charisma steht hier ausschließlich für die Qualität, die einer Gruppe zugesprochen
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wird. Forschungen der letzten Jahre können uns bei einer solchen Unternehmung helfen. Auch für dieses Paradigma ist eine "außergewöhnliche Situation" die Voraussetzung des charismatischen Ablaufs. Da in diesem Fall aber kein Führer auftritt, der der Gruppe seine Botschaft verkündet, muß das kulturelle Milieu die Botschaft, wie die Krise überwunden werden kann, zur Verfügung stellen. Dies setzt jedoch eine Person voraus, die jene Botschaft verbreitet, wie Jesus es für seine Anhänger tat. Die meisten charismatischen Bewegungen dieses Jahrtausends, nicht nur in der religiösen Sphäre, gründeten sich auf die Deutung einer Verkündigung: im Abendland auf die Verkündigung Jesu; in den islamischen Ländern auf die Verkündigung Mohammeds; in der Welt des letzten Jahrhunderts auf die Lehre Karl Marx', die, Webers Urteil zufolge, die Köpfe der Menschen eher psychologisch denn logisch beeinflußt hat. Oftmals können die Anhänger ihren Glauben noch an der Person des Begründers festmachen wie die Christen an Jesus. Die Lehre kann sich allerdings auch von einer spezifischen Person emanzipieren und als selbständige Einheit auftreten, wie es bei den Marxisten der Fall ist. Die erfolgreiche Bildung einer Bewegung ist scheinbar an Personen gebunden, die als Führer agieren. Diese glauben oftmals schon vorher an ihre Sendung und können deshalb als "subjektiv charismatisch" bezeichnet werden (in Webers erster Definition wird das Charisma ja auch als "interpersonale Beziehung" bestimmt). Aus diesem Grund ist es durchaus sinnvoll, diejenigen Intellektuellen, die, gestützt auf die Lehre des Marxismus, eine revolutionäre Partei gründeten, als "charismatische" zu bezeichnen. 18 In diesem Zusammenhang muß auch der Anspruch auf Charisma verstanden werden, den zahlreiche Gründer von neo-pfingstlichen Bewegungen erheben, so zum Beispiel, wenn sie behaupten, "ein Charisma" direkt aus den Händen des "Heiligen Geistes" erhalten zu haben. Der charismatische Ablauf beginnt "stricto sensu" in der Gruppe. Die einzelnen Mitglieder erkennen sich aufgrund gemeinsamer Werte, Ziele und Überzeugungen und dank ihres Zusammenhandelns gegenseitig als Brüder und damit als Charismaträger mit einer gemeinsamen Sendung an. Diese gegenseitige Anerkennung bildet das psychologische Fundament der "Wiedergeburt". Jeder fühlt sich in der Gruppe wie neu geboren, muß sich allerdings vor sich selbst und vor den anderen durch seine Lebensführung immer wieder "bewähren". Dieser typische Ablauf läßt sich in vielen revolutionären und gegenkulturellen Gruppen beobachten. "Bewährung" bedeutete in solchen Gruppen in der Regel die Übertretung oder Verletzung fundamentaler Normen der Gesellschaft, oftmals verbunden mit der erbarmungslosen Anwendung von Gewalt. 19 Ebenso wie in den urchristlichen Gemeinden besteht auch in solchen Gruppen grundsätzlich die Möglichkeit, daß einzelne Mitglieder aufgrund spezifischer Prozesse der Wechselwirkung, die in der Gruppe ablaufen, die Überzeugung entwickeln, im Besitz eines besonderen Charisma zu sein. Und ebenso wie dort, wird diese persönliche Gnadengabe zum Nutzen der gesamten Gemeinde eingesetzt.
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Als letzter wichtiger Bestandteil des zweiten Paradigma muß die kontinuierliche Herausbildung einer Führungsschicht erwähnt werden, deren Mitglieder wenigstens in ihrem Inneren den Anspruch erheben, eine besondere Gnadengabe geschenkt bekommen zu haben, die wir mit einem alten christlichen Wort als "Charisma der Regierung" bezeichnen können. Oftmals sind solche Führer identisch mit denjenigen Intellektuellen, die die Bewegung auch initiiert haben. Wie dem auch sei, in der Regel sondert sich diese Führungsschicht von den anderen Mitgliedern ab, vor allem deswegen, weil dem "Charisma der Regierung" aufgrund der damit verbundenen Verantwortung für die Sendung der Gruppe die oberste Stelle in der Gruppenrangordnung zuerkannt wird. Einige Autoren bezeichnen deshalb eine solche Führungsschicht auch als "charismatische Aristokratie" und sehen in ihr das Subjekt charismatischer Herrschaft. Selbstverständlich kann auch eine sich so entwickelnde Bewegung "in die Bahnen des Alltags zurückfluten" und demzufolge das Charisma "ins 'Institutionelle' transponiert" werden.20 Aber dabei darf man nicht an eine Person, sondern muß an die Lehre und den Glauben insgesamt denken, die am Anfang der betreffenden Bewegung standen, sowie an die gemeinsame Sendung der Gruppe, die aus dem Glauben an diese Lehre erwuchs. Es ist hier eben nicht das Charisma einer Gründerfigur wie Jesus, sondern das einer gemeinsamen Sendung wie in den marxistischen Parteien, das in die Institutionen eingebaut wird. Daß später in manchen marxistischen Bewegungen und Parteien neue Formen des persönlichen Charisma entstehen konnten, wie im Falle Lenins, und daß dieses dann wirkungsvoll auf das institutionelle Charisma Einfluß zu nehmen vermochte, stellt ein neues, bemerkenswertes Problem der Phase der Institutionalisierung des Charisma dar und kann als solches hier nicht mehr erörtert werden.
2.8 Diese Bemerkungen wollen nur als ein erster Beitrag zur Bildung eines neuen, zweiten Paradigma des charismatischen Ablaufs verstanden sein. Um dieses weiter zu entfalten, müssen erst noch mehrere begriffliche Probleme gelöst werden. Dabei sollte man sich darüber im klaren sein, daß ein Begriff des Charisma als Schöpfung einer Gruppe einigen Autoren als ziemlich fragwürdige Hypothese erscheinen wird, wie auch schon die These von der Suggestion des Führers. Auch ist die Erfüllung der Aufgabe abhängig von dem jeweiligen Forschungsstand, und leider muß gesagt werden, daß auf diesem Feld bisher nur ungenügende Erkenntnisse über die bestimmenden Elemente der Entwicklung solcher Gruppen und Bewegungen existieren. Nichtsdestoweniger glaube ich, daß dieser Entwurf einen nützlichen Ansatzpunkt für die sozialwissenschaftliche Forschung bietet. Einer seiner hauptsächlichen Vorzüge scheint mir darin zu liegen, daß er unsere Aufmerksamkeit auf die schöpferische Initiative der kleinen Minderheiten lenkt, deren große Bedeutung in
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der gegenwärtigen Welt die unterschiedlichen Forschungsergebnisse über nichtcharismatische Bewegungen wie auch die revolutionären Entwicklungen in Osteuropa bestätigen.
Anmerkungen 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14
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Weber,M.: Wirtschaft und Gesellschaft, 5. rev. Aufl., Tübingen 1976, S.245. Weber 1976, S.140. Weber 1976, S.661. Weber 1976, S.188; vgl. auch: Cavalli,L.: Il capo carismatico, Bologna 1981, S.78f. Weber 1976, S.140 (zit. o. die Hervorh. i. Orig.). Weber 1976, S.140. Weber 1976, S.268. Weber 1976, S.140. Weber 1976, S.661. Weber 1976, S.661. Weber 1976, S.661. Weber 1976, S.662. Diese Tendenz zeigen zum Beispiel die Schriften von Francesco Alberoni, bes.: Movimento e istituzione, Bologna 1981. Vgl. Cavalli,L.: Carisma e tirannide nel secolo XX. Il caso Hitler, Bologna 1982; Lepsius,R.M.: "Charismatic Leadership: Max Weber's model and its applicability to the rule of Hitler, in: Graumann,C.F./Moscovici,S.(Hrsg.): Changing Concepts of Leadership, New York 1968, S.53f. Weber 1976, S.U. Weber,M.: "Das antike Judentum", in: ders.: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Band 3, 6. Aufl., Tübingen 1976, S.306f. Weber 1976, S.321. Vgl. Pellicani,L.: I rivoluzionari di professione, Firenze 1985. Vgl. Roth,G.: "Charisma and Counterculture", in: ders./Schluchter.W.: Max Weber's Vision of History: Ethics and Methods, Berkeley 1979, S.139f. Weber 1976, S.661.
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Charisma und Ordnung Formen des institutionalisierten Charisma Überlegungen in Anschluß an Max Weber Winfried Gebhardt
In der Diskussion des von Max Weber in die Sozialwissenschaften eingeführten Charisma-Konzepts ist ein Themenkreis in den Hintergrund gedrängt worden, dem Weber selbst in seinen religions- und herrschaftssoziologischen Studien größte Aufmerksamkeit geschenkt hat. Gemeint ist jener umfassende und soziologisch höchst relevante Sachverhalt, daß jede charismatische Erscheinung, sei es nun die eines charismatischen Führers oder die einer charismatischen Idee, aus strukturellen Gründen dazu neigt, sich zu veralltäglichen und dabei sowohl ihren Charakter als auch ihre Funktion zu verändern. Treibendes Motiv ist dabei der Wunsch, aus einer einmaligen, äußerlich vergänglichen, freien Gnadengabe außerordentlicher Zeiten und Personen ein Dauerbesitztum im Alltag zu machen, das Ursprungs-Charisma in den gesellschaftlichen Alltag zu integrieren, es in soziale Strukturen einzubauen und in gesellschaftlichen Institutionen zu befestigen, um es so auf Dauer zu stellen. Diesen Prozeß, dem jeder charismatische Aufbruch unterliegen kann, aber nicht notwendigerweise muß, versuchte Weber mit der Bezeichnung "Veralltäglichung des Charisma", die am Ende dieses Prozesses stehenden gesellschaftlichen Ordnungen mit der Kategorie "Alltagsformen des Charisma" begrifflich zu fassen. Der folgende Aufsatz versucht sich in Anschluß an Weber an einer differenzierenden Betrachtung dieses Veralltäglichungsprozesses, wobei der Schwerpunkt der Analyse auf den spezifischen Eigenarten, sowie der Funktion und Bedeutung der unterschiedlichen Formen des in den gesellschaftlichen Alltag eingebauten Charisma liegen soll.
3.1 Charisma und soziale Struktur Eine ausführliche begriffsanalytische und kategoriale Analyse des "Veralltäglichungsprozesses des Charisma", insbesondere aber der Formen des institutionalisierten Charisma, steht trotz der umfangreichen Bemühungen Wolfgang Schluchters um eine begriffliche Differenzierung des charismatischen Ablaufs immer noch an.1 Zwar ist die Tatsache, daß jede charismatische Bewegung, wenn einmal in Gang gesetzt, einem Veralltäglichungsprozeß unterliegt, unbestritten, das eigentliche Interesse derjenigen, die mit dem Begriff des Charisma arbeiten, galt und gilt aber auch noch heute der Person des charismatischen Führers. Wird in sozial- und kulturwissenschaftlichen Studien, die sich dem Phänomen des Charisma widmen, nach den Formen und den Bedeutungen des Veralltäglichungsprozesses gefragt, so
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beziehen sich diese Fragen zumeist auf die Zeit unmittelbar nach dem Tod eines charismatischen Führers. Im Vordergrund steht dann die Nachfolgefrage, die Frage nach dem unmittelbaren charismatischen Erbe, nicht die Eigenarten und Resultate der Transformation, die das Charisma im Vollzug seiner Veralltäglichung erfahren kann. Charisma wird auch heute noch als Ausnahmeerscheinung verstanden, die in strikter Opposition zu den Alltagsformen von Herrschaft, zu den legalen und traditionalen Strukturen steht. So richtig diese Aussage auch ist, so wird doch in der Regel übersehen, daß, wie Weber selbst eindringlich vorführte, charismatische Elemente in unterschiedlichsten gewandelten Formen in traditionale oder legale Ordnungen eingebaut sind, daß alle historischen Lebensformen, wie Constans Seyfarth sagt, nur denkbar sind als je konkrete Synthese von Außeralltäglichem und Alltäglichem, von Charisma und Alltag.2 Diese grundlegende Einsicht, die die Basis des Weberschen Charisma-Konzeptes bildet, wurde zum ersten Mal systematisch aufgegriffen und weiterentwickelt von Edward Shils3, in der Weiterentwicklung allerdings in Struktur-funktionale Bahnen gelenkt, die sich weit von Webers Position entfernen.4 Shils geht in seiner Interpretation des Weberschen Charisma-Theorems von der anthropologischen Prämisse eines universalen Bedürfnisses des Menschen nach Ordnung aus, das er auf das engste verknüpft sieht mit einer Disposition für charismatische Erlebnisse: 'The generator or author of order arouses the charismatic responsiveness. Whether it be God's law or natural law or scientific law or positive law or society as a whole, or even a particular corporate body or institution like an army, whatever embodies, expresses, or symbolizes the essence of an ordered cosmos or any significant sector thereof awakens the disposition of awe and reverence, the charismatic disposition. Men need an order within which they can locate themselves, an order providing coherence, continuity, and justice".5
Mit dieser Verknüpfung von Charisma und Ordnung spricht Shils dem Charisma seinen spezifisch außeralltäglichen, einmaligen Charakter ab, der es für Weber als eine Erscheinung außerordentlicher Zeiten und Personen konstituierte, und erklärt es zu einem immer und überall, aus strukturell-anthropologischen Gründen notwendig vorhandenen Phänomen: "It seems to me that an attenuated, mediated, institutionalized charismatic propensity is present in the routine functioning of society. There is, in society, a widespread disposition to attribute charismatic properties to ordinary secular roles, institutions, symbols, and strata or aggregates of persons. Charisma not only disrupts social order; it maintains or conserves it".6
Charisma verkörpert sich für Shils also nicht wesentlich in der Person eines charismatischen Helden oder in der Figuration einer charismatischen Idee oder in einem spezifischen Amt oder einer spezifischen Institution, sondern, wie schon Joseph Bensman und Michael Givant 1975 in ihrer umfassenden Kritik an Shils' Konzeption formulierten, in der gesamten institutionellen Struktur einer Gesellschaft, also letztendlich in der Gesellschaft selbst.7 Diese Ausdehnung des Charisma-Begriffs auf alle für die sozialen Ordnungsprobleme einer Gesellschaft not-
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wendigen funktionalen Sachverhalte führt dazu, die differenzierende Begrifflichkeit und die analytischen Qualitäten des Weberschen Konzeptes zu verwischen, wenn nicht sogar einzuebnen. Zwar ist die Einsicht richtig, daß Charisma in unterschiedlichen Formen und in unterschiedlicher Intensität in gesellschaftliche Strukturen und Institutionen eingebaut ist, doch nimmt Shils den radikalen Funktionsund Bedeutungswandel des Charisma, dem es im Vollzug seines Einbaus in den gesellschaftlichen Alltag unterliegt, nur bedingt zur Kenntnis. Die Formen des reinen Charisma und die Formen des institutionalisierten Charisma sind zwei in ihrer Eigenart, Funktion und Bedeutung unterscheidbare und je eigenständige soziale Phänomene, das letztere ist nicht nur, wie Shils annimmt, lediglich eine "mediatisierte" oder "verwässerte" Form des ersteren. Indem Weber den Begriff des Charisma idealtypisch definierte, es in seiner reinen, genuinen Form als außeralltägliches Ereignis par excellence zeitlich und räumlich eingrenzte, es in unterschiedliche Typen aufgliederte und insbesondere den radikalen Funktions- und Bedeutungswandel betonte, den es im Verlauf seiner Veralltäglichung erfährt, war es ihm möglich, es als Werkzeug einzusetzen für die Analyse historischer Lebensformen und für die Wandlungsprozesse, denen diese unterliegen. Gerade dieser dynamische Aspekt des Weberschen Charisma-Konzeptes, sein Bewegungscharakter, der selbst die Alltagsformen des Charisma noch präformiert, geht verloren, wenn man Charisma, wie Shils es tut, als universale, funktional unabdingbare Qualität aus einem ebenso universalen menschlichen Bedürfnis nach Ordnung hervorwachsen läßt. Shils' strukturfunktionaler Zugriff auf das Charisma-Theorem mit seiner Betonung der gesellschaftlichen Ordnungsfunktion führt zu einer Enthistorisierung des Weberschen Charisma-Konzeptes. Und diese Enthistorisierung ist gewollt: Nicht umsonst bezeichnet Shils Webers Charisma-Begriff als "too historicist".8 Eine Weber adäquate Deutung der Formen und Funktionen des institutionalisierten Charisma kann also nur bedingt von Shils ausgehen. Nicht nur muß deutlich getrennt werden zwischen dem reinen, genuinen Charisma als einer revolutionär wirkenden Kraft außerordentlicher Zeiten und Personen und den Formen des institutionalisierten Charisma, die als soziale Dauergebilde eigenen Rechts, Herrschaftsbeziehungen religiöser, moralischer, wirtschaftlicher oder politischer Art legitimieren und so stabilisieren, es muß auch zur Kenntnis genommen werden, daß die erfolgreiche Institutionalisierung charismatischer Bewegungen ihrerseits neuen charismatischen Herausforderungen ausgesetzt wird, beziehungsweise sogar selbst, jedenfalls bei zunehmender Traditionalisierung, solche hervorrufen kann. Charisma und Institution stehen für Weber in einem grundsätzlich dialektischen Verhältnis zueinander. Zudem dürfen die Formen des institutionalisierten Charisma nicht gleichgesetzt werden mit der gesamten legalen oder traditionalen Struktur einer Gesellschaft. Nicht alle Institutionen einer Gesellschaft sind charismatisch qualifizierte Institutionen und sie gewinnen ihre charismatische Anziehungskraft nicht nur, wie Shils annimmt, durch die in ihnen angesammelte Macht.9 Die Alltagsformen des Charisma zeichnen sich gegenüber anderen gesell-
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schaftlichen Institutionen vielmehr dadurch aus, daß sie die Erinnerung und damit die legitimierende, "verzaubernde" Kraft des "charismatischen Ursprungs" einer gesellschaftlichen Ordnung aufrechterhalten. Der Glanz des revolutionären Beginns soll in ihnen gezähmt erhalten werden. Sie sollen im Alltag Außeralltägliches präsent halten, und zwar so, daß es die bestehende Ordnung nicht gefährdet. Die unterschiedlichen Formen des institutionalisierten Charisma erfüllen diese Aufgabe, wie ausführlich zu zeigen sein wird, nun in je unterschiedlicher Weise und mit je unterschiedlicher Intensität.
3.2 Veralltäglichung und Institutionalisierung Charisma bezeichnet für Max Weber eine spezifische, weil außeralltägliche Kraft oder Zuständlichkeit, die bestimmten Personen, Gegenständen oder Ideen zugesprochen wird. Diese Kraft gewinnt ihre Außeralltäglichkeit in der Regel allein dadurch, daß nur einzelne Personen oder Objekte sie "besitzen" und daß sie nur in besonderen, d.h. vor allem unbestimmten, nicht vorhersehbaren Situationen auftritt und deshalb - in Webers Worten - als das "nie Dagewesene", "nicht jedem Zugängliche", "absolut Einzigartige" und "deshalb Göttliche" gilt. Sie konstituiert eine spezifische soziale Beziehung, die auf der außeralltäglichen gläubigen, freien, leidenschaftlichen und rein persönlichen Hingabe bestimmter Menschen an die "Vorbildlichkeit" oder "Heldenkraft" einer Person und/oder an die "Heiligkeit" oder "Offenbarung" einer Botschaft oder Idee beruht, und die bei dauerhaftem Bestand in eine charismatische Bewegung übergehen kann.10 Charisma bezeichnet also eine Herrschaftsbeziehung, die sich durch ihr außeralltägliches Fundament von anderen, also von den Alltagsformen der Herrschaft unterscheidet. Weil das Charisma auf der gläubigen, freien und rein persönlichen Hingabe an das Außerordentliche, an das aller Regel und Tradition Fremde beruht, und weil es deshalb rational nicht zu planen, zu gestalten und zu kontrollieren ist, gerät es notwendig in Konflikt mit den bestehenden ökonomischen, sozialen, politischen und kulturellen Ordnungen. Das Charisma lebt nicht von dieser Welt. Immer wieder weist Weber beispielhaft auf das biblische Wort hin: "Es steht geschrieben, ich aber sage Euch!". Die von "innen" wirkende, auf emotionaler Überzeugung und Bindung beruhende, als "Sendung" und "innere Aufgabe" auftretende Kraft des Charisma läßt die Erfordernisse und Zwänge des geregelten und institutionell gebundenen Alltagslebens vergessen. Die Hoffnung auf eine bessere Zukunft, die Erwartung der Erlösung von den Übeln dieser Welt, gleich ob im Jenseits oder im Diesseits, das Prinzip Hoffnung, daß alles besser wird, wenn nur alles anders wird, löst und befreit von allen "äußeren" institutionalisierten Bindungen, Verpflichtungen und Rollen, sei es der Familie, der Religionsgemeinschaft, des politischen Verbandes, sei es des persönlichen Eigentums oder der beruflichen Stellung. Es ist diese innere Kraft des Charisma, die den Alltag aufbricht, die das alltägliche Handeln in neue, "sinnvolle" Bahnen lenken kann, und die für Weber das Cha-
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risma zu der schöpferischen, umgestaltenden Macht in der Geschichte werden läßt. Die Macht der Vernunft, des Intellekts kann den Alltag zwar reformieren, einmal Geschaffenes weiterentwickeln. Sie kann darüber hinaus Dinge und Ordnungen durch technische Mittel revolutionieren. Aber allein die Kraft des Charisma vermag es, von "innen" her neue Entwicklungen anzustoßen, den Alltag zu revolutionieren, weil es auf Grund seiner absolut gläubigen Hingabe an das "Neue" keine Rücksicht auf alltägliche Zwänge und Bindungen zu nehmen bereit ist.11 Das Charisma lebt, wie Weber sagt, aus einem einzigen Moment des Zorns, der Liebe, des aktuellen Glaubens, aus der aktuellen und spontanen Leidenschaft für eine Person oder Sache. Dadurch gewinnt es seine kreative, innovatorische Kraft; hier findet sich allerdings für Weber auch der Grund für seine spezifische Unstetigkeit und Labilität. Die Bedürfnisse des Alltags, vor allem die der ökonomischen Bedarfsdeckung, verlangen in der Regel eine auf Dauer gestellte, organisierbare, plan- und kontrollierbare Einrichtung der Lebensführung, ebenso wie die Verbindlichkeit sozialer Beziehungen. Das Dilemma, das sich aus der Unvereinbarkeit von charismatischen Erlebnissen und den vor allem materiellen Erfordernissen des Alltags ergibt, führt nun in aller Regel zu dem Versuch, die Gaben und Errungenschaften außeralltäglicher Zuständlichkeiten auch für den Alltag zu sichern, und, in einem weiteren Schritt, das Charisma als Quelle dieser Gaben selbst in den Alltag zu überführen. In dem Wunsch, "das Charisma und die charismatische Beglückung der Beherrschten aus einer einmaligen, äußerlich vergänglichen freien Gnadengabe außerordentlicher Zeiten und Personen in ein Dauerbesitztum des Alltags zu verwandeln"12, ist der Grund für jene Entwicklung zu suchen, die Weber als die "Veralltäglichung des Charisma" bezeichnet hat. Gemeint ist damit, daß jede charismatische Bewegung, politischer, kriegerischer, religiöser oder sonstiger Art, die für eine bestimmte, aller Erfahrung nach zumeist sehr kurze Zeit, eine charismatisch geführte Anzahl von Menschen aus den Geleisen des Alltags heraushob, in die Bahnen des Alltags zurückflutet, die Herrschaft des "reinen" Charisma also fast regelmäßig gebrochen, "ins 'institutionelle' transportiert und umgebogen, und dann geradezu mechanisiert oder unvermerkt durch ganz andere Strukturprinzipien zurückgedrängt oder mit ihnen in den mannigfachsten Formen verschmolzen und verquickt"13 wird. Mit dem Umschlag vom reinen zum institutionalisierten wechselt das Charisma Gestalt und Charakter. Festzuhalten ist hier freilich, daß dieser Umschlag sich nicht notwendig vollziehen muß, daß er nicht in der Logik des Veralltäglichungsprozesses verankert ist. Die Veralltäglichung des Charisma führt nicht zwangsläufig zu seiner Institutionalisierung. Ob und wie dies im einzelnen geschieht, ist das Ergebnis konkreter historischer Umstände. Charisma, gleich in welcher Form, kann auch einfach verschwinden, sich im gesellschaftlichen Alltag verflüchtigen, es kann, wie Wolfgang Schluchter sagt, in alltägliche, traditionale und legale Dauergebilde einmünden.14 Ist allerdings einmal der Pfad der Institutionalisierung eingeschlagen, dann bedeutet dies in aller Regel, daß das charismatische Erlebnis und die charismatische Botschaft, die ursprünglich nur aus einem momentanen Impuls
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aktueller Hingabe, Begeisterung oder Leidenschaft lebten, nun von einer sich aus der Gefolgschaft des charismatischen Führers oder der charismatischen Idee rekrutierenden Intellektuellenschicht zu einem Dogma, einer Lehre, einer Theorie, einer Rechtssatzung rationalisiert oder zum Inhalt einer bewußt aufrechterhaltenen Tradition erhoben werden.15 Um die charismatische Stifterfigur herum werden Legenden und Ursprungsmythen gesponnen, die sie als "gottgesandt" oder "heilig" oder "vom Schicksal auserwählt" verklären. Die charismatische Botschaft als die neue und siegreiche Lehre wird systematisch festgelegt; es ist abzugrenzen, was als "heilig" zu gelten hat und was nicht. Ferner wird das Charisma nun nicht mehr als einer spezifischen Person oder Idee anhaftend gedacht, sondern einem sozialen Gebilde, unterliegt also einem Prozeß der Entpersönlichung und Versachlichung.16 Aus der Gefolgschaft eines Kriegsherrn wird ein Staat gebildet; aus der Gefolgschaft eines Propheten entwächst eine Kirche oder Sekte; die Gefolgschaft eines Künstlers gründet eine Akademie; die Jünger eines Philosophen bilden eine Schule; aus einer Kulturidee entsteht eine Partei. Und aus der ursprünglich rein persönlichen Gefolgschaft der aktuell charismatisch Beglückten wird ein Heer von Lehensträgern, Theologen, Priestern, Staats- und Parteibeamten, Offizieren, Redakteuren, Herausgebern, Verlegern, Angestellten, Vereinsmitgliedern und Lehrern.17 In all diesen Fällen wird individuelles Charisma auf eine soziale Institution übertragen, in Regeln gegossen und damit auf Dauer gestellt.18 Was einst durch aktuelle Hingabe, Genuß und kontemplative Seligkeit, auf jeden Fall durch Leidenschaft und Spontaneität bestimmt war, wird nun berechenbar: einerseits durch die intellektuelle Herausarbeitung und Systematisierung der letzten Richtpunkte der neuen Lehre, die eine konsequente und planvolle Orientierung des Handelns an ihnen ermöglichen, zum anderen durch ihre Umsetzung in hierarchisierte und normierte Strukturen. Damit wird aber in letzter Konsequenz die Bedeutung und Tragweite des individuellen Handelns eingeschränkt.19 Wichtig ist nun, daß das Charisma im Laufe seiner Institutionalisierung nicht nur seine revolutionäre, schöpferische und innovatorische Kraft einbüßt, sondern in seiner Funktion geradezu umgedreht wird: "statt ... seinem genuinen Sinn gemäß, allem Traditionellen oder auf 'legitimen' Rechtserwerb Ruhenden gegenüber revolutionär zu wirken, wie in statu nascendi, wirkt es nun gerade umgekehrt als Rechtsgrund 'erworbener Rechte'"20, legitimiert und stabilisiert also die neu geschaffene Ordnung und die damit verbundenen Strukturen und Positionen. In seiner institutionalisierten Form steht das Charisma dem Alltag nicht mehr feindlich gegenüber, es arrangiert sich mit ihm. Gerade die Bedürfnisse des ökonomischen Lebens machen es notwendig, Kompromisse zu schließen, was in der Regel zu einer Umdeutung oder Neuinterpretation der ursprünglich rein charismatisch fundierten Gebote führt, zuweilen auch zu deren einfacher praktischer Beseitigung. Das "reine" Charisma wird entweder historisiert, indem es zu einer spezifischen, zwar glorreichen, aber abgeschlossen Epoche der eigenen Geschichte erklärt wird oder es wird in einer Form tolerierter Sonderexistenz an den Rand der Gesellschaft abgedrängt.
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3.3 Formen des institutionalisierten Charisma Mit den letzten Bemerkungen ist schon angedeutet, daß es unterschiedliche Möglichkeiten gibt, Charisma erfolgreich zu institutionalisieren und in den gesellschaftlichen Alltag einzubauen. Weber selbst hat einige davon benannt und begrifflich-definitorisch entfaltet, so die Formen des Gentil-, des Erb- und des Amtscharisma. Andere Formen sind in seinem Werk zwar angedeutet und an unterschiedlichsten Stellen und in wechselnden Zusammenhängen erwähnt, werden aber von ihm weder explizit definiert noch in direkte Verbindung mit dem Phänomen des institutionalisierten Charisma gebracht. Es bietet sich deshalb an, diese in idealtypischer Form begrifflich zu fassen, zu systematisieren und typologisch zu ordnen, um so über den von Weber bereits erreichten Forschungsstand hinaus zu gelangen. Dazu ist es als erstes notwendig, zu unterscheiden zwischen zwei grundsätzlich eigenständigen Typen des institutionalisierten Charisma: solchen, in denen das ursprünglich "reine" Charisma transformiert und neu strukturiert wird und deshalb auch in neuen, selbständigen Formen erscheint, und solchen, die das "reine Charisma" selbst als spezifische Institution festschreiben, es also entweder räumlich oder zeitlich begrenzen und so in die Institutionenstruktur einer gesellschaftlichen Ordnung einfügen. In beiden Fällen dient es dazu, einer gegebenen gesellschaftlichen Ordnung das Signum des Außeralltäglichen zu verleihen, um diese zu legitimieren und zu stabilisieren. Der Prozeß der Veralltäglichung des Charisma beginnt nach Weber in dem Moment, in dem aus einer aktuellen charismatischen Beziehung eine Dauerbeziehung wird, also eine "charismatische Gemeinde" von Glaubensgenossen, Jüngern oder Gefolgsleuten entsteht. Diese eint ein ausgeprägtes Interesse, "die eigene Stellung ideell und materiell auf eine dauerhafte Alltagsgrundlage"21 zu stellen. In diesem Interesse liegt nun auch die Hauptursache für den weiteren Fortgang des Veralltäglichungsprozesses, weil es in der Regel dazu antreibt, im Fall des Todes oder sonstigen Wegfalls der Person des Charisma-Trägers spezifische Lösungen der damit auftretenden Nachfolgefrage zu finden. Als typische Lösungsformen, die sich im Laufe der geschichtlichen Entwicklung herausgebildet haben, benennt Weber: 1. das Aufsuchen eines neuen Charisma-Trägers nach Merkmalen; 2. die Führerauslese durch Offenbarung; und 3. die Designation eines Nachfolgers entweder durch den bisherigen Charisma-Träger selbst oder durch die engere Führungselite einer charismatischen Gemeinde oder Bewegung, die Weber als "charismatische Aristokratie" bezeichnet. In all diesen Fällen kann allerdings noch nicht von "Institutionalisierung" gesprochen werden, weil es hier in der Regel um die unmittelbare Übertragung charismatischer Ansprüche auf Personen geht, die zumeist in irgendeiner Form selbst als charismatisch qualifiziert gelten. Weber spricht dann auch in bezug auf diese Formen folgerichtig von einer ersten "Stufe" der "Versachlichung des Charisma"22, weil er in ihnen spezifisch regelhafte und instrumenten handhabbare Techniken der Übertragung von "persönlichem Charisma" erblickt. Institutionelles Charisma entsteht für ihn erst dann, wenn soziale
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Dauergebilde, also Institutionen geschaffen werden, an denen Charisma unabhängig von einer konkreten Person anhaftet, wenn das "reine" Ursprungscharisma also einen Prozeß der "Entpersönlichung" durchlaufen hat.
3.3.1 Gentil-und Erbcharisma Eine erste Form des institutionalisierten Charisma23 ist dann zu beobachten, wenn sich "die Vorstellung, daß das Charisma eine Qualität des Blutes sei und also an der Sippe, insbesondere den Nächstversippten, anhafte"24, bildet. Weber nennt diese Form Gentilcharisma und beschreibt sie in ihrer Eigenart als auch in ihren sozialen, politischen und ökonomischen Funktionen und Wirkungen ausführlich in den religionssoziologischen Studien über China und Indien. Die Institution des "Gentilcharisma" grenzt das Nachfolgeproblem ein, indem es einen besonderen Personenkreis als allein "nachfolgewürdig" ausliest, löst es allerdings solange nicht, wie Sippengenossen untereinander um die Führungsposition konkurrieren. Deshalb entwickelt sie in vielen historischen Fällen eine spezifische Erbordnung, die in aller Regel in dem Glauben an das Charisma der Erstgeburt mündet, also genauestens festlegt, welches Sippenmitglied nun das spezifische Recht der Nachfolge besitzt. Die hier entstehende Institution läßt sich mit Weber als "Erbcharisma" bezeichnen. Beiden Formen ist gemein, daß die Legitimationsquelle nicht mehr in der konkreten Person des Führers und dessen programmatischer Perspektive für die Zukunft, sondern in der besonderen Vergangenheit der Gruppe, der er angehört, liegt. "Wo ursprünglich die eigene Tat nobilitierte, wurde nun der Mann nur noch durch die Taten seiner Vorfahren 'legitimiert'".25 Die Abstammung von einem ursprünglichen Charisma-Träger rechtfertigt nun den Anspruch auf Führerschaft. Dieser Anspruch wird in der Regel durch eine immer höhere Bewertung der Bedeutung des "physiologischen Blutbandes" abgestützt, die ihrerseits einmünden kann in einen Prozeß der "Vergöttlichung", zunächst der "Ahnen", dann auch des jeweiligen Führers selbst. Die Geschichte bietet dafür Beispiele genug. Dieser Prozeß wird begleitet durch die Entwicklung eines spezifischen "Ahnenkultes" mit festem (hauptberuflichen, nebenberuflichen oder nur ehrenamtlichen) Priestertum und der Produktion spezifischer Ursprungsmythen oder Legenden, die ihrerseits wieder in Form szenischer Darstellung oder Nacherzählung in den Kultus und dessen rituellen Ablauf eingehen können. Auch die Entstehung spezifischer Symbole, insbesondere von Wappen, gehört in diesen Kontext. Sie nehmen in der Regel Bezug auf ein nun mythisch verklärtes Ursprungsereignis, indem sie ein für den charismatischen Stifter charakteristisches Zeichen zum Symbol für die ganze Sippe erheben. Ahnenkult, Ursprungsmythen und symbolische Akte und Darstellungen dienen dazu, das "reine" Ursprungscharisma im Gedächtnis festzuhalten, es auf einen - vielleicht völlig uncharismatischen - Führer zu übertragen, um diesen aus der Masse herauszuheben, ihm den Glanz des Außeralltäglichen zu verleihen, ihm
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also ein prestigesteigerndes Seltenheitsmonopol26 zu verschaffen, das er kraft seiner Persönlichkeit allein nicht erreichen könnte. Nebenbei sei bemerkt, daß das Prinzip des Erb- und Gentilcharisma nicht nur auf das Problem der Führernachfolge beschränkt ist. In seinen religionssoziologischen Studien über China und Indien zeigt Weber, wie es eine gesamte Gesellschaftstruktur durchdringen und die Handlungen einzelner bis ins Kleinste und Intimste hinein vorformen kann, sei es durch den Aufbau eines "Geschlechterstaates"27, in dem die Verteilung der Ämter abhängt von dem Rang, den die Vorfahren bereits innehatten, oder durch berufständische Gliederung einer Gesellschaft, in der die Berufswahl durch die Sippen- oder Familienzugehörigkeit bestimmt wird.28
3.3.2 Amtscharisma Eine zweite, von Weber benannte Form des institutionalisierten Charisma ist das "Amtscharisma". Hier ist der Prozeß der Versachlichung und Entpersönlichung des "reinen" Ursprungscharisma weit über das im Gentil- und Erbcharisma erreichte Maß hinaus fortgeschritten bis hin zu dem Glauben an die "spezifische Begnadung einer sozialen Institution als solcher".29 Charakteristisch für jede historische Form des Amtscharisma ist also, daß das Charisma als vollkommen gelöst von jeder konkreten Person gedacht wird, die das betreffende Amt besetzt, vielmehr allein diesem als sozialem Dauergebilde zugesprochen wird. Voraussetzung für die Existenz von "Amtscharisma" ist freilich, wie der Name schon andeutet, seine Gebundenheit an eine spezifische, in der Regel hierarchisch-gegliederte, wenn nicht sogar bürokratisierte Organisationsform (in Webers Worten "Anstalt"), die das "Amt" bereitstellt und in seinem Aufgaben- und Repräsentationsbereich exakt definiert. Deshalb ist das Amtscharisma auch keineswegs nur eine "primitiven" oder traditionalen Verhältnissen eigene Erscheinung30, wenn es auch in der Institution des Königtums oder, um ein anderes Beispiel zu nennen, in der Position des chinesischen Amtspfründners, der "seine Standesqualifaktion, sein Charisma, durch die kanonische Richtigkeit seiner literaturgerechten Formen"31 bewährte, ziemlich rein zum Ausdruck kommt. Vielmehr ist das Amtscharisma im Gegensatz zum Gentil- und Erbcharisma diejenige Form des institutionalisierten Charisma, die auch in modernen bürokratisierten Gesellschaften, ja selbst in demokratischen Verfassungsstaaten auftritt. Amtscharisma äußert sich zum Beispiel in der Hochachtung und der Ehrfurcht vor dem Präsidentenamt oder dem Amt der obersten (Verfassungs-) Richter als Hüter der Verfassung, aber auch schon in einem gewissen Respekt gegenüber dem anonymen Mitglied einer als "überpersönlich gedachten" Behörde, besonders dann, wenn diese zudem, wie im Wilheminischen Deutschland, durch eine staatsmetaphysische Lehre von der "gottgewollten Obrigkeit" verklärt wurde. Weber nennt hier ferner das Beispiel des "königlichen Amtsgerichts", dessen abgeleites Charisma ehrfurchtsvolles Erschaudern hervor-
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rief, gleichzeitig aber auch die Grundlage des Vertrauens in eine gerechte Rechtssprechung schuf. Das historisch vielleicht bedeutsamste Beispiel für das Charisma eines Amtes ist für Weber die katholische Theorie vom "character indelebilis" des Priesters. "Sie ist die radikalste Form der Versachlichung der rein persönlichen, an der Bewährung der Person haftenden charismatischen Berufung in eine jedem, der in die Amtshierarchie durch eine magische Handlung als Glied aufgenommen ist, unverlierbar anhängende, den Amtsmechanismus ohne Ansehen des Werts der Person seiner Träger heiligende, charismatische Befähigung".32 Der einzelne Priester darf persönlich noch so verworfen sein, die charismatische Qualifikation, die er durch die Übertragung des Amtes erlangt hat, wird dadurch nicht in Frage gestellt. Hier wird deutlich, daß aus der charismatischen Befähigung eine "sachliche Qualität" wird, die nun, auf wen auch immer, "übertragbar" wird. Das bedeutet in letzter Konsequenz, daß aus dem Charisma als einer Gnadengabe, deren Besitz, wie Weber sagt, erprobt und bewährt, nicht aber mitgeteilt oder angeeignet werden kann, etwas wird, das grundsätzlich von jedem "erwerbbar" ist.33 Ist das Charisma aber grundsätzlich und das heißt auch für jeden erwerbbar, so stellt sich sofort die Frage nach der Bewahrung der außeralltäglichen Gnadengaben. Liegen diese nicht mehr in der Person begründet, müssen sie auf andere Art sichergestellt und, vor allem, für die Masse der Beherrschten, gleich ob nun "Untertanen" oder "Staatsbürger", nach außen sichtbar und auch physisch erfaßbar sein. Dies geschieht in der Regel mittels dreier unterschiedlicher Techniken: 1. durch die rituelle Übertragung des Charisma auf den neuen Amtsinhaber mit Hilfe hierurgischer Mittel, sei es wie im Falle des Priesters durch Salbung, Weihe und Handauflegung, sei es wie im Falle des Monarchen durch Salbung und Krönung.34 Eine moderne Variante dieses Vorgangs stellt die öffentliche Verpflichtung und Vereidigung des Präsidenten eines demokratischen Staates auf die Verfassung dar. Die rituelle Übertragung des Charisma vollzieht sich überlicherweise im Rahmen eines feierlichen Aktes, der "Inauguration", die durch ihr prachtvolles Gepräge, durch ihren zeremoniell geregelten Ablauf und durch ihre "würdige" Atmosphäre, die Herausgehobenheit, also die Außeralltäglichkeit der Amtseinführung und damit des Amtes selbst unterstreicht und in das Bewußtsein der Öffentlichkeit hebt.35 2. durch die symbolische Ausstattung des Amtes mit sogenannten Amtsinsignien, wie zum Beispiel Krone, Zepter, Reichsapfel, Bischofsstab36, aber auch mit besonders repräsentativen oder symbolträchtigen Bauten und Gefährten (wie zum Beispiel die "Air Force One" des amerikanischen Präsidenten). In modernen Verfassungsstaaten ist das "oberste" Amt des Präsidenten, aber nicht nur dieses, zumeist verbunden mit einer spezifisch nationalen Symbolik, wie der Nationalflagge, der Nationalhymne, je besonderen nationalen Emblemen und mythischen Figuren ("Deutscher Michel", "Marianne", "Uncle Sam", etc.) oder auch nur mit auf den "Nationalcharakter" des betreffenden Staatsvolkes Rücksicht nehmenden, symbolträchtigen Verhaltensweisen (der amerikanische Präsident muß "football" lieben,
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der deutsche Bundespräsident muß wandern wie Karl Carstens, Volkslieder singen wie Walter Scheel oder schöngeistig-moralisierende Reden halten wie Richard von Weizsäcker).37 3. durch eine spezifische Schulung oder Ausbildung des Amtsinhabers, die den besonderen Erfordernissen des Amtes angemessen ist. Eine solche Schulung kann die Form der von Max Weber ausführlich beschriebenen "reinen" charismatischen Erziehung annehmen, die zwar gewisse Elemente der Fachbildung immer beinhaltet, in der Regel aber auf eine Auslese der charismatisch Qualifizierten durch Askese, körperliche und seelische Excercitia, Heldenproben oder Initiationen zielt also auf der "Erweckung" des Charisma beruht. Sie kann aber auch und tut dies in der Tat mit fortschreitender Rationalisierung und Bürokratisierung der Organisation, die das Amt zur Verfügung stellt, in der "ankultivierten" Form der bereits mit einem großen Anteil an Fachwissen durchsetzten "Fürstenerziehung" oder "Priesterbildung" auftreten. 38 Dann treten allerdings ständische Elemente der Verhaltenskultivation hinzu, die den "herausgehobenen" Charakter des Amtes und seines Inhabers betonen, so zum Beispiel das Erlernen eines "würdigen", auf Distanz bedachten Verhaltens ("Etikette"). Und sie schließt endlich auch die modernen Versuche mit ein, Amtsinhabern mittels der Hilfe von Werbeagenturen, Medienund Persönlichkeitsberatern massen- und medienwirksame Attribute zuzuschreiben, ihnen eine besondere Gestik und Mimik anzutrainieren und mit ihnen bestimmte Redewendungen und Verhaltensweisen einzuüben, die Tat- und Überzeugungskraft, Vertrauen, Ehrlichkeit, vielleicht auch Kompetenz, kurz: Charisma suggerieren sollen.39 Alle drei genannten Techniken dienen dazu, den jeweiligen Amtsinhaber mit einer Aura des Außeralltäglichen zu umgeben, ihn aus der Masse der Beherrschten wie seiner unmittelbaren Mitarbeiter als etwas Besonderes herauszuheben, ihm also, ähnlich wie es beim Gentil- und Erbcharisma geschieht, ein prestigesteigerndes, ehrfurchtgebietendes und so legitimierendes Seltenheitsmonopol zu sichern. Allerdings kann die mit dieser symbolischen Überhöhung des Amtes einhergehende, notwendige soziale Distanz des Amtsinhabers zu seiner mittelbaren und unmittelbaren Umwelt unter Umständen auch dazu führen, daß die reale Macht an andere, offiziell untergeordnete Personen übergeht, wie Weber am Beispiel der fränkischen Hausmeier und der japanischen Shogune zeigt40, und wie es ja auch das Beispiel der rein repräsentativen Funktion des Staatsoberhauptes in vielen demokratischen Verfassungsstaaten deutlich macht.
3.3.3 Ideencharisma und Weltbild Eine besondere Form des institutionalisierten Charisma entsteht aus der Veralltäglichung und Versachlichung charismatischer Ideen, Verkündigungen oder Offenbarungen. Charismatische Ideen treten zumeist in Verbindung mit bestimmten Stifterfiguren auf, die selbst charismatisch qualifiziert sind, und eine spezifische
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Botschaft oder Lehre verkünden. Ideencharisma und Personalcharisma bilden in diesem Fall eine untrennbare Einheit, die auch von der Gefolgschaft oder Anhängerschaft der Stifterfiguren als solche erkannt und angenommen wird. So ist zum Beispiel die Entstehung der großen Weltreligionen des Christentums, des Islam und des Buddhismus nur aus diesem erfolgreichen Zusammenspiel von Ideen- und Personalcharisma zu erklären; dieses kann allerdings auch heute noch bei diversen Sekten und "neuen religiösen Bewegungen" beobachtet werden. Mit zunehmender gesellschaftlicher Differenzierung und Rationalisierung, die ja nach Weber auch immer Elemente der Versachlichung und Entpersönlichung enthält, treten charismatische Ideen mit spezifischem Sendungsgehalt zunehmend als eigenständige, von konkreten Personen unabhängige Phänomene in Erscheinung. Die Hingabe an solche Ideen ist, wie Weber sagt, "ihren normalen Inhalts nach 'sachlichen Charakters', ist Hingabe an die 'gemeinsame Sache'".41 Man folgt nicht mehr einer konkreten Person und deren persönlicher Verkündigung, sondern stellt sich leidenschaftlich in den Dienst der Sache selbst: der "Vernunft", der "Menschenrechte", der "Nation", des "Sozialismus", der "Volksgemeinschaft" oder der "Demokratie" und den damit jeweils verbundenen politischen, ökonomischen und kulturellen Zielvorstellungen und Gesellschaftsmodellen. Charismatische Ideen existieren nicht in einem gleichsam luftleeren Raum. Um sie herum bilden sich Gruppen von Anhängern und leidenschaftlichen Vertretern, die wie Luciano Cavalli betont, durchaus gemeinde- oder bewegungsartigen Charakter annehmen42 und bei längerem Bestand auch spezifische Führungsstrukturen mit ausgewiesenen Führungspersönlichkeiten ausbilden können. Entscheidend ist aber, daß diese Führungspersonen ihr Recht auf die Führung der Gemeinde oder Bewegung nicht oder nur bedingt aus sich selbst ableiten, sondern aus dem Glauben, die Vorkämpfer, die intellektuelle Avantgarde der Idee zu sein, die "innere" Pflicht zu haben, für deren Verwirklichung zu kämpfen und auch notfalls dafür zu sterben. Am Beispiel Maximilien Robespierres oder Antoine de SaintJusts wird dieser spezifische Glaube hinreichend deutlich. Beide waren ganz offensichtlich keine "charismatischen Führer" im Sinne Webers. Ihre Ausstrahlung und Überzeugungskraft leitete sich aus dem Glauben ab, sie seien die einzigen und wahren Vorkämpfer einer "vernünftigen Menschheit"43 Nicht zufällig sagt Weber von Robespierre, daß in ihm die charismatische Verklärung der Vernunft ihren charakteristischsten Ausdruck fand. Und ebensowenig ist es ein Zufall, wenn Saint-Just beschrieben wird als "an idea energized by passion".44 Diese Feststellung schließt allerdings nicht die Möglichkeit aus, daß sich in solchen ideencharismatisch angeleiteten Bewegungen auch Personen an die Spitze setzen, die persönliches Charisma besitzen. Auch in diesem Fall können, wie das Beispiel Lenins zeigt, Ideencharisma und Personalcharisma eine Symbiose eingehen.45 Wichtig ist nun die Beobachtung, daß auch das Ideencharisma, gleich ob es in selbständiger Form oder in Symbiose mit Personalcharisma auftritt, "ins 'Institutionelle' transponiert" werden kann, allerdings nicht unbedingt muß; es gelten hier die gleichen Einschränkungen wie bei der Institutionalisierung des persönlichen
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Charisma. Diesen für eine umfassende Theorie des Charisma so bedeutsamen Prozeß hat Weber im religionssoziologischen Teil von "Wirtschaft und Gesellschaft" ausführlich dargestellt und analysiert. Er geht von dem soziologischen Tatbestand aus, daß jede charismatische Idee im Falle ihres Erfolgs systematisch geordnet und festgeschrieben wird, daß exakt abgegrenzt wird, was in Zukunft als "heilig" zu gelten hat und was nicht, daß also in letzter Konsequenz aus einem einmaligen, nur Eingeweihten zugänglichen Geheimwissen eine zumeist auch literarisch fixierte, und damit einer breiteren Öffentlichkeit zugängliche 'Tradition" wird. Auch hier ist der Grund für diese Entwicklung wieder in dem Motiv der Anhänger oder Gefolgschaft zu suchen, ihre eigene Stellung und Identität, kognitiv wie sozial, abzusichern. Wo immer diese Entwicklung einsetzt, zeitigt sie zwei Erscheinungen: kanonische Schriften und Dogmen.46 Mit der Schließung eines Kanons und der Entstehung von Dogmen gilt die Zeit des "reinen" Charisma endgültig als beendet. Die Schließung eines Kanons pflegt dann auch "durch die Theorie gedeckt zu werden, daß eine bestimmte vergangene Epoche allein mit dem prophetischen Charisma gesegnet gewesen sei".47 Das "reine" Ursprungscharisma wird also zu einem spezifischen historischen Ereignis der eigenen Geschichte erklärt und geht in mythisch verklärter und symbolisch überhöhter Form in die Tradition ein. So steht am Ende der Institutionalisierung einer charismatischen Idee deren Umformung in eine systematisierte und schriftlich oder mündlich fixierte, als "heilig" und deshalb als prinzipiell unveränderbar geltende Lehre, die, je nachdem ob sie eine Gesamtdeutung und Gesamterklärung der Wirklichkeit und der spezifischen Stellung des Menschen in ihr zur Verfügung stellt, ein "Weltbild" begründen und auf Dauer stellen kann. Diese Entwicklung wird initiiert und getragen von einer bestimmten, zumeist zahlenmäßig relativ kleinen Gruppe von Menschen, die sich in der Regel aus der unmittelbaren Anhängerschaft der charismatischen Idee rekrutiert, und die für sich die Aufgabe der Systematisierung, Fixierung, Reinerhaltung, Bewahrung und Interpretation der nun siegreichen Lehre beansprucht oder mit dieser Aufgabe von der Gesamtheit der Anhängerschaft betraut wird. Bei dauerhaftem Bestand der aus einer charismatischen Idee geborenen Bewegung kann sich aus einer solchen Gruppe ein fester, nach eigenen Regeln und Normen organisierter Stand von Intellektuellen entwickeln, die, neben- oder hauptberuflich, die nun in Dogmen und Kanones gegossene charismatische Idee verwalten und sichern, indem sie entweder apokryphe Bestandteile aussondern und konkurrierende Lehren als "Häresie" bekämpfen oder aber, indem sie sie in Richtung auf eine kasuistisch-rationale Gliederung theoretisch weiterentwickeln und durch neue Interpretationen den Bedürfnissen der Beherrschten anpassen. Institutionell verfestigte Lehren, selbst Weltbilder, sind also keineswegs so starr und unveränderbar, wie die Lehre selbst es aussagt und wie ihre Hüter es verkündigen. Sie enthalten vielmehr ein dynamisches Element, unterliegen einem kontinuierlichen Wandel, auch wenn es zumeist ein "schleichender Wandel" ist, der oftmals von den Zeitgenossen als solcher nicht erkannt wird. Und dies gilt nicht nur für die sich wandelnde Auslegung
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der Dogmen und Kodizes, sondern auch für die "heiligen Schriften" selbst, die zum Beispiel zu unterschiedlichen Zeiten auch unterschiedlich redigiert werden können.48 Es gibt eben so etwas wie eine stetige intellektuelle "Arbeit am Weltbild". Weber hat den Transformationsprozeß der "charismatischen Idee" entweder in eine auf "ewig" gelten sollende "heilige" Tradition oder in einen Kanon "ewiger Wahrheiten" (den man mit Alois Hahn als Reflexivwerden von Traditionen verstehen kann49) am Beispiel der Entstehung der großen Weltreligionen, die ja auch alle Buchreligionen sind, beschrieben. Die Institutionalisierung "charismatischer Ideen" beschränkt sich allerdings nicht nur auf diesen Bereich. Gewisse Grundelemente und Grundzüge finden sich in abgewandelter, den neuen Verhältnissen angepaßter Form auch in der die Moderne konstitutierenden säkularen Ideen und Ideologien. Das beste Beispiel hierfür bietet immer noch der Marxismus. Die systematische Umwandlung einer ursprünglich "charismatischen" Idee auf extrem außeralltäglichem sozialen Grund in ein von autorisierten Hütern streng bewachtes und erbarmungslos gegen Kritik und Mißachtung (teilweise in an Inquisitionsverfahren erinnernden Schauprozessen50) verteidigtes System von "heiligen Schriften" und in Parteistatuten niedergelegten "Dogmen", von Ritualen und ausdifferenzierten Kulthandlungen, die um die Schriften und die Personen der "Gründungsväter" gesponnen wurden51, wird gerade heute, in der Zeit seines offensichtlichen Zerfalls, in aller Klarheit deutlich. Doch nicht nur die "weltbildartige" Züge tragende Lehre des MarxismusLeninismus kann als Beispiel für die Kanonisierung einer charismatischen Idee genannt werden. Auch der aus dem "Charisma der Vernunft" geborenen "Deklaration der Menschenrechte" vom 13. August 1789 wird heute der Charakter eines "heiligen Dokuments" zugesprochen, das als Gründungsurkunde der "modernen Demokratie" tabuisiert und damit auch jeder Kritik und rationalen Diskussion entzogen wird und dessen realer Ursprungszusammenhang zunehmend mythisch verklärt und in einem besonderen Kultus symbolisch überhöht wird. Daß dieser Kultus manchmal absurd anmutende Formen annehmen kann, wie am 200. Jahrestag der "Erklärung der Menschenrechte", als der Pariser Bürgermeister Jacques Chirac, um seinem "Intimfeind" Francois Mitterand, der zur gleichen Zeit unter dem neu errichteten Triumphbogen in "La Défense" mehrere tausend Sänger aus allen Erdteilen das Loblied der Menschenrechte singen ließ, die "Show" zu stehlen, eine Kopie des Originaldokuments von einem Artisten auf einem über die Seine gespannten Seil vom Trocadéro zum Eiffelturm tragen ließ, liegt weniger an der Idee selbst, als an der Notwendigkeit, im Zeitalter der Massendemokratie auch mythische Akte, Akte des feierlichen Gedenkens, mediengerecht, massenwirksam und deshalb unterhaltsam zu inszenieren. Auch "Verfassungen" tragen oftmals Züge eines "heiligen Dokuments", insbesondere in den Vereinigten Staaten, wo sich ein regelrechter, rituell ausdifferenzierter Gründungsmythos um die Verfassung und die Verfassungsväter ausgebildet hat.52 Aber auch wenn sich um die Verfassung kein Kultus bildet, bleibt sie ein "verehrungswürdiges" Dokument, dem Achtung und Respekt entgegengebracht und dem, von leidenschaft-
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liehen Beteuerungen begleitet, Vorbildlichkeit bescheinigt wird, was sich unter anderem auch in einer gewissen "heiligen Scheu" äußert, das von institutionalisierten Hütern bewachte Dokument zu verändern oder auch nur zu korrigieren. Selbst gewissen Parteiprogrammen, besonders dann, wenn sie für weltanschaulich gebundene, programmatische Aufbrüche und Zielvorgaben stehen, wird oftmals der Charakter von "heiligen Schriften" zugesprochen, denen andachtsvoll gedacht wird und die, jedenfalls für einen bestimmten Zeitraum, als sakrosankt gelten wie zum Beispiel das "Godesberger Programm" der bundesdeutschen SPD.
3.3.4 Feste Die bisher genannten Formen des institutionalisierten Charisma sind solche, die das "reine" Ursprungscharisma transformieren, indem sie es neu strukturieren und so in gewandelter Form in gegebene gesellschaftliche Ordnungen integrieren. Daneben existieren aber noch Formen, die einen anderen Weg der Institutionalisierung einschlagen - einen Weg, den Weber selbst zwar vorgezeichnet hat, aber nicht systematisch gegangen ist. Hier wird nicht versucht, das Charisma in die Alltagsinstitutionen einzufügen, sondern hier werden spezifische, d.h. zeitlich oder räumlich begrenzte Institutionen geschaffen, die das "reine" Charisma erhalten sollen, um seine legitimatorische Kraft wach zu halten und auf Dauer zu stellen. Hier wird also, was auf den ersten Blick als Paradoxie erscheinen mag, die revolutionäre Energie des charismatischen Ursprungsereignisses zur Stabilisierung gesellschaftlicher Ordnungen genutzt, indem es in seinem Wirkungskreis begrenzt und kontrolliert wird. Eine solche Institution ist das Fest. Es stellt einen zeitlich begrenzten, zumeist exakt definierten Freiraum dar, der die im Alltag verbindlichen Regeln und Normen des Handelns außer Kraft setzt und rein aktuelles, spontanes, emotional aufgeladenes, bis hin zur Ekstase und zum Exzeß reichendes Handeln nicht nur erlaubt sondern geradezu verlangt und deshalb durch den legitimen Gebrauch stimulierender Hilfsmittel wie Alkohol, Musik, Tanz, Licht, Masken und ähnlichem fördert. Das Fest läßt sich als eine geregelte Ordnung begreifen, die ungeregeltes, ungeordnetes und unplanbares Geschehen für einen exakt festgelegten Zeitraum ermöglicht; es sprengt die Ordnungen des Alltags, indem es allgemein verbindliche Herrschafts- und Rechtsordnungen und die damit verbundenen Rollenerwartungen und Normen auf Zeit aufhebt, ebenso wie die Gebote von Sitte, Moral und Tradition. In manchen Festen gilt es zudem als legitim, selbst ansonsten fraglos anerkannte, ja als "heilig" geltende Institutionen, Autoritäten und Wissenbestände anzugreifen, zu karikieren, zu verspotten, kurz: in Frage zu stellen. Und manche Feste erlauben, ja fordern gerade dazu auf, im festlichen Vollzug eine mit utopischen Momenten durchzogene Gegenwelt zu konstruieren, indem sie die im Alltag gegebenen Herrschaftsverhältnisse in ihr Gegenteil verkehren.53 Typische Beispiele für solche Feste sind die römischen Saturnalien, in denen für den Zeit-
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räum des Festes der Unterschied zwischen Herr und Sklave aufgehoben war, in denen sogar die Rollen vertauscht wurden und die Herren ihre Sklaven zu Tische baten und sie bedienten; die mittelalterlichen Narren- und Eselsfeste, in denen die kirchliche Ordnung karikiert und lächerlich gemacht wurde; teilweise auch immer noch, und zwar dort, wo sie noch nicht zum mediengerechten Unterhaltungsspektakel degeneriert sind, Karneval und Fastnacht. Elemente einer "Gegenwelt" finden sich ebenfalls in "modernen" politischen Demonstrationen, Happenings, Sitins, Teach-ins, Stadteil-, Friedens- oder Alternativfesten, in denen sich die vollständige oder teilweise Ablehnung der gegebenen gesellschaftlichen Ordnung verbindet mit einem lockeren, spontanen, emotional aufgeladenen, teilweise sogar leidenschaftlichen Gemeinschaftserlebnis, eine Mischung, die unter bestimmten Bedingungen bis hin zum festlichen Exzeß in Form von Straßenschlachten und Barrikadenkampf führen kann.54 Diese Beispiele zeigen, daß dem Fest - in je unterschiedlicher Form und Intensität - eine "kritische" Kraft innewohnt, die es in der Regel dadurch gewinnt, daß die gegebene gesellschaftliche Ordnung mit den Idealen eines charismatischen Ursprungsereignisses oder daraus abgeleiteten Utopien55 konfrontiert und an ihnen gemessen wird. So diente in den mittelalterlichen Esels- und Narrenfesten das Ideal der "urchristlichen Gemeinde" als Maßstab, an dem sich die Institution der Kirche messen lassen mußte. In der Festforschung gilt von Emile Durkheim über Karl Kerényi, Roger Caillois und Josef Pieper bis hin zu Odo Marquard 56 als unbestritten, daß sich im Fest die rituelle Rückkehr ins "schöpferische Chaos" einer im mythischen Dunkel liegenden Ursprungszeit vollzieht, daß sich in ihm , anders ausgedrückt, eine "Epiphanie" ereignet. Durch solche Erlebnisse hofft der Mensch, die partikulären Zersplitterungen und Zumutungen des Alltags, Interessenkonflikte, soziale Antagonismen und Ungerechtigkeiten, aber auch Erfahrungen des persönlichen Leids, zu überwinden und einen "ganzheitlichen" Zustand zu erreichen, der es ihm erlaubt, sich seiner selbst und seiner Stellung in der Welt zu versichern. Das Fest gestattet so die regelmäßig wiederkehrende, teils bewußt vollzogene, teils nur dunkel geahnte Erfahrung des "charismatischen Ursprungsereignisses", hält das "reine Charisma" also in einer institutionellen Ordnung präsent, ohne daß es zwangsläufig zu einer Gefahr für diese wird. Es bietet nicht nur ein Ventil, das es ermöglicht, für einen gewissen Zeitraum alltägliche Zwänge und Verpflichtungen abzuschütteln, sich einer "ursprünglichen" Freiheit zu erfreuen und Emotionen und Leidenschaften auszuleben, sondern hält darüber hinaus auch noch bestimmte Ideale (und damit vielleicht auch bestimmte Alternativmodelle gesellschaftlicher Ordnung) wach, die dem alltäglichen Handeln Perspektive und "Sinn" geben können. Es stellt einen legitimen, weil zeitlich begrenzten Ort für Kritik und das Ausleben von Utopien zur Verfügung und trägt damit bei, eine gegebene gesellschaftliche Ordnung zu stabilisieren.
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3.3.5 Charisma als Lebensform Eine zweite Variante der Institutionalisierung des "reinen" Charisma ist dann gegeben, wenn es nicht zeitlich wie im Fest, sondern räumlich begrenzt ist, wenn es also einen fest institutionalisierten Sonderbereich bildet, in dem es unbehindert und auch ohne Gefahr für die es umgebende Ordnung existieren kann. Es lassen sich im Prozeß der Veralltäglichung des Charisma immer wieder einzelne oder sich zu Gruppen zusammenschließende Menschen beobachten, die sich allen Versuchen, das "reine" Charisma zu institutionalisieren und zu versachlichen, widersetzen; die die Transformation und den Einbau des "reinen" Charisma in die Dauergebilde sozialer, politischer, ökonomischer und politischer Ordnungen als "Degeneration", wenn nicht sogar als "Verrat" betrachten; die jeglichen Kompromiß mit der "Welt" ablehnen, die nur die Unbedingtheit, die Radikalität und die Absolutheit des "reinen" Charisma als das einzig "wahre" und "legitime" Erbe anzuerkennen bereit sind; die allein dieses bewahren, oder es, wenn sie es schon als verloren gegangen glauben, zurückerobern wollen. Um dieses Ziel zu erreichen, entwickeln sie eine besondere Lebensform, die sie gegen die sie umgebende - nur gentil-, amts- oder ideencharismatisch legitimierte - Umwelt abgrenzt, auch vor Anfeindungen dieser schützt, und die mit Hilfe unterschiedlicher Techniken den Besitz der besonderen Gnadengaben des "reinen" Charisma auf Dauer garantieren soll. So hat das christliche Mönchtum, als typisches Beispiel für eine solche Gruppe, in der Form des koinobitischen Zusammenlebens, einen Weg gefunden, in der Abgeschiedenheit des Klosters und mittels spezifischer Armuts-, Demuts- und Gehorsamsgebote und methodisch-rationaler Askese, Büß- und Gebetsübungen57, das "reine" Ursprungscharisma in der Idee der "imitatio christi"58 auf Dauer zu stellen und nach außen hin, insbesondere gegen die Institution der Kirche, auch zu behaupten. Das Mönchtum, sagt Weber, "ist die alte genuine charismatische Jüngerschaft und Gefolgschaft, nur daß nicht mehr ein sichtbarer religiöser Held, sondern der ins Jenseits entrückte Prophet sein nunmehr unsichtbarer Leiter ist".59 Wie dieses Beispiel schon andeutet, ist die Situation solcher Gruppen äußerst prekär: Inwieweit sie dauerhaft bestehen und welchen Einfluß sie ausüben können, hängt zumeist davon ab, ob sie ihren notwendig zum Konflikt mit ihrer nur amtscharismatisch legitimierten Umwelt führenden Anspruch, die einzig legitimen Erben des Ursprungscharisma zu sein, konsequent aufrecht erhalten. Behalten sie diesen radikalen Anspruch bei, ist der Dauerkonflikt mit den sie umgebenden Ordnungen vorprogrammiert und führt in der Regel zur Stigmatisierung solcher Gruppen als "Häretiker", zu ihrer Vertreibung und in letzter Konsequenz zu ihrer physischen Vernichtung. Als Beispiel für einen solchen Fall können viele der mittelalterlichen "Ketzer'-Bewegungen, ebenso wie die radikalen Wiedertäufersekten der "Amish" oder "Hutterer" genannt werden. Sind sie aber bereit, sich mit ihrer Umwelt zu arrangieren, sich mit einem Sonderstatus einer "geistigen" oder "moralischen" Elite zufrieden zu geben und als "Modell" und Vorbild eines "guten Lebens" für den Durchschnittsmenschen zu dienen, dann werden sie als Sonder-
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form, zumeist mit einem eigenen Rechtsstatus versehen, in die Reihe der anderen Institutionen aufgenommen, mit allen Gefahren der Veralltäglichung, die sich nun für sie daraus ergeben. Das christliche Mönchtum zum Beispiel hat diesen Weg trotz oder gerade wegen der dauernden Konflikte mit der Amtskirche eingeschlagen und gilt nun, wie Weber sagt, als "die Elitetruppe der religiösen Virtuosen innerhalb der Gemeinschaft der Gläubigen".60 Entwickeln sich also sich auf das "reine" Ursprungscharisma berufende "Protestgruppen" zu in die Institutionenstruktur einer gegebenen gesellschaftlichen Ordnung integrierten "anti-institutionellen Sonderinstitutionen"61, dann wird die von ihnen praktizierte, außeralltägliche Lebensform nicht nur toleriert, sondern zumeist noch gefördert, weil sie als angebliche oder tatsächliche "Elite" das "charismatische Potential" präsent halten, deshalb als "gutes Gewissen" fungieren, Kritik an der übergreifenden Institution oder der gesamten Institutionenstruktur begrenzen oder jedenfalls Argumente gegen kritische Einwände liefern können. Die stabilisierenden, legitimierenden Wirkungen beider zuletzt genannten Formen des institutionalisierten Charisma sind im Vergleich zu den zuerst genannten äußerst labil. Die revolutionäre Kraft des "reinen" Charisma ist in ihnen nicht transformiert und damit vernichtet, sondern nur institutionell eingegrenzt und gezähmt worden und kann sich deshalb unter bestimmten, allerdings nur schwer angebbaren Bedingungen auch wieder aus diesen institutionellen Fesseln befreien. So können Feste unter Umständen in offene Rebellion umschlagen, wie man es in der französischen Studentenrevolution von 1968 beobachten konnte62; so können charismatische Eliteformationen die gegebenen gesellschaftlichen Ordnungen, partikulär oder insgesamt, immer wieder herausfordern, indem sie sie mit den Idealen des charismatischen Ursprungs konfrontieren, wie die Beispiele der unterschiedlichen, von Klöstern ausgegangenen Reformbewegungen innerhalb der katholischen Kirche oder die nur mühsam gelungene Domestizierung des Franziskanerordens zeigen.63
3.4 Die Veralltäglichung des institutionalisierten Charisma Charisma kann, wie gesehen, in unterschiedlichsten Formen in gesellschaftlichen Ordnungen institutionalisiert sein. Für die Interpretation der Weberschen Herrschaftssoziologie folgt aus diesem Tatbestand, daß auch die Alltagsformen der Herrschaft, also die traditionale und die legale Herrschaft, durchsetzt sind mit transformierten "charismatischen" Elementen, die ihren dauerhaften Bestand und ihre Legitimität erst ermöglichen und - wenigstens für einen gewissen Zeitraum auch garantieren. Die legitimatorische Kraft des institutionalisierten Charisma ist allerdings nicht von "Ewigkeit". Gegen Edward Shils und seine Schule, die davon auszugehen scheinen, daß das charismatische Fundament einer gesellschaftlichen Ordnung den Gesetzen der "Autopoiesis" folgt, sich also stetig aus sich selbst heraus erneuert, muß mit Weber daran festgehalten werden, daß auch die Formen
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des institutionalisierten Charisma einem Prozeß der Veralltäglichung unterliegen. Wie das "reine" Charisma, so muß sich auch das institutionalisierte Charisma "bewähren", auch wenn es aufgrund seiner institutionellen Verfaßtheit "enttäuschungssicherer" ist. Der charismatische Glanz einer Sippe, eines Amtes oder einer kanonisierten Lehre kann verblassen, wenn deren Leistungen oder Inhalte der alltäglichen Wirklichkeit nicht mehr entsprechen. Ein "unwürdiger" Inhaber eines Amtes allein, zum Beispiel, wird das Charisma des Amtes kaum gefährden, folgen aber mehrere aufeinander, kann das Amt Schaden nehmen. Doch mehr als durch solch eher zufällige Ereignisse wird die Veralltäglichung des institutionalisierten Charisma initiiert und vorangetrieben durch langfristige, strukturelle und kulturelle Wandlungsprozesse. Gesellschaftliche Differenzierungsprozesse, Änderungen im Bereich der Mentalitäten, technische oder wissenschaftliche Entdeckungen, kulturelle oder ideelle Neuerungen führen dazu, daß bisher eingespielte Handlungsorientierungen, Werthaltungen und Glaubensüberzeugungen unsicher werden, öffentlich in Zweifel gezogen werden, daß Institutionen der Kritik unterzogen werden, daß man ihrer "müde" wird, daß sie nicht mehr als Stabilisierungsfaktoren der gesellschaftlichen Ordnung und der eigenen Identität, sondern als Hemmnisse der Emanzipation eingeschätzt werden, kurz: daß sie an Legitimität verlieren. Eine solche Entwicklung bleibt natürlich nicht ohne Folgen für die Formen des institutionalisierten Charisma, die nun an Glanz und Ausstrahlung verlieren, ebenfalls der Kritik ausgesetzt werden und so ihre massenwirksame Anziehungskraft einbüßen: Symbole werden mißachtet, bzw. gar nicht mehr als solche erkannt; feierliche Akte vollziehen sich ohne "innere" Anteilnahme; "heilige" Schriften geraten unter Rechtfertigungszwang und werden "entzaubert". In solchen Situationen steigt die Chance für "neue" charismatische Einbrüche, insbesondere dann, wenn die "alten" Institutionen nicht mehr die Kraft aufbringen, sich zu erneuern. Ein Theorem des "institutionalisierten Charisma" muß also nicht unbedingt von einem statischen Gesellschaftsmodell ausgehen, das bestehende Verhältnisse auf "ewig" festschreibt. Es enthält, orientiert man sich konsequent an den Weberschen Vorgaben, ein dynamisches Potential, das sie für die Analyse sozialer Wandlungsprozesse und sozialer Bewegungen, also für eine "Theorie des sozialen Wandels" prädestiniert - nicht zuletzt auch deshalb, weil sie sozialen Wandel nicht als anonymen Differenzierungsprozeß, sondern als das vielschichtige Ergebnis konkreter menschlicher Handlungen betrachtet.
Anmerkungen 1
Vgl. Schluchter,W.: Die Entwicklung des okzidentalen Rationalismus. Eine Analyse von Max Webers Gesellschaftsgeschichte, Tübingen 1979, S.180ff.; Schluchter,W.: "Einleitung: Max Webers Analyse des antiken Christentums. Grundzüge eines unvollendeten Projekts", in: ders.(Hrsg.): Max Webers Sicht des antiken Christentums, Frankfurt/M., 1985, S.ll-71; Schluchter,W.: "Umbildungen des Charismas: Überlegungen zur Herrschaftssoziologie", in: ders.: Religion und Lebensführung. Studien zu Max Webers Religions- und Herrschaftssoziologie", Bd.2, Frankfurt/M. 1988, S. 535-554.
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Vgl. Seyfarth,C.: "Alltag und Charisma bei Max Weber. Eine Studie zur Grundlegung der 'verstehenden Soziologie'", in: Grathoff,R./Sprondel,W.M.(Hrsg.): Alfred Schütz und die Idee des Alltags in den Sozialwissenschaften, Stuttgart 1979, S.167. Vgl. Shils,E.: "Charisma, Order, and Status", in: ders.: The Constitution of Society, Chicago/London 1982, S.119-142. Vgl. auch: Eisenstadt,S.N. "Introduction", in: ders.(Hrsg.): Max Weber on Charisma and Institution Building, Chicago 1968; und Greenfield,L.: "Reflections on two charismas", in: British Journal of Sociology 36/1985, S.117ff. Beide knüpfen direkt an Shils an. Shils 1982, S.125f. Shils 1982, S.120. Vgl. BensmanJ./Givant,M.: "Charisma and Modernity. The Use and Abuse of a Concept", in: Social Research 1975, S.570ff. Shils 1982, S.125. Vgl. hierzu auch: Schluchter 1988, S.537. Vgl. hier die von Reinhard Bendix getroffene Unterscheidung zwischen charismatischer Führung und charismatischer Herrschaft in: Bendix,R.: Max Weber - Das Werk, München 1964, S.226f. Vgl. hierzu: Weber,M.: Wirtschaft und Gesellschaft, 5Aufl., Tübingen 1976, S.657f. und S.142. Weber 1976, S.661. Weber 1976, S.661. Vgl. Schluchter 1988, S.549. Vgl. Weber 1976, S.662. Vgl. Schluchter 1988, S 549. Vgl. Weber 1976, S.661. Vgl. Weber, Max: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Band I, 7. Auflage, Tübingen 1978, S.270. - Den Begriff der Institution verwendet Weber noch in einem ganz "naiven", sozusagen "vortheoretischen" Sinne zur Beschreibung von besonderen, durch ihre spezifische Regelhaftigkeit gekennzeichneten sozialen Beziehungen, von Vergemeinschaftungsformen wie der Ehe oder der Männerbünde bis hin zur Anstalt (Vgl. z.B.: Weber 1976, S.692 und S.698). Es erübrigt sich deshalb fast, darauf hinzuweisen, daß der Begriff der Institution bei Weber noch frei ist von allen Konnotationen, die er seit Parsons und Gehlen angenommen hat. Vgl. Schluchter 1985, S.48; Weber 1976, S.687. Weber 1976, S.662.
21 Weber 1976, S.143; vgl. dazu auch S.276. Hier sagt Weber explizit, daß die Gemeinde "überhaupt erst als Produkt der Veralltäglichung" entsteht, "indem entweder der Prophet selbst oder seine Schüler den Fortbestand der Verkündigung und Gnadenspendung dauernd sichern." Vgl. zum Stellenwert der Gemeinde auch den Beitrag von Luciano Cavalli in diesem Band. 22 Vgl. Weber 1976, S.663 und S.671. 23 Der Gebrauch der Begriffe "Gentilcharisma" und "Erbcharisma" bei Weber ist unsystematisch und damit leicht verwirrend. Im - werkgeschichtlich gesehen - ersten Manuskript über die "Herrschaftssoziologie" in "Wirtschaft und Gesellschaft" (2.Teil, 2.Halbband, Kapitel IX) spricht er sowohl von Gentil- als auch von Erbcharisma. Gentilcharisma meint dabei die Vorstellung von der besonderen Begnadung einer Sippe; Erbcharisma vor allem die Vorstellung von dem Glauben an die besondere Begnadung des "Erstgeborenen". Explizit von "Gentilcharisma" ist auch noch in den religionssoziologischen Studien über China und Indien die Rede. Im relativ spät entstandenen zweiten Manuskript zur Herrschaftssoziologie in "Wirtschaft und Gesellschaft" (l.Teil, Kapitel III), ebenso wie in der aus den Münchener nachgelassenen Vorlesungen zusammengestellten "Wirtschaftsgeschichte", ist von Gentilcharisma nicht mehr die Rede, nur noch vom Erbcharisma. Erbcharisma schließt jetzt allerdings den ursprünglichen Begriffsinhalt von Gentilcharisma mit ein. Weber scheint also gegen Ende seines Schaffens, den Begriff des Gentilcharisma dem Begriff des Erbcharisma untergeordnet zu haben. - Ohne die Motive für diese Verschmelzung der Begriffe zu kennen, halte ich es doch für sinnvoll, die Trennung beizubehalten, weil beide Begriffe ganz offensichtlich unterschiedliche Bedeutungsinhalte besitzen. 24 Weber 1976, S.144. 25 Weber 1976, S.674.
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26 Vgl. Weber 1976, S.672. 27 Vgl. Weber 1978, S.316ff. 28 Weber Max: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Band II, 5.Aufl., Tübingen 1972, S.52ff. 29 Weber 1976, S.675. 30 Vgl. Weber 1976, S.675. 31 Weber 1978, S.421. 32 Weber 1976, S.675. 33 Vgl. Weber 1976, S.671 und S.677. 34 Vgl. Weber 1976, S.144. 35 Zum spezifischen Zusammenhang von Charisma und feierlichem Akt vgl. Gebhardt,W.: Fest Feier und Alltag, Frankfurt/M./Bern/New York/Paris 1987. 36 Exemplarisch dazu: Kugler,G J.: Die Reichskrone, 2Aufl., München 1986; Clark,G.: Symbols of Excellence: precious materials as expressions of status, Cambridge 1986. 37 Über den symbolischen Gehalt von Politik in modernen Gesellschaften, vgl.: Kertzer.D.L.: Ritual, Politics, and Power, New Haven 1988; Scarcinelli,U.: Symbolische Politik. Zur Bedeutung symbolischen Handelns in der Wahlkampfkommunikation der Bundesrepublik Deutschland, Opladen 1987. 38 Vgl. Weber 1976, S.677. - Ausführlicher als in "Wirtschaft und Gesellschaft" handelt Weber das Phänomen der "charismatischen Erziehung" in seiner Studie über "Konfuzianismus und Taoismus" ab: Weber 1978, S.408f. 39 Vgl. dazu: Glassman,R: "Legitimacy and manufactured charisma", in: Social Research 1975, S. 615ff; und Bensman/Givant 1975. 40 Vgl. Weber 1976, S.688. 41 Weber 1976, S.682. 42 Vgl. dazu den Beitrag von Luciano Cavalli in diesem Band. 43 Vgl. hierzu: Gusdorf,G.: Les sciences humaines et la pensée occidentale - tome VIII, la conscience révolutionnaire - les ideologues, Paris 1978; Vinot.B.: Saint-Just, Stuttgart 1989. 44 Vgl. Weber 1976, S.726; Palmer,R.: Twelve Who Ruled: The Committee of Public Safety in the French Revolution, Princeton 1941, S.74; dazu auch: Billington,J.: Fire in the Minds of Men. Origins of the Revolutionary Faith, New York 1980, S.62ff. 45 Vgl. hierzu den Beitrag von Stefan Breuer in diesem Band. 46 Vgl.: Weber 1976, S.279; grundsätzlich zu diesem Problem: 0'Dea,F.Th.: "Die fünf Dilemmas der Institutionalisierung der Religion", in: Fürstenberg,F.: Religionssoziologie, Neuwied/Berlin 1964, S.207-213. 47 Weber 1976, S.280. 48 Vgl. dazu: A. und J. Assmann: "Kanon und Zensur", in: dies.(Hrsg.): Kanon und Zensur. Beiträge zur Archäologie der literarischen Kommunikation II, München 1987, S.7-27. 49 Vgl. Hahn,A.: "Kanonisierungsstile", in: Assmann 1987, S.28. 50 Vgl. Riegel, K.G.: Konfessionsrituale im Marxismus-Leninismus, Graz/Wien/Köln 1985. 51 Diese "Verklärung" begann schon unmittelbar nach dem Ereignis in den Festen der Französischen Revolution und in den "propagandistischen" Werken J.L.Davids. Vgl. Ozouf.M.: La fête révolutionnaire, 1789-1799, Paris 1976; Gusdorf 1978; Leith, JA.: The Idea of Art as Propaganda in France 1750-1799, Toronto 1965. 52 Vgl. Warner, W.L.: The Living and the Dead. A Study of the Symbolic Life of Americans, New Haven 1959. 53 Zur Phänomenologie des Festes vgl. Gebhardt 1987, S.52ff. 54 Uber moderne Festformen, vgl. Lipp.W.: "Feste heute - Animation, Partizipation und Happening", in: Haug,W./Warning,R.(Hrsg.): Das Fest (Poetik und Hermeneutik XIV), München 1989, S.663-683. 55 Über den Zusammenhang von charismatischen Ursprungsereignissen und Utopien, vgl. Manuel, F.E./Manuel,F.P.: Utopian Thought in the Western World, Oxford 1979. 56 Eine vollständige Übersicht über die unterschiedlichen Festtheorien ist hier nicht möglich. Ich verweise auf das entsprechende Kapitel in Gebhardt 1987, S.36ff., sowie auf die Arbeit von P.
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Hugger: "Das Fest - Perspektiven einer Forschungsgeschichte", in: ders.(Hrsg.): Stadt und Fest, Stuttgart/Unterägeri 1987, S.9-24. Über das Verhältnis von Kirche und Mönchtum vgl. Weber 1976, S.694ff. Vgl. Bergmann,W.: "Das frühe Mönchtum als soziale Bewegung", in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 1985, S.33. Weber 1976, S.696. Weber 1976, S.697; über die sich mit dem Übergang in die Moderne vollziehende Umwandlung religiöser Virtuosengemeinschaften in "charismatische Gemeinschaften ideologischer Virtuosen" und deren Bedeutung für die heutige "Gegenkultur" vgl. Roth,G.: Politische Herrschaft und persönliche Freiheit, Frankfurt/M. 1987, S.137ff. Zum Begriff und zur Theorie der "anti-institutionellen Sonderinstitution" vgl. Lourau.R.: "Pour une sociologie des contre-institutions", in: L'homme et la société, 17/1970, S. 281-295; Prein,G.: "Elemente einer Theorie der Gegeninstitution", in: Weigand,G./Hess,R./Prein,G.(Hrsg.): Institutionelle Analyse. Theorie und Praxis, Frankfurt/M. 1988, S.61-69. Vgl. Turkle.S.R.: "Symbol and Festival in the French Student Uprising (May-June 1968), in: Moore,S.F/Myerhoff,B.G.(eds.): Symbol and Politics in Communal Ideology, Ithaca and London 1975, S.68-100. Vgl. Glaser,F.: Die Franziskanische Bewegung. Ein Beitrag zur Geschichte sozialer Reformideen im Mittelalter, Stuttgart/Berlin 1903.
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Macht aus Ohnmacht Die stigmatischen Züge der charismatischen Bewegung um Jesus von Nazareth Michael N. Ebertz
4.1 Vorbemerkung Angesichts einer fragmentarischen, äußerst selektiven, sachlich heterogenen, auch widersprüchlichen Quellenlage1 und der kaum überwindbaren methodischen und methodologischen Dilemmata der historischen Bibelkritik muß sich auch eine Religionssoziologie der Jesusbewegung "mit mehr oder weniger hypothetischen Rekonstruktionen begnügen".2 Aber auch die Soziologie, der es im Unterschied zur Theologie darum geht, soziale Regelmäßigkeiten zu erkennen, also Allgemeines am Besonderen und Besonderes auf dem Hintergrund von Allgemeinem zu beobachten, zu verstehen und zu erklären, hat dabei mit dem Problem zu kämpfen, daß es auf diesen Gegenstand kaum völlig distanzierte Hinsichten gibt. Ebenso wie dem Soziologen die Teilnahme an der neueren 'Mode' verwehrt ist, zu Einsichten über Jesus von Nazareth durch ästhetische, meditative oder mystische Erschütterungen zu gelangen, vermögen auch ältere und neuere ideologische Filter keine adäquaten Voraussetzungen für ein soziologische Interpretation der Jesusbewegung abzugeben. Sie können ebenso den Blick eintrüben und zu kurzschlüssigen Folgerungen verführen wie eine spezifisch wertrationale Erstarrung solcher konfessionellen Dogmatiker, die dazu neigen, die menschliche, und das heißt eben auch die soziohistorische Verbundenheit des zum Stifter einer neuen Religion 'Gesalbten' zugunsten einer diesem zugeschriebenen Göttlichkeit bzw. Gottessohnschaft abzuwerten und zu verkürzen. Diese kirchlich-theologisch dogmatisierte Dimension der jesuanischen Existenz entzieht sich aber gerade dem soziologischen Zugriff, da sie - wie Gott selbst empirisch nicht verfügbar ist und deshalb wie ein Werturteil zu behandeln, also methodisch ein- bzw. auszuklammern ist. Zwar läßt sich vielleicht "mit Recht sagen: der gläubige Katholik wird auch über die Tatsache des Herganges bei der Entstehung des Christentums niemals die Ansicht annehmen, die ein von seinen dogmatischen Voraussetzungen freier Lehrer ihm vorträgt. Gewiß! Der Unterschied aber liegt in folgendem: die im Sinne der Ablehnung religiöser Gebundenheit Voraussetzungslose* Wissenschaft kennt in der Tat ihrerseits das 'Wunder' und die 'Offenbarung' nicht. Sie würde ihren eigenen 'Voraussetzungen' damit untreu. Der Gläubige kennt beides. Und jene Voraussetzungslose' Wissenschaft mutet ihm nicht weniger - aber auch nicht mehr - zu als das Anerkenntnis: daß, wenn der Hergang ohne jene übernatürlichen, für eine empirische Erklärung als ursächliche Momente ausscheidenden Eingriffe erklärt werden solle, er so, wie sie es ver-
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sucht, erklärt werden müsse. Das aber kann er, ohne seinem Glauben untreu zu werden".3 In dieser vorausgesetzten Voraussetzungslosigkeit hinsichtlich des Glaubensinteresses klammert die Religionssoziologie freilich unter Umständen gerade das ein, was dem gläubigen Denken und Handeln als das unaufgebbare Wesen seiner Religion gilt. Gleichwohl hält die Soziologie und Religionssoziologie ein weitgehend aus dem theologischen Diskurs, nachdrücklich aus den Arbeiten des theologisierenden Juristen Rudolf Sohm (1841-1917) entlehntes, aber umgestaltetes, sozusagen empiriefähig raffiniertes sozialtheoretisches Konzept bereit, das einen Ausweg aus jenem Dilemma verspricht. Es kann nämlich religiöse Phänomene nicht nur identifizieren und auf den gesellschaftlichen Kommunikations- und Handlungszusammenhang beziehen, sondern verweist auch auf typische Muster der gesellschaftlichen Konstruktion von Wirklichkeit, wodurch sozusagen das Göttliche im Menschlichen ahnbar wird. Es ist Max Webers Konzept der charismatischen Herrschaft, das als paradigmatischer Leitfaden auch noch die nötige Distanz zu verbürgen vermag.
4.2 Das Konzept der charismatischen Bewegung Max Weber hat - um nur ein Beispiel für die spezifisch soziologische Raffinierung des ursprünglich theologischen Charismabegriffs zu geben - den noch für Rudolf Sohm konstitutiven theologischen Dualismus "irdisch" vs. "religiös" entzaubert und ihn in ein empirie- und geschichtsfähiges Gegensatzpaar "Alltag" vs. "Außeralltäglichkeit" überführt. Statt davon zu sprechen, daß die charismatischen Beziehungen - welche die frühchristliche Ekklesia kennzeichneten - "den Normen des Irdischen ... entrückt"4 seien, spricht Weber nüchtern von ihrer Distanz zu und Entflechtung aus dem "Alltag" bzw. der "Welt" und konkretisiert: "außerhalb der Bande dieser Welt..., außerhalb der Alltagsberufe ebenso wie außerhalb der alltäglichen Familienpflichten".5 Und wo Sohm die Akzeptanz des Charisma "nur aus Liebe geboren werden"6 läßt, streicht Weber die "Liebe" und setzt an ihre Stelle die Faszination oder die "Not" und die mit ihr aufbrechenden Hoffnung: Die Anerkennung der charismatischen Herrschaft ist "eine aus Begeisterung oder Not und Hoffnung geborene gläubige, ganz persönliche Hingabe".7 Das Konzept der charismatischen Herrschaft steht im Schnittfeld der Weberschen Herrschafts- und Religionssoziologie und signalisiert damit schon implizite nicht nur die wechselseitige Durchdringung von religiösen und Herrschaftsphänomenen, sondern verleiht auch dem elementaren Gedanken Ausdruck, daß die Soziologie der Religion wie die "Phänomenologie der Religion im §1 mit dem Phänomen der Macht beginnt".8 Dieses Konzept, das Max Weber - oft übersehen - auch dazu diente, mit dem Begriff der "prophetisch-charismatischen Bewegung" einen dritten Idealtypus religiöser Sozialformen (neben "Kirche" und "Sekte") zu konstruieren, weist zudem die
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Vorzüge der "Rückendeckung einer reich ausgefalteten Theorietradition und der polemischen Kraft gegen die nicht weniger reiche Anti-Tradition der Herrschaftstabuierung aus ideologischen und philanthropischen Motiven auf. Außerhalb der Soziologie ist die apriorische Annahme, wo sich Menschen vergesellschaften, finden wir strukturelle Über- und Unterordnung, geeignet, die Debatte mit anderen Wissenschaften und Weltanschauungen offenzuhalten und womöglich zu reizvollen Theoriekonsensen zu gelangen".9 Wie das Herrschaftsparadigma im allgemeinen überschreitet auch das Strukturbild der charismatischen Herrschaft im besonderen nicht ein bestimmtes Maß an Abstraktion, ist also "genügend empirie- und geschichtsnah".10 Hierfür sprechen neben Max Webers eigenen, in seinem Werk verstreuten Beobachtungen zu einer fragmentsirisch gebliebenen Soziologie der Jesusbewegung bzw. des frühen Christentums11 zahlreiche soziologische Studien über konkrete charismatische Bewegungen der Gegenwart und der Vergangenheit. Das spezielle Paradigma der "charismatischen Herrschaft" findet innerhalb der Soziologie und besonders in der Religionssoziologie breite Zustimmung. Was nach Horst Baier das Herrschaftsparadigma im allgemeinen kennzeichnet, gilt auch für das Konzept der "charismatischen Herrschaft" im besonderen. Mit seiner Hilfe können historische bzw. empirische "Aussagen operabel für die innersoziologischen Theoriekonstruktionen und kooperabel für interdisziplinäre Theoriekombinationen werden".12 Aus der Theologie genommen, von Max Weber idealtypisierend modifiziert, besitzt es etwa dort, aber auch in der Religionswissenschaft, einige Sympathie.13 Es steht auf dem Schnittpunkt von Denktraditionen in den hier angesprochenen Disziplinen und kann also "Erfahrungen verbürgen, die disziplinar und interdisziplinär generalisierbar, d.h. theoriefähig sind".14 Auch die sozialwissenschaftliche Rezeptionsgeschichte des Konzepts der charismatischen Bewegung belegt, daß es nicht nur bestätigt, sondern auch weiterentwickelt werden konnte.15 So wurde dieses Konzept beipielsweise in jüngster Zeit devianzsoziologisch erweitert.16 'Charismatiker' kommen nicht selten aus gesellschaftlichen Randlagen und sind oft als 'sozial Abweichende' diskriminiert; denn sie intendieren, "die soziale Ordnung ... 'umzudrehen' und ins Gegenteil zu verkehren".17 Sie definieren gesellschaftliche Defizienz-, Inferioritäts- oder Unterlegenheitsverhältnisse in einen Zustand der Auserwählung um. Dabei versehen sie nicht nur die Lage der 'Glücklichen' mit einem negativen, die der 'Leidenden' mit einem positiven Vorzeichen bzw. umkleiden dieses Leiden kognitiv und normativ mit den heiligen Symbolen ihrer Gesellschaft, sondern fordern ihre Adressaten auf, aus der Not eine Tugend zu machen. Sie propagieren, sich aktiv, bewußt und demonstrativ mit ihrer Last zu identifizieren, sie auf sich zu laden, ihre sozialen Produktionsweisen damit einerseits zu reproduzieren wie andererseits kritisch widerzuspiegeln und sie auf diese Weise zu relativieren, zu diskreditieren und zu unterlaufen. In seiner elementaren Struktur zwar äußerst simpel, ist diese genuine Verhaltensfigur der "Selbststigmatisierung" jedoch funktional äußerst komplex. Sie enthält sowohl
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Momente der Artikulation und Identifikation mit der Interessenlage, den Eigenschaften und Idealen der potentiellen oder aktuellen Anhänger charismatischer Bewegungen als auch - mittels der elementaren 'Tricks' des Umdrehens - ein Moment des 'Neuen' und 'ganz Anderen'. Charismatische Bewegungen thematisieren zwar einerseits die jeweilige "Not", ermöglichen aber, sie "in anderem Lichte zu sehen", die Betroffenen aus der fremdauferlegten Apathie zu reißen und schöpferisch "neuen Gestaltungen Raum zu geben".18 Charismatische Bewegungen offerieren also mittels Selbststigmatisierung eine Diagnose, einen Sinn und Ausweg aus der Notlage, bei gleichzeitigem Widerstand und Protest gegen ihre vermeintlichen oder wirklichen Verursacher. Selbststigmatisierung, also die "Selbstkennzeichnung sozialer Subjekte mit Mangel- und Schuldsymbolen", ist also innovativ und revolutionär, schließlich einfach und verständlich, verbal, dramatisch und zudem zeitsparend kommunizierbar.19 Als "reflexiver Mechanismus"20 kann sie auf bereits bestehende kommunikative Elemente zurückgreifen. Wolfgang Lipp zeigt nun nicht nur auf, daß sich charismatische Lehren am Topos der Verkehrten Welt' orientieren, sondern charismatische Individuen und ihre Gefolgsleute selbst gleichsam den Drehpunkt darstellen, von dem aus sie einen neuen dialektischen Prozeß der Externalisierung, Objektivierung und Internalisierung21 einer alternativen Wirklichkeitdeutung in Gang setzen und die bestehende Wirklichkeit konterkarieren. Symbolisch laden sich charismatische Führer selbst, von ihren Helfern gestützt, die jeweils bestehenden Übel der sozialen Wirklichkeit auf und laufen ihr gleichsam gegen den Strich. Indem sie dieses sozusagen soziale Wunder tun und durchhalten und "die Vergeltung, die wehrende Gewalt, die die Gesellschaft auf sie lenkt, ertragen: wenn sie die Feuerprobe bestehen, dann steigen sie auf aus der Asche, strahlen sie Glanz, üben sie Herrschaftsgewalt von sich aus aus".22 Seine Thesen zum Zusammenhang von 'Stigma und Charisma' hat Wolfgang Lipp selbst mit einem kurzen Hinweis auf Jesus von Nazareth illustriert: "Schon Jesus war in diesem Sinne nicht 'Opfer der Justiz', sondern Opfer seiner selbst; er selbst war es, der sich Wunden und Stiche, der sich das Stigma des Todes einhauen ließ; indem er starb, hat er nicht sich, sondern die Justiz, die Mächte dieser Welt 'kriminalisiert'. Das Kreuz, das er auf sich nahm, sollte die Welt - Selbststigmatisierung erreicht hier den Gipfel - am Ende von Schuld überhaupt erlösen".23 Freilich ist diese Interpretation des charismatischen Führers der Jesusbewegung noch stark christologisch getönt. Sie läßt sich auf den Kern der paulinischen Erlösungslehre beziehen, die man als eine - bereits schon sehr früh entfaltete theologisch 'raffinierte', also von Empirisch-Historischem weitgehend gereinigte charismatische Deutung der jesuanischen Selbststigmatisierung verstehen kann. Im Philipperbrief des Paulus (2, 7ff) heißt es: "Er entäußerte sich selbst, nahm Knechtsgestalt an und ward den Menschen gleich. In seiner äußeren Erscheinung als ein Mensch erfunden, erniedrigte er sich selbst und wurde gehorsam bis zum Tode, bis zum Tod am Kreuz. Darum hat Gott ihn erhöht und ihm den Namen gegeben, der über allen Namen ist, auf daß im Namen Jesu sich jedes Knie beuge im
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Himmel, auf der Erde und unter der Erde und jede Zunge zur Ehre Gottes des Vaters bekenne: Jesus Christus ist der Herr" (Phil 2,7ff). Dieses zentrale theologische Theorem im entstehenden christlichen Kosmos hatte - so meine These - seinen empirisch-historischen Anhalt in der für die Bewegung um Jesus von Nazareth selbst zentralen und in mehreren Handlungsvariationen zum Ausdruck gebrachten genuinen Verhaltensfigur der Selbststigmatisierung, mit der sie gegenüber den anhaltenden und sich verschärfenden politischen, sozioökonomischen und sozioreligiösen Krisen der palästinischen Gesellschaft der Zeitenwende Stellung nahm. Aufweisbar ist jedoch nicht nur dieser stigmatische Grundzug der Jesusbewegung, sondern auch dessen konstitutive Verknüpfung mit ihrem charismatischen Sozialcharakter, so daß man geradezu von einem jesuanischen Charisma aus Selbstigmatisierung sprechen kann. Dieser Zusammenhang soll im folgenden hervorgekehrt und an einigen Facetten demonstriert werden: insbesondere am Beispiel der Entstehungsbedingungen der Jesusbewegung, ihrer Rekrutierung und ihrer Propaganda, wobei ich mich auf deren politische Orientierung konzentrieren werde und auf analoge Muster in den ökonomischen und spezifisch religiösen Aspekten der jesuanischen Propaganda nur verweisen kann.24
4.3 Zum stigmatischen Charakter des soziohistorischen Kommunikations- und Handlungszusammenhangs Trotz zahlreicher Unterschiede im sprachlichen Charakter, in der Intention und Funktion, in der sozialen Herkunft der Verfasser und ihrer primären Adressaten haben alle christlichen Quellen der sogenannten Evangelien-Gattung sowohl in ihren narrativen Teilen als auch im Spruchmaterial deutlich und in gleichsam prototypischer Weise von den Anfängen des Christentum die Züge einer charismatischen Bewegung gezeichnet. Wir stoßen auf die dafür typische 'Szenerie' mit ihren typischen Akteuren: die absolute Zentralfigur eines prophetischen Führers, Jesus von Nazareth, der, assistiert von einer charismatischen Jüngergruppe, in Palästina umherzieht und mit persönlich-autoritativem Gehorsamsanspruch eine innovatorisch-revolutionäre Botschaft, nämlich die Botschaft der Imminenz des Einbruchs der Gottesherrschaft propagiert und soziale Unterstützung mobilisiert; komplementär dazu einige sporadische und seßhafte Anhänger und Mäzene mit Versorgungsstützpunkten für die mobile charismatische Gruppe; herbeiströmende, wechselnde Menschenmassen von Zuhörern und Hilfesuchenden und schließlich eskalierende, in der physischen Vernichtung des Jesus endende Konfliktszenen mit Vertretern der Interessen der bestehenden Sozial- bzw. Macht- und Herrschaftsordnungen. In diesem - von den religiösen Autoritäten veranlaßten und von der politischen Besatzungsmacht vollstreckten, in seinem genaueren Ablauf wohl kaum mehr rekonstruierbaren 25 - unüberbietbaren Gewaltakt26 liegt nicht nur das von keinen christlichen Quellen und von kaum einem Quelleninterpreten bestrittene Datum
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über die Jesusbewegung schlechthin.27 Handlungs- und herrschaftstheoretisch gesehen, besitzen wir darin einmal einen zentralen Schlüssel und Anknüpfungspunkt zur soziologischen Interpretation der charismatischen Jesusbewegung als - kriminalisierte - Protestbewegung im Widerstands- und Herrschaftskampf; denn "die Tötung des Gegners ist... die äußerste und totale Einschränkung seiner Handlungsmöglichkeiten ... : seiner Widerstandsmöglichkeit".28 Zum anderen erhalten wir in diesem Ereignis bereits einen ersten wichtigen Hinweis auf die soziohistorische Einbindung der Jesusbewegung in die Krisen- und Konfliktzonen der jüdisch-palästinischen Gesellschaft der Zeitenwende. Hiervon - ein typisches 'Soziotop' charismatischer Bewegungen - berichten ja auch die außerchristlichen Quellen, die zudem ein "bunte(s) Bild des zeitgenössischen Palästina mit seinen prophetischen Rufern und Nachfolgern, charismatischen Führern und Verführten"29 überliefert haben. Die charismatische Jesusbewegung ist Teil einer Gesellschaft, die sich sowohl durch das Zusammenwirken als auch durch die Verschärfung von Krisen in mehreren gesellschaftlichen Sphären auszeichnete. Diese Krisen lassen sich auf Konflikte zurückführen, deren strukturelle Verwandtschaft in Herrschafts-, Macht- und Gewaltverhältnissen liegt und die von der jesuanischen Propaganda zum Thema gemacht wurden. Konstitutiv für diese historisch-gesellschaftliche Gesamtlage Palästinas und negativer Bezugspunkt aller dort um die Zeitenwende auftretenden charismatischen Bewegungen und Gruppierungen war die anhaltende Erfahrung der Verletzung der politischen Souveränität der jüdisch-palästinischen Bevölkerung durch ihre Unterwerfung unter die römische Fremdherrschaft. Sie spitzte sich besonders dadurch zu, daß das jüdische Kernland Judäa mit dem politischen, ökonomischen und religiös-orthodoxen Zentrum Jerusalem nach der Beseitigung der Vasallenherrschaft des Herodessohnes (6 n. Chr.) unter unmittelbare römische Verwaltung gestellt worden war. Die traditionalen politischen Ordnungen und die Herrschaftsansprüche der jüdischen Zentralinstanzen wurden durch verschiedene Methoden weitgehend zerschlagen. Durch die Anhebung der Tributforderungen, die Rationalisierung ihrer Durchsetzung sowie durch den wachsenden Einsatz von Gewalt als Reaktion auf Widerstandskämpfe palästinischer Juden wurde die "Versklavung des Volkes"30 immer deutlicher dokumentiert. Über die Steuerschraube, wirtschaftspolitisch verzahnt mit der Begünstigung der Domänenbewirtschaftung und einer Expansion des Außenhandels, führte die direkte Romanisierung auch zu einer Beschleunigung der Eigentumskonzentration in Palästina bzw. bei der Mehrheit der dort lebenden jüdischen Bevölkerung zur Verschlechterung der wirtschaftlichen und sozialen Existenzgrundlage in Form von Verschuldung, Eigentumsverlust, sozialem Abstieg und Zerrüttung der Primärbeziehungen. Auf dem Hintergrund der spezifisch theokratisch ausgerichteten Gotteskonzeption und "Kollektividentität",31 derzufolge alle Momente der Herrschaftsausübung religiös gebunden bleiben, mußte die Eskalation der römischen Okkupation Palästinas immer stärker auch die religiöse Sphäre tangieren. Sie wurde als intolerable
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Usurpation der 'Gottesherrschaft' bzw. als wachsende Diskriminierung des 'Volkes Gottes' empfunden und trug somit auch zur Eskalation einer spezifisch religiösen Krise bei. Entsprechendes gilt im Hinblick auf die von der sozio-ökonomischen Krise Betroffenen, zumal die Hochschätzung des Reichtums und die Verachtung der Armut faktisch religiös legitimiert waren und die bedrohten Primärbeziehungen in ihrer entscheidenden Funktion als Basis der sozialen und persönlichen Identitätsverankerung einen Zentralwert innerhalb der jüdischen Weltansicht darstellten. Daraus, daß die politische, ökonomische und religiöse Sphäre noch weitgehend ungeschieden waren und in einer unauflöslichen Einheit standen, erklärt sich, daß sozioökonomische und politische Auseinandersetzungen in der jüdischpalästinischen Gesellschaft immer auch einen religiösen Charakter trugen. Widerstand gegen politische und ökonomische Macht- und Gewaltverhältnisse war deshalb immer auch religiös motiviert bzw. nahm religiöse Formen an.32 Neben diesen eher exogenen Faktoren haben auch endogene Momente des palästinischen Judentums - ihrerseits freilich nicht ohne Anstöße von außen - ganz erheblich zu einer Verschärfung der religiösen Krise beigetragen. Der rund 300 Jahre vor der Zeitenwende erfolgte interkulturelle Zusammenprall des palästinischen Judentums mit dem 'Hellenismus', der durch die Romanisierung Palästinas eine verschärfte Neuauflage erlebte, hatte nicht nur zu einer Konkurrenz und zu schweren - und schließlich kriegerischen - Konflikten zwischen Trägern zweier unterschiedlicher Orientierungssysteme, sondern auch zu neuen und divergierenden religiösen Versionen, Legitimationen und Institutionen innerhalb des Judentums gefürt. Solche innerjüdischen Bewegungen entwerteten die priesterlich-kultisch bestimmten Religionselemente und erhoben in scharfem Dauerkonkurrenzkampf um die religiöse Vorherrschaft den jeweils mehr oder weniger exklusiven Heilsanspruch. Diesen Kampf um die Verfügung über die Heilswege sollte die pharisäische Bewegung im Bündnis mit theologischen Experten zunehmend für sich entscheiden. Durch rituelle und ethische Reglementierungen der eigenen Lebensführung sollte die jüdische Kollektividentität und Plausibilitätsstruktur gesichert, d. h. das Judentum "in der Welt makellos"33 gehalten werden. Neben dieser Differenzierung und Pluralisierung der jüdischen Weltansicht war ein besonderes Resultat - und Mittel - des Streits dieser 'religiösen Virtuosen' die Absonderung von der religiös unorganisierten und ungebildeten 'Masse' der jüdisch-palästinischen Bevölkerung, dabei insbesondere die Diskreditierung einzelner Berufs- bzw. Bevölkerungskategorien. Zu den durch die römische Fremdmacht ausgelösten politischen, ökonomischen und religiösen Diskriminierungs- und Inferioritätserfahrungen traten also mit anderen Worten solche spezifisch binnenreligiöser Art hinzu, die strukturell ebenfalls Herrschafts- bzw. Macht- und Gewaltverhältnissen entsprangen. Dieser komplexe Erfahrungszuammenhang, der sich auch gefühlsmäßig in "religiöser, politischer und sozialer Unsicherheit"34 äußerte, läßt sich als vielschichtiger kollektiver Stigmatisierungszusammenhang interpretieren. Auffällig ist, daß er einen deutlichen Brennpunkt in der jüdischen Bevölkerung des geogra-
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phisch peripheren, von ökonomischer Verarmung schwer getroffenen und durch politisch-administrative Maßnahmen kulturell überfremdeten und an der Grenzscheide zweier Kulturen gelegenen Galiläa hatte.35 Auf dieser Peripherie der ungewollt zu einer ethnischen und religiösen Minderheit im römischen Reich gemachten palästinischen Juden mußte der mehrfache soziale Druck besonders deshalb lasten, weil ihre - auch selbstidentifizierte - Zugehörigkeit zur jüdischpalästinischen Gesellschaft fraglich wurde und auf Ablehnung stieß. Aus diesem Galiläa stammten nicht nur die meisten Protest- und Widerstandsbewegungen dieser Zeit, dieser 'Winkel' im Winkel des römischen Reichs war auch die Heimat der Jesusbewegung, was sich auch aus der Zusammensetzung des engeren Jüngerkreises ablesen läßt.
4.4 Zum stigmatischen Charakter der Rekrutierung der charismatischen Gruppe Während einige Jesusjünger vermutlich aus dem inneren galiläischen Bergland mit seiner alteingesessen, altisrealitischen und homogen jüdischen Bevölkerung stammen,36 war ein starker Anteil, wahrscheinlich die Mehrheit des Jüngerkreises (darunter die 'Erstberufenen' Andreas, Simon und Philippus) in der See-Ebene Ostgaliläas ansässig, unmittelbar am "Rande eines überwiegend heidnischen Gebiets einer hellenistische Kultur fördernden Herrschers".37 Im Zuge einer nach dem Tod Herodes d. Gr. forciert fortgesetzten hellenistischen Restaurations- und Integrationspolitik wurde u.a. der hellenistische Städtegürtel um die galiläische Bevölkerung auch und gerade im Innern der galiläischen Gebiete nach und nach enger gezogen.38 Isrealiten wurden gewaltsam zusammen mit fremden Bevölkerungselemente sowie Teilen der herodäischen Beamtenschaft angesiedelt.39 Alfred Schütz hat einmal darauf hingewiesen, daß zwar durch alle administrativen Maßnahmen Relevanzen auferlegt werden, diese aber nur dann akzeptiert oder hingenommen werden, wenn sie die Grenze der Relevanzbereiche und die Rangordnung der Relevanzbereiche nicht antasten, die Alltagswelt von außen nicht umstrukturieren und den Adressaten das Recht belassen, nach ihrem "Glück" zu streben.40 Aber diese Bedingungen wurden durch jene politisch-administrativen Hellenisierungsbestrebungen gerade auch im Gebiet um das 'Meer von Galiläa' nicht beachtet. Bethsaida, der Heimatort einiger Jesusjünger, war "zur hellenistischen Handelsstadt umgebaut"und nach dem Namen der römischen Kaiserstochter umbenannt worden.41 Auch die Nachbarregion westlich des Jordans hat "zur Zeit Jesu manchen Eingriff in seinen Bevölkerungsbestand und in seine Lebensordnungen" erfahren, nicht zuletzt durch den Einfluß der Stadt Tiberias.42 Sie löste das gleichfalls hellenistische ausgeprägte Sepphoris als galiläische Residenzstadt des Herodes-Sohnes Antipas (ca. 19 n. Chr.) ab und war unter dem Protest der jüdischen Bevölkerung über einem ehemaligen Friedhof neu erbaut worden.43 In jenem Gebiet, aus dem noch weitere Anhänger des Jesus stammten (s.a. Mk 15,40) und wohin sie mit ihm auch das Schwergewicht ihres galiläischen Missionsfeldes
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legten, waren somit "(zwar) die alten Ordnungen des Lebens, der Religion und des Rechtes zumal in den Dörfern gewiß noch nicht außer Kraft gesetzt, aber vor allem in den städtischen oder halbstädtischen Orten durch das Eindringen fremder Elemente um ihre ausschließliche Geltung gebracht. Die Eingriffe der Landesherren in die Verhältnisse dieses Randgebiets während der letzten Jahrzehnte vor dem Auftreten Jesu waren tiefer gewesen als irgendwo sonst in Galiläa außer in Sepphoris; selbst die Einwohnerschaft von Dörfern wie Kapernaum und Chorazin mußte etwas von den Veränderungen in den Nachbarorten spüren".44 Die jüdischgaliläische Bevölkerung, besonders die am nördlichen Ufer des Sees von Genezareth lebende, mußte sich durch den politisch-administrativ auferlegten und gestützten Dauerkontakt mit nicht-jüdischen Elementen45 bedroht und überfremdet fühlen. Es erstaunt deshalb nicht, daß sich einige Jesusjünger im Hinblick auf ihre politische Option aus den Reihen der gerade in Galiläa beheimateten antirömischen Widerstandskämpfer rekrutierten bzw. mit ihnen sympathisierten.46 Es lassen sich aber auch noch weitere Momente benennen, welche neben der Lage am heidnischen Rand konstitutiv für die Marginalität der Galiläer waren bzw. zu ihrer Verschärfung beitrugen. Hierzu gehört die Tatsache, daß sich die jüdischen Galiläer kollektiv nicht zuletzt wegen der sozioökologischen Randlage seitens der judäischen Bevölkerung und namentlich der dort verwurzelten religiösen Experten und Virtuosen einer wachsenden Zuschreibung negativer Attribute ausgesetzt sahen, die ihre vollwertige Zugehörigkeit zu und Teilhabe an der jüdischen Volks-und Religionsgemeinschaft in Frage stellten. Galiläer wurden "von den Judäern als thora-unkundige, stupide Leute mit sonderbarer Aussprache und merkwürdigen Gewohnheiten angesehen".47 Solche defektiven Stigmata konnten in der "samaritanischen Barriere",48 welche die galiläische Bevölkerung vom religiös-orthodoxen Zentrum im Süden territorial abtrennte, nicht nur eine unmittelbar sinnfällige geographische Stütze finden. Sie mußten auch insofern hohe Empfindlichkeiten der galiläischen Mentalität tangieren, als Galiläa eine von Judäa und dem 'häretischen' Samaria historisch-politisch, -ökonomisch und -kulturell "abweichend e ^ ) Entwicklung" durchlaufen hat, die als marginale Tradition rekonstruiert werden konnte.49 Galiläa war im Unterschied zu Samaria und Judäa im hellenistischen Zeitalter von Anfang an "nicht als Volksland anerkannt", d.h. von den Ptolemäern und Seleukiden "als Königsland ohne Eigenrechte" behandelt und demgemäß in den Quellen "stillschweigend übergangen" worden, hatte insgesamt also "im Reiche Israel immer nur die Funktion eines Außengebietes gehabt". Diese marginale Tradition Galiläas mußte durch die Politik der römischen Eroberer Palästinas wieder aufleben und damit erneut in den unmittelbaren Relevanzbereich der dort lebenden Bevölkerung treten. Zudem überwog im Unterschied zu anderen jüdisch-palästinischen Regionen in Galiläa das Pachtverhältnis, also eine spezifische Art ökonomischer Marginalexistenz und die mit ihr verbundenen ökonomischen Lasten, Risiken und sozialen Folgekosten. Hatte die bereits unter Herodes forcierte Latifundien- und Monopolwirtschaft den Lebensstandard der entlegeneren Landschaften wie Galiläa empfindlich gedrückt, so wurden die Galiläer
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auch nach dessen Tod "bullied by the political 'bosses' in Jerualem, exploited by the absentee landlord, oppressed by the tax collectors".50 Auch die Bildhälfte des Weinberg-Gleichnisses (Mk 12,Iff) "schildert.. realistisch die revolutionäre Stimmung der galiläischen Bauern gegen die landfremden Großgrundbesitzer".51 Territorial eingekeilt "zwischen Griechen und Römern und den verabscheuten Samaritanern",52 sahen die jüdischen Galiläer sich also einem marginalisierenden und stigmatisierenden sozialen Druck von mehreren Seiten ausgesetzt. In den Aktivitäten der Jesusbewegung, deren Jüngerkreis sich auschließlich aus Angehörigen der jüdischen Bevölkerung Galiläas zusammensetzte, läßt sich auch der Versuch erkennen, diesen Druck umzukehren. An ihren Aktivitäten wird exemplarisch die durch Marginalitäts- bzw. Inferioritäts- und Überfremdungserfahrung bestimmte Situation als strukturelle Vorgabe und Quelle von sozialen Spannungen und innovatorisch-revolutionären Auffassungen und Impulsen deutlich, worauf bereits Max Weber in einer sozusagen 'wissenssoziologischen' Skizze über den Zusammenhang von religiöser Erfahrung und sozialer Struktur hingewiesen hat - auch mit deutlichem Bezug auf die charismatische Jesusbewegung als galiläische Erneuerungsbewegung.53 Entscheidend scheint mir nun zu sein, daß die Rekrutierungsbasis des jesuanischen Jüngerkreises solche Personen abgaben, für die die kollektive Marginalitätserfahrung der galiläischen Juden mit Marginalitätserfahrungen ihrer persönlichen Lebenssituation zusammentraf. Von ökonomischer Marginalisierung, also sozialer "Deklassierung"54 bedroht, die mit der Schwächung und Zerstörung der identitätsstiftenden Familienbindung einhergehen konnte, waren vermutlich die nur dem Namen nach bekannten Jesusjünger aus dem teilweise noch bestehenden selbständigen Kleinbauerntum. Eine Randexistenz führte und verkörperte deutlich der Zöllner. Als Vertreter eines unreinen Gewerbes waren die Zöllner in der öffentlichen Meinung geächtet, den heidnischen Sklaven gleichgestellt, unfähig der Zeugenaussage, d.h. "selbst solcher bürgerlicher Ehrenrechte entkleidet, auf die jeder Israelit, sogar ein solcher mit schwerem Makel der Abstammung, wie der Bastard, Anspruch hatte".55 Und in einer kulturell-religiösen Randständigkeit befanden sich die bereits genannten erstberufenen Jesusjünger, die "zweisprachigen Gräkopalästiner" aus der galiläischen See-Ebene.S6 Gerade ihnen sowie den anderen Fischern, "die ebenfalls nicht als gesetzestreu gelten"57, und in ganz besonderer Weise dem Zöllner im jesuanischen Jüngerkreis läßt sich die Erfahrung einer erheblichen Statusinkonsistenz unterstellen, die daraus resultierte, daß die durchaus mittlere Einkommens- und Vermögensposition einerseits und das berufliche Prestige bzw. ihre sozioreligiöse Fremdeinschätzung andererseits auseinanderklafften. Marginalität im Sinne von mangelnder Statuskonsistenz erhöht die Fragwürdigkeit der eigenen Existenz, schafft "Bedingungen, die für Konsistenz und Stabilität der persönlichen Identität ungünstig sind"58 und scheint zur Partizipation an und Unterstützung von Erneuerungsbewegungen zu disponieren.59 Von diesen versprechen sich die Betroffenen eine Lösung der sozialen Inkonsistenzen bzw. eine Iden-
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titätsstützung, wenn nicht sogar die - möglicherweise religiöse - Vergeltung des erfahrenen 'Unrechts'.60 Diese eben auch für die Jesusbewegung zutreffende Betrachtung erscheint zum einen deshalb bedeutsam, weil sie weitere Fragen verschärft hervortreten läßt, die sich in das Muster der Verschränkung von 'Stigma und Charisma* einfügen: zum einen diejenige nach möglichen Marginalitätserfahrungen und zum anderen die viel delikatere Frage nach persönlichen Inferioritätserfahrungen und Identitätsbeschädigungen des charismatischen Führers Jesus selbst. Weder ist auszuschließen, daß Jesus ehemals Wanderhandwerker war, noch daß er als leiblicher "Sohn der Maria" (Mk 6,3) - und eben nicht Josephs - mit der Zuschreibung des Makels einer 'dunklen Herkunft' zu leben hatte.61 Mit der positiven Beantwortung dieser Fragen, die aus Quellengründen wohl kaum zu erreichen ist, wäre ein ebenfalls im Hinblick auf die Zentralfigur der Jesusbewegung historisch günstiges Zusammentreffen biographischer mit kollektiven Mariginalitäts- und Stigmatisierungserfahrungen angezeigt. Das charismatische Auftreten des Jesus, angefangen bei seiner 'Konversion' in die ebenfalls charismatische Bewegung um Johannes den Täufer, ließe sich dann auch unter dem sozialpsychologischen Gesichtspunkt des Versuchs der Bewältigung der persönlichen "Identitätsbeschädigung" rekonstruieren.62 Auch die spezifisch charismatische Rekrutierung der Jesusjünger selbst stellte ja im Effekt eine Stigmatiserung dar. Denn deutlich ist, daß sich die Jesusjünger und in hohem Grad auch Jesus selbst - mit ihrem außeralltäglichen Heraustreten aus Konventionen, Traditionen und Primärbeziehungen und besonders mit dem Verzicht auf die Geburt von Nachkommen, Heirat und Totenverehrung in weitere und zum Teil schwerste kulpative Stigmatisierungszusammenhänge hineinbegaben, sich also selbststigmatisierten, ja sogar ihre Familienangehörigen mit solchen Stigmata belasten konnten: Entschloß sich etwa ein "Hausvater zum Eintritt in die Begleitung Jesu, so wird der Frau nichts anderes übriggeblieben sein, als mit den Kindern in ihr Elternhaus zurückzukehren, obwohl das als Makel empfunden wurde".63
4.5 Stigmatische Züge der charismatischen Propaganda Seine besonders günstigen religiös-kulturellen Prädispositionen hatte die Entstehung der charismatischen Jesusbewegung bzw. jenes erwähnten vielfältigen 'charismatischen Milieu', dem sie zuzurechnen ist, zweifellos auch in den anthropomorphistischen Zügen der jüdisch-monotheistischen Gotteskonzeption, in der Vorstellung eines - wenn auch als jenseitig geltenden - persönlichen Vater-Gottes, der sich - etwa mittels prophetischer Sendboten, die seinen Willen verkörpern, als alleiniger Herr der Geschichte gerade auch in Krisenfällen in sie einschaltet, an ihrem Ende seine endgültige Herrschaft offenbart und auch seinen Feinden erfahrbar macht. Innerhalb dieses prophetisch und teleologisch-eschatologisch ausgerichteten Erwartungszusammenhangs war es im palästinischen Judentum
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unter den strukturell gleichartigen Bedingungen der hellenistischen Überfremdung und des griechischen Machtanspruchs wie im Iran und in Ägypten zur Herausbildung apokalyptischer Geschichtsvorstellungen gekommen. Sie entwarfen einen imminenten Bezugspunkt einer lebens- und weltumfassenden Wirklichkeitsinterpretation, der die geschichtliche Zeit zu temporären Übergangsphasen zur 'großen Wende' und damit auch die Periode des Leidens an der fremdauferlegten Geschichte verknappte, Sehnsucht und Hoffnung auf die göttliche Intervention in die Geschichte und damit auch die Kraft zum Protest gegen die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse freisetzte. Die apokalyptischen Deutungsschemata waren ein wichtiger Beitrag zur charismatischen 'Konditionierung' der jüdischen Weltansicht. Sie erzählen "von einer ständigen Weltgestaltung und -Umgestaltung Gottes, von einer gewaltigen göttlichen Endrevolution, und halten ... als Ziel eine erneuerte menschliche Gesellschaft vor Augen, die mit Gott eins geworden ist und dadurch mit dem verläßlichen Grund alles Wirklichen".54 Mit einer solchen Interpretation der Wirklichkeit im Verlauf seines Lebens auch Jesus aus dem "politisch äußerst unruhigen"65 Galiläa vertraut; spätestens über seine vorübergehende, wenn auch für die Genese seines eigenen charismatischen Selbstbildes wohl entscheidenden Zugehörigkeit zur charismatisch-apokalyptischen Bewegung um Johannes den Täufer.66 Zusammen mit seinen Jüngern griff er mit einer spezifischen Version dieser Interpretation offensiv in die Krisen und Konflikte der jüdisch-palästinischen Gesellschaft ein, die sich verschärften und zu charismatischen Hoffnungen aufreizten. Mit der anderen charismatischen Bewegung aus Galiläa, den sich nach 6 n. Chr. formierenden Zeloten67, teilte die Jesusbewegung auch den politischen Konflikt: "Ihr wißt, daß die, die Macht zu haben glauben über die Völker, sie knechten, und daß ihre Großen sie entwürdigend behandeln" (Mk 10,24), - so hat Jesu die jüdisch-palästinische Erfahrung der römischen Fremdherrschaft zum Ausdruck gebracht und, wie man sagen könnte, als kollektive politische Fremdstigmatisierung diagnostiziert. Auf dem Hintergrund solcher Erfahrungen hatte auch die zentrale jesuanische Proklamation und Mobilisierung der Erwartung von Gottes Herrschaft und Reich einen impliziten politischen Bezug: "Erfüllt ist die Zeit. Und: Nahe gekommen ist das Gottesreich" (Mk 1,15). Sie kehrte damit den Zentralwert und symbolischen Wert der Überlegenheit des jüdischen Volkes hervor; zudem hielt sie dem jederzeit möglichen Eingriff der Römer in alle Bereiche des Judentums auch den jederzeit möglichen Eingriff Gottes in die Weltgeschichte entgegen, also die Endlösung des Problems der jüdischen Souveränität - "das Ende aller Weltreiche und auch das des großrömischen Reiches".68 Der prinzipielle Verzicht auf physischen Widerstand weist aber auch darauf hin, daß die Jesusbewegung in ihrer "politischen Orientierung"69 nach einer als 'Umkehr' oder 'Sinnesänderung' definierbaren, gleichwohl handlungsrelevanten Strategie zur Überwindung der Fremdherrschaft verfuhr - anders als der freilich auch religiös und ebenfalls radikaltheokratisch orientierte Zelotismus, der durch Gegengewalt die politischen Machtstrukturen direkt verändern wollten.70 Auch die
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Jesusbewegung stellte die zeitgenössischen politischen Verhältnisse in Frage, aber sie "verzichtete auf jedes Handlungsprogramm, die Gesellschaft auch gegen Widerstand umzuformen".71 Sie handelte primär "sinngerichtet"72, durch Sinngebung und demonstrative und beispielhafte Veränderung der Einstellung und des Verhaltens, wobei sie durchaus auch an Attributen politischer Macht sowie Werten orientiert war, an welchen sich "herrschende Kreise" zu orientieren vorgaben.73 Die charismatische Bewegung um Jesus von Nazareth setzte statt bei den zeitgenössischen Macht- und Gewalthabern vorwiegend bei denen an, die diesen unterworfen waren. Das Postulat des Gewaltverzichts etwa ging ja nicht an die Adresse der Träger der Fremdherrschaft, sondern ausschließlich an die der jüdisch-palästinischen Bevölkerung. Entgegen vulgärer und politisch einseitig interessierter Jesusinterpretationen richtete sich die sogenannte Bergpredigt ja "nicht an die Adresse der Völker, der Staaten, der Gesellschaft im allgemeinen. Um diese Adressaten hat sich Jesus niemals gekümmert; sie hat er nicht angeredet. Er hat weder versucht, mit Herodes Antipas noch mit Pontius Pilatus Verbindung aufzunehmen, um ihnen zu sagen, wie sie regieren müßten".74 Die von Jesus offerierte Sinngebung bestand offensichtlich darin, der Hinnahme und der Duldung jener mit der Fremdherrschaft gegebenen massiven kollektiven Erfahrung von Erniedrigung und Demütigung positive Züge zu verleihen unter der Prämisse der Erwartung der Intervention Gottes in die Geschichte. Mit der Forderung zum Gewaltverzicht und mit ihrer prophetischen Sinngebung unternimmt sie es, die Ohnmacht zum politischen Handeln als Gehorsam gegenüber dem göttlichen Herrscher und Bündnispartner zu deuten. Damit prägt sie den von außen zugefügten kollektiven Makel in ein kollektives Heilszeichen um, in einen Schlüssel zu Heil und Erlösung, und wandelt somit die Not- und Leiderfahrung in Tröstung und Hoffnung um: die Gelassenen, Gemäßigten und Sanftmütigen sind selig, "denn sie werden erben das Land" (Mt 5,5). Zugleich sucht die Jesusbewegung, noch verbleibende Handlungsressourcen zu erschließen, Ohnmächtige zum Handeln zu ermächtigen - zu einem Handeln, das trotz Unterwerfung und in der Opposition zu ihr überleben und eben dadurch obsiegen, gleichsam durch eine innere Überlegenheit und Souveränität die Erwählung Israels bewahren läßt. Diese Autonomie des Handelns und diese Souveränität des Bewußtseins intendierte Jesus anscheinend auf die Spitze zu treiben: "Welcher dich ohrfeigt auf (deine) rechte Wange" - also durch einen rückhändigen Schlag entwürdigt -, "kehre ihm auch die andere zu!... Welcher dich eine Meile zwingt" - den jüdischen Bauern zum römischen Fron- und Gespanndienst preßt -, "gehe hin mit ihm zwei!" (Mt 5,39ff.). Die Adressaten der Jesusrede sollen das physische und psychische Stigma der Unterwerfung nicht nur auf sich laden und ertragen, sondern sie sollen es sich durch freiwillige, öffentliche - also demonstrative - zusätzliche Demütigungs- und Unterwerfungsleistungen noch tiefer einrammen, sich also vorsätzlich selbststigmatisieren. Bei diesen jesuanischen Handlungsanweisungen, die über das in zeitgenössischen jüdischen Gruppen Geforderte deutlich hinausgehen, ging es offenbar nicht
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um allgemeine Empfehlungen zur Durchführung asketischer Bußübungen und körperlicher Kasteiungen im Rückzug aus der Öffentlichkeit. Der "Fresser und Weinsäufer" (Mt 11,19; Lk 7,34), der sich von einer Frau mit kostbarer PistazienNarde einölen ließ (s. Mk 14,3ff), war kein Asket. Es ist evident: die Anweisungen Jesu hatten öffentlichen Charakter. Sie bezogen sich auf die alltäglichen Manifestationen von Gewalt und auf die politischen Machtverhältnisse in Palästina. Auf dreifache Weise soll dieser Macht, also der durch Gewalt garantierten "Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen", 75 der soziale Boden entzogen werden: durch Ächtung der Gewalt, durch das Aufgeben des ausdrücklichen Widerstrebens und schließlich durch die freiwillige Übernahme des fremden Willens, indem man die oktroyierte Unterwerfung überbietet. Die von Jesus geforderte Form der politischen Selbststigmatisierung zielte am Ende einerseits auf die 'Entwaffnung' und 'Entmächtigung' der Träger der Fremdherrschaft ab, andererseits auf die Entstigmatisierung der Unterworfenen: sie bezweckte die zweifelsfreie und endgültige Sicherstellung der Erwählung Israels. Zugleich suchte die Jesusbewegung die altjüdische Norm der brüderlichen Nächstenliebe als eindeutige Gegennorm zum Gewaltprinzip der heidnischen Fremdherrschaft aufzuwerten und sie bis zur Selbstquälung durch aktive "Feindesliebe" (Mt 5,44; Lk 6,27) zu radikalisieren, also mit der Praxis der Selbstigmatisierung zu verknüpfen. Er selbst scheint versucht zu haben, diese Anweisung als lebende Norm zusammen mit seinen Jüngern zu verkörpern und damit zu demonstrieren, daß in seiner Bewegung die politische Fremdherrschaft abprallt und leerläuft, daß mit ihr der Umschlag in die göttliche Gegenwelt einsetzt, in die gewaltlose geschichtliche 'Außeralltäglichkeit'. Diese deutlich politischen Bezüge der Botschaft der Jesusbewegung, ihre handlungspraktiche Umsetzung und Gegnerschaft bestätigen nicht nur die spezifische Untrennbarkeit von Religion und Politik in der zeitgenössischen jüdischen Vorstellungswelt, sondern auch den allgemeinen religionswissenschaftlichen Befund, daß die Religion in vormodernen Geellschaften oft die einzige Möglichkeit war, politischen Protest zu äußern, "den man aber nicht direkt und klar ausprach, sondern der indirekt darin zum Ausdruck kam, daß man sich die religiöse Umwertung weltlicher Machtverhältnisse zu eigen machte und aus dem Glauben, von Gott geliebt zu sein, ein erhöhtes Selbstgefühl gewann".76 Dieser Protest "hatte den Menschen vor allem die Kraft gegeben, dem Druck der sozialen und politischen Verhältnisse standzuhalten". 77 Die Jesusbewegung konnte offensichtlich vorwiegend solchen Bevölkerungsteilen in, aber auch außerhalb Galiläas neue und sublime Möglichkeiten zur Sinndeutung und Bewältigung der politischen Krise, aber auch zum Protest und Widerstand gegen ihre Urheber eröffnen, die von anderen Widerstandsbewegungen - insbesondere der zelotischen - nicht erreicht wurden oder erreichbar waren: Kranke und Behinderte, Alte und nicht zuletzt Frauen (vgl. Mk 15,40f), also diejenigen, die, teilweise mit körperlichem Defekt oder Makel, mit dem Stigma der physischen Impotenz, behaftet, zur Gegengewalt oder gar zur revolutionären Umgestaltung der Verhältnisse am wenigsten fähig und schon des-
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halb kaum dazu geneigt waren, sich den terroristischen Widerstandsmethoden der Zelotenbewegung anzuschließen.78 Diese Bevölkerungskreise, denen die Jesusbewegung das Heil verhieß,79 dürften ihr einen kaum zu unterschätzenden sozialen Rückhalt gegeben haben. Keine Frage dürfte es sein, daß durch die spezifische Orientierung der Jesusbewegung an der Werten, Wünschen und Interessen der physisch Ohnmächtigsten der jüdisch-palästinische Protest gegen die politischen Verhältnisse eine neue Stufe der Eskalation erreichte und eine neue Dimension anzunehmen drohte. Dies schon deshalb, als, aus ihrer Apathie gerissen, nun weitere Bevölkerungskreise den Prozeß der Delegitimation und damit der Destabiliserung der prekären römisch-jüdischen Bündnispolitik zu masssieren und anzuheizen drohten. Die Mobilisierung dieser Bevölkerungsgruppen stellte zudem eine Herausforderung des Zelotismus dar, seinen konkurrierenden Weg des aktiven physischen Widerstands gegen die Hegemonialmacht und ihre jüdischen Kollaborateure noch nachhaltiger unter Beweis zu stellen. Trotz seiner Ähnlichkeiten mit dem Zelotismus in der zeitlichen Ausrichtung auf die imminente Naherwartung der Alleinherrschaft Jahwes zog die Jesusbewegung sachlich und sozial spezifisch andere Konsequenzen in der Bewältigung der politischen Fremdstigmatisierung. Sie stimulierte damit auch alternative Lösungsmuster im Umgang mit den zeitgenössischen sozioökonomischen und sozioreligiösen Verhältnissen. Zumal unter radikaltheokratischer Perpektive waren diese strukturell gleichartig geordnet, mit dem Politischen engstens verflochten; unterscheidbar vor allem im spezifischen Mittel der stigmatisierenden Machtausübung: hier der 'Mammon* (Mt 6, 24) als zugleich Symbol heidnischer Wertorientierung und Zerstörer normativer Ordnungen und dort die elitäre religiöse Gesetzesbildung (vgl. Mk 7,7ff). Dementsprechend finden wir auch in der sozioökonomischen Konfliktsphäre, an der sich die Jesusbewegung ebenfalls orientierte, und in ihrer spezifisch sozioreligiösen Kritik das gleiche Muster wieder: die radikale Hervorkehrung des Wertes der absoluten Gottesherrschaft und ihre Kontrastierung mit den real existierenden und stigmatisierenden - sozioökonomischen und sozioreligiösen - Machtverhältnissen sowie die Aufforderung und Praxis der Selbststigmatisierung.80 Wie die Jesusbewegung das Heil nicht im gewaltsamen Aufstand suchte, proklamierte sie auch keine ökonomische Revolution oder die Sicherung der jüdischen Identität in der Thora-Bildung. Das göttliche 'Charisma' wurde von ihrem charismatischen Führer eigenmächtig umverteilt, den Gewalthabern, Vornehmen und Schrift-Weisen ab-, und den Ohnmächtigen, Armen und Einfältigen zugeschrieben.
4.6 Gegenstigmatisierung Im wesentlichen durch eine Propaganda der Selbststigmatisierng lief die Jesusbewegung den zeitgenössischen gesellschaftlichen Verhältnissen 'gegen den Strich' und sprang selbst in die naherwartete geschichtliche 'Außeralltäglichkeit' voran,
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wo die widergöttlichen und zugleich unbrüderlichen Mächte 'Gewalt', 'Geld' und 'Gesetzesbildung' genauso zu einem 'Nichts' werden wie Fortpflanzung und Totenbestattung, Ehe, Familie und Beruf, zu deren Verlassen Jesus seine Jünger auffordern konnte. Darüber versuchte er auch, neben den politisch Marginalisierten die ökonomisch und religiös Deklassierten und Stigmatisierten zu mobilisieren und mitzuziehen, um unter dem so konzentrierten sozialen Druck der an den Rand Gedrängten die 'Gottlosen' selbst an den Rand zu drängen. Seine Verfolgung, seine Verurteilung und Kreuzigung waren nur der konsequente Schluß seines Charisma aus Selbststigmatisierung: Die Vernichtung seiner Person, nachdem er die Nichtigkeit der politischen Macht, des wirtschaftlichen Erwerbs, des religiösen Bildungswissens - im Namen des einzigen Herren der Juden - verkündet und mit seinen Jüngern vorgelebt hatte. All diejenigen, denen Jesus die Legitimität absprach und damit seine eigene Legitimität entgegenhielt, entzogen sie ihm auf restriktivste Weise selbst. Dieser Legitimationsentzug ist ein typisches Merkmal der charismatischen Szenerie und Ausdruck anwachsender kontercharismatischer Prozesse81, hier vollstreckt von der Trägern der Fremdherrschaft, begünstigt durch eine Binnenkrise der labilen charismatischen Jüngerschaft82, ausgelöst und geduldet von der Trägern der religiösen Macht. Der stigmatisierende Druck, von dem Jesus entlasten wollte, fiel damit voll auf ihn zurück und erdrückte ihn selbst. Er wurde Opfer von Konflikten, die er stigmatisch und charismatisch anheizte, ohne sie unter Kontrolle zu haben. Die tödliche Auslieferung an Pilatus ist selbst eine der äußersten Formen der Gegenstigmatisierung, nämlich aus dem auserwählten Volk ausgestoßen worden zu sein. Aber in diesen dramatischen letzten Tagen der Ohnmacht 'vor seinem Leiden' entsteht, in Heinrich Popitz' Soziologie des Märtyrers gesagt, "etwas Eigentümliches. Aus der äußersten Hilflosigkeit bildet sich, indem sie ertragen wird, eine Macht eigener Art, die Gegenmacht des Sich-töten-Lassens. Der Machthaber kann den Märtyrer töten - er ist Herr über seinen Tod -, aber er kann ihn nicht zwingen, am Leben zu bleiben, etwas zu tun, um am Leben zu bleiben. Er ist damit nicht mehr 'Herr über Leben und Tod', weil er die Herrschaft über das Leben des anderen verloren hat".83 Ähnlich wie die zelotischen Attentäter demonstrierte auch der 'erste Märtyrer' der Jesusbewegung die Grenzen der römischen Macht. Beide hoben "öffentlich sichtbar die Vollkommenheit der Macht auf. Beide zeigen, daß die Entscheidung über Leben und Tod nicht nur beim Machthaber liegt. Sie zeigen, daß gerade die Macht des Tötens jegliche Macht von Menschen über Menschen begrenzt. Macht kann vollkommen sein, weil sie das Äußerste tun kann. Macht ist unvollkommen, weil sich die Entscheidung zum Äußersten nicht monopolisieren läßt - jeder kann töten -, und weil die Entscheidung, sich töten zu lassen, ... nicht genommen werden kann".84 Der 'die Schwachen stärkte', 'die Niedrigen erhöhte' und der Ohnmacht zu einer Macht verhalf, die alle Macht überbot, mußte in einflußreichen Kreisen den Eindruck erwecken, ein charismatischer Verführer und Volksaufwiegler ('falscher Prophet') zu sein85 und selbst die theokratische Herrschaft der jüdisch-palästini-
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sehen Gesellschaft ergreifen zu wollen. Dies sollte dann aber im Namen dessen, der "selbst in den drückendsten und grausamsten Unterwerfungsverhältnissen ... noch immer ein erhebliches Maß an ... Freiheit"86 mobilisene und die 'Mächtigen vom Throne stürzte', indem er 'dem Tod den Stachel nahm', im schließlichen Sprung in das außerpalästinische römische Weltreich sowie im Bruch mit dem Judentum dem missionarischen Eifer87 anderer überlassen bleiben, in anderer Weise und in anderen Sozialformen, die das stigmatische Charisma des Galiläers im Prozeß seiner 'Veralltäglichung' durchlief.
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Eine kenntnisreiche historisch-kritische Diskussion der nichtchristlichen und christlichen Quellen über Jesus von Nazareth außerhalb der kanonischen Evangelien bietet France,R.T.: The Evidence for Jesus, London, Sydney, Auckland, Toronto 1986; s. auch Theißen,G.: Die wichtigsten Quellen zu Jesus und seiner Zeit, in: ders.: Schatten des Galiläers, München 1986, S.260ff. Hengel.M.: Zur urchristlichen Geschichtsschreibung, Stuttgart 1979, S.12; als illustratives Beipiel - auch der Auslegungskontroversen - s. etwa den Überblick über das Problem der Rekonstruktion des Verhältnisses zwischen Jesus und den Pharisäern in Cook,M J.: Jesus and the Pharisees the Problem as it stands today, in: Journal of Ecumenical Studies 15/1978, S.441 -460. Weber.M.: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen, 3. Auflage 1968, S.602f. Sohm,R.: Kirchenrecht. Die geschichtlichen Grundlagen, Band I, Berlin, 2. Auflage 1923, S.22. Weber,M.: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, 5. Auflage, Tübingen 1976, S. 656. Sohm 1923, S.27. Weber 1976, S.140. Dombois.H.: Hierarchie. Grund und Grenze einer umstrittenen Struktur, Freiburg, Basel, Wien 1971, S.68; vgl. auch Gunneweg, A. H. J./Schmithals, W.: Herrschaft, Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz. Baier,H.: Herrschaft im Sozialstaat. Auf der Suche nach einem soziologischen Paradigma der Sozialpolitik, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 19/1977, S.130f. Baier 1977, S.131. Vgl. Schluchter, W.: Max Webers Sicht des antiken Christentums. Interpretation und Kritik, Frankfurt/M. 1985. Baier 1977, S.130. Vgl. Hengel,M.: Nachfolge und Charisma. Eine exegetisch-religionsgeschichtliche Studie zu Mt 8,21f. und Jesu Ruf in die Nachfolge (Beiheft zur Zeitschrift für die Neutestamentliche Wissenschaft und die Kunde der älteren Kirche, 34), Berlin 1968, S.37; Hoffmann,P.: Studien zur Theologie der Logienquelle (Neutestamentliche Abhandlungen, N.F. 8), 3. Auflage, Münster 1982, S.329ff; Gager,J.G.: Kingdom an Community: The Social World of Early Christianity, Englewood Cliffs 1975, Ν. J., bes. S.19ff; Schoeps,H.-J.: Gottheit und Menschheit. Die großen Religionsstifter und ihre Lehren, 2. Auflage, Bergisch-Gladbach 1982, S.14; Kee.H.C.: Das frühe Christentum in soziologischer Sicht. Methoden und Anstöße, Göttingen 1982, bes. S.20, 31, 58ff; Vermes, G.: Jesus and the World of Judaism, London 1983. Baier 1977, S.131. Vgl. Zingerle,A.: Max Webers historische Soziologie, Darmstadt 1981, S.130ff; Ebertz,M.N.: Das Charisma des Gekreuzigten. Zur Soziologie der Jesusbewegung (Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 45), Tübingen 1987, S.29ff. Lipp,W.: Selbststigmatisierung, in: Brüsten,M./Hohmeier,J. (Hrsg.): Stigmatisierung. Zur Produktion gesellschaftlicher Randgruppen, Band I, Neuwied, Darmstadt 1975 S.25-53; ders.: Cha-
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risma - Social Deviation, Leadership and Cultural Change. A Sociology of Deviance Approach, in: The Annual Review of the Social Sciences of Religion 1/1977, S.59-72; ders.: Stigma und Charisma. Über soziales Grenzverhalten (Schriften zur Kultursoziologie, 1), Berlin 1985. Lipp 1975, S.44. Lipp 1975, S.39,30. Vgl. Lipp 1975, S.36,38,40f, 43. Luhmann.N.: Soziologische Aufklärung. Aufsätze zur Theorie sozialer Systeme, Band I, 4. Auflage, Opladen 1974, S.92ff. Vgl. Berger,P./Luckmann,Th.: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, 4. Auflage, Frankfurt 1974, S.65. Lipp 1975, S.44. Lipp 1975, S.43. S. Ebertz 1987, S.165ff, 225ff. Vgl. Kertelge.K. (Hrsg.): Der Prozeß gegen Jesus. Historische Rückfrage und theologische Deutung (Quaestiones Disputatae, 112), Freiburg, Basel, Wien 1988, und die dort diskutierte Literatur; Mußner,F.: Der Prozeß gegen Jesus von Nazareth, in: Theologische Revue 84/1988, Sp.353-360. Vgl. Popitz,H.: Phänomene der Macht. Autorität - Herrschaft- Gewalt - Technik, Tübingen 1986, S.78. Vgl. Hengel,M.: War Jesus Revolutionär?, Stuttgart 1970, S.14; ders.: Mors turpissima crucis. Die Kreuzigung in der antiken Welt und die 'Torheit' des 'Wortes vom Kreuz', in: Friedrich,J. u. a. (Hrsg.): Rechtfertigung. Festschrift für Ernst Käsemann zum 70. Geburtstag, Tübingen 1976, S.125-184. Tyrell,H.: Gewalt, Zwang und Institutionalisierung von Herrschaft. Versuch einer Neuinterpretation von Max Webers Herrschaftsbegriff, in: Pohlmann,R. (Hrsg.): Person und Institution. Helmut Schelsky gewidmet, Würzburg 1980, S.63. Hengel 1968, S.41. Schalit,A.: König Herodes. Der Mann und sein Werk (Studia Judaica, Forschungen zur Wissenschaft des Judentums, IV), Berlin 1969, S.270. Eisenstadt,S.N.: Max Webers antikes Judentum und der Charakter der jüdischen Zivilisation, in: Schluchter,W. (Hrsg.), Max Webers Studie über das antike Judentum. Interpretation und Kritik, Frankfurt/M., S.149ff. Vgl. Maier,J.: Das Judentum. Von der biblischen Zeit bis zur Moderne, München 1973, S.182. Toynbee^· (Hrsg.): Auf diesen Felsen. Das Christentum - Grundlagen und Weg zur Macht, Wien, München 1970, S.13. Blank,J.: Jesus von Nazareth. Geschichte und Relevanz, Freiburg, Basel, Wien 1972, S.97. Über Galiläa s. auch Bösen,W.: Galiläa als Lebensraum und Wirkungsraum Jesu. Eine zeitgeschichtliche und theologische Untersuchung, Freiburg, Basel, Wien 1985. A U A : Kleine Schriften zur Geschichte des Volkes Israel, Band II, München 1953, S.436, 446f.; vgl. Jh 21,2. Pesch,R.: Neutestamentliche Grundlagen des Petrusamtes, in: Lehmann,K. (Hrsg.): Das Petrusamt. Geschichtliche Stationen seines Verständnisses und gegenwärtige Positionen, München, Zürich 1982, S.12. Vgl. Freyne.S.: Galilee from Alexander the Great to Hadrian. 323 B.C.E. to 135 C.E. A Study of Second Temple Judaism, Notre Dame 1980, S.69,122. S. Josephus ant 18, 36; Alt 1953, S.424ff, 430ff. Schütz^.: Gesammelte Aufsätze. Studien zur soziologischen Theorie, Band II, Den Haag 1972, S.236f. Pesch 1982, S.12. Alt 1953, S.448. Josephus ant 18,36ff; Alt 1953, S.432f, 449ff; s. auch Hoehner,H.W.: Herod Antipas. A contempory of Jesus Christ, Cambridge 1972. Alt 1953, S.451. Vgl. Case,S.: The Social Origins of Christianity, Chicago 1923, S.46.
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46 Vgl. Cullmann,0.: Der Staat im Neuen Testament, 2. Auflage, Tübingen 1961, S.9ff. 47 Klausner^.: Jesus von Nazareth. Seine Zeit, sein Leben und seine Lehre, 3. Auflage, Jerusalem 1952, S.314Í; vgl. Léon-Dufour, X.: Wörterbuch zum Neuen Testament, München 1977, S.179; Mt 4,15. 48 Stauffer,E.: Jesus. Gestalt und Geschichte, Bern 1957, S.47. 49 Alt 1953, S.404ff; auch das folgende Zitat; vgl. Hengel,M.: Judentum und Hellenismus. Studien zu ihrer Begegnung unter besonderer Berücksichtigung Palästinas bis zur Mitte des 2Jh. v.Chr. (Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 10), Tübingen 1969, S.44,173. 50 Baron,S.W., A Social and Religious History of the Jesus. Band I: To the Beginning of the Christian Era, 4. Auflage, New York, London 1962, S.278. 51 Jeremias,J.: Die Gleichnisse Jesu. Kurzausgabe, 5. Auflage, Hamburg 1974, S.53; s. auch Hengel,M.: Das Gleichnis von den Weingärtnern. Mc 12,1-12 im Lichte der Zenonpapyri und der rabbinischen Gleichnisse, in: Zeitschrift für die Neutestamentliche Wissenschaft und die Kunde der älteren Kirche 59/1968, S.24. 52 Stauffer 1957, S.47. 53 Weber,M.: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Band III: Das antike Judentum, Tübingen 1963, S.220f. 54 Vgl. Stonequist.E.V.: The Marginal Man. A Study in Personality and Culture Conflict, New York 1937, S.5f. 55 Jeremias^.: Zöllner und Sünder, in: Zeitschrift für die Neutestamentliche Wissenschaft und die Kunde der älteren Kirche 30/1931, S.300; s. auch Herrenbrück.F.: Wer waren die 'Zöllner'?, in: Zeitschrift für die Neutestamentliche Wissenschaft und die Kunde der älteren Kirche 72/1981, S.196; ders.: Zum Vorwurf der Kollaboration des Zöllners mit Rom, in: Zeitschrift für die Neutestamentliche Wissenschaft und die Kunde der älteren Kirche 78/1987, bes. S.191ff. 56 Pesch 1982, S.12. 57 Schulz,S.: Der historische Jesus. Bilanz der Fragen und Lösungen, in: Strecker,G. (Hrsg.): Jesus Christus in Historie und Theologie. Neutestamentliche Festschrift für Hans Conzelmann zum 60. Geburtstag, Tübingen 1975, S.7. 58 Luckmann,Th./Berger,P.: Soziale Mobilität und persönliche Identität, in: Luckmann,Th.: Lebenswelt und Gesellschaft, Paderborn, München, Wien, Zürich 1980, S.148. 59 Vgl. Lenski,G.E.: Status Crystallization: A Non-Vertical Dimension of Social Status, in: American Sociological Review 19/1954, S.12-18. 60 Vgl. Wilson,B.R.: Eine Analyse der Sektenentwicklung, in: Fürstenberg,F. (Hrsg.) Religionssoziologie, 2. Auflage, Neuwied, Berlin 1970, S.321; Grünfeld,E.: Die Peripheren. Ein Kapitel Soziologie, Amsterdam 1939, S.83,86. 61 Vgl. Mt 1, 18f; die Polemik in der rabbinischen Literatur charakterisiert Jesus als Ergebnis eines Ehebruchs; s. Cook,M.J., S.450, Anm. 39; Goldstein,M., Jesus in the Jewish Tradition, New York 1950; zum ganzen s. jetzt Schaberg,J.D.: Die Stammütter und die Mutter Jesu, in: Concilium 25/1989, S.528-533. 62 Vgl. Goffman,E.: Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität, 4. Auflage, Frankfurt/M. 1980, S.136. 63 Jeremias,J.: Neutestamentliche Theologie. Erster Teil: Die Verkündigung Jesu, Gütersloh 1971, S.216. 64 Koch,K.: Ratlos vor der Apokalyptik. Eine Streitschrift über ein vernachlässigtes Gebiet der Bibelwissenschaft und die schädlichen Auswirkungen auf Theologie und Philosophie, Gütersloh 1970, S.119; s. jetzt mit guter Übersicht Marböck,J.: Gottes Plan und Herrschaft. Zu den Anfängen apokalyptischen Schrifttums, in: Theologisch-praktische Quartalschrift 137/1989, S.335-345. 65 Hengel 1968, S.63. 66 Über die Täuferbewegung s. jetzt Böcher.O.: Johannes der Täufer, in: Theologische Realenzyklopädie, Band 17/1988, S.171-181. 67 Vgl. Hengel,Martin: Die Zeloten. Untersuchungen zur jüdischen Freiheitsbewegung in der Zeit von Herodes I. bis 70 n. Chr., 2. Auflage, Leiden, Köln 1976. 68 Otto,R.: Reich Gottes und Menschensohn. Ein religionsgeschichtlicher Versuch, 3. Auflage, München 1954, S.41.
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69 vgl. Weber 1976, S.29. 70 Zur Widerlegung der von Reimarus bis Brandon vorgenommenen Interpretation der, Jesusbewegung als zelotische Revolutionsbewegung s. Bammel,E./Moule,C.F.D. (Hrsg.): Jesus and the Politics of His Day, Cambridge 1984. 71 Theißen,G.: Jesusbewegung als charismatische Wertrevolution, in: New Testamental Studies 35/1989, S.358. 72 S. in Helle,H.J.: Soziologie und Symbol. Ein Beitrag zur Handlungstheorie und zur Theorie des sozialen Wandels, Köln, Opladen 1969. 73 Theißen 1989, S.356f, der jetzt von einer charismatischen "Wertrevolution" spricht, einer "Revolution innerhalb des Legitimationskampfes", "in dem Ansprüche begründet, verteidigt oder angefochten werden"; vgl. auch - mit Einschränkungen hinsichtlich der Schlußfolgerungen, die im Titel zum Ausdruck kommen - Berger,K.: Jesus als Pharisäer und frühe Christen als Pharisäer, in: Novum Testamentum 30/1988, S.231-262. 74 Lohfink,G.: Wie hat Jesus Gemeinde gewollt? Zur gesellschaftlichen Dimension des christlichen Glaubens, 2. Auflage, Freiburg/Basel/Wien 1982, S.69. 75 Weber 1976, S.28. 76 Holte,R.: Gottessymbol und soziale Struktur, in: Humanitas Religiosa. Festschrift für Haralds Biezais zu seinem 70. Geburtstag, Stockholm/Uppsala 1979, S.9. 77 Holte 1979, S.9. 78 Über die "große Empfänglichkeit der Frauen für alle nicht exklusiv militärisch oder politisch orientierte religiöse Prophetie" und den prophetischen "Schutz der Schwachen" s. Weber 1976, S.298,35lf., 356. 79 Vgl. auch Riehes,J.: Jesus and the Transformation of Judaism, New York 1982. 80 Vgl. Ebertz 1987, S.153ff, 197ff. 81 Vgl. Perinbanayagam.R.S.: The Dialectics of Charisma, in: Sociological Quarterly 12/1971, S.387402. 82 Vgl. Ebertz 1987, S.94ff. 83 Popitz 1986, S.85f. 84 Popitz 1986, S.86f. 85 Vgl. Ströbele.: Die Stunde der Wahrheit. Untersuchungen zum Strafverfahren gegen Jesus (Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 21), Tübingen 1980, S.81ff.; Betz,0.: Probleme des Prozesses Jesu, in: Temporini,H./Hesse,W. (Hrsg.): Aufstieg und Nidergang der römischen Welt, II: Prinzipat, Band 25/1, Berlin 1982, S.565-647; Mußner,F.: Glaubensüberzeugung gegen Glaubensüberzeugung. Bemerkungen zum Prozeß Jesu, in: ders.: Die Kraft der Wurzel. Judentum - Jesus - Kirche, Freiburg/Basel/Wien 1987, S.131ff; Pesch,R.: Der Prozeß Jesu geht weiter, Freiburg, Basel, Wien 1988, S.49. Vgl. auch Mühlmann,W.E.: Die charismatische Verführung, in: Goetze,D.: Castro - Nkrumah - Sukarno. Eine vergleichende soziologische Untersuchung zur Strukturanalyse charismatischer politischer Führung. Mit einem einleitenden Essay "Die charismatische Verführung" von Wilhelm E. Mühlmann, Berlin 1977, S. VII - XXVIII. 86 Simmel,G.: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung (Gesammelte Werke, 2), 5. Auflage, Berlin 1968, S.102. 87 S. hierzu die Interpretation von Gager 1975, S.57ff, mit Hilfe der Theorie der kognitiven Dissonanz; ferner die Beiträge in Meeks,WA. (Hrsg.): Zur Soziologie des Urchristentums, München 1979, sowie Theissen, G.: Soziologie der Jesusbewegung. Ein Beitrag zur Entstehungsgeschichte des Urchristentums (Theologische Existenz heute, 194), 3. Auflage, München 1981; ders.: Studien zur Soziologie des Urchristentums (Wissenschaftliche Untersuchungen um Neuen Testament, 19), 3. Auflage, Tübingen 1989.
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Alltagscharismen Über das 'Charisma' der charismatischen Erneuerungsbewegungen Hanns-Werner Eichelberger
"Während Sie diese Zeitschrift lesen, findet gerade jemand nach langem Suchen inneren Frieden. Ein anderer steht geheilt von seinem Krankenlager auf. Irgendwo in der Welt treffen sich in diesem Augenblick Menschen ... in einer Privatwohnung. Dort beten sie gemeinsam. Auch sie erfahren die Kraft und die Gegenwart Jesu."1 In den sogenannten 'charismatischen Bewegungen' denkt man inzwischen in Kategorien einer weltweiten, konfessionsübergreifenden, allenthalben innerhalb, an den Rändern der Kirchen und auch über sie hinaus sich ständig ausbreitenden Massenbewegung der "Erneuerung". "Charismatic renewal, charismatische Erneuerung(-sbewegung) ist Selbstbezeichnung einer pneumatischen oder pfingstlichen Erweckungsbewegung", transkonfessionell und streng bibelbezogen. "Charisma" wird hier im Kontext von "Geisterfahrung" in Gemeinschaft begriffen: der erfahrene Geist gibt den Beteiligten seine "Gaben und Befähigungen". Wie immer es um die Zuverlässigkeit von Zahlen stehen mag, die sich nur höchst approximativ schätzen lassen, allein für das "charismatic renewal" werden Zahlen von 20 bis 30 Millionen Christen ins Gespräch gebracht, die um die Mitte der achtziger Jahre von dieser 'Bewegung' erfaßt sein sollen.2 Ist hier, um ganz naiv den soziologischen Charismabegriff in Anwendung zu bringen, ein neuer Führer erstanden, dem es durch Außerordentliches gelingt, Massen an sich zu binden? Fragt man Religionssoziologen, so scheinen sie gegenwärtig die charismatischen Führer eher im Bereich traditioneller institutionalisierter Religionen inner- und außerhalb des Christentums zu lokalisieren, sei es in islamisch-fundamentalistischen Strömungen, sei es in einem als "Medienereignis" und Weltreisender auftretenden Papst.3 Ob es nun Zusammenhänge zwischen solchen Phänomenen gibt, der Charismabegriff ist immer wieder im Gespräch sowohl unter Soziologen als auch unter den die Erneuerungsbewegungen von innen oder außen betrachtenden Theologen. Die Neu- oder Wiederbetonung des Charisma im theologisch-kirchlichen Raum mutet dabei bisweilen an wie die Heimholung eines Begriffs aus soziologisch-instrumentaler Verfremdung oder aus umgangssprachlicher Verflachung: Theologen bleibt es nicht immer gleichgültig, wenn zentrale und so befrachtete Begriffe ihrer Rede - wie z.B. auch Symbol, Transzendenz, Sinn - in anderen Sprachprovinzen adoptiert werden. Aber kann es gelingen, den Begriff von den Beiklängen zu befreien, die ihm inzwischen in solchen Provinzen zugewachsen sind, ihm gewissermaßen seine Unschuld wieder zu geben, um nicht sogleich einen Kontext von Herrschaft, Einfluß, Autorität mitdenken zu müssen? Es hängt vielleicht nicht nur damit zusammen, daß Charisma auch in Bereiche des
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Exotisch-Absonderlichen hineinschillert, wenn in Erneuerungsbewegungen dem Attribut "charismatisch" oft das Wort "geistlich" vorgezogen wird, es liegt wohl auch an einer Scheu vor diesem herrschaftsbezogenen Kontext. Handelt es sich um einen ganz anderen Charismabegriff als den der Soziologen in der Spur von Max Weber, wenn Kirche durch Charisma erneuert (erneut erneuert) werden soll? Die Tatsache, daß Wörterbücher jeweils zwischen soziologischen und theologischkirchlichen Verständnisweisen unterscheiden und die Artikel entsprechend aufgliedern, legt nahe, daß einer differentia specifica einiges Gewicht zufällt. Die folgenden Überlegungen gehen etwas kursorisch der Frage nach, ob nicht, vom soziologischen Begriffsverständnis ausgehend, sich Einsichten ergeben in die Verwendungsweise und vor allem auch in die Verwendungsgründe, die dem Charisma seine "bewegenden" Funktionen in der kirchlichen Szene verleihen.
5.1 Außeralltäglichkeit Die Webersche Befestigung des Charisma am Außeralltäglichen sollte Theologen zunächst wenig Probleme bereiten. Charisma erhält so eine begriffliche Brükkenfunktion, durch die innerweltliches, gesellschaftlich relevantes Geschehen auf Ursachen und Beweger bezogen wird, die jenseits alltäglicher Erfahrungsgrenzen liegen: Für solche Grenzübersteigungen wissen sich Theologen zuständig, während Soziologen hier innehalten. Wo Weber Charisma als eine als außeralltäglich "geltende" (also sozial zugeschriebene) Qualität anspricht, derentwegen eine Persönlichkeit als gottgesandt, als Führer "gewertet" wird4, wo er sich angesichts des empirisch Nichtverfügbaren mit Negativbegriffen (außer..., über ... )5 behilft, die auf das "Inkommensurable" hin nur vom sicheren Boden des Diesseitigen her ausgreifen, da sucht der Theologe positiv noch vom Geber der Gabe, vom Geist, der die Geistesgabe verleiht, zu sprechen und eine Pneumatologie6 zu entfalten. An der Grenze innehaltend oder aber weitergehend, greifen beide über Grenzen von Alltäglichkeit zumindest potentiell hinaus. Wie immer jedoch Charisma jenseits von Alltagsgrenzen verankert und verursacht ist, "wirklich" ist es immer nur und insoweit es sich innerweltlich sichtbar macht als Gabe, als "Ergebnis des Beschenktseins", als Qualität, die in der sozialen Umwelt überhaupt als etwas "gelten" kann.7 Während in soziologischer Sicht Charisma als relationaler Begriff in erster Linie auf die Beziehung zwischen dem außeralltäglich Begabten oder Qualifizierten und seiner Umwelt (der Anhänger oder der Umstehenden) gerichtet ist, in der Fragen nach Entstehung und Bedingungen und Folgen der "Geltung" auftreten 8 , erweitert der Theologe die Relationalität zur Triade GeberBegabter-Umwelt, in der ihn die Frage nach dem Geist als Spender des Charisma eigens interessiert: er will nicht nur Geltungen des Charisma konstatieren und beschreiben, sondern sie vom Ursprung her legitimieren, denn schließlich gibt es auch "falsche" Propheten, die in ihrer Umwelt als außeralltäglich begabt gelten, wirken, Ansprüche stellen. Der Soziologe kann durchaus auch den falschen Pro-
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phet als Charismatiker im Sinn seines Idealtyps anerkennen. Für den Charismatiker selbst kann es dann freilich eine große Entlastung bedeuten, wenn seine Legitimität vom Ursprung der Triade her bestätigt ist: Der Druck, sich durch Außeralltägliches selbst zu legitimieren, sich (immer wieder) durch außerordentliche Leistungen, Wunder, Heldentaten bewähren zu müssen, die Beweislast wird für ihn geringer.
5.2 Alltagsgrenzen Wie immer es nun um die jenseitige Verankerung besteht, ob der Theologe hier ein Surplus an Erkenntnis erbringt oder "spekuliert", Charisma wird Thema immer erst als fait social, und als solches ist es auch für den Soziologen eminent "real", so sehr er sich auch im Hinblick auf Realitäten jenseits seiner Erkenntnisgrenzen zurückhalten mag. Das Außeralltägliche kann sich nur innerhalb der Alltagswelt als solches manifestieren, sich von dieser abhebend. Nur: Wo hört die Alltagswelt auf, wo beginnt Außeralltäglichkeit? Mag der Begriff zunächst Eindeutigkeit suggerieren, die Grenzen dessen, was im Alltag als vertraut, erklärbar, erwartbar (im Sinn des: und-so-weiter, ich-kann-immer-wieder ...9) gelten kann, liegen nicht fest: mit der Erweiterung der Grenzen einer rational erklärbaren Erfahrungs- und Lebenswelt, mit der oft beschworenen "Entzauberung" verändern sich auch die Spielräume für die Manifestierung von Außeralltäglichkeit, werden die Kriterien für ihren Nachweis strenger. Vieles von dem, was einst schlechthin alles Verstehen überstieg, hat sich im Zuge geschichtlicher Entwicklung in Bereiche "innerweltlicher" Transzendenzen verlagert, der "kleinen" Transzendenzen, die einen Zugang durch Extrapolieren von Alltagserfahrungen, der "mittleren" Transzendenzen, die einen Zugang durch intersubjektive Kommunikation und sprachliche Vermittlung zulassen.10 Es bleiben die "großen" Transzendenzen, zugänglich allein durch subjektive Eigenerfahrung (Traum, Ekstase, Mystik) im Eindringen in andere Wirklichkeitsbereiche. Die Grenzen des Alltäglichen lassen sich so zulasten des Außeralltäglich-Irrationalen oder Überrationalen verschieben. Damit aber verschieben sich auch für Charismatiker die Bedingungen, unter denen sie der Umwelt gegenüber Außeralltäglichkeit nachzuweisen haben. In einer stärker entzauberten Welt werden die Kriterien für Zauber strenger. Das Ungewöhnliche, Unerklärliche, Überdurchschnittliche fällt oft immer noch in Varianzbreiten, für die Toleranzen in der Alltagswelt vorgesehen sind wie für den Zauber im Zirkus: Man kennt zwar nicht die Lösung für den Trick, weiß aber, daß es eine rationale Erklärung geben muß (...). Eine andere Frage ist, inwiefern ein Mehr an Rationalität auch die "neue Lust am Irrationalen"11 weckt und Aufmerksamkeiten auf die Grenzen konzentriert - in Strömungen der Esoterik usw. Unter so erhöhten Ansprüchen wird für den Charismatiker die Entlastung um so wichtiger, sofern es gelingt, durch Legitimation bereits am "oberen Ende" der Triade den Druck des Nachweises der Außeralltäglichkeit, der "Bewährung" zu mildern.
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5.3 Innovation Charisma bringt Unruhe in geordnete oder scheinbar geordnete Verhältnisse, das ist auch dann oder gerade dann so, wenn man es an einem Heiligen Geist "fest"macht: Dieser erscheint als ambivalentes Prinzip: "Kraft seiner Autorität setzt der Heilige Geist Recht und bricht Recht, er stiftet und bricht Ordnung, er begründet und bricht Tradition. Er ist das konservative und das revolutionäre Prinzip in der Kirchengeschichte".12 Wo man sich auf ihn beruft, tut man es nicht nur, um Neues unversehens einzuführen, um Richtungen einzuschlagen, die nicht vorgesehen waren, um Erstarrtes in Bewegung zu bringen, kurz um "das Dynamische in der Kirche" (Rahner) zur Geltung zu bringen, noch ehe ihm soziale Anerkennung zufällt, sondern man beruft sich überhaupt auf ihn, um zugleich auf den letztmöglichen Legitimationsgrund solchen Handelns zurückzugreifen. "Vom Menschen her niemals erzwingbar ... und dennoch immer und überall vermutbar"13, von sozialen Ordnungen nicht vorhersehbar und kalkulierbar können zu jedem Zeitpunkt Neuerungsansprüche auftreten, die von höchster Stelle her beglaubigt sein sollen. Die Adepten des Neuen fügen sich einstweilen schon dem charismatisch Neuen im (der allgemeineren sozialen Einsicht) vorauseilenden Gehorsam. In seiner Unberechenbarkeit ist Charisma sowohl für den Soziologen als auch für den Theologen ein innovatorisches Prinzip, das nach einem Regulativ verlangt, damit Dynamik nicht zur Willkür wird. Institutionell-kirchliche Lösungen dieses Problems gehen dahin, denselben Heiligen Geist eben auch als den Normsetzenden, Traditionsschaffenden mit der Institution selbst zu vereinbaren, so daß das Neue seine Authentizität in der Konfrontation mit bereits geschichtlich gegebenen Manifestierungen desselben Geistes nachzuweisen hat. Methoden der "Unterscheidung der Geister" werden zum Schutz der Institutionen vor Beliebigkeit kirchengeschichtlich schon frühzeitig eingeführt.14 Außeralltägliches im Charisma weckt die Aufmerksamkeit des Soziologen nicht um des Kuriosen, Unerhörten willen, sondern weil und insoweit es in bestehende Verhältnisse unerwartet Neues bringt, weil es sie umwandeln, ja revolutionieren kann. In anderweitig - traditional oder legal - legitimierte Herrschaftsverhältnisse trägt Charisma Ansprüche der Erneuerung bis hin zum Umsturz des Bestehenden und es beglaubigt sie durch Außeralltägliches. Je mehr nun allerdings der Druck zum Nachweis von Außeralltäglichkeit nachläßt, desto mehr müssen sich Legitimationsleistungen zugunsten des Neuen dahingehend verlagern, daß sie es als mit dem bisherigen Geist (wie er sich in Tradition äußert) vereinbar oder aber als rational (funktional oder strukturell sinnvoll) plausibel hinstellen. Schließlich läßt sich charismatische Neuerung dann nicht mehr selbst "charismatisch", durch besondere Setzung, sondern traditional oder rational legitimieren. Wenn gleichzeitig dennoch Denk- und Argumentationsmuster am Außeralltäglichen (sozusagen ohne "Nachweis") orientiert bleiben, erhöhen sich die Risiken von Beliebigkeit.
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5.4 Veralltäglichung Ausgehend nun von der trivialen Aussage, daß Zeit der Feind alles Neuen ist, zeichnet sich ab, daß eine ganz im Zeichen des Neuen als charismatische Bewegung im Weberschen Sinn entstandene religiöse Bewegung wie die Jesusbewegung der Anfänge im Anhalten der Geschichte und im Ausbleiben der naherwarteten eschatologischen Vollendung in Schwierigkeiten geraten muß, weil solche Bewegungen die Tendenz haben, ständig wieder "traditionsgebunden oder rationaljuristisch (zu) werden. Dieses Abgleiten in die Routine, ein unvermeidbarer sozialer Prozeß, ist ein Dilemma". 15 Ein Grunddilemma, das sich nach O'Dea unter verschiedenen Aspekten ausdifferenzieren läßt: -
Mit der Zeit bringen Anhänger der Bewegung eigene "egoistische" Interessen mit ein, die mit Ursprungszielen konkurrieren (Dilemma der "gemischten Motivationen"); - Zeit zwingt zur "Objektivierung", zur Stabilisierung des (individuell und subjektiv erfahrbaren) Ereignisses in symbolischen Formen, Ritualen sozialer Definition; - Zeit verlangt dauerhafte Regelung der (ursprünglich charismatischen) Führung durch Führungs- und Verwaltungsstrukturen (Ämter); - Zeit erfordert die Fixierung der "ursprünglichen' Heilsbotschaft" im "Buchstaben" und in begriffliche Definitionen von Recht und Lehre; - Zeit bringt andere Zugangswege zur Mitgliedschaft in der Bewegung mit sich als den des Entschlusses unter dem überwältigenden Eindruck charismatischer Vollmacht, nämlich Mitgliedschaft etwa durch Geburt (Kindtaufe) oder Zwang (cuius regio...). Wenn die These trifft, wonach solche Dilemmas letztlich immer ungelöst bleiben, wenn Lösungen jeweils entweder stärker zum Ereignishaft-Neuen oder aber zum Dauerhaft-Stabilen hindrängen, dann wird begreiflich, daß geschichtlich verfaßte Religion den Keim zur ständigen Neuerung oder Erneuerung in sich selbst trägt ("ecclesia semper reformanda"). Ständig wird sie sich - so J. Wach - in der Zeit unter dem Druck der Veralltäglichung zwischen einem "Maximum- und einem Minimumtyp" orientieren müssen: "Der letztere wird durch einen sehr vergeistigten Begriff von der Gemeinschaft vertreten. Er ist mit einer teilweisen oder völligen Verwerfung von Organisation, Gesetz und Disziplin innerhalb der Körperschaft, mit dem Bestehen auf dem Gleichheitsprinzip sowie mit periodischen Rückgriffen auf die Ideale der Anfangszeit verbunden. Der erstere wird in der Hauptsache durch eine mehr oder weniger unbeschränkte Annahme der Tradition gekennzeichnet. Diese Haltung... wird aus prinzipiellen Gründen gerechtfertigt (Fortdauer des Charisma, 'apostolische Nachfolge')."16 Es mag zwischen beiden Typen vor dem Hintergrund der auf verschiedenen Dimensionen und Ebenen (Zeit, Quantität, Subjektivität...) angesiedelten Dilemmas durchaus Mischformen geben, entscheidend ist, daß der Stachel des Antiinstitutionellen, des ständigen Bedarfs nach Neuem oder Erneuerung bleibend im Fleisch der Kirchen als ge-
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schichtlich verfaßten Gestalten einer ursprünglich charismatisch gegründeten Bewegung steckt. So gesehen sind die "neuen" charismatischen Bewegungen so neu nicht.
5.5 Not Eine Geschichtsschreibung des Christentums ließe sich durchaus anhand der Frage konzipieren, wie sich zu verschiedenen Epochen immer wieder die Tendenz zum "Minimumtyp" der Verfaßtheit geäußert hat, wie schon seit Frühzeiten immer wieder Reaktionen gegen Verfestigungsprozesse aufkamen, selbst wiederum durch charismatische Führer repräsentiert und in neue Bewegungen mündend, die teils verfolgt und eliminiert wurden, teils sich schismatisch von Hauptströmungen der Tradition absonderten (in neuen Konfessionen, Sekten, Denominationen), teils mehr oder minder erfolgreich unter dem Dach der Institution integriert wurden, um selbst wieder in den Prozeß der Veralltäglichung einzutreten (Orden, Reformorden).17 Ecos "Der Name der Rose" z.B. bezieht seine "Spannung" auch aus dem Szenario solch spannender Bewegungen, die bis in Revolten und Glaubenskriege führen. Die Frage, aus welcher Not jeweils die Begeisterung geboren wird, die zu solchen Reaktionen mit oft dramatischen geschichtlichen Folgen führen, unter welchen Bedingungen charismatisch Neues begeisterte Anhängerschaft findet, läßt sich zum einen sicher auf der Schiene sozio-ökonomischer und herrschaftlicher Verhältnisse beantworten. Auf einer anderen Schiene jedoch wird die Veralltäglichung als Notwendigkeit selbst wiederum als notvoll erfahren: Klagen über die Not der Spannung zwischen Charisma und Institution, die Not des Kontrasts zwischen idealen Zielen und alltäglicher Situation und verfügbaren Mitteln ließen sich zuhauf anführen und finden sprachlich Ausdruck in Klagen über "Erstarrung, Verholzung, Unbeweglichkeit, Formalismus, Bürokratie, Repression".18 Um es deutlicher zu sagen, die Veralltäglichung bringt selbst stets die Not hervor, die den Boden für Gegenbewegungen bereitet. Demgemäß wird man hier mit Fragen einsetzen, wie sich Aufkommen und Verbreitung gerade der gegenwärtigen Erneuerungsbewegungen erklären lassen: Sie gehen zumindest im katholischen Raum zeitlich einher mit der stärkeren Wahrnehmung des hohen Grades an bürokratischer Verwaltung und Zentralisierung von Institution, der - als Not erfahren - gewissermaßen mikrosoziologisch "unterlaufen" werden soll. Ist hierbei der institutionelle Zugriff selbst Reaktion auf Entwicklungen im Gefolge von Orientierungen des Zweiten Vatikanums zugunsten von Charisma (Stichworte: "Gottesvolk", Kollegialität, Betonung der Weltverantwortung der Laien usw.), so sind die Bewegungen teils in der Kontinuität nachkonziliarer Prozesse, teils als "Korrektur" zu diesen, teils wiederum als Reaktion auf eben diesen Zugriff zu deuten.
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5.6 Begeisterung Wenn der Druck öffentlicher, intersubjektiver "Bewährung" in der Zeit für den Charismatiker durch eine Verlagerung seiner Legitimation auf den Ursprung im Geist geringer wird, nimmt gleichzeitig die Bedeutung subjektiver Erfahrung zu. Erfahrung wird zum Schlüsselbegriff: Erfahrung von Berufung, Umkehr, Erwekkung, Geisttaufe, durchaus außeralltäglich wohl für die Lebenswelt des Betroffenen (sei es in einer gewissen Unmittelbarkeit zum weckenden Geist, sei es in der sozialen Beziehung zur begeisterten und begeisternden Gruppe), nicht unbedingt aber außeralltäglich für die Umwelt. Sofern diese nicht mitergriffen oder -erweckt ist, bleibt ihr schwer nachvollziehbar, was der Begeisterte erlebt. Enthusiasmus kann ansteckend, aber auch befremdend wirken. Die befremdliche, dem Willen und Bedürfnis nach Kommunikation, nach Bezeugung gegenüber sozusagen "kontraproduktive" Wirkung unterliegt dabei soziokulturellen Bedingungen. Was in einem Kulturkreis zu einer bestimmten Epoche als Zeugnis für geistliches Erleben gelten mag, wirkt unter anderen Umständen als absonderlich. Irrational wirkende Botschaften haben es in einer von Rationalität geprägten Umwelt schwerer: "Klassische lutherische Spiritualität jedenfalls gibt sich ausgesprochen antischwärmerisch ... Die deutsch-abendländische Seelenverfassung ist eben anders als etwa die südamerikanische".19 So stößt im deutschsprachigen Raum "nicht nur ein pfingstlerischer Gebetsstil... kaum auf Resonanz, sondern auch bestimmte Formen der Evangelisation, wie sie auf nordamerikanisch-freikirchlichem Boden gewachsen sind".20 Die möglicherweise nachteilige Außenwirkung gewisser charismatischer Gaben, insbesondere des Zungenredens (Glossolalie), wird stets akut, wenn Außenstehende oder Nichtinitiierte in Alltagskategorien interpretieren, was der Charismatiker als außeralltäglich erfährt. Paulus bereits muß sich mit diesem Problem auseinandersetzen, daß Ekstatik und Enthusiasmus von außen oft schwer vom "Verrücktsein" zu unterscheiden ist, und er empfiehlt, Zungenreden möglichst durch andere Charismen zu begleiten und zu interpretieren (1 Kor 14), um Brükken zum Alltag zu wahren oder herzustellen. Dennoch sieht Paulus Zungenrede als "Zeichen nicht für die Gläubigen, sondern für die Ungläubigen" (1 Kor 14,22) an, wobei er das Risiko des Mißverständnisses durch andere Charismen zu mildern sucht. Die Großtaten des Weberschen Charismatikers hingegen gelten primär der Legitimierung vor der Gefolgschaft21, bedürfen von sich aus der relativen Eindeutigkeit wenigstens für die Initiierten.
5.7 Charismen Bis dahin scheint es möglich, auch mit dem soziologischen Charismabegriff zu hantieren, wenn man sich den neueren charismatischen Bewegungen zuwendet: das Merkmal der Außeralltäglichkeit ist prinzipiell gewahrt, auch wenn seine Manifestierung im Alltagskontext weniger dringend scheint (sofern eine Verlagerung
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der Anbindung an den außeralltäglichen Geist anders als durch Großtaten usw. über Transzendenzgrenzen hinaus plausibel gemacht werden kann); Neuerungen gegenüber legalen und traditionalen Ordnungsformen werden durch diese Bewegungen postuliert oder in Angriff genommen, ja aus der (notvollen) Spannung zum charismatischen Ursprung selbst heraus werden die Bewegungen selbst immer wieder verständlich. Schwieriger wird es bei einem weiteren im Begriff des Außeralltäglichen mitenthaltenen Aspekt: Neben dem Aspekt des aus dem Alltag heraus nicht Erklärlichen, Nichtableitbaren, Irrationalen oder Überrationalen ist auch der Aspekt des Ungewöhnlichen, Seltenen, ja Einmaligen mit angesprochen, damit auch eine Einzigartigkeit des Führers als Träger des Charismas. In der Tat verwenden Theologen, verwenden auch die geistlichen Bewegungen den Charismabegriff in der Regel im Plural als die Vielzahl sowohl sehr verschiedenartiger als auch (wenigstens anfänglich) durchaus häufig vorkommender Geistesgaben.22 Die reine Vervielfältigung des Charismas scheint schwerlich vereinbar mit dem charismatischen 'Monopol' des Führers: Zur zeitlichen Dimension der Veralltäglichung tritt hier zusätzlich das Problem einer Veralltäglichung durch Verbreitung im Raum, durch gleichzeitige Vielfalt. Mit dieser Vielfalt scheint die Tatsache in Einklang, daß es im Bereich geistlicher Bewegungen zwar an Initiatoren, Animateuren, Wortführern nicht fehlt, daß diese jedoch seltener als markante Führerpersönlichkeiten in Erscheinung treten. Begriffliche Vereinbarkeit zwischen dem singulären Charisma des Führers einerseits und den vielfältigen Charismen vieler läßt sich nur dann noch herstellen, wenn ersteres als eine Sondergestalt - etwa die beim Propheten, beim Ordensstifter, Reformer - mit unter die vielen Charismen subsumiert wird, entsprechend einer arbeitsteiligen Differenzierung vieler Funktionen im Dienst an der Gemeinschaft, am einen Leib (Paulus). In dieser Gedankenfolge lassen sich auch veralltäglichte Formen der Führung wie die an Ämterstrukturen gebundenen Dienste (Amtscharisma) noch als charismatisch interpretieren wie etwa in der katholischen Kirche. Die Notwendigkeit der Führung (im dogmatischen und sittlichen Lehramt) im Dienst an der Gesamtkirche wird geradezu zur Grundlage auch der Einsicht in die Notwendigkeit eines Amtscharisma: "Denn über absolute Wahrheiten kann nicht abgestimmt werden. Sie sind nur mit Unterstützung des Heiligen Geistes zugänglich".23 Eine andere Begriffsauffassung neigt mehr dazu, den Kontrast oder gar die Unvereinbarkeit zwischen beiden Charismabegriffen herauszustellen. Danach bedeutet dem "paulinischen, gemeinschaftsbezogenen Sprachgebrauch" von Charisma gegenüber die Webersche Verallgemeinerung zum Idealtyp und die Zuspitzung auf die Herrschaftsform des Führers, verbunden "mit Neuerung, Revolution, Offenbarung, Prophetie etc." einen Rückschritt, in dem "der paulinische Sprachgewinn...bei Max Weber wieder rückgängig gemacht" wird24, nämlich die bei Paulus erfolgte Loslösung des Charisma von dem, "was die Korinther pneumatika nannten und was Paulus mit anderen ekstatischen Erscheinungen in hellenistischer Religiosität parallelisierte".25 Wenn aus diesem Rückschritt zugleich "das Verhältnis von Charisma und Institution als Konflikt" definiert wird26, scheint dies einer
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mehr protestantischen Sichtweise zu entsprechen, der die Vorstellung eines Amtscharisma fremd geblieben ist. In beiden Begriffsauffassungen jedoch ergibt sich, daß die Bindung des Charisma an ein durch Außerordentliches, Ekstatisches, Vorbildhaftes ausgewiesenes Führertum einzelner Persönlichkeiten gelöst wird, ob man diese nun als Sonderformen oder als Gegenphänomene zu den vielfältigen, gemeinschaftsbezogenen Charismen definiert.
5.8 Generalisierung Die Loslösung des Charisma zum einen vom Druck der Bewährung durch Außeralltägliches und zum anderen von der singulären Stellung des Führenden kommt einer Verwendung des Charismabegriffs in den geistlichen Bewegung heute sehr entgegen: Sie dürfen mit dem Unerhörten zwar immer rechnen, sind aber in einer rationalen Umwelt auf dessen Manifestierungen nicht angewiesen. Sie können führende Persönlichkeiten akzeptieren, können aber auch auf sie verzichten. Sie können sich darüber hinaus auf den neutestamentlichen, insbesondere paulinischen Gebrauch des Charismabegriffs berufen: "Jeder hat sein eigenes Charisma, einer so, der andere so", (1 Kor 7,7). In der Ausdifferenzierung der vielen Geistesgaben - manche versuchen in den neutestamentlichen Schriften bis über zwanzig verschiedene Geistesgaben auszumachen27 - reicht die Spannweite schließlich bis in sehr alltägliche Aufgabenbereiche im Dienst an der Gemeinde hinein, es gibt eben "gewöhnliche und außergewöhnliche Gnadengaben".28 In der Vielfalt der Gaben ist es "ein und derselbe Geist; einem jeden teilt er seine besondere Gabe zu, wie er will" (1 Kor 12,11), wobei diese Gaben nach Paulus vom Ursprung (dem einen Geist) und Ziel (der Auferbauung der Gemeinde) her analog zu den Organen eines Leibes eine Funktionseinheit bilden. Ein Problem bleibt dabei die "vertikale" Differenzierung einer Über- und Unterordnung der Gaben, nicht nur im Prestige, sondern auch im Sinn herrschaftlicher Priorität: "Der Prophet steht höher als der, der in Zungen redet" (1 Kor 14,5). Offenbar schließt Paulus eine hierarchische Ordnung ("höhere" Gnadengaben) nicht aus, jedoch sind solche Ordnungen selbst nicht mehr "charismatisch" begründet, sondern eher rational-funktional im Sinn solidarischer Aufgabenteilung. Aus dieser Perspektive bedürfen Träger von "Amts"-Funktionen zunächst nur des Charismas der Eignung und Begabung für deren Ausübung. Ob mit dem Amt - auf einer zweiten Ebene gewissermaßen - ein eigenes "Amtscharisma" mit angenommen werden kann, entscheidet sich (entsprechend den erwähnten zwei Denkrichtungen) danach, wie weit man der Notwendigkeit einer Transformation ursprünglicher charismatischer Führerqualitäten in geschichtliche Kontinuität zustimmt oder ob man solche Transformationsversuche bereits als Gegenentwurf zur ursprünglichen "Gleichberechtigung" der Funktionen betrachtet: Danach orientiert sich wohl auch die Entscheidung für ein mehr hierarchisches und eine mehr synodales "Paradigma" im Amtsverständnis der christlichen Teiltraditionen.
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Die Generalisierung des Charismas in eine Alltäglichkeit des Vorkommens hinein wird in charismatischen Erneuerungsbewegungen betont. H. Mühlen, einer der "Chefinspiratoren" des katholischen Zweigs der "Charismatischen Gemeindeerneuerung", versteht unter Charisma "eine natürliche (!) Begabung, die durch den Heiligen Geist freigesetzt und zum Aufbau und Wachstum des Leibes Christi in Dienst genommen wird".29 So wird im Träger des Charisma - potentiell also in jedem - durch den Geist nur das "geweckt", was natürlich bereits angelegt ist. Damit scheint ein Schritt getan in Richtung auf die Möglichkeit, dieser Erweckung auch in methodischen Schritten Vorschub zu leisten: In der natürlichen Begabung ist ja ein erster Schritt der Disposition bereits getan, zum Wirken des Geistes sind Voraussetzungen gegeben. Ebenfalls im Sinn einer Generalisierung läßt sich die Betonung des allgemeinen Priestertums - bzw. der Teilhabe am einen "gemeinsamen" Priestertum - in charismatischen Bewegungen deuten: allerdings wird hier nicht nur die allgemeine Partizipation an einem bestimmten charismatischen Dienst in und an der Gemeinde vertreten, sondern auch Eigenständigkeit gegenüber einem Amtspriestertum.
5.9 Institution und Charisma Es wurde schon angedeutet, daß Charisma seiner Unberechenbarkeit und innovatorischen "Stör"-Kraft wegen für Institutionen ein Dauerproblem darstellt. Dies müßte, so möchte man zunächst annehmen, um so mehr der Fall sein, wenn Charisma durch Generalisierung nicht mehr in wenigen Führern lokalisierbar ist, sondern in jedem einzelnen Handelnden latent gegeben ist. Der Blick in die Christentums· und Kirchengeschichte zeigt freilich, daß geistliche Dynamik und charismatisch legitimierte Innovation nicht überall und dauernd stattfindet. Es scheint lange Zeiten zu geben, in denen traditionale und legale Herrschaft relativ unbehelligt bleiben. Offenbar verteilen sich Kräfte und Gegenkräfte nicht immer gleichmäßig, bringen Nöte die Begeisterungswellen nur zu gewissen Zeiten in Bewegung, während zu anderen Zeiten Institution eher die Oberhand zu behalten scheint. W. Krusche unterscheidet drei verschiedene "Grundmodelle", mit denen Theologen versucht haben, "das Verhältnis von Charisma und Institution ekklesiologisch zu bestimmen". 30 In einem ersten Deutungsansatz ist die Rede von einer "pneumatischen Doppelstruktur": Der eine Geist wirkt auf zwei Schienen, in zwei Strukturen, die sich gegenseitig nicht befeinden oder bestreiten, sondern komplementär ergänzen: "Es gibt keine von vornherein geistlose Institution und kein von vornherein institutionsfeindliches Charisma".31 Das Problem besteht darin zu verhindern, daß sich eine der beiden Strukturen zulasten der anderen einseitig verselbständigt: Beide bleiben aufeinander angewiesen. In einem zweiten Grundmodell erscheinen Charisma und Institution gewissermaßen als unversöhnliche Gegensätze: Charisma steht für die ursprüngliche Ekklesia in ihrer
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geistlichen Dynamik, während Institution die Kirche kennzeichnet, die das Recht als "Geistsubstitut" einführt und entweder die Gemeinschaft der Anfänge ganz ablöst oder sie in feste Formen und Normen einschließt, in denen man sich mit "einer Minimalform von Gemeinschaft" begnügen muß. Hier wird der Ruf nach dem Charisma zum Ruf nach dem Eigentlichen, Ursprünglichen, das von geschichtlicher Erstarrung oder gar Verfälschung zu befreien ist. In einem dritten Ansatz begreift man Charisma als der Institution selbst inhärierendes Strukturprinzip: "Die Kirche ist ein Ereignis des Geistes ... Der Geist inspiriert zu einer besonderen Form von Organisation".32 Das Problem besteht vor allem darin, innerhalb einer Institution Kirche, in der die Lebensformen und -Ordnungen vom Charisma her strukturiert sind, die vielen verschiedenen Charismen einander zuzuordnen und in eine Einheit zu bringen (daher die Bedeutung des "Charismas der Einheit" der Amtsträger). Alle drei Modelle versuchen, die möglichen und historisch auch sicherlich nachweisbaren Spannungen zwischen einem Geist, der wehen kann und soll, wann und "wo er will", und einer auf Dauer konstituierten sozialen Form verständlich zu machen, aber sie lösen sie nicht auf. In allen drei Modellen ist mit Ungleichzeitigkeiten, Ungleichgewichten und voneinander abweichenden Perspektiven zu rechnen. Während Institution aus charismatischer Sicht tendenziell als defizitär und deshalb zu erneuernd begriffen wird, geraten neue Bewegungen ihrerseits fast zwangsläufig in den Verdacht minderheitlicher Absonderung dem "Mainstream" gegenüber bis hin zum Vorwurf des Sektarismus.
5.10 Geistliche Bewegungen Verstehen wir geistliche Bewegungen als Protest und Reaktion gegen eine als notvoll erfahrene und definierte Situation, in der Institution sich bei der Bewältigung der Dilemmas der Veralltäglichung einseitig zulasten charismatischer Dynamik ein Übergewicht verschafft hat, ist zu erwarten, daß ihr charismatischer Anspruch bei den von O'Dea genannten Dilemmas ansetzt, um hier Gewichtsverlagerungen zu erreichen: - Dem Eindringen "gemischter" oder egoistischer Interessen und Motivationen tritt ein Anspruch der Umkehr, der Rückkehr zur "ersten Liebe" (Offb 2,4), der Reinigung entgegen. Schlägt das Pendel zu weit aus, drohen Gefahren des Puritanismus, radikaler "Säuberung", Sektenbildung einer Minorität von Reinen. - Einer symbolischen Objektivierung, Verdinglichung in Formalismen und Ritualen wird Offenheit, Unbestimmtheit und Spontaneität (Phantasie!) als Alternative gegenübergestellt: Nehmen wir als Beispiel den kultischen Bereich, so eröffnet sich hier ein weites Feld für "Experimente" neuer "Gestaltung" von Gruppenvollzügen, Liturgie und Gebet durch Einbeziehen von Alltagselementen (neue Symbole und symbolische Handlungen, Klatschen im Gottesdienst, Musik und Musikinstrumente aus der aktuellen Musikszene - "Andere Lieder wollen wir singen" -, jugendkulturelle Umgangsformen, Einbeziehen von Alltagssprache und Körper-
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spräche: Tanz, Umarmen, Händereichen usw.). Abgesehen davon, daß offenbar gerade weitverbreitete und rasch akzeptierte neue Formen schon binnen kurzer Zeit wieder unter den Druck neuer Objektivierung geraten (das Klatschen an bestimmten Stellen wird ritualisiert, Peter-Janssens-Lieder werden mit Orgelbegleitung zum herkömmlichen Gemeindegesang transformiert), daß auch die Spontaneität im Bereich der verbalen Symbolik sich verfestigen kann zum ständigen (Zer-) Reden, Kommentieren, Pädagogisieren33, die Gefährdung der Spontaneität besteht in der Regel auch darin, daß neue Elemente bestimmten kulturellen Teilbereichen oder gar Subkulturen verpflichtet sind, daß ihre enthusiastischen Äußerungen den erwähnten Gefahren des Mißverständnisses ausgesetzt sind, daß durch neue "Formen" alte Formen zurückgesetzt oder diskriminiert werden.34 Die Bindung der Praxis an kleinere Gruppen (Gebetskreise, Gruppengottesdienste) wiederum sucht diesen Gefährdungen entgegenzusteuern: Im größeren sozialen Rahmen - in allgemeineren Gemeindegottesdiensten etwa - führt Spontaneität oft zu Polarisierungen gegenüber denen, die sich (rituellen Formen traditional verpflichtet), sofern sie nicht vorher in andere Gottesdienste ausgewichen oder weggeblieben sind, nicht "angesprochen" fühlen; neue Elemente bleiben isoliert oder wirken womöglich wie "Show-Einlagen". - Rational-bürokratische Führung und Verwaltung wird einerseits durch Strukturkritik in Frage gestellt: "demokratischere" Ordnungsmodelle werden gefordert und "vorgelebt"; dies gilt nicht nur, aber besonders auch in der Kritik an hierarchischen Strukturen und zentralistischen Tendenzen im katholischen Bereich, wo "von unten" Gegenentwürfe zum Ansatz gebracht werden.35 In einer Gegenrichtung kann andererseits (wiederum besonders im katholischen Raum) die Kritik gerade auch eine konsequentere Durchführung hierarchischer Führung einfordern, laxistische Tendenzen bei Amtsträgern anprangern und auf Betonung päpstlicher Autorität dringen. Mit dem Argument charismatischer Erneuerung kann so durchaus auf die Neubetonung traditionaler Führungsstrukturen hingewirkt werden, wenn auch Amt und Führung als charismatisch gedeutet werden (sei es durch den Gedanken des Amtscharismas, sei es durch das charismatische Strukturprinzip, das für verschiedene Führungsoptionen offen sein kann). Den (mehr oder weniger "neuen") geistlichen Bewegungen im katholischen Raum werden insofern auch solche zugerechnet, die geradezu "traditionalistisch" orientiert scheinen.36 In beiden einander diametral entgegenstehenden Richtungen der Führungskritik auf charismatischer Argumentationsbasis tritt die Gefährdung der institutionellen Einheit auf, wenn die Gegenentwürfe entsprechendes Eigengewicht erhalten. - Im Dilemma der Fixierung von Ordnungen und Lehren - wie überhaupt klassischerweise in Auseinandersetzungen um Definitionen, in Häresiekämpfen, in Reformstreitigkeiten im Lauf der Kirchengeschichte - erklingt immer wieder der Ruf der Rückkehr zu den "Quellen" und das Postulat der jeweils zeitgemäßen Übersetzung traditional geronnener Formen und Formeln in neue Kontexte. Diese Quellen liegen nicht nur in dokumentarischen Texten, sondern situativ sollen Quellenbedingungen auch reproduziert werden, in denen der Geist zum Zug
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kommt (wie einst): "Glauben aus erster Hand"37 wollen charismatische Bewegungen ermöglichen, indem sie zu freien, methodisch möglichst wenig in Formen gedrängten geistlichen Erfahrungen und deren Äußerungen in gewisser Weise doch wieder methodisch hinführen wollen (in Kursen, Seminaren, Gebets- und Bibelgruppen). Als Gefahr, die mit dem Ruf nach den Quellen auftritt, wird die des Subjektivismus und des (gruppen-)kulturellen Bezugsrahmens einer selektiven Wahrnehmung, die Vernachlässigung von Geschichte und Tradition, gesehen. - Einer durch die Praxis der Kindertaufe faktisch "zugeschriebenen" Mitgliedschaft im volkskirchlichen Kontext setzen Forderungen von charismatischer Seite her nicht unbedingt die Erwachsenentaufe als persönlich vollverantwortete Wahl entgegen, wohl aber gemeindekirchliche und entscheidungskirchliche Modelle, verbunden z.T. mit Forderungen nach stärkerer Betonung von Schritten der Sozialisation und Initiation (altersmäßige Verlagerung und Neubetonung z.B. der Firmung als Tauferneuerung und Entscheidungsakt; Empfehlungen zur Einführung von Katechumenatszeiten, von mehr "Arkandisziplin"; Betonung von Erfahrungen der Erweckung, Bekehrung, Berufung, Geisttaufe). Folgen starker Ausprägungen solcher Ansätze kommen zum Ausdruck in der Auseinanderentwicklung zweier Ebenen der Mitgliedschaft, einer volkskirchlichen Ebene und einer (mit den Problemen von Grenzziehungen belasteten) gemeindekirchlichen aus Entschiedenen und Engagierten.38 Auf den Schienen der hier nur stichwortartig beschriebenen Ansätze zur (möglicherweise in Gegengefährdungen mündenden) Bewältigung der fünf Dilemmas und Spannungen durch Neuzuordnungen zwischen Institution und Charisma ließen sich möglicherweise Typen charismatischer Antworten auf Veralltäglichungsnöte noch genauer herauslösen, stärker differenziert als es mit der derzeit üblichen Zweiteilung von Grundoptionen geschieht: Hier unterscheidet man auf der einen Seite mehr "basisgemeindlich" orientierte Gruppen mit explizit-sozialreformerischen Optionen (Orientierung an lateinamerikanischen Vorbildern - deren "Not"-Situation als Kontext für Gemeindemodelle oft freilich nicht so sehr in innerkirchlichen Spannungen zu suchen ist, daher die Probleme in der Übernahme solcher Vorbilder -, oder an alternativen Bewegungen im Hinblick auf Frieden, Dritte Welt, Umwelt...), auf der anderen Seite die mehr beim Individuum (Umkehr, Entscheidung, Erweckung, Spiritualität) in Gruppenbezügen ansetzenden geistlichen Bewegungen.39 Erstere, so könnte man grob sagen, sind stärker auf die Dilemmas in Bereichen der Führungsstrukturen und der entschiedenen Mitgliedschaft, letztere besonders auf Probleme der Objektivierung und Fixierung, dann aber auch wieder auf die persönliche Entschiedenheit bezogen, während sie im Führungsbereich eher traditionelle Lösungen betonen. Aus der Perspektive der Institution selbst variieren die Positionen zu solchen Bewegungen je nachdem, wie weit Charisma als Strukturprinzip (in der Institution selbst oder als notwendige Ergänzung zu ihr) oder aber als Gegenentwurf der Institution konzipiert wird. Sie variiert ferner danach, welcher Grundtendenz die Bewegung selbst zuzuordnen ist, ob sie mehr strukturkritisch bzw. -reformerisch
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oder mehr Struktur-bejahend auftreten, schließlich danach, ob sie Neuerungen in die Institution hineintragen oder aber zur Sezession neigen, um Eigenvorstellungen von der Institution losgelöst zu verwirklichen. Ganz generell trifft man auf institutionelle Vorbehalte, die sich in Warnungen vor "Gefährdungen" durch Fehlentwicklungen, Vereinseitigungen und Irrwege auch dort noch äußern, wo man Bewegungen insgesamt als belebendes Element begrüßt und akzeptiert.40 Gewarnt wird vor Absolutheitsansprüchen ("Kirche im kleinen, aber nicht die Kirche"; "Offenheit" und "Gespräche" werden gefordert zur Relativierung41), vor der Kleingruppe als Sonderwelt (die sprachlichen Gestalten dieser Warnungen sind besonders anschaulich in Begriffen wie: Fluchtburgen, Schlupflöcher, Nischen, Kuschelgruppen, Gettos, Suche nach Nestwärme...), vor der Selbstgenügsamkeit und -gefälligkeit in Indifferenz oder Opposition zur größeren Institution. Es gibt inzwischen Stimmen, die die Verlagerung kirchlicher Vollzüge in überschaubarere Sozialformen und engere Gruppenbezüge im Zuge nachkonziliarer Reformen (und in Verbindung mit der Verbalisierungstendenz zulasten ritueller Vollzüge) bereits als Entwicklung von "Kirche" zur "Sekte" (nach dem Troeltsch'schen Idealtypus) deuten.42 Noch scheint diese These zumindest verfrüht: Weniger die Zerbröselung einer Gesamtkirche in sektenhaften Kleineinheiten scheint akut als eine Auseinanderentwicklung zweier Ebenen in der Großinstitution, einer "Amtskirche" in volkskirchlich-parochialer Verfaßtheit und einer Ebene von "Parallelkirchen" aus diversen Initiativen, Gruppen, Zirkeln, Basisgemeinden, Personalgemeinden und auch geistlichen Bewegungen, die allerdings auch sektenhafte Züge annehmen können. Die Bemühungen, dieser Auseinanderentwicklung entgegenzuwirken, sind besonders im katholischen Bereich unübersehbar: Weniger das charismatisch Unwägbare und Neue einzelner Führer gilt es dabei zu domestizieren und zu integrieren (oder notfalls zu isolieren) als eben eine Vielzahl von "Gruppencharismen".
5.11 Charismatische Gemeinde-Erneuerung Im katholischen Raum hat sich so beispielsweise die Bewegung der Charismatischen Gemeinde-Erneuerung stärker verbreiten können: "Zusammen mit anderen 'neuen geistlichen Bewegungen'... wurde sie von der Hierarchie willkommen geheißen und in kluger Weise pastoral begleitet und kirchlich eingebunden".43 Auch seitens lutherischer Bischöfe gibt es Erklärungen, die auf Integration und "Miteinander traditionell-kirchlicher Frömmigkeit und neuer geistlicher Aufbrüche"44 plädieren, auch wenn es im evangelischen Bereich mit dem Schwenk des Hamburger Pastors Kopfermann als Exponent dieser Bewegung in die Freikirchenszene einen spektakulären Bruch gegeben hat: Das Denkmodell von der charismatischen Ekklesia als Gegenentwurf ist im protestantischen Bereich stärker verwurzelt, während katholischerseits in der Nähe sogar eines Kardinals (Suenens) zur Bewegung die problemlosere Vereinbarkeit repräsentiert erscheint. Treffen
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zur Information und zum Austausch zwischen verschiedenen Gruppierungen und zur Selbstdarstellung im innerkirchlichen Raum werden institutionell begleitet und gefördert45, Grundsatz- und Regulierungspapiere werden von der Deutschen Bischofskonferenz diskutiert und approbiert46, Katholiken- und Kirchentage setzen eigene Veranstaltungsschwerpunkte im Bereich der Bewegungen mit Foren und Gottesdiensten. Gerade im letzten Punkt wird zugleich sichtbar, daß sich Institutionen mit unterschiedlichen Typen jeweils auf Charisma sich berufender 47 Gruppierungen unterschiedlich "schwer tun": Mehr basisgemeindlich orientierte Richtungen gehen bei Katholikentagen weiterhin Wege, die eine Struktur- und Führungskritik auch auf der Veranstaltungsebene (im "Katholikentag von unten") symbolisch darstellen. Dies dürfte damit zusammenhängen, daß Charisma als Strukturprinzip begriffen (L. Boff: "Das Charisma ist fundamentaler als das institutionelle Element. Es ist die pneumatische Kraft..., welche die Institutionen schafft und lebendig erhält...ist das Strukturprinzip in der Kirche weder die Institution noch die Hierarchie, sondern das Charisma, das der Wurzelgrund jeder Initiative und jeder Hierarchisierung ist"48) strukturreformerisch auch im Ordnungs- und Führungsbereich der Institution Ansprüche stellen kann, die sich mit traditionalen und legalen Handlungsmustern schwerer vereinbaren lassen. Bewegungen wie die Charismatische Gemeinde-Erneuerung scheinen demgegenüber das Charisma stärker in die Lebenswelt des Individuums oder der überschaubaren Gruppe zu verlagern in der Erwartung, daß von dort aus erneuernde Wirkung für die Gesamtkirchen ausgeht, "eine Glaubensbewegung zur Erneuerung des gesamten christlichen Lebens. Im gemeinsamen Glauben und Beten in Gruppen soll Gemeinschaft der Kirche lebendig und erfahrbar werden".49 Entstanden in einer pfingstkirchlichen Tradition Nordamerikas, jedoch durchaus als transkonfessionelle und innerkirchliche Bewegung (im Unterschied zu den sich seit der Jahrhundertwende als eigene Denomination konstituierende Pfingstlern), verbreitet sich diese Bewegung seit den 60er Jahren (im katholischen Bereich seit einem Initialereignis im Jahr 1967) als "Aufbruch" und Teil einer weltweiten Bewegung des "charismatic renewal". Mit frömmigkeitsgeschichtlichen Ursprüngen in protestantisch-freikirchlichen Bereichen ist nach H.-D. Reimer eine Verwurzelung in einer evangelikalen Tradition50 verbunden. Der geschichtlichen Fixierungen gegenüber kritische Rückgriff auf "Quellen" geht einher mit dem hohen Stellenwert der in Kleingruppen vermittelten Erfahrung ("christliche Grunderfahrung"). Betont wird vielfach die (gegen "Objektivierungen" gerichtete) "Offenheit" der Formen und der Mitgliedschaft: "Wer behauptet: 'Das sind die Charismatiker, so lehren sie und solche Praktiken üben sie', dem sollte man mißtrauen."51 "Das Gebet, das sich während der Versammlung entfaltet, ist nicht vorbereitet, nicht vorher zusammengestellt, es wird empfangen als ein Geschenk Gottes."52 Es scheint allerdings manchmal, als werde diese Formoffenheit selbst zu einer Art Formprinzip, zu einem soziokulturellen Muster, innerhalb dessen sich Regelmäßigkeiten des Teilnahmeverhaltens entfalten: Glaubensseminare über acht Wochen, tägliches Beten und Schriftlesung, wöchentliche Gebetstreffen in der
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Kleingruppe, in "Hauskreisen" (die nicht ganz "der Phantasie oder der Improvisation" im Ablauf überlassen bleiben, sondern sich "an der Struktur des Wortgottesdienstes" orientieren.53 "Elemente sind Lied, Anbetung, Schriftlesung, Mitteilung von Erfahrungen, freiformuliertes Gebet und Fürbitte und das Entdecken und Wirksamwerden verschiedener Charismen."54 Ziel solcher methodisch mehr oder minder stark geformter Schritte ist "die Hinführung zur christlichen Grundentscheidung und die Bitte um das Gnadenwirken des Heiligen Geistes,"55 um die als "Geisttaufe" bezeichnete "Lebenswende", die sich (nach intensiver Vorbereitung) zu einem unbestimmten Zeitpunkt ereignen kann und die durch die Gruppe symbolisch begleitet wird (Beten, Handauflegung).56 Charismatische Einzelgaben, Prophetie, Heilung, Zungenrede bzw. "Sprachengebet" ("Aussprechen des Unaussprechlichen"57) als "außergewöhnliche" Gaben gehören zwar durchaus zum Erfahrungsspektrum, zu den Geistesmanifestierungen, mit denen zu rechnen ist, aber ihre Bedeutung wird relativiert, sie sollen "nicht ungebührlich in den Vordergrund ... rücken"58 gegenüber den ordentlichen Charismen auf der Basis natürlicher Begabungen, die als "Tatcharismen" im Alltag wirksam werden sollen. In dieser starken Ausrichtung auf eine Erneuerung des individuellen und in Kleingruppen gelebten Glaubens und auf die subjektive Erfahrungsebene, in der charismatischen Kritik an volles- und großkirchlichen Objektivationen, Motivations"mischungen" und entscheidungslosen Mitgliedschaften, in einem mehr nach "innen" gerichteten Pathos der Erneuerung bleiben Führungsstrukturen von Institutionen weitgehend unbehelligt, ja die Bewegung kann geradezu als "konservativ" charakterisiert werden: "Im Heiligen Geist gibt es keinen Gegensatz zwischen Tradition und Fortschritt. Im Gegenteil: das tiefste Eingehen in die Quelle wirkt den kühnsten Aufbruch".59 Der neue Schwung greift auf Vergangenheit zurück, das Neue ist Rückbesinnung auf früheres Wirken des eines Geistes. R. Laurentin beobachtet dabei ein verschärftes "Bedürfnis nach starken Institutionen und nach Gehorsam" sowie Äußerungen von "Loyalität und strenger Treue der Charismatiker zu ihren Kirchen... um so mehr, je traditioneller diese Kirchen sind".60 Weitgehend befreit vom Druck zur Bewährung des Außeralltäglichen in der Zeit und dennoch offen für Außeralltägliches durch die Relation zum alltagstranszendierenden Spender, vervielfältigt in eine Vielzahl zu "weckender" Alltagscharismen, erneuernd und bewegend von "innen" her, nicht so sehr durch den traditionellen und legalen Ordnungen entgegentretenden Führer, ja oft geradezu im Rückgriff auf Tradition und Gesetze, verlagert in subjektive und gruppenbezogene Erfahrungsbereiche und damit offen auch für Subjektivismen und Gefahren der Beliebigkeit, legitim durch einen letztmöglichen Legitimationsgrund und gerade darum nicht mehr "hinterfragbar" (allenfalls funktional auf traditionell vorgegebene oder selbstgesteckte Ziele hin überprüfbar) - in all diesen Aspekten erscheint das Charisma der charismatischen Bewegungen nicht als Quelle und Merkmal spezifischer Herrschaftsform, sondern eher als innerhalb von Herrschaftsformen wirkendes dynamisches Prinzip und Korrektiv von Folgen (Nöten) der Veralltägli-
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chung, offen aber mitunter auch für radikalere Rückgriffe auf das "Charisma des Gekreuzigten". Die Bewährung wird zum Alltagsproblem.
Anmerkungen 1 2
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Zeitschrift "Charisma", Nr. 56,1987, S.l. Artikel "Charisma", Abschnitt "Charismatische Bewegung" (H.-D.Reimer), in: Wörterbuch des Christentums, Gütersloh-Zürich 1988, S.19S; vgl. N.Baumert, Charismatische Erneuerung in der katholischen Kirche, in: F.Valentin und A.Schmitt (Hrsg.), Lebendige Kirche, Mainz 1988, S.S9. Vgl. die Beiträge in den "Acts" zur 18. Konferenz der Conférence Internationale de Sociologie des Religions CISR in Louvain 1985, besonders G.Guizzardi, L'événement-charisme et les massmedia (S.23-35); J.Séguy, Charisma in the Modern World (S.51-64); J.Zylberberg, Le charisme en question: Pouvoir et organisation dans la contemporanéité (S.65-75); I.Mörth, Massenmedien und Charisma - Notizen zum Medienereignis Papstbesuch in Österreich, in: Österreichische Zeitschrift für Soziologie 11, 1986, S.137-144. - Für das ausgehende 19. Jahrhundert s. M.N.Ebertz, Herrschaft in der Kirche. Hierarchie, Tradition und Charisma im 19. Jahrhundert, in: K.Gabriel u. F.-X.Kaufmann (Hrsg.), Zur Soziologie des Katholizismus, Mainz 1980, S.108111. M.Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 1956, S.140. Vgl. M.N.Ebertz, Das Charisma des Gekreuzigten, Zur Soziologie der Jesusbewegung, Tübingen 1987, S. 20. Vgl. als neueren Beitrag dazu das Themenheft "Löscht den Geist nicht aus" der Zeitschrift Diakonia 21,1990, Heft 3. Vgl. K.Rahner, Das Dynamische in der Kirche, Freiburg-Basel-Wien 1958, S.38. Zum Wesen der Kirche gehört nach Rahner die soziale Struktur, der diese Struktur "belebende Geist und (weil sie als solche geistbegabte Gemeinschaft geschichtlich sich bezeugen soll) das Erscheinen dieser Geistbegabtheit." Dem Soziologen genügt es, wenn das "Erscheinen" des Geistes, des Außeralltäglichen sozial als solches definiert wird. Das gilt auch für jegliche von da hergeleitete Autorität, ja gerade die Lösung der Anerkennung der Autorität von der ständigen Prüfung ihres realen Legitimationsgrundes macht die Abhängigkeit von ihr so stabil: "Erst die Ersetzbarkeit der Realität durch Vorstellung fesselt den Autoritätsabhängigen permanent" (H.Popitz, Phänomene der Macht, Tübingen 1986, S.30). Vgl. hierzu A.Schütz, Th.Luckmann, Strukturen der Lebenswelt, Bd. 2, Frankfurt/M. 1984, S.139177. Ebd. So ein neuerer Titel zum Thema Esoterik: U.Olvedi, Die neue Lust am Irrationalen, FreiburgBasel-Wien 1988. E.Benz, Beschreibung des Christentums, München 1975, S.122. K.Rahner u. H.Vorgrimler, Kleines theologisches Wörterbuch, Artikel "Charisma", Freiburg-Basel-Wien 1965, S.62. Vgl. E.Benz, a.a.O., S.124f. Der zugleich von K.Rahner mitgenannte Schutz des Charisma vor Amt und Institution bleibt in der Kirche oftmals zurück. Vgl. K.Rahner, a.a.O., S.47. Th.F.O'Dea, Die fünf Dilemmas der Institutionalisierung der Religion, in: F.Fürstenberg (Hrsg.) Religionssoziologie, Neuwied-Berlin 1964, S.207. J.Wach, Religionssoziologie, Tübingen 1951, S.165. Vgl. dazu die knappe Darstellung bei E.Benz, a.a.O. Diese Aufzählung entspricht den Begriffen, die man "merkwürdiger - oder auch bezeichnenderweise" oft zunächst mit dem Institutionsbegriff verbindet: W.Krusche, Die Kirche im Spannungsfeld von Charisma und Institution, in: Evang. Theol. 49,1,1989, S.20. Bischof H.-O.Wölber, zit. bei H.Mühlen, Einführung für den deutschen Sprachraum zu: L.J.Suenens, Gemeinschaft im Geist, Salzburg 1979, S.10.
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20 H.MühIen, a.a.O., S.U. 21 Vgl. M.N.Ebertz, a.a.O., S.35. 22 Vgl. z.B. den Artikel "Charisma" in: X.Léon-Dufour, Wörterbuch zum Neuen Testament, München 1977. 23 H.Schulze-Berndt, Wenn die Kirche Stellung nimmt, Würzburg 1990, S.18. 24 V.Luz, Charisma und Institution in neutestamentlicher Sicht, in: Evang. Theol 49,1989, S.81. 25 Ebd. 26 Ebd. Der Abschnitt bei Luz steht unter der Überschrift "Der Konflikt von Charisma und Institution als neuzeitlich-protestantisches Problem". 27 H. Mühlen, Die Erneuerung des christlichen Glaubens, München 1974, S. 235. 28 Artikel "Charisma", Abschnitt "Grundstruktur der Kirche" (G. Hasenhüttl), in: Wörterbuch des Christentums, a.a.O., S.194. 29 H.Mühlen, Die Erneuerung, a.a.O., S.235; vgl. auch S.178. 30 W.Krusche, a.a.O., S.21-27. 31 Ebd., S.22 32 L.Boff, zit. bei W.Krusche, a.a.O., S.25. 33 Vgl. A.Lorenzer, Das Konzil der Buchhalter, Frankfurt/M. 1981. 34 Vgl. G .Schmied, Kirche oder Sekte?, München-Zürich 1988. 35 Vgl. z.B. H.Frankemölle (Hrsg.), Kirche von unten, München-Mainz 1981; W.Ludin u.a. (Hrsg.), Wir Kirchenträumer, Olten-Freiburg 1987. 36 Vgl. die Vorstellung von 20 Gruppierungen der Bewegung (darunter z.B. "Comunione e Liberazione", Legio Mariae) in: F.Valentin u. A.Schmitt (Hrsg.), a.a.O. 37 Zeitschrift "Charisma" Nr.56,1987, S.l. 38 Vgl. hierzu die breite Diskussion Gemeindekirche vs. Volkskirche im Anschluß an Themenhefte der Zeitschrift Diakonia 1975, S.lll-120; 192-206. 39 Vgl. P.M.Zulehner, Kirche ereignet sich in Gemeinden, in: W.Ludin u.a. (Hrsg.), a.a.O., S.10-19. 40 K.Lehmann, Neuere Geistliche Gemeinschaften und Bewegungen im Leben der Kirche, in: F.Valentin u. A.Schmitt (Hrsg.), a.a.O., S.26f. 41 Ebd. 42 G.Schmied, a.a.O. 43 H.-D.Reimer, Die charismatische Bewegung, in: Pastoraltheologie 77,1988, S.503. 44 Ebd., S.498. 45 Im Oktober 1987 veranstaltete das Bistum Essen ein Treffen von Mitgliedern der geistlichen Gemeinschaften zum Erfahrungsaustausch. Die Selbstdarstellungen der teilnehmenden Gruppierungen sind dokumentiert in: Hinweise (Nachrichten, Berichte, Anregungen des Bistums Essen), Heft 5/6,1989. 46 Vgl. besonders Herder-Korrespondenz 1987, S.411-413. 47 Vgl. H.-J.Venetz, Biblische Rechtfertigung der Basisgemeinden? in: W.Ludin u.a. (Hrsg.), Wir Kirchenträumer, a.a.O., S.160-162. 48 L.Boff, Kirche: Charisma und Macht. Studien zu einer streitbaren Ekklesiologie, Düsseldorf 1985, S.275f. 49 Hinweise, a.a.O., S.4. 50 H.-D.Reimer, a.a.O., S.500. 51 Ebd. 52 Hinweise, a.a.O., S.4. 53 Ebd. 54 Ebd. 55 Ebd. 56 H.Mühlen, Die Erneuerung, a.a.O., S.226f. 57 Ebd., S.245. 58 Ebd., S.237. 59 R.Laurentin, Charismatische Erneuerung: Prophetische Erneuerung oder Neokonservatismus? in: Concilium 17,1981, Heft 1, S.29. 60 Ebd.
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Charisma und neue Religiosität Eine kultursoziologische Studie am Beispiel der "New Age"-Bewegung Gottfried Kiienzlen
6.1 Einleitung: Das "Unbehagen an der Moderne" "Die charismatische Verklärung der 'Vernunft' (die ihren charakteristischen Ausdruck in ihrer Apotheose durch Robespierre fand) ist die letzte Form, welche das Charisma auf seinem schicksalsreichen Wege überhaupt angenommen hat."1 In diesem Satz Max Webers ist auf einen der entscheidenden geistigen Antriebe der säkularen Moderne verwiesen, der ihre Selbstgewißheit begründete und ihre Entwicklung wesentlich bestimmte: der säkulare Glaube an die Macht der autonomen Vernunft. Dieser Glaube erst hat die modernitätsbestimmende Fortschrittsgewißheit hervorgebracht, die sich eines fortdauernden und stetig entfaltenden Fortschritts sicher war, der die Menschheit zu immer glücklicheren Ufern führen, und dem es, in universaler Realisierung schließlich gelingen sollte, die Welt den wahren Zwecken des Menschen gemäß einzurichten. So gewiß die "charismatische Verklärung der Vernunft" sich in verschiedenen historischen kulturellen und nationalen Kontexten unterschiedlich ausformte, so gewiß sie selbst in ihren verschiedenen Stufen und Stadien einem Prozeß der "Veralltäglichung" unterworfen war, entscheidend bleibt die Einsicht, daß Genese und Verlaufsgeschichte der säkularen Moderne nicht zu verstehen sind ohne den säkularen Glauben an die Kraft der autonomen Vernunft und die in ihm begründeten Heilsversprechen. So hat die okzidentale Moderne ihre eigene "Glaubensgeschichte"2 und läßt sich deshalb auch nicht aus bloßen Modernisierungstheoremen erklären, in denen etwa die objektive Gesetzmäßigkeit anonymer sozialer Differenzierungsprozesse behauptet wird. Diese Glaubensgeschichte der Moderne läßt sich nun genauer fassen als Glaube an die Geschichte als säkular-diesseitiger Heilsgeschichte, als Glaube an die Herstellbarkeit menschlichen Glücks durch politisches Handeln und als Vertrauen auf die Wissenschaft als säkularer Glaubensmacht.3 Es waren dementsprechend die neuzeitlichen politisch-messianischen Ideologien, der Szientismus als Weltbild, die voranschreitende, alle Daseinsbereiche umfassende Säkularisierung verstanden als Prozeß zunehmender Diesseitsorientierung -, die realgeschichtlich die entscheidenden Gestaltungsmächte der modernen okzidentalen Welt benennen. Zur Signatur der geistigen Lage der Gegenwart gehört es nun, daß der Siegeszug dieser Gestaltungsmächte der säkularen Glaubensgeschichte gebrochen scheint. Wie immer man die gegenwärtige Debatte um die "Postmoderne", in der wir nach Auskunft vieler "postmoderner" Theoretiker schon begonnen haben zu
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leben, ihrem theoretischen Gehalt nach beurteilt, sie ist allein schon ein Indikator für eine veränderte geistig-intellektuelle Lage.4 Doch findet sich die Diagnose von der Krise der modernen Selbstgewißheit und ihrem Geltungsschwund auch in den Deutungsversuchen anderer, ganz unterschiedlicher kulturtheoretischer Konzepte und Traditionen. Eben dies gibt aber der Rede von einer "Krise der Moderne", deren säkulare Sinntraditionen brüchig und fragil geworden seien, ihr besonderes Gewicht: sie findet sich quer durch ganz unterschiedliche Denkschulen und Traditionsströme.5 Nun ist die Rede von der "Krise der Moderne", gar von derem "Ende" nicht neu. Schon immer fanden die säkularen Daseinsauffassungen und Weltdeutungen ihre Gegenstimmen und Gegenbewegungen. Insbesondere in der Zeit um die Jahrhundertwende und in den Jahrzehnten danach wuchsen Kritik und Zweifel an der "modernen Kultur". Beispielhaft dafür stehen im Bereich der Kultur- und Sozialgeschichte die "Deutsche Jugendbewegung" in ihren vielfältigen Ausformungen oder auch neuere Entwicklungen in Kunst und Literatur wie etwa der Expressionismus. Im Feld der Wissenschaft ist es unter anderen Max Weber gewesen, der jeder immanent-diesseitigen Fortschrittsgewißheit den Abschied gegeben hat. Sein Werk ist geradezu von der Grundfrage bestimmt: Wie ist die Lage und das Schicksal einer Kultur zu beschreiben, aus der der "Geist", der sie erbaute, entwichen ist? Seine eigene Gegenwart hat Weber mit dem bekannten Bild vom "stahlharten Gehäuse" charakterisiert, in das der moderne Mensche unentrinnbar gebannt sei, ohne doch von der sinnstiftenden Rationalität, die diese Gehäuse schuf, noch etwas zu wissen.6 Hinzuweisen wäre hier auch noch auf die Geschichte der Philosophie, vor allem die der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die - gerade im deutschen Kulturraum - in wesentlichen Strömungen von zunehmender Distanz, ja Abkehr von der Moderne und dem sie begründenden Vernunftdenken geprägt ist. Solche Distanz und Abkehr von den modernen Entwicklungen und ihren spezifischen Daseinsverständnissen, insbesondere ihrer Fortschrittsgewißheit, blieb allerdings - bezogen auf die Gesamtheit der westlichen Kulturentwicklung - doch weithin beschränkt auf eine wissenschafts- und insbesondere philosophieimmanente Kulturkritik und auf bestimmte Strömungen in Kunst und Literatur. Die Realgeschichte wurde auch weiterhin im wesentlichen bestimmt von den säkularen Ideen und Glaubensmächten. In der unmittelbaren Gegenwart hat nun die Rede von der "Krise der Moderne" und dem "Ende der säkularen Sinntraditionen" eine neue Dimension gewonnen, die sich von allen früheren Fassungen abhebt. Denn es scheint, als ob gegenwärtig, über die Orientierungsbedürfnisse einer Intellektuellenschicht hinaus, das Unbehagen und der Zweifel an der Moderne und den sie tragenden Gewißheiten Eingang gefunden haben in das Lebensgefühl einer breiten Öffentlichkeit. War einst der Kollektivsingular "Fortschritt" das offene oder geheime Dogma des Modernitätsbewußtseins, so ist heute der Schwund, womöglich sogar der Zusammenbruch des Glaubens an einen "vernunftgeleiteten Fortschritt" Kennzeichen alltagskultureller Erfahrung. Die alte Ahnung, daß das Fortschreiten der technischen Zi-
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vilisation in neue Abgründe universaler Gefahren führen könnte, ist heute zur Furcht, ja verbreitet schon zur Gewißheit geworden. Insbesondere durch das wachsende Bewußtsein der ökologischen Gefährdungen der Moderne wird das Zerrinnen der Fortschrittsgewißheit, weit über eine bloß intellektuelle Kulturkritik hinaus, zum Gegenstand alltagskultureller Erfahrung und Lebensgefühls. Dieser Befund läßt sich mit Robert Spaemann prägnant zusammenfassen: "Das ökologische Bewußtsein läßt erstmals die Realisierbarkeit des Projektes der Moderne, des Projekts progressiver Naturbeherrschung durch despotische Vergegenständlichung der Natur in sich selbst fraglich werden. Der Preis des Fortschritts wird erstmals mit den naturalistischen Parametern des Fortschritts selbst kommensurabel. Die Ausdehnung menschlicher Herrschaft über die Natur hat uns an deren Grenze geführt, Grenzen, von denen wir annehmen müssen, daß sie definitiv sind. Der Eindruck verstärkt sich, daß wir hinsichtlich des materiellen Reichtums der Welt längst begonnen haben, vom Kapital statt von den Zinsen zu leben. Dieses Gefühl löst den traditionellen Zusammenhang des Fortschrittsgedankens mit so etwas wie Hoffnung auf.... (So) ist der Gedanke des Fortschritts im Singular tot, der Gedanke einer Entwicklung der Welt als Ganzes zum schlechthin Höheren und Besseren."7 Für ein gegenwärtig weit verbreitetes Lebensgefühl ist der Glaube an die Macht der Vernunft brüchig und kraftlos geworden; jener Glaube, der, bei allen Prozessen der Veralltäglichung und Trivialisierung, die er seit der "charismatischen Verklärung der Vernunft" durchlief, die Grundlage aller Orientierung stiftenden säkularen Sinnwelten war.
6.2 Neue religiöse Bewegungen: das Beispiel "New Age" Vor dem Hintergrund solcher Kulturlagen sind nach unserer Deutung die gegenwärtigen "neuen religiösen Bewegungen" zu verstehen. So verschieden in ihrer Sozialgestalt, so unterschiedlich in den religiösen Traditionen, an die sie anknüpfen, immer verheißen sie ihren Anhängern neue Orientierungssicherheit und Lebensgewißheit und erreichen mit ihren Botschaften vor allem jene, die in ihrem Lebenshorizont durch die Unübersichtlichkeit gegenwärtiger Zivilisationsdynamik und fragil gewordener Sinntraditionen einen besonderen Orientierungsbedarf entwickeln. Dies ließe sich zum einen am Beispiel der in den vergangenen Jahren publizistisch in den Mittelpunkt gerückten sogenannten "Jugendreligionen"8 zeigen, die sich als "rettende Arche" inmitten einer als anomisch erlebten Gegenwart anbieten. Dies ließe sich aber auch am Beispiel der "fundamentalistischen" religiösen oder religiös-politischen Bewegungen in beiden christlichen Konfessionen oder im Islam illustrieren9 für die der Rückgriff auf vormoderne, insbesondere voraufklärerische Traditionen charakteristisch ist. Diesen wird gegenüber den modernen Sinnpotentialen eine "stärkere Glaubenskraft" zugesprochen, die allein die Überwindung der "krisenhaften" Gegenwart garantiert. Ich will im folgenden die ge-
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nauere Erörterung dieser religiösen Gruppen und Bewegungen beiseite lassen und mich allein auf jene religiös-esoterischen Strömungen konzentrieren, die seit Jahren - und wie es scheint mit anhaltender Anziehungskraft und Verbreitung - zu den vitalsten Erscheinungen im Spektrum des neu erwachten Interesses an Religiosität und Spiritualität gehören. Wie weit die öffentliche Repräsentanz und Akzeptanz esoterischer Weltdeutungsangebote schon vorangeschritten ist, zeigt allein der Blick in die Verlagsprogramme, Zeitungsannoncen, Buchhandlungen oder auch Fernsehprogramme. Der Markt der religiös-esoterischen Möglichkeiten ist unübersehbar geworden 10 : Symposien und Seminare mit esoterischen "Bewußtseinserweiterungsprogrammen", workshops und Therapiekurse sogenannter "transpersonaler Psychologie", ein sich esoterisch und mythologisch begründender Feminismus, magisch-okkulte Praktiken wie Feuerlauf oder indianische Schwitzhütten und vor allem der Glaube an eine "Wendezeit" hin zum "neuen Zeitalter" des "Wassermanns". Dies alles bildet ein Syndrom, das bekannt geworden ist als "New Age"-Bewegung. Ich werde im folgenden im knappen Zugriff eine Beschreibung der Formen und Inhalte der New Age-Bewegung versuchen, um dann der genaueren Frage nachzugehen, ob und in welchem Verhältnis diese Bewegung "charismatische Elemente" aufweist, ob und wie sie sich im Lichte des Weberschen Charisma-Konzeptes deuten und verstehen läßt. 11 Zunächst gilt es auch hier vorweg festzuhalten, daß das New Age-Denken ein Orientierungsgeflecht darstellt, das seinen Anhängern sinnhafte Antworten auf das eingangs beschriebene "Unbehagen an der Moderne" anbietet. Es macht ein Großteil des Pathos' der New Age-Botschaft aus, daß sie beansprucht, den sicheren Weg aus der "Krise" der tradierten Sinnbestände der Moderne zu weisen. Des weiteren ist vorweg festzustellen, daß eine in sich schlüssige Beschreibung dieser Bewegung nur schwer zu leisten ist. Schon von einer "Bewegung" im soziologischen Sinne zu sprechen, ist nicht ohne Probleme. Wir haben es nämlich hier, neben einigen organisierten Gruppen, vor allem mit diffusen, oft ganz vagen Tendenzen eines gegenwärtig kulturell weit verbreitenen Lebensgefühls zu tun. So ist die Sozialgestalt dieses "New Age"-Syndroms amorph und vagierend, in seinen Inhalten oft diffus und schwer fassbar, weil synkretistisch und eklektizistisch die religiösen Traditionen nahezu des ganzen Erdballes beerbend. Dennoch läßt es sich - in systematischem Zugriff - in einigen wesentlichen Merkmalen beschreiben, die sich als gemeinsames Gut quer durch die verschiedenen Tendenzen und Gruppen finden. 1. Die "New Age"-Bewegung versteht sich grundsätzlich als anti-institutionell. Die Institutionen, die Religion bisher verwaltet, bewahrt und tradiert haben und dies auch weiterhin zu tun beanspruchen, die Kirchen, erscheinen hier als religiösüberlebt, als versteinerte Institutionen, die von der Schubkraft des religiös Neuen überwunden und somit religiös belanglos werden. Frei vagierend ist diese Bewegung eben auch darin, daß sie von einem prinzipiellen Subjektivismus beherrscht wird, der - seinem eigenen Verständnis entsprechend - keiner institutionellen Si-
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cherung mehr bedarf. Die Entinstitutionalisierung der religiösen Erfahrung bezeichnet den Kern dieser Bewegung einer gegenwärtig frei flottierenden Religiosität. 2. Die Inhalte des "New Age"-Denkens lassen sich nun in folgenden Punkten zusammenfassen: a) Basis des "New Age"-Denkens ist der Glaube an das "kosmische Bewußtsein". Dabei ist für ein genaues Verständnis dieses Denkens entscheidend, daß hier "Bewußtsein" transindividuell gesehen wird, also kein "individuelles Bewußtsein" meint, dieses vielmehr als Akzidens eines allgemeineren, eines "kosmischen Bewußtseins" interpretiert. In der Annahme eines solch übergreifenden "kosmischen Bewußtseins", so der Glaube des New Age, soll auch der "alte" Gegensatz von "Natur" und "Geist", von "Idee" und "Struktur", von "Subjekt" und "Objekt" überwunden sein. Und auch die "Göttlichkeit des Menschen" wird in der "New Age"Spiritualität damit begründet, daß der Mensch als Akzidens dieses "kosmischen Bewußtseins" gedeutet wird. b) Folgerichtig ist das leitende religiös-spirituelle Motiv und Ziel des New AgeDenkens die "Transformation des Ich". Die Überwindung des "individuellen Ich", die "Transzendierung des Ego", die Vereinigung mit dem allgemeinen "kosmischen Bewußtsein" sind die zentralen Heilsziele des New Age-Syndroms. Deshalb läßt sich sagen, daß das New Age-Denken von einer prinzipiell holistischen Weltsicht bestimmt ist, in der Mensch, Natur und Kosmos ineinander verwoben dargestellt werden. Nur der Verblendungszwang des westlichen Subjekt-Objekt-Denkens, so der New Age-Glaube, habe uns bisher vorgegaukelt, dies wären getrennte Seinsbereiche. c) Der Mensch, als Teil des "Göttlichen", kann sich also seines "göttlich-kosmischen" Ursprungs auf dem Weg der "Überwindung des Ich" versichern. Dazu stellt ihm die New Age-Bewegung ein spezifisches esoterisches Wissen und bestimmte okkulte Praktiken zur Verfügung. Zumeist genau definierte spirituelle Techniken und Methoden der Bewußtseinserweiterung sollen den Menschen das "Göttliche" spüren lassen und machen es ihm verfügbar. d) Je mehr Menschen nun diesen Weg der Erleuchtung einschlagen, je mehr Menschen nun die Transformation ihres Ich hin zum "kosmischen Bewußtsein" gelingt, desto schneller und sicherer, so der New Age-Glaube, kann die "neue Welt" aufgebaut werden. An dieser Stelle ist der zentrale Kern des New Age-Glaubens erreicht. Er besteht in letzter Konsequenz im Glauben an die Evolution, an die Evolution (Transformation) des menschlichen Bewußtseins. Alles was ist, sei eingebunden in die hinter den Dingen stehende "Selbstorganisationsdynamik des gesamten Kosmos".12 Der so konstruierte, kosmische und unaufhaltsame Prozeß der Evolution durchdringt und bestimmt nun, so der "New Age"-Glaube, nicht nur das gesamte Naturgeschehen, sondern auch das menschliche Handeln und die menschliche Geschichte: "In unseren Händen ruht die evolutionäre Zukunft. Ob wir wollen oder nicht, wir sind jetzt die Sachverwalter des Evolutionsprozesses auf Erden."13
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Es bedurfte dieser kursorischen Beschreibung wesentlicher Merkmale der "New Age"-Bewegung und des in ihr wirksamen Denkens, um die nun folgenden Überlegungen nachzuvollziehen.
6.3 "New Age" - eine "charismatische Bewegung"? "Das Charisma ist die große revolutionäre Macht in traditional gebundenen Epochen. Zum Unterschied von der ebenfalls revolutionierenden Macht der 'ratio',..., kann Charisma eine Umformung von innen her sein, die, aus Not oder Begeisterung geboren, eine Wandlung der zentralen Gesinnungs- und Tatenrichtungen unter völliger Neuorientierung aller Einstellungen zu allen einzelnen Lebensformen und zur 'Welt' überhaupt bedeutet."14 In diesen Sätzen Max Webers über die Bedeutung des Charisma sind wesentliche Merkmale des Selbstanspruchs und des Selbstverständnisses der Sprecher und vieler Anhänger der "New Age"-Bewegung enthalten, geht es ihnen doch in der Tat vor allem um eine "Wandlung der zentralen Gesinnungs- und Tatenrichtung ... von innen her". Dieser Selbstanspruch soll im folgenden näher untersucht werden, wobei noch einmal festgehalten sei, daß es zunächst nur um die Wahrnehmung des Selbstverständnisses und des Selbstanspruches geht und die kritisch-objektivierende Außenbetrachtung vorerst zurückgestellt bleibt. Studiert man die Selbstzeugnisse, Schriften und Journale der New Age-Bewegungen, so stößt man durchweg auf die Erfahrung der Gegenwart als "Krise". Diese kann sich äußern als rein intellektuelle Diagnose, wie wir sie etwa bei Fritjof Capra oder Ken Wilber finden, schafft sich aber auch Ausdruck in der Beschreibung persönlicher Lebenskrisen, aus denen man durch Hinwendung, ja "Bekehrung" zum New Age-Denken, Auswege sucht und findet. Beschrieben wird diese Hinwendung in der Regel als "innerer Weg", als eine "Umformung von innen", die aus der "Not" der "krisenhaften Gegenwart" erwächst. Vor allem aber geht es dem New Age-Denken um die Überwindung der "alten Welt", um deren Transformation hin zu dem "neuen Äon", um die Verabschiedung der "alten Mächte" der technischwissenschaftlichen Zivilisation des Okzidents. Zentraler Ausdruck für diesen Selbstanspruch ist das Wort vom "neuen Paradigma", das im Zuge eines "Paradigmenwechsels" das "alte Paradigma", in dem das westlich-neuzeitliche Denken befangen sei, ablöst. Das "alte Paradigma" verkörpert sich für Fritjof Capra im "mechanistisch-cartesianischen, newtonschen Denken", welches auf den von Descartes und Newton geschaffenen modernen Denkvoraussetzungen und deren Wirkungsgeschichte beruhe. Dieses Paradigma, sagt Capra, "das jetzt abgelöst wird", hat unsere Kultur "mehrere hunderte Jahre lang beherrscht. Während dieser Zeit hat es unsere moderne westliche Gesellschaft geformt und einen bemerkenswerten Einfluß auf die übrige Welt ausgeübt. Dieses Paradigma umfaßt eine große Zahl von Ideen und Wertvorstellungen, die mit den verschiedenen Strömungen der westlichen Kultur in Verbindung gebracht wurden, wie der wissenschaftlichen
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Revolution, der Aufklärung und der industriellen Revolution. ... In den letzten Jahrzehnten hat sich gezeigt, daß alle diese Ideen und Werte äußerst begrenzt sind und einer radikalen Revision bedürfen."15 Gegen diese "alten" Ideen und Werte will Capra eine "neues", "ganzheitliches" Paradigma, eine "neue" Sicht der Wirklichkeit setzen. "Unser Denken", sagt er, "unsere Wahrnehmungsweise und unsere Wertvorstellungen müssen sich grundlegend wandeln."16 Aus dieser Perspektive läßt sich der Selbstanspruch des New Age-Denkens, gegenüber den herkömmlichen traditionalen westlichen Weltverständnissen und Daseinsauslegungen in eine grundlegend "neue Sicht der Wirklichkeit" einzutreten, durchaus als "charismatisch" bezeichnen. Denn diese "neue Sicht" versteht sich, wie gerade die zuletzt zitierten Sätze zeigen, im Weberschen Sinne als "Charisma", als "Wandlung der zentralen Gesinnungs- und Tatenrichtung unter völliger Neuorientierung aller Einstellungen." Spätestens an dieser Stelle kommt nun auch der politische Anspruch wesentlicher Strömungen der "New Age"-Bewegung ins Spiel. Denn jene "Wandlung" richtet sich auf die politische Transformation der "alten" hin zur "neuen" Welt.17 Zu welchen Konsequenzen ein solches von "charismatisch-revolutionären" Antrieben bestimmtes Denken führen kann, läßt sich beispielhaft bei Rudolf Bahro zeigen.18 Die Errungenschaften liberaler Demokratie sind als Überbleibsel des destruktiv gewordenen "Alten" zu überwinden, um, folgt man seiner "Logik der Rettung", die "Neue Ordnung", wenn nötig auch "öko-diktatorisch", durchzusetzen. Dabei setzt Bahro ganz selbstverständlich voraus, daß diese "Neue Ordnung", diese "Neue Weltkultur" nur durch "erneuerte Individuen" herbeigeführt werden könne. Nur durch eine "geistige Neugeburt" ließe sich unsere "selbstmörderisch gewordene Kultur" überwinden. Auch für Bahro geht es also um die "Transformation" hin zu einem "Neuen Menschen", der aber zudem, angesichts drohender Apokalypse, zum "revolutionären Subjekt", zum Träger der notwendigen Umwälzung der Gesellschaft emporsteigt. Dieser "Neue Mensch" bilde sich durch "Transformation, eine Tiefenverwandlung des Bewußtseins, eine neue Integration der menschlichen Wesenskräfte." Es geht für Bahro um radikale Umkehr, um für die geschichtliche Stunde des Wandels bereit zu sein: "Laßt uns die menschliche Substanz assoziieren, reinigen, präzisieren, mit der wir auch zur Ausführung jenes Programms taugen würden, wenn die Stunde schlägt."19 In solchen Sätzen, die sich in ähnlicher Weise in vielen weiteren Aussagen quer durch das New Age-Spektrum finden, erkennen wir ein weiteres Merkmal des Weberschen Charisma-Konzeptes. Für Weber zwingt das Charisma zur inneren Umkehr, zur Abkehr von allem bisher Gültigen; im Ergebnis "erzingt es die innere Unterwerfung unter das noch nie Dagewesene, absolut Einzigartige, deshalb Göttliche".20 Denn das Charisma übt im Gegensatz zur "ratio" und der auf ihr ruhenden Bürokratie seine "Macht von innen, von einer zentralen 'Metanoia' der Gesinnung der Beherrschten her aus."21 Die "Metanoia der Gesinnung" als Ausdruck eines radikalen Bewußtseinswandels ist nun auch ein durchgehender Topos in der New Age-Terminologie und -Lebenswelt. Dabei ist es nicht nur die Erfahrung äußerer und innerer "Krisen", die zur
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Umkehr führt, es ist vielmehr die Einsicht in die "kosmischen Abläufe", zu der die New Age-Orientierung verhilft. Der in der New Age-Bewegung in astrologischer Perspektive beschriebene Übergang vom "Fische-" zum "Wassermann-Zeitalter" bedeutet letztendlich, daß der in der New Age-Orientierung Lebende Einsicht gewinnt in die "wahren" Bewegungskräfte der Evolution, ja daß er auf dem Wege der Bewußtseinstransformation selbst Teil des göttlichen Kosmos' wird. Gegenüber den Apologeten der "Alten Welt" weiß sich der "New Age"-Gläubige im Besitz der neuen, dem Verblendungszwang des alten Denkens enthobenen Wirklichkeit. Die allgemeine und zugleich die einzelnen Möglichkeiten und Erscheinungsformen summierende Beschreibung des Charisma bei Max Weber trifft insofern den charismatischen Selbstanspruch der New Age-Bewegung: "Das Charisma ... ruht in seiner Macht auf Offenbarungs- und Heroenglauben, auf der emotionalen Überzeugung von der Wichtigkeit und dem Wert einer Manifestation religiöser, ethischer, künstlerischer, wissenschaftlicher, politischer oder welcher Art auch immer. ... Dieser Glaube revolutioniert 'von innen heraus' die Menschen und sucht Dinge und Ordnungen nach seinem revolutionären Wollen zu gestalten."22 Dazu treten weitere Strukturmerkmale, nach denen sich die New Age-Bewegung in das Webersche Verständnis einer charismatischen Bewegung zu fügen scheint. Wie schon vermerkt ist die äußere Sozialgestalt dieser Bewegung durch einen geringen Organisationsgrad charakterisiert, ist diffus und in ihren sozialen Formungen labil. Der labile Charakter charismatischer Bewegungen, der "je reiner sie ihren Charakter bewahrt, desto weniger als eine 'Organisation' im gewöhnlichen Sinne einer Ordnung von Menschen und Dingen nach dem Prinzip von Zweck und Mittel erfaßt werden kann", bedeutet freilich, Weber weiter folgend, "nicht etwa einen Zustand amorpher Strukturlosigkeit, sondern ist eine ausgeprägte soziale Strukturform mit persönlichen Organen und einem der Mission des Charismaträgers angepaßten Apparat ,.."23 Es sprengte den Rahmen dieser Arbeit, den genaueren sozialen Strukturformen, in denen sich die New Age-Bewegung darstellt, nachzugehen und etwa das Geflecht der Symposien, Tagungen und Kongresse, der Journale, Buchpublikationen, Musikangebote und einschlägiger Rundfunk· und Fernsehangebote zu untersuchen. Doch ist auch hier zumindest auf den Selbstanspruch der Bewegung zu verweisen, die sich als die Gemeinschaft der "sanften Verschwörer" weiß; eine Bewegung, die sich zwar als anti-institutionell, nicht organisiert und insofern "labil" versteht, aber doch beansprucht, ein weltumspannendes "Netzwerk" zu sein. Innerhalb dieses Netzwerkes finden sich dann auch interne Differenzierungen, so zum Beispiel eine "charismatische Aristokratie", die diejenigen umfaßt, die auf dem Pfad der Erleuchtung schon weit vorangeschritten sind. Allerdings muß sofort hinzugefügt werden, daß es ein generelles Merkmal der New Age-Identität ist, zu der die Welt transzendierenden Elite zu gehören, sich selbst als auserwähltes Mitglied der kulturellen Avantgarde, die schon in den "neuen Äon" hineinlebt, zu wissen. Ohne die skizzierten Befunde noch einmal eigens zusammenzufassen, läßt sich folgendes festhalten: Im Selbstanspruch und im Selbstverständnis der New Age-
Charisma und neue Religiosität
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Bewegung finden sich, im Sinne des Weberschen Charisma-Konzeptes, vielfache Merkmale einer charismatischen Bewegung. Ganz anders stellt sich das Bild in der diagnostischen Außenbetrachtung dar. Die kritische Analyse, die aus der Eigenwahrnehmung der New Age-Bewegung heraustritt, zeigt, daß sie eine "charismatische" Überwindung der "alten Welt" und den Aufbruch hin zu einer "neuen" nicht leisten kann. Sie bleibt vielmehr in vielen ihrer Gehalte und Antriebe dieser "alten Welt" und damit der Glaubensgeschichte der Moderne verhaftet. Die Annahme etwa, Welt und Mensch seien in eine stetig voranschreitende Evolutionsgeschichte eingebunden, fügt sich, bei allen Unterschieden in den weltanschaulichen Inhalten, widerspruchslos in die säkulare Fortschrittsgewißheit ein. So ist zum Beispiel die Vorstellung eines sozusagen "objektiven", in der "Selbstorganisationsdynamik des gesamten Kosmos'" begründeten Fortschritts von den bekannten modernen Fortschrittsannahmen nicht weit entfernt, ebenso wie der davon abgeleitete Glaube, daß der Mensch, durch Entwicklung des "richtigen Bewußtseins" in Einklang mit dem als "Weltgeist" gedachten Fortschrittsgang kommend, sozusagen evolutiv notwendig zu einem "Neu-Sein" seiner selbst gelange. Die säkulare Eschatologie der okzidentalen Moderne setzt sich in der "New Age"Bewegung, eingebunden in ein holistisches Raum-Zeit-Verständnis ungebrochen fort, nunmehr verschlüsselt in der Botschaft vom kommenden "Solar-Zeitalter". Dazu tritt der Glaube an die Wissenschaft, dem die "New Age"-Bewegung durchweg verhaftet ist. Denn es ist die Wissenschaft, die in ihrer fortgeschrittensten Erkenntnisstufe, so jedenfalls der Glaube der New Age-Vertreter, den Weg zur "Neuen Welt" und zum "Neuen Menschen" zuverlässig weist. Wenn auch die aufklärerische Religionskritik, nach der sich im wissenschaftlichen Fortschrittsgang die Religion mehr und mehr selbst aufhebe, für die New Age-Bewegung kein Thema mehr ist, so sind es doch auch hier die Fortschritte der Wissenschaft, die notwendig zu einer neuen Synthese von, vor allem, östlicher Spiritualität und westlicher Wissenschaft drängen. Für Capra zum Beispiel ist es eine unumgängliche Tatsache, daß die Ergebnisse der Quantenphysik dazu zwingen, "das Universum als in der gleichen Weise zu sehen, in der östliche Mystiker die Welt erfahren haben, und einige von ihnen haben ihre Erfahrungen in fast den gleichen Worten ausgedrückt, die Atomphysiker benutzen."24 Für Capra ist es die moderne Wissenschaft, die uns lehre, "gleich dem östlichen Mystiker jetzt die Welt als ein System untrennbarer, einander beeinflußender, sich ständig bewegender Komponenten und den Menschen als einen wesentlichen Bestandteil dieses Systems anzusehen."25 So erfährt der moderne Wissenschaftsglaube im New Age-Denken seine Fortsetzung, ja in der These, daß nun die Wissenschaft in eine religiöse Dimension führe, sogar in gewisser Weise seine Überhöhung. In gleicher Weise findet der die Moderne bestimmende säkulare Gedanke der Herstellbarkeit der Verhältnisse im "New Age"-Denken seine Fortsetzung. Die charismatische Suche nach "Außeralltäglichkeit" wird hier auf die Frage einer spirituellen Technologe reduziert. Die von manchen Beobachtern der "New Age"-Szene verwundert und ratlos vermerkte Tatsache, daß zur Initiation ins New Age-Denken mitunter der Besuch eines
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Gottfried Kiienzlen
zweitägigen workshops genügt, liegt ganz in der Logik der hier vorherrschenden Vorstellungswelt: auch spirituelle Erfahrung ist "machbar". Es sind eben schnell und leicht zu erlernende Bewußtseinstechnologien, durch die der New AgeGläubige, sein "Ich entgrenzend", in die "neue Wirklichkeit" zu gelangen hofft. Spirituell-religiöse Erfahrung gleicht hier einer spirituellen software, die immer wieder abrufbar ist. Damit hängt auch zusammen, daß es im New Age-Denken gerade nicht um den charismatischen Bruch mit dem "Alten" und um den unumkehrbaren Sprung in das "Neue" geht. Vielmehr steht im Mittelpunkt der Vorstellungswelt, sich in der bisherigen inneren wie äußeren Lebenswelt "besser zu fühlen", ihren Anforderungen durch ein entsprechendes Bewußtseinstraining, das einen in Kontakt mit den "kosmischen Kräften" bringt, besser standzuhalten. Dies belegen etwa die stetig zunehmenden, aus dem Geist des "New Age" gestalteten Schulungen für Manager. Hier wie in der gesamten Szene wird religiöse Erfahrung zu einer schnell erwerbbaren Handelsware, ein Befund, der Max Webers Satz vom Charisma als "einer prinzipiell außeralltäglichen und deshalb notwendig außerwirtschaftlichen Macht"26 geradezu entgegensteht. Im "New Age" existiert gerade keine radikale "Metanoia", keine Umkehr von Innen, die Weber als Voraussetzung eines charismatischen Aufbruchs nennt. Kein verpflichtendes "Folge-mir-nach" ruft aus den alten Bindungen heraus. Weitere Hinweise und Bemerkungen beiseite lassend, heißt das Ergebnis: Die New Age-Bewegung verleiht einem gegenwärtigen "Unbehagen an der Moderne" und den Zweifeln an ihren säkularen Gewißheiten zwar Stimme, verbleibt aber doch vielfach im Banne der "alten Welt". Daß eine solche Bewegung in unserer Gegenwart eine kulturelle Chance hat, hängt damit zusammen, daß sie eben gerade nicht wirklich "charismatisch" ist, daß sie zwar im Lebensführungshorizont ihrer Anhänger Antwort weiß auf die geistig-kulturelle "Krisenlagen", daß sie aber in ihrem Orientierungsangebot ganz im Horizont der überlieferten säkularen Sinntraditionen steht.27
6.4 Schlußbemerkungen Weil das Charisma "Regel und Tradition" sprengt und alle tradierten "Heiligkeitsbegriffe" umstülpt, ist es, so sagt Max Weber, "die spezifisch 'schöpferische' revolutionäre Macht der Geschichte."28 Vor dem Hintergrund dieses Weberschen Verständnisses des Charisma läßt sich eindeutig feststellen, daß die neueren religiösen Strömungen, wie wir dies am Beispiel des "New Age" gezeigt haben, keine geschichtsbestimmenden "revolutionäre" Bewegungen sind. Welche geistigen Kräfte, Ideen und Weltbilder in Zukunft geschichtsbestimmend sein werden, ist heute, angesichts der Gleichzeitigkeit unterschiedlichster pluraler Daseinsorientierungen und der "globalen Kopräsenz aller Kulturen"29 offen. Auch heute noch gelten Max Webers am Schluß der "Protestantischen Ethik" formulierten Alternativen: "Mächtige Wiedergeburt alter Gedanken und Ideale" oder das Charisma wirklich "neuer
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Propheten" oder, w e n n nichts von alledem, "mechanisierte Versteinerung". Immerhin läßt sich mit der Vermutung schließen: D i e Folgelasten der Zivilisationsdynamik moderner Industriegesellschaften und der Verlust der überlieferten Sinntraditionen und Kulturbestände werden im subjektiven Erlebnishorizont, i m Lebensgefühl des einzelnen sich zunehmend als Probleme der Lebensführung niederschlagen. Z u rechnen ist - als eine der Möglichkeiten - mit e i n e m dramatisch steigenden Orientierungsbedarf, mit einer angestrengten Suche nach Möglichkeiten der inneren Lebensbewältigung. Worauf sich diese Suche künftig richten wird, mit welchen Inhalten und Sinnstiftern sie sich verbinden wird, w e l c h e politischen und religiös-weltanschaulichen Programme es sein werden, die unsere Kultur bestimmen werden, bleibt unserem in die Gegenwart gebannten Blick verborgen.
Anmerkungen 1 2
Weber,M.: Wirtschaft und Gesellschaft, 5Aufl., Tübingen 1976, S.726. Tenbrock,F.: Die kulturellen Grundlagen der Gesellschaft. Der Fall der Moderne, Opladen 1989, S.126ff. 3 Vgl. dazu genauer: Küenzlen,G.: "Der neue Mensch. Eine Untersuchung zur säkularen Religionsgeschichte der Moderne" (Habil.-Schrift), München 1993 (erscheint Herbst 1993). Ferner: Küenzlen,G.: "Die säkulare Religionsgeschichte der Moderne", in: Synthesis Philosophica, 4/1989, S.45-66 (Zagreb). 4 Einen Überblick über die wichtigsten Texte findet sich bei: Welsch,W.(Hrsg.): Wege aus der Moderne: Schlüsseltexte der Postmodernediskussion, Weinheim 1988. 5 So spricht Jürgen Habermas von der "krisenhaften Lage" des "Projektes der Moderne", dessen "Sinnressourcen" immer knapper würden (Habermas^.: "Die Moderne - ein unvollendetes Projekt", in: Welsch 1988), so sieht Robert Spaemann die Modernität "ihrem Ende zugehen" (Spaemann,R.: "Ende der Modernität?", in: Koslowski,P./Spaemann,R./Löw,R.(Hrsg.): Moderne oder Postmoderne? Zur Signatur des gegenwärtigen Zeitalters, Weinheim 1986, S.32) und so geht Günther Rohrmoser von der "Erosion" der Glaubensbestände der Moderne aus (Rohrmoser,G.: Religion und Politik in der Krise der Moderne, Graz/Wien/Köln 1989, S.12). 6 Webers Freiburger Antrittsrede von 1895 zeigt, wie fraglich ihm schon früh die moderne säkulare Fortschrittsgewißheit geworden ist. 7 Spaemann 1986, S.31. 8 Einen Überblick über die zahlreich erschienene Literatur der letzten Jahre bietet: Hummel,R.: Neue religiöse Bewegungen (Literaturbericht), in: Verkündigung und Forschung, 32, 1987, Heft 1. 9 Vgl. Riesebrodt.M.: Fundamentalismus als patriachalische Protestbewegung, Tübingen 1990. 10 Nach wie vor fehlt eine überzeugende empirische Studie, die auch nur die äußere Verbreitung der gegenwärtigen esoterischen Orientierungen untersucht. Nach Auskunft des Börsenvereins des deutschen Buchhandels liegt der Anteil der esoterischen Literatur am bundesdeutschen Buchumsatz bei 10%. 11 Die Flut der Veröffentlichungen zum Thema - teils kritisch, teils sympathisierend und New Ageapologetisch - schwillt immer mehr an. Die meines Erachtens in der analytischen Durchdringung des Phänomens beste Übersicht bietet der von H.Hemminger herausgegebene Sammelband (Hemminger,H.[Hrsg.]:Die Rückkehr der Zauberer. New Age - Eine Kritik, Reinbek 1987); wichtig weiterhin: Schorsch, C.H.:Die New Age-Bewegung, Gütersloh 1989; Ruppert.HJ.: Durchbruch zur Innenwelt, Stuttgart 1988; Sebald,H.: New Age-Spiritualität, in: Kursbuch 93, Berlin 1988, S.105-122; ich selbst habe mich zum Thema in folgenden Publikationen geäußert, auf
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die ich mich im folgenden auch beziehe: Kiienzlen,G.: "Das Unbehagen an der Moderne: Der kulturell und gesellschaftliche Hintergrund der New-Age-Bewegung", in: Hemminger 1987; "New Age und Grüne Bewegung", in: Hesse,G./Wiebe,H.H.(Hrsg.): Die Grünen und die Religion, Frankfurt/M. 1988, S.244-259 (1988a); "Das New Age-Syndrom. Zur Kultursoziologie vagabundierender Religiosität", in: Zeitschrift für Politik, 3/1988, S.237-248 (1988b); "Auf der Suche nach Sinn", in: Boysen,G./Hemminger,H./Küenzlen,G.(Hrsg.): Im Sog der Psycho-Szene. Erfahrungen und Kommentare, Stuttgart 1988, S.132-155 (1988c). Capra,F.: Wendezeit. Bausteine für ein neues Weltbild, Bern/München/Wien 1983, S.324. Rüssel,P.: Die erwachende Erde, München 1984. Weber 1976, S.142. Capra,F.: "Das Gleichgewicht zwischen Yin und Yang"; in: Satish,K./Hentschel,R.(Hrsg.): Viele Wege. Paradigmen einer neuen Politik, München 1985, S.88f. Capra 1983, S.10. Insbesondere im Spektrum der "Grünen" sucht sich dieses Denken Wirkung und politische Heimat zu sichern. Vgl. dazu: Küenzlen 1988a. Bahro,R.: Logik der Rettung. Wer kann die Apokalypse aufhalten? Ein Versuch über die Grundlagen Ökologischer Politik, Stuttgart/Wien 1987. Bahro 1987, S.300. Weber 1976, S.658. Weber 1976, S.658. Weber 1976, S.658. Weber 1976, S.659. Capra,F.: Der kosmische Reigen. Physik und östliche Mystik - ein zeitgemäßes Weltbild, Bern/München/Wien, 3Aufl., 1980, S.139. Capra 1980, S.139. Weber,M. 1976, S.660. - Diesem und anderen hier angesprochenen Aspekten ist H J.Höhn in seinen "Soziologischen Glossen zur 'City-Religion"' nachgegangen (Höhn,HJ.: "City Religion. Soziologische Glossen zur 'neuen' Religiosität", in: Orientierungen, Nr. 9/1989, S.102-195). Dieser Befund macht auch die These vom "Protestpotential", das in diesen Formen vagabundierender Religion enthalten sei, recht problematisch. Zu diesem Ergebnis kommt auch R. Wassner in einer von der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen in Stuttgart veröffentlichten soziologischen Studie (Wassner,R.: Neue Religiöse Bewegungen in Deutschland. Eine soziologische Untersuchung, Stuttgart 1991, EWZ-Information). Weber 1976, S.658. Tenbruck 1989, S.275.
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Erscheinungsformen von Charisma - Zwei Päpste Jörg Κ Bergmann, Thomas Luckmann, Hans-Georg Soeffner
7.1 Einleitung Die idealtypische Bestimmung reiner Formen des Charismas ist von dessen konkreten historischen Erscheinungsweisen methodologisch zu unterscheiden. Doch aus der systematischen Bezugnahme dieser konkreten Manifestationen auf ihren Idealtyp resultiert ein soziologischer Erkenntnisgewinn.1 Idealtypen sind wissenschaftliche Konstrukte, die aus der Wirklichkeit wesentliche Züge herausgreifen, dadurch aber dem Besonderen des Einzelfalles in seiner Erscheinungsfülle nicht gerecht werden und gar nicht gerecht werden wollen. Gerade durch die idealisierende Überzeichnung des Typischen verhelfen sie dem historisch Einmaligen zu seinem Recht. Erst vor dem Hintergrund der Konstruktion struktureller Allgemeinheit wird das konkret Individuierte in seiner Besonderheit sichtbar.2 Idealtypen sind ein Instrument, mit dessen Hilfe sich die sozialwissenschaftliche Optik methodisch auf das historisch Konkrete schärfer einstellen läßt. Verfährt man auf diese Weise, so zeigt sich, daß die historischen 'Einzelfälle' nur selten einem Idealtypus vollständig entsprechen. Sie treten mit ihren je besonderen Beimischungen auf oder materialisieren sich in Übergangsformen, die manchmal als Übergang von einem Idealtypus zu einem anderen beschrieben werden können. Letzteres ist vorwiegend dann der Fall, wenn Idealtypen - die Extrakte aus historisch-genetischer Rekonstruktion - bereits jene Übergangsmerkmale enthalten, die in der Umformung von einem Typus in einen anderen bedeutsam werden. Der Übergang vom 'reinen', ursprünglichen Charisma (als einer spezifisch außeralltäglichen und persönlichen sozialen Beziehung zu einem 'Führer') zum Amtscharisma (als einer entpersönlichten, versachlichten Beziehung zu einem Charismaträger) markiert eine solche Stelle. An ihm läßt sich zugleich zeigen, daß der Weg vom Außeralltäglichen zur 'Veralltäglichung' nicht zwangsläufig in einer Richtung verläuft, sondern daß auch im Amtscharisma Außeralltägliches wieder aufscheinen, daß der Inhaber eines "Amtes" auch rein persönlich die Anerkennung und Hingabe seiner Anhänger finden kann3; daß sich die herausragende Persönlichkeit und ihre Anhänger in einem Akt der unmittelbaren gesellschaftlichen Stiftung charismatischer Wirklichkeit treffen können. Max Weber bezeichnet Charisma zwar als eine "Qualität", jedoch als eine solche, die sich im Handeln und durch die damit verbundene Anerkennung "bewähren" muß. Für den sozialwissenschaftlichen Forscher, der dieser Bestimmung folgt, können dementsprechend weder der 'innere Zustand' noch die von dort ausstrahlende 'Aura' der charismatischen Persönlichkeit Beobachtungsgegenstände sein,
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Jörg R. Bergmann/Thomas Luckmann/Hans-Georg Soeffner
sondern nur die soziale Formierung der Beziehung zwischen dieser Persönlichkeit und ihren Anhängern, sofern diese sich als beobachtbares Handlungsgefüge beschreiben und darstellen läßt. Einer solchen Interpretationshaltung, die sich so eng wie möglich an die Beschreibung des Konkreten anlehnt, fühlen wir uns im folgenden verpflichtet. Beobachtungsanlässe sind uns zwei Päpste, denen die Qualität des 'Charismatischen' zugeschrieben wird: Johannes XXIII. und Johannes Paul II. Als 'Datenmaterial' dienen uns dabei Filmdokumentationen und Fernsehberichte, die auf Videobänder überspielt wurden und uns so zur wiederholten Betrachtung zur Verfügung standen. Unsere Beschreibungen und Interpretationen beobachteter 'charismatischer' Handlungselemente und ihrer - sehr unterschiedlichen - Beimischungen sind dabei primär aus der genauen Nachzeichnung und Verdichtung kurzer Handlungssequenzen hervorgegangen. Zusätzliche Beobachtungsdaten haben wir nur dann berücksichtigt, wenn sie im Widerspruch zu den ausgewählten Sequenzen standen oder zu stehen schienen. Im folgenden finden sich einige Verhaltenspartituren und Ablaufskizzen von Ereignis- und Handlungssequenzen, in denen Johannes XXIII. bzw. Johannes Paul II. im Mittelpunkt stehen. Dabei richtet sich unser Augenmerk darauf, auf der Grundlage der - öffentlich zugänglichen (und z.T. als Fernsehberichte ausgestrahlten) - Bild- und Tonaufzeichnungen das Verhalten dieser beiden Päpste und ihrer jeweiligen (individuellen oder kollektiven) Handlungspartner so genau wie möglich zu dokumentieren. Diese Verhaltenspartituren und Ablaufskizzen werden jeweils im Anschluß interpretiert, wobei wir bestrebt waren, uns bei diesem Interpretationsschritt noch verhältnismäßig eng an unser Datenmaterial zu halten. Erst das abschließende Kapitel enthält dann eine weitergehende, auf eine Strukturhypothese zugespitzte Deutung.
7.2 Zwei Päpste und ihre öffentlichen Auftritte: Verhaltenspartituren, Ablaufskizzen und interpretativ verdichtete Beschreibungen 7.2.1 Johannes XXIII. auf dem Petersplatz 1962 Der im folgenden transkribierte Ausschnitt ist einer italienischen Dokumentation über Papst Johannes XXIII. entnommen, die nach dessen Tod (1963) mit deutschem Text und unter der Überschrift "Der Friedenspapst ist tot" auch im deutschen Fernsehen ausgestrahlt wurde. Der Ausschnitt zeigt, wie Johannes XXIII. zur Eröffnung des Zweiten Vatikanischen Konzils (11.10.1962) in einer Sänfte (sedia gestatoria) über den Petersplatz getragen wird. Verhaltenspartitur 1: Johannes XXIII. auf dem Petersplatz 1962 (S.124-127)
Erscheinungsformen von Charisma
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Interpretation Schnitt 1: Noch ehe das Bild in Schnitt 2 den Papst so nahe heranholt, daß man Haltung, Handbewegungen und Gesichtsausdruck des Johannes XXIII. genauer erkennt, erscheint die Papstfigur, getragen und begleitet von (nach der Tradition ausgesuchten) Gläubigen bzw. Funktionären (Kavalieren, Rittern, Garden, Geistlichen und Bischöfen) als Mittelpunkt eines zeremoniell, aber nicht exakt militärisch geordneten Zuges. Der Zuschauer weiß, daß dies der Einzug des Papstes in das von ihm einberufene Konzil ist. Der Einzug entspricht der Form nach der Tradition, die Einberufung des Konzils hingegen, obwohl kein eigentlicher Traditionsbruch, hatte niemand vom "Übergangspapst" erwartet, nicht einmal Johannes XXIII. selbst.4 Sänfte und Begleitung wogen hin und her. Die aus vielen, aufeinander abgestimmten Einzelbewegungen der Träger und der Begleitung zusammengesetzte Gesamtbewegung des Zuges vermittelt in der Bilddistanz des ersten Schnitts den Eindruck eines "Bienenschwarms" um eine gefangene/wohlbehütete Königin. Der Gesamtraum, nämlich der Petersplatz (im Bild nur im Ausschnitt wiedergegeben), ist sozial nach Akteuren und Zuschauern gegliedert. Die im Hintergrund durch angedeutete Zaun-Barrieren zurückgehaltene Menge der Gläubigen (und Schaulustigen) gibt den Korridor frei, durch den sich der Zug zum Portal des Doms bewegt. Der Papst ist der Herrscher, der im prächtigen Zeremoniell auf den Schultern untergeordneter Herren am Volk vorbeizieht. Zugleich ist er als zeremoniell getragene Figur der Gefangene der Begleitung, die ihn erhöht dem Volk im Vorbeizug präsentiert. Das Ganze ist eine in sich (für Akteure und Zuschauer) geschlossene zeremonielle Veranstaltung, die von Kameras (wie geschickt auch immer) nur dokumentiert wird. Schnitt 2: Erst als Gesicht und Bewegungen deutlicher zu erkennen sind, sieht man auch einen rituellen Kern der Veranstaltung: der Papst im Ornat mit Bischofsmütze und (vermutlich) Dreikoraenspange spendet im Vorbeiziehen, auf dem Weg zu einem historisch außergewöhnlichen Ereignis (Konzil), den auch in anderen religiösen Veranstaltungen (z.B. Messe) rituell bedeutsamen Segen. Der höchste geistliche Amtsträger, ein Verwalter der Gnade, spendet diesen in überkommener, in den Bewegungen routinisierter Form. Trotz zeremoniell überhöhter Position und außerordentlichem Anlaß manifestiert sich weder in Haltung noch im Gesichtsausdruck irgendein Machtanspruch. Auch eine eingeflochtene, aber von der Bewegung der Sequenz klar abgegrenzte Begrüßungsgeste, die dem Papst als öffentlicher, beliebter Figur zukommt, deutet keine Herablassung an. Die Bewegungen des Segnens (ungezwungene Hand- und Fingerhaltung, fließende Übergänge) erscheinen trotz zeitweisen In-Sich-Versinkens fast gewohnheitsmäßig und undramatisch. Der Gesamteindruck des rituellen Kerns: Segen aus einer vom Priesteramt verliehenen, in die Person des Amtsträgers eingeschmolzenen inneren Vollmacht heraus, gespendet an jene, die dies von ihm erwarten. Die Beziehung Priester/Gläubige scheint (abgelesen am Handeln des Priesters) wechselseitig und
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Jörg R. Bergmann/Thomas Luckmann/Hans-Georg Soeffner
Verhaltenspartitur 1: Jobannes XXIII. auf dem Petersplatz 1962
Schnitt
"Β Ν
I
*
Ζ 1
t &
402
Kamera in Nahe des Domportals zum Petersplatz (von oben).
Kamera in Nähe des Portals zum Petersplatz (etwas über Kopfhöh«^.
16"
ca. 70-80 Schritt der Tl-äger
2
ca. 18 Schritt der Tl-äger
1 347
15"
Bild Kamera Gesamtablauf
Hände
Ausschnitt des Petersplatzes. Papst Johannes XXIII. wird von Kavalieren (?) in rot in Sänfte (Thronsessel) getragen, unter ebenfalls getragenem Baldachin, begleitet von locker längsgereihten Malteserrittern m schwär^ Gardeoffizieren (?), Helmen α Schweizer Garden. Vor der Sänfte schreiten längs gereiht Malteserritter, Bischöfe, Priester.
Bewegung des Segnens gerade noch erkennbar.
Sänfte näher. Papst und Begleitung werden deutlich erkennbar. Der 'Bienenschwarm' gliedert sich in Gesichter, Gestalten, die unmilitärisch, aber geordnet und gemessen weiterschreiten. Sänfte und Oberkörper des Papstes im Fokus werden größer u. größer bis sie auf aie Höhe aer stationären Kamera kommen. Im Profil wird das Gesicht von Johannes XXIIL noch näher herangeholt, bis es das Bild ausfüllt. Bei Annäherung an das Domportal Umschnitt.
Rechte Hand vollendet Segnung nach links, mit locker gespreizten (nicht 'feierlich' ausgestreckten) Fingern. Linke ruht auf dem Schoß. Rechte Hand kehrt zurück, verschränkt Finger mit der linken in lockerer Bethaltung (4 Sek.). Dann Segen nach rechts, fließend, in Betverschränkung (2 Sek.), Segen nach links. Hände werden wieder mit leicht verschränkten Fingern im Schoß aneinandergelegt, dann (wie zurechtrückend) angehoben, um anschließend mit ausgestreckten Fingern in ('feierlicher') Bethaltung aneinandergelegt zu werden. Erst nach ca. 6 Sek. wieder Segen nach rechts. Bei dem anschließenden Segen nach links verfängt sich sein linker Daumen im rechten Ärmel. Nach Bethaltung Segen rechts, linke Hand kommt daraufhin ebenfalls hoch, nicht ganz auf Höhe der eben nochsegnenden Rechten. Bei Öffnung nach oben-außen Schwenk in eine freundliche Begrüßungsgeste (der etwas leidende Demut, Hilflosigkeit? beigemischt ist). Anschließend Segen lints, Bethaltung, Segen rechts, rechte Hand wird auf linke gelegt.
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Erscheinungsformen von Charisma
Verhaltenspartitur 1: Johannes XXIII. auf dem Petersplatz 1962 Bild Ton Kopf
Gesicht
Einzelheiten nicht erkennbar. Papst in Bischofsmütze, Ornat
Leicht gesenkt, bei nach vorn gebeugtem Oberkörper. Bewegt sich - meist etwas vorangehend - ungefähr synchron mit Segen nach links, geradeaus, rechts, geradeaus (bei stärkerer Beugung) usw.
Auch in Grundhaltung eeradeaus-gesenkt, minimale nnks-rechts Bewegung.
Marscl lmusik
Blick ungefähr synchron mit Kopfbewegungen auf die Gläubigen links und rechts gerichtet bei Geradeaushaltung, meist Blicksenkung, fast Schließung der Augen - dann Gesamtausdruck müde, leidend, krank. Auch in der längeren Phase des In-sich-Versinkens kurze Blickwendungen links-rechts.
In dieser Phase starkes "Versinken".
Rundum-Benetzen (ausgetrockneter? post-operativ?) Lippen.
Wieder "Versinken".
Schließung der Augen. Rundum-Benetzen der Lippen.
ab 500 leiser w erdend. Dann gedämpft, während Text gesprochen wii-d.
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Jörg R. Bergmann/Thomas Luckmann/Ha ns-Georg Soeffner
Verhaltenspartitur 1: Johannes XXIII. auf dem Petersplatz 1962 •is Bild
Schnitt
Ν
l· Kamera
ñ I £I i
Gesamtablauf
Hände Aus dieser Ruhestellung heraus öffnen sich beioe Hände nach oben-außen, deutlicher als oben im Ausdruck: Fügung, Hilflosigkeit, Demut Dann fast 10 Sek. 'versunkene' Ruhestellung. Dann wie im 'Erwachen' aus Versunkenheit, Segen nach rechts und fließend nach links, daraus ebenfalls fließencL 'leutselige' Begrüßungssenwenkung der rechten Hand. Wiedernolung des Segens bis Ende des Schnitts.
518 3
23"
541
ca. 25 Schritt der Trägtr
Ähnlich wie in Schnitt 2, Kamera nur ein wenig niedriger.
Sänfte erscheint im Portal und wird gemessenen Schritts in das Schiff getragen, wobei sie sich der Kamera etwas nähert, an ihr vorbeizieht, während die Kamera mitschwenkt
Bei Passieren der Schwelle Segen in den Dom hinein. Bei 522 aus der Segensbewegung, mit heraufgezogener linker Hand auf Höhe der eben noch segnenden rechten: 4 synchrone öben-außen Bewegungen im Begrüßungsrhythmus. Händefaltung, dann Wiederholung des Segens, bei der vierten holt die segnende rechte Hand in beschleunigtem Tempo unter dem Kinn weit nach links aus.
Erscheinungsformen von Charisma
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Verhaltenspartitur 1: Johannes XXIII. auf dem Petersplatz 1962 Bild Ton Kopf
Gesicht
Bei gesenktem Kopf
und geschlossenen Augen Insich-Gekehrtheit, aber auch in dieser längeren Versunkenheit nach 8 Sek. Blick zu den Gläubigen.
Hebung des Kopfes, rechts zu den Glaubigen, dann links kein 'Versinken' bis Ende des Schnitts.
Öffnung des Blicks, lächelnder (?), freundlicher, wie verklärter Gesamtausdruck, bis Ende des Schnitts (trotz nochmaliger Benetzung der Lippen).
Kopf senkt sich kaum, bewegt sich etwas, synchron mit Segnungen.
In diesem Schnitt wieder weiter entfernt, daher keine Einzelheiten erkennbar. Gesamteindruck: freundlichen zunächst fast (?) lächelnder Ausdruck. Kein 'Versinken'.
Text bis 526, dann Einsatz feierlicher Streichermusik.
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ausschließlich; nichts in diesem rituellen Kern geschieht, als geschähe es für ein anderes, über Kameras zu erreichendes Publikum. Außerdem wird ein alter, müder, kranker Mann sichtbar. Er leidet, ohne seinen Schmerzen (die, wie es scheint, auch von den Bewegungen der Sänfte verursacht werden) zu verfallen. Der Mensch versinkt zwar in den Pausen zwischen den Segnungen in sich - aber wie im Gebet. Das Leid wird in keinem Moment dargestellt. Wenn es überhaupt einen Anflug der Darstellung gibt, dann in der Überwindung der Versunkenheit, in der Wiederzuwendung zu den Gläubigen im Segen. (Nach einem tieferen Versinken erfolgt sie einmal fast, als ob er sich einen Ruck geben müßte, als ob er sich in die Pflicht nähme). In dieser Loslösung aus einer In-SichGekehrtheit des Leids öffnet sich ein einfaches, geistiges Inneres den Gläubigen. (Im Schlußteil dieser Einstellung wird diese Wiederzuwendung im Übergang des Gesichtsausdrucks in Leichtigkeit und Freundlichkeit vollzogen, eines Gesichtsausdrucks, für den das Wort "Verklärung" nicht unpassend wäre). Diese eigenartige Verbindung von Priester und Mensch (von Amts- und persönlichem Charisma) könnte die Erfahrung einer transzendenten Wirklichkeit jedem anzeigen, der überhaupt je bereit wäre, in einem Mitmenschen einen Vermittler des Außeralltäglichen zu sehen. Alter und Krankheit werden nicht präsentiert, Leid nicht dargestellt. Sie sind fest in Körperhaltung und Gesicht eingeprägt. Den Menschen Roncalli beherrschen sie nicht, er scheint sie zu beherrschen, so wie der zeremonielle Gefangene zugleich geistlicher Herrscher ist. Äußert sich Stolz in Demut? (Die "Geistlichen Tagebücher" lassen eine solche Vermutung zu). In den Bildern finden sich Andeutungen von Gegensätzlichkeiten - Paradoxien, für die man die Wahrnehmung eines (von Hannah Arendt im Nachwort zum "Geistlichen Tagebuch" zitierten) römischen Hausmädchens als volkstümlichen Hinweis nehmen könnte: "Und wie könnte ein wirklicher Christ auf den Heiligen Stuhl zu sitzen kommen?" Aber nur Andeutungen! Der Gesamteindruck ist der einer Ineinandergefügtheit von Zeremonie (Getragenwerden), rituellem Kern (Segnen), Papstfigur (Zuwinken) und verklärt Leidendem (Versinken, Ergebenheitsgebärde). Dieser Eindruck beherrscht über die Abfolge des Verhaltensmusters hinweg die zu den einzelnen Phasen gehörenden Momente (Segnen, Versinken, Zuwinken). Schnitt 3: Johannes XXIII. wird durch das Portal zum Konzil im Dom hereingetragen. Nach dem Eintritt sind weder Leid (kein Versinken) noch Demut (keine Ergebenheitsgebärde), die draußen, kurz vor dem Überschreiten der Schwelle (in der vorhergehenden Einstellung) noch so deutlich zu erkennen waren, bemerkbar. (Allerdings ist das Gesicht nicht mehr in Nahaufnahme abgebildet und daher nicht mehr scharf und deutlich zu sehen). Auch hier eine Begrüßungsgeste des Zuwinkens; sie ist der vorangegangenen draußen vor dem Portal nicht unähnlich und könnte von Johannes XXIII. noch an Gläubige gerichtet sein. Doch die Andeutung einer Veränderung in der Begrüßungsgeste auf dem Petersplatz und im Dom kann als Zeichen eines Schwellenübertritts interpretiert werden: Draußen ist er der (Hohe)priester unter Gläubigen, drinnen "Bischof der Bischöfe" unter den Bischö-
Erscheinungsformen von Charisma
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fen, denen er "als strahlender Punkt in der Herrlichkeit eines Konzils leuchten soll" ("Geistliches Tagebuch", S.347), als primus inter pares.
7.2.2 Johannes Paul II. in Polen 1987 Der folgende Ausschnitt entstammt einem polnischen Dokumentarfilm, der den Besuch Johannes Pauls II. in Polen im Jahr 1987 zum Gegenstand hat. Verhaltenspartitur 2: Johannes Paul II. in Polen 1987 (S.130-133) Interpretation Schnitt 1: Die dokumentierte Szene folgt einer in sich geschlossenen Sequenz, in der eine vom Papst auf freiem Feld zelebrierte Messe gezeigt wird. Der Schnitt bringt einen abrupten Wechsel. Auf stimmungsvolle Bilder eines Kornfeldes - einzelne Gläubige sind durch Kornähren hindurch gefilmt - und einer menschenleeren, von gefällten Bäumen zerschnittenen Wiese folgen Aufnahmen vom Ende einer Prozession. Die Bilder vom Ende der Messe, von Kornfeld und Wiese, sind unterlegt mit dem Ton der Predigt Johannes Pauls II., einer Predigt, deren einzelne Äußerungen jeweils vom Klatschen der riesigen Gemeinde abgeschlossen werden. Dieses der Rede folgende, an- und abschwellende, aber sonst in sich unstrukturierte Klatschen wird nach dem Schnitt ersetzt durch rhythmische Rufe ('Es lebe der Papst!' in polnischer Sprache) und - synchron dazu - rhythmisches Klatschen. 'Hinter' das im Originalton aufgenommene Klatschen wird im Film Chormusik im gregorianischen Stil gelegt oder 'gemischt'. Zwischen rhythmischem Klatschen - die Rufe werden immer schwächer und schließlich ganz durch das Klatschen ersetzt - und gregorianischer 'Begleitung' spannt sich, zunächst eher unauffällig, ein mißlicher Kontrast. Im Bild erscheint der Papst, Weihwasser auf die ihn an beiden Seiten umgebenden Gläubigen sprengend. Die weiße Soutane, gegürtet mit der breiten, ebenfalls weißen, seidenen Schärpe (dem Zingulum), das kurz geschnittene weiße Cape (Mozetta), die weiße Kopfbedeckung und das goldene Kreuz des Bischofs von Rom an goldener Kette heben den Papst deutlich von seinen Begleitern ab. Er bewegt sich, seiner Umgebung zulächelnd, in der für die Prozession freigehaltenen Gasse zwischen den Menschen. Der Schatten eines hinter ihm getragenen, großen Holzkreuzes beherrscht den oberen Teil des Bildes. Der unter dem dunklen Schatten des Kreuzes lächelnde Papst, der ernste gregorianische Chorgesang und das rhythmische, hier noch von Vivatrufen begleitete Klatschen, der Ritus der Prozession und die eher für einen volkstümlichen Umzug typische Atmosphäre; dieses Nebeneinander von gemeinhin unverträglichen Elementen verdichtet sich zu einer eigentümlichen Gesamterscheinung. In ihr gehen
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Verbaltenspartitur 2: Johannes Paul II. in Polen 1987
Schnitt
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1
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Bild Kamera
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Bewegliche Kamera (1), die, vor dem Papst zurückweichend, vor ihm hergefahren wird. Abttand ca. 5m.
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29"
Gesamtablauf
Hände
Rascher Szenenwechsel im Film: von einer Meßfeier auf freiem Feld (Schnitt) zum Ende einer Prozession (Vorplatz - Ausschnitt einer Kirche). Der Papst sprengt Weihwasser mit einem WeihwasserwedeL Er selbst eeht im Schatten einer
Rechte Hand mit Weihwasserwedel ist erhoben. Leichte Bewegungen des Sprengens. Der linke Arm ist angewinkelt Die linke Hand liegt auf der Schärpe (Körpermitte).
Hinter ihm wird ein großes Holzkreuz getragen, dessen oberer Teil schräg Uber ihn hinüber reicht Die Menge der Gläubigen steht dicht gedrängt, laßt ihm aber den Weg frei, der zusätzlich von Priestern - und auch Leibwächtern - abgeschirmt wird. *
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Der Papst gibt den Weihwasserwedel an einen Priester ab. Er wendet sich der
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Menge zu... ··
ca. 6m
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11"
* Die rechte Hand Ubergibt den Wedel an einen Priester und beschreibt eine kreisende, die Menge heranwinkende Bewegung. Dabei bewegt sich die Hand vom Kopf herab bis zur Körpermitte und weist schließlich auf den Boden vor dem Papst »·
Kamera-Abstand ca. 4m.
... und beugt sich zu einem Kind, das er auf die Wange kiißL **·
Beide Hände greifen nach den Händen eines Kindes. *··
Kamera-Abstand wird verringert
Er geht weiter vorwärts, den Körper schräg der Menge auf seiner rechten Seite zugewandt Gibt zunächst einem der Gläubigen die Hand, reicht dann beide Hände in die Menge.
Die rechte Hand streckt sich einem Gläubigen entgegen. Dann 'wenden sich beide Hände der Menge zu.
Eine neue Kameraeinstellung zeigt den Kopf einer (wahrscheinlich knieenden) Kamera (2) mit Gläubigen. Sie hat die Augen Zoom aus größe- geschlossen. Das Gesicht stützt sie auf die zum Beten rem Abstand. gefalteten Hände. Unscharf vor ihrem Gesicht bewegt sich rhythmisch ein klatschendes Händepaar.
Kontrast zwischen den bewegungslos zum Beten geschlossenen und den im Vordergrund - unscharf eezeigten klatschenden Händen.
Erscheinungsformen von Charisma
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Verbaltenspartitur 2: Jobannes Paul II. in Polen 1987 Bild Ton/Text Kopf
Gesicht
Kopf und obere Körperhälfte sind im Sonnenlicht Der Kopf ist leicht erhoben und drent sich abwechselnd nach beiden Seiten den Gläubigen zu.
Lächelndes Gesicht, leichte Lachfalten in den Augenwinkeln und neben dem Mund. Der Mund ist - nur selten unterbrochen von Sprachbewegungen geschlossen. Die Augen suchen mit den Kopfbewegungen nach allen Seiten Kontakt mit den Gläubigen. Gesicht im Schatten. Lächelndes Gesicht (wie oben).
Durchgehend (alle Schnitte Ubergreifend): eine dem Filmausschnitt unterlegte Chormusik (gregorianischer Stil, Männercnoi). Dazu: Originalton, lautes rhythmisches Klatschen, beinahe ein Klatschchor. Weder die Äußerungen des Papstes noch die einzelner Gläubiger sind verständlich. Statt dessen die dem Rhythmus des Klatschens beigegebenen Sprechchöre "es lebe der Papst" (in polnischer Sprache).
Der Kopf bleibt erhoben, sich Kurzer, eher amtlich abwechselnd den Gläubigen wirkender Gesichtsausdruck zu beiden Seiten zuwendend. (als der Papst den Weihwasserwedel ubergibt).
Der Kopf neigt sich leicht nach links, als der Papst das Kind auf aie Wange küßt »»•
Gesicht ist verdeckt
Der Kopf ist wieder erhoben, Lächelndes Gesicht Blickkontakte über die erste Reihe das Kinn ist leicht der Gläubigen hinweg. Fast vorgestreckt nie Augenkontakte mit den Gläubigen, denen der Papst die Hände reicht Sporadisch Sprechbewegungen. Der Kopf ist leicht nach vorn Kaizentrierter, ernster, nach Wie bisher. geneigt - auf die betenden *innen' gewandter GesichtsHände gestützt ausdruck angespannter Ruhe. Die Augen sind geschlossen.
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Verhaltenspartitur 2: Johannes Paul II. in Polen 1987
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Gesamtablauf
Hände
Der Papst geht weiter, vorwärts der Menge zugewandt, an dem 'menschlichen' Zaun entlang, Frauen Uber Kopf und wange streichelnd, Hände reichend und kurze (im Film unverständliche) Sätze sprechend.
Beide Hände bewegen sich über die Schultern der Gläubigen m der ersten Reihe auf die dahinterstehenden Gläubigen zu. Die rechte Hand streichelt Kopf und Wange einer jungen Frau.
Zwei Frauen drängen (schmiegen) sich an den Papst, als er für einen kurzen Augenblick stehenbleibt
Beide Hände sind - die Arme eingeschlossen - von zwei kmeenden Frauen umklammert Die rechte Hand streichelt Kopf und Wange der rechts sich nun erhebenden Frau.
Kamera (2): Zoom aus größerem Abstand.
Eine neue Kameraeinstellung zeigt in Großaufnahme den Kopf eines betenden Mannes, der, mit beiden Händen die Augen bedeckend, seine Zeigefinger an die Stirn preßt
Die Hände verdecken die Augen und drücken große Anspannung und Konzentration aus: die Zeigefinger sind an die Stirn gepreßt.
Kamera (1): Abstand wieder vergrößert (ca. 4m).
Der Papst geht, immer neue Hände schüttelnd, an der Menge entlang.
Die Hände des Papstes bewegen sich durch die entgegengestreckten Hände der Gläubigen.
Kamera (2): Schufterkamera.
Die Kamera zeigt nun in Großaufnahme aie Hände des Papstes und die der Gläubigen. Händedruck reiht sich an Händedruck.
Die Hände des Papstes bleiben oft für eine Handberührung mit den Gläubigen geöffnet Es gibt jedoch auch Händedruck (geschlossene Hände), oder beide Hände umschließen die Hand eines Gläubigen.
> > [=Schnitt] Auf den vollbesetzten Rängen winken Zuschauer mit bunten Tüchern und Fähnchen; das Knattern eines Hubschraubers ist zu hören und wird lauter. >>> Ein Hubschrauber in militärischem Olivgrün schwebt zur Erde; sein Knattern überlagert die Marschmusik. Der Hubschrauber landet sanft auf dem Fußballrasen. Die Kamera fährt auf den Ausstieg des Hubschraubers zu. > > >
Vollbesetzte Zuschauerränge, die Zuschauer klatschen, zuerst ungeordnet, dann rhythmisch. > > >
Auf dem Rasen, vor dem Ausstieg des Hubschraubers, ist mittlerweile ein roter Teppich ausgelegt, der Ausstieg ist geöffnet, Johannes Paul II. erscheint, ganz in Weiß gekleidet, und noch ehe er über die kleine Treppe den Hubschrauber verläßt, hebt er kurz eme Hand zur Andeutung einer Grußgeste. Zahlreiche Leute drängen sich um den Ausstieg, Johannes Paul II. bleibt oben am Treppenausstieg stehen, richtet sich, nachdem er sich beim Durchgang durch die kleine Türe bücken mußte, nun zur vollen Gestalt auf, grüßt mit einer Hand, dann mit beiden Händen ins Publikum. > > >
Klatschende Zuschauer in den Rängen, einige betrachten das Ereignis auf dem Fußballrasen mit dem Feldstecher. > > >
Johannes Paul II. geht auf dem roten Teppich und grüßt mit ausladenden Gesten das Publikum. Er wird von Bischof Hengsbach zu einem Stuhl geleitet, auf dem Johannes Paul II. Platz nimmt. Der Stuhl steht vor einem Tisch, auf dem ein aufgeschlagenes, dickes Buch liegt. Kaum nachdem er Platz genommen hat, greift Johannes Paul II. zum bereitliegenden Füllfederhalter und setzt zum Schreiben an. Er wird unterbrochen von der lauten Stimme des Oberbürgermeisters, der über Mikrofon eine Begrüßungsrede hält: "Eure Heiligkeit, im Namen der Stadt und der Bürger darf ich Sie herzlich willkommen heißen." Hier setzt Johannes Paul II. erneut zum Schreiben an, doch er bricht wieder ab, als die Stimme fortfährt: "Ihr Besuch ist eine große Ermunterung für diese Region und für die Stadt, die um eine sichere Zukunft arbeitet. Sie ehren uns dadurch, daß Sie die Einladung angenommen haben, sich ins Gästebuch der Stadt, ins Stahlbuch, einzutragen. Gute Wünsche für Sie und für Ihre Arbeit. Ein herzliches Glückauf." Danach Beifall, während sich Johannes Paul II. in das Gästebuch einträgt. >>>
Johannes Paul II. schüttelt dem mit einer Kette geschmückten Oberbürgermeister die Hand, beide sprechen miteinander. >>> Eskortiert von mehreren Polizeifahrzeugen mit aufgeblendeten Scheinwerfern fährt das Papamobil eine breite Straße entlang, an deren Seiten sich Zuschauer drängen und in regelmäßigen Abständen Polizisten postiert sind. Jubelrufe, Schreien, Winken, dazu ein Bläserchor. Im Papamobil Johannes Paul II. stehend mit Bischof Hengsbach. Johannes Paul führt nach links und rechts mit einer Hand eine halb grüßende, halb segnende Geste aus. Er breitet beide Arme aus, wobei die Handflächen nach vorne gekehrt sind, und führt dann die Hände vor semer Brust zusammen, faltet sie, wobei er gleichzeitig den Kopf in Form einer leichten Verbeugung nach vorne bewegt. Dadurch entsteht der Eindruck, Johannes Paul II. wolle zum Ausdruck bringen, wie sehr er von diesem Empfang überwäl-
Erscheinungsformen von Charisma
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tigt ist und daß er ja eigentlich eine solche Ehre gar nicht verdient habe. Auf diese, Freude und Bescheidenheit signalisierende, Geste von Johannes Paul II. folgt unmittelbar ein einfaches, profanes Winken und dann wiederum die ambivalente Geste: halb-Gruß-halb-Segen. >>>
Das Papamobil fährt vor einem Gebäude vor, zu dessen Eingang ein roter Teppich führt und vor dem zahlreiche Leute warten. Geleitet von einem Priester verläßt Johannes Paul II. das Papamobil, geht aber nicht auf dem roten Teppich ins Gebäude, sondern nach links auf die Zuschauer zu. >>> Dicht gedrängte Zuschauer, meist ältere Frauen, mit erwartungsfrohen Gesichtern und Fotoapparaten. > > >
Mit ausgestreckten Armen geht Johannes Paul II. auf die Zuschauer zu und schüttelt bereitwillig die ihm entgegengestreckten Hände.
Interpretation Das Protokoll des Fernsehberichts über den Besuch von Johannes Paul II. in der Stadt Essen macht zunächst vor allem eines deutlich: daß der reisende Papst - ob von ihm beabsichtigt oder bloß toleriert - zum Objekt jenes Zeremonialbetriebs wurde, welcher für Präsidenten und andere umherziehende politische Leitfiguren und kulturelle Heroen das Besuchsarrangement besorgt. Je nach vermeintlicher 'Bedeutung' einer öffentlichen Person wird für deren Besuch eine zeremonielle Rahmung geschaffen, zu der als Bestandteile u. a. gehören: Präsidentenjet, Sonderzug, roter Teppich, Begrüßungskomitee, Abschreiten der Ehrenformation, Hymne, Flaggen, Schaulustige en masse, Sicherheitskräfte, Sperrgitter, Rudel von Reportern und Fotografen etc. Der Auftritt des Papstes im Grugastadion Essen unterscheidet sich in dieser Hinsicht nicht von den inszenierten Auftritten anderer V.I.P.S: Musikkapelle, Einfliegen im Hubschrauber, 'Sich-der-Menge-Zeigen' in der Ausstiegsluke, enthusiastische Fans, bestückt mit Fernglas und Fotoapparat, roter Teppich, persönliche Begrüßung durch den Oberbürgermeister, Eintragung ins Gästebuch der Stadt, Fahrt im offenen Wagen durch die Stadt, von Zuschauern gesäumte Straßen. Wären da nicht die weiße Soutane und die Anrede "Eure Heiligkeit", es fiele schwer, in der so ehrenvoll empfangenen Person nicht einen 'gefeierten* Sporthelden oder populären Politiker, sondern: den 'Stellvertreter' eines Gottes zu erkennen. Wie weit die hier sichtbar werdende Hybridisierung zwischen dem Typus eines mit Amtscharisma ausgestatteten Repräsentanten einer traditionsreichen Glaubensgemeinschaft und dem Typus einer über Wählerstimmen, Verkaufsziffern oder Einschaltquoten bestimmten und fortwährend um die Gunst ihres Publikums bemühten 'Celebrity' bereits fortgeschritten ist, mögen die beiden folgenden Details verdeutlichen. Sie lassen zugleich erkennen, daß die auf kirchlicher Seite für den zeremoniellen Rahmen des Besuchsprogramms Verantwortlichen (und wohl auch Johannes Paul II. selbst) die Gefahren des päpstlichen Tourismus und dessen extensive Medienpräsenz (Ununterscheidbarkeit der Kirche zu anderen, ihre Anhängerschaft mobilisierenden Organisationen; Verflüchtigung des Amtscharismas)
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geahnt haben mögen, - daß aber die Mittel, die sie einsetzen, um diesen Gefahren zu begegnen, die eigentliche Problematik nur verwischen und verschieben. Da ist zunächst die Wahl des Fortbewegungsmittels. An Stelle der traditionellen päpstlichen "sedia gestatoria" wählt Johannes Paul II. bei seinen Auftritten einen fahrbaren Untersatz. Dabei haben die für diese Entscheidung Verantwortlichen wohl gesehen, daß es aus einer Reihe von Gründen (Unterscheidbarkeit zu anderen politischen Größen; Demonstration von Schlichtheit und politischem Machtverzicht) angebracht ist, den Papst nicht in einer schwarzen Staatslimousine an seinen Fans vorbeizuchauffieren. Das war die Geburtsstunde des 'Papamobils', jenem eigens für den Vatikan gestylten weißen Geländewagen, der mit einem verglasten Aufbau versehen ist, an dessen Seiten sich jeweils Winkschlitze befinden. Doch die Ersetzung der Sänfte (exemplarischer Bewegungsraum: Petersplatz, Petersdom) durch diesen - wie die offizielle Bezeichnung lautet - "Sichtwagen" (exemplarischer Bewegungsraum: Spalierfahrten über Hauptstraßen) ist selbst nicht folgenlos. Der symbolisch signifikante Fortbewegungsmodus des Getragenwerdens, der die getragene Person heraushebt, zugleich jedoch von der Gemeinschaft der sie Tragenden abhängig macht und deren (mehr oder weniger koordiniertem) Schrittrhythmus unterwirft, wird ersetzt durch das gleichmäßige, gleichgültig-mechanische Dahinrollen auf vier Rädern, das nicht mehr in sich selbst bedeutsam ist, sondern nur mehr als Mittel der Überwindung von (großen) Distanzen.8 Zugleich leidet die symbolische Kraft dieser mobilen Präsentationseinheit darunter, daß der Platz im Papamobil geteilt werden muß (Fahrer, begleitende Würdenträger), wodurch die Heraushebung des Einzelnen (Einzigen) deutlich abgeschwächt wird. Ein zweites signifikantes Detail offenbart sich in der Gestik des Papstes, den die Situation, im Papamobil über längere Strecken hinweg (5 km) an Tausenden von Zuschauern vorbeigefahren zu werden, offensichtlich vor ein neuartiges Problem stellte. Im Verhältnis zur Fahrtgeschwindigkeit, mit der der Papst die Zuschauer passiert, müßte er die Geste des Segnens ziemlich rasch nach links und rechts wiederholen, damit keiner der Gläubigen, die diese 'Spende' erwarten, leer ausgeht und enttäuscht zurückbleibt. Doch durch die fortwährende schnelle Ausführung würde diese für die Gemeinde zentrale rituelle Geste des Segnens auf prekäre Weise inflationiert und an Wert verlieren, und zwar zum einen allein schon durch ihre rasche, mechanische Repetition, zum anderen aber durch ihre Indifferenz gegenüber der Tatsache, daß sich am Straßenrand durchaus nicht allein Anhänger des katholischen Glaubens eingefunden haben, sondern mit Sicherheit auch zahlreiche - dem Papst gegenüber gleichgültig oder gar feindlich eingestellte - Schaulustige (cf. die obigen Bemerkungen zur 'split audience'). Es ist nun nicht entscheidend, ob Johannes Paul II. sich dieser Problematik bewußt ist oder nicht. Entscheidend ist, daß sich erkennbar in der Struktur seiner Gestik eine (Schein-)Lösung dieses Problems manifestiert - nämlich Diffusität.9 Den größten Bestandteil des vom Papst während der Fahrt im Papamobil eingesetzten gestischen Repertoires bildet ein Bewegungsschema, von dem nicht eindeutig gesagt
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werden kann, ob es eine Geste des Grüßens oder des Segnens ist. Es finden sich in den Handbewegungen fortwährend kleine Elemente (horizontale Bewegungen mit plötzlichem Richtungswechsel; kleine Bewegungsecken), die es jedem, der nur möchte, möglich machen, diese Geste als eine solche des Segnens zu sehen und zu verstehen. Doch diese Elemente sind andererseits so insignifikant ausgeführt, so versteckt in ausladende Bewegungen eingebettet und dazu fast beständig mit leichten Verbeugungen gekoppelt, daß es jedem Zuschauer überlassen bleibt, sie als (salbungsvolle) Elemente einer Begrüßungshandlung wahrzunehmen. Die Gestik von Johannes Paul II. ist nicht ambivalent, sondern polyvalent: Sie bedeutet für verschiedene Publikumsgruppen Verschiedenes. D.h. aber: Er paßt sich seiner medial vermittelten heterogenen Umgebung an, will alle zufriedenstellen und wirkt gerade dadurch nicht mehr als charismatisches Ordnungszentrum, das durch seine Präsenz und rituelle Macht die Anhänger und Gläubigen bindet, was eben notwendig auch bedeutet: Nicht-Gläubige auszuschließen. Verhaltenspartitur 3: Gottesdienst unter freiem Himmel (S.142-145) Interpretation Der in der Verhaltenspartitur "Gottesdienst unter freiem Himmel" dokumentierte Ausschnitt aus einem Fernsehbericht läßt erkennen, daß die Art und Weise, in der Johannes Paul II. sein päpstliches Amtscharisma verwaltet, eine weitere Problematik birgt. Schnitt 2/3: Von ihrem Inhalt und von der Art ihrer Präsentation her ist erkennbar, daß die Äußerung von Johannes Paul II. "Am Ende, (1.S) ei::n: (0.5) herzliches gro:ßes (.) Vergelt's Gott, (0.7) für die Einladung=für die Vorbereitung (0.7) und (.) für die Teilnahme. (1.0) an dieser (.) eucharistische(m) (.) Zelebration."
- zwar innerhalb des zeitlichen, doch außerhalb des zeremoniellen Rahmens einer (im Freien, in einem Stadion abgehaltenen) Eucharistiefeier lokalisiert ist. Dies stellt für sich noch keinen Traditionsbruch dar, ist es doch auch in herkömmlichen Gottesdiensten üblich, daß der Geistliche, ehe er den Abschlußsegen spendet, für kurze Zeit - und durch Körperhaltung und Stimmodulation deutlich markiert seine Zeremonialrolle verläßt, um als Priester seiner versammelten Gemeinde Informationen und Ankündigungen zu weltlichen Sachverhalten mitzuteilen. Die in diesem Sinne an einer richtigen Strukturstelle piazierte (und von daher interpretativ unscheinbare) Äußerung von Johannes Paul II. ist jedoch in anderer Hinsicht aufschlußreich. (1) Agiert ein Priester während eines Gottesdienstes in der ihm zugeschriebenen Zeremonialrolle, so tritt er als Individuum im Überpersönlichen eines kollektiv gesicherten und bewußt ausgeübten Ritus im allgemeinen zurück. Verläßt er aber an der eben benannten Strukturstelle das rituelle Schema, öffnet sich ihm so-
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Zahlwerk
Schnitt
Verhaltenspartitur 3: Gottesdienst unter freiem Himmel
Gesamtablauf
1
1 995 5"
2
Bild
Kamera
Kamera ist frontal auf schräg hintereinander aufsteigende Zuschauerreihen gerichtet und zoomt leicht zurück.
Klatschende und winkende, "Soüdarnosc"- Fahnen schwenkende Zuschauer in einem Stadion* sitzende und stehende Zuschauer sind durch einen "Fan-Zaun" voneinander getrennt
997 23" Kamera stan; halbnah und leicht von unten auf Jetan nes Paul gerichtet.
JP II. stehend vor einem Mikrofon. Schräg hinter ihm ein MeQdiener. Im Hintergrund sind die vollbesetzten Zuschauerränge sichtbar. JP II. spricht ins Mikrofon.
3 1011 11"
Kamera stari; Totale.
4 1016 17" Kamera stari; jetzt von einem locht veränderten Winkel, halbnah von unten auf JP IL gerichtet.
Hände
In der linken Hand ein Blatt Panier in einer Klarsichthülle haltend (Redemanuskript?). Die rechte Hand begleitet durch ausladende Gesten zur Seite und nach oben das Sprechen.
Gesamtansicht der Stätte inmitten des Stadions, in dem der Gottesdienst stattfindet Über der Bühne ein Aufbau, ähnlich denen, die bei Open Air-Rockkonzerten üblich sind.
Wie in Schnitt (2), im Hintergrund jetzt die wehende Deutschlandfahne sichtbar.
Beide Arme nach links und rechts ausgebreitet, mit den Handflächen nach oben. Zur Betonung des Sprechens die Arme auf und ab bewegend. Nach dem Sprechen halten beide Hände das Papier.
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Erscheinungsformen von Charisma
Verhaltenspartitur 3: Gottesdienst unter Freiem Himmel Bild Ton/Text Kopf
Gesicht Klatschen und Pfeifen der Zuschauer.
JP II. im Ornat, auf dem Kopf die Bischofsmütze. Der Kopf bewegt sich nicht allein, sondern schwenkt mit dem Körper von links nach rechts. Zur Betonung eines Wortes nickt JP II manchmal leicht mit dem Kopf
Das Gesicht ist dicht vor dem Mikrofon, das in Mundhöhe steht Ohne mimische Bewegung; kein feierlicher oder vergeistigter Ausdruck, eher offenfreundlich.
JP II.:am Ende, (1.5) ei::n: (0.5) herzliches graBes: OVfergelt's Gott, (0.7) r fur die L ZZ: «xx*1 JP IL:Einladung=für die Vorbereitung (0.7) und (') für die Teilnahme. (1.0) r an dieser (') -i ZZ: L XKXXXXXXXX ·*" JP II.:r eucharistische(m) ('h ZZ: Lxxxxxxxxxxxxxxx * JP IL: r Ze(l/r)ebration -i ZZ: xxxxxxxxx ZZ: xxxxxx Weiterhin lautes Klatschen und Pfeifen der Zuschauer fca. 10 Sek.). JP II.:So::
Wie in Schnitt (2).
Während des Sprechens freundlich-neutral. Dann lächelnd bis grinsend, den Beifall goutierend; auf ein Abschwellen des Beifalls wartend.
Mit erhobener Stimme, emphatisch: JP II.:...scheen gäbe:tet und so wunderbar geSling-gen! Darauf setzt lautes Johlen, Pfeifen und Klatschen der Zuschauer ein (12 Sek.).
*)
XX = verhaltender Applaus XX = mittlerer Applaus - staiker Andáis (mit Pfeifen und Rufen)
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Schnitt
Verhaltenspartitur 3·' Gottesdienst unter freiem Himmel
5 1026
Bild
Kamera
•g 1 g
Gesamtablauf
1
Τ
Kamera wie in Schnitt (1), nach links Uber die Zuschauerränge hinwegschwenkend.
6 1030 18" Kamera stari; wie in Schnitt (4), halbnah auf JP IL gerichtet.
Hände
Ränge vollbesetzt mit stehenden und sitzenden Zuschauern, die mit Tüchern und weißen Blättern (Programmheften?) winken.
Wie in Schnitt (4). Auf der rechten Seite treffen Meßdiener Vorbereitungen für die Durchführung des Abschlußsegens.
Ein Meßdiener hält JP IL das Meßbuch zum Ablesen hin.
JP II. reicht am Ende seiner Ankündigung dem Meßdiener das Papier, das er in der Hand hält, und faltet dann die Hände vor dem Bauch.
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Erscheinungsformen von Charisma
Verhaltenspartitur 3: Gottesdienst unter freiem Himmel Bild Ton/Text Kopf
Gesicht Weiterhin lautes Klatschen und Pfeifen der Zuschauer (ca. 5 Sek.). Erst als Klatschen und Pfeifen leiser werden, setzt der Papst - jetzt mit deutlich gesenkter Stimme - ein: JP II.:Es ist die höchste Zeit...
Wie in Schnitt (2).
Ernster Gesichtsausdruck, doch als die ersten Lacher hörbar werden, breitet sich ein verschmitzt-zufriedenes Grinsen auf JP II.'s Gesicht aus. Er blickt nach links und rechts ins Publikum. Erst wenige Sekunden vor dem SchluBsegen verschwindet aas Grinsen und an dessen Stelle tritt ein routiniert-ernster Gesichtsausdruck.
JP II.: ...das SchluBsegen (0.5) zu (*) r empfangen ZZ: L Einige Lacher Daran anschließend allgemeines lautes Lachen und dann Klatschen der Zuschauer fca. 15 Sek.)
JP II. (singend): Dominus vobiscum (Fortsetzung: Wechselgesang mit dem Puolikum)
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fort ein Raum für Selbstdarstellung, und er hat zu entscheiden, in welchem Maß er diese Gelegenheit zur Heraushebung der eigenen Singularität benutzen möchte. Indem nun Johannes Paul II. sich mit einem "herzlichen großen Vergelt's Gott" bei den Mitwirkenden für die "Einladung, Vorbereitung und Teilnahme" an der Eucharistiefeier bedankt, relationiert er das Ereignis, das doch als gemeinsame Veranstaltung zur Ehre Gottes gedacht ist, auf sich selbst: als eine ihm dargebrachte Leistung der Beteiligten, für die ihnen öffentlicher Dank gebührt. Anstatt also die Eucharistiefeier als einen von den Gläubigen und von ihm als der repräsentativen Zentralfigur gemeinsam vollzogenen Ritus darzustellen, benutzt er die im rituellen Schema vorgesehene 'time out'-Phase dazu, sich selbst hervorzuheben und zu überhöhen als einen, dem die Gläubigen in kollektiver Anstrengung ein Geschenk gemacht haben, für welches er in ihrer Dankesschuld steht. (Das Bescheidenheit und Mittellosigkeit signalisierende "Vergelt's Gott" verstärkt diese Selbstüberhöhung mehr, als daß es sie kompensiert). (2) Diese Explikation der Sinnstruktur der Äußerung von Johannes Paul II. bliebe weitgehend spekulativ, wäre da nicht eine besondere rhetorische Figur. Die von ihm gebrauchte Formulierung "für die Einladung, für die Vorbereitung und für die Teilnahme" (an dessen Ende die Intonation wie zur Markierung eines Satzendes stark absinkt) bildet ein typisches Beispiel für das sprachliche Muster einer 'Liste'.10 Listen sind sprachliche Reihungen, die formelhaften Charakter haben können ("Vater, Sohn und Heiliger Geist"), aber auch mittels anderer sprachlicher Elemente situativ zu konstruieren sind (z.B.: "kein Tisch, kein Bett, kein gar nichts"). Typisch für derartige Listen-Konstruktionen ist, daß sie vorrangig aus drei Elementen bestehen. Dadurch ist es den Rezipienten möglich, das Ende einer Liste, noch während sie sprachlich realisiert wird, zu antizipieren und bei deren Abschluß nun ihrerseits sogleich das Wort zu ergreifen. Daraus ergibt sich aber ein spezifischer Kontext für den Einsatz dieser rhetorischen Elementarfigur: Neben anderen rhetorischen Figuren (wie etwa begrifflichen Kontrastpaaren) dienen Listen-Konstruktionen innerhalb von Ansprachen und Reden als zuverlässig wirksame Technik zur Elizitierung von Publikumsreaktionen, vornehmlich von Applaus.11 Für unser zu analysierendes Beispiel heißt das aber: Nicht nur relationiert Johannes Paul II. in seiner Dankeshandlung - hierdurch den gemeinsamen Vollzug des Ritus negierend - 'sich' auf 'sein' Publikum; durch die spezifische rhetorische Figur der Liste animiert er auch sein Publikum nachdrücklich dazu, auf seine Äußerung zu reagieren. Der weitere Verlauf des Geschehens zeigt unmittelbar, daß die Teilnehmer an der Eucharistiefeier diese Formulierung des Papstes auch genau so verstanden haben: Sie beginnen kollektiv zu klatschen und zu pfeifen und lassen sich von ihrem Tun auch nicht abhalten, als der Papst - was den vorhergehenden Intonationsverlauf betrifft: überraschenderweise - seine Äußerung mit dem Zusatz "an dieser eucharistischen Zelebration" fortsetzt. Wer will, kann diese Äußerungsfortsetzung als Anzeichen dafür interpretieren, daß Johannes Paul II. gar nicht die Absicht hatte, die Teilnehmer zu einer Reaktion auf seine Dankesworte zu animieren. Was zählt, ist, daß sich in seinem Verhalten und dem seines
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Publikums eine das hergebrachte Ritual sprengende Tendenz manifestiert, die darauf gerichtet ist, das singuläre Individuum, dessen Aufgabe es wäre, das Amt des Papstes auszufüllen, zu überhöhen und als Charismaträger dem Typus einer 'Celebrity' anzunähern. Schnitt 4/5: Die soeben entwickelte Interpretation wird durch den weiteren Verlauf der Eucharistiefeier bestätigt. Sich nach wie vor außerhalb der Zeremonialrolle bewegend, eskaliert Johannes Paul II. das von ihm begonnene Wechselspiel zwischen sich und dem Publikum, indem er mit erhobener, emphatischer Stimme, unterstützt durch eine ausladende Gestik, ausruft: "So:: scheen g ä l t e t und so: wunderbar gesung-gen!"
Von ihrer Intcraktionsstruktur her betrachtet, bilden lobende Formulierungen und Komplimente dieser Art einen Äußerungstyp, der eine respondierende Äußerung des angesprochenen Interaktionspartners relevant macht. Komplimente verlangen im allgemeinen recht differenzierte Reaktionen, machen sie jedenfalls immer dort erforderlich, wo den Rezipienten der einfache Weg, ein Gegenkompliment zu formulieren, versperrt ist.12 Nun können zwar kollektive Publikumsreaktionen verhältnismäßig präzise piaziert und in ihrer Stärke variiert werden, doch läßt sich mit ihnen in der Regel kaum über die krude Alternative von Zustimmung und Ablehnung hinaus ein komplexerer Sachverhalt übermitteln. Der einfachste und naheliegendste Weg für ein Publikum, auf ein ihm kollektiv ausgesprochenes Kompliment zu reagieren, ist daher, ein Gegenkompliment zu produzieren, und das heißt: den Akteur mit Beifall, Johlen, Pfiffen und allgemeiner Begeisterung zu überschütten. Um diese Logik wissen natürlich auch die Akteure selbst: Viele Entertainer Harald Juhnke etwa ist hierfür nach unserem (begrenzten) Wissen ein paradigmatischer Fall - beenden ihre Shows regelmäßig mit einem Lied, in dem sie ihr Publikum direkt mit einem "Sie waren so wunderbar" adressieren. Nach dem Prinzip "do ut des" wird dem Publikum ein Kompliment gemacht, damit es mit einem Gegenkompliment reagiert. Doch gerade weil dies erkennbar ein billiger Weg ist, zu 'Anerkennung' in Form von Applaus zu gelangen - zu Anerkennung, die keine freiwillige Bestätigung einer Leistung ist, sondern aus interaktionslogischen Zwängen resultiert - bilden solche an das Publikum gerichteten Komplimente das, was gemeinhin als ein 'Sich-Anbiedern', als ein 'Buhlen' um Beifall bezeichnet wird. Wenn Johannes Paul II. die Worte "So schön gebetet und so wunderbar gesungen!" an sein Publikum richtet, setzt er damit - gewollt oder ungewollt - genau die eben beschriebenen Interaktionszwänge in Kraft. Er schmeichelt dem Publikum, was - wie dessen nachfolgende überschäumende Reaktion zeigt - dazu führt, daß das Publikum ihm schmeichelt. Er feiert das Publikum, worauf das Publikum ihn und in ihm: sich selbst feiert. Er hat damit erneut und nun in gesteigerter Form eine Interaktionssequenz initiiert, in der ihm außerhalb des rituellen Schemas und damit ihm als singulärem Individuum - persönliche Anerkennung von seinen Anhängern zuteil wird. Doch damit ist nur scheinbar ein charismatisches Beziehungselement identifiziert. Bei Max Weber findet sich der wichtige Hinweis, daß
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charismatische Autorität zwar auf persönlicher 'Anerkennung' beruht, daß sie jedoch ihre Autorität "nicht etwa aus dieser Anerkennung durch die Beherrschten ab(leitet). Sondern umgekehrt, Glaube und Anerkennung gelten als Pflicht".13 Wie sehr die von Johannes Paul II. betriebene Verpersönlichung und Vertraulichung des von ihm zu verwaltenden päpstlichen Amtscharismas mittlerweile die mit diesem Amt verbundene charismatische Autorität unterhöhlt hat, mag ein kurzer Blick auf die Fortsetzung der Eucharistiefeier zeigen. Schnitt 6: Der Begeisterungssturm, den der Papst beim Publikum durch seine, ihrem objektiven Charakter nach anbiedernde Äußerung ausgelöst hat, beginnt nach etwa 15 Sekunden zu verebben, und in den leiser werdenden Beifall hinein sagt Johannes Paul II., nun mit deutlich gesenkter Stimme und ernstem Gesichtsausdruck: "Es ist die höchste Zeit das Schlußsegen (0.5) zu: (.) empfangen".
Markiert durch mimische und paralinguistische Mittel kehrt der Papst hier in seine Zeremonialrolle innerhalb der Eucharistiefeier zurück. Er kündigt das noch fehlende und die Feier selbst zu einem Abschluß bringende Ritualstück - die Erteilung des Schluß-Segens - an und erklärt damit implizit die den Ablauf des Ritus unterbrechende 'time out'-Phase für beendet. So unbedeutend diese rahmensetzende Aktivität für sich sein mag: In ihrer Ausführung ereignen sich Dinge, die drastisch verdeutlichen, wie sehr die amtscharismatische Autorität des Papstes im Prozeß der Personalisierung des Amtes bereits Schaden gelitten hat, und wie nahtlos der Papst und sein Publikum bei diesem Prozeß ineinanderspielen. Da ist zum einen der erste Teil der Ankündigung ("Es ist die höchste Zeit..."), der sich referentiell auf zwei Möglichkeiten beziehen kann: auf die Überschreitung eines vorgegebenen Zeitplans und/oder auf den Umstand, daß das, was im folgenden geschehen wird, den vom Publikum mit Spannung erwarteten Höhe- und Schlußpunkt der Veranstaltung bildet. Ein Kontext nun, auf den diese beiden Möglichkeiten charakteristischerweise zutreffen, sind jene Familiensendungen im Fernsehen, die 'live' ausgestrahlt werden und in denen - bei notorischer Überschreitung des im Programm genannten Zeitrahmens - der endgültige Gewinner oder die Höhe des Preises immer erst ganz am Schluß, in der letzten 'Spielrunde' ermittelt werden. Das bedeutet, daß Johannes Paul II. auch hier, beim Modalitätswechsel zurück in die rituelle Kommunikation, von der Sinnstruktur seiner Äußerungen her betrachtet, als Showmaster agiert, dem nicht in erster Linie das Ereignis, um das es geht (der Ritus), sondern sein Publikum - die Beruhigung ungeduldiger und die Besänftigung verärgerter Zuschauer - am Herzen liegt. Johannes Paul II. setzt seine ankündigende Äußerung fort mit der Formulierung: "... das Schlußsegen zu empfangen". Ob nun die Zuhörer die Verwendung eines falschen Artikels besonders lustig finden oder aber sich über die etwas unbeholfene Dringlichkeitsmarkierung ("die höchste Zeit") des Abschlußsegens amüsieren, einige von ihnen beginnen jedenfalls, noch ehe der Papst seine Äußerung zu Ende formuliert hat, vernehmbar zu lachen; dieses Lachen breitet sich rasch im
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gesamten Publikum aus und hält - am Ende stärker von Klatschen überlagert - etwa 15 Sekunden an. Der ernste Ausdruck, der bei der Ankündigung des Abschlußsegens zunächst auf dem Gesicht des Papstes liegt, verschwindet einen kurzen Moment, nachdem die ersten Lacher zu vernehmen sind, und macht einem verschmitzt-zufriedenen Grinsen Platz. Mit vor dem Bauch gefalteten Händen blickt er schmunzelnd nach links und rechts ins lachende Publikum, wie über einen gelungenen Witz sich freuend, gütig darauf wartend, daß die Lacher sich wieder beruhigen. Sobald das Lachen schwächer wird, setzt er einen routiniert-ernsten Gesichtsausdruck auf und beginnt ohne weitere Ankündigung mit dem Schlußsegen: "Dominus vobiscum". Die Beschreibung dieser Szene spricht weitgehend für sich. Nicht nur agiert der Papst selbst nach Handlungs- und Sprachmustern, die ihrer Struktur nach diejenigen eines Fernseh-Entertainers sind; er wird auch von seinen Anhängern, die zu seinen Live-Auftritten strömen, in Kategorien eines Entertainers wahrgenommen. Wie gerade die letzte Szene vor Augen führt, ist dabei die Gefahr nicht von der Hand zu weisen, daß diese - von der Produzenten- wie von der Rezipientenseite geförderte - Unterhaltungsmentalität den Ritus und dessen zeremonielle Zentralfigur selbst in Mitleidenschaft zieht: Der Ritus droht zur würdelosen Show zu verkommen, Johannes Paul II. selbst scheint aufgrund seiner naiven Inanspruchnahme massenmedial besetzter Handlungsfiguren auf dem Weg, anstatt über seine Individualität das Amtscharisma des Papstes zu stärken, das ihm mitgegebene Amtscharisma für die Selbstdarstellung seiner Person zu funktionalisieren und damit zu entwerten.
7.3 Überhöhung und Abnutzung - Zwei Grenzfälle des Amtscharismas Der Papst ist Priester und 'Stellvertreter Gottes'. Als Priester ist er einer unter vielen anderen, denen durch das Sakrament der Priesterweihe und durch die Zugehörigkeit zur Kirche Amtscharisma Verliehen' und von den Gläubigen zugeschrieben wird. Als Papst ist er aus der Menge der anderen Priester herausgehoben. Er ist 'Stellvertreter Gottes auf Erden': In der Figur des Papstes wird also das Amtscharisma strukturell zum einen verdoppelt (der höchste Priester14), zum anderen spiegelt diese Figur - durch die ihr zugeschriebene Nähe zu Gott - dessen Majestät im Abglanz (durch das aus allen anderen Ämtern herausgehobene Amt) am stärksten wider. In diesem Zusammenspiel findet christlich-religiös geprägtes Amtscharisma (innerhalb der katholischen Kirche) seinen höchsten Ausdruck. Unübersehbar wirken in dieser Form des Amtscharismas magische Vorstellungen mit. Die schon im Sakrament der Priesterweihe mitschwingende magische Imagination wird auf das Amt des Papstes übertragen und intensiviert. Aus der Sicht der Gläubigen wirkt die Kraft dieses Amtes unabhängig von dem Menschen, der es ausübt. Der Glaube der Anhänger, die im Ritus verankerte Macht und die rituell 'richtige' Ausübung des Amtes sichern dessen Wirkung und Bewährung. Sie
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sind die eigentlichen Garanten des Amtscharismas. - Anders ausgedrückt: Der Amtsinhaber kann als Amtscharismatiker nicht scheitern. Er kann sich nicht bewähren, solange er sich in der aus Glauben, Ritus und rituellem Handeln geformten sozialen Rahmung bewegt. Sie dient ihm, wie seinen Vorgängern und Nachfolgern, als auf Dauer gestellte Sicherung seines Handelns und der darauf antwortenden Reaktionen. - Eben dadurch unterscheidet er sich von Individuen, denen 'persönliches' Charisma zugeschrieben wird, die sich also auch persönlich bewähren müssen. So sehr Johannes XXIII. und Johannes Paul II. als Inhaber des päpstlichen Amtes formal gleichgestellt sind, so verschieden sind sie - nicht nur als Individuen, sondern auch im Verhältnis zur Kurie und ihrer Tradition. Johannes XXIII. steht - trotz des langwierigen Entscheidungsprozesses bei seiner Wahl - in der Tradition der 'italienischen' Päpste. Aus einer oberitalienischen (Bergamo), bäuerlichen Familie stammend, durchläuft Angelo Guiseppe Roncalli seit seinem 14. Lebensjahr eine zwar in ihren einzelnen Stationen ungewöhnliche, von der Struktur her aber 'klassische' kirchliche Karriere. Bevor er Papst wird, ist er weltweit viel gereist und hat insbesondere Europa und Kleinasien gut kennengelernt. Er hat heikle bischöfliche Missionen hinter sich: im orthodoxen Bulgarien, in der islamischen Türkei und in Frankreich, wo er mit Einfühlsamkeit und großem Geschick als Apostolischer Nuntius in Paris (nach 1944) das durch partielle Kollaboration der Kirche mit der deutschen Besatzungsmacht belastete Verhältnis zwischen Widerstand und offiziellem Klerus neu formt. Als Diplomat der Kurie und späterer Kardinal (Patriarch) von Venedig entspricht er dem traditionellen Bild des 'Kurienpapstes'. Eher unauffällig verläuft sein geistliches Leben, dokumentiert im 'Geistlichen Tagebuch'15, dessen erste Eintragungen er mit vierzehn Jahren vornimmt und das sein ganzes Leben begleitet. So vielfältig die Eindrücke und Erlebnisse Roncallis auch sind - seine geistliche Haltung und 'Laufbahn' bleiben davon beinahe unbeeindruckt. Erstaunliche Einfachheit und Klarheit, dazu eine christliche 'Demut des Herzens', derer sich eben dieses Herz mit einem gewissen Stolz zu erfreuen scheint, prägen das Tagebuch - und, wie alle, die ihm begegnet sind, sagen: sein Leben. Johannes Paul II. hat mit diesem Vorgänger nicht viel gemeinsam. Er ist, seit langem, der erste Nicht-Italiener auf dem Heiligen Stuhl und alles andere als ein Kurienpapst. Amt und auch Charisma eines Primas von Polen, aber auch die Ausstrahlung einer der polnischen Herkunft und Heimat verpflichteten Volksfrömmigkeit geben dem Erscheinungsbild dieses Papstes einen unverwechselbaren Akzent. Zum durchaus normalen Bild eines Klerikers gehört noch Wojtylas Tätigkeit als Dozent der Theologie und Philosophie. Stärker individuell geprägt und das 'klassische' Erscheinungsbild überlagernd, sind dagegen seine Vorlieben für Sport (z.B. Fußball, Bergsteigen, Skilaufen) und für das Theater (er trat selbst als Schauspieler auf). Wojtylas Vorlieben hinterlassen - wie die von ihm, nun als Johannes
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Paul II., auf einem Dolomitengipfel im Schneetreiben abgehaltene Messe zeigt ihre Spuren im äußeren Bild dieses Papstes. Daß Johannes Paul II. als nicht-römischer Papst der fortgeschrittenen 'Enteuropäisierung' seiner Kirche Rechnung zu tragen sucht und dies vor allem durch seine Reisen am besten leisten zu können glaubt, ist unverkennbar. Anders als Johannes ΧΧΠΙ., der das Reisen beendet, als er Papst wird, beginnt Johannes Paul II. damit, als er sein Amt übernimmt - dem neuen und ungewohnten päpstlichen Handeln ein neues Ritual beigebend: den Bodenkuß beim Betreten des Gastlandes.16 Der hier zum Ausdruck kommende Versuch einer Neustrukturierung der 'Rolle' des Papstes erfordert zwangsläufig andere Verhaltensformen als die tradierten: Wenn Weltoffenheit durch Reisen angezeigt werden soll, muß sie auch im Erscheinungsbild äußerlich erkennbar sein. In diesem Zusammenhang treten zwangsläufig neue und andere Gestaltungsprobleme auf als jene, die im Verlaufe der Jahrhunderte gelöst werden mußten und am Ende in einem durch Tradition gefestigten Rahmen eingebettet sind. Der Vatikan, päpstlicher Hof und 'heiliger' Raum des 'Stellvertreter Gottes', ist ein beinahe restlos ausgestalteter Handlungsraum, überzogen von einem Repertoire zeremonieller Handlungsgitter für die jeweiligen Ereignisse. Die Stellproben für die Akteure innerhalb dieser Ereignisse sind im Laufe der Zeiten so oft wiederholt worden, daß sie allen Novizen sogleich ihren Willen aufdrücken. Wo der Papst diesen, seinen Raum verläßt, sich in einen anderen als den von ihm gestalteten öffentlichen Rahmen begibt, riskiert er zwangsläufig, den Verhaltensregeln dieses anderen Rahmens unterworfen zu werden: ζ. B. den medienbeherrschten Mustern des öffentlichen Auftritts. Ein Papst, der sich in die von Großveranstaltern der Unterhaltungsindustrie ausgestatteten und beherrschten Arenen (Stadien, Mehrzweck-Hallea etc.) oder auf die Großmärkte populistischer Politiker (Aufmarsch- und Marktplätze, Limousinenfahrten durch menschliches Spalier) begibt, muß wissen, was auf ihn zukommen kann: daß er den Raum, den er benutzt, nicht mehr gestaltet, daß er - statt dessen - ein Forum benutzt, das nicht auf ihn zugeschnitten ist, das seine eigenen Gesetze hat und diese dem neuen Nutzer aufzwingt. Hat sich das Medium (die Kamera) auf dem Petersplatz dem Ritus zu unterwerfen, d.h. Distanz zu wahren und 'unbemerkt' aus der Ferne zu arbeiten, so drängt es sich dem reisenden Papst förmlich auf. Und: Er weist die auffällige Allgegenwart des Mediums nicht einmal da zurück, wo er könnte (Prozession, Meßfeier s.o.). Wohin Johannes Paul II. kommt, die Kamera war nicht nur schon vor ihm da, das öffentliche Arrangement ist mehr auf sie als auf ihn zugeschnitten. Dadurch macht sie ihn zu einem Showstar unter vielen anderen. Daß nicht nur die Gläubigen mit der Kamera zur Messe eilen, sondern auch die ihn umgebenden Priester ihre Kameras um den Hals tragen17, ist beinahe zwangsläufig die Folge. Das Medium bemächtigt sich des Raumes und zerstört ihn als 'heiligen' Raum. Die öffentliche Einschätzung dessen, der sich in ihm bewegt, gerät in den gleichen Sog: Seine Wirkung wird nicht mehr in Kategorien des Religiösen erlebt, sondern
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in Einschaltquoten gemessen.18 Es scheint so, als wolle der ehemalige Schauspieler das Medium nutzen, aber er beherrscht es nicht. Er paßt sich an, und es beherrscht ihn. Johannes Paul II., dem schon kurz nach seiner Wahl zum Papst zugeschrieben wurde, er sei ein 'Papst der Medien', verliert an religiöser Wirkung, Ausstrahlung und Überzeugungskraft durch eben jene Instrumente, derer er sich so oft und wohl auch gern bedient. Die Häufigkeit seiner Reisen und öffentlichen Auftritte führte zu einer Typenverwischung zwischen Papstfigur und Celebrity und damit nicht lediglich zu einer 'Veralltäglichung' des Charismas, sondern zu einem Wechsel im Bewertungsmaßstab: Statt um die Wirkung des Amtscharismas des 'Heiligen Vaters' geht es nun auch um eine Beliebtheitsskala für einen Populisten und öffentlichen Darsteller. Das eine ist an das Amt gebunden; das andere an die Person. Das eine ist, solange sein gesellschaftlicher Bezugsrahmen existiert, unzerstörbar; das andere gerät leicht in Gefahr, vergessen und von neuen medial produzierten Berühmtheiten und Ereignissen aus den 'charts' verdrängt zu werden. Das Nebeneinander zweier unterschiedlicher 'Typen' und Verhaltensmuster in einer Person prägt auch die Reaktionen der 'Anhänger' Johannes Paul II. Während das Erscheinen Johannes XXIII. die Menge auf dem Petersplatz zur Gemeinde von Gläubigen formt, sichtbar die Reaktionen von Verehrung, Andacht und Zuneigung zusammenbindet, spalten die Auftritte Johannes Pauls II. die Reaktionen der Menge in Klatschen und Andacht, Vivatrufe und Beten, Verehrung und Neugierde, Messe und Show (Photoereignis): in eine 'split audience' aus Gläubigen und Publikum.19 Das für diesen Papst charakteristische, widersprüchliche Bild aus Erscheinung (päpstlichem Ornat oder päpstlicher Kleidung) und Verhalten/Darstellung (populistische Gesten), aus 'appearance' und 'performance', findet seine Entsprechung bei der Gemeinde/dem Publikum. Die Geschlossenheit des Ritus (Messe, Prozession, Predigt) wird dadurch aufgebrochen, die Bindung der Gläubigen an den Ritus gelockert, die selbstverständliche Einheit von Amt und Amtsträger aufgelöst. Im gleichen Maß, in dem so das Amt die schützende Kraft verliert, die es gegenüber dem Menschen Karol Wojtyla als Papst Johannes Paul II. ursprünglich hatte, verliert dieser Mensch an Respekt. Allein die Witzeleien über seinen Bodenkuß ließen sich zu einer ansehnlichen Sammlung zusammenfassen: Über einen Charismatiker witzeln gemeinhin lediglich die Gegner - bei Johannes Paul II. auch ein guter Teil der katholischen Gläubigen. Daß seine orthodox-dogmatische Glaubenshaltung in populistische Kleider gehüllt ist, macht sie, so ernst sie auch gemeint sein mag, nicht überzeugender - im Gegenteil. Indem das populistisch agierende Individuum Karol Wojtyla die disziplinierende rituelle Kraft des päpstlichen Amtes unterschreitet, überschreitet es die Grenze eben jenes Ritus, dessen Repräsentant es zu sein hätte. Ein Papst aber, der - als Stellvertreter seines Gottes, als Repräsentant eines kollektiven Glaubens - die Grenzen des rituell (symbolisch) abgesicherten, kollektiven Rahmens in Richtung auf einerseits individuelle Singularität und andererseits populistische
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Anerkennung hin passiert, begibt sich aus freien Stücken als Konkurrent auf den Markt der um Zuschauergunst buhlenden 'personalities' und findet sich zwangsläufig im Kiosk der Allerweltslieblinge wieder.20 Während Johannes Paul Π. durch individualistische und populistische Weisen der Selbstdarstellung das ihm mitgegebene Amtscharisma 'abnutzt' und dessen Wirkungssphäre oft genug verläßt, verweisen die Reaktionen gegenüber Johannes XXIII. auf das Gegenteil. Hier scheint es so, als transzendiere die Persönlichkeit dieses Papstes sein Amtscharisma: als verstärke sie die dem Amt zugeschriebene Kraft und Aufgabe, das Außeralltägliche zu vermitteln. Die Papstfigur als zentrale Stelle im unversehrten Ritus bindet die Gläubigen unmittelbar. Hier bedarf es keiner weiteren Vermittlung: Der Ritus selbst ist das Medium. Gemeinde und Papst sind vom - im - Ritus gefangen: "Unser Guiseppino hat recht, wenn er zu seinem päpstlichen Bruder sagt: 'Du bist ein Gefangener in einem goldenen Käfig"1.21 Aber es ist erstaunlich, wie frei sich Angelo G. Roncalli in seinem Käfig bewegt, wie gut er dessen Einrichtung kennt, wie selbstverständlich er diesen begrenzten Raum mit seiner Person ausfüllt - und wie gerade deshalb die Wirkung dieses Papstes weit über den Käfig hinausreicht. Roncalli drängt sich der Gemeinde nicht auf, es drängt ihn nicht, die Nähe und Bestätigung der Gläubigen zu suchen. Die Gläubigen umschließen ihn. Dennoch wahren sie die Distanz, die sie ihrem verehrten Zentrum schulden. So werden sie ihm zur Aura. Jeder Fremde könnte dieses rituell gefestigte Zusammen-'Spiel' von Gläubigen und verehrtem Mittelpunkt ohne Mühe erkennen. Da dieser Papst von der Menge nichts nimmt (er badet nicht in ihrer Begeisterung), erscheint er als derjenige, der gibt: das Segnen wird zum Spenden. Paradoxerweise ist es aber gerade diese - vom Amt ja geforderte und im Ritus Vorgesehene' - Abgehobenheit, die Johannes XXIII. das Amt transzendieren und das Amtscharisma überschreiten läßt. Es ist seine Fähigkeit, den Zwängen des Amtes - dem Gefangensein darin - nicht lediglich 'perfekt' und schon gar nicht mechanisch zu genügen, sondern ihnen durch Demut (und durch den Stolz der Demut) jene Freiheit abzugewinnen, die es ermöglicht, sich 'leicht' und selbstverständlich in Amt und Ritus zu bewegen. Eine solche soziale Fähigkeit ergibt sich nicht von selbst. Mit ihr verhält es sich wie mit englischen Parklandschaften: Es bedarf dauerhafter Anstrengungen und des anhaltenden Wissens um ein Ideal, bis jene gepflegte 'Natürlichkeit' entsteht, der man die Künstlichkeit und die Mühe ihrer Herstellung nicht mehr ansieht. Jenes 'einfache geistige (und geistliche) Innere' (s.o.), das der Papst Johannes XXIII. ausstrahlt und das den Christen Roncalli in den "Geistlichen Tagebüchern" kennzeichnet, verdankt sich in ähnlicher Weise dem Zusammengehen von Tradition und individueller Verfeinerung. Sie sind das Signum einer Kultur, die nur dort erkannt wird und ihre Wirkung entfaltet, wo sie zugleich in den herausgehobenen Einzelnen wie in der sie heraushebenden Gesellschaft praktiziert und gepflegt wird.
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Vgl. Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, 5. Aufl., Tübingen 1976, S.140ff. Vgl. Hans-Georg Soeffner: Auslegung des Alltags - Der Alltag der Auslegung, Frankfurt/M. 1989, S.62. Vgl. Max Weber 1976, S.140. Johannes XXIII.: Geistliches Tagebuch und andere geistliche Schriften, Freiburg/Basel/Wien 1964, S.350: "Ohne zuvor daran gedacht zu haben, habe ich in einem ersten Gespräch mit meinem Staatssekretär am 20. Januar 1959 die Worte 'Ökumenisches Konzil, Diözesansynode und Neufassung des kirchlichen Gesetzbuches' ausgesprochen, ohne je zuvor daran gedacht zu haben und entgegen allen meinen Ahnungen und Vorstellungen über diesen Punkt. Der erste der von diesem meinem Vorschlag überrascht wurde, war ich selbst..." Der Film zeigt an anderer Stelle das Austeilen der Hostie durch Johannes Paul II. Die Kamera (eine unmittelbar neben ihm hergetragene Schulterkamera) zeigt seine Hand, dazu Gesicht und Zunge der Gläubigen in Nahaufnahme. Die Kamera nähert sich - offensichtlich in kirchlicher Lizenz - den Gesichtern (und dem darin enthaltenen Ausdruck der Hingabe an das Heilige) in jener Weise, die das griechische "porneueia" [(sich) preisgeben] am besten charakterisiert. Wie jenem Pressephotographen, dem es auf einer der monumentalen Meß-'Veranstaltungen' Johannes Paul II. in den USA gelingt, inmitten von zoombewaffneten Amateurphotographen (die wohl zugleich als gläubige Teilnehmer der Messe erschienen waren) einen betenden Gläubigen zu entdecken und 'festzuhalten'. Vgl. auch H.-G.Soeffner: Rituale des Antiritualismus - Materialien für Außeralltägliches, in: H.U.Gumbrecht, K.L.Pfeiffer (Hrsg.): Materialität der Kommunikation, Frankfurt/M. 1988, S.542. Vgl. Rudolf Otto: Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen, München 1963 (orig. 1936). Kein Wunder, daß auch dieses Ereignis seine Struktur in die Berichterstattung hinein durchsetzt. So wird in einem Kommentar zu einem Fernseh-Kurz(!)bericht über den Besuch von Johannes Paul II. in Essen der folgende Sachverhalt im Stil einer Rekordmeldung für mitteilenswert gehalten: "Vom Grugastadion aus fuhr der Heilige Vater mit dem Ruhrbischof im Papamobil in die Innenstadt - mit knapp fünf Kilometern die längste Strecke, die während der Deutschlandreise im Auto zurückgelegt wird". Cf. zur Diffusität eines anderen für Johannes Paul II. charakteristischen Rituals, des Bodenkusses, H.-G. Soeffner: Rituale des Antiritualismus, a.a.O., S.540. Cf. über Listen-Konstruktionen in alltäglichen Unterhaltungen aus konversationsanalytischer Perspektive: Gail Jefferson: List construction as a task and resource, in: G.Psathas (Hrsg.): Interaction competence, Boston 1990, S.63-92. Aufbauend auf der Arbeit von Gail Jefferson hat Max Atkinson in seiner Studie: Our masters' voice: The language and body language of politics, London 1984, den Einsatz und die Wirkung von Listen-Konstruktionen in Politikerreden als einer "technique for inviting applause" untersucht. Vgl. zur Interaktionslogik von Komplimenten und zur komplexen Struktur der Reaktionen auf Komplimente: Anita Pomerantz: Compliment responses: Notes on the co-operation of multiple constraints, in: J.Schenkein (Hrsg.): Studies in the organization of conversational interaction, New York 1978, S.79-112. Max Weber: Die drei reinen Typen der Herrschaft, in: ders.: Methodologische Schriften, Frankfurt/M. 1968, S.223. Da der Papst auch Bischof ist, eigentlich sogar verdreifacht. Johannes XXIII., Geistliches Tagebuch, a.a.O. Zur Interpretation dieses Zusammenhanges vgl. Soeffner 1988. So in dem polnischen Film über die Papstreise während der Szene, in der die Hostie ausgeteilt wird (s.o.). Vgl. auch die folgende Anmerkung. Anläßlich der 2. Reise Johannes Pauls II. durch die USA konnte man in einer kalifornischen Zeitung lesen: "KGO-TV (Channel 7) said the Pope Outpulled some daytime soap operas, but did not so well against others" (San Francisco Chronicle, Sept. 19, 1987, A12). Lediglich in einer Sequenz des 90minütigen Films über den Papstbesuch in Polen wird diese in sich gespaltene Struktur durchbrochen: In einer Messe für Kranke, die in ihren Betten und Rollstühlen in eine Kirche gebracht worden waren, segnet Johannes Paul II. durch Handauflegen, verbunden mit dem Kreuzeszeichen, diese Gläubigen. Obwohl auch hier die Kamera unmittelbar neben ihm hergetragen wird, läßt er sich nicht ablenken: Ernst, Konzentration, Zuwendung und rituelle Form ergänzen einander zu einem in sich stimmigen Verhalten. Prägt hier Johannes Paul II. die Gemeinde oder diese besondere Gemeinde ihn?
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20 Vgl. Thomas Luckmann: The Invisible Religion, New York 1967 (dt.: Die unsichtbare Religion, Frankfurt/M. 1993); Thomas Luckmann: Die "massenkulturelle" Sozialform der Religion, in: H.G.Soeffner (Hrsg.): Kultur und Alltag. Sonderband 6 der Sozialen Welt, Göttingen 1988. 21 Johannes XXIII. 1964, S.360 (Geistliches Testament "An die Roncalli").
Politik
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Das Charisma der Vernunft Stefan Breuer
Zu den Zügen im Werk Max Webers, die immer wieder Befremden und Kritik auslösen, gehört der herausragende Stellenwert, den es dem Charisma zuschreibt. Auch wer bereit ist, dieser Kategorie im Hinblick auf Propheten oder politische Demagogen eine gewisse Erklärungskraft einzuräumen, wird doch nicht leicht jener Schlußpassage im Kapitel "Politische und hierokratische Herrschaft" von "Wirtschaft und Gesellschaft" folgen, in der Weber die tragenden Strukturen der Moderne auf eine Form des Charisma zurückführt - des Charisma der Vernunft, welche ihrerseits auf eine charismatische Organisation verweist - die Sekte. Die protestantischen Sekten, so behauptet Weber, hätten die Idee der Gewissensfreiheit begründet und damit den Grundstein für die Menschenrechtserklärungen gelegt. Diese wiederum hätten nicht nur die Rationalisierung von Recht und Verwaltung, sondern zugleich die Expansion des Kapitalismus begünstigt. Nimmt man den Hinweis hinzu, daß die Menschenrechte ihre letzte Rechtfertigung im Vernunftglauben der Aufklärung hätten, der ebenfalls charismatischer Natur sei, so läuft dies auf die These hinaus, daß die Moderne als Veralltäglichung eines spezifischen Charisma aufzufassen sei. Weber bringt hier jedoch zwei Entwicklungslinien zusammen, die auseinandergehalten werden müssen. Die erste moderne Revolution, die im Zeichen des Natur- und Menschenrechts stattfand - die amerikanische -, kam ohne eine charismatische Verklärung der Vernunft aus; eine solche findet sich dagegen in den Nachfolgerevolutionen Europas und steht hier zumeist in Spannung, wenn nicht sogar in Widerspruch zu den Grund- und Menschenrechten, die sie rechtfertigen soll. Das Charisma der Vernunft, so scheint es, steht keineswegs an der Quelle des Hauptstroms der Rationalisierung; wohl aber spielt es eine konstitutive Rolle in den Bemühungen von Late-comer-Staaten, den Abstand zu den entwikkelteren Ländern zu verringern und, wenn möglich, aufzuheben. Wenn es gelänge, die Bedingungen herauszuarbeiten, denen sich das Charisma der Vernunft verdankt, so könnten damit wesentliche Einblicke in den Prozeß nachholender Rationalisierung gewonnen werden.
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Jede Annäherung an das Charisma der Vernunft hat mit einer Klärung dessen zu beginnen, was eigentlich unter Charisma zu verstehen ist. In Webers Schriften hat dieser Begriff zwei verschiedene Aspekte. Es gibt zum einen den transepochalen Aspekt, der im wesentlichen mit der Definition des genuinen Charisma identisch
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ist: eine als außeralltäglich geltende Qualität einer Persönlichkeit1; von ihr meint Weber zu Recht, sie lasse sich nicht einer bestimmten Entwicklungsphase zuordnen. Es gibt aber auch einen historischen Aspekt, der Günther Roth und Wolfgang Schluchter dazu veranlaßt hat, von einer "Entwicklungsgeschichte des Charisma" zu sprechen.2 Diese Entwicklungsgeschichte bezeichnet eine innere Veränderung, die sich am Charisma selbst vollzieht. Das Charisma löst sich von der Bindung an eine Person, es wird zunehmend unpersönlicher und sachlicher, zu einer Eigenschaft, die sich an Ideen, Programme, Institutionen heftet. Günther Roth hat diesen Vorgang am klarsten herausgestellt: "Im Verlauf der historischen Rationalisierung und Entzauberung der Welt hängt die charismatische Legitimierung immer mehr an Ideen und weniger an den magischen oder ererbten Qualitäten von Personen. Die historische Bewegung schreitet von der revolutionären Herausforderung, die dem persönlichen Charisma von Männern mit magischen Kräften (wie Jesus oder Thomas Müntzer) eigen ist, zu einem Charisma natürlicher Rechte fort, das keiner Personifizierung mehr bedarf. Das Charisma der Vernunft ist Ausdruck einer Entpersönlichung des Charismas, die sich von dessen Veralltäglichung, die so oft in der Geschichte vorgekommen ist, unterscheidet". 3
Die verschiedenen Stadien wie auch die gesellschaftlichen Ursachen dieses Vorgangs können hier nicht ausgeleuchtet werden; ich bin, im Blick auf das magische und das religiöse Charisma, an anderer Stelle darauf eingegangen.4 Hier muß der Hinweis genügen, daß wir es mit einem kulturgebundenen Prozeß zu tun haben, nicht mit einem allgemeinen Entwicklungsgesetz. Nur ein Bruchteil der historisch bekannten Gesellschaften trat in den patrimonialen Zyklus ein, in dem sich die Voraussetzungen für eine Überwindung des magischen Charisma ergaben. Und nur ein kleiner Teil der patrimonialen Kulturen wiederum erlebte aufgrund einmaliger geopolitischer und historischer Umstände die Entstehung des prophetischen Charisma, dem es gelang, die magischen Elemente zu entwerten und den Weg freizumachen für eine neue, rationale, "das heißt von Magie sowohl wie von allen Formen irrationaler Heilssuche freie religiöse Ethik des innerweltlichen Handelns".5 Zur kulturbestimmenden Macht aber wurde diese Ethik nur in einem noch einmal eingeengten Areal. Während das religiöse Charisma ein Produkt der Kulturentwicklung des Okzidents und des asiatischen Orients ist, kommt es zu einem weiteren Versachlichungsschub nur im Okzident, und dies wiederum nur aufgrund "einzigartige(r), niemals sich wiederholende(r) Konstellationen": der überseeischen Expansion; dem Frühkapitalismus; der "Eroberung des Lebens durch die Wissenschaft"; und nicht zuletzt jenen "aus der konkreten historischen Eigenart einer bestimmten religiösen Gedankenwelt herausgewachsene(n) ideale(n) Wertvorstellungen, welche, mit zahlreichen ebenfalls durchaus eigenartigen politischen Konstellationen und mit jenen materiellen Konstellationen zusammenwirkend, die 'ethische' Eigenart und die 'Kulturwerte' des modernen Menschen prägten".6 Worauf die zuletzt zitierten Bemerkungen anspielen, liegt auf der Hand: es geht um den unverwechselbaren Beitrag, den der asketische Protestantismus bzw. die protestantischen Sekten zur Formierung des modernen Geistes geleistet
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haben. Der Protestantismus hat wie keine andere Religion dem Pietätsprinzip die Grundlage entzogen und damit den 'Geist der Versachlichung' gefördert. 7 Er hat jede politische und hierokratische Reglementierung zurückgewiesen und die Forderung nach Gewissensfreiheit und Toleranz auf die Tagesordnung gesetzt, aus der historisch die Idee eines unveräußerlichen Rechtes der Beherrschten, "und zwar jedes einzelnen Beherrschten, gegen die, sei es politische, sei es hierokratische, patriarchale oder wie immer geartete Gewalt" erwuchs. Dieses Recht auf Gewissensfreiheit ist nach Weber das prinzipiell erste, Freiheit von der Staatsgewalt verbürgende Menschenrecht, dem sich dann weitere Individualrechte wie das Eigentumsrecht, die Vertragsfreiheit und die Freiheit der Berufswahl angliederten. Ihre letzte Rechtfertigung fanden diese Rechte "in dem Glauben des Aufklärungszeitalters daran, daß (das Walten) der 'Vernunft' des Einzelnen, falls ihr freie Bahn gegeben werde, kraft göttlicher Providenz und weil der Einzelne seine eigenen Interessen am besten kenne, zum mindesten die relativ beste Welt ergeben müsse: die charismatische Verklärung der 'Vernunft' (die ihren charakteristischen Ausdruck in ihrer Apotheose durch Robespierre fand) ist die letzte Form, welche das Charisma auf seinem schicksalsreichen Weg überhaupt angenommen hat".8 In diesen Zusammenhang gehören auch die Ausführungen der Rechtssoziologie über das formale Naturrecht. Die Grund- und Menschenrechte mit ihrer 'epigrammatischen Theatralik' werden hier als Ausdrucksformen des modernen Rechtsrationalismus begriffen, der seine Axiome mehreren Quellen verdanke: den rationalistischen Sekten, dem Naturbegriff der Renaissance, dem englischen Konzept des 'birthright'. Dieses Naturrecht ist individualistisch, indem es vor allem die Freiheitsrechte des einzelnen in den Mittelpunkt stellt; und es ist rationalistisch, indem es alle positiv geltenden Regeln auf die materialen Maßstäbe der Vernunft bzw. der Natur bezieht, welche als "Inbegriff der unabhängig von allem positiven Recht und ihm gegenüber präeminent geltenden Normen" aufgefaßt werden.9 Daß darin, bei allem Rationalismus, zugleich eine charismatische Komponente steckt, deutet Weber an, wenn er den Code civil als Ausdruck der Überzeugung interpretiert, daß hier zum erstenmal ein rein rationales Gesetz geschaffen werde, "welches (vermeintlich) seinen Inhalt nur von dem sublimierten Menschenverstand in Verbindung mit der spezifischen Staatsräson der dem Genie, und nicht der Legitimität, ihre Macht verdankenden großen Nation empfängt".10 Die große Linie ist damit klar. Weber entwirft eine Entwicklungsgeschichte des Charisma und bindet diese eng an den großen religionsgeschichtlichen Prozeß der Entzauberung. Während das Judentum eine Schlüsselrolle beim Übergang vom magischen zum religiösen Charisma spielt, kommt dem asketischen Protestantismus eine ähnliche Bedeutung für die Überwindung des religiösen Charisma zu: Brechung der hierokratischen Macht, Grundlegung der subjektiven Rechte, Schaffung einer Ordnung, die auf rationalen Beziehungen zwischen Einzelsubjekten beruht. Der Rationalismus der Aufklärung, der daraus die Konsequenz zieht, erscheint vor diesem Hintergrund als, wenn auch nicht intendierte, so doch unver-
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meidliche Folge jener Entpersönlichung und Versachlichung, die sich durch den Protestantismus am Charisma vollzieht. Doch diese Genealogie ist trügerisch. Sie verdeckt, daß der asketische Protestantismus keineswegs eine Entpersönlichung des Charisma mit sich bringt, sondern das Gegenteil: eine Renaissance des Personalcharismatismus, die mit der Organisationsform der Sekte einhergeht. Mit ihrem absoluten Individualismus und der Betonung der innerweltlichen Askese haben die protestantischen Sekten wohl mittelbar die Versachlichung gefördert, unmittelbar jedoch einen Schritt zurück hinter den Universalismus vollzogen, wie er in der Anstaltskirche bereits institutionalisiert war. Zu einer weiteren Versachlichung und Entpersönlichung des Charisma bis hin zur Ausbildung eines Charisma der Vernunft kam es dagegen gerade in solchen Ländern, in denen es den protestantischen Sekten nicht gelang, die Macht der Kirche bzw. des Staatskirchentums dauerhaft zu brechen. Nicht der Personalcharismatismus der Sekte, wohl aber der Amtscharismatismus der Kirche bzw. des Cäsaropapismus wurde zur Folie, auf der sich die letzte Metamorphose des Charisma vollzog. Ich möchte dies in einem kurzen Vergleich der amerikanischen und der französischen Revolution genauer begründen.
8.2 Die Ausführungen am Ende des Kapitels 'Politische und hierokratische Herrschaft' verweisen auf einen älteren Text: Georg Jellineks Aufsatz über 'Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte' (1895). Dieser Text hat Weber in doppelter Hinsicht beeinflußt. Zum einen, weil er mit dem "Nachweis religiöser Einschläge in der Genesis der 'Menschenrechte'" die Tragweite des Religiösen auch auf Gebieten demonstrierte, "wo man sie zunächst nicht sucht"11; zum andern, weil er den nordamerikanischen Sekten eben jene Schlüsselstellung für die Verfassungsentwicklung zuwies, wie sie Weber später für die Entstehung des kapitalistischen Geistes behauptet hat. Jellineks These war, daß die Grund- und Menschenrechte des modernen Verfassungsstaates nicht politischen, sondern religiösen Ursprungs waren und sich historisch auf das Recht der Gewissensfreiheit zurückverfolgen ließen, das zum erstenmal um die Mitte des 17. Jahrhunderts in Rhode Island und anderen nordamerikanischen Kolonien durchgesetzt worden sei. Aus diesem Recht seien alle übrigen unveräußerlichen Rechte des Individuums abgeleitet worden, die man später in den bills of rights der Revolutionsepoche finde. Die Prinzipien von 1789, so Jellineks Schlußfolgerung, seien deshalb in Wahrheit die Prinzipien von 1776.12 Die von Jellinek aufgestellte und von Weber übernommene Filiationsthese ist nun sicher nicht gänzlich von der Hand zu weisen. Es gibt in der Tat zahlreiche Parallelen zwischen den amerikanischen Rechteerklärungen und der französischen Déclaration, und nicht weniger Übereinstimmung in zentralen verfassungsrechtlichen Fragen. Mounier etwa mit seiner Konzeption eines harmonischen Gleichge-
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wichts der Regierung und Sieyes mit seiner Idee des pouvoir constituant vertraten Vorstellungen, die auch in den USA verbreitet waren.13 Ebenso evident aber sind die Differenzen, auf die weder Jellinek noch Weber eingehen. Die amerikanische Revolution, bedingt durch eine geringere Polarisierung der Sozialstruktur, wies einen weitaus weniger breit gefächerten Charakter als die französische auf, in der sich eine Adelsrevolution, eine bürgerliche, eine bäuerliche und eine von den Sansculotten getragene Revolution ineinanderschoben; sie war eine fast rein politische Revolution, wohingegen in der französischen Revolution auch starke soziale Gegensätze explodierten14; und sie wies außerdem ein völlig anderes Verhältnis zur Macht auf, das sich in einem tiefsitzenden Argwohn auch gegenüber den Entscheidungen des Souveräns artikulierte. Der Unterschied der beiden Revolutionen, so hat es Marcel Gauchet jüngst formuliert, "liegt vielleicht im wesentlichen daran, daß in Frankreich jenes abgründige Mißtrauen gegen die korrumpierenden und repressiven Virtualitäten jedweder Macht fehlte, das die amerikanische Revolution so tiefgreifend geprägt hat, und das beispielsweise einen Teil ihrer Protagonisten dazu bestimmt hat, die Rechteerklärung als Schutz gegen ihre eigenen Repräsentanten zu interpretieren".15 Besonders greifbar ist diese Differenz in dem ganz unterschiedlichen Verhältnis zur Vernunft. Nicht, daß die Amerikaner sie abgelehnt oder gering geachtet hätten. Das calvinistische Mißtrauen in die natürlichen Fähigkeiten des Menschen, die puritanische Betonung der Irrationalität Gottes, der Weltordnung und der Erwählung waren im 18. Jahrhundert durch deistische und rationalistische Vorstellungen überlagert und temperiert worden, die eine optimistischere, vom Glauben an Aufklärung, Fortschritt und soziale Harmonie getragene Sichtweise förderten und etwa einen Autor wie Madison zu der Feststellung veranlaßten, allein die Vernunft des Publikums könne die Regierung kontrollieren und regulieren.16 Das Vertrauen in die Urteilskraft und in den Common Sense des vernünftigen Bürgers, das aus den maßgeblichen Beiträgen zur Verfassungsdiskussion spricht, blieb indes stets mit einer nicht weniger ausgeprägten Skepsis gegenüber der Leistungsfähigkeit eben dieser Vernunft gepaart. Der gleiche Madison, der die Vernunft pries, hielt sie dennoch für fehlbar und für eine Quelle von Irrtümern und Meinungsdifferenzen, die zwangsläufig zur Bildung von Parteien oder Fraktionen führen müßten17 - eine Folge allerdings, die Madison, im Unterschied zu der gegen jeden Parteigeist gerichteten Rhetorik der Jakobiner, durchaus nicht perhorreszierte. Die Menschen, wie er sie sah, waren unvollkommen und deshalb außerstande, etwas Vollkommenes zu verwirklichen; sie mußten sich damit begnügen, partikulare Gesichtspunkte und Interessen zu haben, und versuchen, zwischen ihnen einen Ausgleich zu schaffen. Dazu bedurften sie neben ihrer Vernunft vor allem der Erfahrung, und zwar sowohl derjenigen, die die Geschichte bot, als auch derjenigen, die in der Gegenwart möglich war. "Die Erfahrung muß uns leiten", erklärte John Dickinson auf dem Verfassungskonvent in Philadelphia. "Die Vernunft kann uns in die Irre führen".18 Die politischen Institutionen mußten deshalb weder erfunden noch sklavisch so fortgeführt werden, wie sie überliefert waren. Die vor der Erfah-
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rung bewährten Prinzipien der gemischten Regierung, der Gewaltentrennung und der checks and balances waren vielmehr aufzunehmen und durch Praxis, Übung und Experiment fortzuentwickeln. "Let us give it a trial", schrieb Tench Coxe 1788 über die neue Verfassung, "and when experience has tought us its mistakes, the people ... can reform and amend it".19 Was die Autoren des 'Federalist' noch für ganz ausgeschlossen hielten - die Ausübung der Herrschaft durch Philosophen - wurde zur selben Zeit in Frankreich zum Programm erhoben. Nie zuvor, meinte Sieyes in seinem 'Überblick über die Ausführungsmittel, die den Repräsentanten Frankreichs 1789 zur Verfügung stehen', sei es dringender gewesen, "der Vernunft ihre ganze Macht zu verleihen und den Tatsachen die Macht zu entwinden, die sie zum Unglück der Menschheit an sich gerissen haben".20 Die Tatsachen, über die er sich empörte, waren die Privilegien und Exemtionen des Ancien Régime; die Vernunft, die er einforderte, bestand in der Errichtung einer Verfassung, die der volonté nationale zu ihrem Recht verhalf. Der Nationalwille, der durch die Repräsentanten des Volkes sichtbar gemacht werden sollte, war die wahre Allgemeinheit und damit die Inkarnation der Vernunft. Er war eins und unteilbar, an keine Form gebunden und vollständig frei. Ihn herauszuarbeiten, ihn gegenüber allen partikularen und divergierenden Interessen durchzusetzen, erschien Sieyes als die eigentliche Aufgabe der Revolution. Und nicht nur ihm. Als im Juli 1789 in der Nationalversammlung das Projekt einer Erklärung der Rechte beraten wird, plädiert der Graf von Montmorency dafür, nicht nur dem Beispiel der Amerikaner zu folgen, sondern es zu vervollkommnen, indem man "lauter die Vernunft" anriefe und sie eine "reinere Sprache" sprechen ließe. Auch Rabaut Saint-Etienne meint, man solle weitergehen als die Amerikaner. "Daraus, daß die Amerikaner nur die Menschenrechte erklärt haben, folgt nicht, daß wir uns darauf beschränken müssen". Die eigentliche Aufgabe sei eine Neubestimmung des politischen Bandes. Es gehe "weniger darum, die Rechte zu erklären, als vielmehr, sich zu konstituieren".21 Daß diese Konstitution nicht aus dem bloßen Kompromiß der einander widerstreitenden empirischen Interessen und Meinungen, sondern allein aus den Gesetzen der Vernunft resultieren konnte, daran bestand für Rabaut ebensowenig Zweifel wie für die meisten anderen Revolutionäre. Dem gleichen Radikalismus der Vernunft begegnet man später bei Condorcet, der die Freiheit als Notwendigkeit definiert, "nicht seiner eigenen Vernunft zu gehorchen, sondern der kollektiven Vernunft der größten Zahl"; bei Danton, der den "Despotismus der Vernunft" verkündet und ihn schon als den künftigen Beherrscher der Welt sieht, und nicht zuletzt bei Robespierre, für den der "Lauf der menschlichen Vernunft" ebensowenig aufzuhalten ist wie der Lauf der Sonne. Die Revolution, das war für Robespierre "die unbesiegbare Vorherrschaft der universellen Vernunft", die sich im Willen des Volkes verkörperte. Denn: "Welchem anderen Gesetz kann das Volk folgen als der Gerechtigkeit und der Vernunft, die von seiner eigenen Allmacht gestützt werden?"22 Zu den Besonderheiten der französischen Revolution gehört nun freilich, daß diese Fetischisierung der Vernunft sich nicht auf die revolutionäre Elite in der
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Hauptstadt beschränkte. Nachdem die Revolution die Kirche ihrer weltlichen Macht beraubt und, mit der Einführung der Scheidung und einer neuen Zeitrechnung, in das Alltagsleben der Bevölkerung einzugreifen begonnen hatte, kam 1793 in ganz Frankreich ein Welle der EntChristianisierung in Gang. Die Kirchen wurden geschlossen und als 'Tempel der Vernunft' wieder geöffnet; die Heiligenstatuen wichen Büsten der Märtyrer der Revolution; die religiösen Zeremonien Kulten der Vernunft, in denen junge Frauen aus dem Bürgertum als Göttinnen der Vernunft präsidierten. Die bekannteste Fête de la Raison wurde im November 1793 auf Veranlassung der Commune in Notre Dame zelebriert, wo man anstelle des Altars einen Berg aufgeschüttet hatte, der von einem 'Tempel der Philosophie' gekrönt war.23 Ähnliche Berge gab es bald in vielen anderen Kirchen des Landes. Sie wurden zum Ziel von Prozessionen, bei denen Attribute des neuen Kults wie etwa die Trikolore, die Tafeln der Menschenrechte und der Verfassung, Büsten von Patrioten oder Philosophen mitgeführt wurden. Daß die Apotheose der Vernunft zugleich eine des Terrors und des Todes war, brachte niemand deutlicher zum Ausdruck als die Stadtverwaltung von Orléans, die im Fundament des geplanten Berges die Gebeine aller Verdächtigen und aller Aristokraten der Stadt verscharren lassen wollte.24 Die charismatische Verklärung der Vernunft war das Produkt einer im wesentlichen spontanen Bewegung, in deren Verlauf die Riten und Liturgien der traditionellen Religion auf ein neues Objekt übertragen wurden. Die Usurpation des bis dahin zentralisierten und an die kirchliche Ämterhierarchie gebundenen Charisma durch lokale Gruppen und Versammlungen nahm dabei nicht selten ein solches Ausmaß an, daß der Konvent um die Autorität der Zentrale fürchtete. Aus diesem Grund (wie auch aus der Sorge, durch eine weitere Forcierung der Dechristianisierung die Reihen der Revolutionsgegner zu verstärken) wandte sich Robespierre am 18. Floréal II (7.5.1794) gegen die neuen Kulte. In Fortführung jener obsessiven Idee von der Einheit und Unteilbarkeit der Vernunft, die nacheinander zur Liquidierung der Parteien und der Volksgesellschaften geführt hat, erklärt Robespierre die Anhänger der lokalen Kulte zu Wegbereitern eines neuen Sektenwesens, aus dem, falls man es unkontrolliert wuchern ließe, bald wieder Parteien und Fraktionen entstehen könnten. Robespierre warnt vor einer weiteren Radikalisierung der Aufklärung, weil dadurch der Atheismus gestärkt und die Zentrierung des Volkswillens infrage gestellt werden könnte. Er beschwört einmal mehr die Gefahr des Egoismus und den Verlust des gemeinsamen Bandes. Und er verlangt, die disparaten örtlichen Kulte durch ein "wohlverstandenes System von Festen" und die Plethora von Freiheits- und Vernunftgöttinnen durch die Verehrung eines einzigen "Höchsten Wesens" zu ersetzen: "Wenn man die Menschen zur reinen Verehrung des Höchsten Wesens aufruft, versetzt man damit dem Fanatismus einen tödlichen Schlag. Alle Wahngebilde verschwinden vor der Wahrheit, und alle Dummheiten versinken vor der Vernunft. Ohne Zwang und ohne Verfolgung sollen sich alle Sekten miteinander in dem universellen Glauben an die Natur zusammenfinden. Wir raten euch also, an den Grundsätzen festzuhalten, die ihr bislang vertreten habt. Die Glaubensfreiheit muß respek-
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tiert werden, damit die Vernunft siegen kann; aber diese Glaubensfreiheit darf nicht die öffentliche Ordnung stören und zu einem Mittel der Verschwörung werden".25
Der Kult des Höchsten Wesens, am gleichen Tag vom Konvent beschlossen und am 20. Prairial mit einem glanzvollen, von David arrangierten Fest gefeiert, markiert in bezug auf die Vernunftkulte von 1793/94 sowohl einen Bruch als auch eine Fortsetzung. Bruch: weil die spontanen und unkontrollierten Feste verschwanden und einer neuen, zentral geplanten und inszenierten Zivilreligion wichen; zugleich wurden wichtige Protagonisten der Dechristianisierungsbewegung hingerichtet und die Bezeichnung 'Tempel der Vernunft* durch die Inschrift ersetzt 'Das französische Volk erkennt das Dasein des höchsten Wesens und die Unsterblichkeit der Seele an'. Fortsetzung: weil sich Inhalte und Formen des neuen Kults so eng an die Vernunftkulte anlehnten, daß für die Gläubigen oft kein Unterschied erkennbar war. Behauptete man vor dem 18. Floréal, Gott anzubeten, wenn man die Vernunft anbetete, so glaubte man nach dem 18. Floréal, "wenn man Gott anbetete, auch weiterhin die Vernunft anzubeten, da diese nur als Emanation Gottes angesehen wurde".26 Insofern ist es zwar nicht exakt, aber auch nicht völlig falsch, wenn Weber die Apotheose der Vernunft hauptsächlich Robespierre zuschreibt.
8.3 Woher rührt nun dieser auffällige Unterschied zwischen einer Revolution, die so sehr auf den Primat der Vernunft setzt, und einer anderen, die ihr gegenüber skeptisch bleibt? Drei Gründe drängen sich auf, Gründe, die sich a) aus der religiösen, b) aus der politischen, c) aus der sozialen Organisation ergeben. Sehen wir sie uns näher an. a) Von großer Bedeutung ist zunächst, daß die amerikanische Gesellschaft wie keine andere vom Geist der protestantischen Sekten geprägt war. Sicher nicht ausschließlich. Wie die neuere Forschung lehrt, spielten daneben auch andere Einflüsse eine Rolle, die aus der republikanischen Tradition des klassischen Humanismus oder aus aufklärerisch-liberalen Quellen stammten. 27 Gleichwohl bleibt es ein Faktum, daß von den rund 2,5 Millionen Einwohnern, die 1776 in den dreizehn Kolonien lebten, immerhin 1,13 Millionen Mitglieder calvinistischer Sekten waren - Kongregationalisten, Presbyterianer, holländische und deutsche Reformierte, Baptisten. Klammert man die rund eine halbe Million zählende schwarze Bevölkerung aus, die politisch ohne Einfluß war, so wird deutlich, welches Gewicht den Sekten zukam. 28 Das Wesen der Sekte ist nach Weber vor allem dadurch bestimmt, "daß sie 'Verein' ist und nur die religiös Qualifizierten persönlich in sich aufnimmt". 29 Im Falle der protestantischen Sekten ist das Kriterium der religiösen Qualifikation "das Charisma des Gnadenstandes" 30 , eine Eigenschaft, die unmittelbar von Gott zuerteilt wird, ohne jede Vermittlung durch den hierokratischen Verband. Die Sekte ist deshalb, im geraden Gegensatz zur Kirche, ein aristokratisches Gebilde,
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eine Gemeinschaft der Heiligen.31 Sie beruht auf dem freiwilligen Zusammenschluß "rein persönlich charismatisch qualifizierter Personen"32 und reicht auch nur soweit, wie sich das Personalcharisma zu bewähren vermag: von daher der Verzicht auf Universalität, die Bindung an kleine Gemeinden, die Ablehnung des expansiven Amtscharisma.33 Führt man sich ferner vor Augen, daß für den Calvinismus Gottes Wesen nicht die Vernunft ist, vielmehr der "souveräne Herrscherwille, der die einen erwählt und die anderen verwirft im ewigen Ratschluß, der an keiner für alle gleich geltenden Vernunftordnung gemessen werden darf' 34 , so wird klar, warum auf diesem Boden ein Charisma der Vernunft nicht zu entstehen vermochte. In Frankreich dagegen gelang es dem religiösen Personalcharismatismus nicht, die Macht seines Antagonisten - des kirchlichen Amtscharismatismus - zu brechen. Der asketische Protestantismus wurde bereits in den Hugenottenkriegen des 16. Jahrhunderts besiegt und später von Richelieu und Ludwig XIV. auf einen marginalen Status herabgedrückt.35 Eine andere, allerdings innerkatholische Virtuosenbewegung, die die episkopalistisch-anstaltliche Kirchenverfassung in Frage stellte der Jansenismus - wurde im 17. Jahrhundert verfolgt und im 18. Jahrhundert verboten.36 Auch wenn vor der Revolution die Aufklärung gerade in der Geistlichkeit, insbesondere im Pfarrklerus, beträchtliche Resonanz fand37, ändert dies doch nichts daran, daß in Frankreich die Spendung und Versagung von Heilsgütern ausschließlich Sache der Kirche blieb - und damit der Organisation, die im Gegensatz zur Sekte "die Loslösung des Charisma von der Person und seine Verknüpfung mit der Institution und speziell: mit dem Amt" zur Grundlage hatte.38 Verglichen mit den protestantischen Sekten war zwar die Kirche insofern minder rational, als sie auf Wunder und Magie baute. Im Hinblick auf das Charisma aber war ihr Rationalitätsgrad höher. Denn während die Sekten durchgängig an das personale Charisma fixiert blieben, gelang der Kirche eine weitgehende Versachlichung desselben, seine Umwandlung in den "Glaube(n) an die spezifische Begnadung einer sozialen Institution als solcher"39, die über ein quasi algorithmisches Programm zur Verteilung der Heilsgüter, eine geschlossene Dogmatik und ein ebenso geschlossenes Befehlssystem verfügte. Mit dieser eigentümlichen Kombination rationalsachlicher Organisation einerseits und fortdauerndem Appell an die Kraft magischer Vorstellungen andererseits steht die Kirche dem Charisma der Vernunft weit näher als der asketische Protestantismus. b) Die prägende Kraft zentralistisch-hierarchischer Orientierungsmuster wurde in Frankreich dadurch verstärkt, daß der hierokratische Verband in eine Herrschaftsordnung eingebettet war, die cäsaropapistische Züge trug.40 Zwar nicht im strengen Sinne des von Weber entworfenen Typus, der die völlige Unterordnung der kirchlichen Angelegenheiten einschließlich der Dogmen, Götter und Kulte unter das Diktat des weltlichen Herrschers vorsieht41: auch nach dem Konkordat von Bologna (1516), in dem die Kirche wesentliche Rechte aufgab, behielt der Papst doch insoweit einen beträchtlichen Einfluß, als ihm bei der Besetzung der hohen Prälaturen die Idoneitätsprüfung und das Ernennungsrecht zukam; einen
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Versuch, die Befugnisse der Kurie noch weiter einzuengen, mußte der König 1693 offiziell zurücknehmen.42 Von cäsaropapistischen Tendenzen aber kann man dennoch sprechen, weil das Konkordat das Patronagepotential der Kirche weitgehend den weltlichen Instanzen auslieferte. Der König besaß ein bindendes Vorschlagsrecht für die obersten Ämter, er setzte in Rechtsprechung und Verwaltung die Möglichkeit einer Anrufung der Staatsgewalt gegen Mißbräuche der Kirchengewalt durch (appellatio ab abusus) und behauptete das sogenannte Plazet, d. h. das Recht, vom Standpunkt des Staatsinteresses kirchliche Erlasse zu prüfen und deren Durchführung zu genehmigen oder zu untersagen.43 Maßnahmen der Kirche erschienen damit immer zugleich als Maßnahmen des Staates. Der Amtscharismatismus erhielt so eine zusätzliche Stütze durch den Staat, der sich seit den großen Kardinälen des 17. Jahrhunderts als Träger einer spezifischen Form der Vernunft begriff - der Staatsräson. Diese wurde wohl in durchaus traditioneller Weise als Ausdruck der göttlichen Vernunft vorgestellt, stand aber seit ihrer ersten Begründung im 16. Jahrhundert in einem Kontext, der theoretisch wie praktisch auf eine Delegitimierung der herkömmlichen Ordnungsmächte Kaiser und Papst hinauslief und die ordnungsstiftenden Funktionen allein dem territorial begrenzten, innerhalb dieser Grenzen jedoch souveränen Staat übertrug.44 Nach innen wie nach außen sollte der Staat in eine autonome Institution verwandelt werden. Nach außen, indem man seine spezifischen Interessen innerhalb des Staatensystems verteidigte und mit den Mitteln der Diplomatie und des Militärs durchsetzte. Nach innen, indem man die Umwandlung des spätmittelalterlichen 'Personenverbandsstaates' in den 'institutionellen Flächenstaat' (Th. Mayer) vorantrieb, in welchem der Wille des Souveräns Vorrang vor allen Partikularwillen besaß und über die nötigen Ressourcen zu seiner Verwirklichung verfügte. Wenngleich die Durchsetzung dieses Programms in Frankreich aus später noch zu erörternden Gründen scheiterte, konnte über die Leitidee doch kein Zweifel bestehen: daß "der König in seinem Reich der einzige Souverän ist und die Souveränität sowenig teilbar ist wie der Punkt in der Geometrie".45 Die Transformation des Personenverbandsstaates in den institutionellen Flächenstaat brachte indes nicht nur eine Zentralisation und Konzentration der Entscheidungsgewalt mit sich. Sie implizierte auch eine Ablösung des Staates von der Person des Monarchen. Indem sie den Akzent nicht mehr auf personale Tugenden legte, wie dies die älteren Fürstenspiegel noch zu tun pflegten, sondern auf die reine "Logistik der Macht" - ihren finanziellen und administrativen Unterbau begünstigte die Idee der Staatsräson jene "Depersonalisierung des Machtbegriffs"46, die in der Revolution auf die Spitze getrieben wurde. Die Revolutionäre zogen in der Tat nur die Conclusio aus der seit langem bekannten Prämisse, daß Staatsangelegenheiten nicht die Sache einer einzigen, fehlbaren Person sein konnten, sondern Gesetzmäßigkeiten und Imperativen unterlagen, denen jeder sich ausnahmslos beugen mußte; sie wandten damit den Begriff der Vernunft gegen einen Träger, der diesem Begriff offensichtlich unangemessen war. Zugleich aber übernahmen sie die Vorstellung von der Einheit, Unteilbarkeit und Omnipotenz
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der Macht und statteten sie mit jenem Charisma aus, das der französischen Monarchie seit alters her zugeschrieben wurde. Die revolutionäre Macht, so hat es Marcel Gauchet ausgedrückt, befand sich gegenüber der königlichen Macht in einem mimetischen Verhältnis. "Es führte sie dazu, sich zum erwählten Erben der Anhäufung und Verdichtung öffentlicher Macht zu machen, die vom monarchischen Staat verfolgt worden war.47 Ganz ähnlich sieht es Furet, für den die revolutionäre Macht nur ein "Ersatzbild von der Macht" ist, "ein Abziehbild von dem der 'absoluten' Macht der Könige", das nur einfach zugunsten des Volks umgedreht worden sei.48 Der Unterschied zu Amerika liegt auf der Hand. Die amerikanischen Staaten waren Kolonien eines Landes, in dem der Absolutismus, nach zaghaften Ansätzen im 17. Jahrhundert, bereits frühzeitig gebrochen worden war. England, das klassische Land der Honoratiorenverwaltung, kannte keinen Militär- und Beamtenstaat wie Frankreich, dem Gottesgnadentum war mit der Hinrichtung Karls I., der Absetzung Jakobs II. und dem Act of Settlement von 1701 die Grundlage entzogen, die Monarchie hatte sich in eine rein säkulare Institution verwandelt.49 Begünstigt durch die Politik des salutary neglect, die bis zum Siebenjährigen Krieg anhielt, regierten sich die Kolonien weitgehend selbst durch Repräsentatiwersammlungen, ohne deren Unterstützung die von London eingesetzten Gouverneure nichts vermochten. Die politische Partizipation war dank eines relativ breiten Wahlrechts und ebenso breiter Wahlmöglichkeiten bei der Besetzung von Ämtern so hoch, daß man schon der vorrevolutionären Gesellschaft durchaus demokratische Züge attestiert hat.50 Die politische Integration erfolgte nicht, wie in absolutistischen Systemen, durch eine Monopolinstanz, unter deren nivellierendem Zugriff sich die Gesellschaft atomisiert, sondern von unten her, gefördert und gestärkt durch die "eminente gemeinschaftsbildende Macht" der Sekten.51 Monopolinstanzen gegenüber war und blieb die amerikanische Gesellschaft mißtrauisch, auch nachdem sie die Vorrechte der britischen Krone beseitigt und sich selbst als Souverän konstituiert hatte. c) In Amerika fehlt nun endlich auch jene Gruppe, auf deren Bedeutung für das Charisma der Vernunft vor allem Günther Roth hingewiesen hat52: die ideologischen Virtuosen. Für sie waren die Bedingungen schon deshalb ungünstig, weil die Säkularisierung des Lebens selbst zur Zeit von Webers Amerikabesuch noch immer nicht sehr stark in die Tiefe gedrungen war53, so daß das Virtuosentum der Sinnsucher weiterhin auf religiöse Aktivitäten beschränkt blieb. Außerdem war die Berufsgliederung der amerikanischen Gesellschaft noch nicht sehr ausgesprägt. Es gab wohl Pfarrer, Lehrer und - seit den 1730er und 1740er Jahren - auch einen besonderen Anwaltsstand, jedoch kaum hauptberufliche Literaten; einer der ersten Publizisten, der allein von den Einkünften seiner Feder leben konnte, war Thomas Paine - ein Engländer, der erst seit 1774 in Amerika lebte.54 Die ausgedehnten Möglichkeiten des self-government führten die Bildungsschichten in die praktische Politik, die einer Verselbständigung der politischen Rhetorik deutliche Grenzen setzte. Wenn die amerikanische Revolution einen so gänzlich anderen Verlauf
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nahm als die französische, so liegt dies neben den anders gearteten soziopolitischen Voraussetzungen nicht zuletzt auch daran, "daß die revolutionäre Elite Amerikas nahezu ausschließlich aus Praktikern bestand, die vor 1776 jähre- und jahrzehntelang in Parlamenten und anderen Funktionen und Selbstverwaltungskörperschaften politische Erfahrungen gesammelt und die Bedingungen und Möglichkeiten praktischen politischen Handelns in den vorangegangenen erfahrungsträchtigen Jahren der politischen Krise mit Bravour erlernt hatten. Die von ihnen in dieser Zeit artikulierten politischen Ideen konnten diesen persönlich-praktischen Erfahrungshorizont nie verleugnen".55 In Frankreich dagegen drängte ein großer Teil der Bildungsschichten in die république des lettres. Bestand diese noch im 17. Jahrhundert in einer kleinen und überschaubaren Gemeinschaft von Gelehrten, die in lateinischer Sprache diskutierten, so begann sie sich im 18. Jahrhundert mit zunehmender Alphabetisierung, Ausweitung des Lesepublikums und Expansion des Zeitschriften- und Buchmarktes rasch zu differenzieren: in die Welt der Akademien, die sich der allgemeinen Wissensverbreitung widmeten und bald fast 6 000 Mitglieder zählten; die Welt der literarischen Gesellschaften, Lesekabinette, Salons und Cafés; und nicht zuletzt auch die Welt der Freimaurerlogen, die sich als Schulen der Sitten und der ethischen Vervollkommnung verstanden und mehr als 20 000 Mitglieder hatten.56 Immer mehr Beamten-, Arzt- und Lehrersöhne schlugen nicht mehr die Priesterlaufbahn ein, sondern drängten in intellektuelle Gewerbe. Folgt man den Angaben von Robert Darnton57, so gab es Mitte des 18. Jahrhunderts fast 1 200 Schriftsteller, von denen sich mehr als ein Drittel über rein intellektuelle Tätigkeiten reproduzierte: als Journalisten, Schauspieler, Privatlehrer, Bibliothekare oder Sekretäre. Diese Schicht, die unter der Hegemonie der philosophes, der 'ersten Intelligenzija' stand58, betrieb vorzugsweise das, was Tocqueville als 'literarische Politik' bezeichnet hat. Während ihr praktisch-politische Funktionen weitgehend versperrt blieben, beschäftigte sie sich intensiv mit Fragen der politischen Konstitution und des Wesens der Gesellschaft und entwickelte Theorien, wie die komplizierten Strukturen des Ancien Régime durch neue, aus der Vernunft oder der Natur abgeleitete Gesetze vereinfacht und rationalisiert werden könnten. Unter ihrem Einfluß, schreibt Tocqueville, spaltete sich das politische Leben Frankreichs in zwei getrennte, miteinander nicht verkehrende Provinzen auf. "In der ersten wurde verwaltet, in der zweiten stellte man abstrakte Prinzipien auf, auf die sich die Verwaltung hätte gründen sollen. Hier ergriff man einzelne Maßregeln, die die Routine bestimmte; dort proklamierte man allgemeine Gesetze, ohne je an die Mittel zu ihrer Ausführung zu denken, den einen gehörte die Führung der Geschäfte, den anderen die Leitung der Geister".59 Auch wenn dieses Urteil insofern modifiziert werden muß, als der absolute Staat sich gegenüber dem Einfluß der Aufklärung keineswegs gänzlich unempfänglich zeigte, so ist die Grundtendenz doch zutreffend beschrieben:
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"Über der wirklichen Gesellschaft, deren Verfassung noch traditionell, verworren und unregelmäßig war, wo die Gesetze mannigfach und widersprechend, die Stände schroff getrennt, die Zustände unveränderlich und die Lasten ungleich waren, baute sich so allmählich eine imaginäre Gesellschaft auf, in der alles einfach und koordiniert, gleichförmig, gerecht und vernunftgemäß erschien".60
8.4 Es wäre gewiß wünschenswert, diese allzu knappe Analyse in einen größeren Bezugsrahmen einzubetten. Der Aufstieg der Intellektuellen ist nicht zu trennen vom Aufstieg des Bürgertums, und der Vernunftbegriff der Aufklärung verweist auf die neuzeitlich-experimentellen Wissenschaften, die ihrerseits in engem Zusammenhang mit der Durchsetzung des Kapitalismus stehen. Eine solche Erweiterung würde jedoch an dem Punkt nichts ändern, auf den es hier ankommt: der Differenz zwischen zwei Entwicklungspfaden, die durch ein je spezifisches Verhältnis von Staat und Gesellschaft gekennzeichnet sind. Während in Nordamerika, wie zuvor schon in England, der Staat eine Einrichtung der society ist, die Aufgaben und Grenzen dieser Institution bestimmt, haben wir es in Frankreich genau umgekehrt mit einer 'Vereinnahmung der société civile durch den Staat' zu tun 61 : die Gesellschaft ist hier so sehr in ein plurales und heterogenes Ensemble von Sozietäten und Korporationen gespalten, daß sie dem Staat seinen Anspruch auf Repräsentation von Einheit und Allgemeinheit nicht streitig zu machen vermag. Alle größeren Veränderungen, einschließlich des Aufstiegs des Bürgertums und der Verbreitung der Lumières, haben deshalb durchgängig einen Staatsbezug, müssen durch die Schleusen und Filter einer Institution, die sich selbst als Träger der Vernunft begreift. Zu einer charismatischen Verklärung derselben kann es nur im Rahmen dieses zweiten Entwicklungspfades kommen. Eben dieser Vorgang aber bedarf noch weiterer Klärung. Denn das Charisma der Vernunft ist zwar ohne die im letzten Abschnitt skizzierten Bedingungen nicht denkbar, doch geht es in ihnen auch nicht auf. Es entspringt zugleich einer antiautoritären Umdeutung, kraft deren aus der pflichtmäßigen Anerkennung des Charisma als einer Folge der Legitimität ein Legitimitätsgrum/ wird.62 Was Vernunft ist, wird nun nicht länger autoritär durch den Herrscher oder seine Regierung festgelegt, sondern von den Beherrschten bzw. deren Repräsentanten; der Herrscher selbst wird an den Maßstäben dieser Vernunft gemessen und, unter Umständen, abgewählt und ersetzt. Was hat diese revolutionäre Umdeutung des Charisma verursacht? Der wichtigste Grund ist zweifellos, daß die Monarchie im Lauf des 18. Jahrhunderts ihren Anspruch, Träger der Vernunft zu sein, eingebüßt hat. Der französische Absolutismus hatte sich ursprünglich sehr um den Aufbau einer modernen, rationalen Bürokratie bemüht. Mit dem Stand der officiers hatte er einen Beamtentypus eingeführt, dessen Laufbahn einer gewissen Regelmäßigkeit unterlag, der über Fachkompetenzen verfügte, gegen festes Gehalt arbeitete und von sozialen und familiären Bindungen weitgehend abgekoppelt war. Die damit eingeleitete
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Rationalisierungstendenz wurde indes abgebrochen, als die Krone unter dem Druck ständiger Finanznöte zum Verkauf wichtiger Ämter überging und so die Kontrolle über die Verwaltungsmittel aus der Hand gab. Die Herrschaftsstruktur wurde stereotypiert, nicht rationalisiert; sie entwickelte sich zu einer Variante der traditionalen Herrschaft, die zwischen den Polen der patrimonialen und ständischen Organisation oszillierte.63 Patrimonial war dieser Absolutismus, weil er immer wieder das Recht in Anspruch nahm, die durch Tradition gesetzten Schranken der Herrengewalt zu durchbrechen und eine arbiträre Monokratie zu errichten, die sich auf einen rein persönlichen Verwaltungsstab stützte: auf dieser Linie liegt die Einführung der Intendantur im 17. Jahrhundert ebenso wie die Aussetzung der Ämterkäuflichkeit durch den Kanzler Maupeou 1771, die die Umwandlung der Beamtenschaft in eine rein persönliche Dienerschaft einleiten sollte. Ständisch aber war dieser Absolutismus, weil es ihm letztlich nicht gelang, dem Verwaltungsstab die Verfügung über wesentliche Herrenrechte und die damit verbundenen ökonomischen Chancen zu entreißen. Die Monarchie mußte sich damit abfinden, daß durch das System der Steuerverpachtung rund ein Drittel der fiskalischen Ressourcen in die Taschen privater Unternehmer flöß; sie mußte es hinnehmen, daß die Parlamente, die Bastionen des Amtsadels, über umfangreiche Rechte und exekutive Apparate verfügten, die sie entschlossen einsetzten, wenn es darum ging, die Gesellschaft der Korporationen und Privilegien zu verteidigen. Die beachtliche Überlebensfähigkeit, die die Monarchie nichtsdestoweniger an den Tag legte, verdankte sie vor allem der hemmungslosen Ausweitung der Staatsverschuldung, die das Ancien Régime schließlich in den voraussagbaren Bankrott trieb. Auch das Bündnis mit der Aufklärung, zu dem sich die Monarchie seit Mitte des 18. Jahrhunderts bereitfand, änderte nichts an diesem Dilemma. Dabei war es nicht allein die Krone, die dieses Bündnis suchte. Die Aufklärung selbst, alles andere als antiabsolutistisch, hatte, insbesondere in ihrem physiokratischen Zweig, die absolute Monarchie als das geeignete Instrument zur Durchsetzung ihrer Reformpläne identifiziert, welche auf nicht weniger hinausliefen als auf die durchgängige Befreiung des wirtschaftlichen Lebens vom merkantilistischen Rigorismus, die radikale Umgestaltung der Steuerverfassung zugunsten der classe productive, die Umwandlung der Landwirtschaft in eine reine Pächterwirtschaft nach englischem Vorbild und die Organisation eines öffentlichen Erziehungswesens.64 Alle Maßnahmen indes, mit denen dieses Reformprogramm durchgesetzt werden sollte - die Liberalisierung des Getreidemarktes 1763, die Verkündung der allgemeinen Gewerbefreiheit und die Ersetzung der corvée royale durch eine von allen Grundeigentümern zu entrichtende Steuer unter der Ministerschaft Turgots (177576) - scheiterten am vehementen Widerstand der Parlamente, die darin nicht zu Unrecht die ersten Schritte zur Beseitigung der ständischen Herrschaftsstruktur sahen.65 Die mangelnde Standfestigkeit der Krone dürfte freilich auch mit der Ahnung zusammenhängen, daß die ihr von der Physiokratie zugewiesene Rolle eines Agenten des ordre naturel auf längere Sicht zur Unterminierung des Gottesgnaden-
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turns führen mußte. Wie auch immer: Mit dem Verzicht auf die "Revolution von oben" (Muhlack) gab sie den Weg frei für die Revolution von unten, die bald als Alternative zum legalen Despotismus der Physiokraten den Despotismus der Legalität propagieren sollte. Es war jedoch nicht allein das Scheitern der Reformpolitik, das für die Abkehr vieler aufklärerisch gesinnter Intellektueller vom Ancien Régime verantwortlich war. Von mindestens ebenso großer Bedeutung ist die Tatsache, daß die Versorgungs- und Integrationsmöglichkeiten, die die vorrevolutionäre Gesellschaft für Intellektuelle bot, etwa seit den sechziger Jahren des 18. Jahrhunderts zunehmend überlastet waren. Während es der ersten Generation der Aufklärung noch mühelos gelang, die privilegierten Zeitschriften, Akademien und Sozietäten zu erobern und sich die Protektion des Hofes oder vermögender Gönner zu sichern, fanden die später nachrückenden Literaten alle Pfründen bereits vergeben. Um Erfolg zu haben, erwies sich das bloße Talent rasch als unzureichend; und da es vor dem 19. Jahrhundert keinen offenen literarischen Markt gab, der den Autoren unabhängige Einkommenschancen geboten hätte, blieb vielen nur das Antichambrieren, das Betteln um Pensionen oder die geistige Prostitution. So entstand, was Voltaire die canaille de la littérature genannt hat: ein intellektuelles Proletariat, eine Subintelligenzija, die vom Verfertigen von Pamphleten, Kompilationen oder pornographischer Schriften lebte, mitunter Spitzeldienste für die Polizei übernahm und einen wachsenden Haß auf ein System nährte, in dem das Talent derart mißachtet und die Tugend so sehr mißbraucht wurde. Marat und Brissot, Carra und Desmoulins, Collot d'Herbois und Fabre d'Eglantine, alle diese großen Namen der Revolutionsjahre gehörten im ausgehenden Ancien Régime zu jenem Heer 'elender Skribenten', die, meist aus der Provinz kommend, Paris überschwemmten, gewaltige Projekte planten und sich schließlich in einer Dachkammer wiederfanden. Ihre Werke, schreibt Robert Darnton66, "bringen nicht eine vage Stimmung gegen das 'Establishment' zum Ausdruck, sondern in ihnen brodelt der Haß gegen die literarischen 'Aristokraten', die sich der egalitären 'Gelehrtenrepublik' bemächtigt und sie in eine 'Despotie' verwandelt hatten. In den Niederungen der intellektuellen Unterwelt wurden diese Männer zu Revolutionären, und dort war die Geburtsstätte der jakobinischen Entschlossenheit, die Aristokratie des Geistes auszulöschen." Darntons Erkenntnisse bestätigen Webers These, daß es besonders die negativ privilegierten Intellektuellenschichten sind, die zum Träger revolutionärer Deutungen bzw. Umdeutungen werden. Intellektuelle, die sich aus vornehmen Schichten rekrutierten, schufen entweder, wie in China, eine Ethik der Weltanpassung, die auf Selbstkultivierung zielte, oder sie fungierten, wie in Indien, als Träger einer formalistischen Ritualisierung. Wo sie zur Weltablehnung neigten, wie im Vorderen Orient, entwickelten sie Erlösungsreligionen, die die Befreiung von innerer Not durch Kontemplation oder Askese erstrebten.67 Revolutionäre Intentionen dagegen, die auf eine Gestaltung der Welt nach Vernunftprinzipien oder utopischen Ideen zielten, pflegten ihnen fremd zu sein. Die Möglichkeit einer Wendung
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gegen das Bestehende sieht Weber vor allem bei den aus negativ privilegierten Schichten stammenden Intellektuellen gegeben, weil sie aufgrund ihrer sozialen Lage einer "durch Konventionen nicht gebundenen Stellungnahme zum 'Sinn' des Kosmos und eines starken, durch materielle Rücksicht nicht gehemmten, ethischen und religiösen Pathos fähig" seien.68 Diese Stellungnahme kann sich in genuin religiösen Konzeptionen artikulieren, auf die hier nicht näher einzugehen ist. Sie kann aber auch die Form eines 'religionsartigen' Glaubens annehmen, wie Weber ihn z.B. im deutschen Sozialismus und im russischen Populismus verkörpert sieht. 69 Ich sehe keinen Grund, warum man nicht auch den Glauben der jakobinischen Intelligenz an das Charisma der Vernunft in diese Rubrik einordnen sollte. Mit diesen Überlegungen soll keineswegs der alte, vorzugsweise in konservativen Deutungen anzutreffende Mythos erneuert werden, es seien vor allem die Intellektuellen gewesen, die den alten Staat unterhöhlt und schließlich zum Einsturz gebracht hätten. Um ein Gebäude zu sprengen, das soviele Jahrhunderte überdauert hatte, bedurfte es weit größerer Kräfte, die sich aus den materiellen Interessen der Bauern oder der städtischen Sansculotten ergaben und die, wie die Untersuchung der cahiers de doleánces von 1789 gezeigt hat, kaum von den Vorstellungen der 'literarischen Politik' berührt waren. 70 Diese Ursachen sollen weder bestritten noch minimiert werden. Worum es hier allein geht, ist der Verlauf, den die Revolution genommen hat; und dieser wurde letztlich nicht von den materiellen Interessen, sondern von den Illusionen und Fiktionen bestimmt, die das Bewußtsein der Intelligenzija beherrschten. Es war diese Intelligenzija, die, als das Charisma des Königs dahinschwand, es aufgriff und in die Fähigkeit umdeutete, für die Nation, für die Allgemeinheit, für die Vernunft zu sprechen. 71 Es war diese Intelligenzija, die daraus ihren Anspruch auf die alleinige Interpretation des Nationalwillens und das Recht ableitete, all jene mit Terror zu bedrohen, die sich diesem Anspruch nicht fügten; und es war gleichfalls diese Intelligenzija, die die Revolution schließlich in das verzweifelte Unterfangen trieb, die reale Gesellschaft durch die imaginäre zu ersetzen. Indem sie das Charisma nur antiautoritär umdeutete, ließ sie seine Rolle, im Zentrum der gesellschaftlichen Ordnung zu stehen, unangetastet; sie schuf damit die Voraussetzung für eine Fortsetzung des Absolutismus, die nicht weniger wirtschafts- und politikfremd war als das Ancien Régime, und mit dem gleichen Eifer zu verhindern versuchte, daß sich eigengesetzliche Lebenssphären herausbildeten. Was sich mit dem Charisma der Vernunft durchsetzte, war weniger die Vernunft als das Charisma.
8.5 Die reizvolle Aufgabe, nach vergleichbaren Vorgängen im italienischen oder deutschen Jakobinismus zu suchen, muß hier unerledigt bleiben. Stattdessen will ich mich der Frage zuwenden, ob die soeben behandelte Erscheinungsform des Charisma der Vernunft tatsächlich die letzte Form in der Entwicklungsgeschichte des
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Charisma ist; oder ob nicht noch weitere Ableitungen auszumachen sind, die ein Licht auf spätere Revolutionen werfen. Aus Raumgründen muß ich mich dabei auf einige Bemerkungen zur russischen Revolution beschränken, doch ist diese von so paradigmatischer Bedeutung, daß das, was für sie gilt, auch auf andere moderne Revolutionen übertragen werden kann. Was die strukturellen und dynamischen Voraussetzungen betrifft, die in den beiden letzten Abschnitten für das Charisma der Vernunft herausgearbeitet wurden, so kann über ihr Vorhandensein im zaristischen Rußland kein Zweifel bestehen; eher sind sie noch ausgeprägter als im französischen Ancien Régime. Der religiöse Personalcharismatismus, der die Reinkarnation Christi in lebenden Menschen behauptete, war zwar seit dem 17. Jahrhundert eine mächtige Kraft, die ein weit gefächertes und zahlenmäßig sehr beachtliches Sektenwesen hervorbrachte, doch gelang es ihm nicht, den Amtscharismatismus der orthodoxen Kirche zu verdrängen - schon deshalb nicht, weil diese in weitaus stärkerem Maße als die katholische auf ein tief verwurzeltes magisch-rituelles Bedürfnis antwortete. Außerdem waren die Sekten einer scharfen Verfolgung durch den Staat ausgesetzt, der z.B. unter Nikolaus I. nicht vor dem Einsatz militärischer Gewalt zurückschreckte. Der Cäsaropapismus konnte auf byzantinische Traditionen zurückblicken, in denen der Kaiser als Oberhaupt der Kirche galt; dieser Zug verstärkte sich seit dem 16. Jahrhundert, als die russische Kirche, um den immer mächtiger werdenden weltflüchtigen Tendenzen zu begegnen, sich ganz hinter die Autorität der moskowitischen Monarchie stellte und die Gottähnlichkeit des Zaren propagierte. Ihren letzten Rest an Autonomie verlor sie im 18. Jahrhundert, als ihre Einkünfte konfisziert, ihre gerichtlichen Privilegien beseitigt und ihre Einrichtungen faktisch in staatliche Organe verwandelt wurden. Das freiheitliche Potential der russischen Kirche hat Max Weber denn auch äußerst niedrig eingeschätzt und in ihr eher ein Machtmittel in der Hand des Zaren gesehen. 72 Den russischen Absolutismus bezeichnete Weber als "so 'aufgeklärt*..., wie der Absolutismus unter den modernen Verhältnissen, im Interesse seiner Selbsterhaltung, überhaupt sein kann"73. Damit ist zweierlei gemeint. Der Zar war einerseits ein patrimonialer Herr, d.h. er befand sich im Vollbesitz der Verwaltungs- und Kriegsbetriebsmittel, besaß das Monopol auf politische Entscheidungen und regierte autokratisch. Keine Gruppe der russischen Gesellschaft, einschließlich des Adels, verfügte über genügend Kohäsion, um ihm diese Position streitig zu machen. Auf der anderen Seite sah sich dieses patrimoniale Regime jedoch seit der petrinischen Ära genötigt, vom Höchstmaß der Herrengewalt, das es im 16. und 17. Jahrhundert erreicht hatte, einen Abstrich nach dem anderen zu machen. Hatte es bis dahin das Land wie einen riesigen Oikos besessen und regiert, so mußte es unter dem Druck der militärisch überlegenen Gegner aus dem Westen auf das Landmonopol verzichten und dem Adel uneingeschränkte Eigentumsrechte an seinen Gütern zugestehen, es mußte die Hierarchie der an die Krone gebundenen Gruppen aufbrechen, die Rangklassen in Stände umwandeln und diesen das Recht gewähren, ihre eigenen Interessen zu verfolgen. 74 Noch die großen
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Reformen des 19. Jahrhunderts - die Aufhebung der Leibeigenschaft, die Einführung der lokalen Selbstverwaltung, die Justizreform und schließlich die forcierte Industrialisierung - liegen auf dieser Linie einer durch militärische Zwänge induzierten Ressourcenmobilisierung, in deren Verlauf sich der patrimoniale Oikos in einen (freilich immer noch autokratisch gelenkten) Staat und eine diesem gegenüberstehende Gesellschaft differenzierte. 75 Diese "Rationalisierung des Bürokratismus in Rußland" 76 war nur möglich, weil die Krone die Abschottungspolitik gegenüber dem Westen aufgab, Bücher und Zeitschriften ins Land ließ und die Entstehung einer Bildungsschicht förderte. Rekrutierte diese sich anfangs noch vorwiegend aus den positiv privilegierten Schichten, den Dworjanen und Tschinowniki, so öffnete sich das Bildungswesen seit Alexander II. (1855-81) in verstärktem Maße auch den Angehörigen der steuerpflichtigen Gruppen. 1885 betrug der Anteil von höheren Schülern aus adligen Familien nur noch 49 %, nachdem er 1833 noch bei fast 80 % gelegen hatte. 77 Eine relativ gesehen zwar noch sehr schmale, in absoluten Zahlen aber durchaus eindrucksvolle Schicht von Intellektuellen im weitesten Sinne entstand, die allerdings fast ausschließlich auf die Beschäftigungsmöglichkeiten angewiesen war, die der Staat bereitstellte. Ende des 19. Jahrhunderts gab es in Rußland etwa 94 000 Ingenieure, Mechaniker, Agronomen und andere technische Experten, etwa 262 000 Beschäftigte im Erziehungs-, Kultur- und Gesundheitsbereich und ca. 12 400 Personen, die als Anwälte, Notare u.ä. tätig waren. 78 Sahen die Bildungsschichten Ende der fünfziger Jahre noch mit großen Hoffnungen auf den Staat, so begann sich bald eine wachsende Entfremdung abzuzeichnen, als dessen Unfähigkeit zu wirklich durchgreifenden Reformen deutlich wurde. Die einseitige Bevorzugung des adligen Großgrundbesitzes bei der Bauernbefreiung, die polizeistaatliche Repression, das langsame Entwicklungstempo in Industrie und Landwirtschaft, schließlich die demütigende Niederlage gegen Japan - dies alles ließ in der Intelligenz einen günstigen Nährboden für radikale Lösungen entstehen und förderte die Herausbildung eines ideologischen Virtuosentums. Frühsozialistische Konzeptionen, ergänzt durch die Vernunftphilosophie des deutschen Idealismus, wurden mit dem Mythos von der russischen Dorfgemeinde verschmolzen, ein naives Vertrauen in die Wissenschaft und Technik Westeuropas amalgamierte sich mit der Vorstellung einer welthistorischen Erlöserrolle Rußlands. Unter anderen Vorzeichen und neuen gesellschaftlichen Bedingungen wiederholte sich der Vorgang, den wir im französischen Ancien Régime beobachten konnten: nachdem der Staat als Träger der Vernunft versagt hatte, usurpierte die revolutionäre Intelligenz diese Rolle und begann, das Charisma in antiautoritärem Sinne umzudeuten. Vor diesem Hintergrund ist erklärlich, weshalb gerade in Rußland jakobinische Denkmuster auf eine so breite Resonanz stießen, auch wenn sie nur selten rein zutage traten und sich vielfach mit sozalistischem, kommunistischem oder anarchistischem Gedankengut mischten. Jakobinische Züge trägt bereits das Programm der Dekabristen, das eine republikanische Regierung mit einer straff zentralisierten
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Verwaltung vorsah und, analog zu Robespierre, jeden Bürger mit den für seine Subsistenz nötigen Mitteln ausstatten wollte. Ähnliche Gedanken finden sich beim frühen Tschernyschewski, dessen Roman 'Was tun* Lenin beeinflußt hat, in Pissarews Kult der Vernunft, in Zaischnewskis Konzeption der revolutionären Diktatur sowie bie Netschajew und Tkatschew, die die politische Revolution zur Voraussetzung der sozialen erklärten und die aufgeklärte Minderheit aufforderten, die träge Mehrheit zu ihrem Glück zu zwingen. Wie stark die Sogkraft jakobinischer Ideen war, zeigt sich daran, daß selbst ein so entschiedener Kritiker des Elitismus und Etatismus wie Bakunin mehrfach die Errichtung einer revolutionären Diktatur forderte, die sich der Bildung und der Erziehung der Massen widmen sollte. Auch dem populistischen narodnitschestwo, das die Hegemonie der Massen über die revolutionäre Elite propagierte, waren solche Gedanken nicht fremd, wie der verschiedentlich gemachte Vorschlag belegt, die Staatsgewalt als Mittel zur wirtschaftlichen Veränderung zu nutzen. 79 Die politisch folgenreichste Aufnahme und Fortbildung aber fand der Jakobinismus bei Lenin. Seine Affinität zu dieser Richtung hat Lenin nie verleugnet. Er hat sich immer wieder begeistert über Tschernyschewski geäußert, er erklärte Tkatschews Bestreben, mit Hilfe des einschüchternden Terrors die Macht zu ergreifen, für 'erhaben' und legte jedem nahe, Tkatschew zu studieren. 80 Als der führende Menschewik Aksel'rod im Sommer 1903 gegen Lenins Parteikonzeption den Vorwurf des Jakobinismus erhob, nahm er diese Bezeichnung ohne zu zögern an und statuierte: "Der Jakobiner, der untrennbar verbunden ist mit der Organisation des Proletariats, das sich seiner Klasseninteressen bewußt geworden ist, das ist eben der revolutionäre Sozialdemokrat". 81 Auch später kam Lenin mehrmals auf diese Analogie zurück, am ausführlichsten im Juli 1917, als er das Jakobinertum zu einem der "Höhepunkte im Befreiungskampf der unterdrückten Klasse" erklärte und ausdrücklich für seine Erneuerung eintrat. 82 Diese Bekundungen sind ernst, aber natürlich nicht wörtlich zu nehmen. Lenin teilte mitnichten die Liebe der Montagne zum Kleinbesitz, sondern forderte die Nationalisierung von Grund und Boden als "Vorbedingung des schnellsten kapitalistischen Fortschritts in unserer Landwirtschaft", womit nichts anderes gemeint war als die Einleitung einer Entwicklung, "die die Überlegenheit der großen Landwirtschaft verstärkt und es erfordert, daß die kleinen Farmergrundstücke stets leicht zu großen 'konsolidiert' werden können".83 Weit davon entfernt, jene Gesellschaft kleiner unabhängiger Produzenten anzusteuern, in der der Jakobinismus die materielle Voraussetzung seiner Tugendrepublik sah, ging es Lenin darum, den Kleinbesitz so rasch wie möglich zu überwinden, weil nur dadurch die Rückständigkeit Rußlands beseitigt und der Schritt zu jener Ordnung getan werden konnte, der Lenins eigentliches Interesse galt: dem Industriesozialismus. Wenn es zutrifft, daß der Jakobinismus die bürgerliche Revolution nur soweit mitzutragen bereit war, wie sie dem materialen Ideal einer Erhaltung aller Gesellschaftsglieder als selbständiger Eigentümer entsprach, dann war Lenin ganz gewiß kein Jakobiner.
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Die gleichwohl vorhandene und von vielen Kritikern bemerkte Nähe des Leninismus zum Jakobinismus ergibt sich aus der Priorität, die beide dem politischen Kampf gegen den 'Despotismus' beimaßen. Da eine beschleunigte industrielle Entwicklung nicht möglich war, solange die 'asiatisch-feudale' Sozialstruktur bestand, war es in Lenins Augen vordringlich, den zaristischen Staat zu zerschlagen, der diese Sozialstruktur stützte; die russische Revolution mußte also eine politische Revolution sein, bevor sie eine soziale und wirtschaftliche sein konnte. Das Dilemma aber war, daß sich keine der gesellschaftlichen Hauptklassen diese Aufgabe zu eigen machte. Das Bürgertum war zu schwach und zu kompromißbereit; die Bauernschaft interessierte sich für nichts anderes als Land; und die Arbeiterschaft engagierte sich nur, wie 'Was tun' breit darlegte, für gewerkschaftliche Ziele. Die revolutionäre Partei, wie sie Lenin vorschwebte, konnte deshalb keine Klassenpartei im Sinne Max Webers sein. Sie durfte sich nicht als Instrument eines Klasseninteresses begreifen, sondern hatte im Gegenteil die verschiedenen Klassen zur Transzendierung ihres unmittelbaren Interesses, zur Erfüllung der Aufgaben einer politischen Revolution zu bewegen. Von daher die Betonung der revolutionären Theorie, von daher die Auffassung, das politische Klassenbewußtsein könne sich nicht aus den sozialen Kämpfen selbst ergeben, sondern nur aus den "Beziehungen aller Klassen und Schichten zum Staat und zur Regierung".84 Das eigentlich revolutionäre Subjekt war unter diesen Umständen die Partei als der virtuelle Gegenstaat: war sie es doch, die die Bauernschaft von agrarsozialistischen Utopien abzubringen und die Arbeiterschaft zum politischen Idealismus und Heroismus zu erziehen hatte. Lenin sagte es nicht klar, aber seine Ausführungen lassen keinen Zweifel daran, daß für ihn die Partei der Träger der Vernunft, die Inkarnation des Allgemeinen war; und sie lassen ebensowenig im Zweifel darüber, welche soziale Gruppe für diese Aufgabe am besten geeignet war: die durch die Parteiorganisation erzogene und disziplinierte Intelligenz. Ein zusätzliches Pathos gewann der Leninismus durch die Imperialismustheorie. Deren Kerngedanke war, daß der Kapitalismus in den Metropolen seine weltgeschichtliche Aufgabe einer Entwicklung der Produktivkräfte erfüllt hatte, die fällige sozialistische Revolution aber verhinderte, indem er mit Hilfe von Extraprofiten aus der Ausbeutung der Peripherie eine zum Opportunismus neigende Arbeiteraristokratie erzeugte. Wenn dies so war, so erhielt jede Aktion, die diese Konstellation erschütterte, eine völlig neue Dimension. Insbesondere erschien nun der Kampf um die Selbstbestimmung der Nationen - für sich genommen ein bürgerlich-demokratisches Ziel - insofern als ein Schritt zum Sozialismus, als er die imperialistische Herrschaft der parasitären, von Fäulnis ergriffenen Rentnerstaaten untergrub, dem Monopolkapital die Mittel zur Bestechung der metropolitanen Arbeiterschaft entzog und damit die letztere dazu drängte, sich endlich ihrer revolutionären Aufgabe zu stellen. Weil der Kapitalismus seine transitorische Notwendigkeit eingebüßt hatte und sich nur noch mittels Gewalt hielt, mußte jede Form von revolutionärer Gegengewalt, wie borniert sie in ihren unmittelbaren Zielen auch sein mochte, objektiv seinen Untergang und die Freisetzung der von
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ihm geschaffenen sozialistischen Elemente befördern: dies war die Quintessenz des Leninismus, die Wurzel jenes spezifisch bolschewistischen Pathos, das noch der trivialsten Aktion im Kampf gegen ein Polizeiregime die Aura einer virtuell weltgeschichtlichen Tat verlieh. Es war diese, in letzter Instanz geschichtsphilosophisch begründete Überzeugung, die Lenin im April 1917 zu seiner berühmten Forderung veranlaßte, der Provisorischen Regierung wegen ihres halbherzigen Antiimperialismus die Unterstützung zu entziehen und stattdessen die gesamte Staatsgewalt auf die Arbeiterdeputiertenräte zu übertragen. Es war diese Überzeugung, die die Bolschewiki dazu brachte, sich wie keine andere Partei dem Massenradikalismus zu öffnen. Und es war die gleiche Überzeugung, die sie anschließend befähigte, diesem Massenradikalismus das Genick zu brechen. Denn während der letztere konkret, aber dissoziativ, auf die Verwirklichung von Partikularinteressen gerichtet war, war die bolschewistische Vernunft abstrakt, aber einheitsstiftend; und genau diese Eigenschaft brachte die Partei bzw. deren Spitze dazu, die von der Monarchie geräumte Position zu usurpieren und, indem sie eine Strömung des Massenradikalismus gegen die andere auspielte, die Gesellschaft erneut auf ein Zentrum hin zu organisieren.
8.6 Wäre also der Leninismus die (vorläufig) letzte Form, welche das Charisma der Vernunft 'auf seinem schicksalsreichen Wege' angenommen hat? Manches spricht dagegen. Der Leninismus vertritt nicht nur ein Gesellschaftsideal, das sich von dem des Jakobinismus unterscheidet, er verzichtet auch weitgehend auf jene Beschwörung der Vernunft, die für die französische Revolution so typisch ist. Vom allgemeinen Willen, von der Volkssouveränität, von der Allmacht des Gesetzes ist bei Lenin nur sehr wenig die Rede, dafür um so mehr von Fragen der Organisation und der Methode, der Strategie und der Taktik, die allesamt auf die "Grundfrage jeder Revolution" hinauslaufen, die "Frage nach der Macht im Staat".85 Dazu paßt, daß der Vernunft in der russischen Revolution keine Tempel geweiht und keine Kulte gewidmet wurden. Soweit die russische Revolution Kulte hervorgebracht hat, galten diese Personen, nicht abstrakten Ideen. Diese Einwände sind in einem Punkt richtig. Es hat keine charismatische Verklärung der Vernunft auf lokaler Ebene gegeben, und es konnte sie auch nicht geben, weil dafür in Rußland die Voraussetzungen fehlten. In Frankreich waren die Vernunftkulte Ausdruck des wachsenden Selbstbewußtseins eines provinzialen Stadtbürgertums, das die eigentliche revolutionäre Elite darstellte; die Karte der Entchristianisierung entsprach der Verbreitung des Jakobinismus. 86 In Rußland dagegen fand sich das städtische Bürgertum, das zahlenmäßig ohnehin von ungleich geringerem Gewicht war, sehr rasch auf der Seite der Gegenrevolution und hatte schon von daher keinen Anlaß, die Revolution mit einem Fortschreiten der Vernunft in Verbindung zu bringen. Die lokalen Bolschewiki andererseits waren in
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den Jahren des Bürgerkriegs so sehr mit militärischen Fragen beschäftigt, daß sie für Kulte keine Zeit hatten. Als dann später um Lenin ein gigantischer Totenkult eingerichtet wurde, war dies zugleich ein Eingeständnis der Regression, die das Land durch Revolution und Bürgerkrieg erlitten hatte. Eine Bildungsschicht, die der Vernunft hätte Tempel weihen können, gab es nicht mehr. Auch die französische Revolution endete allerdings, wie hier nur am Rande vermerkt sei, mit einer Renaissance des persönlichen Charisma - dem von Napoleon Bonaparte. Es scheint in der Logik revolutionärer Prozesse zu liegen, daß mit zunehmender Intensivierung des Außeralltäglichen das genuine Charisma die Oberhand gewinnt und alle anderen Varianten verdrängt. Was die übrigen Einwände angeht, so ist ihnen vor allem entgegenzuhalten, daß sich der Leninismus nicht auf einen reinen Machtpragmatismus reduzieren läßt. Für Lenin war die Staatsmacht keineswegs letztes Ziel, sondern Mittel zum Zweck; dieser Zweck aber wurde ganz im Sinne der marxistischen Tradition als Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus bestimmt. Der Marxismus wiederum steht zum Vernunftdenken des 18. Jahrhunderts in einem Verhältnis von Bruch und Fortsetzung zugleich. Bruch, weil er die Revolution der Vernunft, wie sie in Deutschland vom Linkshegelianismus anvisiert wurde, ablehnte; Fortsetzung, weil er die Vernunft nicht negierte, sondern historisierte. Wenn Marx die Geschichte der Industrie als das 'aufgeschlagne Buch der menschlichen Wesenskräfte' und den Kommunismus als das 'aufgelöste Rätsel der Geschichte' bezeichnet, so steht er damit offenkundig in einer Tradition, die sich schon bei Turgot und Condorcet ankündigt und ihren Höhepunkt im deutschen Idealismus erreicht. Marx, Engels oder Lenin haben nicht die Vernunft verklärt, soviel bleibt richtig. Aber sie haben dies nur deshalb nicht getan, weil für sie die Vernunft nicht länger eine transzendente, die Normen moralischen Handelns begründende Größe war, sondern eine Macht, die sich in der Geschichte und durch die Geschichte entfaltet: als Fortschritt der Produktivkräfte, als Verwirklichung des Gattungslebens und des 'general intellect'. Daß es in der Geschichte vernünftig zugehe und daß dies ablesbar sei am Stand von Wissenschaft und Technik, war die gemeinsame Grundüberzeugung, die Lenin und Trotzki, Bucharin und Sinowjew sowie die meisten führenden Bolschewiki miteinander verband. Mit der ihm eigenen Gabe zur prägnanten Verkürzung hat Lenin dies auf die Formel gebracht, Sozialismus sei Sowjetmacht plus Elektrifizierung. Diese Grundüberzeugung aber ist, wie Weber bemerkt, 'religionsartig', sie beruht auf der "fast superstitiösen Verklärung der 'Wissenschaft' als möglicher Produzentin oder doch als Prophetin der sozialen gewaltsamen oder friedlichen Revolution im Sinn der Erlösung von der Klassenherrschaft". 87 Es war eine mythische, nur aus der abgehobenen Position des Literatentums mögliche Vorstellung, wenn die Bolschewiki, darin in vollem Einklang mit der marxistischen Lehre, den sozialistischen Charakter der vom Kapitalismus entwickelten Produktivkräfte postulierten; und es war erst recht mythisch, wenn sie ausgerechnet der russischen Revolution die Rolle des Prinzen zuwiesen, der Dornröschen aus seinem Schlaf erwecken
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sollte. Daß ihr Sozialismus dem Utopismus überlegen sei, weil er sich auf die Wissenschaft stützte, war eine Selbsttäuschung, denn: "whether or not they were right about the inherently scientific nature of Marxism, even science needs human interpreters, who make subjective judgements and have their own emotional biases. The Bolsheviks were revolutionary enthusiasts, not laboratory assistants. It was a subjective judgement that Russia was ready for proletarian revolution in 1917, even though the Bolsheviks cited Marxist social-science theory to support it. It was a matter of faith rather than scientific prediction that world revolution was imminent".
Sieht man es so, dann spricht alles für die Forderung Günther Roths, die Geschichte der Entpersönlichung und Versachlichung des Charisma über das 18. Jahrhundert hinaus fortzuführen. Die eigentümliche Kombination von Rationalität und charismatischer Überhöhung, die das Charisma der Vernunft auszeichnet, hat sich in verwandelter Form auf den Marxismus-Leninismus vererbt und ist dadurch zu weltgeschichtlicher Wirksamkeit gelangt. Sie hat die Revolution in Rußland nicht verursacht, so wenig wie die in Frankreich. Aber sie hat sie in eine Form gebracht, die sich sehr von den Absichten unterschied, die die Revolutionäre ursprünglich im Sinn hatten. Sie hat, vermöge ihrer rationalen Komponente, eine Rationalisierung der Herrschafts-, Wirtschafts- und Sozialstruktur ermöglicht, wie sie unter dem Ancien Régime nur schwer denkbar, auf jeden Fall aber nicht in so kurzer Zeit realisierbar gewesen wäre. Und sie hat, vermöge ihrer charismatischen Komponente, die Rationalisierung blockiert, soweit diese, nach Webers Einsicht, darin besteht, "innere Eigengesetzlichkeiten der einzelnen Sphären in ihren Konsequenzen bewußt werden" und in Spannung zueinander geraten zu lassen.89 Ob in jakobinischer, marxistischer oder leninistischer Gestalt: das Charisma der Vernunft ist absolutistisch, es verlangt die Orientierung der Lebenssphären und der Lebensführung auf einen einzigen Punkt, auf den spezifischen Sinn, den es, und nur es, dem Kosmos verleiht. Wie jede Form des Charisma ist es wirtschafts- und politikfremd90, es kann eine nur dem Gesetz des Marktes folgende Wirtschaft ebensowenig zulassen wie eine Politik, in der verschiedene Interessen und Programme um Durchsetzungschancen ringen. Sein Absolutheitsanspruch zeigt heute deutliche Erosionserscheinungen; doch ob es nicht noch einmal aufzuflammen vermag, wenn Wirtschaft und Politik sich dem Zugriff der zentralen Instanzen entziehen, ist noch längst nicht ausgemacht.
Anmerkungen 1 2 3 4 5
Weber,M.: Wirtschaft und Gesellschaft, 5. Aufl., Tübingen 1976, S.140. Schluchter,W.: Die Entwicklung des okzidentalen Rationalismus, Tübingen 1979, S.185; Roth,G.: Politische Herrschaft und persönliche Freiheit, Frankfurt/M. 1987, S.142. Roth 1987, S.147. Breuer,S.: "Magisches und religiöses Charisma: Entwicklungsgeschichtliche Perspektiven", in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 41/1989, S.215-240. Weber,M.: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Band III, 5. Aufl., Tübingen 1971, S.6.
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